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German Pages 793 [795] Year 2007
Steffen Martus Werkpolitik
Historia Hermeneutica Series Studia Herausgegeben von
Lutz Danneberg
Wissenschaftlicher Beirat
Christoph Bultmann · Fernando Domı´nguez Reboiras Anthony Grafton · Wilhelm Kühlmann · Ian Maclean Reimund Sdzuj · Jan Schröder · Anselm Steiger Theo Verbeek
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Walter de Gruyter · Berlin · New York
Steffen Martus
Werkpolitik Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George
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Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISSN 1861-5678 ISBN 978-3-11-019271-1 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
쑔 Copyright 2007 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin
Inhalt 1.
Einleitung: Die Grenzen des Werks und seine Politik .......... 1 a) Thesen ............................................................................................... 5 b) Widersprüche der Werkpolitik ................................................... 13 c) Elemente einer Geschichte der Werkpraxis .............................. 23 d) Elemente einer Geschichte der Werktheorie ............................ 31 e) Perspektiven der Werkpolitik ...................................................... 47
2.
Aspekte kritischer Kommunikation ...................................... 52
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5
Autoren im Spiegelstadium der Kritik ............................................ 56 Die Positivität der Kritik ................................................................... 64 Kritik der Interaktion ........................................................................ 71 Konzeptionen kritischer Kommunikation ..................................... 84 Die Etablierung von Negativität im literarischen Diskurs ........ 101
3.
Das Zeitalter der Kritik ......................................................... 113
3.1 Johann Christoph Gottsched ......................................................... 115 3.1.1 Kritische Gespenster ....................................................................... 116 a) Theorie und Praxis der ‚philosophischen‘ Kritik .................... 116 b) Temporalisierung und Biographie ............................................ 121 c) Kritische Pädagogik ..................................................................... 126 d) Virtualität und Autorenangst ..................................................... 129 3.1.2 Exempel: Gottscheds Kritik der Cato-Kritik ............................... 139 3.2 Johann Jakob Bodmer ..................................................................... 145 3.2.1 Die Freiheiten der Kritik ................................................................. 147 a) Verletzende Kritik ....................................................................... 147 b) Kritischer Tiefsinn und die Innerlichkeit der Schrift ............ 152 c) Kritischer Perspektivismus ......................................................... 157 3.2.2 Exempel: Bodmers Kritik der Milton-Kritik ............................... 161 3.3 Kritische Reflexionen ...................................................................... 168 a) Nicolai ............................................................................................ 171 b) Lessing ........................................................................................... 177 c) Wieland .......................................................................................... 186
VI
Inhalt
4.
Werkpolitik im 18. Jahrhundert: Friedrich Gottlieb Klopstock .................................................... 202
4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3
Kritik und Zeit .................................................................................. 206 Klopstocks kritische Persönlichkeit .............................................. 206 Ästhetik des Plans: Detailismus und Ganzheitsverlangen ......... 225 Geld und Geist ................................................................................. 244 a) Subskription und Werkbildung .................................................. 246 b) Der Autor als Pensionär ............................................................. 251 Typologische Werkordnung .......................................................... 262 a) Die Gegenwärtigkeit des Abwesenden ..................................... 266 b) Ästhetische Theodizee ................................................................ 274 c) Der Leser als Jünger und der Autor als Messias ..................... 279 d) Klopstocks messianisches Schweigen ...................................... 288
4.2
5.
Probleme der kritischen Kommunikation und ihre philologische Lösung .................................................. 302
5.1
Kritische Probleme: Johann Heinrich Voß ‚verhört‘ Klopstock .................................. 303 Philologische Lösungen: Carl Friedrich Cramer ‚versteht‘ Klopstock ................................. 338 a) Die Wahrnehmbarkeit des Werks ............................................. 338 b) Cramers Klopstock-Lektüren .................................................... 347 c) Von der kritischen zur philologischen Kommunikation ....... 365 Die Poesie der Philologie I: Ludwig Tieck ................................... 371 Kritik der Romantik ......................................................................... 377 Tiecks kritische Kommunikation .................................................. 385 Tiecks philologische Kommunikation .......................................... 394 „Stimmung“ als literaturgeschichtliche Kategorie ...................... 410 Die „wunderbare“ Welt der Philologie ......................................... 423 a) Die Stimmung der Stimmung im Phantasus ............................. 424 b) Die Ironie der Philologie ............................................................ 432 Die Poesie der Philologie II: Johann Wolfgang Goethe ............ 444 Zwischen kritischer und philologischer Kommunikation ......... 449 Goethe als Virtuose des Gesamtwerks ......................................... 461 a) Die Selbstanregung des Werks .................................................. 462 EXKURS: Selektionslose Aufmerksamkeit .................................... 467 b) Werkeinheit und Lektüreverhalten ........................................... 476 c) Die Initiation des freundschaftlichen Lesers ........................... 484 Goethe-Philologie ............................................................................ 496
5.2
5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4 5.3.5 5.4 5.4.1 5.4.2
5.4.3
Inhalt
VII
6.
Werkpolitik in der Moderne: Stefan George ........................ 514
6.1
Die Initiation des Werks: Georges Weihe..................................... 527 a) Die Grenzen des Werks .............................................................. 531 b) Die Arbeit der Aufmerksamkeit ............................................... 544 c) Aversion und Attraktion – Simmel und George .................... 559 d) Der Strom der Poesie ................................................................. 569 Die Materialgerechtigkeit des Werks: Wagner, Nietzsche und George ..................................................... 575 a) Isolation und Innovation ............................................................ 579 b) Medien der Aufmerksamkeit und ihre Körper ...................... 590 c) Georges Bayreuth: Algabal .......................................................... 597 Werkschritte ...................................................................................... 607 a) Nach der Lese .................................................................................. 608 b) Vorspiel mit Engelserscheinung ................................................. 620 c) Das Werk als „gebilde“ im Teppich des Lebens .......................... 624 d) Die Gleichheit des Unterschiedenen I: Zeitgedichte ................. 634 e) Die Gleichheit des Unterschiedenen II: Maximin .................. 643 Die Poesie der Wissenschaft .......................................................... 655 a) Das Begleitprogramm der Gesamt-Ausgabe: Edition, Kommentar, Ikonographie ............................................. 656 b) Friedrich Wolters’ ‚Blättergeschichte‘ ...................................... 666 c) Georges Gesamt-Ausgabe .............................................................. 685
6.2
6.3
6.4
7.
Literaturverzeichnis ...................................................................... 709 a) Abkürzungen ................................................................................ 709 b) Ungedruckte Quellen .................................................................. 710 c) Verwendete Literatur .................................................................. 713
8. Danksagung ........................................................................................ 787
1. Einleitung: Die Grenzen des Werks und seine Politik Am 10. Mai 1969 erschien in der us-amerikanischen Zeitschrift The New Yorker die Rezension einer Edition aus dem Verlag „Venal & Sons“: The Collected Laundry Lists of Hans Metterling, Vol. 1, 437 pp., plus XXXIIpage introduction; indexed; $18.75
Der „lang erwartete[ ] erste[ ] Band der Wäschelisten Metterlings“, so der Rezensent, werde begleitet von dem „fundierten Kommentar des bekannten Metterling-Schülers Günter Eisenbud“. Der Band hat Erstaunliches zu bieten. Denn bereits die erste Wäscheliste Metterlings macht uns „auf vollkommene, geradezu totale Weise mit diesem geplagten Genie bekannt“.1 Liste Nr. 1 6 Unterhosen 4 Unterhemden 6 Paar blaue Socken 4 blaue Oberhemden 2 weiße Oberhemden 6 Taschentücher Bitte nicht stärken!
Der Rezensent entdeckt in dieser Liste den Autor ‚Metterling‘ mittels einer Reihe geläufiger Operationen, die charakteristisch sind für den Umgang mit einem ‚Werk‘ und für die Legitimation dieses Umgangs: Zunächst verweist er die Leser auf Metterlings historische Bedeutung (das „geplagte[ ] Genie“ war „seinen Zeitgenossen als der ‚Irre von Prag‘ ein Begriff“). In diesem Kontext hat das Verhalten des Autors symptomatische Qualität: „Metterlings Abneigung gegen Wäschestärke ist typisch für die Zeit, und als das bewußte Paket zu sehr gestärkt zurückkam, wurde Metterling verdrießlich und schwermütig“.2 Zu dieser historischen Bedeutung des Autors in seiner Zeit kommt dann die werkhistorische Bedeutung der ersten Wäscheliste hinzu: _____________ 1 2
Allen: Die Metterling-Listen, S. 7f. Allen: Die Metterling-Listen, S. 8.
2
Einleitung: Die Grenzen des Werks und seine Politik
Die Liste wurde lose skizziert, als Metterling an den Bekenntnissen eines monströsen Käses schrieb, jenem Werk von überwältigender philosophischer Bedeutung, in dem er nicht nur nachwies, daß Kant sich über das Universum geirrt hatte, sondern daß er sich im Restaurant auch immer um die Rechnung drückte.3
Die Konzentration auf Texte, die man intuitiv zunächst für nebensächlich halten könnte, erweist sich als lukrative Aufmerksamkeitsinvestition. Die Materialien avancieren im Zusammenhang mit historischen und werkkontextuellen Beobachtungen zu aufschlußreichen Dokumenten einer gleichermaßen individuellen wie zeithistorisch bedeutsamen Konstellation. Sie werden zu Werken.4 Die Beschäftigung mit Wäschelisten erscheint zudem deswegen normal, weil sie an die etablierte Metterling-Forschung anschließen kann: „[B]ereits Breuer [hat] auf den Zusammenhang zwischen gestärkter Unterwäsche und Metterlings beständigem Gefühl, es werde von Menschen mit Doppelkinn über ihn getratscht, hingewiesen (Metterling, die paranoid-depressive Psychose und die frühen Listen; Zeiss Verlag)“.5 Nach der Interpretation von vier weiteren Texten gelangt der Rezensent schließlich zur sechsten und damit letzten Aufstellung im ersten Band von Hans Metterlings kommentierten Wäschelisten: Allem Anschein nach begann Metterlings Persönlichkeit um 1894 zu zerfallen, falls wir aus der sechsten Liste irgend etwas schließen dürfen: Liste Nr. 6 25 Taschentücher 1 Unterhemd 5 Unterhosen 1 Socke und man ist nicht überrascht, wenn man erfährt, daß das genau die Zeit war, als er mit der Behandlung bei Freud begann. [...] In Band II, so ist zu hören, wird Eisenbud sich den Listen 7 bis 25 zuwenden, die die Jahre der ‚Geheimwäsche‘ Metterlings sowie das ergreifende Mißverständnis mit dem Chinesen an der Ecke umfassen.6
Neben der Verbindung von mehrfach gestuften historischen Konstellationen, die kulturgeschichtliche, literaturgeschichtliche, autor- und werkgeschichtliche Bezüge herstellen, ist die Haltung des Editors und Kommentators sowie des Rezensenten aufschlußreich. Es handelt sich um eine Form tendenziell selektionsloser Aufmerksamkeit, die sich auch für das Nebensächliche, für das zunächst abstruse Detail interessiert.7 _____________ 3 4 5 6 7
Allen: Die Metterling-Listen, S. 8. Zur Differenz von ‚Text’ und ‚Werk’ als Differenz des Umgangs mit Zeichenketten vgl. Currie: Work and Text, insbes. S. 325, 332, 336, 338f. Allen: Die Metterling-Listen, S. 8. Allen: Die Metterling-Listen, S. 13f. Das Telos der „Selektionslosigkeit“ umschreibt eine Art motivierendes Ideal im Sinne ‚umfassender’ Beobachtung eines bestimmten Gegenstandsbereichs, der sich allerdings – wie sich im weiteren zeigen wird – nur schwer abgrenzen läßt. Gemeint ist damit nicht, daß
Einleitung: Die Grenzen des Werks und seine Politik
3
Es gibt eine Gruppe von Lesern, die diese Textbehandlung traditionell praktiziert: die philologischen Leser (5.2 c)8. Sie heften – mit den Worten Michael Bernays’ – den Blick auch auf die „geringfügigen Einzelheiten“. Sie sind Beobachter, die die „Verpflichtung und zugleich die Lust empfinden, alles, das Kleinste wie das Größte, das von den Meistern unserer Litteratur ausgeht oder zu ihnen hinführt, zu beachten“. Den Philologen ist demnach „jedes Wort eines Autors“ wichtig, sie behandeln „auch das Unscheinbarste mit einer regen Sorgfalt“.9 Präziser läßt sich die Haltung des Rezensenten von Metterlings Wäschelisten nicht beschreiben. Und wenn man an Woody Allens Text dieselben Operationen durchführen wollte, die dieser an fiktiven Wäschelisten durchgeführt hat, dann würde man nicht nur auf die Kurzprosa verweisen, die im New Yorker erschienen ist und einen Werkzusammenhang bildet, sondern vor allem auch darauf, daß Allen mit seinem Text zu einer Diskussion beiträgt, die auf der anderen Seite des Atlantiks nur wenige Wochen zuvor begann und die bis heute andauert. Gemeint ist die Debatte um die Antwort auf die Frage „Was ist ein Autor?“, die Michel Foucault am 22. Februar 1969 in der Société française de philosophie gestellt hatte.10 In seinem Vortrag beschäftigte sich Foucault neben der Autorschaft mit dem daran gebundenen Werkkonzept. Der Passus ist elementar für eine „Theorie des Werks“, und auch dort spielt die schmutzige Wäsche der Autoren eine bemerkenswerte Rolle: „Was ist ein Werk? Worin besteht diese merkwürdige Einheit, die man als Werk bezeichnet? Aus welchen Elementen besteht es? Ist ein Werk nicht das, was derjenige geschrieben hat, der der Autor ist?“ Man sieht gleich die Schwierigkeiten, die sich ergeben: Wenn jemand kein Autor ist, könnte man dann sagen, dass das, was er geschrieben oder gesagt hat, das, was er in seinen Papieren hinterlassen hat, das, was man von seinen Äußerungen berichten kann, „Werk“ genannt werden könnte? Solange Sade kein Autor war, was waren dann aber seine Papiere? Papierrollen, auf denen er während seiner Tage im Gefängnis endlos seine Phantasmen entrollte. Aber nehmen wir an, dass man es mit einem Autor zu tun hat: ist dann alles, was er geschrieben hat, alles, was er hinterlassen hat, Teil seines Werks? Ein zugleich theoretisches und praktisches Problem. Wenn man zum Beispiel daran geht, die
_____________
8 9 10
Aufmerksamkeit überhaupt ‚selektionslos’ funktionieren könnte (vgl. dazu auch 6.). Zur Funktion der Selektion als „Wertungshandlung“ und deren Rolle bei der Textwahrnehmung und beim Textverstehen vgl. Heydebrand / Winko: Einführung in die Wertung von Literatur, S. 79ff. Hinweise wie diese verweisen auf Kapitel in der vorliegenden Arbeit, in denen die angesprochenen Punkte weiter ausgeführt werden. Bernays: Die Urschriften der Briefe Schillers an Dalberg (1887), S. 432; ders.: Über Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes, S. 47, 89, auch S. 82, Anm. 62. Die jüngere Diskussion um den Autor-Begriff ist in drei Bänden dokumentiert: Rückkehr des Autors (1999); Texte zur Theorie der Autorschaft (2000); Autorschaft (2002).
4
Einleitung: Die Grenzen des Werks und seine Politik
Werke Nietzsches zu veröffentlichen, wo soll man haltmachen? Man soll alles veröffentlichen, gewiss, was aber heißt dieses „alles“? Alles, was Nietzsche selbst veröffentlicht hat, einverstanden. Die Entwürfe seiner Werke? Zweifellos. Die geplanten Aphorismen? Ja. Ebenso die Streichungen, die Randbemerkungen in den Notizbüchern? Ja. Aber wenn man in einem Notizbuch voller Aphorismen einen bibliographischen Nachweis, einen Hinweis auf eine Verabredung, eine Adresse oder einen Wäschereizettel findet: Werk oder nicht Werk? Aber warum nicht? Und so weiter ad infinitum. Wie lässt sich aus den Millionen von Spuren, die jemand nach seinem Tod hinterlässt, ein Werk definieren? Die Theorie des Werks existiert nicht, und denen, die naiv daran gehen, Werke herauszugeben, fehlt eine solche Theorie, und ihre empirische Arbeit kommt rasch zum Erliegen.11
Eine „Theorie des Werks“12 liefern auch die vorliegenden Studien zur Werkpolitik nicht, sondern Elemente zu einer Geschichte der Theorie und der Praxis des Werks. Dabei arbeite ich durchgängig mit der auch von Foucault genutzten Ambivalenz von Einzelwerk und Gesamtwerk, weil sich beides spiegelbildlich aufeinander beziehen läßt (z. B. 1. b). Insgesamt geht es mir nicht um die (erneute) Destruktion oder Dekonstruktion des Werkbegriffs, sondern um dessen historischer Rekonstruktion, darum also, wie ein bestimmtes Konzept der zeit- und aufmerksamkeitsintensiven Werkbehandlung entstanden ist, welche Funktionen es besetzt und welche Karriere es vom späten 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert durchlaufen hat. Für die aktuelleren Diskussionen um das Ende des Werks in der Moderne oder unter Bedingungen der ‚neuen Medien‘13 könnte dabei an der historisch orientierten Darstellung interessant sein, daß sich die Entgrenzung des Werks immer wieder als Kehrseite von dessen Begrenzung erweist (z. B. 1. b).14 Die Faszinationsgeschichte der Wäschelisten ist für die Analyse der Geschichte und Funktion von Werkkonzepten ein günstiger Ausgangspunkt, denn sie reicht weit über Allen und Foucault hinaus. So schreibt etwa Peter Hamecher in der Unterhaltungs-Beilage der Berliner BörsenZeitung im März 1930: „Wahrscheinlich würde […] Goethe recht entsetzt _____________ 11 12 13 14
Foucault: Was ist ein Autor?, S. 1009f. Dafür nach wie vor einschlägig: Lotman: Die Struktur literarischer Texte. Vgl. hier nur als ein Beispiel unter vielen die Argumente bei Gendolla / Schäfer: Vernetztes Probehandeln. Aufschlußreich ist für die mediale Beeinflussung von traditionellen literaturwissenschaftlichen Konzepten, wie sich beispielsweise mit der Computernutzung die Befürchtung verbindet, der Computer befördere die Simulation eines gleichsam reinen, voraussetzungslosen, ungeschichtlichen Schreibens, das seinen eigenen Entstehungsprozeß, der hand- oder schreibmaschinenschriftlich in Korrekturen nachvollziehbar sei, verberge (dazu Belege bei Schütz: File under FEDER.TXT, S. 16). Gerade der Computer dient mittlerweile jedoch umgekehrt auch und gerade als privilegiertes Medium, um einen solchen genetischen Werkbegriff editorisch festzuhalten – vgl. dazu als willkürlich gewähltes Beispiel Morgenthaler: Gottfried Kellers Studienbücher – elektronisch ediert.
Einleitung: Die Grenzen des Werks und seine Politik
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sein, wenn er sehen könnte, wie die Philologen seinen Nachlaß durchstöbern und noch das letzte Zettelchen an die Wäscherin sorgsam edieren“ (6.4 b).15 Diese Kritik an der Mikrophilologie hat Tradition: Auf einer Karikatur aus dem Jahr 1909 mit dem Titel „Der Germanist“ verkündet der abgebildete Gelehrte: Aus der von mir entdeckten Handschrift erhellt jetzt ohne Zweifel, daß Goethe am 17. Juli 1793 seine Wäschereirechnung nicht mit 2 Talern, 5 Silbergroschen und 4 Pfennigen, sondern, wie ich diese Ansicht schon längst vertrat, mit 2 Talern, 4 Silbergroschen und 14 Pfennigen bezahlte.16
Und bereits ein Jahrhundert zuvor echauffiert sich Christian Dietrich Grabbe über die Publikation unbedeutender Werke oder Werkteile im allgemeinen und über die „Trivialitäten“ des Goethe-Schiller-Briefwechsels im besonderen: „Wer diesen Briefwechsel in das Publicum gegeben hat, ist auch im Stande, seine und Schillers abgetragene Hosen lithographiren zu lassen“.17 Zwei Problemkreise zeichnen sich von hier aus ab, die für die Praxis und für die Theorie des Werks von zentraler Bedeutung sind: zum einen die Entwicklung einer Kultur der selektionslosen Aufmerksamkeit, die Wäschelisten, Wäschereirechnungen und abgetragene Hosen in texttauglicher Fassung ‚interessant‘ findet, zum anderen die Bewältigungsstrategien von Autoren für eine solche Beobachtungslage, in der „das Kleinste wie das Größte“ von Bedeutung ist. a) Thesen Die vorliegenden Studien zur Werkpolitik vom 17. bis ins 20. Jahrhundert beschäftigen sich zunächst mit der Geschichte des Schreibens unter Bedingungen der Kritik als Vorgabe für den Umgang mit Werken. Sie rekonstruieren einen Ausschnitt literarischer Kommunikation, der in einem bestimmten wertbesetzten Sinn mit Texten umgeht, und sie rekonstruiert diesen Ausschnitt als kritische Kommunikation. ‚Kritisch‘ verstehe ich dabei in doppeltem Sinn: Zum einen meint kritische Kommunikation, daß Werke u. a. im Blick auf ihre Kritik geschrieben werden und daß diese Kritik selbst wiederum unter Bedingungen Kritik höherer Stufe steht; zum anderen meint ‚kritische Kommunikation‘, daß sich mit dem Problem des Schreibens unter Bedingungen von Kritik für Teilnehmer oder Beobach_____________ 15 16 17
So anläßlich der Rezension von Friedrich Wolters’ Stefan George und die Blätter für die Kunst: Peter Hamecher: Eine Biographie Stefan Georges. In: Kunst Welt Wissen. Unterhaltungs-Beilage der Berliner Börsen-Zeitung Nr. 72, 26. März 1930. Zit. nach Ufertinger: Der Germanist Erich Schmidt, S. 47. Grabbe: Etwas über den Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, S. 99. Vgl. zu „Shakespeare’s Laundry List“: Schalkwyk: Critical Resources, S. 75.
6
Einleitung: Die Grenzen des Werks und seine Politik
ter bisweilen der Eindruck einer krisenhaften und in diesem Sinn ‚kritischen‘ Situation einstellt. Die erste grundlegende These ist dabei, daß die Kritik einen Teil desjenigen Problems bildet, das sie selbst behandelt: der Unsicherheit. Insbesondere seit dem 18. Jahrhundert steigern sich in einer für den Autor unkalkulierbaren Weise die Möglichkeiten, ein literarisches Werk unterschiedlich zu bewerten,18 ‚Fehler‘ oder ‚Schönheiten‘ zu entdecken. Es wird klar, daß die kontingente Verteilung von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit ein zwar theoretisch negierbares, praktisch aber stets relevantes Moment der literarischen Kommunikation ist. Autoren müssen daher Wege finden, ihrem Werk auf möglichst vielfältige Weise Lektüre- oder (allgemeiner) Rezeptionsregeln mit auf den Weg zu geben, und dies in einer Situation, in der Fehllektüren, Mißverständnisse oder sogar NichtBeachtung wesentlich wahrscheinlicher sind als gelungene Werkhörigkeit. Kritiker sind in diesem Zusammenhang ein aufschlußreicher Lesertypus, weil sie verdeutlichen, daß der Leser letztlich keine Vorteile gegenüber dem Autor hat. So wie der Autor davon ausgehen muß, kritisiert zu werden, muß auch dem Leser klar sein, daß seine Lektüre stets revidierbar bleibt. Eine kommunikationsgeschichtliche Perspektive nähert die ausdifferenzierten Rollen des Autors und des Lesers insofern zumindest auf dem Feld der kritischen Kommunikation einander an.19 Mein Interesse gilt also nicht den mehr oder weniger viel diskutierten, unterschiedlich titulierten und differenzierten Figuren von der Art des impliziten Lesers oder des impliziten Autors, sondern eher einer impliziten Poetik, und zwar sowohl in poetologischer als auch poesiologischer Perspektive.20 Implizite Poetik meint zunächst: (1) Werken, deren Literal_____________ 18
19
20
Vgl. prinzipiell zur „Vielzahl verschiedener Perspektiven und Bereiche […], die für das Werten im Sozialsystem Literatur eine Rolle spielen“, Heydebrand / Winko: Einführung in die Wertung von Literatur, z. B. S. 36f.; vgl. auch zu den Punkten, die „Konsens im Werten von Literatur so schwierig“ machen, sowie zur Differenz zwischen wünschenswerten Verfahren „richtige[n] Werten[s]“ und faktischem „Dissens“ ebda., S. 105ff., 376. Vgl. zu einem kühlen Blick auf die Geschichte der Literaturkritik: Porombka: Gemengelagen lesen – Porombka empfiehlt, die Betrachtung der Literaturkritik vom Ballast der argumentativen Anforderungen zu befreien, um deren Markgesetzlichkeiten in den Blick zu bekommen. Vgl. dazu den noch immer lesenswerten Beitrag von Jan Mukaőovský über Die Persönlichkeit in der Kunst mit der zugespitzten These: „In dem Augenblick nämlich, in dem der Künstler beim Schaffen seines Werkes das Werk mit Rücksicht darauf beurteilt, wie dieses Werk auf den Aufnehmenden wirken wird […], in diesem Augenblick nimmt er zu ihm eben die Stellung des Aufnehmenden ein“, und man kann den „Autor nicht vom Aufnehmenden unterscheiden“ (S. 73). Zu einem Konzept, das „alle Beiträger zur vorliegenden Gestalt eines Werkes“ als „Autoren“ behandelt vgl. Jannidis: Figur und Person, S. 28. Diese Unterscheidung hat Wilfried Barner getroffen im Blick auf die eigentlich richtigen Wortbildungen: „Poetologie“ bezieht sich auf den Autor, „Poesiologie“ auf das Werk bzw. auf die „Dichtung“ (Barner: Spielräume, S. 34f.). Einen Überblick über die diversen Theorien zur rezipientenorientierten Dimension von sprachlichen Äußerungen bietet Bernecker:
Einleitung: Die Grenzen des Werks und seine Politik
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sinn nicht von Fragen der Poetik handelt, läßt sich in bestimmten historischen Kontexten ein poetologischer und poesiologischer Sinn ablesen. Dies betrifft weniger konkretes, situativ notwendiges Wissen oder direkte und konkrete Handlungsweisungen, als vielmehr die Rahmenbedingungen, also grundlegende Lektürehaltungen, Aufmerksamkeiten, Frustrationstoleranzen, Suspendierungen von Urteilsvermögen, Interessenlagen und ähnliche Einstellungen, aufgrund derer dann auch das Fehlverhalten möglicherweise nicht-idealer Leser aus der Perspektive z. B. des Autors an Bedrohlichkeit verliert. Um ein Beispiel zu geben: Die an sich bemerkenswerte Tatsache, daß es in Kunstwerken „Leerstellen“ gibt, die vom Leser auf welche Weise auch immer ausgefüllt werden, ist für die vorliegenden Studien weniger faszinierend als die Tatsache, daß Leser solche Zumutungen überhaupt akzeptieren, und dies – wie Wolfgang Isers Theorie vom „Anwachsen der Unbestimmtheit“ meint21 – vielleicht sogar in einem zunehmenden Maß. Während diese Art der Rezeptionsästhetik untersucht, wie ein Werk einen „literarischen Gegenstand“ behandelt und wie es dessen „Ansichten“ zeigt,22 frage ich nach der Gegenständlichkeit von Literatur in Form eines Werks, das eben dadurch „Ansichten“ zeigt. Denn bereits die von Roman Ingarden oder Wolfgang Iser in dem zitierten Konzept der „Ansichten“ vorgenommene Verkörperung des Werks, das als dreidimensionales Gebilde modelliert wird, gehört ebenso wie die Mitbeobachtung des „Fehlen[s]“ von Elementen23 zur historischen Werkpolitik (1.c; 3.2.1 b u. c; 6.). Zwar bedeutet also die rezeptionsästhetische Remodellierung des Werkbegriffs dessen „Entsubstantialisierung“24, zugleich aber auch die neue Vergegenständlichung des Werks. _____________ 21 22 23
24
Adressant/Adressat. Zu impliziten Leseanweisungen vgl. auch Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 472f. Iser: Die Appellstruktur der Texte, S. 230, 241ff. Iser: Die Appellstruktur der Texte, S. 234; ausführlich dazu: ders.: Der Akt des Lesens, S. 162ff. Iser: Die Appellstruktur der Texte, S. 248; dazu ausführlicher die Ausführungen zum „Textrepertoire“ sowie zu „Textstrategien“ in: ders.: Der Akt des Lesens, S. 87ff., S. 143ff. Ähnliches gilt dann für die von Iser vorgestellten Textstrategien der Leserlenkung: Wenn beispielsweise die „Textebene“ (Die Appellstruktur der Texte, S. 241) des Kommentars „Leerstellen“ schafft, diese zugleich durch „eine Reihe von Erfüllungsvariablen“ begrenzt und damit Offenheit und Kontrolle verbindet (ebda., S. 239f.), dann müssen Leser dies eben überhaupt bemerken bzw. dazu bereit sein, die „Aktivität des Lesers“ (ebda., S. 240), die dann gesteigert werden soll, als Kapazität zur Verfügung zu halten. Iser stellt zwar die richtige Frage: „Was aber verleitet nun den Leser immer wieder dazu, sich auf die Abenteuer der Texte einzulassen?“ – aber er verschiebt sie sogleich in den Bereich der Anthropologie (ebda., S. 249). Aufschlußreich für die ‚Provokation’, die das Werk als solches bedeutet, sind Isers Ausführungen zu „Wahrnehmungserschwerungen“ durch Kunst (Der Akt des Lesens, S. 290ff.). Rosenberg: Die sechziger Jahre als Zäsur, S. 259.
8
Einleitung: Die Grenzen des Werks und seine Politik
(2) Bestimmte Leser handeln in einigen Lesesituationen so, als ob literarische Texte Anforderungen an sie stellten oder sogar Appelle an sie richteten. Als Werkpolitik im weiteren Sinn verstehe ich diese Zuschreibungen und die Arbeit vor allem von Autoren, Kritikern und Philologen, solche Zuschreibungen und Anforderungsprofile zu plausibilisieren und mit Wirksamkeit zu versehen.25 Zugleich deutet die Konzentration auf dieses Leserpersonal an, daß meine Studie nur einen Ausschnitt der literarischen Kommunikation behandelt und daß die Ergebnisse vor allem für Textumgangsformen gelten, die sich durch gewisse Ausdauer- und Aushaltestrategien sowie durch ein erstaunliches Maß an Zeit- und Aufmerksamkeitsinvestition auszeichnen. ‚Werkpolitik‘ also behandelt das Problem, wie Beobachter so positioniert werden, daß sie den Eindruck haben, den Appell eines Textes zu hören, und sei es nur den Appell, ein Appell müsse hörbar sein, wenn man sich nur achtsam genug verhalten würde. Es geht um Formen der wechselseitigen Auszeichnung im Vollzug des Schreibens und Lesens, die immer in Gefahr steht, sich in eine Abwertung oder gar Streichung zu verwandeln. Anstelle anderer möglicher Leitorientierungen wie etwa des Ökonomischen oder des Ästhetischen, die ein große Rolle in der folgenden Darstellung spielen, habe ich mich für einen Fokussierung des Politischen am Werk insoweit entschieden, als es in der Politik (auch) um das „Bereithalten der Kapazität zu kollektiv bindendem Entscheiden“ geht.26 Mit dem Werk hat dies im übertragenen Sinn zu tun, weil es innerhalb der literarischen Kommunikation eben denjenigen Ort darstellt oder häufig als derjenige Ort (re-)konstruiert und behandelt wird, der die „Kapazität“ zur Bindung des Leserkollektivs bereithält, aus wie randständiger Position auch immer dies formuliert sein mag. Auf diese Weise reklamiert das Werk Macht,27 ohne daß dies auf eine bloße Restriktion der Leser hinausläuft. Im Gegenteil: Die ‚Bindung‘ des Rezipienten muß in einer Situation nur vage überschaubarer Kommunikationsverhältnisse mit dessen ‚Befreiung‘ in ein positives Verhältnis gesetzt werden können28 und als Selbstverpflichtung einen liberalen Beiklang erhalten.29 ‚Macht‘ beruht eben auf _____________ 25 26 27 28 29
Zum Thema Dotzler: Leerstellen, S. 220, wo der Bogen von Iser über Ingarden zu Theodor A. Meyer bis Lessing geschlagen und Goethes Werther als Exempel angeführt wird. Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, S. 84. Vgl. in diesem Zusammenhang zum „Aufmerksammachen“ und zur „Steuerung der Aufmerksamkeitskräfte“ durch „Macht“ u. a. im Sinne einer „Aufmerksamkeitspolitik“ Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 228ff. Zu den Zwängen der Freiheit vgl. Verf.: Die Freiheit der Literatur. In diesem Zusammenhang sind Foucaults Überlegungen zur „Regierung“ einschlägig (vgl. z. B. Foucault: Omnes et singulatim, S. 90ff.). Politische Macht zeichnet sich nach Luhmann durch negative Sanktionen aus. Wichtig ist daran, daß sie nicht realisiert werden müssen bzw. sogar nicht realisiert werden sollen (Die
Einleitung: Die Grenzen des Werks und seine Politik
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der „Antizipation von Gehorsam“. Zugleich muß ‚Macht‘ sich zeigen bzw. „in Formen gebracht“ werden, die auf ihrer Rückseite als Medium Vertrauen oder Unterstützungsbereitschaft mitführen.30 Zugespitzt formuliert: „Das Medium Macht funktioniert nur […] auf der Basis einer Fiktion […]“31 – der Anschluß ans Ästhetische und den korrespondierenden „Glauben an das Spiel“32 ergibt sich von hier aus, weil der Zwang zur Symbolisierung von Macht und die fiktionale Grundlage von Mächtigkeit genuin literarische Kompetenzen betrifft. Die erste These also behauptet, daß sich in der Frühen Neuzeit unter anderem in Reaktion auf die Konfusionen literarischer Kommunikation als kritischer Kommunikation ein bemerkenswertes Autor- und Werkkonzept entfaltet und daß dieses Autor- und Werkkonzept mit Unsicherheiten produktiv umgeht und damit Teil einer kritischen Kultur wird. Die zweite grundlegende These lautet, daß insbesondere die philologische und literaturwissenschaftliche Kommunikation dieses in sich höchst widersprüchliche Werkkonzept nutzt, um sich darüber zu institutionalisieren, Kompetenzen auszubilden und zur Verfügung zu stellen, die den philologischen und literaturwissenschaftlichen Blick irreduzibel machen. Neben dem Schreiben unter Bedingungen der Kritik versuche ich daher auch Perspektiven zu entwerfen für das Problem des Schreibens unter Bedingungen der Philologie. Zugespitzt formuliert gilt dabei: Die Literatur ist kein Gegenstand der Philologie, sondern sie ist deren Pendant.33 _____________
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Politik der Gesellschaft, S. 45f.). Das heißt aber auch, daß im zugespitzten Fall keine Sanktionsfähigkeit da sein muß, aber dennoch der Eindruck von Macht entsteht, solange Beobachter sich selbst verpflichten. Für Kunstwerke ist das eine anschlußfähige Machtform (s. auch 5.3.5 b). Für die Werkpolitik sind weiterhin die Überlegungen zur wechselseitigen Ausschließung von Stabilität und Stärke wichtig (ebda., S. 34f.). Man könnte Isers Theorie der zunehmenden Unbestimmtheit von Kunstwerken in der Moderne dann nämlich so verstehen, daß sie sich für Macht-Beständigkeit durch Vagheit entschieden haben. Mit Luhmann gesagt: „Sicherheit liegt nur in der Möglichkeit, zu festen Kopplungen überzugehen; aber genau damit begibt man sich in die Sphäre der Testbarkeit, der Nachfaß- und Kontrollprobleme, der Vergänglichkeit und Erneuerungsbedürftigkeit der Macht“ (ebda., S. 35). Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, S. 28, 32, 34; vgl. dazu Frevert: Politische Kommunikation und ihre Medien (hier auch weitere Literaturhinweise zur aktuellen Diskussion, ebda., S. 7f.). Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, S. 47. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 360. Wollte man sich genauer an den Luhmannschen Begriffen orientieren, sollte man wohl vorsichtshalber weniger von Werkpolitik reden als vielmehr von Werkeinfluß, weil ‚Einfluß’ eine systemunspezifische Form der Macht bezeichnet (Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, S. 39ff.). Kittler verallgemeinert dies zu der These, „Dichtung“ sei „Korrelat“ der „neuen Geisteswissenschaft Hermeneutik“ (Aufschreibesysteme 1800 1900, S. 30; vgl. auch ebda., S. 139f., zur Verfaßtheit „Deutsche[r] Dichtung“, die ihre eigene „Proliferation“ betreibt). Ich werde mich dabei auf die institutionell vorherrschenden Formen der Philologie oder Literaturwissenschaft in den betreffenden Zeiträumen konzentrieren. Für Wechselwirkun-
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Meine Arbeit versteht sich damit erstens als Beitrag zur Kulturgeschichte der Kritik, zweitens als Beitrag zum Zusammenhang von Wissenschafts- und Literaturgeschichte sowie drittens als Beitrag zur Geschichte der Theorie und Praxis des Werks: (1) Der kulturgeschichtliche Blick auf die Kritik soll keine Geschichte der Literaturkritik ersetzen – hierzu wären weitere Autoren, Werke, Zeitschriften, Poetiken oder Ästhetiken zu nennen gewesen. Sondern gezeigt werden soll damit vor allem, wie komplex die medienhistorischen, kommunikationsgeschichtlichen, anthropologiegeschichtlichen und gesellschaftlichen Umstellungen waren, die dazu geführt haben, daß Negation zumindest zwischenzeitlich zu einem erwartbaren und akzeptablen Verhalten geworden war. Es geht dabei um Möglichkeiten der Visibilisierung und Invisibilisierung, um fundamentale Formen der Aufmerksamkeit, um die sozio-strukturelle und mediale Einkettung der Beobachter, die gegebenenfalls als Freiheit verbucht wird, und um die institutionellen Verdichtungen, die solche an sich unplausiblen Phänomene und Haltungen als normal erscheinen lassen. Die Untersuchung von Werkpolitik greift damit von der literarischen Kommunikation in viele andere Felder über und zeigt, wie Unsicherheit Sicherheit erzeugt, wie Standpunktgewißheit zu Instabilität und Unberechenbarkeit führt und wie Autoren, Leser, Kritiker oder Philologen sich prototypisch in einer Umgebung zurecht finden, die von diesen und anderen gegenläufigen Effekten geprägt ist. (2) Dieser Prozeß der Etablierung von Negativität im literarischen Diskurs, der auf vielfältige und tiefgreifende Veränderungen in unterschiedlichen Kontexten angewiesen ist, häuft in einem solchen Maß ungelöste Probleme auf, daß neben anderen Entwicklungen die Ausbildung von Sonderperspektiven plausibel erscheint. Diese Sonderperspektiven, die sich aus der kritischen Kommunikation des 18. Jahrhunderts entfalten und zur philologischen Kommunikation führen, verfestigen sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einer Institution an den deutschen Universitäten. (3) Das Werk spielt dabei insofern eine Rolle, als es zur Basis der Entwicklung einer Form von selektionsloser Aufmerksamkeit wird, die für die modernen Wahrnehmungstheorien ebenso bedeutend wie problematisch ist.34 Zum anderen bildet das Werk die konzeptionelle Spielfläche, _____________
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gen zwischen Literatur und Literaturwissenschaft im Blick auf frühe literatursoziologische Ansätze vgl. den feldtheoretischen Ansatz bei Magerski: Die Konstituierung des literarischen Feldes in Deutschland nach 1871, insbes. S. 3, 6, 19, 43, 94 – auch hier spielt die Literaturkritik als Scharnierstelle zwischen Literatur und Literaturwissenschaft eine wichtige Rolle. Vgl. dazu Crary: Aufmerksamkeit, auf den ich mich vor allem in Kapitel 8 beziehen werde, sowie Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit; vgl. weiterhin (nicht zuletzt als Korrektiv zu Crary, der sich auf das 19. Jahrhundert konzentriert): Daston: Eine kurze Geschichte
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auf der sich Leser als Virtuosen der Visibilisierung und Invisibilisierung betätigen. Mit einer verschiedentlich im 18. Jahrhundert variierten Formulierung gesagt: Im Umgang mit dem Werk als Operationsraum der Lektüre erweisen sich Leser als versierte Beobachter, die Vorkommnisse „nicht gesehen haben, wo sie waren, und diese, wo sie nicht waren, erdacht“ haben (3.3 b).35 Die beiden Thesen zur kritischen und zur philologischen Kommunikation entfalte ich in zwei Schritten. Nachdem ich in den folgenden Teilen der Einleitung einige grundlegende Fragestellungen entwickelt habe, zeige ich zunächst, wie sich eine kritische Kommunikation im Laufe der Frühen Neuzeit etabliert (2.), wie deren Probleme eskalieren (3.1, 3.2, 3.3 a u. b) und wie die Schwierigkeiten, die sich aus der Etablierung von Negativität ergeben, philologische und literaturwissenschaftliche Beobachter privilegieren (3.3 c). In einem zweiten Schritt analysiere ich dann exemplarisch die Strategien und Taktiken der Werkpolitik von Friedrich Gottlieb Klopstock (4.), Ludwig Tieck (5.3), Johann Wolfgang Goethe (5.4) und Stefan George (6.). In einem Exkurs zeige ich am Beispiel der Klopstock-Rezeption, wie die kritische Kommunikation in die philologische Kommunikation übergehen kann (5.1 u. 2) und welche werkpolitischen Gemeinsamkeiten Kunst und Wissenschaft verbinden (5.4.3). Die ausgewählten Modelle von Werkpolitik, die ich detailliert untersuche, sind insofern paradigmatisch (s. 1. e), als sie in avancierter Weise auf das Problempotential kritischer Kommunikation reagieren und entsprechende Lösungen anbieten. Darüber hinaus sind die behandelten Autoren zeitlich so situiert, daß man Werkpolitik als Reaktion auf die Aporien der kritischen Kommunikation vor, bei und nach dem Institutionalisierungsprozeß der Philologie beobachten kann. Auf diese Weise wird ein Raster aufgestellt, das weitere Studien auffüllen oder modifizieren können. Es läßt sich dabei nicht ausschließen, daß es Werkpolitiken gibt, die anders als die hier untersuchten funktionieren; und es läßt sich ebenfalls nicht ausschließen, daß Autoren von Werkpolitiken zum Beispiel zu Schrift- oder _____________
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der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit; Adler: Bändigung des (Un)Möglichen (s. hier auch die Rede von einer „Politik“ des Verhältnisses von Aufmerksamkeit und Erkenntnis, ebda., S. 42, sowie die Hinweise auf den Zusammenhang von Selektion und Aufmerksamkeit, ebda., insbes. S. 46 u. 50); Thums: Aufmerksamkeit (s. hier zum Zusammenhang von Ganzheit und Detailismus, ebda., S. 69ff.); zu weiterer neuerer Forschungsliteratur vgl. Laak: Literarisches Wahrnehmen – ästhetisches Handeln, S. 195ff. – zwei Momente sind hier besonders wichtig: zum einen die Frage, „woher die Aufmerksamkeit kommt“ (ebda., S. 200), zum anderen die These, daß „Ganzheit“ die „korrelative Idee der Aufmerksamkeit“ darstellt, wenn es um den „Vollzug der Aisthesis“ geht (ebda., S. 202). Prinzipielle und umfassende Überlegungen bei Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit. Freymüthige Nachrichten Von Neuen Büchern, Und Andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen 15 (1758), S. 299.
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Textpolitiken umschalten. Aber weitere Stichproben36 lassen eher vermuten, daß Anschlüsse an oder Variationen von Werkpolitiken, die ich im folgenden detailliert untersuchen werde, eher den Normalfall bilden. Die Orientierung an Autoren ist dabei zwar nur eine Möglichkeit der Gliederung – der einführende Teil meiner Studie zu ‚Aspekten kritischer Kommunikation‘ ist beispielsweise thematisch gegliedert. Ich habe mich jedoch nicht allein aus pragmatischen Gründen für die Ausrichtung an „Personen“ i. S. von „Verkehrssymbol[en]“37 entschieden, weil sich damit bestimmte Komplexitätsreduktionen verbinden. Denn an anderer Stelle, nämlich bei der Vielfalt der Perspektiven auf ein und dasselbe Moment der Werkpolitik, erlaubt eben diese Orientierung an Autoren Komplexitätssteigerungen. Anders gesagt: Man kann Textumgangsformen aus den unterschiedlichsten Perspektiven im Blick auf unterschiedlichste Texte (Gattungen, Genres etc.), Autoren- oder Lesertypen hin beobachten – mir geht es um Textumgangsformen, die von einem mehr oder weniger emphatischen Werkkonzept ausgehen. Man kann darüber hinaus eine Ästhetikgeschichte des Werks schreiben, eine Sozialgeschichte, eine Feldgeschichte, eine Diskursgeschichte, eine Kommunikationsgeschichte, eine Ökonomie- oder Rechtsgeschichte u.s.f. Den methodischen Vorlieben stehen hier alle Wege offen. Mir war es wichtig, eine Vielfalt von methodischen Zugriffen zu erproben und damit zu zeigen, daß eine Analyse der Werkpolitik auf vielen Ebenen zu operieren hat. Dazu gehört nicht zuletzt die Relevanz dieser Untersuchungsperspektive für die interpretierende Erschließung von Texten, die ich immer wieder zumindest in Ansätzen zu demonstrieren versuche (z. B. 4.2 oder 5.3.5). Im letzten Kapitel zu Stefan George wird daher ein Gedicht ausführlicher analysiert, um zu belegen, daß die Untersuchung von Werkpolitik nicht auf der Ebene von Rahmenbedingungen oder Konzepten von Texten stehen bleibt, sondern diese Texte selbst detailliert in den Blick nimmt (6.1). Akzente habe ich insgesamt bei einer mediengeschichtlich perspektivierten Diskursgeschichte gesetzt, weil sich aus dieser Richtung meine Frage nach der Etablierung von Negativität am klarsten historisch konturieren ließ (2.). Ich gehe mit der Diskursanalyse von der heuristischen Annahme aus, daß das Werk „weder als unmittelba_____________ 36
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Am Beispiel Thomas Manns, der in vielfacher Hinsicht als oppositionelles Pendant zu Stefan George (6.) gesetzt werden kann, habe ich den Zusammenhang von Literatur und Literaturwissenschaft untersucht: Verf.: Die Geistesgeschichte der Gegenwartsliteratur; für die Gegenwartsliteratur habe ich entsprechende Zusammenhänge am Beispiel Matthias Polityckis entwickelt: Verf.: „In der Hölle soll sie braten“ (hier auch weitere Hinweise auf Fragestellungen und exemplarische Fälle zum Thema). Zu diesem „Person“-Begriff vgl. Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft, S. 28ff., Zitat S. 39 – die eingängige Unterscheidung lautet: „Menschen werden geboren. Personen entstehen durch Sozialisation und Erziehung“ (ebda., S. 38).
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re Einheit noch als eine bestimmte Einheit noch als eine homogene Einheit“ betrachtet werden sollte38 und daß danach zu fragen ist, wie eben diese Effekte der Einheitlichkeit und Homogenität dennoch oder gerade deswegen zustande kommen.39 b) Widersprüche der Werkpolitik Die Werkpolitik ist dem Problem der Werkherrschaft insofern übergeordnet, als sie Herrschaftsverhältnisse offen läßt und nur voraussetzt, daß es überhaupt um Aushandlungen von Mächtigkeit geht, wenn sich Leser und Autoren mit einem Werk beschäftigen. Daß „Autorschaft“ „Werkherrschaft“ sei, wie die titelgebende These des wichtigen ‚Werks‘ von Heinrich Bosse lautet, mag vor dem Hintergrund der Geschichte des Urheberrechts einleuchten. Aber selbst in der juridischen Definition gibt es Unruheherde und Unsicherheitsfaktoren. In der ersten Bestimmung von „Werkherrschaft“, die der Erfinder des Begriffs, der Jurist Ernst E. Hirsch, im Jahr 1948 in den Annales de l’Université d’Ankara vorgenommen hat, ist dieses Moment der Unsicherheit zumindest unterschwellig bereits vorhanden. Hirsch, der 1933 seiner Ämter enthoben und in demselben Jahr an die Universität Istanbul berufen wurde, von dort an die Universität Ankara und 1952 an die Freie Universität Berlin wechselte, bestimmt den Begriff folgendermaßen: Neben die uns geläufigen Rechtspositionen der Persönlichkeit, des Eigentums, der Ehe, der Kindschaft, der Erbschaft, des Schuldverhältnisses usw. tritt die durch die Schaffung und (oder) Veröffentlichung eines Geisteswerkes zur Entstehung gelangende Rechtsposition als Quelle von Ansprüchen und Befugnissen vorwiegend vermögensrechtlicher oder vorwiegend persönlichkeitsrechtlicher Natur. [...] Es gilt also, eine Bezeichnung zu finden, welche die rechtliche Position, aus welcher die dem Urheber zustehenden Rechte und Befugnisse gleichsam wie aus einer Quelle herausfließen, in etwa in gleicher Weise zu umschreiben geeignet ist, wie die Ausdrücke ‚Kindschaft‘, ‚Inhaberschaft‘, ‚Eigentum‘, ‚Persönlichkeit‘ usw. die diesen Ausdrücken entsprechende Rechtsposition umreißen. Man könnte an das Wort ‚Urheberschaft‘ denken, das mir jedoch, zumal wegen seiner eigentlichen Bedeutung, juristisch allzu farblos erscheint. Da der Ausdruck ‚Eigentum‘ im deutschen, schweizerischen und türkischen Rechte sich nur auf körperliche Gegenstände bezieht, und da auch in den die Bezeichnung ‚proprieté‘ verwendeten Rechtsordnungen die Rechte des Urhebers am Geisteserzeugnisse von den Rechten des Sacheigentümers erheblich abweichen, schlagen wir zur Be-
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Foucault: Archäologie des Wissens, S. 38. Zur statistischen Lösung des Problems vgl. z. B. Burrows: Computers and the Idea of Autorship; sowie Rudman: The State of Autorship Attribution Studies.
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zeichnung der Rechtsposition als solcher den Ausdruck ‚Werkherrschaft‘[ ] vor. Diese Bezeichnung versucht deutlich zu machen, daß die rechtliche Position, in der sich der Urheber durch die Schaffung und (oder) Veröffentlichung seines Werkes kraft Gesetzes befindet, ein Herrschaftsverhältnis ist, das einerseits dem Schöpfer gewisse verkehrsfähige Rechte und Befugnisse hinsichtlich der Verwertung und Nutzung des Werks verleiht, andererseits aber auch die unlösbare Verbindung zwischen Werk und Urheber und die hierdurch bedingte untrennbare Mischung von vermögensrechtlichen und persönlichkeitsrechtlichen Elementen zur Folge hat. 40
Die Kombination aus „vermögensrechtlichen und persönlichkeitsrechtlichen Elementen“ bei der Bestimmung von Werkherrschaft deutet darauf hin, daß das Konzept der Werkherrschaft sich zu dem Zeitpunkt in der Entfaltung einer urheberrechtlichen Gesetzgebung durchsetzt, als die Werke auf den Markt gehen. Oder umgekehrt: Indem die Marktförmigkeit die literarische Kommunikation bestimmt, wird ‚Eigentum‘ auf neue Weise gedacht. Der ökonomische Verkehr bindet das Werk ein. Sobald das Werk diesen neuen Verkehrswert erhält, entwickelt sich der Gedanke, daß es sich eben nicht von seinem Urheber löse, also prinzipiell verkehrsuntüchtig sei. Obwohl das Werk ökonomisch in einem zuvor ungekannten Maß entäußert und marktgängig wird, soll es an den Autor gebunden bleiben. Man kann dies als die in sich widersprüchliche Ökonomie des Genies bezeichnen.41 Entscheidend für die vorliegende Analyse von Werkpolitik ist die Frage, ob, wie und warum die Werkherrschaft und die Infragestellung der Werkherrschaft zwei Seiten einer Medaille bilden. Das Problem konturiert sich, wenn man den Werkbegriff als zentrale Kategorie der Zuordnung und Eingrenzung von materiellen Gebilden (von Büchern, Schriften u. a.) und immateriellen Gebilden behandelt (von Bedeutung, Sinn, Werten u. a.). In bestimmten Zusammenhängen, die theoretisch und praktisch die Perspektiven und das Vorgehen der Literaturwissenschaft wesentlich bestimmt haben und noch immer bestimmen, definiert das Werk Grenzen der Interpretation. Dies soll zunächst nur einen empirischen Befund meinen: In einer beträchtlichen Anzahl literaturwissenschaftlicher Seminare und Studien werden Werke behandelt, seien es Einzelwerke, seien es thematisch oder generisch bestimmte Werkteile oder sei es das Gesamtwerk eines Autors. Das Werk bildet den ‚Gegenstand‘ und das Ausstellungsstück für Kompetenzen der Detailbeobachtung wie der Ganzheitswahrnehmung, und es fungiert als Adressat für eine Reihe typischer Fragen (oder beantwortet sie): _____________ 40 41
Ich zitiere im folgenden nach dem Wiederabdruck des Artikels Die Werkherrschaft. Ein Beitrag zur Lehre von der Natur der Rechte an Geisteswerken in Hirschs Festschrift von 1963 (hier S. 50, 54). Dazu umfassend Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft.
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Das sind vor allem Fragen nach der ‚Identität‘, der organisierten Einheit des künstler[ischen] Gebildes, der Selbständigkeit seiner Gestalt und dessen Verhältnis zum lebendigen Prozeß der literar[ischen] Kommunikation; nach der Individualität, der ästhet[ischen] Einmaligkeit, dem Ausschließlichkeitsanspruch des W. und seiner gleichzeitigen Zugehörigkeit zu einer literar[ischen] Gattung, seinem Eingebettetsein in die literaturgeschichtl[iche] Tradition; nach der Verbindung zweier sozusagen konkurrierender Aspekte – dem ästhetischen Charakter des W. und seiner (besonderen) Geschichtlichkeit.42
Wie in Hirschs Definition von Werkherrschaft weist auch die zitierte Funktionsbestimmung des Werks von Wolfgang Thierse eine Reihe von zunächst widersprüchlich erscheinenden Elementen auf. Demnach zeichnet sich das Werk durch eine permanente Doppelbewegung der Zentrierung und Dezentrierung auf unterschiedlichen Ebenen aus: Das Werk sorgt für die Abkapselung der Aufmerksamkeit („Selbständigkeit seiner Gestalt“), und es liefert das künstlerische „Gebilde“ der literarischen Kommunikation aus; es markiert Autonomie und Selbstabgeschlossenheit, und zugleich ordnet es das künstlerische „Gebilde“ in heteronome Zusammenhänge beispielsweise gattungs- oder literaturgeschichtlicher Art ein. Aus Thierses Perspektive, die deutlich von der rezeptionsästhetischen Wende der 1970er und 1980er Jahre geprägt ist, erweist sich in diesen und anderen konzeptionellen Konkurrenzen die Kommunikationsfunktion des Werks: „Es ist der Werkbegriff, der ganz wesentlich (aber natürlich nicht allein) die künstlerische Kommunikation vereinheitlicht, Beteiligung organisiert, Einstellungsbeliebigkeiten reduziert, Erwartungen reguliert“.43 Die „Werk-Konvention“, so Thierse, prägt „unsere ästhetische Erfahrung, steuert die Selektion und Rezeption von Werken, erlangt kommunikative Realität“.44 Dies ist schon deswegen einleuchtend, weil das Werk für die Hermeneutik von eminenter Bedeutung ist. Genauer geht es dabei insbesondere um die „Totalität des Werks“45, wie Friedrich Schleiermacher bei der Erläuterung der „psychologischen Auslegung“ festhält und damit zugleich wirkmächtig setzt: „Der gemeinsame Anfang für diese Seite der Auslegung und die grammatische ist die allgemeine Übersicht, welche die Einheit des Werkes und die Hauptzüge der Komposition auffaßt“.46 Und in der Entfaltung dieser Auffassung wird die hermeneutische Aktion selbst zum _____________ 42 43 44 45 46
Thierse: Werk, S. 569; vgl. auch: ders.: Thesen zur Problemgeschichte des Werk-Begriffs. So im Anschluß an Niklas Luhmanns Bestimmung des Kunstwerks: Thierse: „Das Ganze aber ist das, was Anfang, Mitte und Ende hat“, S. 379. Thierse: Thesen zur Problemgeschichte des Werk-Begriffs, S. 442. Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, S. 185. Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, S. 167.
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„Kunstwerk“,47 weil sie das „Thema“, das die „Einheit des Werkes“ bildet, als „das den Schreibenden bewegende Prinzip“ in stetem und sich nie erschöpfendem Wechsel von Teil und Ganzem entfaltet.48 Damit sind die entscheidenden Konzepte genannt, die eine bestimmte wirkmächtige Form der Werkästhetik ausmachen: das Ineinander von Partialität und Universalität, das die Totalität des Werks bildet, sowie die unendliche, nicht zu Ende kommende Auslegungsarbeit, die auf der Eigentümlichkeit und Individualität des Werks als Ausdruck eines Individuums gründet. Kurz: In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bildet sich konzeptionell und begrifflich die Vorstellung von „Texten als Ganzheiten hoher (oder höchster) innerer Bestimmung“ (1. d).49 Dieser emphatische Werkbegriff geht davon aus, daß der Leser das Werk nie ganz durchschauen kann und daß das Werk einen unendlichen Bedeutungsschatz birgt. Wichtig daran ist: Gerade die Endlichkeit des Werks soll seine infinite Sinnfülle bewirken. Diese neuerliche Kombination von Zentrierung und Dezentrierung wird in der idealistischen Ästhetik ausbuchstabiert, bei Friedrich Schlegel etwa, bei Novalis, bei Hegel oder bei Schelling. Theoretiker wie diese waren auf unterschiedliche Art von dem Gedanken fasziniert, daß im „Werk“ eine „Unendlichkeit dargestellt“ werde, „welche ganz zu entwickeln kein endlicher Verstand fähig ist“,50 und daß daher „jedes wahrhaft poetische Kunstwerk ein in sich unendlicher Organismus“ sei.51 Man sieht: Der emphatische Werkbegriff traut dem Kunstwerk ungemein viel zu. Ohne an dieser Stelle auf die Gründe für dieses Vertrauen einzugehen, will ich zunächst die eigentlich erwartba_____________ 47 48
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Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, S. 81: „Das volle Geschäft der Hermeneutik ist als Kunstwerk zu betrachten [...]“. Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, S. 167ff.: „Aber die Einheit des Werkes, das Thema, wird hier angesehen als das den Schreibenden bewegende Prinzip, und die Gründzüge der Komposition als seine in jener Bewegung sich offenbarende eigentümliche Natur. [...] der Verfasser ordnet sich nun den Gegenstand nach seiner eigentümlichen Weise, die sich in seiner Anordnung abspiegelt [...]. Das letzte Ziel der psychologischen (technischen) Auslegung ist auch nichts anderes als der entwickelte Anfang, nämlich, das Ganze der Tat in seinen Teilen und in jedem Teil wieder den Stoff als das Bewegende und die Form als die durch den Stoff bewegte Natur anzuschauen. [...] Individuelle Anschauung ist nicht nur niemals erschöpft, sondern auch immer der Berichtigung fähig. [...] kein genaues Verständnis dieser Art ohne Kenntnis der gleichzeitigen verwandten Literatur und dessen, was dem Verf. als früheres Muster des Stils gegeben war“. Danneberg: Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien, S. 254. So Schelling im System des transzendenten Idealismus (Werke. Bd. 2, S. 293) – Schelling ist sich im übrigen nicht sicher, ob der Autor oder das Werk die Unendlichkeit der Bedeutung verbürgt: „So ist es mit jedem wahren Kunstwerk, indem jedes, als ob eine Unendlichkeit von Absichten darin wäre, einer unendlichen Auslegung fähig ist, wobei man doch nie sagen kann, ob diese Unendlichkeit im Künstler selbst gelegen habe, oder aber bloß im Kunstwerk liege.“ Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Bd. III, S. 270.
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re Verwunderung darüber festhalten, daß gerade das aufs schärfste begrenzte Werk die Bedeutungshorizonte entgrenzen soll. Zwar ist die Werkästhetik ‚um 1800‘ in einem spezifischen Sinn eine historische Ganzheitsästhetik.52 Die Leitbegriffe der Werkästhetik sowie die Wünsche, Sehnsüchte und Hoffnungen, die sich mit der Produktion eines Werks verbinden, haben indes eine längere Tradition. Dazu gehört die Phantasie, das Werk sei eine gleichsam zeitenthobene Sache, wie sie die zum Topos gewordene Horazische Behauptung „Exegi monumentum aere perennius“ zum Ausdruck bringt.53 Dieser Stabilisierungsfunktion des Werks54 folgend, definiert Horst Thomé das Werk als „Ergebnis einer produktiven (handwerklichen, künstlerischen, schriftstellerischen, wissenschaftlichen) Tätigkeit“ und führt dazu in genauerer Bestimmung eines literarischen und literaturwissenschaftlichen Werk-Begriffs aus: Im Kontext von Literatur und Literaturwissenschaft [...] meint Werk [...] das fertige und abgeschlossene Ergebnis der literarischen Produktion, das einem Autor zugehört und in fixierter, die Zeit überdauernder Form vorliegt, so daß es dem Zugriff des Produzenten ebenso enthoben ist wie dem Verbrauch durch den Rezipienten.55
Zu dieser raum-zeitlichen Stabilität, die man dem Werk zugetraut hat, kommen noch weitere Begriffe hinzu, die es sinnvoll machen, die Vorstellung vom Werk mit Vorstellungen von Geschlossenheit zu assoziieren. Historische Leittheorien dafür sind u. a. das aristotelische Modell von der organischen Ganzheit und Geschlossenheit des „ergon“56 sowie die korrespondierende Bestimmung der Tragödie als „Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe [...]“. Die „Nachahmung von Handlung“ bezeichnet Aristoteles als „Mythos“ und bestimmt diesen als „Ganzes“, das „Anfang, Mitte und Ende hat“.57 Die Leitwerte der zweiten kanonischen antiken Poetik weisen in dieselbe Richtung: Horaz‘ Ars poetica kreist um die Begriffe von „unum“, „totum“ und „simplex“.58 Angesichts der Überzeitlichkeit, Geschlossenheit, Einheitlichkeit sowie der literarischen Wertigkeit und Funktionsbestimmung, die sich mit eben diesen Kriterien verbinden, erscheint die Rede vom ‚offenen Kunstwerk‘, wie sie Umberto Eco geprägt hat (1. d), in sich problematisch. Angesichts der konstitutiven Offenheit des Bedeutungshorizontes, der sich _____________ 52 53 54 55 56 57 58
Vgl. dazu Danneberg: Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien. Horaz: Oden und Epoden, S. 182 (carm. III, 30). Dieter Schlenstedt spricht vom „Produktcharakter“ des Werks (Literarisches Werk? S. 9). Thomé: Werk, S. 832. Thierse: Werk, S. 569. Aristoteles: Poetik, 6f. Fuhrmann: Die Dichtungstheorie der Antike, S. 129
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gleichermaßen mit dem emphatischen Werkbegriff verbindet, wird umgekehrt die Vorstellung eines ‚geschlossenen Werks‘ nicht minder fragwürdig.59 An dieser Stelle ist entscheidend, daß der emphatische Werkbegriff in bestimmter Hinsicht all das ausschließt, was den sogenannten ‚Neueren Methoden‘ lieb und teuer ist: die Zeitlichkeit des Werks, seine Disparität und die Durchleuchtung der „Ideologie des Ästhetischen“60, die nur kontrafaktisch eine an den Gedanken der Ganzheit und Totalität gebundene Form künstlerischer Wertigkeit plausibilisiert. Daher kann man auch den Eindruck gewinnen, daß „der Werkbegriff kaum eine Rolle mehr in der wissenschaftlichen Terminologie“ spielt und durch das attraktivere Konzept des Textes abgelöst worden ist.61 Vielleicht verlieren solche Enthüllungen ihre katastrophischen Implikationen, wenn man die Differentialität von Identitätsbildung in ihrer Konstruktivität und Produktivität betrachtet. Die Vermutung, daß etwas nur es selbst sei, weil und insofern es sich von etwas anderem unterscheide,62 unterläuft auf der einen Seite Substantialität oder wesenhafte Bestimmtheit. Aber diese Gedankenfigur erlaubt zugleich, die wechselseitige Abhängigkeit von Differentialität und Identität in den Blick zu rücken. Man kann dann etwas entspannter mit den dekonstruktiven Folgen der Differenztheorien und den Implikationen der intertextuellen Auflösung von Werkgrenzen umgehen.63 Dies gilt bereits für das Verhältnis von Einzelwerk und Gesamtwerk. Das Gesamtwerk ist eine vom Einzelwerk aktivierbare größere Bezugseinheit, die gegebenenfalls das „Verstandenwerden“ des einbezogenen Textes begünstigt.64 Die Rede vom ‚Werk‘ im Singular scheint mir dabei legitim zu sein, weil das Einzel- und das Gesamtwerk sich wechselseitig bestimmen. Man kann dies daran sehen, daß das Interesse für ein Gesamtwerk sich über den besonderen Wert einzelner Werke bestimmt und _____________ 59
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Vgl. hierzu Ecos Unterscheidung zweier Formen von ‚Offenheit’ des Kunstwerks, einer prinzipiellen und einer historisch spezifisch modernen: Das offene Kunstwerk, z. B. S. 132. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Unterscheidung einer „Hermeneutik der Entfaltung“ von einer „Hermeneutik der Reduktion“ bei Japp: Hermeneutik, z. B. S. 10f.; zur Begrenztheit des Werks aufgrund seiner Schriftlichkeit ebda., S. 88f. Zur „untere[n] Grenze dessen, was von Künstlern des 20. Jahrhunderts noch als Kunstwerk angesehen wird“, vgl. Schulze: Das aleatorische Spiel. Vgl. dazu Christoph Menkes Nachwort zu einem Paul de Man-Band unter dem zitierten Titel: „Unglückliches Bewußtsein“, insbes. S. 272ff. Jahraus: Literaturtheorie, S. 113 – allerdings gilt das gerade nicht für Niklas Luhmann (ebda., S. 114), der eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für Jahraus’ Modell der „Grundlagen der Literaturwissenschaft“ hat (1. d). Zum konzeptionellen Übergang vgl. Barthes: Vom Werk zum Text (s. u.). Derrida: Die différance, S. 42. In diese Richtung geht der Ansatz von Stierle: Werk und Intertextualität. So Vladimir Biti im Anschluß an Jurij M. Lotman in: Gesamtwerk, S. 303.
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daß dann das Gesamtwerk den Wert einzelner Werke zu bestimmen vermag. Auch auf diese Weise werden die Grenzen des Werks, das insbesondere als Gesamtwerk seine Gravitationskraft entfaltet, wieder durchlässig. Denn das Interesse am Einzelwerk, das über seinen Kontext im Gesamtwerk gestiftet wird, kann seinerseits auf das Gesamtwerk und dessen Verhältnis zu weiteren literaturgeschichtlichen Kontexten erweitert werden. Goethe formuliert dies in seiner Schrift Über Laokoon (1797) so: „Wenn man von einem trefflichen Kunstwerke sprechen will, so ist es fast nöthig, von der ganzen Kunst zu reden, denn es enthält sie ganz, und jeder kann, so viel in seinen Kräften steht, auch das Allgemeine aus einem solchen besondern Fall entwickeln […]“ (WA I/47, 101). In einer eigentümlicheren Diktion lautet der Befund bei Martin Heidegger: Wie auch die Entscheidung fällt, die Frage nach dem Ursprung des Kunstwerks wird zur Frage nach dem Wesen der Kunst. [...] Die Kunst west im Kunstwerk. [...] Was die Kunst sei, soll sich aus dem Werk entnehmen lassen. Was das Werk sei, können wir nur aus dem Wesen der Kunst erfahren. [...] So müssen wir den Kreisgang vollziehen.65
Was also gehört zum Werk? Wo liegen seine Grenzen? Im folgenden wird sich zeigen, wie eng das Interesse am Werk mit einem Interesse an der Geschichte in unterschiedlicher Form verbunden ist (z. B. 3.3 c u. 5.2) – auch dies reiht sich in die werkpolitische Verbindung von Gegensätzen ein, wenn das Werk gerade durch seine Transhistorizität ausgezeichnet wird. An dieser Stelle bleibt zunächst, erneut an Foucaults Frage nach dem Werk zu erinnern. Daß eine Antwort auf diese Fragen nicht leicht fällt, liegt auch daran, daß die Leser und ihre Entscheidungen (die manchmal eben keine bewußten Entscheidungen sind) dabei offensichtlich eine außerordentlich große Rolle spielen. Historische Unterschiede lassen folglich verschiedene Werkauffassungen ebenso erwarten wie methodische Unterschiede. Max Wehrli faßt dies in einem Szenario Vom Schwinden des Werk-Begriffs so zusammen: Wo der Text synchron in einem offenen, vieldeutigen Zusammenhang schwebt und diachron der Unabsehbarkeit überlieferungsmäßiger Umdeutung und Weiterdeutung unterliegt, muß es schwierig werden, den jeweils maßgebenden Text zu bestimmen, einen authentischen vom unechten, unrichtigen, fehlerhaften Text zu unterscheiden.66
Zusätzliche Schwierigkeiten entstehen dann, wenn man nicht nur nach den Grenzen des Werks, sondern auch nach dessen Materialität fragt: Ist die Materialität ein Bestandteil des Werks oder nicht? Und wenn sie es ist: Wie tragfähig ist dann die Behauptung, daß ein „Text“ als syntaktische Einheit im Unterschied zum „Werk“ als einer semantischen Größe ein_____________ 65 66
Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerks, S. 8f. Wehrli: Vom Schwinden des Werk-Begriffs, S. 3.
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deutig identifizierbar sei?67 Wo finden wir den Text eines Werks? Und auch in der Diskussion um den Unterschied von ‚Text‘ und ‚Werk‘ ergeben sich widersprüchliche Funktionen: Diese Diskussion geht von der Imagination aus, daß zwei Autoren zwei identische Texte produzieren, ohne sie voneinander abzuschreiben – Jorge Luis Borges’ Frage nach Cervantes oder Pierre Menard als dem wahren Autor des Don Quijote ist das kanonische Beispiel für dieses Gedankenspiel. Es ist schlüssig, die textualistische Position zu räumen, weil die Identifikation von Werk und Text hier viele Probleme bereitet. Man kann dann sagen, daß ein Text – z. B. als (mehr oder weniger) identische Abfolge von Wörtern – durchaus zu zwei Werken als historisch und interpretatorisch unterscheidbaren Objekten führen kann68 und daß somit der Text die einheitsbildende, das Werk die pluralisierende Funktion in der literarischen Kommunikation übernimmt. Dieses imaginierte Problem trifft allerdings nicht das faktische Problem des Umgangs mit Texten als Werken. Dies nämlich besteht vornehmlich darin, wie unterschiedliche Texte zu einem Werk zusammengefaßt werden können (1. d).69 Welche Operationen erlauben uns also, z. B. die Textfassungen der Leiden des jungen Werthers als Fassungen eines Werks zu betrachten? In diesem und in vergleichbaren Fällen übernimmt der Text die pluralisierende und das Werk die einheitsbildende Funktion in der literarischen Kommunikation. Dies ändert freilich nichts daran, daß Werk und Text sinnvoll als etwas Unterschiedliches behandelt werden können. Wie auch immer man sich hier entscheidet: In mediengeschichtlicher Dimension wird man bei der Analyse von werkästhetischen Zentralkategorien wie Abgeschlossenheit, Überzeitlichkeit und Interpretierbarkeit einen Faktor einbeziehen müssen: die Schriftlichkeit. „Das Werk erhält relative Selbständigkeit erst und insofern, als zwischen Produktion und Konsumtion ein ‚Intervall‘ getreten ist, die orale Stufe der Poesie mit ihren (nicht werkhaften) Kommunikationsformen verdrängt wurde durch die schriftlich fixierte Form der Poesie, die literarische Werk-Form“.70 Genau zu diesem Zeitpunkt der medialen Zerdehnung von Kommunikationssituationen aber ergibt sich das Problem der Werkherrschaft und damit eine weitere Kombination des Gegenläufigen in der Werkpolitik. Platon behandelt die Gefahren für das Werk in seiner berühmten Schriftkritik im Phaidros. Sokrates erklärt dort: _____________ 67 68 69 70
Vgl. dazu Goodman / Elgin: Revisionen, S. 71ff. Für die Hinweise auf die Diskussion um das Werk in der analytischen Ästhetik danke ich Tom Kindt. Currie: Work and Text. In diese Richtung deutet Livingston: Texts, Works, Versions (with Reference to the Intentions of Monsieur Pierre Menard), S. 115, 122f., 127ff. Thierse: „Das Ganze aber ist das, was Anfang, Mitte und Ende hat“, S. 388.
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[...] einmal niedergeschrieben, treibt sich jedes Wort allenthalben wahllos herum, in gleicher Weise bei denen, die es verstehen, wie auch genau so bei denen, die es nichts angeht, und weiß nicht zu sagen, zu wem es kommen sollte und zu wem nicht. Wenn es dann schlecht behandelt und ungerechterweise geschmäht wird, so bedarf es immer seines Vaters, der ihm helfen sollte: denn selbst kann es weder sich wehren noch sich helfen.71
In der Produktion wie in der Rezeption erlaubt die mediale Fixierung, auf Schrift dauerhaft zu reagieren. Schrift stellt jene Stabilität zur Verfügung, die die Suggestion von Werkhaftigkeit erzeugt. Aber die Schrift ermöglicht zudem konzeptionell Varianten und Lesarten, vervielfältigt, zerstreut und verzeitlicht das Werk. Zusammenfassend: Die Werkpolitik hat ökonomische und juristische Aspekte, weil das (emphatisch verstandene) Werk auf wirtschaftlichen und rechtlichen Beziehungen gründet bzw. weil es Recht und Wirtschaft ermöglicht, auf ihre systemisch spezifischen Weisen mit Literatur umzugehen. Zugleich dementiert das Werk diesen Zusammenhang, weil es sich selbst als autonom oder als einzigartig setzt. Diese eigentümliche Position zwischen Autonomie und Heteronomie betrifft auch die Funktion und Position des Werks in der literarischen, in der literaturkritischen und in der literaturwissenschaftlichen Kommunikation: Das Werk und seine Konzeption steuern die entsprechenden Austauschformen in weiten Bereichen. Je nach Werkkonzept verändern sich die Relevanz und Legitimität von Fragen, die an das Werk gestellt werden. In bestimmten Zusammenhängen gilt es als Garant für Interpretierbarkeit überhaupt. Die Überzeitlichkeit, die Geschlossenheit, die Einheitlichkeit und der literarische Wert des Werks sind dabei Leitorientierungen. Freilich wird es zugleich und gerade durch diese Fokussierung des Interesses zu einem Attraktionspunkt für unterschiedliche Kontexte. Das Werk ist nur in der Umgebung von Literatur identifizierbar, und umgekehrt sind Werke der Ort, wo Literatur in Erscheinung tritt.72 Ebenso wird das Einzelwerk im Gesamtwerk relevant und das Gesamtwerk über das Einzelwerk. An dieser Grenzwertigkeit des Werks ist auch die Rezeption produktiv beteiligt: Das Werk gibt dem Leser Lektüremöglichkeiten vor. Es ist gleichsam der Kristallisationsort von Normen des Umgangs mit Literatur. Insofern das Werk zumal in historischer Dimension aber auch deutlichen Konstruktcharakter (also nicht nur: Produktcharakter) hat, wird es zum Werk in der Rezeption. Und schließlich gehört die Materialität des Werks _____________ 71 72
Platon: Phaidros, 275. Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, z. B. S. 632; vgl. zur notwendigen Kenntnis der Feldgeschichte für einen kennerischen Umgang mit aktuellen Feldpositionen Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 168.
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zu den Ermöglichungsbedingungen von Werkhaftigkeit. Die konzeptionelle Fassung des Werks ist auch medienhistorisch ableitbar, weil die physische Stabilität der Schrift die Gedankenfiguren von Abgeschlossenheit, Überzeitlichkeit und Interpretierbarkeit provoziert. Zugleich stellt sich mit der Frage nach der Materialität die Frage nach dem Umgang mit dem Werk noch einmal in verschärfter Weise. Wenn das Werk in seiner materiellen Gestalt bestimmte Werkkonzeptionen privilegiert: Kann dann das Werk z. B. von seinen textuellen Manifestationen abgelöst werden? Wie verhalten sich Idealität und Materialität, das Intelligible und das Sensible im Werk? Entscheidend ist für die folgenden Überlegungen, daß man die gegenläufigen Momente der Werkpolitik nicht aus dem Auge verliert und methodisch einsinnigen Lösungen gegenüber skeptisch bleibt: Immer nämlich fällt das Konzept oder die Einsetzung des emphatisch verstandenen Werks mit der Infragestellung der Grenzen des Werks zusammen. Indem die Marktförmigkeit die literarische Kommunikation bestimmt, wird der Gedanke des Eigentums nicht zuletzt urheberrechtlich auf neue Weise gedacht. Das Werk wird in den ökonomischen Verkehr eingebunden und zugleich für prinzipiell verkehrsuntüchtig erklärt: Es bleibt stets bei seinem Urheber und bewegt sich nicht von ihm fort. Zwar etabliert sich das Werk in diesen Zusammenhängen ‚um 1800‘ als zentrale, auf einen Autor zugeordnete Instanz für die literarische Kommunikation. Aber nicht nur verbinden sich in der hermeneutischen Fassung des Werks bei Schleiermacher die Geschlossenheit des Werks und die Offenheit der Bedeutung, sondern darüber hinaus entstehen irritierenderweise gleichzeitig mit dem emphatischen Werkbegriff Modelle der Unzurechenbarkeit und Unabgeschlossenheit, etwa in der Volkslied-Theorie oder in der Ästhetik des Fragments. Schließlich erlaubt die Unterscheidung von Werk und Text auf der einen Seiten, unterschiedliche Werke auf einen Text zu beziehen, und zugleich, unterschiedliche Texte auf ein Werk. Und noch grundlegender: Wenn das Werk an die schriftliche Fixierung gebunden ist, die den Eindruck von Stabilität erzeugt, dann ist zugleich die schriftliche Fixierung dafür verantwortlich, daß das Werk den unterschiedlichen Perspektiven bzw. den Lesern ausgeliefert und dort gerade variantenreich wahrgenommen, vielleicht sogar in seinem Variantenreichtum ediert wird. Kurz: Das Werk selbst sorgt für seine eigene Problematisierung; und die Problematisierung des Werks arbeitet der Bestätigung von Werkhaftigkeit zu.
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c) Elemente einer Geschichte der Werkpraxis Die Werkpolitik hat mit einer Reihe von Widersprüchen zu schaffen, die dazu führen, daß die Einsetzung der Idee von Werkherrschaft mit der Unwahrscheinlichkeit oder der Infragestellung von Werkherrschaft konvergiert. Daß hier einige nur schwer lösbare Probleme verborgen sind, sieht man bereits daran, daß der emphatische Werkbegriff sich nicht allein gemeinsam mit fragmentarischen oder kollektiven Formen des Werks und korrespondierenden Autorschaftsmodellen durchsetzt, sondern auch gemeinsam mit dem Motiv des Künstlers ohne Werk.73 Die unmöglich zu realisierenden sowohl autonomen als heteronomen Orientierungen des Werks führen zu dem Projekt, das Werk als solches der Kommunikation und Beobachtung zu entziehen. Künstlerische Perfektion wird in dieses invisibilisierte Werk verlagert, um dadurch gleichermaßen die Gefahrenlage wie das Anforderungsprofil der emphatischen Werkästhetik zu umgehen: Der Maler Conti in Lessings Emilia Galotti ist überzeugt davon, daß Raffael auch „ohne Hände“ das „größte malerische Genie gewesen wäre“74; und Goethes Werther fühlt – zumindest am Anfang seines Romans – gerade dann seine volle künstlerische Fähigkeit, als er unfähig ist, auch nur „einen Strick“ zu zeichnen.75 Das rezeptionsästhetische Pendant dieser an sich doch eher unplausiblen Entrückung des Werks formuliert Karl Philipp Moritz am Ende seiner Schrift Über die bildende Nachahmung des Schönen: „Und von sterblichen Lippen, läßt sich kein erhabneres Wort vom Schönen sagen, als: es ist!“76 Die enorme Leistung, die Autoren und Leser erbringen, wenn sie die Möglichkeiten des Werks in dieser Art entfalten und zur Geltung bringen, ohne sich von etwaig gegenläufigen Momenten seiner Konzeption stören zu lassen, kann ein kurzer historischer Rückblick verdeutlichen. Ich werde dabei nur auf wenige Momente in der Geschichte des Werks eingehen und mich auf die Bestimmungen des Werks konzentrieren, die für die folgenden Kapitel von zentraler Bedeutung sind. Zunächst muß man dabei sehen, daß das, was wir heute auch in der Zeit vor 1700 als Werk identifizieren und behandeln, in einem äußerst komplexen und historisch spezifischen Zusammenhang von Politik, Gelehrtentum und Dichtkunst stand. Man kann dies idealtypisch an Texten von Martin Opitz und ihrer Editionsgeschichte verfolgen. Deren Exemplarität besteht nicht zuletzt darin, daß sie zeigen, wie problematisch die Rede von Exemplarität in dieser kulturellen Konstellation ist.
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Vgl. dazu Plumpe: Kunst ist Kunst. Lessing: Werke. Bd. 2, S. 135. Goethe: Die Leiden des jungen Werthers, S. 12. Moritz: Werke. Bd. 2, S. 991.
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Anders gesagt: Zwar etablieren sich nach 1700 individualisierte Autormodelle mit ebenso individualisierten Werkkonzepten. In ihrer Eigentümlichkeit und Abgeschlossenheit aber sind sie weitgehend miteinander vergleichbar. Im Unterschied dazu steht die rhetorische Literaturkultur unter dem Verdikt, keine Ausdruckskunst zu sein und damit eben auch mit Kategorien wie derjenigen der Individualität nur unangemessen erfaßbar zu sein.77 Gleichwohl erweisen sich die Werke hier in einem hohen Maß als singuläre Text-Kontext-Komplexe, weil das Werk auf situative Angemessenheit und Funktionstüchtigkeit angelegt wird. Opitz’ Teutsche Poemata, „das wirkungsvollste Buch deutscher Literatur im 17. Jahrhundert“,78 erscheinen zunächst 1624 in Straßburg, und zwar gemeinsam mit dem Aristarchus, also Opitz’ Schrift „Wieder die verachtung Teutscher Sprach“, sowie mit der „Verteutschung Danielis Heinsij Lobgesangs Iesu Christi, vnd Hymni in Bachum“ und einem „anhang Mehr auserleßener geticht anderer Teutscher Poeten. Der gleichen in dieser Sprach Hiebeuor nicht außkommen“. Die Ausgabe wurde von Julius Wilhelm Zinkgref veranstaltet, dem Opitz das Manuskript vor seiner Abreise nach Leiden gegeben hatte und der die Textmenge von Opitz’ Konvolut erweitert, weitere Opitiana mit dem „humanistischphilologische[n] Ziel der Vollständigkeit“ sammelt79 und den genannten Anhang von 55 Gedichten zum Teil schon verstorbener Autoren hinzufügt.80 Im Mai 1624 schickt Zinkgref ein Belegexemplar an den ‚Autor‘. Opitz antwortet darauf zunächst diplomatisch höflich, auch wenn er sich nicht für die Editorenarbeit bedankt, lehnt dann aber eine weitere Auflage der Straßburger Ausgabe ab – er selbst stelle eine verbesserte Ausgabe zusammen. Für die Neukonzeption der Teutschen Poemata gibt es eine Reihe von Gründen, die vor allem auch mit der Bewerbung um die Aufnahme in die Fruchtbringende Gesellschaft zusammenhängen könnten: Nach dem Sturz des ‚Winterkönigs‘ Friedrich V., als dessen Anhänger sich Opitz in Heidelberg dichterisch zu erkennen gegeben hatte, war eine konfessionspolitische Renovierung der Sammlung angebracht. Da in der neuen Ausgabe nicht nur die politisch, sondern auch die moralisch bedenklichen Gedichte fehlen, darf man weiterhin Skrupel angesichts der allzu offenherzigen Amatoria vermuten. Und schließlich gab es nach dem Erscheinen der Deutschen Poeterey als Programmschrift poetologische Gründe dafür, die eigenen Gedichte den Maßgaben der Versreform und anderen Prinzipien _____________ 77 78 79 80
Zur Problematik dieser Dichotomie vgl. Benthien / Martus: Aufrichtigkeit. Fechner: Nachwort, S. 3*. Fechner: Nachwort, S. 4*. Hierzu und zum folgenden Opitz: Gesammelte Werke. Bd. 2/1, S. 164ff.
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der Poeterey anzupassen.81 Man sieht an den Veränderungen sehr gut, daß das Werk von Situation zu Situation neu konzipiert werden kann. Bereits das Einleitungszeremoniel der Teutschen Poemata verdeutlicht weitere elementare Bedingungen von Werkhaftigkeit in der Frühen Neuzeit: Zinkgrefs Widmung an E.v. Rappoltstein begründet die Edition mit der Nationalkonkurrenz nach außen, mit der Steigerung von Selbstbewußtsein nach innen und insgesamt mit der sprachpatriotischen Einheit von Dichtung und Politik.82 Im Rahmen dieser Sprachpolitik fungiert Dichtung als Repräsentationsmedium der Herrschaftselite und als Vermittlungsinstrument staatsrelevanter Tugenden und Einstellungen.83 Poesie ist als objektive Norm setzbar, weswegen der Anhang der Gedichte, die nicht von Opitz stammen, als Exempelsammlung präsentiert wird, als „Muster und Fürbilde, wornach du dich in deiner Teutschen Poeterei hinfüro etlicher massen zu regulieren“.84 Opitz wird auf diese Weise zum Medium der überindividuellen Bemühungen um eine deutsche Nationalliteratur. Opitz verschiebt in seiner Vorrede im Vergleich zu Zinkgref zwar den Fokus von der Konkurrenz hin zur Orientierungsfunktion der anderen Nationalkulturen und betont den Aspekt der Gelehrsamkeit. Aber auch für ihn ist entscheidend, daß die Dichtkunst tugend- und hoftauglich ist und daß sie aufgrund ihrer sprachlichen Eleganz als Repräsentationsinstrument dient.85 Er gehorcht einer überindividuellen Norm, die er durch die Personifikation der Sprache einführt.86 Die auf die Vorreden folgende Reihe von Widmungsgedichten anderer Autoren zeigt ebenfalls, daß das Werk ein Brennpunkt sozialer Konstellationen ist, ein Medium der Bildung und Markierung von Beziehungen, die politisch, beruflich oder auch persönlich-freundschaftlicher Art sind. Diese Konstellationen können ständig wechseln, und die Werkpolitik stellt sich darauf ein, ohne deswegen per se unter den Verdacht der bloß strategischen Simulation zu geraten. Und selbst die Breslauer Ausgabe der Deutschen Poemata von 1625, auf deren Titelblatt Opitz nachdrücklich vermerkt, daß er nun die Verantwortung für die Sammlung selbst übernommen habe, führt nicht zu einer mehr oder weniger eigensinnigen Ordnung, sondern im Gegenteil _____________ 81 82 83 84 85 86
Roloff: Martin Opitz, S. 24. Opitz: Gesammelte Werke. Bd. 2/1, S. 168f. Opitz: Gesammelte Werke. Bd. 2/1, S. 170f. Auserlesene Gedichte Deutscher Poeten, S. 3. Opitz: Gesammelte Werke. Bd. 2/1, S. 172f., 176. Opitz: Gesammelte Werke. Bd. 2/1, S. 177. Opitz veranschlagt allerdings den Stellenwert seiner individuellen Helferfunktion bei der Entbergung nationalsprachlicher Qualitäten höher als Zinkgref.
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eher zu einer noch konsequenteren Verzahnung von Text und Kontext: Fama und Germania als Säulenfiguren des Titelbildes demonstrieren die gehobene Anspruchshaltung, die der Widmung an die Fruchtbringende Gesellschaft entspricht. Zudem deutet die Neuordnung der Gedichte nach Gattungen und gesellschaftlichen Hierarchien darauf hin, daß die entscheidenden Resonanzen des Werks karrierestrategischer und repräsentativer Art sein sollen.87 Diese spezifische Form der Offenheit gilt für Einzelwerke88 wie für Gesamtwerke gleichermaßen. Auf Grundlage dieser wenigen Anhaltspunkte lassen sich zumindest negative Bestimmungen des Werks in der rhetorischen Literaturkultur festmachen und daran einige Thesen anschließen: Das Paratextzeremoniell aus Widmungen, Vorreden und Texten anderer Autoren deutet darauf hin, daß das Werk kein selbstbestimmtes Ineinander von Teil und Ganzem sein soll; es bildet keine wie auch immer bestimmte Totalität, sondern präsentiert sich als Schnittstelle von überindividuellen literarischen, politischen und sozialen Fertigkeiten, von allgemein verfügbaren Traditionen, Normen und Interessen. Das Werk ist gerade aufgrund dieser Durchlässigkeit fürs Allgemeine in einen je besonderen Kommunikations- und Funktionszusammenhang eingeordnet, wobei Besonderheit nicht über Individualität erzielt wird. Von hier aus stellt sich die Frage, ob man in historischer Perspektive davon sprechen kann, daß in den verschiedenen ‚Texten‘ von Martin Opitz ein und dasselbe ‚Werk‘ eines ‚Autors‘ steckt. Jedenfalls ergibt sich aufgrund des je neuen Einsatzes eines bestimmten Werks in einer bestimmten Situation der Eindruck von werkgeschichtlicher Diskontinuität, so daß auch die Kategorie des Gesamt- oder des Lebenswerks problematisch wird. Aufgrund dieser Isolierung des je für sich stehenden Werks, dem eine prinzipielle Offenheit korrespondiert, sind auch die Rollen von Produzenten und Rezipienten nicht klar voneinander getrennt – die Dichter sollen Politiker sein, die Politiker auch Dichter. Damit hängt zusammen, daß das Werk kein geeignetes Objekt für eine an Individualität orientierte Deutungsarbeit darstellt,89 sondern zunächst als Repräsentations_____________ 87
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Zu den Ordnungsprinzipien von Opitz’ Werken vgl. Gellinek: Die weltliche Lyrik des Martin Opitz, S. 11ff. Vgl. dazu auch die Vorrede, in der Opitz noch offensiver als zuvor die Bedeutung der Poesie für „Regiment[ ]“ und „Policey[ ]“ hervorhebt (Gesammelte Werke. Bd. 2/2, S. 530f., s. auch S. 543f.). Vgl. dazu im Überblick vom 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert Rieger: Autorfunktion und Buchmarkt. Vgl. konkret zur Kommentarpraxis, die diese gleichsam offene Form der Werkpolitik widerspiegelt: Häfner: Das Subjekt der Interpretation, insbes. S. 97f., 102 zur Aktualisierung und fortlaufenden Ergänzung von Dichtung durch Kommentare, die in der Präsentation zum Teil des Werks werden (können). Vgl. zu gelehrten Kommentarverfahren, die ein überindividuelles Wissen im Werk entdeckt: Häfner: Das Subjekt der Interpretation.
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instrument dient (wobei mehr oder weniger Gelehrsamkeit für das angemessene Verständnis dieser Repräsentativität notwendig sein mag). Bereits die Anlage der Titelblätter, die in frontaler Ansicht alle ent-scheidenden Programmelemente versammeln, bedeutet, daß das Werk auf vielfache Weise einer Ordnung der Äußerlichkeit, des Demonstrativen und Repräsentativen zugehört, was umgekehrt nahelegt, daß Elemente wie Innerlichkeit, Temporalisierung und damit eben auch Individualisierung in einem spezifischen Sinn nicht zu dieser Werkpolitik gehören. Die Entrhetorisierung des Werkbegriffs läßt sich in Ansätzen am weiteren Schicksal der Werke von Martin Opitz verfolgen, insbesondere an den Opitz-Ausgaben von Daniel Wilhelm Triller sowie von Johann Jakob Breitinger und Johann Jacob Bodmer. Man sieht hier, wie der Autor allmählich genialisiert und das Werk auf eine spezifische Weise enigmatisiert wird, und man sieht, wie die Werkpolitik wiederum eingebettet ist in den komplexen Umbau einer Gesellschaft und ihrer Semantik: Der Weg führt von einer Kultur der Repräsentativität, der direkten Zurechenbarkeit, der Sichtbarkeit, der Nahverhältnisse, hin zu einer Kultur der Unsichtbarkeit, der Distanzverhältnisse, der diffusen Beziehungen. Das Werk erhält in diesem Zusammenhang seine ‚Bedeutung‘ weniger aus seiner Repräsentationsfunktion für allgemeine Normen oder als Ort eines allgemeinen Wissens als vielmehr als Dokument einer individuellen Entwicklung. Gerade die Einbettung in literarische, soziale und politische Zusammenhänge dient nun dazu, seine (literarische) Besonderheit herauszuarbeiten. Oder anders: Das Werk wird zum privilegierten Kontext seiner selbst. Erneut entsteht ein Widerspruch. Denn die Selbstkontextualisierung des Werks löst es zwar aus den situativen Bindungen der rhetorischen Werkpolitik heraus, aber dies eben nur, indem es mehr als je zuvor in Situationen verstrickt wird. Gerade über seine Abschließung entwickelt das Werk eine Attraktionskraft, die letztlich nur willkürlich begrenzbare Kontexte in seinen Beobachtungshorizont hineinzieht und mit Aufmerksamkeitswert versorgt. Die Opitz-Ausgabe, die der Gottsched-Schüler Daniel Wilhelm Triller 1746 veranstaltet, ist noch deutlich der frühneuzeitlichen Werkkonzeption verpflichtet. Mit der Widmung an den österreichischen Kaiser knüpft Triller an die Assoziation von Politik und Dichtkunst, an die Behandlung von Dichtung als Medium der Herrschaftsrepräsentation und an die direkte Übersetzbarkeit von politischer Qualität in poetische Qualität an.90 Erste Verschiebungen zeigen sich daran, daß Triller nicht mehr die sprachpatriotischen Interessen der Gelehrten oder der politischen Elite bedient, sondern sich an den zwar alphabetisierten, aber eben auch „unge_____________ 90
Opitz: Teutsche Gedichte. Bd. 1, unpag.
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lehrten und unerfahrnen“ Leser des 18. Jahrhunderts wendet.91 Dennoch wird die Edition im ganzen regiert von dem Interesse, den rhetorischen Zirkel von Lesen und Schreiben aufrechtzuerhalten. Es geht nicht um die Repräsentation einer am Autor orientierten Werkordnung, die aufgrund dieser Orientierung Arbeit und Mühe in die Details steckt, auch wenn sie keinen repräsentativen Exempelwert haben. Wie zuvor Zinkgref oder Opitz orientiert sich auch Triller an einer objektiven Sprachnorm, die entsprechende Eingriffe in den Text erlaubt. Die Investition von Zeit in ein Werk, das unter der Bedingung von Zeit entstanden ist und von dieser Temporalität seines Entstehens zeugt, hält Triller für Zeitverschwendung: Denn aus allen alten Auflagen die Druck= Schreibe= und Jugend=Fehler mühsam zusammen zu tragen, und den Leser zum Verdruß, Eckel und Gelächter, diese nichtswürdigen Schätze unter den Text zu setzen, wie heut zu Tage die grossen Critici in Engelland, Holland, und die kleinern anderswo, gewohnt sind, war kein Werck für einen Mann, der das kostbare Geschenck der unwiederbringlichen Zeit besser anzuwenden hat […].92
Offensichtlich würde Triller für Metterlings Wäschelisten (1. a) kein Verständnis aufbringen, weil er nicht in „Kleinigkeiten groß seyn“ will. Verständlich wird Trillers Vorredendramaturgie, weil er sich mit diesem Desinteresse für die „Kleinigkeiten“ eines Werks auf einem Rückzugsgefecht und in Verteidigungsposition befindet. Die Zukunft gehört dem Prinzip der zeitintensiven Beobachtung von Werken und damit dem Typus der konkurrierenden Opitz-Ausgabe von Bodmer und Breitinger, deren erster und letzter Band ein Jahr vor Trillers Edition auf dem Markt war. Zwar edieren auch Bodmer und Breitinger Opitz’ Werke als Zeugnisse eines zeitlosen guten Geschmacks, aber erstens orientieren sie sich damit an der Ausbildung eines Lesers, der nicht mehr automatisch zugleich Autor ist; und zweitens temporalisieren sie das Werk auf eine radikale Art und Weise. Diese fällt bereits an der Perspektivierung des Werks auf, das nun in unterschiedlichem „Licht“ gesehen und entsprechend von verschiedenen Seiten aus betrachtet werden kann (3.2.1 c): Wir sind an unserm Orte nicht die letzten gewesen, welche durch diejenige Empfindung von Opitzens Schönheiten, die wir schon vor zwantzig Jahren in öffentlichen Schriften an den Tag geleget haben, angespornet, unsere Gedancken darauf gerichtet haben, daß wir durch eine wohleingerichtete Auflage für den Ruhm dieses verdienten Mannes und zugleich für das Aufnehmen des wahren Geschmackes sorgeten. Es dünckte uns, daß man dem Geschmacke nicht besser aufhelfen könnte, als wenn man die Opizische Poesie, in welcher der Geschmack
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Opitz: Teutsche Gedichte. Bd. 1, unpag. (Vorrede). Opitz: Teutsche Gedichte. Bd. 1, unpag. (Vorrede).
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der Griechen und Römer herrscht, dem Alter und der Jugend mehr bekannt machete, und sie in dem Lichte zeigete, welches ihr gröstentheils eigen ist.93
Die Orientierung am Nur-Leser führt paradoxerweise dazu, daß allgemeine Verständlichkeit, die für Triller einen editorischen Leitwert darstellte, keine Rolle mehr spielt. An ihrer Stelle tritt die Ausbildung und Sensibilisierung von hermeneutischen Kompetenzen fürs Besondere. Das Werk wird nicht auf das Niveau der Leser abgesenkt, sondern der Leser soll auf das Niveau eines legitimerweise komplexen und komplizierten Werks emporgehoben werden.94 Ideale der von Bodmer und Breitinger anvisierten Leserkompetenzen sind Genauigkeit, die Versenkung in Kleinigkeiten sowie das Interesse am Werk selbst (3.1.1 c), wohingegen politische oder anderweitige außerliterarische Interessen zurücktreten. Deutlich sieht man dabei, wie eine neue Beobachtungsgenauigkeit in einer Situation ausgebildet wird, in der offensichtlich keine Einigkeit mehr über die Unterscheidung von ‚Fehlern‘ und ‚Schönheiten‘ erzielt werden kann. Oder anders: Die Uneinigkeit wird als Folge mangelnder Genauigkeit auf der einen, besonderer Aufmerksamkeitskompetenzen auf der anderen Seite rekonstruiert.95 Denn was eigentlich die ungenaue von der genauen Aufmerksamkeit unterscheidet, bleibt unklar angesichts der Virtualisierung der Gegenstände, die nicht ‚von sich aus‘ bestimmen, wie sie angemessen beobachtet werden sollen. Auf diese Weise verwandelt sich das Werk allmählich in einen geheimnisvollen Gegenstand, der nur noch besonders empfänglichen Beobachtern zugänglich ist. Die Anmerkungen Bodmers und Breitingers individualisieren konsequent das Werk: Sie merken Prätexte für Opitzsche Gedichte an, allerdings nicht, um Opitz intertextuell zu nivellieren, sondern um ihn umgekehrt gerade zu profilieren.96 Die auf ‚Kleinigkeiten‘ versessene Annotierung und Kommentierung generiert aus dem Werk keine allgemeine Norm, die das Werk lediglich repräsentiert, sondern die Biographie des Autors, die dann wieder zum ersten und wichtigsten Kontext wird:97 _____________ 93 94 95
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Opitz: Gedichte, S. 2f. Opitz: Gedichte, S. 4. Opitz: Gedichte, S. 6: „Und weil Kunstrichter von grosser Vermessenheit aber kleinen Einsichten, die zwar dafür angesehen seyn wollten, daß sie mit dem allgemeinen Beyfall übereinstimmeten, die absonderlichen Stellen vielfältig tadelten, und ungeschickt auslegeten, welches noch in unsern gegenwärtigen erleuchteten Tagen nichts ungewöhnliches ist so dünckte uns nothwendig, die kleinen Vorurtheile aus dem Wege zu räumen, und solche getadelten Stellen zu retten“. Opitz: Gedichte, S. 6. Vgl. hierzu auch Von dem Zustande der deutschen Poesie bey Ankunft Martin Opitzens (in: SCPS, 9. St., 1743, S. 3-41, S. 31): Die Gedichte, die Zinkgref den Teutschen Poemata von Opitz hinzugefügt hat, zeigten weniger deren Musterhaftigkeit als den Abstand, den Opitz zu diesen hergestellt habe. Bodmer und Breitinger begründen das biographische Interesse damit, daß „die Umstände des Lebens, und die absonderliche Gemühtesverfassung, in welcher ein Poet zu der Zeit
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Die Norm ist nun Opitzens Perfektion, nicht die Perfektion der Sprache. Anders als Triller, der Lesarten produziert, müssen die Editoren Fehler des Autors nicht mehr ausmerzen, sondern registrieren sie als etwas Notierens- und Wissenswertes – ihnen geht es um die Varianten.98 Zur Detailierung des Wissens kommt seine Ausweitung hinzu.99 In beiden Fällen spielt die Temporalisierung des Werks eine außerordentlich große Rolle. Im Verbund mit der Individualisierung und Perspektivierung des Werks entsteht so ein einheitlicher ‚Geist‘, der unterschiedliche Werke zusammenhält, beispielsweise in Form einer Entwicklung, die die Einheit des Unterschiedenen bewahrt. Das Werk wird zum Stimulans einer spezialistischen, an sich hochgradig unplausiblen Kommunikation – Trillers Invektiven gegen die Relevanz des von Bodmer und Breitinger produzierten Wissens belegen die Unplausibilität eines solchen Werkkonzepts bis ins 18. Jahrhundert. Das rhetorische Werkverständnis geht von einer gleichsam situativ orientierten Werkpolitik aus, behandelt aber das Werk als Durchgangsstation allgemeiner Normen, Werte, Traditionen und Regeln. Das emphatische Werkverständnis, das sich im Anschluß daran herausbildet und das ich im folgenden weiter skizziere, konzipiert sich im Rahmen einer literalisierten Semantik und richtet sich auf eine diffuse Adressierungslage ein. Aber gerade diese situative Unbestimmtheit bzw. Allgemeinheit eröffnet den Raum für die Individualisierung des Werks. Während das rhetorische Werk als Regulator und Katalysator von Beziehungen dient, die außerhalb seiner selbst liegen und gleichsam an der Oberfläche des Werks markiert werden, determiniert das emphatische Werk Innerlichkeiten und öffnet der hermeneutischen Tiefsinnigkeit unauslotbare Räume. Wenn man es in der Frühen Neuzeit mit einer traditional, an historischen Kontinuitäten und Autoritäten orientierten Werkform zu tun hat, dann ergeben sich zugleich deutliche Diskontinuitäten – neben der je neuen Ausrichtung an spezifischen Konstellationen politischer, gesellschaftlicher oder geselliger Art sind in diesem Zusammenhang vor allem auch generische Differenzierungen zu nennen. Das emphatische Werkmodell setzt demgegenüber zwar singuläre Werke mit je eigenen Normen und Maßstäben, konstituiert aber zugleich neue Kontinuitäten. Im folgenden werden es wie in Bodmers und Breitingers Opitz-Ausgabe vor allem literaturgeschichtliche und biographische Zusammenhänge sein, die die Enigmatik des Werks auflösen sollen. Selbst in den autonomieästhetischen _____________ 98 99
stehet, da er schreibet, nicht wenig beytragen, eine Gedichte eine besondere Art zu geben […]“ (Opitz: Gedichte, S. 7). Es geht um „würckliche Schreibarten des Verfassers, welche er aus besondern Ursachen von Zeit zu Zeit verändert hat“ (Opitz: Gedichte, S. 9). Vgl. hierzu auch den Aufsatz Martin Opitzens Verworffene Gedichte (SCPS 1743, S. 42ff.).
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Werkkonzepten wird indes deutlich, daß Abschließung und Übertragbarkeit zusammenhängen. d) Elemente einer Geschichte der Werktheorie Die Opitz-Ausgabe von Bodmer und Breitinger wurde nach dem ersten Band abgebrochen, weil der Markt durch die zwar später einsetzende, dann aber schneller erscheinende Opitz-Ausgabe von Triller gesättigt war. Weitergeführt wird das Werkmodell insbesondere von dem BodmerProtegé Christoph Martin Wieland (3.3 c). Zwar halte ich dessen Werkmodell für dasjenige, das die Praxis des Werkverhaltens bis heute am nachhaltigsten bestimmt. Für die Theorie des Werks aber wurde zunächst ein anderes Modell wichtig, und zwar als Gegenfolie für die Entfaltung der emphatischen Werkkonzeption im Rahmen der Autonomieästhetik. Dieses Werkkonzept formuliert exemplarisch Johann Georg Sulzers Allgemeine Theorie der schönen Künste. Der Artikel „Werke des Geschmaks. Werke der Kunst“ stellt nicht das Werk, sondern den Rezipienten ins Zentrum. Der Beobachter ist die Schaltstelle für die Produktion und für die Beurteilung eines Kunstwerks, denn das Werk bzw. seine Produktion hat sich an den Beschränkungen der Rezipienten zu orientieren und es hat den Rezipienten in seinen Beschränkungen zu orientieren, um ihn nach Möglichkeit ethisch-moralisch zu bessern. Diese Orientierungsleistung übernimmt das Werk im Blick auf feststehende Werte in dem Sinn, daß sie außerhalb des Kunstwerks angesiedelt, gleichsam substantiell vorhanden sind. Das Werk determiniert sich also nicht selbst, ohne daß die Werte der Außenorientierung – wie etwa bei Opitz – situativ flexibel sind. In Verlängerung der Tradition rhetorischer Literaturkommunikation, an deren officia oratoris Sulzer sich direkt orientiert, sind Produktion und Rezeption weiterhin eng aufeinander verwiesen. Das Werk ist an Werten ausgerichtet, die außerhalb seiner Setzungsmöglichkeiten liegen, und es ist auf Durchschaubarkeit angelegt, so daß für den kompetenten Umgang mit dem Werk keine geheimnisvollen Sonderkompetenzen notwendig sind. Autonomieästhetischen Modellen kann Sulzer nichts abgewinnen: „Ich kenne keine freventlichere, verächtlichere Geschöpfe, als gewisse Kunstliebhaber sind, die mit Entzüken von Werken des Geschmaks sprechen, die nichts als Kunst sind“.100 Die Geschlossenheit des Werks hat in diesem Zusammenhang nur den Zweck, seine _____________ 100 Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste. Bd. 2, S. 1267.
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Offenheit im Sinne einer nützlichen Wirkung zu garantieren, weil das Kunstwerk als „Ganzes“ leicht erfaßt werden kann.101 Bei Karl Philipp Moritz ändert sich dieses Modell grundlegend. Bei ihm hat die Produktion nichts mit der Rezeption zu tun; das Werk richtet sich daher auch nicht an seinem Kontext aus; und es ist nicht auf Durchschaubarkeit angelegt, sondern auf Bewunderung und Distanz.102 Im Konzept der Autonomieästhetik erhalten die Grenzen des Werks als ein „in sich selbst Vollendetes“ offensichtlich neue Funktionen und das Werk einen neuen Stellenwert. Das Werk dient nicht zuletzt der Verfeinerung der Aufmerksamkeit, der gegenüber sich noch Sulzer mißtrauisch verhalten hatte.103 Das ‚Seltene‘ und das ‚Feine‘ spielen jetzt als Leitbegriffe der Werkästhetik ebenso eine Rolle (4.1.2) wie die Selbstlosigkeit des Betrachters, der das Werk interesselos beobachtet und daher ein gemindertes Selektionsverhalten an den Tag legt.104 Die spezifische Liebe zum Wort, die den Leser als Philologen schon rein nominell auszeichnet, erscheint hier als „uneigennützige[ ] Liebe“.105 Zwar gleichen sich die formalen Bestimmungen des Werks bei Sulzer und bei Moritz; aber vor dem Hintergrund der übrigen konzeptionellen Unterschiede dürfte letzterer unter einem „übereinstimmende[n] harmonische[n] Ganze[n]“ etwas Eigenes verstanden haben.106 Man könnte von einer für die Zeit typischen, wenngleich nicht einfach nachvollziehbaren Steigerungsform sprechen: Sulzers Ganzheit ist offensichtlich nicht ganz so ganz wie Moritz’ Ganzheit.107 Diese Steigerung von Ganzheit ist deswegen wichtig, weil sie im Einzelwerk jene Kunst der Herstellung von Zusammenhängen und Bezügen zur Geltung bringt, die strukturell die Herstellung einer Einheit des Gesamtwerks auch über Zeiträume der Entstehung, über generische Grenzen oder über Meinungsdivergenzen hinweg ermöglicht. Werkpolitik zielt immer wieder darauf, daß _____________ 101 Sulzer: Allgemeine Theorie. Bd. 2, S. 1268; vgl. auch Lessing: Werke. Bd. 4, S. 550ff. 102 Im Lauf der Theorieentwicklung nimmt Moritz dies zurück. In den Grundlinien zu einer vollständigen Theorie der schönen Künste (1789) schreibt er: „Unsere Empfindungswerkzeuge schreiben dem Schönen sein Maß vor“ (Werke. Bd. 2, S. 1019). 103 Insofern scheint auch Moritz’ Programm einer Steigerung des Schönen in seiner angemessenen Wahrnehmung (Werke. Bd. 2, S. 945) kein Abhängigkeits-, sondern eher ein Herausforderungsverhältnis zu bezeichnen. Später spitzt Moritz zu: „Das echte Schöne ist [...] außer uns an den Gegenständen selbst befindlich“, und sorgt so für Klarheit (ebda., S. 1018). 104 Moritz: Werke. Bd. 2, S. 944, 945f. 105 Moritz: Werke. Bd. 2, S. 946. 106 Moritz: Werke. Bd. 2, S. 949. 107 Zum Zusammenhang von autorschaftlicher Individualisierung und hermeneutischer Zusammenhangsbildung vgl. Bosse: Der Autor als abwesender Redner, S. 286f. Zu Komplizierung der Ganzheitsvorstellung vgl. Verf.: Sinn und Form in Goethes Egmont; ders.: Zwischen Dichtung und Wahrheit; Danneberg: Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien.
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die Kompetenz, ‚Feinheiten‘ wahrzunehmen und mit dem Einzel- oder Gesamtwerk ‚behutsam‘ umzugehen, als relevant anerkannt wird (z. B. 3.3 c, 4.1.2). Moritz’ Autonomieästhetik ist in mehrfacher Hinsicht für die Theoriegeschichte des Werks signifikant: Seine Beiträge zur Ästhetik dokumentieren die Trennung von Rezeption und Produktion, die im 18. Jahrhundert erfolgt und die das Ende der rhetorischen Literaturkultur markiert. Vor dem Hintergrund dieser Trennung von Produktion und Rezeption etabliert sich eine neue Geschlossenheit des Werks, das nun mit enigmatischen Qualitäten ausgestattet wird. Die Engimatik des Werks und seine Geschlossenheit fordert von einem kompetenten Betrachter eine kunstaffine Haltung, die sich stets ihrer Beschränktheit bewußt ist und von daher die Vollkommenheit des Werks voraussetzt. Der Begriff des „emphatischen“ und „empathischen“ Werkverständnisses ist hier zutreffend. Das Ineinander von „Emphase“ und „Empathie“ artikuliert das Zusammenspiel von Kunstbegeisterung und Kunsteinfühlung, das die Werkästhetik des autonomen Kunstwerks bestimmt. Die Vorgängigkeit der Überzeugung von der Vollkommenheit des Kunstwerks erschwert das Urteil darüber, ob ein Werk vollkommen ist oder nicht (was nichts am faktischen Urteil über diese Un-/Vollkommenheit ändert). Die Urteilsunsicherheit provoziert eine interessierte, nicht mehr kritisierende Haltung. Diese Haltung kann in eine historische bzw. historisierende Haltung übergehen und damit eine ‚literaturgeschichtlich‘ orientierte Haltung vorbereiten. Um es in Stichworten zu sagen: Die Ästhetik des emphatischen Werkbegriffs arbeitet an der Entrhetorisierung der literarischen Kommunikation, an der Emphatisierung und Empathisierung der Rezeption, an der Genialisierung der Produktion und an der Enigmatisierung des Kunstwerks. Wichtig für den historischen Stellenwert dieser emphatischen Werkästhetik ist schließlich auch, daß Moritz eine ganze Reihe von Modellen zur Verfügung steht, mit deren Hilfe er die unwahrscheinliche Akzeptanz für seine ästhetischen Entwürfe steigern und seine Theorie plausibilisieren will: Dazu gehört zunächst ein theologisches Modell, das den Dichter in Analogie zu Gott zum Schöpfer erklärt; dazu gehört zweitens ein moralphilosophisches Modell, wonach der Künstler den Sinn seiner Handlung in dieser Handlung selbst findet; und dazu gehört drittens ein politisches Modell, das die geschichtsphilosophische Modellierung der Ästhetik in der Schrift Über die bildende Nachahmung des Schönen beeinflußt: die Selbstopferung als Ausweis von Sittlichkeit. Man sieht daran sehr gut, daß Moritz’ Autonomieästhetik die Autonomisierung von Funktionssystemen dokumentiert, die nun zwar alle eigensinnig, aber eben auch analog funktionieren. Für die Frage nach dem Politischen der Werkpolitik ist dies deswegen wichtig, weil man dann die Frage nach der Ausbildung von Haltun-
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gen und Aufmerksamkeitsmustern stellen kann, die zwar in einem gesellschaftlichen Subsystem stattfindet, deren Ergebnis aber formaliter in andere übertragbar ist. Wie vorbildlich Moritz’ Werkästhetik ist, sieht man nicht allein am Vergleich mit der hermeneutischen Konzeption des Werks im Sinne Schleiermachers (1. b), mit der die Autonomieästhetik das Ineinander von Teil und Ganzem, die Vorstellung von der Totalität des Werks, die Idee einer unendlichen, nicht zu Ende kommenden Auslegungsarbeit sowie den Gedanken der Eigentümlichkeit und Individualität des Werks teilt. Bis hin zur sogenannten Werkimmanenz, die ihren Standpunkt in den 1930er Jahren festigt108, die die ästhetischen Normen und literaturwissenschaftlichen Vorgehensweisen nach 1945 bis in die 1960er Jahre hinein in besonderem Maß prägt und die auch darüber hinaus noch die „Regeln der Kunst“ bestimmt,109 zeigt sich die Bedeutung des emphatischen Werkbegriffs.110 Ich will dies zumindest kursorisch an einem von Moritz ausreichend weit entfernten Beispiel belegen: an Wolfgang Kaysers Das sprachliche Kunstwerk (1948). Entscheidend ist zunächst, daß Kayser eine Pluralität von Zugangsweisen zum Kunstwerk konzediert und sich für eine bestimmte Fragestellung entscheidet, „mit deren Hilfe sich eine Dichtung als sprachliches Kunstwerk erschließt“.111 Er führt damit nicht zuletzt eine wissenschaftsgeschichtliche Linie weiter, die sich an der Differenz von Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft orientiert und letzterer eine privilegierte Position zuerkennt. Insofern Literaturwissenschaft, mit den Worten Klaus Weimars, eine Rubrik ist „für alles, was über das philologisch Gesicherte hinausgeht“,112 ergeben sich von Beginn an Anschlußmöglichkeiten zwischen der Untersuchung des „sprachlichen Kunstwerks“ und dem Konzept des enigmatisierten Kunstwerks. Entsprechend zeichnet sich das Werk aus durch seine Einzigartigkeit, seine Sinnfülle, die Einheit von Gehalt und Gestalt sowie seine Selbstbezogenheit und seine Geschlossenheit. Die Voraussetzung für die angemessene Rezeption liegt daher wiederum in einer gewissen Kunst- und Künstleraffinität des Lesers, der „eine _____________ 108 Vgl. hierzu vor allem Ingarden: Das literarische Kunstwerk [1931], S. 2: „Wir fordern nur eine von den bis jetzt noch vorherrschenden psychologischen und psychologistischen Tendenzen prinzipiell verschiedene Ausgangsstellung dem literarischen Werk gegenüber, die dann von selbst zur Reinigung und Änderung der bisher vertretenen Ausgangseinstellung dem literarischen Werk gegenüber führt“ (vgl. die Abgrenzungsliste ebda., S. 19ff.). 109 Vgl. dazu die (u. a. deutschen) Vertreter einer „reinen Ästhetik“, die Bourdieu als Gegner zitiert: Die Regeln der Kunst, S. 9ff., 449ff. 110 Vgl. zu einer nicht-polemischen Auffassung der Werkimmanenz, die deren Vielgestalt Rechnung trägt: Danneberg: Zur Theorie der werkimmanenten Interpretation. 111 Kayser: Das sprachliche Kunstwerk, S. 5. 112 Weimar: Literaturwissenschaft, S. 487.
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besondere Empfänglichkeit“, „Fingerspitzengefühl und Intuition“ benötigt.113 Zu den Widersprüchen der Werkpolitik gehört dann auch, daß diese Übertragung produktiver Kompetenzen, einer „latenten Schaffenskraft“114, von der radikalen Trennung von „Tatkraft“ und „Empfindungsvermögen“ (Moritz) begleitet wird. Der Literaturwissenschaftler bleibt bei aller Kunstaffinität Rezipient: „Eine ‚heilige Nüchternheit‘ wird die Arbeit und den Dingen am ehesten gerecht“.115 Die Gegenbilder von Kaysers Werkkonzept sind, wie zu erwarten, vor allem der rhetorische Stilbegriff, also die Trennung von Gehalt und Gestalt sowie die Mediatisierung des Kunstwerks und der künstlerischen Mittel.116 Ein Element, das ebenfalls im Verlauf des 18. Jahrhunderts von besonderer konzeptioneller Bedeutung für die literarische Kommunikation wird (3.2.1 b u. c), arbeitet Kayser deutlicher als Moritz heraus: Seine Vorstellung vom Werk basiert auf einer Art ‚Schichtenmodell‘,117 einer Topographie des Werks, die sich um die „Grenzen“ kümmert, einer Geographie oder Archäologie des Werks, die sich in das Werk hineingräbt.118 Diese Verkörperung des Werks konzipiert einen dreidimensionalen Werkraum, der dadurch in unterschiedlicher Weise einer ‚tiefsinnigen‘ Deutung zugänglich wird. Der Stil, auf den Kayser zuletzt analytisch zielt, wird so beispielsweise zum Bezirk einer Innerlichkeit des Werks und das Unternehmen der Untersuchung des „sprachlichen Kunstwerks“ zu einer Sache des Zaubers und der Magie, die einer Art von Initiationsgeschichte in den „innersten Kreis“ folgt.119 Das letzte Ziel der Forschung besteht darin, die „Ganzheit des einzelnen Werkes durchsichtig zu machen“.120 Zudem ist das verkörperlichte Kunstwerk auf Zeitverbrauch angelegt – Körper haben Rückseiten und können daher instantan immer nur zum Teil und lediglich unter Inanspruchnahme von Zeit vollständig erfaßt werden. Konsequenterweise ist Kaysers Werkbegriff auf verschriftlichte Kunstwerke beschränkt,121 denn die materielle Fixierung und damit die raum-zeitliche Verdauerung von Kommunikation ist eine Voraussetzung, um diese Form der Tiefsinnigkeit zu konzeptionalisieren. _____________ 113 114 115 116 117 118 119
Kayser: Das sprachliche Kunstwerk, S. 11, 329. Kayser: Das sprachliche Kunstwerk, S. 11. Kayser: Das sprachliche Kunstwerk, S. 329. Kayser: Das sprachliche Kunstwerk, S. 272ff., 289. Vgl. dazu auch bei Ingarden: Das literarische Kunstwerk, S. 25ff. Z. B. Kayser: Das sprachliche Kunstwerk, S. 16. Kayser: Das sprachliche Kunstwerk, S. 271. Entsprechend folgt auch das Modell der Literaturwissenschaft einer topographischen Ordnung, bei der es ein ‚Zentrum’ gibt, um das herum sich dann weitere ‚Kreise’ von Fragen legen (ebda., S. 17). 120 Kayser: Das sprachliche Kunstwerk, S. 5f. 121 Kayser: Das sprachliche Kunstwerk, S. 13.
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Die Geschichte der Werktheorie in unterschiedlichen methodischen Kontexten läßt sich von hier aus als sukzessive Auflösung und Erläuterung des emphatischen Werkbegriffs deuten. Auch dies kann ich hier nur exemplarisch zeigen, weil zwar in unterschiedlichen Zusammenhängen vom Werk-Begriff und seinen Implikationen die Rede ist, es aber keinen Kanon an werktheoretisch einschlägigen Texten gibt. Zum Schlagwort hat es jedenfalls zweifellos Umberto Ecos Studie Opera aperta (1962/67) gebracht. Wichtig ist hier zunächst die Feststellung, daß das Kunstwerk in einem spezifischen Sinn nie geschlossen sein kann, weil es als Teil der literarischen Kommunikation gilt.122 Damit bietet Eco ein Modell zur Erklärung der Unabschließbarkeit der Deutung, die zur Genialisierung der Kunstkommunikation in der Ästhetik des emphatischen Werks gehört. Zugleich weist Eco an dieser Stelle zumindest implizit darauf hin, daß die prinzipielle intertextuelle Entgrenztheit des Werks nicht daran hindern muß, werkorientierte Textumgangsverfahren zu praktizieren, wie unplausibel auch immer das von einer literaturtheoretischen Warte aus sein mag.123 Zudem läßt sich der Werkbegriff selbst schon intertextuell anlegen, wenn man ihn auf das Verhältnis von Einzel- und Gesamtwerk bezieht (1.b). Und schließlich kann das Werk dem Konzept der Intertextualität insofern zugeordnet sein, als Texte nicht als solche dialogisieren, sondern ein Text nur in Form einer „Erinnerung an die Lektüre“ eines anderen Textes auf diesen Bezug nimmt: „Das Werk ist […] immer ein Vollzug unter Formbedingungen, die die Aufmerksamkeit auf eine je ins Werk gesetzte Relevanzfigur konzentrieren“.124 Neben einer möglichen Erklärung für die Sinnentgrenzung des Werks macht Eco auf die für Moritz oder Kayser unaussprechlichen Voraussetzungen für das ‚Fingerspitzengefühl‘ des kompetenten Kunstbeobachters aufmerksam: Bildung sowie die entsprechenden sozialen Voraussetzungen.125 Auch für die Verkörperung des Werks bietet Eco ein Erläuterungsmodell, weil er die Offenheit des Kunstwerks mit dem Modell der poetischen Funktion sowie der Unterscheidung von Denotation und Konnotation beschreibt: Das Werk hat verschiedene Bedeutungsschichten in dem Sinn, daß es überdeterminiert ist; und es ist ein perspektivengebundenes Objekt insofern, als es in der Kommunikation verschiedene ‚Seiten‘ zeigen kann.126 Weiterhin macht Eco darauf aufmerksam, daß die Geschichte der emphatischen Werkästhetik u. U. nur eine Episode in der _____________ 122 123 124 125 126
Eco: Das offene Kunstwerk, S. 8, 14f., 121, 134ff. Vgl. dazu Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, insbes. S. 337. Stierle: Werk und Intertextualität, S. 17. Eco: Das offene Kunstwerk, S. 82f. Eco: Das offene Kunstwerk, S. 14f., 80f.; zu den ‚Hierarchien’ und ‚Ebenen’ eines Textes vgl. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, insbes. S. 86ff., 95ff.
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Geschichte des Kunstwerks ist, weil die Moderne sich zumindest in Teilen von diesem emphatischen Werkverständnis verabschiedet hat.127 Dennoch: Das Kriterium der relativen Geschlossenheit und der dadurch erzeugten Bedeutsamkeiten bleibt erhalten (die maximale Informationsmenge des Alphabets als ein Raum möglicher Kunstwerke ist beispielsweise Eco zufolge zu offen, um ‚bedeutend‘ zu sein).128 Jacques Derrida erweitert in De la grammatologie (1967) nicht zuletzt den medientheoretischen Aspekt der Werkbetrachtung, weil er das Werk über das Konzept des Buchs entwickelt, das für ihn den Gedanken der ‚Totalität‘ repräsentiert.129 Er macht darauf aufmerksam, daß die Faszination einer Kultur von der Buchform zusammenhängt mit der Faszination durch Konzepte und Begriffe wie Präsenz, Wahrheit, Subjekt, Wissenschaft u. a. Er demonstriert auf seine Weise, daß der Gedanke des Werks als buchförmiges, totales Gebilde in ein dichtes Netz tief sitzender kultureller Überzeugungen eingebettet ist.130 Derrida stellt dabei insbesondere einen Zusammenhang zwischen den Implikationen der alphabetischen Schrift, der Konzeption des Subjekts, Gedankenfiguren der abendländischen Metaphysik und der Idee des Buchs her, und selbst wenn man ihm nicht alles glauben mag und insbesondere bei den historischen Exkursen einige Fragen offen bleiben, ergibt sich noch immer eine Fülle von produktiven Irritationen. Den konzeptionellen Zusammenhang von Metaphysik und Buchkultur bezeichnet Derrida als „Logozentrismus“.131 Der Begriff trägt zur Erläuterung des Werkbegriffs insofern bei, als die Einheit des Werks nicht materialiter besteht.132 Die Einheit des Werks liegt offensichtlich für die gängige Verwendungspraxis des Begriffs jenseits seiner materiellen Er_____________ 127 Vgl. in diesem Zusammenhang die kanonische Untersuchung von Peter Bürger zu den ‚historischen Avantgardebewegungen’: Theorie der Avantgarde, insbes. S. 76ff. 128 Eco: Das offene Kunstwerk, S. 100, auch S. 56. 129 Bekanntlich will Derrida zeigen, daß die ‚Schrift’ ein Gegenmodell abgibt zu Konzepten von Totalität, Gegenwärtigkeit etc. Man kann dies medientheoretisch ausbuchstabieren, auch wenn ‚Schrift’ für Derrida dabei weniger ein medientheoretischer oder -historischer Begriff ist als vielmehr ein allen sprachlichen Äußerungen inhärentes Prinzip. Die ‚Schriftlichkeit’ der Sprache meint, daß Sprache nur als Spiel von Differenzen funktioniert: Wenn etwas sich immer von etwas anderem unterscheiden muß, um es ‚selbst’ zu sein, dann ist dieses ‚Selbst’ immer abhängig von einem ‚Anderen’ – es ist nicht ganz bei sich selbst, nie ganz gegenwärtig, nie total. Zu einer plausiblen medienhistorischen Kritik an Derridas Schriftbegriff vgl. Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 323ff.; ders.: Platon / Schrift / Derrida. 130 Hierzu und zum folgenden Derrida: Grammatologie, S. 11ff., 16ff. 131 Derrida: Grammatologie, z. B. S. 11. 132 Vgl. dazu Kittler: Literatur, Edition, Reprographie; vgl. hierzu auch die Diskussion, ob das Werk zu den „realen oder zu den idealen“ Gegenständen zu rechnen sei, bei Ingarden: Das literarische Kunstwerk, S. 6ff.
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scheinung in unterschiedlichen Ausgaben. Das Werk rekurriert insofern ‚logozentrisch‘ auf ein Signifikat, das den sichtbaren Signifikanten vorausgeht.133 Die Rolle, die der ‚Name‘ für die Einheit des Buchs spielt,134 sei es als Autorname, Buchtitel oder in einer pars pro toto-Funktion für die logozentrischen Identitäts- und Präsenzeffekte, wird von Foucault deutlicher und historisch konkreter bestimmt werden. Vor allem aber macht Derrida einen weiteren Vorschlag, wie sich die ‚Innerlichkeit‘ des Werks (seine unkörperliche Körperlichkeit mit entsprechenden ‚Tiefen‘) konzipieren läßt. Die Suggestion der ‚Innerlichkeit‘ eines Werks als eines logozentrischen Konzepts beruht darauf, daß die Gegenbegriffe (Sekundäres, Abgeleitetes, Schrift etc.) als ‚Äußerlichkeiten‘ gedacht und abgewertet werden, während auf der positiv bewerteten Seite Begriffe wie Sinn, Gegenwärtigkeit, Totalität etc. stehen, die als geistige, gleichsam reine Konzepte mit Interiorität konnotiert sind. Die ‚Innerlichkeit‘ des Werks hängt demnach wiederum eng mit einem komplexen Wertesystem ‚der‘ abendländischen Kultur zusammen. Anschaulich werden einige der Probleme, die Derrida in der Werkästhetik entdeckt, wenn man die editionsphilologische Konzeption des Werks in den Blick nimmt. Die Frage nach „Werk oder Fassung eines Werks?“ etwa, die Hans Zeller und Jelka Schilt auf eine instruktive Weise stellen, verdeutlicht zunächst, daß die Einheit des Werks nicht in einer auch nur virtuellen materiellen Identität besteht.135 An die Stelle der ‚Selbigkeit‘ des Werks treten Versuche, dessen Einheit über partielle Identitäten zu bestimmen, wobei relative Konzepte wie ‚tragende Formulierungen‘, ‚wesentliche Wörter‘ u.a., die dann die Identitäten noch einmal hierarchisieren sollen, darauf verweisen, daß die Einheit des Werks durch anspruchsvolle (und letztlich ungeklärte) interpretatorische Verfahren gebildet wird. Die Rede vom ‚Wesentlichen‘ (und verwandten Begriffsfeldern), die im Zentrum der Werkbestimmung von Zeller und Schilt steht,136 könnte andeuten, daß auch diese Modelle in jene komplexe Kon_____________ 133 Derrida: Grammatologie, S. 35: „Die Idee des Buches ist die Idee einer endlichen oder unendlichen Totalität des Signifikanten; diese Totalität kann eine Totalität nur sein, wenn vor ihr eine schon konstituierte Totalität des Signifikats besteht, die deren Einschreibung und deren Zeichen überwacht und die als ideale von ihr unabhängig ist. Die Idee des Buchs, die immer auf eine natürliche Totalität verweist, ist dem Sinn der Schrift zutiefst fremd. Sie schirmt die Theologie und den Logozentrismus enzyklopädisch gegen den sprengenden Einbruch der Schrift ab […]“. Vgl. dazu auch ebda., S. 38. 134 Derrida: Grammatologie, S. 47, 123. 135 Zeller / Schilt: Werk oder Fassung eines Werks? S. 61f., 78, 84. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Zellers Hinweis auf die interpretatorische Bedeutung der „editorischen Gliederung der Ausgabe“ (Zeller: Befund und Deutung, S. 48). 136 Zeller / Schilt: Werk oder Fassung eines Werks? S. 76ff., 83; vgl. diese Auffälligkeit in Verbindung mit einem medienreflektierten Werkbegriff bei Kanzog: Strukturierung und Umstrukturierung in der Textgenese, S. 87ff.
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stellation aus Begriffen, Konzepten und Wissensansprüchen verwickelt sind, die Derrida „Logozentrismus“ nennt. Wegen der offensichtlichen Interpretations- und damit Rezeptionsabhängigkeit des Werks bietet sich auch in diesem Zusammenhang die Rezeptionsgeschichte als Orientierungsrahmen an: Die normative Kraft des Faktischen macht Texte dann zu einem Werk (oder zu Teilen eines Werks), wenn sie in oder entgegen ihrer materiellen und textuellen Verschiedenheit als Werk behandelt werden, d. h. wenn sie so behandelt werden, daß ihr Verhältnis ein Verhältnis der Kontinuität oder Übergänglichkeit ist.137 Offen bleibt dabei, ob diese Textumgangsform in eine bestimmte literaturgeschichtliche Konstellation gehört und damit nur geeignet ist, einen historisch relativen Werkbegriff zu definieren. Für die Widersprüche der Werkpolitik ist unabhängig davon aufschlußreich, daß die Schrift auf der einen Seite insofern die mediale Voraussetzung (oder zumindest: ein medialer Katalysator) des emphatischen Werkbegriffs ist, als sie Stabilität über Raum und Zeit hinweg suggeriert, und daß die Schrift zugleich den Werkbegriff destabilisiert – sie provoziert und dokumentiert beispielsweise Fassungen und wirft damit die Frage nach der Einheit des Verschiedenen auf (zumindest dann, wenn Fassungen gesammelt werden und nicht mehr als vernachlässigenswerte Vorstufen gelten). Insbesondere die Versuche, einen ‚genetischen Apparat‘ zu entwerfen, führen ‚materialiter‘ eine neue Dimension der ‚Schichtung‘ eines Werks vor Augen. Die ‚Totalität des Buchs‘ wird wie bei Derrida durch die Verräumlichung des Lesens in Frage gestellt.138 Der Lektüreprozeß folgt nicht mehr der Linearität der Zeile, sondern schweift in das Schrift- und Seitenbild ab. Man sieht daran aber auch: Das ‚zeilenlose‘ Lesen irritiert den Werkbegriff, muß indes seine Orientierungsfunktion faktisch nicht auflösen, auch wenn das als konsequente Haltung nahe liegen mag. Im Gegenteil: Angesichts der enormen Energieinvestition, die die Editionsphilologie auf der einen Seite, die Dekonstruktion auf der anderen Seite bei der umfassenden, nicht-linearen Erschließung des Werks tätigt, entsteht der Eindruck, daß man es mit einer neuen, gesteigerten Emphase der Werkästhetik zu tun hat.139 Dies zeigt auch die „critique génétique“, die zwar aus den aufgeworfenen Problemen die Konsequenz einer Ästhetik zieht, „die den Begriff des Werks ausspart“.140 Sie konzentriert sich auf die Handhabung von ‚Schrift‘, die kein sekundäres Moment des Werks sein soll, ‚hinter‘ dem _____________ 137 Zeller / Schilt: Werk oder Fassung eines Werks? S. 66ff. 138 Derrida: Grammatologie, S. 154f. 139 Vgl. hier auch Biti (Gesamtwerk, S. 304) zur Differenz zwischen der theoretischen Destabilisierung des Werkbegriffs bei Derrida und dessen faktischer Werkhörigkeit. 140 Grésillon: Literarische Handschriften, S. 16.
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das ‚Wesentliche‘ zu suchen ist. Zugleich aber revitalisiert die Verzeitlichung des Lesens (Prozessualität des Schreibens) und die Verräumlichung des Lesens (A-Linearität der Handschriftenlektüre) den Autorbegriff: Almuth Grésillon setzt so die Realität der sich dem Papier einschreibenden Hand dem viel proklamierten Tod des Autors entgegen.141 Wenn aber Autor und Werk aneinander gebunden sind, ergeben sich daraus Probleme für das Konzept einer werkfreien Ästhetik. Theodor W. Adornos Werkästhetik übernimmt viele Elemente des emphatischen Werkbegriffs, sprengt sie aber gleichsam von innen heraus auf, insbesondere durch die Temporalisierung des Werkbegriffs, sei es in der immanenten Dynamik der Werke, sei es im Aushandlungsprozeß der Werke, die er als prinzipiell polemische versteht.142 Aus diesem Grund setzt er auch die Totalitätsannahmen der emphatischen Werkästhetik außer Kraft, indem er das Werk als einen Prozeß der Aushandlung von „Ganzem und Teilen“ konzipiert,143 ohne allerdings auf den Begriff der „Totalität“ und auf andere Gedankenfiguren von Werkautonomie wie beispielsweise derjenigen der „Stimmigkeit“ oder des „Gelingens“ zu verzichten.144 Im Rahmen einer Dialektik des Werks gelangt er zu der Behauptung, das Werk sei ein „in sich stillgestellte[r], kristallisierte[r], immanente[r] Proze[ß]“,145 der – und das ist für die Frage nach dem Schreiben unter Bedingungen der Kritik und der Philologie bemerkenswert – auf „Formen“ angewiesen sei, in denen er sich „kristallisiert“: „Interpretation, Kommentar, Kritik“.146 Die eminente Zeitlichkeit des Werks führt dann in einer geschichtsphilosophischen Volte dazu, daß „Kunstwerke, vermöge ihres eigenen Prozeßcharakters […] in der Geschichte […] vergehen“ können.147 Daß solche und eine Reihe weiterer Behauptungen keine nüchternen Aussagen über literaturhistorische Sachverhalte sind, sondern Setzungen,148 scheint mir ebenso deutlich zu sein wie die anregende Funktion, die Adornos Werkästhetik für die Analyse bestimmter Kunstwerke haben kann. _____________ 141 Grésillon: Literarische Handschriften, S. 34. Zwar geht die ‚critique génétique’ davon aus, daß ein ‚Ursprung’ stets unerreichbar bleibe (ebda., S. 36f.), aber dies entspricht lediglich der Enigmatisierung des Kunstwerks in der emphatischen Werkästhetik. 142 Adorno: Ästhetische Theorie, S. 262ff. 143 Vgl. dazu Menke: Die Souveränität der Kunst, S. 95ff. 144 Adorno: Ästhetische Theorie, S. 280f. Vgl. dazu Birus: Adornos ‚Negative Ästhetik’? S. 7. 145 Adorno: Ästhetische Theorie, S. 268. 146 Adorno: Ästhetische Theorie, S. 289. 147 Adorno: Ästhetische Theorie, S. 266. 148 Vgl. dazu beispielsweise den Begriff des „authentischen“ Kunstwerks, den Adorno positiv auszeichnet (Ästhetische Theorie, S. 272).
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Für das sehr viel schwächere Werkmodell, das ich zuvor in historischer Perspektive umrissen habe, ist Adornos Rede von den „Paradoxien der Werke“149 bzw. überhaupt seine Bestimmung des Werks in paradoxalen Beschreibungsmustern gleichwohl anschlußfähig. Die durchgehend sich selbst widerstreitenden Elemente seiner Werkästhetik gehen von dem Grundsatz aus, „daß es keine vollkommenen Werke gibt“.150 Während für Adorno der Nachweis dieser prinzipiellen Unvollkommenheit den Analysewert des Kunstwerks ausmacht, zeigt sich meine Analyse eher davon fasziniert, daß bei aller Unvollkommenheit der Kunstwerke Vollkommenheit als Normal- und Richtwert fungiert. Wie kommt es zu dieser Invisibilisierung? Eine Antwort skizziert Roland Barthes in seinem programmatischen Aufsatz De l’œuvre au texte: Er macht die Trennung von Lesern und Schreibern in einer nach-rhetorischen Kultur und die Verankerung dieser Trennung in der Schulpädagogik mit dafür verantwortlich, daß durch eine ‚konsumierende‘ Rezeptionshaltung ‚Werke‘ stabilisiert werden.151 Wie in La mort de l’auteur dementiert Barthes jedoch diesen historischen Ansatz durch sein systematisches Anliegen: Sollte dort der „Tod des Autors“ immer schon durch die „Schrift“ vollzogen worden sein und zugleich auf eine spezifisch (post-)moderne Entwicklung verweisen,152 so läßt sich auch hier die Umwandlung des „Werks“ in den „Text“ als kultur- und mediengeschichtliche Datum verstehen und zugleich als ein Denkmodell, das sich nicht „zeitlich veranschlagen“ lasse.153 In dieser Hinsicht gilt Barthes das Werk als die gleichsam normal zuhandene Form eines Textes, dessen Textualität durch Entgrenzungen, Mobilisierungen, Dezentrierungen entfaltet werden kann.154 Der Text unterläuft etablierte „Einteilungen“, er „praktiziert das endlose Zurückweichen des Signifikats“, er ‚streut‘, ‚spielt‘, zitiert und collagiert, und er entfaltet eine „dämonische Textur“, die ohne „Ursprung“ auskommt. Während das Werk „Respekt“ fordert, hat der Text keine gleichsam natürlichen Grenzen; er kann „zerschlagen“ werden und „fordert vom Leser eine praktische Mitarbeit“.155 Zutreffend beschreibt Barthes dabei zentrale Merkmale der Werkästhetik: „Das Werk ist in einen Abstammungsprozeß eingespannt. Es wird postuliert, die Welt (das Geschlecht, die ‚Geschichte‘) determiniere das Werk, die Werke folgten aufeinander und das Werk sei Eigentum seines _____________ 149 150 151 152 153 154 155
Adorno: Ästhetische Theorie, S. 274. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 283. Barthes: Vom Werk zum Text, S. 48. Barthes: Der Tod des Autors S. 185f. Barthes: Vom Werk zum Text, S. 41. Barthes: Vom Werk zum Text, S. 42. Barthes: Vom Werk zum Text, Zitate S. 42, 44, 46, 47, 49.
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Autors“156 – daß dies nur für bestimmte historische Konstellationen gilt, habe ich am Beispiel Opitz’ anzudeuten versucht (1. c). Ebenso elegant beschreibt Barthes das Verhältnis von ‚Text‘ und ‚Werk‘: „[…] der ‚Text‘ ist nicht die Zersetzung des Werks, sondern das Werk ist der imaginäre Schweif des ‚Textes‘“.157 Fraglich ist dann nur, ob dieser „imaginäre Schweif“ durch die Textualität des Textes provoziert wird und welche imaginären Momente umgekehrt dem Text als Effekt des Werks zukommen (1. b). Michel Foucault führt über die genannten Ansätze hinaus, indem er zunächst einen weniger implikationsreichen Werkbegriff in den Blick nimmt, um diesen nachfolgend aufs Höchste zu komplizieren und mit einer Reihe von Annahmen über den historischen Einsatz der Werkfunktion im engeren Sinn zu belasten.158 Im Unterschied zur Editionsphilologie interessiert er sich nicht dafür, wie man das Werk ‚richtig‘ herstellt; im Unterschied zu Eco unterscheidet er nicht historisch ‚offene‘ und ‚geschlossene‘ Werke; im Unterschied zu Derrida ent- bzw. verwirft er auch nicht das Werk als ein schon stets von der ‚Schrift‘ außer Kraft gesetztes Totalitätskonzept; im Unterschied zu Adorno gehen in seinen Werkbegriff plausiblere geschichts- und kunstphilosophische Spekulationen und normative Setzungen ein;159 und im Unterschied zu Barthes verstrickt er sich nicht in die Probleme, die sich aus der Kombination von systematischen und historischen Argumenten ergeben. Foucault bezieht sich auf die Bedingungen der Möglichkeit des Textselektions- und Textzentrierungsinstruments ‚Werk‘.160 Oder anders: Ihm geht es zunächst um eine möglichst radikale Desautomatisierung des Umgangs mit dem ‚Werk‘. Wie Derrida macht Foucault dabei auf ein dichtes konzeptionelles Netz aufmerksam, in das der Entwurf des ‚Werks‘ eingesponnen ist und von dem es getragen wird (dazu gehört beispielsweise die Idee des ‚Menschen‘, der ‚Kontinuität‘ als obersten Orientierungswerts, des ‚Subjekts‘, des ‚Humanismus‘, der ‚Anthropologie‘ etc.). Dies ist nicht zuletzt deswegen wichtig, weil viele Elemente einer Konzeption von Werkhaftigkeit zum traditionellen Bestand beispielsweise des literarischen und protoliterarischen Diskurses gehören, ihren spezifischen Sinn und ihre besondere Funktion aber erst dann erhalten, wenn sie im Kontakt mit anderen histo_____________ 156 Barthes: Vom Werk zum Text, Zitate S. 46. 157 Barthes: Vom Werk zum Text, Zitate S. 42. 158 Wie beim ‚Autor’ gilt auch beim ‚Werk’, daß die Begriffe bei Foucault stets in einem historisch profilierten Sinn verwendet werden und für eine historische Formationen gelten, die ‚um 1800’ beginnt. 159 Zu den internen Widersprüchen in Adornos Ästhetik: Birus: Adornos ‚Negative Ästhetik’? 160 Vgl. hierzu insbesondere den oben zitierten Passus zur Problematisierung des Werkbegriffs in Foucaults Was ist ein Autor? (S. 1009f.); sowie ders.: Archäologie des Wissens, S. 36ff.
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rischen Erscheinungen zu einer wechselseitigen Absicherung und Anspruchssteigerung führen. Von besonderer Bedeutung ist für Foucault die Kategorie des ‚Autors‘ und des Autornamens, an die er das Werk bindet: Der ‚Autor‘ und das, was zu ihm ‚gehört‘, entscheidet demzufolge darüber, was ein Werk ausmacht, und dies in einer abgestuften Art und Weise, die durch die unterschiedliche Attraktionskraft des Autor(namen)s den Werkstatus von Texten sichert.161 Auf dieser Linie geht Heinrich Bosse weiter und arbeitet Foucaults autorzentrierten Ansatz kommunikationsgeschichtlich aus.162 Das Werk stellt demnach Identität und Einheitlichkeit über die Beziehung zu einem Autor bzw. über die Konzeption des Urheberrechts her.163 Für die von Bosse konstruierte Form der Herrschaft über das emphatisch verstandene Werk ist eine Symbiose von ökonomie-, rechts- und ästhetikgeschichtlichen Entwicklungen wichtig, um die Andersartigkeit einer Zeit vor der ‚Werkherrschaft‘ und einer Zeit der ‚Werkherrschaft‘ zu entwickeln. Während Foucault gleichsam den pars destruens einer diskursanalytischen Reformulierung der Werkästhetik in der Archäologie des Wissens vorstellt, präsentiert Bosse in Autorschaft ist Werkherrschaft den pars construens: Er beschreibt, wie aus einer zerstreuten Menge von Aussagen allmählich ein ‚Gegenstand‘ entsteht, der dann historische Unterschiede erzeugt.164 Die rhetorische Welt der tauschbaren und fortlaufenden Reden wird ersetzt durch die Welt der schriftlichen Kommunikation, in der Werke Individuen zugeordnet werden, in der Produzenten und Rezipienten nicht mehr die Plätze tauschen können, in der Geld und Geist synthetisiert und Geist und Werk analysiert werden.165 Ähnlich wie Derrida zeigt Bosse, wie im Werk Gegensätze koinzidieren. Allerdings verzichtet er auf die Behauptung, daß diese Aufhebung oder Einschließung von Gegensätzlichkeiten zur Dekonstruktion des Werkbegriffs führen. Vielmehr leitet er gerade aus der Verbindung von Geist und Geld, von Gedanke und Materie die Funktionstüchtigkeit des Werks ab. Man könnte also sagen: Während die De_____________ 161 Vgl. dazu die bündige Kurzfassung bei Harro Müller: Einige Notizen zu Diskurstheorie und Werkbegriff, S. 239: „Werke sind weder zeitlose Substanzen noch fixe Identitäten, sie enthalten keinen – wie auch immer – korrespondenztheoretisch abgesicherten Wahrheitsanspruch, der Objektivitätseffekte suggeriert, vielmehr sind sie machtimprägnierte, künstlich-kunstvoll hergestellte disperse Einheiten, die sich wesentlich aus Differenzen ergeben, Identitätseffekte erzeugen und stets in intertextuelle Zusammenhänge eingelagert sind“. Ausführlich zum Werkkonzept Foucaults im Blick auf die Autorschaftsfunktion: Spoerhase: Autorschaft und Interpretation, S. 53ff. 162 Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft, S. 14f. 163 Im Vergleich mit Eco stellt sich dann die Frage, ob die Ästhetik des offenen Kunstwerks ihre Offenheit bewahrt, wenn man sie auf die von Bosse eingeführten Determinanten ‚Recht’ und ‚Ökonomie’ bezieht. 164 Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft, S. 126ff. 165 Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft, z. B. S. 14.
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konstruktion das Funktionieren des Werks voraussetzt, um es sogleich zu subvertieren, untersucht die Diskursanalyse zunächst und vor allem dieses Funktionieren. Die Systemtheorie stellt gegenüber der Diskursanalyse die kunstimmanente Leistung des Werks heraus. Auch sie reformuliert den Werkbegriff, geht von der Funktion des Werks, nicht von dessen wie auch immer substantieller Bestimmung aus. Die ökonomische und juristische Dimension spielt dabei zunächst keine Rolle, so wie umgekehrt bei Bosse die ästhetische Funktion des Werks unterschlagen wird. Während Niklas Luhmann die Funktion der Kunst darin sieht, auf die Kontingenz der Beobachterperspektive hinzuweisen, indem sie ‚mögliche Welten‘ präsentiert,166 können Gerhard Plumpe und Niels Werber darin nichts Spezifisches entdecken, weil in der Moderne ohnehin Kontingenzbewußtsein herrscht.167 Freilich läßt sich Luhmann so verstehen, daß er die Funktion der Kunst nicht darin sieht, Kontingenz ‚herzustellen‘, sondern ‚auszustellen‘. In anderen Systemen würde dies den reibungs- und irritationsfreien Ablauf stören, wohingegen es im Kunstsystem die Kommunikation stimuliert. Das Kunstwerk als in sich geschlossener Zusammenhang zeigt dabei, so Luhmann, wie aus Kontingenz Notwendigkeit wird: Es gibt verschiedene Kunstwerke, aber alle erscheinen – wenn sie gelungen sind – für sich notwendig. Ähnlich wie Eco konzipiert die Systemtheorie das Werk als Moment der Kunstkommunikation: Das Werk ‚verdichtet‘ Kommunikation; es stellt eine Art ‚Kompaktkommunikation‘ dar bzw. fungiert als Stimulans und Offerte für die Realisierung unwahrscheinlicher Kommunikationsakte (z. B. der Kommunikation von Unverständlichkeit, Unbegreifbarkeit, Erstaunen etc.).168 Das Kunstwerk macht es wahrscheinlicher, daß man sich auf Kommunikation über Kunst einläßt. Im Unterschied zu Eco greift Luhmann dabei allerdings auf die Idee des in sich vollendeten Kunstwerks zurück. Seine Reformulierung der emphatischen Werkästhetik konzipiert das Werk als Antwort auf eine Frage, die es selbst gestellt hat.169 Daraus entsteht der Eindruck von Selbstgenügsamkeit. _____________ 166 Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, S. 624f. 167 Plumpe / Werber: Literatur ist codierbar, S. 27. 168 Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, S. 627f.: „Kunstwerke sichern, mit anderen Worten, ein Mindestmaß an Einheitlichkeit und Wechselbezüglichkeit (zum Beispiel Ergänzungsfähigkeit) der auf sie bezogenen Kommunikationen.[...] Das Kunstwerk vereinheitlicht ihre Kommunikation [die von alter u. ego, S.M.]. Es organisiert ihre Beteiligung. Es reduziert, obwohl es ein höchst unwahrscheinlicher Tatbestand ist, die Beliebigkeit der absehbaren Einstellungen. Es reguliert die Erwartungen. Sich dem mit Einsicht fügen, hatte einst den Titel ‚Geschmack’“. Vgl. dazu auch Plumpe / Werber: Literatur ist codierbar, S. 26. 169 Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, S. 630.
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Man könnte mit der Systemtheorie im Gefolge der Diskursanalyse gegen Eco geltend machen, daß zwar in der Moderne bestimmte Kunstwerke auf Offenheit angelegt sein mögen, daß sie aber im Kunstsystem verarbeitet und kommuniziert werden wie ‚geschlossenen‘ Kunstwerke: Sie werden Autoren bzw. Künstlern zugerechnet, und sie provozieren die Interpretationskunst einer aufs enigmatische Kunstwerk abonnierten Kunstbeobachtung. Das kommunikative Element wird dabei gewissermaßen gegen diese Intention des Kunstwerks auf Selbstabschließung eingeführt. Luhmann verwendet dafür den Begriff des ‚Stils‘, der das Werk mit anderen Werken in Beziehung setzt.170 Damit bezieht sich das Kunstwerk auf andere Kunstwerke, die andere Ansichtsseiten der Welten bieten und damit auf die Möglichkeit diverser Standpunkte hinweisen. Die Kunst lehrt das, was sie selbst gelernt hat: Sie differenziert das Sehen des prämissenabhängigen Sehens aus, die Fähigkeit zur Beobachtung zweiter Ordnung.171 Insofern zeigt sie auch, wie man sich in den gegenläufigen Programmen der Werkpolitik einrichten kann, ohne diese Widersprüche beseitigen zu müssen. Angesichts des Reflexionsniveaus, das die Diskussion um die Werkästhetik erlangt hat, erscheint Pierre Bourdieus Kampf gegen die „reine Ästhetik“ als eine wissenschaftliche Donquijoterie. Gleichwohl entwickelt er eine Reihe von äußerst fruchtbaren Fragestellungen und eine Gruppe von Begriffen und Konzepten, die insbesondere aufgrund ihrer Materialsensibilität für eine Geschichte der Theorie und Praxis des Werks wichtig sind. Dazu gehört die Intuition einer wechselseitigen Anregung von Produzenten und Rezipienten, die zu einer Komplizierung der Werkwahrnehmung und zur Ontologisierung dieser Werkwahrnehmung führen;172 und dazu gehören nicht zuletzt die unterschiedlichen Kapitalsorten, die den gesellschaftlichen Verkehr regeln und die werkpolitisch auch die Ökonomie der Kunst bestimmen.173 Ich werde im folgenden vor allem auf das symbolische Kapital eingehen, ohne damit zu behaupten, daß das ökonomische, das soziale oder das kulturelle Kapital per se weniger bedeutend seien, und ohne diese Pluralität der Kapitalsorten aus dem Auge zu verlieren. Mit Bourdieu teilt meine Studie das Interesse an der „Konstruktion von Systemen intelligibler Beziehungen, mit denen sich sinnliche Gegebenheiten erklären lassen“, das Interesse an der „Bildungsformel“, am „Erzeugungsprinzip“ oder am „Daseinsgrund“, der die Visibilisierungen _____________ 170 171 172 173
Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, S. 632. Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, S. 645. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 449ff., insbes. S. 454f., 470, 472f. Dörner / Vogt: Kultursoziologie, S. 138.
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und Invisibilisierungen im Umgang mit dem Werk akzeptabel macht.174 Bourdieu weist dabei auf eine Reihe von Widersprüchen hin, die nicht allein die „Regeln der Kunst“ im allgemeinen, sondern auch die Werkpolitik im besonderen bestimmen. Anschlußstellen ergeben sich etwa bei Bourdieus Analyse der Verkehrung von wirtschaftlichem Mißerfolg in künstlerische Wertigkeit und dem entsprechend asketischen Verhältnis zum Werk,175 bei der Untersuchung der Macht des Kritikers über das Werk, die sich auch über die Macht des Werks im literarischen Feld ergibt,176 bei der Irritation über eine Erziehung zur Kunst als „Erfindung des Kenners“, die sich als voraussetzungslose Sensibilität zu präsentieren versucht,177 beim konstruktivistischen Zugang zum Biographischen178 wie überhaupt zur Genese der „reinen Lektüre“179 sowie bei der Annahme werkpolitischer Parteilichkeit, die insbesondere Kritiken immer auch als Einsatz im Spiel um Selbstauszeichnung begreift.180 Die analytische Ästhetik nimmt diese Diskussionen nicht zur Kenntnis und wird ihrerseits in den literaturtheoretischen, editionsphilologischen und methodologischen Verhandlungen des Werk-Begriffs, die ich bislang behandelt habe, nicht beachtet. Dennoch gelangt sie zumindest in gewissen Hinsichten zu einer vergleichbaren Werktheorie.181 Gregory Currie, der sich mit der textualistischen Position von Nelson Goodman und Catherine Z. Elgin auseinandersetzt182 und sie als unbrauchbar zurückweist, plädiert entsprechend für einen historisch sensiblen Werkbegriff, der das literarische Werk als ein ‚autographisches‘ Werk versteht. Dessen Identifizierbarkeit hängt damit an der Autorschaft oder zumindest an der „history of production“, und die Textumgangsformen, die zu Werken führen, beruhen auf Eigenschaften wie „sensitivity, skill, and arcane _____________ 174 Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 14, 463f. Bourdieus Feldtheorie, die für eine strategozentrische Entzauberung der „reinen Ästhetik“ einschlägig ist und damit auch für meine Untersuchung viele wichtige Aspekte bereit hält, spielt wegen ihrer mediengeschichtlichen Leerstellen eine zunächst nachgeordnete Rolle. Hinzu kommen die Probleme bei der historischen Zuordnung (zur Zurückverlegung der „reinen Ästhetik“ um rund ein Jahrhundert, die bei der Anwendung der Bourdieuschen Feldtheorie auf die deutsche Literatur geboten ist, vgl. Wolf: Streitbare Ästhetik). 175 Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 227ff. 176 Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 267f. 177 Bourdieu: Die Regeln der Kunst, z. B. S. 295, 455. 178 Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 409ff. 179 Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 472ff. 180 Bourdieu: Die Regeln der Kunst, z. B. S. 360, 368, 466 – hier auch zum vergeblichen Bemühen von Autoren, die Rezeption ihrer Werke zu kontrollieren, ebda., S. 369. 181 Für die Hinweise auf die Diskussion um das Werk in der analytischen Ästhetik danke ich Tom Kindt. 182 Vgl. dazu Goodman / Elgin: Revisionen, S. 71ff.
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knowledge“183 – mit Jerrold Levinson könnte man fragen, inwiefern diese Empfindlichkeit für das Einzelwerk („Work) durch das Gesamtwerk eines Autors („Oeuvre“) stimuliert wird: Er plädiert für einen „oeuvre-restricted retroactivism“, weil in bestimmten Fällen von kontinuierlicher Werkentwicklung das spätere Werk die Beobachtung früherer Werke zu inspirieren vermag.184 Unabhängig von der Frage, ob dieser „retroactivism“ plausibel ist, interessiert die Frage nach der Werkpolitik, wie Leser auf eine bisweilen ungemein kreative und kontrainituitive Weise dazu gebracht werden, der möglichen Intention eines Autors auf Beobachtung eines Zusammenhangs zu folgen, den man dann „oeuvre“ nennen kann.185 Die Einstellung von Currie gegenüber den Unwahrscheinlichkeiten des Werkverhaltens scheint mir daher fruchtbar zu sein. Vielleicht, so meint er, gebe es „no things“, mit denen man auf eine angemessene Art ‚werkartig‘ umgeht, mithin auch keine „literary works“. Pragmatisch und in historischer Perspektive muß man sich davon nicht weiter stören lassen: „[…] if we become convinced that there are no such things as works, our interpretative practice can retain its value for us undiminshed, so long as we reconstrue our talk of literary works as part of an elaborate game of make-believe“.186 Nur: Wie sehen die Regeln dieses Spiels aus?187 Und: Was bringt uns dazu, an diesem Spiel teilzunehmen? e) Perspektiven der Werkpolitik An diesen wenigen Beispielen aus der Theoriegeschichte lassen sich die zentralen Fragestellungen und Interessen meiner Studien zur Werkpolitik vom 17. bis ins 20. Jahrhundert entwickeln: Im Verhältnis des Umgangs mit Werkförmigkeit vor und nach 1700 zeichnet sich eine historische Differenz ab, die in viele Bereiche der literarischen Kommunikation ausstrahlt. Bestimmte Vorstellungen von Beobachtbarkeit verbinden sich mit _____________ 183 Currie: Work and Text, S. 336, 338. Currie scheint „the author’s act of textual composition“ und die „history of production“ ineins zu setzen. Man muß allerdings sehen, daß sich viele der für das Werk typischen Textumgangsformen auch bei einem nicht autorschaftlich, sondern allein mehr oder weniger vage historisch zuschreibbaren Werk umsetzen lassen (vgl. dazu den Exkurs in 5.4.2). 184 Levinson: Work and Oeuvre, Zitat S. 250. 185 Zum Stellenwert der Autorintention in diesem Kontext vgl. Livingston: Texts, Works, Versions (with Reference to the Intentions of Monsieur Pierre Menard), S. 115ff., insbes. S. 122f.; vgl. auch Currie: Work and Text, S. 326. 186 Currie: Work and Text, S. 338. 187 Antworten darauf gibt Bourdieu bei der Analyse der von ihm sogenannten „illusio“ (Die Regeln der Kunst, S. 360ff.).
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dem Konzept eines Werks, das mit geheimnisvollen Tiefendimensionen ausgestattet ist und eine zeitintensive und enttäuschungsresistente Haltung mit Aussicht auf Anschlußverhalten einfordert. Für die Ausbildung dieses Lektüreverhaltens war Klopstock von einzigartiger Bedeutung, und dies schon aus dem schlichten Grund, daß er selbst auf eine auffällige Weise sehr viel Zeit in sein Werk investiert (4.1) und dabei eine Werkordnung aufgestellt hat, die bis in die Temporalstruktur der einzelnen Sätze hinein Aushaltefähigkeiten verlangt (4.2). Am Umgang mit Klopstocks Werk lassen sich dann auch idealtypische Übergänge zwischen den Problemen der kritischen Kommunikation (5.1) und den philologischen Lösungsmöglichkeiten aufzeigen, weil an seinem Beispiel die germanistischen Leitgattungen entfaltet werden: die kritische Edition, der Kommentar und die Monographie (5.2). ‚Werkpolitisch ‘ sind entsprechende Umgangs- und Habitusformen auch deswegen, weil sie Verhaltensweisen ausbilden, die für eine staatsbürgerliche Einstellung reklamiert werden. Immer wieder sieht man im folgenden, wie gerade die Autonomisierung des Ästhetischen an der Bildung von mentalen Dispositionen und Verhaltenskonventionen in diesem Sinn beteiligt und an eine Fülle kultureller Paradigmen oder Selbstverständlichkeiten gebunden ist. So demonstriert Tieck, der die Probleme der kritischen Kommunikation ausbuchstabiert (5.3.1 u. 5.3.2) und die Möglichkeiten der philologischen Kommunikation in einer Art Vorlauf testet (5.3.3 u. 5.3.4), wie eine ‚romantische‘ Aufmerksamkeit mit ihrem Sinn für Ironie, mit ihrer Bereitschaft, sich den Willkürlichkeiten poetischer Texturen auszuliefern und auf die Routinen der Alltagskommunikation, auf deren Moralunterstellungen und Nützlichkeitserwägungen zu verzichten, wie also gerade diese Aufmerksamkeitshaltung die Selbstverständlichkeiten gemeinschaftlicher und gesellschaftlicher Assoziationen garantiert (5.3.5). Während die ‚romantische‘ Werkpolitik Tiecks auf Ironie und Reflexion setzt und damit den Lesern vorgreift, eröffnet ihnen die ‚klassische‘ Werkpolitik Goethes jenen (scheinbaren) Freiraum, den insbesondere die Philologie nutzt, um sich als Wissenschaft von der neueren deutschen Literatur zu etablieren – als „Goethe-Philologie“ stellt sie dabei nicht zufällig das Politische des Werks in besonders deutlicher Weise heraus (5.4.3). Während Cramer sich noch mühsam das Werk Klopstocks so zurichten mußte, daß er die zentralen Textgattungen der Philologie daran entfalten konnte, legt Goethe alles dafür bereit, daß Monographien, Kommentare und Biographien geschrieben werden können. Er nutzt wie Klopstock und Wieland ‚Zeit‘ als Produktivfaktor der Werkpolitik und etabliert erfolgreich ein Lebenswerk (5.4.1); er reagiert mit diesem Lebenswerk kreativ auf die Herausforderungen des Buchmarkts (5.4.2 a),
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provoziert dadurch neue Visibilisierungsverfahren (5.4.2 b) und vermittelt die Werkkompetenzen im Nachvollzug des Werks (5.4.2 c). Während Programme der Gefahr ausgesetzt sind, ignoriert oder mißverstanden zu werden, verleiht Goethe seiner Werkpolitik eine Art von Selbstverständlichkeit, die sie zu einem kulturellen Paradigma macht. Stefan George reagiert in vielfältiger Weise auf den historischen Stand der Werkpolitik, der durch Goethe, dessen Entmächtigung der kritischen und dessen erfolgreicher Adressierung der philologischen Kommunikation erreicht ist. Und auch wenn er keine literaturpolitischen Beziehungen zu Tieck herstellt, so führt er werkpolitisch gesehen dessen Einstellung von Aufmerksamkeitsschwellen fort (6.1) und verlegt dabei den Versuch der Einflußnahme auf eine tiefere, mediensensible Ebene (6.2). Während Tieck und Goethe selbst die Ausdifferenzierung der kritischen und der philologischen Kommunikation forcieren, arbeitet George unter Bedingungen der Institutionalisierung beider Diskurse. Sein Werk entwickelt im Lauf der Zeit immer deutlicher die zentrale Werkkompetenz, im Unterschiedenen das Gleiche zu sehen (6.3). Nicht zuletzt aus diesem Grund bietet er der Philologie wie der Geistesgeschichte bei aller programmatischen Wissenschaftsskepsis optimale Möglichkeiten, literaturwissenschaftliche Aufmerksamkeitsformen im Umgang mit seinem Werk zu demonstrieren (6.4). Für die Ausarbeitung dieser Perspektiven stellt die Theoriegeschichte des Werks Ansätze, Fragen und Gedankenfiguren zur Verfügung. Beobachter zweiter Ordnung sehen, wie die Theorien des Werks wechselseitig ihre blinden Flecken aufdecken. Daraus läßt sich der Schluß ziehen, daß eine methodenpluralistische Herangehensweise von Vorteil ist. Dabei werden insbesondere vor dem Hintergrund des historischen Rückblicks, den ich oben skizziert habe, einige Leerstellen und Verengungen deutlich. So radikalisiert eben nicht nur die Moderne die prinzipielle Offenheit des Kunstwerks als Teil literarischer Kommunikation, wie Eco sie entwickelt. Dies gilt in gleichem Maß, wenn auch auf andere Weise, für den Fall einer rhetorischen Literaturkultur, weil in ihr das Kunstwerk nicht Teil einer enklavierten literarischen Kommunikation ist, sondern in weiteren Funktionszusammenhängen situiert wird. Damit übernimmt das Werk auch nicht, wie in der systemtheoretischen Konzeption ausdifferenzierter Kunstkommunikation, die Funktion eines Kommunikationsmediums, eines Stimulans’ und Katalysators für eine spezialistische und unwahrscheinliche Kommunikation über Kunst und deren interne Zusammenhänge. Die Spannung zwischen der Selbstabschließung des Kunstwerks und dessen Systembezug, den Luhmann als ‚Stil‘ rekonstruiert, entfällt dadurch in der Frühen Neuzeit.
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Das Netz der kulturellen Überzeugungen und Routinen, in die das Werk vor 1700 eingebettet ist, entspricht keinesfalls der Konstellation, die Derrida für den Buchcharakter des Werks im ‚Abendland‘ einsetzt und die aus einem Zusammenhang von Phono- und Logozentrismus mit den Leitorientierungen von Wahrheit, Wissenschaft, Subjektivität oder Innerlichkeit gebildet wird. Abhängigkeit, Äußerlichkeit und Gesellschaftstauglichkeit spielen hier eine entscheidende Rolle und werden ostentativ herausgekehrt. Das Werk steht in der Frühen Neuzeit in einem Diskurszusammenhang, der vor der von Foucault bestimmten Ordnung des Werks mit den Leitideen des Menschen, der Kontinuität, des Subjekts, des Humanismus oder der Anthropologie anzusiedeln ist. Klar dürfte ebenfalls sein, daß bis ins 18. Jahrhundert weder die rechts- noch die ökonomie- und ästhetikgeschichtlichen Voraussetzungen für den emphatischen Werkbegriff gegeben sind. Werke stehen in der rhetorischen Literaturkultur für mehr oder weniger transparente Durchlaufstationen einer Rede, der keine Grenzen mit Hilfe der Kategorie des individuellen Autors gezogen werden müssen, um akzeptabel zu sein. Diese Ordnung hält die Rollen von Lesern und Autoren nicht trennscharf auseinander. Am Beispiel der Verkörperung und damit an der Perspektivierung und Temporalisierung des Werks, die im Rahmen der divergierenden Umgangsformen mit den Werken von Martin Opitz bei Triller sowie bei Bodmer und Breitinger ansatzweise zu bemerken war, sieht man allerdings, daß ‚tiefsinnige‘ Werkkonzeptionen auf das extreme Aufkommen an divergierenden Meinungen reagierten, deren Unvermittelbarkeit nur noch schwer argumentativ gebändigt werden konnte. Dies aber bedeutet auch, daß Bosses Fokussierung der ästhetikgeschichtlichen Entwicklung auf ökonomische und juridische Diskurse relativiert, wohingegen seine kommunikationsgeschichtliche Perspektive bestätigt wird. Die Vorgeschichte und die Geschichte des emphatischen Werkbegriffs verdeutlicht so auf der einen Seite, daß beispielsweise Standpunktsicherheit, Beobachtungsgenauigkeit oder unterschiedliche Formen der Selbstabschließung auf Fiktionen und unhaltbaren Unterstellungen oder Behauptungen basieren. Auf der anderen Seite zeigt sich, wie eben diese Infragestellungen von Substantialität oder Identität zu immer neuen und immer virtuoseren Bemühungen führen, Gewißheit zu erlangen, Verläßlichkeit zu sichern und Kontrolle zu behalten; und es zeigt sich, wie auf eine faszinierende Art diese in historischer Perspektive kontraintuitiven und strukturell unwahrscheinlichen Bemühungen Erfolg haben. Zumal die medienhistorische Perspektive macht diesen grundlegenden gegenläufigen Zusammenhang von Stabilisierung und Destabilisierung deutlich: Dies betrifft Momente wie beispielsweise die ‚Buchhaftigkeit‘ des Werks oder die Stimulierung bestimmter Formen von Aufmerksamkeit durch Druck-
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schriftlichkeit. Schriftlichkeit ist die elementare Voraussetzung für eine bestimmte Virtuosität der Werkpolitik, die gleichermaßen Verteidigungswie Angriffspositionen ausbaut. Auf eben diese medienhistorische Dimension legen die folgenden Kapitel zur Etablierung von Negativität den Schwerpunkt (2. u. 3.). Darin beschreibe ich den Erwartungshorizont, in dem sich Werkpolitik nach der Zeit ‚um 1700‘ bewegt.
2. Aspekte kritischer Kommunikation Wenn ich im folgenden auf den literaturkritischen Diskurs insbesondere des 18. Jahrhunderts eingehe, dann nicht, um eine Geschichte der Literaturkritik in der Aufklärung zu schreiben, zu der mehr als die hier erwähnten Namen gehören.1 Mir geht es lediglich um den symptomatologischen Wert der literaturkritischen Diskussion. Aus diesem Grund werde ich von kritischer Kommunikation sprechen, um damit einerseits das Beziehungsgefüge von Autoren und Lesern insgesamt einzubeziehen und um andererseits den Doppelsinn von „kritisch“ im Sinne von „bewertend“ und im Sinne von „krisenhaft“ als erste vorläufige Beschreibung dieses Beziehungsgefüges zu nutzen. Die Reflexion auf Formen und Institutionen der Literaturkritik bzw. die Untersuchung der Etablierung von kritischer Negativität dient also lediglich dazu, Werkpolitik als historisch spezifisches und vor allem problematisches Konzept plausibel zu machen und damit die Einzelstudien zu Klopstock (4.), Tieck (5.3), Goethe (5.4) und George (6.) vorzubereiten. Mein Interesse ist eher kommunikationsgeschichtlich als kritikgeschichtlich orientiert, weswegen ich einige Themen (wie z. B. die Geschmacksdebatte) nicht eigens anspreche.2 Der positive Begleiteffekt bei der Untersuchung von ‚Aufklärung als Kommunikationsprozeß‘ mit der Ausrichtung an Formen kritischer Verunsicherung besteht darin, daß forschungsgeschichtliche Schattenseiten ins Licht rücken. Denn daß die Briefkultur, das Zeitschriften- oder Sozietätenwesen das 18. Jahrhundert zu einem geselligen Jahrhundert machen3, hat den Akzent m. E. zu sehr auf die Friedlichkeit aufklärerischer Selbstverständigung gelegt. Die Expansion des Zeitschriftenmarkts beispielsweise dient nicht allein der Befreiung von Meinungswillkür, und die Literaturkritik übernimmt nicht nur Vermittlungsfunktion zwischen einander _____________ 1 2
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Vgl. Jaumann: Critica, sowie: Urban: Kunst der Kritik. Zu den Forschungsdefiziten vgl. ebda., S. 7ff.; an der von Koopmann (Literarische Kritik in Deutschland) skizzierten Situation hat sich von daher wenig verändert. Vgl. als Skizze einer Kommunikationsgeschichte des 18. Jahrhunderts: Fischer / Haefs / Mix: Einleitung: Aufklärung, Öffentlichkeit und Medienkultur in Deutschland im 18. Jahrhundert. Als Überblick über die Literaturkritik der Aufklärung: Berghahn: Von der klassizistischen zur klassischen Literaturkritik. Bödeker: Aufklärung als Kommunikationsprozeß, insbes. S. 98ff.; Peter: Geselligkeiten.
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sich entfremdenden Autoren und Lesern,4 sondern in beiden Fällen werden auch neue und zum Teil erhebliche Verständigungsschwierigkeiten bis hin zur Unverständlichkeit produziert und damit Machtpositionen aufgebaut.5 Ein Blick auf die Virtuosität der Meinungsbildung, auf die Verbindung von Kritiktheorie und Kritikpraxis oder auf die Performanz kritischer Kommunikation zeigt dabei, daß die Beschränkung auf die programmatische Ebene mit der Konzentration auf gemeinnützige Absichten und die Beförderung des Schönen, Wahren und Guten zu kurz greift. Aber noch im Rahmen der Programmatik selbst haben die Aufklärer in scharfsinnigen Bemerkungen den Anteil von Gewalt an dem von ihnen initiierten Umwälzungsprozeß reflektiert. Das Bild einer auf Harmonie und Verständigung zielenden Öffentlichkeit auf der Vorderseite der aufklärerischen Medaille6 wird auf diese Weise durch das rückseitige Bild einer von Zerstreuung und eskalierender Meinungsdivergenz geprägten Kommunikation ergänzt.7 Wenn sich z. B. Pierre Bayle in seinem Critischen Wörterbuch, gleichsam als kathartische Initiation der aufklärerischen Kritik, die vorliegenden Wörterbücher vornimmt und somit die zurückliegende Kultur, die darin verzeichnet wird, unbarmherzig überprüft, dann rechnet er einleuchtenderweise mit einigen Vorbehalten: „Ihr werdet euch ohne Zweifel über meine Entschließung verwundern“, schreibt er an du Rondel. „Ich habe mirs in den Kopf gesetzt, so viel als es mir nur möglich seyn wird, die allergrößte Sammlung von Fehlern zusammen zu tragen, die man in den Wörterbüchern antrifft [...]“.8 Bayle sammelt nicht die positiven Ergebnisse, sondern die negativen und macht darauf aufmerksam, daß man sich gar nicht genug darüber wundern sollte, wie sehr ‚Kritik‘ und die Akzeptanz des Tadels zu etwas Normalem geworden sind und wie sehr man seit geraumer Zeit seine intellektuelle Kompetenz und Integrität dadurch unter Beweis zu stellen hat, daß man ‚Kritik erträgt‘ und sich entsprechend flexibel verhält (2.4).9 Die Zumutung der Kritik als etablierter Diskursinstanz _____________ 4 5 6 7 8 9
Barner: Einführung, S. 1; Raabe: Die Zeitschrift als Medium der Aufklärung (vgl. hier auch die reservierte Beurteilung der Medienlandschaft in den angehängten Originaldokumenten: ebda., S. 112f.). So auch das Fazit bei Kall: „Wir leben jetzt recht in Zeiten der Fehde“, S. 393ff. Lucian Hölscher schreibt z. B. von der „Idee einer Konvergenz aller Meinungen und Lebensgewohnheiten“ (Öffentlichkeit und Geheimnis, S. 95). Auch wenn Kritikhistoriker wie Eva-Maria de Voss diese zwei Seiten der Aufklärung bemerken, fehlt ein Modell, um konzeptionell damit umzugehen (Die frühe Literaturkritik der Aufklärung, z. B. S. 14f. vs. 55f., 128f.). So in dem Entwurf zu einem critischen Wörterbuche. In: Bayle: Historisches und Critisches Wörterbuch. 4. und letzter Theil, S. 617. Zur Repräsentation eines „durchweg revisionsbereite[n] Nachdenken[s]“ in Pierre Bayles Dictionnaire vgl. Schneider / Zedelmaier: Wissensapparate, S. 358.
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bedeutet für Autoren, daß sie Techniken des Krisenmanagements entwikkeln müssen, um nicht „aus Furcht, vor den Wiedervergeltungen, nichts drucken lassen“.10 Von dieser ‚Furcht‘ als Struktureffekt und ihrer konzeptionellen Bewältigung durch Autoren handelt die vorliegende Arbeit, das folgende Kapitel von der prinzipiellen Unwahrscheinlichkeit der Etablierung von Negativität, also einer Funktion, die nicht zuletzt zum Tadel da ist, sowie von den historischen Bedingungen, die die Etablierung dieser Funktion dennoch wahrscheinlich machen. Kritik bzw. kritische Kommunikation ist nun keine Erfindung des 18. Jahrhunderts – dies zeigt ein Blick auf die vielen tadelnden Aussagen in der Literaturgeschichte des Abendlandes ebenso wie ein Blick auf die Satiretradition oder die Vorredentopik, die den Autor in Verteidigungshaltung präsentiert. Momus und Zoilus begleiten die Autoren seit der Antike, und die entsprechenden Abwehrgesten finden sich in den Prologen, Epilogen oder Zwischenreden.11 Historisch spezifisch bestimmen läßt sich indes der Ort des Kritischen, seine Legitimation und die Versuche der Positivierung von Negativität. Was muß geschehen, um die Forderung erheben zu können, man solle Kritik ertragen? Welche Konzepte von Autorschaft, welches Werkmodell, welche Vorstellung von Schreiben, Lesen oder Beurteilen begleiten die Etablierung von Negativität? Was macht es wahrscheinlich oder gar notwendig, die Position des Tadlers mit einem positiven Wert zu belegen? Wie können sich Diskurselemente gegenseitig so unterstützen, daß mit einigem Recht von einem „Zeitalter der Kritik“ (2.1 u. 3.) gesprochen werden kann? Bei der Beantwortung dieser Fragen werde ich immer wieder medienhistorische Argumente privilegieren, ohne daß damit andere Erklärungsmuster ausgeschlossen werden.12 Die „zeit- und raumversetzte Kommuni_____________ 10 11
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Bayle: Historisches und Critisches Wörterbuch. 4. und letzter Theil, S. 622. Für die Literaturkritik vgl. z. B. die Dokumentation von Saintsbury: A History of Criticism and literary Taste in Europe from the earliest Texts to the present Day in three volumes; als kurzgefaßter Überblick: Schalk / Weber: Kritik, Literaturkritik; Kohlschmidt / Mohr: Literarische Kritik, S. 65ff. Einen Eindruck von dem mit dem Wort „Kritik“ berührten Bedeutungsspektrum vermitteln: Bormann / Tonelli / Holzhey: Art. „Kritik“; Röttgers: Kritik. Für die Satire im Blick auf Kritik aufschlußreich: Jaumann: Satire zwischen Moral, Recht und Kritik. Zum schwierigen Ort des Kritischen als eines justiziablen Moments und zu bezeichnenden Schwierigkeiten des rechtlichen Belangens von flottierender Druckschriftlichkeit: Berns: Policey und Satire im 16. und 17. Jahrhundert. Zur Paratexttopik: Genette: Paratexte, z. B. S. 190ff.; zur Kritik in Poetiken und Paratexten im Barock vgl. einige Beispiele bei Rohrmann: Die Anfänge der literarischen Kritik in Schlesien; zur Vorrede die Arbeit von Ehrenzeller: Studien zur Romanvorrede von Grimmelshausen bis Jean Paul, insbes. S. 12ff., 137ff. Daß man medienhistorisch mit Übergänglichkeiten sowie mit unterschiedlichen Faktoren zu rechnen hat, wird mit Recht immer wieder angemerkt. Vgl. z. B. Müller: Überlegungen zur Michael Gieseke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit; Wandhoff: Der Medienwechsel als Epochenschwelle?
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kation“ der Schriftlichkeit provoziert m.E. alternative Reaktionen, und der Buchdruck als historisch spezifische „Institutionalisierungsform der zerdehnten Situation“ verschärft die sich daraus ergebende kritische Kommunikationslage. Die quantitative Steigerung von Meinungsangeboten und Meinungsbildungsangeboten erhöht die Abweichungswahrscheinlichkeit, so daß das Kritische der Kommunikation auf konzeptionelle Bewältigung drängt (2.5).13 Insbesondere auf eine Leerstelle in der folgenden Darstellung kann ich in diesem Zusammenhang lediglich hinweisen, nämlich auf die Vernachlässigung der theologischen Kritikkultur, die nicht umsonst eine Kultur der Schriftlichkeit ist. Phänomene wie z. B. die Reflexionsförmigkeit der kritischen Kommunikation oder die offene Akzeptanz des Tadels, die ich als Phänomene des Literaturbetriebs untersuche, werden im Rahmen der Kontroverstheologie auf hohem Niveau behandelt.14 Die (Kirchen-)Kritiker vom Schlage Bayles oder Lessings haben vielleicht mehr von ihren Gegnern gelernt, als sie zugeben möchten. Die entscheidenden Aspekte kritischer Kommunikation nun lassen sich mit dem klapprigen Alexandrinerpaar auf dem Titelblatt der Geheimnisse der deutschen Kunstrichter (1771) zusammenfassen: „Von mir hängt es bloß ab, was ich erheben will, / Scribenten, merkt euch dies, und schweiget für mich still!“ Zunächst macht der Kritiker die Schriftsteller darauf aufmerksam, daß sie unter Beobachtung schreiben und daß sie Reaktionsformen entwickeln müssen, die den Anforderungen von Virtualität und Potentialität genügen. Was auch immer ein Schreiber tut, er tut es nie für sich allein, wenngleich er sich und seine Leser von seiner Eigenständigkeit überzeugen mag (2.1). Zum zweiten erklären die Verse ohne Umschweife, daß Kritik eigensinnig agiert, daß also die Materialgerechtigkeit, die die Verteilung von Lob und Tadel im Literaturbetrieb steuert, faktisch keiner ontologischen, sondern einer konstruktivistischen Gedankenordnung folgt. Es geht hierbei weniger – wie in der Interaktion – um einfach vorhandene Sichtbarkeit und Zurechenbarkeit, sondern vielmehr um eine Orientierung in der Vermitteltheit von Distanzbeziehungen und um den entsprechenden Umgang mit Unsichtbarkeit (bzw. – da die Unterscheidung von ‚sichtbar‘ und ‚unsichtbar‘ in diesem Fall relativ ist – um den Umgang mit einer neuen Form von Sichtbarkeit) (2.3). Der einzige Weg, um sich gegen Kritik zu sichern, ist folglich das Schweigen.15 Diese Option allerdings kann nicht sonderlich attraktiv sein, da für den Autor eine sehr einfache Definition gilt: „Ein Autor ist ein Mensch, welcher _____________ 13 14 15
North: Einleitung, hier S. XI; Assmann: Text und Kommentar, S. 23. Gierl: Pietismus und Aufklärung, insbes. S. 34f., 60ff. Zur „Dramatisierung des Schweigens“ in der Konversationstheorie der Frühen Neuzeit als Ausdruck unterschwelliger Machtfigurationen: Schulz-Buschhaus: Konversation als Machtkampf, S. 334f.
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schreibt, und seine Schriften drucken läßt“.16 Anders formuliert: Kritische Kommunikation muß sich so konzeptionalisieren, daß dabei der Anteil an Gewaltsamkeit im Literaturbetrieb verarbeitet wird (2.4), und sie muß Möglichkeiten finden, Negativität als für sich legitimes Moment zu akzeptieren (2.5). Bereits die Holprigkeit der Verse zeigt dabei an, daß der Kritiker im Literatursystem keinen Anspruch auf Verbesserung der Poeten erheben kann. Er verläßt damit den Zirkel von Lesen und Schreiben und verbaut sich eine zentrale Legitimationsmöglichkeit von Negativität in der rhetorischen Kultur, nämlich die Überführung von Kritik ins Positive neuer literarischer Texte als Verfahren der Dichterausbildung (2.2). Anders formuliert: Autoren geht es wie den Lichtenbergschen Zielscheibenmalern: „Wer eine Scheibe an seine Garten-Tür malt, dem wird gewiß hineingeschossen“,17 nur daß in der kritischen Kommunikation Struktureffekte verarbeitet werden müssen. Schriftsteller bewegen sich in einem System, in dem das Kontrafaktische prätendierter Eindeutigkeit bei Wertungskriterien und ihrer Anwendung immer klarer erkennbar wird. Über ein Werk kann immer auch etwas anderes gesagt werden, als tatsächlich gesagt worden ist. Im literarischen Diskurs lebt man ‚offensichtlich‘ als kommunikative Existenz, als stets von sich selbst abgelenkte Persönlichkeit, und doch werden gerade hier – etwa in der Genieästhetik – radikale Zentrierungen vorgenommen. Werkpolitik bedeutet also die Ausbildung idealer Identität durch faktische Differenz. Kritisierbarkeit interessiert mich somit als eine historisch spezifische Form der Dezentrierung, auf die Werkpolitiken reagieren.
2.1 Autoren im Spiegelstadium der Kritik Ihrem Selbstverständnis nach ist die Aufklärung das „Zeitalter der Kritik“, wie Immanuel Kant es 1781 als Zeuge einer Selbstkonstruktion der Epoche schlagwortartig formuliert.18 ‚Kritisch‘ ist die aufklärerische Kommunikationskultur insofern, als Kritik – sichtbar vor allem im Zeitschriftenbetrieb19 – einen zunehmend größeren Stellenwert einnimmt. Im naturwissenschaftlichen Diskurs, auf dem Feld von Religion und Kirche, im Blick auf die Extreme der Sozialhierarchie, also den „Hof“ und die Lebenswelten des „Pöbels“, und im Literaturbetrieb entwickelt sich eine _____________ 16 17 18 19
Belustigungen des Verstandes und des Witzes (1743), Wintermonat, S. 417. Lichtenberg: Schriften und Briefe. Bd. 1. Sudelbücher I, S. 742 (J 614). Kant: Kritik der reinen Vernunft, A XI (Anm.); zur Literaturkritik unter kantianischem Einfluß vgl. Urban: Kunst der Kritik, insbes. S. 13ff. Einen Überblick bietet: Von Almanach bis Zeitung. Ein Handbuch der Medien in Deutschland 1700 – 1800.
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Kultur der Negation des Bestehenden in regional und thematisch unterschiedlicher Form.20 Die daraus resultierende Selbstbestimmung im Sinne eines historischen Bruchs versteht sich freilich nicht von selbst. Gottlieb Stolle etwa zieht zu Beginn der Aufklärungsepoche noch andere historische Linien und Grenzen. In seiner Anleitung Zur Historie der Gelahrheit (1727) schreibt er: „Die Critic ist nie mehr excoliret worden, als seit dem XVI. Seculo her, welches biß in die mitten des XVII. fast gantz critisch gewesen“.21 Tatsächlich trifft das nicht nur für ein spezifisches, vor allem editionsphilologisches Verständnis des Wortes „critisch“ zu, sondern die Vorläuferschaft der humanistischen Kritikkultur gilt auch für viele Momente der darauf folgenden literarischen Kommunikation wie die Verunsicherung der Sinnfindung, die Tendenzen zur Historisierung oder die Reflexionsförmigkeit der Kritik.22 Vor dem Hintergrund dieses problematischen Innovationsanspruchs erklärt sich, daß im 18. Jahrhundert als zentrales Kriterium der ‚neuen‘ Kritik die Disqualifikation einer ‚alten‘ Kritik dient, die angesichts des nun aktuellen Drangs zum „Kern“ der Dinge zur bloßen „Buchstäbeley“ und damit zur Betrachtung lediglich der „Schale“ erklärt wird.23 Der entscheidende Umbruch liegt mithin aus Perspektive der Eigenwahrnehmung in der Verschiebung der Grenzen von Sichtbarkeit und in der Etablierung einer neuen Form von Sichtbarkeit durch die Absage an eine Repräsentationskultur.24 Auf diese Weise ist in die Form der Kritik, die ein an klar sichtbaren Hierarchien und entsprechenden Autoritäten orientiertes Denken unterläuft, bereits der Gesellschaftsbezug eingelassen. Das „Zeitalter der Kritik“ verschiebt die Leitorientierung von der Interaktion (2.2) zur Distanzkommunikation und denunziert entsprechend das „Ansehen“ als „Vorurtheil“.25 Sie eröffnet damit zunächst einmal neue Möglichkeiten der Kritisierbarkeit, Möglichkeiten, die jedoch nicht nur als erleichternde Befreiung vom Gängelband einer ostentativen Reglementierung von Kom_____________ 20
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Einen knappen Überblick über die kritische Kultur der Aufklärung bei Dülmen: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. 3. Bd., S. 216ff. Als zeitgenössisches Zeugnis der breiten Kritikzuständigkeit: Art. „Critique“. In: Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences des arts et des métiers. Vol.4, S. 490-497. Stolle: Anleitung Zur Historie der Gelahrheit, S. 114. Vgl. dazu: Stillers: Humanistische Deutung, hier zusammenfassend S. 27ff. So z. B. in den Bemühungen zur Beförderung der Critik und des guten Geschmacks (1743), 1. St., S. 7, 25. Bis in die Wortwahl entspricht das der Bestimmung von Kritik in Gottscheds Critischer Dichtkunst (3.1.1). Zum Thema der „Buchstäbeley“-Kritik: Voss: Die frühe Literaturkritik der Aufklärung, S. 68ff. Zur Kritik der Grammatiker als Pedanten vgl.: Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat, insbes. S. 294ff. „Repräsentation“ wird hier und im folgenden verstanden als Element der frühneuzeitlichen Gesellschaft, die auf die exponierte Sichtbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse sehr viel größeren Wert legt als das später der Fall ist. Bemühungen zur Beförderung der Critik und des guten Geschmacks (1743), 1. St., S. 29.
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munikation empfunden werden, sondern deren bis ins Willkürliche reichende Potentialisierung auch als Problem verhandelt wird. In einer Formulierung, die sich ähnlich in den Kritikdebatten immer wieder findet, nennen die Anmerkungen zum Gebrauche deutscher Kunstrichter (1762) als eine der zentralen Kompetenzen des Kritikers die „Erblickung von Fehlern, selbst da wo sie nicht sind [...]“ (3.3).26 Dieser neugewonnene Möglichkeitsraum macht die aufklärerische Kommunikation aber auch insofern ‚kritisch‘, als die „Freyheit“27 der Kritik nicht nur den friedlichen Austausch aufgeklärter Meinungen, sondern zudem das Gewaltpotential der Kommunikation befördert. Die Tadlerinnen Johann Christoph Gottscheds beispielsweise, eine der erfolgreichsten Moralischen Wochenschriften des 18. Jahrhunderts und Markstein bürgerlicher Geselligkeit, wollen „Furcht und Zittern“ verbreiten bzw. die Autoren „furchtsam“ machen (T II, 106f.; 3.1.1). Sie bleiben damit keinesfalls allein, wie einige willkürlich herausgegriffene Beispiele zeigen: So stellt man sich „schwere[ ] Züchtigungen“ und „Gegenzüchtigungen“ in Aussicht,28 klagt eine kritische Rede ein, die mit den Elementen „Haß / Hohn / Verachtung / Eckel“ operiert und entsprechend „wehe thut“29, oder erklärt, der Kunstrichter habe auch dann seine „Beurtheilungen vorzutragen, wenn er sieht, daß er sich selbst oder andern einigen Schaden dadurch verursacht“.30 Daß es den Kritikern in erster Linie nicht darum geht, „der Welt oder dem Schriftsteller zu dienen“, sondern sich „furchtbar zu machen“,31 wird selbstverständlich als Manko verbucht, ist aber als Faktum ebensowenig umstritten wie die Tatsache, daß Kritiker die Dichter „in Angst“ halten.32 Die Reihe ließe sich beliebig erweitern. Zwar geht es stets um die Beförderung des Guten und Schönen in der Welt33, dennoch gehören „Furcht und Zittern“ zur kritischen Kommunikation gerade der Aufklärung, zur Vervielfältigung der Möglichkeiten von Kritik und zur _____________ 26 27 28 29 30 31 32 33
[Gellius]: Anmerkungen zum Gebrauche deutscher Kunstrichter, unpag. („An den Herrn Übersetzer des ersten Theils der Heloise des Rousseau“). Zu Gellius vgl. Fontius: Tendenzen der Literaturkritik in Frankreich und Deutschland, S. 137ff. Vgl. z. B. Meier: Abbildung eines wahren Kunstrichters, unpag. (Vorrede) u. S. 206. Bemühungen zur Beförderung der Critik und des guten Geschmacks (1747), 16. St., S. 716. [Bodmer]: Anklagung Des verderbten Geschmackes, unpag. (Widmungsvorrede). Meier: Abbildung eines wahren Kunstrichters, S. 179f. Anmerkungen zum Gebrauche deutscher Kunstrichter, S. 5. [Mauvillon / Unzer]: Über den Werth einiger Deutschen Dichter und über andere Gegenstände den Geschmack und die schöne Litteratur betreffend, S. 55. Vgl. als geradezu ideale Programmschrift die Schutzrede für die Freyheit der Gelehrten, abgefasset, und in einer Gesellschaft von Gelehrten gehalten, von einem wahren Menschenfreunde in: Bemühungen zur Beförderung der Critik und des guten Geschmacks (1746), 14. St. 497-527.
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Verschiebung des Bezugspunkts weg von den Buchstaben hin zum „innern Werth einer Schrift“ (SCPS, 1746, 14. St., S.35f.). Wie reagiert die Figur des Schreibenden auf die Kritikkultur mit ihren Merkmalen der Virtualisierung von Kritik, der entsprechenden Invisibilisierung von Kriterien und der Horribilität der Kommunikation? Welche Positionierungen begleiten die Etablierung von Negativität? Die konzeptionellen Folgen der skizzierten Problemkonstellation, die in den folgenden Kapiteln ausführlicher entfaltet wird, möchte ich in ersten Ansätzen am Beispiel von Nicolas Boileaus Art poétique entwickeln. Dabei geht es mir nicht um eine Boileau-Exegese, sondern um die Suche nach einigen Anhaltspunkten dafür, warum die literarische Konstellation Frankreichs in der Frühaufklärung immer wieder als Vorbild hochgehalten und die desolate Lage der Literatur in Deutschland vor diesem Hintergrund mit dem nur mangelhaft ausgebildeten Kritikbetrieb begründet wird.34 Um es mit Christian Wernicke, dem Kronzeugen für diese Gedankenfigur, zu sagen: Man ist gäntzlich der Meinung, dass was die Frantzösische Schreib-Art zu der heutigen Vollkommenheit gebracht hat, meistentheils daher rühre; dass sobald nicht ein gutes Buch ans Licht kommt, dass nicht demselben eine sogenante Critique gleich auf den Fuss nachfolgen sollte [...].35
Aber die Vorbildlichkeit beschränkt sich nicht allein auf die Qualitätssicherung durch umfassende und genau Beurteilung, sondern schließt die problematischen Aspekte der Meinungsvielfalt ein. „Die Meynungen ändern und durchkreuzen sich in jedem Viertheile der Stadt [Paris, S.M.]: daher entsteht die Mannigfaltigkeit der Meynungen, und die Ungewißheit der Urtheile, über alles, was herauskömmt“.36 Die Attraktivität von Boileaus Art poétique könnte unter anderem darin liegen, daß die Epistel vor dem Hintergrund der kritischen Kommunikationslage, die ich mit wenigen Strichen umrissen habe, passagenweise als Vademekum für die „Ungewißheit der Urtheile, über alles, was herauskömmt“, erscheint – die lebhafte Auseinandersetzung in den Journalen um Boileaus Werk nach dessen Tod jedenfalls spart zwar nicht mit Tadel, _____________ 34 35
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Fragmente zu einer Parallelgeschichte der deutschen und französischen Kritik bei Fontius: Tendenzen der Literaturkritik in Frankreich und Deutschland. Wernicke: Epigramme, S. 123. Vgl. auch: Aufrichtige und Unpartheyische Gedancken, Uber Die J OURNALE , E XTRACTE und Monaths=Schrifften, Worinnen Dieselben extrahiret, wann es nützlich suppliret und wo es nöthig emendiret werden. Nebst einer Vorrede von der Annehmlichkeit, Nutzen und Fehler gedachter Schrifften (1714), 2. St., S. 119f.; T II, 105; Bemühungen zur Beförderung der Critik und des guten Geschmacks (1743), 1. St., S. 27. So in einem aus einer französischen Zeitschrift übernommenen Artikel über das Pariser Publikum, der nach Meinung des Herausgebers auch für das deutsche Publikum paradigmatisch sein soll, in: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, Ärntemond 1755, S. 595.
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nimmt jedoch L’Art poétique davon so gut wie aus.37 Auch wenn Boileau zu Lebzeiten erstaunlich wenig unter konkreten Zeitschriftenverrissen leiden mußte38, entwickelt er in seiner in wesentlichen Teilen aus Klassikern gespeisten Kritiktheorie Argumente, die für eine konzeptionelle Reaktion auf das Strukturphänomen kritischer Kommunikation anregend sind. So fordert er in Anlehnung an Formulierungen von Horaz39 und in Fortführung des humanistischen Geistergesprächs40 den Autor auf, sich einen kritischen Freund zu suchen, der „rigoureux“ und „inflexible“ jeden Fehler anmerkt. Der Freund hat dabei die Funktion, eine Art Zwischenstufe zwischen Autor und Publikum zu bilden. Er ist dem Autor so fremd, daß er dessen narzistisches Spiel der Selbstbestätigung durchbricht, und er ist dem Autor noch so nahe, daß ihm die Bedrohlichkeit der Öffentlichkeit fehlt. Anders formuliert: Der von Boileau eingesetzte kritische Freund fungiert als Spiegelbild des Autors, er personifiziert eine bestimmte Form der Selbstentfremdung und des Selbstbezugs. Beides dient der Sicherung von Qualitätsstandards; es dient aber auch der Bewältigung von Furcht in einem unbestimmten Raum der Publizität: „Craignés-vous pour vos vers la censure publique? / Soyés-vous à vous mesme un severe Critique“.41 Boileau stellt sich dem Problem der Unsichtbarkeit und Allgegenwärtigkeit potentieller Kritiker, die vermittelt durch den Freund als kritisches Spiegelbild des Autors an Gestalt gewinnen. Die Gedankenfigur des Freunds läßt sich in diesem Vorstellungskontext als Teil eines interaktionistischen Poesieverständnisses lesen und als nach außen projizierte, personalisierte Form der Virtualität von Kritik. Auf welche Weise das Modell freundschaftlicher Kritik der Situation unbestimmbarer Kritisierbarkeit entgegnet, verdeutlicht vor allem der vierte Gesang der Art poétique, wo Boileau erneut den „Censeur solide et salutaire“ als ständigen Begleiter einfordert, damit dieser zur Selbsterhellung des Autors, also gleichsam zur Entfaltung einer bereits unabhängig vom kritischen Freund vorhandenen Urteilskompetenz, beiträgt: „Lui seul éclaircira vos doutes ridicules“.42 _____________ 37 38 39 40
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Mattauch: Die literarische Kritik der frühen französischen Zeitschriften, S. 183ff. Mattauch: Die literarische Kritik der frühen französischen Zeitschriften, S. 83, 152. Vgl. z. B. AP, 289ff., 419ff. oder Ep.II, 2, 109f. Zur (kritischen) Freundschaftskultur des Humanismus vgl.: Trunz: Der deutsche Späthumanismus um 1600 als Standeskultur, S. 35ff.; Barner: Gelehrte Freundschaft im 18. Jahrhundert. Zur sukzessiven Entwicklung der aufklärerischen Kommunikationskultur aus dem interaktionsnahen Humanismus: Ammermann: Gelehrten-Briefe des 17. und frühen 18. Jahrhunderts. „Habt ihr Angst davor, daß eure Verse der öffentlichen Kritik ausgesetzt sind? Dann seid euch doch selbst ein unnachsichtiger Kritiker“ (Boileau: L’Art poétique, S. 16f.). Boileau: L’Art poétique, S. 70. Das Manifest dieser Haltung ist Shaftesburys Soliloquy, in dem es bezeichnenderweise ebenfalls an mehreren Stellen um die produktive Funktion der Kritik geht: Shaftesbury: Soliloquy, z. B. S. 141ff. Als Rezeptionszeugnis in der deutschen
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Dieser literarischen Konstellation weist Boileau einen medienhistorischen Ort zu: Ne vous enyvrés point des éloges flateurs / Qu’un amas quelquefois de vains admirateurs / Vous donne en ces Reduits promts à crier, merveille, / Tel écrit recité se soûtint à l’oreille, / Qui dans l’impression au grand jour se montrant, / Ne soûtient pas des yeux le regard penetrant. / On sçait de cent Auteurs l’avanture tragique: / Et Gombaud tant loüé garde encor la boutique.43
Wenn Kritisierbarkeit und Schriftlichkeit zusammenhängen, dann provoziert die Literalisierung der Kultur in der frühen Neuzeit, daß Negativität einen Ort im literarischen Diskurs bekommt (2.5), und das fällt nicht nur Boileau auf.44 Die Stabilität des Schriftlichen über Orte und Zeiten hinweg, wie sie zeitgenössisch reflektiert wird,45 befreit von der direkten, an einen engen Zeithorizont gebundenen Überprüfbarkeit der Interaktion.46 Sie führt damit zu spezifischen Formen der Zugänglichkeit, der Unsicherheit und zu entsprechenden Bewältigungstechniken. Bereits im Urtext aller Schriftkritik, in Platons Phaidros, werden die mündliche und die schriftliche Kommunikation nach Maßgabe der Kontrollierbarkeit voneinander unterschieden (1.). Der Schreibende verliert seine Äußerungen. Sie sind unkontrollierbar, und diese Unkontrollierbarkeit steigert sich durch _____________
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Frühaufklärung vgl. die Kritik einer Übersetzung in den Critischen Beyträgen (CB VI, 21, 96ff.). Zur rhetorischen Tradition der Selbstkritik vgl. Scaliger: Poetices libri septem. Bd.VI, S. 44ff. „Laßt euch nicht berauschen von schmeichelhaften Lobreden, die euch manchmal ein Haufen eitler Bewunderer in kleinem Kreise hält; sie sind stets bereit, ‚wie wunderbar!’ zu schreien. Manches Werk, das, wenn es rezitiert wird, vor dem Ohr bestehen mag, hält, wenn es sich nach dem Druck im Licht des Tages zeigt, dem kritischen Blick nicht stand. Man kennt doch das tragische Schicksal unzähliger Autoren – der so hochgelobte Gombauld steht heute immer noch in den Regalen!“ (Boileau: L’Art poétique, S. 68f.). Vgl. z. B. auch Fielding: Das Journal einer Reise nach Lissabon, S. 11 (beim Schreiben „erlaubt der Bericht höhere Stilisierung und jede Tatsache und jedes Gefühl kann einer umfassenden und bewußten Prüfung unterzogen werden“); Gellert: Praktische Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen, S. 139 („Man hat mehr Zeit, wenn man schreibt, als wenn man spricht. Mann kann also, ohne Gefahr unnatürlich zu werden, etwas sorgfältiger in der Wahl seiner Gedanken und Worte, in der Wendung und Verbindung derselben sein. Was geschrieben ist, wird genauer bemerkt, als was man bloß hört; man muß sich daher um desto mehr hüten, durch seine Briefe Ekel zu erwecken“). Andeutungsweise formuliert bereits Quintilian dieses Argument, wenn er die Wirksamkeit des mündlichen Vortrags gegenüber derjenigen des bloßen Lesens hervorhebt, ohne dabei allerdings das Problem der Kritisierbarkeit in den Blick zu nehmen (Ausbildung des Redners XI, 3, 4 u. 8). Ein Aufsatz Von Unleserlichen Schrifften erklärt: „Dieweil auch eine Schrifft gemeiniglich was mehr auf sich hat / als eine Rede / auch selbige dauerhafftiger seyn / und von vielen / und mehr als einmahl / und zu einer Zeit gelesen werden soll / erfordert sie desto mehr Deutligkeit“ (in: Auserlesene Anmerckungen Uber allerhand wichtige Materien und Schrifften / Anderer Theil, Franckfurt / Leipzig 1705, S. 86-108, S. 87f.). Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 545.
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die Vermehrung literaler Beziehungen im Gutenbergzeitalter, das zugleich – durch Zensurgesetze etwa oder Urheberrechte – neue Formen der Verantwortung und Zurechenbarkeit installiert. Die Verlängerung und die Verzweigungen von Abhängigkeitsverhältnissen machen wahrscheinlicher, daß man die Ablenkung vom Phantasma der Selbstmächtigkeit als Entgleiten der „Schrift(en)“ erfährt,47 und sie machen entsprechende Autorisierungsformen notwendiger. Diese Unwägbarkeit kann zu Lasten des Lesers gehen, wenn er aufgrund von Verständnisschwierigkeiten, die er seiner eigenen Inkompetenz anrechnet, allein gelassen wird. Aber Schriften können auch in der Umkehrung der Hierarchieverhältnisse von ihrem Autor nicht direkt gegen Kritik verteidigt werden. Geschriebenes muß in beiden Fällen seine eigene Anleitung und Autorisierung mit sich führen. Der „Vater“ der Schrift, um mit Platon bzw. Sokrates zu reden, muß sie auf ihrem unbekannten Weg begleiten. Welchen Rat gibt Boileau für eine derartige Situation? Er empfiehlt Zeitverbrauch. Um die Angst vor potentiellen Kritikern zu bewältigen, soll man sich selbst ein unnachsichtiger Kritiker sein und das Geschriebene einem langwierigen Bearbeitungsprozeß unterziehen, an dessen Ende ein zwar vollkommen durchgebildetes, aber nicht ermüdend eintöniges Ganzes steht: „Hastés-vous lentement, et sans perdre courage / Vingt fois sur le mestier remettés vostre Ouvrage, / Polissés-le sans ceße, et le repolißés; / Adjoustés quelquefois, et souvent effacés“.48 Den Zeitverbrauch, den man ja dem Werk nicht per se ansehen kann, der vielmehr im Vorfeld und damit für den Leser unsichtbar bleibt, wird zum Qualitätskriterium. Sichtbar gemacht wird er durch eine neue Form der Homogenität49, die auf unauffällige, ‚natürliche‘ Weise Gleichmäßigkeit und Überraschung verbindet. Aufschlußreich ist weiterhin, daß das Modell der Selbstverbesserung das in die Zukunft weisende Modell gegenüber der in der rhetorischen Kultur durchaus legitimen Fremdverbesserung ist (legitim, weil hier ein objektiv vorgegebenes Optimum als Telos fungieren kann).50 _____________ 47
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Zunächst formulieren das Klugheitslehren im Blick auf den vorsichtigen Umgang mit Briefen. So heißt es beispielsweise in einem französischen Briefsteller, der 1660 ins Deutsche übersetzt worden ist: Die „Fürsichtigkeit“ lasse es „nicht allezeit rahtsamb“ erscheinen, „einem geringschätzigen Papier seine Secreta zu vertrawen / zumahlen solches leichtlich kan verlohren werden / oder in fremde Hände gerahten“ (Kurtze Jedoch Grundmässige Anweisung Zum Brieff=stellen, S. 4). Boileau: L’Art poétique, S. 8ff., Zitat S. 17. Zur Entwicklung des Homogenitätskritieriums vgl. Bemerkungen bei McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis, S. 140f., 169f., 286f. sowie Gieseke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, S. 499ff. Zum Übergang von der Fremd- zur Selbstverbesserung vgl. Plumpe: Kunst ist Kunst. Zur bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts anhaltenden Diskussion darum am Beispiel des gefürchteten Besserwissers Karl Wilhelm Ramler vgl. Pick: Über Karl Wilhelm Ramlers Änderungen Hagedornscher Fabeln.
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Das Modellpotential der Erzeugung spezifischer Sichtbarkeit über Zeitverbrauch verdeutlicht eine überraschende Bezugnahme: Den zitierten Passus aus Boileaus Art poétique zur Intensität der Bearbeitung führt nämlich Jacques Lacan in seinen Ausführungen zu Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse als Übersetzungsvorschlag für den Freudschen Terminus „durcharbeiten“ an im Sinn „eine[r] definitive[n] Formulierung [...], die ein Meister des Stils in unserer Sprache prägte: ‚Cent fois sur le métier, remettez ... ‘“.51 Er erläutert damit die für ihn grundlegende Gedankenfigur, derzufolge das Ego „seinem Wesen nach selbst Frustration“ ist: Das Phantasma von Abgeschlossenheit und Ganzheit verdankt sich immer einer vorgängigen Öffnung und Fragmentierung, eben dem, was Lacan an anderer Stelle und für das frühkindliche „Spiegelstadium“ als Urszene der Ichbildung durch Selbstspaltung bestimmt hatte.52 Das Subjekt ist als Subjekt immer schon entäußert. Welche Gründe auch immer Lacans Rückgriff motiviert haben mögen und für wie plausibel auch immer man die These in ihrer Generalität halten mag: Seine Theorie der nur um den Preis der Selbstinfragestellung möglichen Selbstabschließung markiert konzeptionell den Rahmen für ein Problem, mit dem Autoren sich in einer bestimmten historischen Konstellation konfrontiert sehen. Gerade zu dem Zeitpunkt, als sie ihre Kontrolle über den Text in der Unübersichtlichkeit der kritischen Kommunikationskultur offensichtlich verlieren, arbeiten sie intensiv an ihrer Selbstabschließung, um sich und ihr Werk zu jenen auratischen Figuren zu machen, die Leser, Kritiker und Philologen gleichermaßen faszinieren. Gerade durch die Verlängerung und Verzweigung von Abhängigkeitsverhältnissen und durch das Einspinnen des Einzelnen in ein Netz diffuser Kontrollinstanzen bildet sich das Phantasma eines Subjekts, das für sich und in sich abgeschlossenen existiert, und eines Innenraums der Persönlichkeit, der von der Welt durch einen unüberbrückbaren Spalt getrennt ist und im Verhältnis der Inkomensurabilität zu anderen Menschen steht.53 Die Funktionssysteme der Gesellschaft brauchen eine kohärente und kon_____________ 51
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Lacan: Schriften I, S. 86. Die Lacan-Übersetzer zitieren die deutsche Boileau-Übersetzung von J.A.P. Gries von 1745: „Ihr müsset euch bequemen, / ein Werk wol zwanzig mal von neuem vorzunehmen. / Verliert nie den Muth, verbessert Wort und Sinn, / Streicht diesen Ausdruck weg, setzt dort was neues hin“ (Lacan: Schriften I, S. 86, Anm.7). In diesem Kontext könnte man vielleicht auch das Phänomen vorweggenommener Zensur einbeziehen; vgl. dazu: Bödeker: Raisonnement, Zensur und Selbstzensur, S. 189f. Lacan: Schriften I, S. 61ff. (Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion). Diese Paradoxie entfaltet Norbert Elias’ Kombination von Psycho- und Soziogenese, die sich leicht medienhistorisch perspektiveren läßt – zur Figur des „homo clausus“ z. B.: Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. 1.Bd., S. XLVIIff. Zur Ausbildung von Innenräumen und zur nachfolgenden Identitätsdoktrin in der Aufklärung: Koselleck: Kritik und Krise, S. 18ff.
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stante Adressierungsmöglichkeit, weil in Wirtschaft und Nachrichtenverkehr auf die „Permanenz der Kontakte“ ebenso Wert gelegt wird wie bei der „kontinuierliche[n] Staatstätigkeit“. Diese Unaufhörlichkeit wird jedoch als äußerer Druck erfaßt, so daß sich der Raum des Privaten und Eigenen dagegen ausbildet.54 Auch hier also beschreibt die Spiegelstruktur das paradoxe Verhältnis, in dem zunehmend auf Dauer gestellte und dadurch ebenso unauffällig wie unentrinnbare Beobachtungsverhältnisse Modelle wie Freiheit, Eigenständigkeit oder Originalität hervorbringen. Der Autor – verstanden als eine Stellvertreterfigur des Subjekts – ist nicht selbständig, sondern gelangt immer auf Umwegen, nie allein durch sich selbst zur Sprache. Seine Aufgabe kann allenfalls darin bestehen, die Abhängigkeit von dem ihm vorgängigen, ihn ermöglichenden Diskursen erfolgreich zu verschleiern55 oder auf eine Weise offenzulegen, die ihn als souveränen Verwalter des literarischen Erbes erscheinen läßt. Das per se abhängige Subjekt bleibt stets verletzbar, weil es selbständig sein soll bzw. den Raum seiner Eigenständigkeit markieren muß und nicht – wie in einer rhetorischen Kultur – ‚Effekt‘ sein darf (1. c). Unter Bedingungen unkontrollierbarer Bewertung, unsichtbarer Qualitäten und Mängel sowie uneinholbarer Einheitsphantasien befinden sich Autoren im ‚Spiegelstadium der Kritik‘ mit all seinen Paradoxien und irritierenderweise handlungsleitenden Idealen.
2.2 Die Positivität der Kritik Boileau reagiert auf die als Qualitätssicherung akzeptierte und als Gewalt perhorreszierte Kritisierbarkeit mit der Erhöhung des Zeitbedarfs und legt damit ein in der Verbesserungsästhetik des 18. Jahrhunderts sukzessive entwickeltes Modell an56, auf das ich noch zu sprechen kommen werde (2.4). Sein Legitimationsvorsprung wird dabei durch die für die ‚alte‘ Kritikkultur charakteristische Personalunion von Produzent und Rezipient garantiert: „Horatius und Boileau“, bemerken die Tadlerinnen, „waren zu ihren Zeiten die Peitschen der Poeten; Aber sie schrieben auch selber so schön, daß man ihnen keine Fehler vorrücken konnte. Daher erhielten ihre Urtheile einen allgemeinen Beyfall. Ein jeder glaubte dem, was sie sagten, weil ihre eigene Schrifften genugsam zeigten, daß sie die Kunst _____________ 54
55 56
Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 74ff. (Zitate S. 74) – Habermas würde die hier gemachten Folgerungen wohl nicht mitvollziehen, aber seine Beobachtungen zur Doppelfunktion der Literalisierung als Weg der Selbstverständigung und der Staatsmacht lassen sich gleichwohl integrieren. Vgl. dazu Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 8f., 38, 212f. Vgl. dazu Verf.: Die Entstehung von Tiefsinn im 18. Jahrhundert.
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verstünden, und also nicht aus Neid oder unzeitigem Kützel die andern getadelt hätten“ (T II, 107). Der Kritiker, der sich auf die Beurteilung spezialisiert und sich damit nicht mehr durch sein eigenes dichterisches Können legitimiert, kann an Boileau insofern anknüpfen, als er seine Kompetenz durch die Bereitschaft zur Selbstkritik unter Beweis stellt. Gottsched tut das durch den zitierten Tadlerinnen-Beitrag, indem er die von ihm selbst veranstaltete Pietsch-Ausgabe rezensiert, damit ebenfalls Zeit als Faktor der kritischen Kommunikation anerkennt57 und zugleich einen prinzipiellen Täuschungsvorbehalt anmeldet. Zugespitzt formuliert: Das Verfahren der Beurteilungssicherung verunsichert den Urteilenden. Aus diesem Grund müssen Wege gefunden werden, um Negation sowie Negation von Negation anerkennen zu können. Die Etablierung von Negativität als Kommunikationsfunktion ist ein Prozeß, der das ganze 18. Jahrhundert über weitergeht. So hat sich im Nachlaß Lessings ein Aufsatz mit dem programmatischen Titel Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt erhalten. Lessing bestimmt hier zunächst die Arbeit des Kritikers, der seine „seine Empfindungen mit Gründen“ unterstützt: Was sind die Gründe des Kunstrichters? Schlüsse, die er aus seinen Empfindungen, unter sich selbst und mit fremden Empfindungen verglichen, gezogen und auf die Grundbegriffe des Vollkommnen und Schönen zurückgeführt hat.58
Der Kunstrichter kann nun zwar einen „Fingerzeig“ geben, wie das von ihm Getadelte verändert werden sollte, aber er muß dies nicht tun. Wenn ein kritisierter Autor die Verbesserung von seiten des Kritikers einfordert, versteckt sich dahinter nichts als eine Verteidigungsstrategie, um „die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen“. Verständlich ist das im Fall einer verunglückten Verbesserung (so man diese denn eindeutig disqualifizieren kann) – der Kritiker stellt seine Inkompetenz selbst unter Beweis. Aufschlußreicher allerdings wird Lessings Argumentation im Blick auf die geglückte Verbesserung, denn „kein Mensch in der Welt“ wird dem Kritiker diesen Erfolg zugestehen: „Weder die Künstler, noch seine Kollegen in der Kunstrichterei“. Autoren rechnen damit, daß „die Reihe [...] auch an sie kommen“ könnte. Sie arbeiten unter Bedingungen der Kritisierbarkeit immer im Modus der Reflexion. Die Kritiker befinden sich in derselben Situation. Aus diesem Grund gelten hier eigene Gesetze: „[...] überhaupt sind die Kunstrichter die einzige Art von Krähen, welche das Sprichwort zum Lügner machen“.59 _____________ 57 58 59
Der Zeitfaktor wird in diesem speziellen Fall auch dadurch relevant, daß Pietsch – so erklärt Gottsched – sicherlich selbst noch einiges verbessert hätte, wäre íhm dazu Zeit geblieben (T II, 108). Lessing: Werke. 5. Bd, S. 331. Lessing: Werke. 5.Bd., S. 333.
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Lessing markiert mit seiner grundlegenden These eine Zäsur. Denn die hier abgewiesene Forderung „Mache es besser!“ ist die Maxime der (gelehrten) Kritikkultur und bestimmt den Diskursort der Kritik bis in die frühe Neuzeit. Es geht dabei nicht um ein Mehr oder Weniger an kritischer Negativität, sondern um ein verändertes Verhältnis dazu, um eine Haltung, die Negativität an sich schon als Qualität anerkennt, ohne auf ein Besser-Machen als positiven Gegenpol verweisen zu müssen. Diese Akzentverlagerung spielt sich – so legt es zumindest Lessing nahe – in einer Situation ab, wo die Willkürlichkeit der Beurteilung von poetischen Werken und deren Kritik unübersehbar zutage tritt. Selbst wenn das BesserMachen gelingt, muß das nicht anerkennt werden (wobei offenbleibt, woran das Gelingen festgemacht werden könnte). Die Etablierung von Negativität (2.5) hängt mit einer veränderten Rollenverteilung zusammen: In der nach Maßgabe der Rhetorik organisierten literarischen Kultur sind Produzenten auch Rezipienten und umgekehrt. Danach spalten sich die Rollen auf, es entstehen Leser und Autoren. Nicht, daß intertextuelle Bezüge nun vermeidbar wären – wie sollte das auch funktionieren? Man muß jetzt aber neue Operationen vornehmen, um den Worten Besonderheit zu vermitteln bzw. um die Worte, die allen Sprechern gehören, zu eigenen Worten zu machen. Die fremde Rede läßt sich nurmehr auf neuen Umwegen in die eigene überführen.60 Nur vor dem Hintergrund dieses tiefgreifenden Umbruchs der literarischen Kultur, der kritischen Kommunikation und damit der Negationssemantik insgesamt wird verständlich, warum Lessing sich dieses Thema überhaupt vornimmt, vielleicht auch, warum er den Text in der Schublade läßt, denn in publizierten Schriften greift er die Forderung des Besser-Machens durchaus auf.61 Wie in aller Negation kondensiert sich im Falle der Ablehnung dieser Maxime vormalige Kommunikation, in diesem Fall die Semantik einer ganzen Kritikkultur in nuce. Jener neue kritische Diskurs, auf den sich die Kritiker der Aufklärung wie Gottsched oder Bodmer zur Auszeichnung einer neuen Epoche berufen (3.1 u. 3.2), zeichnet sich durch den höchst unwahrscheinlichen Anspruch auf Akzeptanz für eine Rolle aus, deren Aufgabe nicht zuletzt im Tadeln besteht. Das Unverständnis, mit der man bis ins 18. Jahrhundert der Kritik als Form der Negativität begegnet, kann als Indikator für die Positivität gelesen werden, auf die eine Kultur der Repräsentativität ange_____________ 60
61
Zur rhetorischen Ausbildung: Barner: Barockrhetorik, S. 285f. Zur Entkoppelung der Funktionen: Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 294. Als theoretische Gelenkstellen schlägt Weimar die Theorien Breitingers und Bodmers sowie Sulzers vor (Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, S. 64ff., 81ff.). So in der Hamburgischen Dramaturgie (Lessing: Werke. 4.Bd., S. 695, 699, 701) – vgl. aber auch zuvor zur Kritik an der Kritik kritischer Negativität (ebda., S. 673f.).
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wiesen ist. Die auf Sichtbarkeit von Macht, Stand oder Beziehungen angelegte Ordnung wird (zumindest im direkten Vergleich) von einer durch Unscheinbarkeit, Verinnerlichung, Diffusität und Unkontrollierbarkeit bestimmten Ordnung abgelöst. Die frühe Kritik hat ihren systematischen Ort im Bereich der Grammatik. In Techniken der Kanonbildung, im humanistischen Kommentarwesen und in den Emendationsverfahren wird sie wirksam, bevor sie seit dem 15. Jahrhundert in Italien, daran anschließend in Frankreich und schließlich auch in Deutschland diese Position im Wissenssystem allmählich aufgibt, zu einem „meta-artistischen Erkenntnisvermögen“62 wird und damit einen ebenso umfassenden wie ungesicherten Anspruch erhebt. Ging es bis zu diesem Zeitpunkt um die Beurteilung eines Gegenstands im Blick auf eine Norm, werden nun ‚Autorität‘ und ‚Norm‘ selbst zu Objekten der Kritik.63 Die Negativität der Kritik findet ihre Legitimation in der alteuropäischen Semantik dabei in der dadurch ermöglichten produktiven Positivität. Akribisch studiert werden musterhafte Autoren, die für die Anleitung zum eigenen Schreiben oder zum Schreiben der Schüler relevant sind und daher zum Kanon gehören. Der humanistische Kommentar zielt auf Anwendung, die Textkritik auf die Wiederherstellung der korrekten Fassung. Daher genügt in diesem Feld zur Kritik der Kritik die Anmerkung, Kritiker würden nur über andere urteilen, blieben selbst aber unproduktiv. Kritik ist bei aller Härte der gelehrten Auseinandersetzung, die gerade der Humanismus zu bieten hat, lange Zeit in einen Rahmen eingespannt, der das Wissen gegen die Irritationen durch Verzeitlichung mehr oder weniger stabilisiert. Selbst die Suche nach der historischen Bedeutung eines Textes durch dessen genaue Einbettung in den für relevant gehaltenen und rekonstruierbaren Kontext basiert zunächst auf einem traditionalen Konzept, in dem Wissen sich verbalgelehrt über Rückbindung legitimiert.64 Das heißt freilich auch: In einer Kritikkultur, die das Besser-Machen als Normalanforderung akzeptiert, gibt es eine Grenze der Verbesserungsmöglichkeit; es gibt, zumindest dem Programm nach, ein objektives Telos, an dem die Maxime „Mache es besser!“ ihre Geltung verliert. Julius Caesar Scaligers Poetik entfaltet Möglichkeiten und Grenzen dieses alten Kritikmodells exemplarisch. Während die ersten vier Bücher seiner Poetik sich der Theorie widmen, zielen Buch fünf (Criticus) und sechs (Hypercriticus) auf die dichterische Praxis und damit auf die Zentralkategorien „iudicium“ und „imitatio“. Scaliger gliedert die Kritik aus dem _____________ 62 63 64
Jaumann: Critica, S. 127; ders.: Das Modell der Literaturkritik in der frühen Neuzeit, S. 9; zusammenfassend: ders.: Literaturkritik, Sp.179ff. Fontius: Kritisch / Kritik, S. 458. Jaumann: Critica, S. 57, 82, 94ff., 102f., 110, 159, 165f., 190f., 242, 261.
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Bereich der Grammatik aus, ordnet sie der Poetik ein und löst sie damit aus dem Verbund mit der Philologie. Zwar hält er sich weitgehend an die traditionalen grammatischen Verfahren und greift auf vorgängige Urteile als Folie für seine eigene Kritik zurück,65 aber gerade die herausgehobene Stellung der Kritik hat diesen Teil der Poetik besonders wirkmächtig gemacht.66 Wie auffällig Scaligers Haltung für die Zeitgenossen war, läßt sich an der zum Topos gewordenen Mißbilligung der Rigidität seiner Kritik ablesen, wobei diese selbst gerade von der fehlenden Kritik bzw. vom (unbegründeten) Lob ihren Ausgangspunkt nimmt.67 Auf der anderen Seite bemängelt man aus der Perspektive der folgenden Kritikkultur eben den prä-kritischen Standpunkt Scaligers: Pierre Rapin etwa wirft ihm im 17. Jahrhundert vor, er habe Homer nur als Grammatiker untersucht und sei nicht in die Tiefen des Textes vorgedrungen; Christian Gottlieb Heyne bemängelt dann im 18. Jahrhundert das Verfahren der Einzelstellenkritik, die das „Ganze“ des Textes aus den Augen verliere.68 Beides – die Forderung nach Tiefsinnigkeit wie die Forderung nach einem von Textganzheit ausgehenden Perspektivismus der Kritik – wird zu festen Bestandteilen der neuen, gleichsam gegen- bzw. nach-grammatischen Bestimmung von Kritik (vgl. 3.1.1 u. 3.2.1). Die Rolleneinheit von Dichter und Kritiker, also der Verbund von Negativität und Positivität, wird von Scaliger in der zentralen Aufgabenbestimmung deutlich gemacht: Iudicium igitur duplex adhibendum est: primum, quo optima quaeque seligamus ad imitandum; alterum, quo ea quae a nobis confecta fuerint quasi peregrina perpendamus atque etiam exagitemus. Hoc enim praestat nostra fieri opera, ut perfectionem invictam consequantur, quam pati, ut cum a morosis insectatoribus id effectum fuerit ex eorum iudiciis nostri nosmet ipsos desertores fuisse videamus.69
Die Kritik anderer Dichter findet im Blick auf das eigene Dichten bzw. auf die Ausbildung des Schülers statt, und das gilt sowohl für die Kritik bzw. den Vergleich der antiken Größen Homer und Vergil, die Scaliger im _____________ 65 66 67 68 69
Scaliger: Poetices libri septem. Bd. VI, S. 64f. Vogt-Spira: Einleitung, S. 22, 26, 28. Vgl. Reineke: Julius Caesar Scaligers Kritik der neulateinischen Dichter, S. 32f., 111, 496. Vogt-Spira: Einleitung, S. 35. „Es ist also eine Beurteilung in zweifacher Hinsicht vorzunehmen: erstens, das jeweils Beste zur Nachahmung auszuwählen; zweitens, das, was wir vollendet haben, gleichsam wie etwas Fremdes abzuschätzen und auch einer scharfen Kritik zu unterwerfen. Es ist nämlich besser, daß unsere Werke durch unsere eigene Mühe unanfechtbare Vollkommenheit erreichen, als zuzulassen, daß wir einsehen müssen, nachdem uns erst pedantische Nörgler zu dieser Erkenntnis geführt haben, wir selbst hätten uns nach dem Urteil dieser Leute nicht an unsere eigenen Regeln gehalten“ (Scaliger: Poetices libri septem. Bd.VI, S. 44ff.).
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Criticus gegeneinander auspielt, als auch für die Kritik der neulateinischen Dichter im Hypercriticus, wobei in letzterem die direkte Konkurrenzsituation natürlich eine größere Rolle spielt.70 Diese Form der kritischen Positivität hängt mit einer bestimmten Exzerpierkultur bzw. mit einer bestimmten Form der literarischen Ausbildung zusammen, denn vermutlich sind die beiden kritischen Bücher von Scaligers Poetik aus eigenständig angelegten Florilegien im Zusammenhang der Stilübung entstanden. Daraus erklärt sich beispielsweise, warum auch bei vorbildlichen neulateinischen Dichtern vor allem mangelhafte Stellen zusammengesucht werden, warum in der Zuweisung von Versen Ungenauigkeiten zu verzeichnen sind oder warum Scaliger sich oftmals auf Passagen aus dem Beginn der Sammlungen bei der Kritik der neulateinischen Dichter beschränkt.71 Bedeutet dies auch, daß die Genauigkeit der Kritik im Zeitalter des Manuskripts eine andere ist als im Druckschriftzeitalter? Jedenfalls kokettiert Scaliger mit seinem abgeschiedenen Aufenthaltsort, mit der dadurch begrenzten Verfügbarkeit der Quellen oder mit der Unzuverlässigkeit seines Gedächtnisses.72 Selbst wenn er im Rahmen seiner poetologischen Normierungen als „Vertreter einer konsequenten Formulierung und Festigung von Schriftlichkeitsnormen“ erscheint73 und die fragwürdigen Textbezüge nicht per se eine Eigenheit der Manuskriptkultur sind, so könnte das doch auch darauf hinweisen, daß Scaliger noch nicht unter Bedingung jener gerade im Entstehen befindlichen allgemeinen Verfügbarkeit der immergleichen Texte arbeitet, die der Buchdruck ermöglicht, und damit auch nicht unter Bedingungen jenes ‚generalized other‘ der Kritik. In dieses Bild fügt sich die Übergänglichkeit der Wissensräume, in denen Scaliger sich bewegt: Der verbessernde Transfer von der Hand- zur Druckschrift bietet ihm Einblick in die Urteilsfähigkeit des Autors; als gleichberechtigte Bezugspunkte dienen ihm die Autorität Vergils sowie des christlichen Glaubens auf der einen, die der aristotelischen Naturphilosophie und der Vernunft auf der anderen Seite; die Autorität Vergils wiederum schreibt sich erstens aus der alle Gattungen in sich vereinigenden Qualität des Epos als genus mixtum her, zweitens aber auch aus Vergils inventioneller Vorbildlichkeit, die diesen alle Bereiche hat bereits ab_____________ 70 71 72 73
Reineke: Julius Caesar Scaligers Kritik der neulateinischen Dichter, S. 16, 123, 147, 275, 279, 335; Vogt-Spira: Einleitung, S. 22. Reineke: Julius Caesar Scaligers Kritik der neulateinischen Dichter, S. 102ff. Reineke: Julius Caesar Scaligers Kritik der neulateinischen Dichter, S. 99, 102, 161, 187, 335; Vogt-Spira: Einleitung, S. 38. Vogt-Spira: Einleitung, S. 27.
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schreiten lassen.74 Ausbildung heißt in diesem Kontext: Erzeugung von Kompatibilität mit dem Vorhandenen, auch wenn die jeweiligen „Anpassungsverfahren“ – zumal von der Beobachterposition aus gesehen – genügend Raum für einen sehr eigensinnigen Zugriff auf Texte lassen.75 Jedenfalls fällt die Trennung von Eigenem und Fremdem, unter der beispielsweise Boileau zu leiden hatte (2.1), in diesem Zusammenhang weniger scharf aus. Der Standpunkt des Kritikers wechselt entsprechend diesen Übergänglichkeiten: Zunächst tritt er nicht auf als ein Fachmann für Vermittlungsaufgaben für ein ihm unbekanntes Publikum, sondern er schreibt für die Bürger der respublica literaria.76 Diese sind Autoren, Leser und Kritiker in Personalunion, ihre Rollen sind austauschbar und daher gilt hier für den Kritiker die Maxime: „Mache es besser!“ Scaliger adressiert – wie immer unrealistisch de facto diese Orientierung auch sein mag – seine Kritik an die gebildete Welt, und er schreibt sich in den Meinungsraum dieser Welt ein, wenn er einen Autor einer genauen Prüfung unterzieht, weil dieser von dritter Seite empfohlen worden ist, wenn er sich an das Urteil seiner Lehrer erinnert oder wenn er sich auf die Tradition der Grammatiker bezieht.77 Gleichwohl gibt Scaliger dazu Anlaß, die Homogenität dieses Wissensraums von innen heraus aufzulösen. Er schreibt im Kontext anderer Kritiken, und er provoziert andere Kritiken.78 Diese Anlehnung kann als Verweis auf Traditionalität gelesen werden, sie deutet aber zugleich auf die Eröffnung eines Raums der Möglichkeiten, in dem Positionen (und Negationen) befragbar sind.79 Ob gewollt oder nicht: Scaliger befördert auf seine Weise die Eigenständigkeit von Negativität, die Lessing zwar selbstbewußt reklamieren, jedoch im 18. Jahrhundert ganz offensichtlich noch immer unter Legitimationsvorbehalt sehen wird. Die ‚normale‘ Wendung der Negation ins Positive im rhetorischen Kreislauf von Lesen und Schreiben bedeutet daher erstens, daß ein Tadler als bloßer Tadler kaum akzeptiert werden kann. Die faktische Form der Negation aber zeigt zweitens, daß die literarische Kommunikation Kritisierbarkeit in einem fortlaufenden Prozeß steigert und deswegen zunehmend _____________ 74 75 76 77 78 79
Reineke: Julius Caesar Scaligers Kritik der neulateinischen Dichter, S. 24, 29ff., 255. Zur Hermeneutik der „Anpassung“ vgl. Jaumann: Critica, S. 95f., hier zu Autoren als Wissensquellen ebda., S. 82; zu Scaliger ebda., S. 164f. In diesem Sinn zur rhetorischen Kultur: Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, S. 57f. Reineke: Julius Caesar Scaligers Kritik der neulateinischen Dichter, S. 111, 161, 167, 276, 355f., 358f.; Scaliger: Poetices libri septem. Bd.VI, S. 64f., 92f. Reineke: Julius Caesar Scaligers Kritik der neulateinischen Dichter, S. 20, 32f. Zur Bündelung verschiedener, aus heutiger (anachronistischer) Sicht bisweilen widersprüchlich erscheinender Elemente in der Autorfunktion Scaligers vgl. Scholz: Alciato als emblematum pater et princeps, S. 335ff.
Kritik der Interaktion
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mehr mit dem Problem konfrontiert wird, Negationsleistungen als eigenständigen Wert anzuerkennen. Welche Verschiebungen der Wissensordnung dafür notwendig sind, möchte ich im folgenden darstellen.
2.3 Kritik der Interaktion Daß der „Freund“ als kritische Instanz bei Boileau eine so wichtige Rolle spielt (2.1), liegt nicht nur nahe, weil dieses Verfahren (z. B. über Horaz) Kanonizität beanspruchen kann, sondern auch, weil die „Aktivitätszumutungen“ der Moderne generell im Bereich der Interaktionssemantik ausgeglichen werden. Die Steigerung der Möglichkeiten, „Nein“ zu sagen, wird beschränkt auf eine „Funktion“ (z. B. die Wissenschaft weiter zu bringen) und geächtet im geselligen Zusammensein (zumindest was ein „hartes Nein“ betrifft). In der Interaktion geht es vorrangig um die Fortsetzung des Kontakts, nicht um Entweder-Oder-Entscheidungen.80 Hier fehlen geregelte Abläufe, die eine Ablehnung mit großer Sicherheit produktiv machen, im Gegenteil ist beispielsweise die Dysfunktionalität einer forciert vorgetragenen Ablehnung für den weiteren Verlauf eines Gesprächs wahrscheinlich,81 wohingegen sie den Kritikbetrieb zu Debatten (also zur Fortsetzung der Kommunikation) geradezu stimuliert. Als These formuliert: In einer auf Fernkommunikation umgestellten Semantik82 liegt die Akzeptanz von kritischer Negativität näher, wohingegen die Chancen für eine positive Bewertung des Tadels unter der Leitperspektive von Interaktion nur gering sind.83 Aus dieser Perspektive lassen sich die Schwierigkeiten beim Einbau der Kritik in die Wissensordnung um 1700 durch einen Blick auf die Verhaltenslehren der Zeit plausibilisieren. Denn entgegen der funktionalen Bedeutung des Verbreitungsmediums „Buchdruck“ orientiert sich Sozialsemantik der Gutenberggalaxis bis ins 18. Jahrhundert am Paradigma der Interaktion. Daher bleibt Ciceros Begründung der Gesellschaft aus der Konversation auch ein Gemeinplatz der Sozialtheorie.84 Die Ausrichtung am Nahverkehr bietet prima facie keinen Ort für die offene Akzeptanz _____________ 80 81 82 83 84
Als Fallstudie zur Kontrafaktizität der idealen symmetrischen Interaktion auf systemtheoretischer Grundlage: Schulz-Buschhaus: Konversation als Machtkampf. Luhmann: Interaktion in Oberschichten, S. 136ff. Hier und im folgenden verwende ich „Semantik“ im Sinn Niklas Luhmanns als zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt verfügbare Menge an Themen und sinnhaften Anschlußmöglichkeiten (Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 887). Eine erste kürzere Fassung der folgenden Überlegungen habe ich entwickelt in: Negativität im literarischen Diskurs um 1700. Beetz: Leitlinien und Regeln der Höflichkeit für Konversation, S. 564f.
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Aspekte kritischer Kommunikation
von Problemen, Bewältigungsstrategien und Reaktionsformen der Fernkommunikation. Das gilt auch für das Verhältnis von Autoren und Lesern85 sowie entsprechend für Kritik. Aus diesem Grund gehört das Verhältnis von „Höflichkeit“ und kritischer „Freyheit“ bzw. „Aufrichtigkeit“ zu den Diskussionspunkten in der Mitte des 18. Jahrhunderts.86 Damit wird die Diskussion um die Höflichkeit der Gelehrten fortgeführt, die um 1700 die Ausbildung des eklektischen Wissenschaftsmodells als Votum für ein einvernehmliches, integratives Konzept gelehrter Kommunikation begleitet.87 Kritik hat in einer auf Gegenwärtigkeit fixierten „repräsentative[n] Figuration“88 keinen oder einen nur unsicheren Ort. „Klugheit“ und „Höflichkeit“ sind hier die beherrschenden „Kommunikationsideale“.89 So erklärt Baltasar Graciáns Hand-Orakel von 1647 Widerspruchsgeist schlichtweg für „dumm und widerlich“. Generell gelte: „Allezeit habe man den Mund voll Zucker [...]“. Die „Höflichkeit“ ist die „größte politische Zauberei der Großen“, und entsprechend entschuldigt oder übersieht das „edle Gemüth“ alle Fehler. Die Gegenrede dient allenfalls zur Erforschung des Gegenübers.90 Ein Breviarium Politicorum von 1694 schärft ein, „niemahls“ Tadelnswertes anzumerken (oder wenn, dann nur in Form des Lobs); registrierte Laster sollten vielmehr sogar „vertusch[t]“ werden. Zu den wesentlichen Maximen gehört der Rat: „Lobe alles“.91 Auch wenn der machiavellistische Eindruck dieser und ähnlicher Empfehlungen in den Verhaltenslehren durch Ratschläge zum unauffälligen Tadel bzw. zu den Grenzen des legitimerweise Affirmierbaren gemindert wird, bleibt unbestritten, daß Kritiker sich unbeliebt machen: „Sich zu einen offentlichen Tadler zu machen / bringet wenig nutzen“.92 Dennoch sehen einige Ratgeber in der Tradition der christlichen und ‚altdeutschen‘ Moral der „Offenherzigkeit“ die „Aufrichtigkeit“ als wichtigen Wert an oder begrenzen den strategischen Handlungsraum durch „Pflicht und Gewissen“, geben aber gleichwohl Vorsichtsmaßregeln mit auf den Weg. _____________ 85 86 87 88 89 90 91 92
Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 300f. So in Nachrichten von dem Ursprung und Wachsthum der Critik bey den Deutschen (SCPS 2. St., 158). Gierl: Pietismus und Aufklärung, S. 488ff. u. 543ff. Maurer: Geschichte und gesellschaftliche Strukturen des 17. Jahrhunderts, S. 78. Göttert: Kommunikationsideale, S. 44ff. Übergreifend zur Gesprächstheorie und -kultur Fauser: Das Gespräch im 18. Jahrhundert, zur hier interessierenden Etablierung von Negativität vgl. z. B. S. 180, 185, 192. Gracián: Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit, S. 30f., 71, 86, 136, 168. BREVIARIUM POLITICORUM, S. 21f., 26, 81, 143. Die Wohlerzogene Stands=Person, S. 43f.; Bellegarde: Betrachtungen über die Auslachens=Würdigkeit und über die Mittel, selbige zu vermeiden, S. 43ff.
Kritik der Interaktion
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Dies gilt bis weit ins 18. Jahrhundert, wo das Ideal der Offenheit attraktiver wird.93 Daß eine Anleitung zur Kunst Sich den Leuten angenehm und gefällig zu machen in der Mitte des 18. Jahrhunderts überhaupt den Kritiker als Sozialtypus einbezieht, ist schon bemerkenswert,94 auch wenn der Artikel „Unterredungsdisputation“ in Zedlers Universal-Lexikon ausführlich auf Kritik eingeht.95 Ein in 5. Auflage 1753 erscheinendes Complimentir= und Sitten=Buch erklärt demgegenüber klar und deutlich: Gesprächsweise Verbesserung „entdecket mehr die Thorheit eines Menschen, als dessen Klugheit“.96 Im großen und ganzen verträgt die Civilité Moderne die Korrektur eines Irrtums nicht,97 so daß sich als Gegenstand der Konversation die Wetterlage oder ähnlich Belangloses empfiehlt, bei dem die Verwechslung von Gespräch und Disputation mehr als unwahrscheinlich wird.98 Bezeichnenderweise verhält es sich mit der schriftlichen Kommunikation etwas anders, worauf bereits Graciáns Negativbeispiel für kritisches Verhalten, der „Grammatikus“, hindeutet.99 So führen Bellegardes Betrachtungen über die Auslachens=Würdigkeit (1696) die ungelenken Verhaltensweisen der Gelehrten auf die Konditionierung im Rahmen der akademischen Disputationskultur zurück. Den Gelehrten fehle die Schule der Welt, sie fragten – und das ist eine interessante Bemerkung – „nur allein ihre Bücher um Rath“.100 Fernkommunikation, so könnte man Bel_____________ 93
Amthor: COLLEGIUM HOMILETICUM DE JURE DECORI, S. 94ff.; Menantes: Die MANIER Höflich und wohl zu Reden und zu Leben, S. 471ff.; vgl. auch Menantes: Die Beste MANIER in Honnêter CONVERSATION, Sich höflich und Behutsam aufzuführen, S. 136; Les devoirs de la vie civilé, ou instructions morales, a l’usage des jeunes gens, S. 183; Rohr: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaft der Privat-Personen, S. 284. Zum ungewöhnlich positiven Programm einer „Teutsche[n] Auffrichtigkeit“ vgl. Sommer: Der Teutsche Anführer Zu Anmuthigen und zierlichen CONVERSATIONS-Gesprächen, unpag. (Vorrede); vgl. in diese Richtung auch Scharffenberg: Die Kunst Complaisant und Galant Zu Conversiren, S. 9. Zur Mxime „Offenheit“ vgl. Göttert: Kommunikationsideale, S. 101ff. 94 Der Liebenswürdige Mensch, S. 58ff. 95 Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexikon. Bd.49, Sp.2176f. (für diesen Hinweis danke ich Sylvia Heudecker; vgl. zum Thema auch dies.: Aus der Gesprächspraxis, für die Gesprächspraxis, hier insbes. S. 70 sowie zu den Vorsichtsmaßnahmen, die in kritische Konversation eingebaut werden, z. B. S. 73f.). 96 Auch hier folgen dann Ratschläge zur Technik des höflich formulierten Einwands (Neues und wohl eingerichtetes Complimentir= Und Sitten=Buch, S. 14f.). 97 LA CIVILITÉ MODERNE, S. 57. 98 Thomasius: Kurzer Entwurf der politischen Klugheit, S. 129ff.; zur zurückhaltenden Offenheit vgl. ebda., S. 132f., 247ff. Zur konfliktvermeidenden Themenwahl als Gegenstand der Konversationstheorie: Beetz, Manfred: Leitlinien und Regeln der Höflichkeit für Konversation, S. 571. 99 Gracián: Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit, S. 96. 100 Bellegarde: Betrachtungen über die Auslachens=Würdigkeit, S. 49f. Zur Gesprächsregulierung in der Gelehrtenkonversation: Völkel: Zwischen médisance und critique, S. 671-678.
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legardes Bemerkung verstehen, befördert die Streitkultur.101 „Allgemeine und öffentliche Sachen“ sind Bellegarde zufolge jedermanns Urteil unterstellt, und der „Scribent“ sollte Tadel positiv aufnehmen können. Aber selbst wenn Bellegarde sich „in einer solchen Zeit“ sieht, „darinnen ein jeder von seinem Nächsten mit großer Freiheit urtheilet“, rät er an anderer Stelle seiner Verhaltenslehre doch zur Zurückhaltung in kritischen Angelegenheiten.102 Die Kombination aus Fehlerblindheit als Sozialkompetenz, Lob vorbildlicher Schriften (ohne Kritik mangelhafter Werke) und der Akzeptanz freundschaftlichen Tadels durch den schätzenswerten „Scribenten“ versucht tastend einen Weg zu finden, die Ansprüche der Interaktionskultur mit den Strukturimperativen der Fernkommunikation zu verbinden, ohne moralisch verwerflich oder strategisch blind zu handeln. Generell sind Verhaltenslehren, da sie vom unmittelbar situationsbezogenen decorum- oder aptum-Gebot ausgehen, nur unzureichend für den Umgang mit (Distanz-)Kommunikation gerüstet. In der Konversation kommt es darauf an, auf konkrete Ansprüche adäquat zu agieren, und das gilt auch für die Entdeckung von Fehlern. „Ohne Noth, zur Unzeit und Ungebühr“ sollte man niemanden tadeln.103 Folglich kann aber kritische Kommunikation im Medium der von Orts- und Zeitgebundheit befreienden Schriftlichkeit nicht einmal das Minimum an Sozialverträglichkeit, nämlich die Situationsangemessenheit, garantieren. Sie ist – in den Parametern der Interaktion berechnet – mit großer Wahrscheinlichkeit ‚unanständig‘ oder ‚unhöflich‘. Solange also das literarische System sein Beziehungsgeflecht nach dem Modell einer auf physische Präsenz angelegten Kommunikation entwirft, fällt die positive Wertung von Negativität schwer, so wie umgekehrt in der ‚Schamlosigkeit‘ der Fernkommunikation einer ihrer Vorteile gesehen werden kann. Bei der Verteidigung des Zeitungswesens bemerkt daher Kaspar Stieler: Der Wehrt der Zeitungen ergiebt sich auch aus unserm menschlichen Unvermögen. Denn / ob gleich Fürsten und Herren viel Augen und Ohren um sich haben; so sind sie doch nicht allgegenwärtig / noch allwissend / werden auch wol von ihren Referenten betrogen / welche ihnen nur gute Zeitungen vortragen / die bösen aber verschweigen. Dannenhero allen Potentaten zu rahten stehet / daß sie die gedruckte Zeitungen fordern und lesen: dann dieselbe sind unparteyisch / fürchten sich nicht / schämen sich und erröten auch nicht / gleich denen stum-
_____________ 101 Vgl. dazu Osterkamp: Johann Joachim Winckelmanns „Heftigkeit im Reden und Richten“, insbes. S. 6f. 102 Bellegarde: Betrachtungen über die Auslachens=Würdigkeit, S. 71, 264ff., 289, 298. 103 Schmeizel: Die Klugheit zu leben und zu Conversiren, S. 89. Zur Ausweitung der kritischen Adressierungen vgl. Berghahn: Von der klassizistischen zur klassischen Literaturkritik, S. 21f.
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men und todten Lehrern / welche der König Alfonsus über alle lebendige geschätzt hat.104
Interessant ist daher auch die Gegenprobe, nämlich wie bei aller Resistenz gegen kritisches Verhalten in den Verhaltenslehren unter dem Einfluß einer im Laufe des 18. Jahrhunderts auf Distanzkommunikation umgestellten Semantik105 zwar Tendenzen zu einer Höherbewertung von Negativität zu verzeichnen sind, ohne daß dabei die prinzipielle Zurückhaltung in Angelegenheiten des Tadels aufgegeben wird. Dies läßt sich stichprobenartig am Beispiel der Karriere des ‚Freimütigkeit‘-Begriffs zeigen. Wenn August Ludwig Schlözer 1785 in seinem Staatsanzeiger schreibt: „Freimütigkeit und Publizität sind die großen Losungsworte unseres Zeitalters“106, dann fügt sich diese Beobachtung ins Bild vom ‚Zeitalter der Kritik‘, denn ‚Freimütigkeit‘ dient als Leitkategorie für die Etablierung der Negativität von Kritik im Rezensionswesen. Als Programm verwendet der Polemiker107 Thomasius „Freimütigkeit“, wenn er seine Monatsgespräche u.a. Freimütige [...] Gedanken nennt108 – es liegt daher in der Konsequenz dieser Titulatur, wenn die Monatsgespräche sich explizit von der Extraktschreiberei der frühen Zeitschriften durch die Gewichtsverschiebung von Lob auf Tadel absetzen (MG III, 15, 29f.). Daß dies in Form einer „Unterredung“ geschieht, bestätigt im übrigen gerade die These vom Kritikvorbehalt in Situationen der Interaktion: So zeigt der einleitende Dialog der Monatsgespräche auf der einen Seite, welche Probleme man mit dem Tadel in der Interaktion hat. Das erste der Thomasianischen Monatsgespräche deutet an, daß die Dialogform nicht nur ein Zeichen von konzeptioneller Mündlichkeit ist, sondern zugleich auf eine von Problemen der Distanzkommunikation geprägten Situation reagiert. Die Dialogform ist die Abbildung eines Redens und Schreibens unter Bedingung virtueller Meinungsvielfalt: Das erste „Monatsgespräch“ führen in einer Kutsche Augustin, ein „gereifter Cavallier“, Benedict, ein „gelehrter Mann“, Christoph, ein Kaufmann von „lustige[m] humeur“, _____________ 104 Stieler: Zeitungs Lust und Nutz – freilich kennt Stieler den Mißbrauch der Zeitungen nur zu gut (ebda., S. 166ff.), aber gerade deswegen ist diese Passagen interessant, denn Fernkommunikation bringt Unsicherheiten hervor, die nicht auf dem Weg der Interaktion (z. B. durch Erröten) entlarvt werden können. 105 Darin folge ich Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. 106 Zit. nach Vierhaus: Kritikbereitschaft und Konsensverlangen bei deutschen Aufklärern, S. 86. 107 Vor allem in theologischer Hinsicht vgl. dazu: Gierl: Pietismus und Aufklärung, S. 418ff. Interessant ist, daß Thomasius theologische Polemik auch eine Polemik gegen die Kontroverstheologie und die unnützen Streitereien ist (ebda., S. 432). 108 So der Titel der ersten Sammelausgabe von 1690. Die Titulatur schwankt in den verschiedenen Bänden. Ab dem zweiten Jahrgang (1689) taucht die ‚Freimütigkeit’ im Titel auf (Woitkewitsch: Thomasius’ „Monatsgespräche“, Sp. 657).
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und David, ein „Schulmann“ und prospektiver „Conrector[ ]“. Dabei fällt zunächst auf, daß keiner wagt, das Gespräch zu beginnen, „weil keiner dem andern trauete / noch sich bald auff einem Discurs besinnen kunte / woran sie allerseits ein Vergnügen gehabt hätten [...].“ (MG I, 2). Diese Vorsicht zieht sich dann bei aller Kritikfreudigkeit durchs folgende Gespräch, dessen Zentralproblem eben genau darin besteht, die Fortsetzung der Kommunikation durch Kritik nicht zu gefährden. Aus diesem Grund will sich vor allem Christoph oftmals nicht auf eine Verteidigung seiner Thesen und schon gar nicht auf „ein Disputat“ einlassen (MG I, 18f., 22, 34f., 42f., 63); und auch Benedict hält sich zurück und fürchtet einen Streit (MG I, 29f., 41). Lediglich der Schulmann, eindeutig als Pedant ausgezeichnet, fällt jedermann ins Wort und übt sich in maßloser Kritik, so daß Christoph an einer Stelle sogar in das Gespräch eingreift, um eine Eskalation des Streitgesprächs zwischen David und Augustin zu verhindern (MG I, 89f.). In der Fortsetzung des Gesprächs im zweiten Stück kommt die Reisegesellschaft auf die kritische Zeitschriftenkultur zu sprechen (das erste Stück endete damit, daß die Kutsche gerade zu dem Zeitpunkt in den Schnee kippt, als Benedict von den Acta eruditorum erzählen will) (MG I, 114f.).109 Man ist sich klar darüber, daß die meisten Leser nicht nur „exzerpta“, sondern auch „Judicia“ lesen wollen, und daß sich Kritiker „viel Unlust auf den Halß“ laden. Benedict erklärt: „[...] die Freyheit / die man sich von andern zu judiciren nimmt / muß man andern wiederum lassen“ (MG I, 241), und spricht sich für die Legitimität der Kritik an der Kritik sowie die einmalige Kritik dritter Ordnung, also die Selbstverteidigung des Kritikers, aus. Er votiert für eine zurückhaltende Formulierung des Tadels, es sei denn, man habe handgreifliche Fehler vor sich. Von Vorteil, so führt er schließlich aus, sei ein Journal in Gesprächsform: Denn auff diese Weise dürffte man dem Autori nicht Schuld geben / daß er sich anmasse in Republica Literaria, da alle Gelehrten gleich zu achten / über dieselbe Richter zu seyn. So würde auch denen Autoribus, die verständig wären / nicht unangenehm fallen / wenn sie höreten / daß die Leute pro & contra von ihren Büchern censireten. Ja weil es unmöglich ist / daß ein Autor zwey widerwärtige Meinungen zugleich behaupten könte / würden die Autores, von denen man die judicia gesetzet / selten den Journalisten anfassen können / wenn derselbe nichts gewisses determiniret hätte. (MG I, 245)
Unparteiische würde auf diese Weise die Tendenz des Kritikers erkennen, Parteiische könnten sich das heraus nehmen, was ihnen genehm ist (MG I, 245f.). _____________ 109 Zur Konkurrenz der Monatsgespräche zu den Acta vgl.: Gierl: Pietismus und Aufklärung, S. 472f.
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Im Gespräch werden somit die Schwierigkeiten der Kritik in der Interaktion offensichtlich, und das Gespräch insgesamt verweist (in seiner Performanz) auf eine undurchsichtige, bedrohliche Kommunikationslage: Simulierte Mündlichkeit reagiert hier auf eine von Schriftlichkeit geprägte Situation.110 Es liegt folglich in der Konsequenz der ‚unkritischen‘ Kultur der frühen Neuzeit, wenn beispielsweise Johann Burckhard Mencke in seiner Unterredung Von der deutschen Poesie zwar bei allem Übergewicht des Lobs auch Kritik übt, diese Kritik aber immer vom Prinzip der imitatio regiert und somit stets ins Positive gelenkt wird, so daß sich Negativität nur in geringem Maß entfalten kann.111 Schließlich deutet auch die Kutsche als Entfaltungsraum von Thomasius ‚Freimütigkeit‘ auf Probleme der Kommunikation, die sich über Distanz entspinnt: Die Mobilisierung der Gesellschaft durch Literalisierung steht eine Mobilisierung der Gesellschaft durch den Ausbau der Verkehrswege seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zur Seite, die jeweils „riskante Orte“ für Begegnungen konstituieren, also Orte, deren Topoi nicht nach Maßgabe feudaler Vorstellungen von decorum und aptum bestückt werden.112 Ein Curieuser ReiseHoffmeister rät dann auch dringend zur Diskussionsvermeidung in der Konversation, zumal was politische Themen angeht, weil überall „Verräther“ lauern.113 Wenn schließlich das dritte Stück der Monatsgespräche noch einmal neu einsetzt, weil sich die „Gesellschaft der Müßigen“, die gesellige Basis der Monatsgespräche, wortwörtlich im Streit um die französische Politik zerschlagen habe und im Hobbesschen Naturzustand des Kriegs aller gegen alle versunken sei, dann werden die Vorteile schriftlicher Kommunikation in kritischen Angelegenheiten augenfällig. Die darstellungstechnischen Probleme dialogischer Kritik reflektiert Thomasius schließlich in der Vorrede zum dritten Band der Monatsgespräche, denn von hier an wechselt er zur monologischen Kritik, dies allerdings in durchaus kollo_____________ 110 Vgl. zu einer Interpretation, die die hier akzentuierten Momenten zugunsten eines positiven Geselligkeitskonzepts zurückstellt: Peter: Geselligkeiten, S. 59ff.; vgl. aber auch ebda., S. 63 zu den gefährlichen Momenten kritischer Konversation. Zum Pasquill-Verdacht als Hintergrund für die Umstellung der Darstellungsweise in den Monatsgesprächen sowie zu einem Überblick über die verschiedenen Phasen: Grunert: Von polylogischer zu monologischer Aufklärung, S. 29ff. 111 Abschließend heißt es: „Wir hätten noch viel Materie zu reden, wenn wir alle Poeten durch die Musterung wolten pasiren lassen, die zu lesen, vertiren und imitiren seyn“ ([Mencke =] Philander von der Linde: Vermischte Gedichte, S. 313). Zur Zurücknahme des kritischen Moments in W.E. Tentzels Monatlichen Unterredungen Einiger Guten Freunde Von Allerhand Büchern, die die Tradition von Thomasius’ Monatsgesprächen fortsetzen, vgl.: Heimbürge: Literaturvermittlung in Leipzig in der Zeit von 1650 bis 1700, S. 126. 112 Eibl: Die Entstehung der Poesie, S. 47. 113 Curieuser Reise-Hoffmeister, S. 65f., 87ff. – die Aufforderung, sich „aufrichtig“ und „frey“ zu verhalten steht unter diesem Vorbehalt (ebda., S. 85f.).
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quialer Form durch die Anrede der Leser.114 Die Vorteile des Gesprächs bestehen demnach in der unterhaltenden Form der Themenpräsentation und in der Möglichkeit, Tadel auf eine verdeckte Weise zu formulieren. Dem steht als Nachteil gegenüber, daß die Gesprächssituation plausibel gemacht werden muß, daß Leser sehr wohl nach wirklichen Pendants der auftretenden Personen suchen und daß die Ausgestaltung der Dialogform Raum einnimmt, der eigentlich argumentativ gebraucht wird (MG III, 24ff.). Daher beschließt Thomasius, von nun wie die „bißherigen journale des scavans“ zu urteilen, wenngleich ihm die Infrastruktur (z. B. ein entsprechend umfangreicher Gelehrtenbriefwechsel) nicht zur Verfügung stehe (MG III, 28f.) Das Verhältnis von Kommunikation, Interaktion und Kritik läßt sich auch an einer nicht-fingierten Redesituation illustrieren: In Der Teutsche Palmbaum, einer auf positive und negative Kritik reagierenden Programmschrift der Fruchtbringenden Gesellschaft von 1647, verspricht Karl Gustav von Hille dem „Schmachsüchtigen Leser“, bei Verunglimpfungen die „Gegenfeder“ zu schwingen oder sich sogar des „Faustrechtens“ zu bedienen. Als Regel für das Verhalten der Mitglieder untereinander gibt er folgerichtig die Maxime der ‚Höflichkeit‘ aus – man solle sich bei Zusammenkunften [...] gütig / frölich und vertreulich / in Worten / Geberden und Werken treulichst erweisen / und gleichwie bey angestellten Zusammenkunften keiner dem andern ein widriges Wort vor übel aufzunemen höchlich verboten; Also sollte man auch dagegen aller ungeziemenden Reden und groben Schertzens sich enthalten / festiglich verbunden seyn.
Lediglich dem Vorsitzenden, Fürst Ludwig von Anhalt, gesteht er brieflich Kritik zu, was durch dessen gesellschaftliche Position bereits sanktioniert wird.115 Zum offen eingestandenen Prinzip wird diese feudale Regulierung von Kritik in Georg Neumarks überarbeiteter Fassung der Programmschrift von Hilles unter dem Titel Der Neu-Sprossende Teutsche Palmbaum (1668). Neumark, der generell die Idee der Parität als Assoziationsgrundsatz der Fruchtbringenden Gesellschaft zugunsten einer Rehierarchisierung aufgibt116, reagiert in wesentlich stärkerem Maß auf Kritik als von Hille, was die Anziehungskraft des Schriftlichen für Kritik sehr deutlich zeigt (2.5). Er versucht darauf explizit, mit der autoritären Ordnung des _____________ 114 Woitkewitsch: Thomasius’ „Monatsgespräche“, Sp. 666. 115 Hille: Der Teutsche Palmbaum, S. XVIIf., *78, 16f. Ein weiteres Beispiel für eine hierarchische Kritikordnung, die auf repräsentative Bedürfnisse zugeschnitten ist, bietet Simon Dach, der als Professor für Poesie an der Königsberger Akademie für die angemessene Korrektur der Gedichten zuständig war, die seine Kollegen veröffentlichen wollten (Schöne: Kürbishütte und Königsberg, S. 49). 116 Neumark: Der Neu-Sprossende Teutsche Palmbaum, S. 75ff.
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Diskurses zu antworten, indem er sich mit der Zueignungsschrift an Herzog August von Sachsen-Weißenfels um einen „mächtigen Schutzherrn“ als Versicherung gegen Kritiker bemüht. Wie von Hille proklamiert er das Höflichkeitsgebot und das Streitverbot. Entsprechend will er seine Verbesserung des alten Teutschen Palmbaums nur als Fortführung, keinesfalls als Polemik verstanden wissen (und zwar wiederum, um Neidern den Wind aus den Segeln zu nehmen). Zudem schreibt Neumark in einer Zeit, in der sich die Bemühungen um die Regulierung der deutschen Sprache vervielfältigt haben, was er jedoch lediglich als „unzeitiges Critisieren“, das verboten werden sollte, verbuchen kann.117 Auf die Durchsetzungsschwierigkeiten von Souveränität in der Gutenberggalaxis hält Neumark keine Antwort bereit, obschon in die Performanz seines Schreibens (durch Reflexionsformen und nicht zuletzt durch das Übersteigerte seiner Gegenmaßnahmen) die Pluralisierung von Bezügen und die entsprechende Verunsicherung eingeschrieben ist. Damit soll nicht gesagt sein, daß bis zum späten 17. Jahrhundert Kritik ein Ding der Unmöglichkeit gewesen wäre. Selbstverständlich flottierte Kritik durch die Gelehrtendiskurse der frühen Neuzeit, und gerade in der Fruchtbringenden Gesellschaft wird – zumal nachdem mit Opitz’ Aufnahme ein Set von Kritierien relativ verbindlich geworden war – eifrig verbessert, korrigiert, getadelt und gemahnt.118 Entscheidend ist jedoch der Ort von Kritik in den Diskursen, entscheidend sind die Grenzen, die Ein- und Ausschlüsse, die ihren Geltungsbereich, ihre Form und ihre Zirkulationsmöglichkeiten bestimmen, entscheidend ist, mit welchen Nachbardiskursen sich der kritische Diskurs verzahnen und dadurch gegebenenfalls an Dynamik gewinnen kann. Kritik hat es gegeben, seit Sprache Ablehnung formulierbar gemacht hat. Ihre Funktion und ihr Stellenwert aber sind jeweils historisch zu bestimmen. Wenn Ludwig von AnhaltKöthen Gedichte Christoph von Dohnas ohne dessen Wissen als Werke eines auf Kritik bedachten Dichters an Tobias Hübner und an Dietrich von dem Werder schickt, wenn Christian II. von Anhalt Bernburg an Ludwig eine Abschrift der Gegenkritik von Dohnas sendet, und wenn schließlich eine Sitzung der Fruchtbringenden Gesellschaft den Uneinsichtigen zur Raison bringen soll,119 dann wird dreierlei deutlich: zum einen die allgemeine Bedeutung von Kritik, zum zweiten die Funktion von Fernkommunikation als Kritikkatalysator (die Kritiken des Palmordens _____________ 117 Neumark: Der Neu-Sprossende Teutsche Palmbaum, S. *17f., *20f., *44f., 14, 25, 86f., 100f. 118 Briefe der Fruchtbringenden Gesellschaft und Beilagen: Die Zeit Fürst Ludwigs von Anhalt-Köthen 1617-1650. Zweiter Bd., S. 17. 119 Briefe der Fruchtbringenden Gesellschaft und Beilagen: Die Zeit Fürst Ludwigs von Anhalt-Köthen 1617-1650. 2.Bd., z. B. S. 17, 296, 370f.
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zirkulierten meistens brieflich120) und drittens die Kontrolle des Kritischen durch die Reglements der Repräsentationsordnung, also einer auf ostentative Sichtbarkeit der gesellschaftlichen Hierarchie angelegten Ordnung. Um zur Geschichte des Freimütigkeitsbegriffs zurückzukommen: Daß das Programmatische121 in der Exponierung von ‚Freimütigkeit‘ im Titel von Thomasius’ Monatsgesprächen erkannt worden ist, sieht man am Anschluß des Thomasianers Nikolaus Hieronymus Gundling in seinen Neuen Unterredungen. Er erklärt auf dem Titelblatt, in seiner Zeitschrift werde „über allerhand gelehrte und ungelehrte Bücher und Fragen Freymüthig und unpartheyisch raisonniret“, wobei „freymüthig“ und „unpartheyisch“ typographisch hervorgehoben werden.122 Ein weiterer Beleg für die Bedeutung und Funktion der ‚Freimütigkeit‘ in der kritischen Kommunikation gegen Mitte des 18. Jahrhunderts sind die Freymüthigen Nachrichten: Die emphatische Forderung nach der „Freyheit der Presse“ verbindet sich hier auf eine für das Zürcher Kritikverständnis charakteristische Weise mit der Wendung gegen das Extraktwesen123 und damit gegen die gewissermaßen vorkritische Ordnung der literarischen Kommunikation (3.2.1). „Schmierer“ sollen zum Verstummen, also nicht – in idealtypischer Aufklärungsmanier – zu bessernden Selbstbesinnung gebracht werden. Züchtigung, Schändung und beschämende Darstellung gehören zu den empfohlenen Praktiken.124 Parallel zur erstarkenden Position der Kritik im Streit zwischen Gottsched, Bodmer und Breitinger wird „Freymüthigkeit“ allmählich auch in den Verhaltenslehren der Zeit ein relevanter Begriff. Der Verdacht, den man sich durch „freymüthige Reden“ leicht zuzieht, man sei ein „animal gloriosum“,125 zerstreut sich allmählich. Wenn sich in Zedlers Universal=Lexikon, dem Thesaurus der Frühaufklärung, kein Lemma „Frey_____________ 120 Stoll: Sprachgesellschaften im Deutschland des 17. Jahrhunderts, S. 10. Zu den Tagungen und zum brieflichen Austausch auch: Engels: Die Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts, S. 114ff. Zur Gutachten- und Verbesserungstätigkeit im Überblick: Krause (Hrg.): Der Fruchtbringenden Gesellschaft ältester Ertzschrein, S. 6ff. 121 Den Hintergrund bildet vermutlich der Streit um die libertas iudicandi (vgl. dazu Jaumann: Critica, S. 213ff.). 122 Gundling: Satyrische Schriften, S. 1. 123 Vgl. als Überblick über die Verschiebungen von der Konzentration auf das Referat zur stärkeren Gewichtung des kritischen Moments: Seifert: „Man denke sich einmal alle kritischen Blätter hinweg ...“, S. 250ff. 124 Vgl. die Vorreden zum ersten und vierten Jahrgang: Freymüthige Nachrichten Von Neuen Büchern, Und Andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen 1 (1744), unpag.; ebda. 4 (1747), unpag. Die folgenden Vorreden nehmen diese Emphase zurück und zeigen die Grenzen der Toleranz auf. Vgl. zum Zusammenhang von Bestrafen und „Freyheit“ auch die Nachrichten von dem Ursprunge und Wachsthum der Critik bey den Deutschen (SCPS, 1741. 2. St., S. 156). 125 Melissantes: AFFECTen-Spiegel, S. 527f.
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müthigkeit“ findet, in der Allgemeinen Encyklopädie der Wissenschaften und Künste, einer vergleichbar monumentalen Bestandsaufnahme des Wissens in der Mitte des 19. Jahrhunderts, hingegen ein sechsseitiger Artikel das Thema behandelt126, dann deutet das auf eine generelle Tendenz hin. Ein vermutlich um 1750 publiziertes Complimentir=Büchlein beispielsweise zählt zwar bereits „freyen Muth“ zu den wünschenswerten Tugenden, rät aber auch dazu, „lieber jedem beyzupflichten und wohl auch eine erlaubte Schmeicheley anzuwenden“.127 Eine Position wie die Christian Garves, der den „Streit“ gegenüber dem „friedliche[n] Umtausch der Gedanken unter klugen Leuten“ nicht nur zuläßt, sondern sogar favorisiert, ist jedenfalls ungewöhnlich.128 Besonders drastisch formuliert dies Friedrich Carl Moser in seinen Betrachtungen über die Aufrichtigkeit: Er habe die Probe aufs Exempel gemacht, habe sich durch „Offenheit“ aber nur „Anfeindung über freymüthige Urtheile“ zugezogen – die „Gränzen“ der Aufrichtigkeit wollen beachtet sein.129 In Verhaltenslehren aus der Zeit ‚um 1800‘ verschiebt sich das Bild: In diesen wird „Freymüthigkeit“ sowie ein – geschickt gehandhabter – Widerspruchsgeist zum Merkmal von Weisheit.130 „Geduld“ und ein „schonende[r] Indifferentismus“ sind ratsam, zugleich aber wird mit Emphase die Parole ausgegeben: „Der gute Ton verlange eine edle Freyheit und Freymüthigkeit“.131 Auf der einen Seite mahnt man weiterhin äußerste „Bescheidenheit“ an, proklamiert aber zugleich die Maxime: „Der Wahrheit muß [...] immer Gerechtigkeit wiederfahren!“132 Obschon „Freimütigkeit“ nun zum integralen Bestandteil wird, ändert das an der Einschätzung der Gefährlichkeit von Kommunikation wenig,133 wie exemplarisch Johann Heinrich Campes Artikel „Freimütig“ von 1808 zeigt, eine kleine aufklärerische Proklamation zugunsten der Publizität: Freimütig, -er, -ste, adj. u. adv. freien Werth habend, frei von Zwange im Reden, im Schreiben und Handeln, welchen Furcht oder Scheu vor Andern etc. auflegt, in sofern es auf Bekanntmachung einer nöthigen und nützlichen Wahrheit an-
_____________ 126 Scheidler: Freimüthigkeit. 127 Das nach der neuesten Art und dem wahren Wohlstand eingerichtete Complimentir=Büchlein, S. 36ff. 128 Vgl. den Ausschnitt aus Das ideale Gespräch (17997) in: Die Kunst des Gesprächs, S. 232ff. 129 Moser: Betrachtungen über die Aufrichtigkeit, unpag. (Vorrede). 130 Das Betragen des Weisen in den verschiedenen Verhältnissen des Lebens und in dem Umgange mit Menschen, S. 104f., 122f. 131 Pockels: Über Gesellschaft, Geselligkeit und Umgang. Bd.2, S. 35, 132f.; ebda., Bd.3, S. 113ff. 132 Unverwesliche Schätze für die Menschheit, S. 97. 133 Siede: Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 123f.
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kömmt; dann, gewohnt, durch Rücksichten, durch Furcht etc., sich von dem Bekenntniß einer nützlichen Wahrheit nicht abhalten lassen, und in dieser Eigenschaft gegründet.134
In einer Situation, die „Furcht“, „Scheu“ und „Rücksichten“ einer unbefangenen „Freimütigkeit“ konfrontiert, versteht sich nach wie vor der Rat: „Tadle nicht“, wenngleich das vor dem Übergang in die „Schmeicheley“ endet.135 Vergebung rangiert zwar über Streitsucht und Rechthaberei;136 dennoch gehören die Kunst des Tadels zur Philosophie des Lebens 137 und das Wissen um die richtige Zeit für den Tadel zum angemessenen „Weltumgang“.138 Wenn sich also die Verhaltenslehren ‚um 1700‘ zurückhaltend gegenüber kritischer Kommunikation zeigen bzw. die kritische Lage der Kommunikation durch Ratschläge für unkritisches Agieren zu entschärfen versuchen, hat das seinen Grund u.a. in der auf Positivität als Fortsetzungsgrund basierenden Logik der Interaktion. Daß dies in der Eigendynamik der Präsenzkommunikation begründet ist, läßt sich gerade an den leichten Abweichungen der Verhaltenslehren im Laufe des 18. Jahrhunderts zeigen, die zwar der Ablehnung mehr Freiraum zugestehen, aber dennoch die Gefährlichkeit eines offenen Wortes nach wie vor sehr hoch einschätzen. Auch im 19. Jahrhundert lassen sich die Strukturimperative der Interaktion unter Bedingungen des Wechsels der Leitperspektive zur Fernkommunikation aufdecken, und zwar gerade in Neuakzentuierungen unter Beibehaltung des generellen Kritikvorbehaltes. Zwar empfiehlt Carl Friedrich von Rumohrs Schule der Höflichkeit Für Alt und Jung von 1835 nun „rücksichtslose[ ] Offenheit“, aber mit seinen Ausführungen zu den „besonderen Vortheilen und vornehmlichsten Methoden der Grobheit“ steht Rumohr allein da.139 Immerhin erkennt Oscar Scherenbergs Der Ga_____________ 134 Campe: Wörterbuch der Deutschen Sprache. Bd.II, S. 162. 135 Ernesti: Anleitung zur gesitteten und feinen Lebensart, S. 56. Auch der erwähnte Lexikoneintrag in der Allgemeinen Encyklopädie grenzt zwar die neue Zeit der „Freimüthigkeit“ von der höfische Epoche ab und erklärt „Freimüthigkeit“ zur eindeutig positiven Kategorie, aber das ändert nichts an der Konstruktion der Bedrohungsverhältnisse. „Furcht“ und „Gefahr“ prägen nach wie vor die Kommunikation. So formuliert der Beitrag einleitend einige allgemeine Bestimmungen: „Freimüthigkeit“ bezeichne eine Meinungsäußerung „ohne Furcht vor etwanigen übeln Folgen“ bzw. das rückhaltslose Aussprechen der Wahrheit, auch „wo dieses Aussprechen mit Gefahr verbunden ist“ (Scheidler: Freimüthigkeit, S. 79). 136 Claudius: Kurze Anweisung zur wahren feinen Lebensart, S. 91, 94. 137 Philosophie des Lebens und des Umganges (laut Bleistifteintrag handelt es sich in dem hier verwendeten Exemplar der Berliner Staatsbibliothek um die 3.Auflage von 1806). 138 Winckel: Über Weltumgang und Geschäftsleben in Briefen an einen gebildeten Jüngling der sich der großen Welt und dem Geschäftsleben widmet, S. 204f., 249. 139 Rumohr: Schule der Höflichkeit Für Alt und Jung. Zweiter Theil, S. 43ff. Auch bei Rumohr, der die Konversation in die Nähe der Diskussion rückt (ebda., S. 6f.), besteht kein
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lanthomme und Gesellschafter den „Widerspruch“ als ‚Würze‘ des Gesprächs an.140 In einer sich neu formierenden Interaktionskultur, die dem geistreichen Disput offener gegenübersteht, findet – wie bei G. J. Wenzels Mann von Welt von 1821 – das Pro und Contra in einer „gesprächsweise[n] Erörterung“ als einem der „interessantesten Zweige des gesellschaftlichen Vergnügens“ seinen Ort.141 Freilich gehören die unauffälligen Gesten der Verhinderung von Disharmonie zur Zentralkompetenz des „Gesellschafters“.142 Für einen Ratgeber zur klugen Akkomodation an die gesellschaftlichen Normen wäre es fatal, wenn sein Schüler mit der Maxime „Viel Feind’, viel Ehr’“ in die Welt ziehen würde. Für einen Schriftsteller der Aufklärungsepoche sieht das allmählich anders aus: Wer hier wenige Feinde aufzuweisen hat, zeigt seinen nur marginalen Ort in den literarischen Diskursen an.143 Die „Freymüthigkeit“ und „Aufrichtigkeit“ kann mit „Höflichkeit“ wenig anfangen, „sie verstellt / verkehrt und verkleistert die Wahrheit / so offt es wehe thut sie zu hören“. Verbesserungen in der res publica literaria, so erklärt Bodmer, seien immer von „Empörungen und Aufruhren des Pöbels“ begleitet.144 Autoren wie Klopstock (4.) oder Wieland (3.3) würde daher „sehr unzufrieden seyn [...], wenn ihn seine Hofnung, einem gewissen Theile von Lesern zu mißfallen, betriegen sollte“.145 In diesem Kontext wird es ehrenvoll, bereits in jungen Jahren „Neider und Feinde zu haben, und jene zu verdienen“.146 Angesichts dieser Integration von „Furcht und Zittern“ in das Konzept kritischer Kommunikation wirkt ein friedliebendes Aufklärungsprogramm wie die Schutzrede für die Freyheit der Gelehrten aus den Bemühungen,147 die durch eine (staats- und religionskonforme) Publizität automatisch die Verbreitung der Wahrheit garantiert sieht, zwar sympathisch, aber auch ein wenig naiv. Das Bild von der aufklärerischen Dis_____________
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Zweifel daran, daß „niemand an sein Unvermögen, seine Gränzen und Beschränktheiten erinnert werden“ will (ebda., S. 15). Schmölders sieht von daher zutreffend den Trend zur Negativität, der in die Gesprächskultur Einzug hält, vereinfacht aber m. E. die Lage, wenn sie diese zwischen „öffentliche[r] Grobheit“ auf der einen und „private[r], selbstgesprächige[r] Sanftmut“ auf der anderen Seite aufspannt (Einleitung, S. 55). Scherenberg: Der Galanthomme, S. 11. Wenzel: Mann von Welt, S. 146. S[chuste]r: Der Galanthomme, S. 16. So aus ironischer Perspektive die Satire Der Autor, die in 10. Stücken in den Belustigungen des Verstandes und des Witzes erscheint (hier 1744, Jenner, S. 78).. [Bodmer]: Anklagung Des verderbten Geschmackes, unpag. (Widmungsvorrede). Litterarische Pamphlete, S. 114. So Friedrich von Hagedorn in einem Brief an Bodmer (Litterarische Pamphlete, S. 110). Bemühungen zur Beförderung der Critik und des guten Geschmacks, 14. St., 1746, S. 497ff.
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kursgesellschaft jedenfalls muß mit einigen Schatten versehen werden, wodurch es freilich auch an Tiefendimensionen gewinnt.
2.4 Konzeptionen kritischer Kommunikation Unsicherheit als Merkmal der kritischen Kommunikation bezieht sich nicht nur auf gekonnten Umgang mit Textqualitäten, die der mit geheimnisvollen Fähigkeiten ausgestattete Kritiker, nicht aber der Normalleser oder der Autor wahrzunehmen bzw. zur Geltung zu bringen versteht, sondern auch auf die Diffusität der Kommunikationskanäle. Zwar bestimmt eine Reihe von Kritik- und Dichterkartellen durchaus die Literaturgeschichte im 18. Jahrhundert – z. B. die Gottschedianer in Leipzig, Bodmers Anhänger in Zürich oder Nicolais Imperium in Berlin –, und auf den ersten Blick erzeugen diese Gruppierungen Ordnung, da mit einiger Wahrscheinlichkeit berechenbar ist, von welcher Seite ein Autor gelobt oder kritisiert werden wird. Die Devise ‚Lob der eigenen, Kritik der anderen Parteigänger‘ fungiert als Arbeitsprinzip solcher Zusammenschlüsse, wie ein anonym veröffentlichtes Werk über die Geheimnisse der deutschen Kunstrichter erläutert, das die analysierten Gruppenbildungen als Mobilmachung zu einem „fürchterliche[n] gelehrte[n] Krieg“ versteht.148 Dieser „Dichterkrieg“ ist allerdings gerade kein geregelter Kabinettskrieg mit klaren Frontverläufen. Der anonyme Geheimnisaufklärer berichtet etwa, Christian Adolf Klotz, der Anführer der „Klozianer“, habe einen scheinbar guten Freund durch andere verfolgen lassen. Diese Verunsicherung innerhalb des eigenen Lagers führt zu einem aufschlußreichen Vergleich: „[...] glauben Sie mir“, versichert der Autor, „die Gelehrten auf Universitäten besitzen jetzt vieles von den Sitten der feinern Welt“.149 Daß die auf die Charlatanerie zielende Gelehrtensatire mit ihrer ironisch gemeinten, aber den tatsächlichen Zustand wohl durchaus treffenden Bloßstellung der Simulationsstrategien auch auf den Kritikbetrieb angewendet wird, versteht sich vor diesem Hintergrund. In beiden Fällen erscheint Täuschung (zumindest von gegnerischer Seite aus gesehen) als Normalfall.150 Der höfische Kosmos der Intrigen und versteckten Gewaltverhältnisse illustriert dabei die verschiedenen Formen von Unsicher_____________ 148 Geheimnisse der deutschen Kunstrichter, S. 18. 149 Geheimnisse der deutschen Kunstrichter, S. 23. 150 H. R. M.: Allerneueste Anweisung auf die beste Art ein Kunstrichter zu werden. In: CB VIII, 32, S. 555-597. Vgl. zur Gelehrtenkultur die Fallstudien sowie den kursorischen Überblick bei Grafton: Fälscher und Kritiker.
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heit.151 Überläufertum, Spionage, Camouflage und Partisanentaktiken gehören zum Standardprogramm des ‚Dichterkriegs‘ im 18. Jahrhundert. Man hat hier mit unabsehbaren Kettenbildungen zu rechnen. Jakob Mauvillon und Leopold August Unzer bemerken in Über den Werth einiger Deutscher Dichter: [...] es darf denen Leuten nur eine Grille durch den Kopf gehen, sie dürfen nur erfahren, daß ich der Vetter im zwanzigsten Gliede, oder der Zuhörer und Schüler des Schülers eines ihrer Antagonisten gewesen bin; so heißts, mein Buch ist unter der Critik, und ich bin unwiederbringlich im Reiche der Wissenschaften verlohren.152
Die Seilschaften sind allerdings instabil.153 Jedenfalls weisen die Parteien gern auf die Brüchigkeit der jeweils gegnerischen Front hin, etwa durch die Veröffentlichung von Sympathisanten-Briefen aus dem bekämpften Lager (CD I, 25f.; und umgekehrt SCPS 1, unpag.) oder von anderen Briefen, mit denen sich ‚Feinde‘ denunzieren lassen – die Bemühungen behaupten beispielsweise, sie hielten eine Haller-Kritik Samuel Gotthold Langes in der Hinterhand, die diesen bei der Schweizer Partei anschwärze, oder ein Schreiben Jacob Immanuel Pyras, das dessen vergeblichen Versuch dekuvriere, einen Verleger für seine Polemik gegen die Bemühungen zu finden.154 Auf verschiedene Weise geht es im ‚Dichterkrieg‘ um die Konzeptionalisierung von Virtualität: Das gilt für die Festlegung von Parteigrenzen, wenn sich beispielsweise die Belustigungen des Verstandes und des Witzes gegen das „Hirngespinnst“ eines „Leipziger Complot[s]“ wehren;155 das gilt aber auch für das „Hirngespinnst“ eines erweiterten, geschmacklich nicht genau festlegbaren Publikums: Die Belustigungen – so die Prätention – gehören keiner „geschlossene[n] Zunft“ zu. Und so paßt es ins Bild, wenn die ‚Belustiger‘ die Verschiedenartigkeit der Meinungen akzeptieren und dadurch einseitige Kritik von ihrer Zeitschrift abwehren. Sagt eines der Stücke einem Leser nicht zu, so schließt dieses Mißfallen folglich nicht
_____________ 151 Gottsched z. B., so plaudert der Anonymus aus, sei in seiner eigenen Zeitschrift, dem Neuesten aus der Anmuthigen Gelehrsamkeit, durch geschickt eingeschleuste Beiträge verspottet worden (Geheimnisse der deutschen Kunstrichter, S. 38f.). 152 [Mauvillon / Unzer]: Über den Werth einiger Deutschen Dichter und über andere Gegenstände den Geschmack und die schöne Litteratur betreffend, S. 54f. Vgl. dazu: Bleicher: Literaturvermittlung, Literaturkritik, Literaturentwicklung im 18. Jahrhundert. 153 Vgl. dazu z. B. Johann Adolph Schlegels Briefe an Bodmer (Litterarische Pamphlete, S. 74, 79, 81ff.). 154 Bemühungen zur Beförderung der Critik und des guten Geschmacks, 1743, 5. St., S. 383; ebda., 1747, 16. St., S. 722f. 155 Belustigungen des Verstandes und des Witzes, 1744, Jenner, unpag. (Vorrede).
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aus, daß es ein anderer Leser lobt.156 Wie groß auch immer die theoretische Selbstsicherheit in poetologischen Fragen sein mag, praktisch wird der ‚gute Geschmack‘ von verschiedenen Seiten aus eingekreist, und die Parteien tun alles dafür, daß die Meinungsvielfalt auch ans Licht kommt157 und nicht vom Meinungsdiktat einer Partei verdeckt wird. Kritik entfaltet sich also in einer von „List und Gewalt“158 geprägten Lage. Sie will erklärtermaßen entscheiden und für Klarheit sorgen, trägt aber faktisch zur Intransparenz von Entscheidungsprozessen bei. Daher steigen die Chancen kritischer Negativität auf Akzeptanz, wenn Momente wie Unsicherheit, Irrtum oder Veränderbarkeit ihr schlechtes Image verlieren. Um die Rolle der Kritik als Kommunikationsunterbrecher in die neue Rolle der Kritik als Kommunikationskatalysator zu verwandeln und Positionenvielfalt als wünschenswerten Produktivfaktor zu verstehen, hilft die Umstellung der Semantik von prima facie sichtbaren Orientierungen der Interaktion zum virtuellen Orientierungsrahmen der Distanzkommunikation. Direkte Zurechenbarkeit, sichtbare Repräsentation von Status und Absichten oder spezifische Situationsadäquatheit wird dann durch die Leitperspektive des Diffusen und Potentiellen ersetzt, bei der die Vagheit von Zurechnungen normal ist und bei der man sich mit Vermutungen weiterhilft.159 Während ‚um 1700‘ die Kritik noch dem frühneuzeitlichen Verfahren der Allegorie zugänglich ist und visualisiert werden kann, wird sie im 18. Jahrhundert als Person undarstellbar.160 Ein erstes Konzept, um Positionslabilität anzuerkennen, stellt die Temporalisierung von Autor- und Werkmodellen dar.161 Im Zusammenhang mit der Etablierung von fernkommunikativen Kompetenzen bekommen – wie bei Boileau (2.1) – das sich aus der Antike herschreibende Modell des Zeitbedarfs und dann auch das neue Modell der Entwicklung eine spezifische Diskursfunktion: In der Kritik an den Inventionstechniken der rhetorischen Kultur, in der Autoren eingestandenermaßen ‚Effekt‘ vorangegangener Reden und Schriften sind, wird das – selbst schon mit _____________ 156 Belustigungen des Verstandes und des Witzes, 1742, Heumonat, unpag. (Vorrede); ebda., 1743, Jenner, S. 3ff.; ebda., 1744, Jenner, unpag. (Vorrede). 157 Bodmer bietet daher Abweichlern aus Leipzig mit seiner Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften ein Publikationsforum (SCPS 1, unpag. [Vorrede]). 158 So der Vorwurf aus Zürich gegen Gottsched (SCPS 4, 26, auch 28), der selbstverständlich auch umgekehrt erhoben wird. 159 Vgl. für den schriftlichen Austausch Häfner: An Niemand, den Kundbaren. Dem Verlust an Möglichkeiten direkter Einflußnahme korrespondiert dabei der Gewinn an Möglichkeiten indirekter Ausdrucksformen. Daß gerade hier neue Phantasmen der Nähe und Intimität entstehen, hat Albrecht Koschorke gezeigt (Körperströme und Schriftverkehr, z. B. S. 206ff.). 160 Jaumann: Zur Rhetorik der Literaturkritik in der frühen Neuzeit, insbes. S. 193, 196. 161 Vgl. dazu Verf.: Die Entstehung von Tiefsinn im 18. Jahrhundert.
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einer Tradition belastete – „Negieren von Tradition“162 eine Leitkompetenz. Irrtum bekommt eine positive Funktion (wenn er von der Fähigkeit zur Selbstkorrektur begleitet wird).163 Daß man sich in der Frühaufklärung für die Jahreszahlen der Entstehung von Gedichten interessiert164, so daß sich die Biographie am Beginn einer Werkausgabe überhaupt mit dem Textteil verweben läßt, versieht das Verstehen mit einem Zeitindex und erlaubt, Kontextrekonstruktion als Sinngewinn zu verbuchen.165 Auf der einen Seite steht die Ordnung der Gedichte nach einem hierarchischen, an der Bedeutung des Gegenstandes ausgerichteten Prinzip, also nach Gesichtspunkten der Stratifikation und damit der Repräsentation, auf der anderen Seite eine temporalisierte Ordnung, in der sich Gedichte in ihrer Abfolge aufeinander beziehen, sich gegenseitig erläutern und damit eine „Art von Lebensbeschreibung des Verfasser“ bieten.166 Es fügt sich daher ins Bild, daß Christian Wernicke im Jahr 1704 sein eigenes Frühwerk abwertend unter die Lupe nimmt, in der Vorrede sowie vor allem in Anmerkungen die von ihm durchlebte Entwicklung kommentiert und die fehlende öffentliche Kritik als wesentliches Manko des deutschen Literaturbetriebs beklagt (2.1).167 Kritik muß auf Konzeptionen zurückgreifen können, die Veränderung favorisieren, die Entwicklung, Irrtum und Potentialität anerkennen und in denen daher Infragestellung so wertvoll wird wie die Bestätigung, auf die eine Kultur der Repräsentativität, der Präsenz und damit Positivität fixiert ist. _____________ 162 Barner: Über das Negieren von Tradition, S. 3-51. 163 Ein eindrückliches Beispiel bietet Benjamin Neukirchs Hochzeitsgedicht auf die Auf die Linck= und Regiußische vermählung, in dem er sein Frühwerk verabschiedet und das Gottsched als Gelenkstelle der Werkentwicklung Neukirchs wie als Vorbild einer generell zu fordernden selbstkritischen Geste versteht: Benjamin Neukirchs Anthologie Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte. Sechster Theil, S. 152f.; vgl. zu Neukirchs ambivalentem Verhältnis zu seinem Epithalamium: Metzger / Metzger: Einleitung, S. XXVff. Benjamin Neukirchs auserlesene Gedichte aus verschiedenen poetischen Schriften gesammlet und mit einer Vorrede von dem Leben des Dichters begleitet von Joh. Christoph Gottscheden, unpag. (Vorrede). 164 Krasser: Vom Reiz der Chronologie und hermeneutischer Lust. 165 Johann Ulrich König kommentiert sein entsprechendes Verfahren bei der Edition der Canitz-Gedichte in der Vorrede: „Der Leser gewinnt dadurch [durch „Zeit=Bemerckung[en]“, S. M.] den Vortheil, daß er sehen kan, wie sich der Poete von Jahren zu Jahren vollkommener gemacht; aber auch schon in früher Jugend [...] rein, vernünfftig und wohlfliesssend geschrieben [...]“ (Canitz: Gedichte, S. 52). Vgl. zum „historisch-kritische[n] Interesse an Text und Autor“ in der Canitz-Ausgabe: Niefanger: Sfumato, S. 111f. 166 So Johann Joachim Schwabe zur Chronologie als neuem Ordnungsprinzip der von ihm herausgegebenen Gottschedschen Gedichte: Gottsched: Gedichte und Gedichtübertragungen, S. 482. In der folgenden Auflage wird das hierarchische Gliederungsprinzip wieder eingeführt, die Jahreszahlen bleiben aber zur Rekonstruktion der Entwicklung bei den Gedichten stehen (ebda., S. 492ff.). 167 Vgl. zum Konzeptionellen: Wernicke: Epigramme, insbes. S. 123f., 314ff.
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Wenn sich Kritik und Unsicherheit korrelativ zueinander verhalten, dann müssen der Etablierung von Kritik Techniken des Unsicherheitsmanagements an die Seite treten. Entsprechende Anschlußmöglichkeiten bietet dabei die Umwertung der Negationssemantik, wie Niklas Luhman sie beschrieben hat168: Negation wird demzufolge im Rahmen der teleologisch ausgerichteten alteuropäischen Semantik als „Noch-Nicht“ oder „Nicht-Mehr“ gedacht in bezug auf ein Optimum wie das Paradies oder einen wesensmäßig angelegten, entelechisch gedachten Perfektionsgrad. Die Moderne schaltet demgegenüber auf „unbestimmte“ Negation bzw. überhaupt auf „Unterbestimmtheit“, „Unbestimmtheit“ und „Unruhe“ um. Wandelhaftigkeit ist nicht das Anzeichen eines Mangels, sondern Entwicklungschance in einer Welt, wie sie z. B. die Romanbiographien der Aufklärung exemplifizieren. Negation selbst kann als positives Moment verbucht werden, allerdings nur, insofern diese selbst negierbar bleibt. Position bezieht man jetzt, indem man eben diese Position immer auch zur Disposition stellt, indem man sich für kritisierbar erklärt. Wer kritisiert, behauptet ein bereits angeführter Topos, muß sich auch selbst der Kritik stellen.169 Es ist von hier aus gesehen aufschlußreich, daß bei aller programmatischen Disqualifizierung der Kritik ‚um 1700‘ doch zugleich in verschiedenen Anläufen ein Typus von Beziehungen entworfen wird, der Unsicherheit und Latenz als Normalfall integriert. Da das Vokabular und die Modelle für die Konzeptionalisierung von Fernkommunikation fehlen, greift man aushilfsweise auf verschiedene etablierte Bildbereiche zurück:170 Eine prospektive kritisch-räsonnierende Öffentlichkeit spiegelt sich beispielsweise in den Instanzen der Rechtssprechung, wie Herbert Jaumann gezeigt hat.171 Dabei läßt sich im Wissenschafts- oder Literatursystem das Amt des Richters, des Anwalts und des Angeklagten eben nicht mehr genau festlegen, so daß sich quer zur Personalisierung des gewählten Bildfeldes Unschärferelationen durchsetzen (Pierre Bayle beschreibt den Gelehrtenbetrieb beispielsweise als eine Verhandlung, in der „jeder [...] zugleich regierender Herr, und eines jeden Gerichtsbarkeit unterworfen“ ist, _____________ 168 Zum folgenden vgl. Luhmann: Frühneuzeitliche Anthropologie, S. 196f., 210f., 221f.; von hier aus ergeben sich auch Anschlußstellen zum dem, was Wolfgang Iser als „Negativität fiktionaler Texte“ beschrieben hat (Der Akt des Lesens, S. 348ff.). 169 Jaumann: Critica, S. 203f. 170 Vgl. im Blick auf das Geistergespräch als Modell für die Gelehrtenrepublik und damit als Modell für die Ausweitung des Gesprächsparadigmas auf Formen der Distanzkommunikation sowie zur „Spiritualisierung der Gelehrtenrepublik“ Stichweh: Der frühmoderne Staat und die europäische Universität, S. 115f., 122f. 171 Zum folgenden vgl. Jaumann: Öffentlichkeit und Verlegenheit; ders.: Critica, S. 246ff.
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und man fragt sich, ob der Verwirrungswert in diesem Fall den Erklärungswert nicht deutlich übertrifft)172. Ein zweites Modell stellt der Krieg zur Verfügung, der seit Einführung der Feuerwaffen unkalkulierbare Gefahr ohne Rücksicht auf den persönlichen Status einer Person exemplifiziert und daher auch als kulturelles Paradigma für den Gelehrtenbetrieb dient. Ein drittes Modell liefert die Hofpolitik, wobei der Hof als Ort allseitiger Bedrohung, undurchsichtiger Intrigen und unwägbarer Feindschaften und daher auch als Kriegsschauplatz erscheint. Ich werde mich im folgenden den beiden letztgenannten Modellen zuwenden, um die kritische Lage aufklärerischer Kommunikation darzustellen, zunächst Aspekten des hofpolitischen, dann des kriegerischen Paradigmas. Das Paradigma der höfischen Verhaltenspolitik173 rechnet mit Situationen unkontrollierbarer Bedrohungen und eignet sich daher zu Konzeptionalisierung von Fernkommunikation. Auch das ist ein Beispiel dafür, wie ‚Oberschichten‘ Kompetenzen und Modelle in einem Vorlauf testen, die für das ‚bürgerliche‘ Verhalten maßgeblich werden: Psychologisierung, Rationalisierung oder Langsicht,174 also in jedem Fall die Dehnung der Zeitperspektive, die Boileau dem Autor zur Bewältigung virtueller Bedrohung empfohlen hatte, sowie die entsprechende Formierung eines gleichförmigen Selbst. „Bedachtsamkeit“ und „Fohrsichtigkeit“ sind die notwendigen Begleiterinnen der Hofklugheit, denn für den Privatpolitiker gilt: „Er mus allezeit und auf alle forige und gegenwärtige Begäbnusse sein A[u]ge gerichtet haben / und dasselbe niemahls schlaffen lassen / damit er nicht betrogen und verfortheilet werde“. Zu dieser Verhaltenskompetenz gehört auch die Fähigkeit, auf die „Zwei=deutigkeit der Worte / Reden und Sprüche gnaue Achtung geben“ zu können, was die gewissermaßen praktische Literaturkritik des Hofs illustriert.175 Ein solcher sich im Raum potentieller Bedeutsamkeiten stets aufmerksam bewegender Beobachter wäre sicherlich auch ein guter Kunstrichter, denn den Sinn für das Virtuelle teilen die Konkurrenten bei Hof mit den Konkurrenten im literarischen Betrieb. Selbst den eigenen Parteigängern läßt sich nicht mehr trauen, wenn man noch ehrlich gemeinte Aussagen für Maskenspiel hält und sich dadurch so verwirren läßt, „daß einer den _____________ 172 Bayle: Historisches und Critisches Wörterbuch. Bd. II, S. 108. 173 Geitner: Die Sprache der Verstellung. Zum Hof als „Ort für die Herausbildung und Beobachtung sozialer Reflexivität“ vgl. Stichweh: Der frühmoderne Staat und die europäische Universität, S. 72ff. 174 Zu diesem Verlaufsmodell vgl. zusammenfassend Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. 2. Bd, S. 312-454. Zur medienhistorischen Reformulierung von ‚Bürgerlichkeit’ vgl. Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 169ff. 175 Kurtze doch grundrichtige Anleitung zur Höflichkeit, S. 6, 18, 35.
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andern in Verdacht habe“.176 Die für die Publizistik des 18. Jahrhunderts übliche Anonymität, bisweilen selbst eingestandenermaßen eine Schutzvorrichtung177, trägt das ihre zur Irritation bei. Beispiele für die Konfusionen, die die abgefangenen oder auf Umwegen falsch zugeleiteten Briefe als Dokumente für die Zerbrechlichkeit der gegnerischen Partei anrichten, habe ich bereits zitiert. Die Unkontrollierbarkeit des Schriftlichen wird von den Verhaltenslehren nicht umsonst gerade an diesem Beispiel thematisiert (2.1).178 In der geheimen Kabinettspolitik des Dichterkriegs geht es ständig um die Funktion von Anonymität und um Techniken der Entlarvung (über Stilanalysen oder Informanten), um Intrigen, die um mehrere Ecken gesponnen werden, um Spionagetaktiken, um die Bewertung von Gerüchten, um die Verrechnung von Feindschaften, um das Anzetteln von Rebellionen und um Strategien des Lobens.179 Wenn beispielsweise Johann Ulrich König brieflich rät, Bodmer solle den Kampf gegen den Reim ruhen lassen, um den wichtigen Bündnispartner Johann von Besser nicht zu düpieren, wenn er sich über Bodmers Brockes-Lob wundert, der – wie aus ihm vorliegenden Briefen ersichtlich – gegen den Schweizer intrigiert, wenn Verstellung, Verschwiegenheit und leicht reizbarer „Argwohn“ zur Debatte stehen, dann vermittelt das immerhin einen ersten Eindruck von der Kunst des Möglichkeitsdenkens, die nicht nur in den literaturkritischen Schriften, nicht nur in den philosophischen Entwürfen, sondern auch für die faktischen Kommunikationsprozesse eine Rolle spielt – daß beispielsweise Gottsched seine eigene Position vor dem Hintergrund der Leibniz-Wolffschen Philosophie der „möglichen Welten“ bestimmt, wird hier institutionen- und mediengeschichtlich entschlüsselbar (3.1.1).180 Aus dieser Perspektive lohnt sich erneut ein Blick auf Christian Thomasius’ Monatsgespräche. Im Erscheinungsprozeß dieser Zeitschrift, die _____________ 176 So nach dem Abgang der Stürmer und Dränger von den Frankfurter Gelehrten Anzeigen Johann Conrad Deinet, der Verleger der Zeitschrift, in einem Brief. Weiter erläutert er: „Das Publikum hält die Abdikation gewisser Männer, die im Ernst geschehen ist, für eine Maske: und diese Herren sind nun selbst so irre gemacht, daß einer den andern in Verdacht hat“ (zit. nach Bräuning-Oktavio: Herausgeber und Mitarbeiter der Frankfurter Gelehrten Anzeigen 1772, S. 512). 177 So wollen die Mitarbeiter der Critischen Beyträge ihr Inkognito erst dann aufgeben, erklärt die Vorrede zum ersten Band, wenn klar ist, wie die Zeitschrift aufgenommen wird (CB I, 1). Vgl. zur Diskussion um Anonymität Pabst: Der anonyme Rezensent und das hypothetische Publikum. 178 Zur Vorsicht mit Briefen als geschriebenen, damit dauerhaften und schwer kontrollierbaren Zeugnissen vgl. z. B. Kurtze Jedoch Grundmässige Anweisung Zum Brieff=stellen, S. 4; zum strategischen Umgang mit gezielt ‚verlorenen’ Briefen vgl. BREVIARIUM POLITICORUM, S. 24. 179 Ausführliches Material dazu findet sich in: Litterarische Pamphlete. 180 Brandl: Barthold Heinrich Brockes, S. 142, 150f., 159, 160, 164.
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sich der Negativität einer auf „raison“ anstelle von „autoritas“ fußenden, programmatisch mehr tadelnden als lobenden Kritik verschreibt181, verschränken sich Hof- und Literaturpolitik aufs engste, und das nicht zuletzt deswegen, weil es hierbei um eine kontroverstheologische Frage geht.182 Ungeachtet dieses spezifischen Kontextes gewinnen dabei in den Monatsgesprächen Gedankenfiguren an Relevanz, die mit Virtualität und Undurchschaubarkeiten rechnen und die zu Thomasius’ trübem Bild des Gelehrtenbetriebs passen, denn Intrigen, hinterhältige Diffamierungen, Verunglimpfungen und sonstige dunkle Machenschaften sind hier an der Tagesordnung. Distanziert Thomasius sich im ersten Band der Monatsgespräche noch von der üblichen Schutzanrufung an einen Fürsten, so ist er im zweiten Band schon weniger zuversichtlich und verweist auf die Verbindungen der Kritiker zum Hof und auf deren heimtückische Einflußnahmen. Dabei geht es vor allem um die Auseinandersetzung mit dem dänischen Theologieprofessor und Hofprediger Hector Gottfried Masius, die sich von einem gelehrten Disput um die Begründung der Staatsgewalt zu einer Hofkabale mit Einflußnahme dreier souveräner Fürsten – des dänischen Königs, des Kurfürsten von Sachsen sowie des Kurfürsten zu Brandenburg – entwickelt.183 Thomasius positioniert sich in dieser Welt unkalkulierbarer Zusammenhänge, in der allenfalls die gegnerische Durchsicht seiner Schriften auf Fehler sicher ist, so daß wir „unser Leben und Wandel dergestalt einzurichten“ haben, „daß wir mit demselben unsern Feinden nicht die geringste Ursach geben möchten uns gründlich beyzukommen“ (MG III, unpag.). Kontinuität und Homogenität als Korrelat von Veränderbarkeit, die wiederum zur Orientierung im Potentiellen dient, war ja bereits Boileaus Antwort auf schwer kalkulierbare, nur wahrscheinliche Reaktionsformen (2.1). In der Fluchtlinie dieser Persönlichkeitskonzeption und einer entsprechenden Textkonzeption, die auf latente Bedrohung, umfassende Angreifbarkeit und daher auf umfassende Verteidigungsbereitschaft ausgerichtet ist, liegt dann auch die Leservorrede, in der Thomasius seine Intentionen im Blick auf seine Biographie erläutert (MG III, 5). Wenn Thomasius in der Ausübung der Vernunftlehre (1691) eine Hermeneutik vorstellt, die Bedeutungen lebens- und werkgeschichtlich perspektiviert184, die als Basiskriterium die „Vernunfft“ als ebenso unfaß_____________ 181 Vgl. die Widmungsvorrede zum dritten Band „Allen meinen grösten Feinden“ (MG III, unpag.). In der Leservorrede erklärt Thomasius seinem Kritik-Begriff entsprechend, seine Monatsgespräche wollten den Acta eruditorum keine Konkurrenz machen (MG III, 30). 182 Dazu Gierl: Pietismus und Aufklärung, hier insbes. S. 431ff. 183 Vgl. dazu: Grunert: Zur aufgeklärten Kritik am theokratischen Absolutismus. 184 Thomasius: Ausübung der Vernunftlehre, S. 184ff., 222. Thomasius geht dabei von bestimmten Kontinuitätsmaximen aus und versucht, sich den auszulegenden Autor zu verge-
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bares wie allgemeingültiges Prinzip zugrunde legt185, und wenn er das Vertrauen in die Entschlüsselbarkeit fremder Rede oder Schrift durch Undurchschaubarkeit bricht186, dann entspricht diese Hermeneutik den Anforderungen einer im mehrfachen Wortsinn kritischen Kultur, weil sie damit rechnet, daß einer bestehenden Meinung immer eine andere, nicht weniger berechtigte Meinung an die Seite gestellt werden kann.187 Bei aller Traditionalität der Argumentation erscheint die Vernunftlehre, die bezeichnenderweise vom notwendigen Zusammenhang von „Weißheit“ und Anfeindung ausgeht188, auf zweifache Weise als eine zeitgemäße Antwort: Zum einen geht sie direkt aus einer weiteren Auseinandsetzung um die Monatsgespräche hervor, nämlich aus einer Kritik an Tschirnhaus und der – wie Thomasius mutmaßt – von Intriganten provozierten harschen Reak_____________
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genwärtigen, indem er die von ihm selbst andernorts festgehaltenen Prämissen der höfischen Entlarvungskunst als hermeneutische Maximen zum Textverstehen macht (vgl. z. B. Thomasius: Die neue Erfindung einer wohlgegründeten und für das gemeine Wesen höchstnötigen Wissenschaft Das Verborgene des Herzens anderer Menschen auch wider ihren Willen aus der täglichen Konversation zu erkennen, S. 69ff.). Ein Beispiel für die literaturkritische Relevanz findet sich in Thomasius Auseinandersetzung mit Johann von Bessers Epicedium auf den Tod seiner Ehefrau (Thomasius: Ob Wahrhafte Liebe zwischen Ehe=Leuten / sich nothwendig in anderer Gesellschaft kund geben müsse? S. 303ff., 314). So bereits in der Widmungsvorrede an den „Chur=Brandenburgischen Staats=Minister Hn. Eberhard von Danckelman“, wo Thomasius eine nach zwei Seiten orientierte Position bezieht. Auf der einen Seite propagiert er im Zuge seiner Autoritätskritik zwar die Ausrichtung an der „Vernunfft“, also an einem egalisierenden und – da unsichtbar – auch nichtrepräsentativen Kritierium, dies ist ihm aber auf der anderen Seite nur unter dem Schutz des Kurfürsten möglich (Thomasius: Ausübung der Vernunftlehre, unpag.). Erweist sich das Regulativ eines ebenso unfaßbaren wie allgemeingültigen Prinzips als kontrafaktische Annahme, bleibt es dennoch in der folgenden Leservorrede, in der Thomasius sich mit seinen Kritikern auseinandersetzt, wirksam, wenn er – gemäß einem Topos der Kritikdebatten – allen Lesern die Kritik an seinen Schriften zugestehen muß, weil er ebenfalls Kritik geübt hat. Diese kritische Schleife wird von Thomasius allerdings unterbrochen – er will auf Kritiken nicht antworten, u.a. weil er das „Schweigen“ für ein probates Mittel hält, seinen „Feinden desto eher das Maul zu stopffen“. Konsequenterweise merkt er an, sein Gemüt schicke sich eben nicht zum „Commercio literario“, also zur Distanzkommunikation, einer mündlichen Auseinandersetzung stehe er jedoch offen gegenüber (Thomasius: Ausübung der Vernunftlehre, unpag. [„Vorrede“], sowie S. 289f.). Freilich steht auf der einen Seite zwar die Ablehnung von Autoritäten, die radikale Innenleitung und die Orientierung an den „Grundwahrheiten“; auf der anderen Seite sieht Thomasius jedoch auch, daß ein „Ober=Herr“ bzw. ein Fürst seine eigene Rede sehr wohl gegen Regeln auslegen kann (Thomasius: Ausübung der Vernunftlehre, S. 42, 165, 197, 227). Vgl. insgesamt den Abschnitt zur „Interpretatio“ bzw. „Auslegung“ (Thomasius: Ausübung der Vernunftlehre, S. 163ff.). Vgl. zu Thomasius’ Ort in der Geschichte der Hermeneutik: Danneberg: Die Auslegungslehre des Christian Thomasius in der Tradition von Logik und Hermeneutik. Das ungewöhnliche Moment von Thomasius’ Hermeneutik besteht demzufolge in der Berufung auf Wahrscheinlichkeit bei der Auslegung (i. U. zur bloßen Worterklärung) (ebda., S. 299ff.; vgl. auch Madonna: Die unzeitgemäße Hermeneutik Christian Wolffs, S. 33.). Thomasius: Ausübung der Vernunftlehre, S. 14.
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tion des Kritisierten.189 Zum zweiten läßt sich die Vernunftlehre aber auch allgemein als Reaktion auf eine Umbruchssituation lesen, in der sich klare Orientierungen nur schwer finden lassen. Die Entprivilegisierung von Standpunkten korreliert der Ausrichtung am Wahrscheinlichen.190 Von hier aus führt ein Übergang zum zweiten Bildfeld, auf das ich eingehen möchte, denn daß Thomasius kritische Kommunikation im Bild des Kriegs faßt (z. B. MG III, 8ff.) leuchtet ein, zumal der hofkritische Diskurs sich ebenfalls gern dieses Bildfelds bedient: „Das Leben am Hof“, so La Bruyère, „ist ein ernsthaftes, melancholisches Spiel, das Aufmerksamkeit erfordert: man muß seine Geschütze und Batterien gut aufstellen, einen festen Plan haben, ihn befolgen, denjenigen seines Gegners durchkreuzen, manches Mal wagen und mit Phantasie spielen [...]“.191 Der kritische Diskurs greift den Kriegsvergleich in virtuosen Variationen auf, wenn etwa von Festungen aus Regeln die Rede ist, auf deren Mauern ihre Erbauer liegen192, wenn Schutzsicherungen an Überläufer gegeben werden (SCPS 2, 72) oder „corsarenmäßige Caperey[en]“ zu verzeichnen sind.193 In wünschenswerter Offenheit erklärt Georg Friedrich Meier, dessen Kritikverständnis relativ friedlich ist, die „Critischen Kriege“ seien die Voraussetzung für die geschmackliche Bildung des Publikums194, worin er mit den Schweizern, die sich wesentlich gewalttätiger geben, übereinstimmt (2.1; 3.2.1 a): Ohne Lärm und Streit, behauptet Breitinger, komme die Wahrheit nicht ans Licht.195 Die konzeptionelle Funktion des Krieges, der zum kulturellen Paradigma für die kritische Kultur avanciert, hat ihre (Vor-)Geschichte. Dazu gehört beispielsweise der sportliche Dichterwettkampf nach den Regeln der imitatio/aemulatio-Lehre196 – infolge der nurmehr auf Umwegen möglichen Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart ver_____________ 189 So Thomasius dort in der Widmungsvorrede (Ausübung der Vernunftlehre, unpag.). 190 Zum hermeneutikgeschichtlichen Vorlauf vgl. Danneberg: Die Auslegungslehre des Christian Thomasius in der Tradition von Logik und Hermeneutik, S. 268ff. 191 La Bruyère: Charaktere. Erster Bd., S. 327f. 192 Litterarische Pamphlete, S. 51. 193 Belustigungen des Verstandes und des Witzes, 1743, Heumonat, unpag. (Vorrede) – es geht um den Publikationsort von Friedrich von Hagedorns Ode Der Weise. 194 Meier: Abbildung eines wahren Kunstrichters, S. 1f. 195 [Breitinger]: Vertheidigung der Schweitzerischen Muse, Hrn. D. Albrecht Hallers, S. 132f. 196 Vgl. z. B. Quintilian: Ausbildung des Redners. 2. Teil, X, 2, 9. Vgl. insgesamt zur „Agonistik“ als literarisches Konzept den entsprechenden Artikel in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd.1, Sp.261-284, sowie den Art. „Agon, agonal“ in: ebda., Sp.112f. In diesem Kontext könnte man auch die spezifische Negativitätsform der ars disputandi als „eines geistigen Turniersports“ einordnen, die bedrohliche Streitformen durch vielfache Regelungen ausschließt, sowie die Entwicklung, die – charakteristischerweise im Rahmen der Kontroverstheologie – diesen regulatorischen Rahmen durch die Verpflichtung auf den Kampf für die Wahrheit durchbricht (Barner: Barockrhetorik, S. 393ff., Zitat S. 394).
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schärft sich dieser Dichterkrieg zum Bücherkrieg, wie ihn beispielsweise Jonathan Swifts Ausführlicher und wahrhaftiger Bericht über die Schlacht zwischen den alten und modernen Büchern, ausgefochten am vergangenen Freitag in der Königlichen Bibliothek (1704) beschreibt.197 Die Gewalt eskaliert auch deswegen und nimmt die Form des Krieges an, weil Dichter nun allmählich so originell und einzigartig sein müssen, daß sie sich dabei gegenseitig im Weg stehen. Die Abwendung von der imitatio führt im Zuge der Temporalisierung zum Krieg auf dem Parnaß und zu einem „bürgerlichen Krieg in der gelehrten Welt“ in der ‚Querelle des anciens et des modernes‘ um die Vorbildhaftigkeit der Antike und die eigengesetzliche Legitimität der Neuzeit.198 Der Krieg gewinnt daher seine Plausibilität als kulturelles Paradigma nicht nur aus der von den Zeitgenossen konstatierten Unübersichtlichkeit, sondern zudem aus den darin eingelagerten Konkurrenzverhältnissen. Die Marktförmigkeit der literarischen Kommunikation hängt hier eng mit jenem unruhigen, auf sich selbst bezogenen und selbstkritischen Subjekt zusammen, das die psychischen Korrelate der Kritikkultur im Sinne der Potentialisierung von Positionen und Beziehungen ausbildet. Das 18. Jahrhundert diskutiert vor diesem Hintergrund das Problem der „Schrift“ und die mit der „Schrift“ verbundene „Gewalt“199 als historisch abgeleitete, medial bedingte Erfahrung der Ablenkung vom modernen Phantasma der Selbstmächtigkeit, als Erfahrung des Entgleitens und der Unkontrollierbarkeit der „Schrift(en)“ durch die Verlängerung und Verzweigung von Abhängigkeitsverhältnissen im Prozeß der Modernisierung. Die Zusammenhänge werden in Friedrich Just Riedels Briefen über das Publikum (1768) transparent, und zwar angesichts einer Situation in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in der sich ihm die Ordnung des Literaturbetriebs in „völlige Anarchie“ aufzulösen scheint, in der es ums Ausrotten und Töten geht und in der durch die „geheimen Verbindungen unserer Schriftsteller und Kunstrichter unter einander [...] ein Krieg aller _____________ 197 Swift: Ausführlicher und wahrhaftiger Bericht über die Schlacht zwischen den alten und modernen Büchern. Es könnte seine guten medien- und institutionengeschichtlichen Gründe haben, daß im Spanien des 17. Jahrhunderts die „Bücherschlacht“ sowie die damit zusammenhängenden Konzepte (wie z. B. der Dichterkrieg) erfunden und diese Motive von dort in die europäischen Literaturen importiert werden, aber erst im 18. Jahrhundert auch in Deutschland ankommen (vgl. dazu die Motivgeschichte von Achim Hölter: Die Bücherschlacht). 198 Vgl. dazu: Kapitza: Ein bürgerlicher Krieg in der gelehrten Welt. Vgl. auch: Dahnke / Leistner: Von der „Gelehrtenrepublik“ zur „Guerre ouverte“; Dahnke: Wandlungen in Wesen und Funktion öffentlicher literarischer Debatten und Kontroversen zwischen 1780 und 1810. Als Fallstudie zum Zusammenhang von Gewaltsteigerung und Kommunikationsverhältnissen: Barner: Autorität und Anmaßung. 199 Derrida: Grammatologie, S. 175, 197.
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wider alle“ im Gang ist.200 Die Bestimmung des idealen Kritikers markiert dabei erneut die Übergänglichkeit von privat- bzw. hofpolitischem und kriegerischem Diskurs: „Dieser Kunstrichter ist, fast wie Thomasens Politicus, ein Mensch ohne Freunde, ohne Feinde und ohne Verbindungen, unbekannt, ohne Amt, entfernt von der Welt und sitzend in einem Winkel, aus welchem er geruhig umherschauen kan“.201 Entscheidend ist dabei, daß der anarchische Zustand mit der Invisibilisierung der Kriterien und folglich der Unvermittelbarkeit des Urteilsprozesses einhergeht: „Ich weiß es, daß Leßing, Klopstok, Wieland, Gleim, Rabener gute Scribenten sind; aber wie soll ich es einem andern beweisen, der nicht in meine Brust schauen und in der seinigen nicht fühlen kan?“202 (3.3) Der Krieg fungiert als kulturelles Paradigma einer kritischen Kommunikationslage, die von den Beteiligten als unkalkulierbar bedrohlich empfunden wird. Distanzkommunikation kann daher als Parallelfall der Unkontrollierbarkeit kriegerischer Bedrohung mittels Bildern der Camouflage, Spionage, Bündnispolitik und Gefechtstaktik konzeptionalisiert werden.203 So beschreibt, um ein weiteres willkürlich herausgegriffenes Beispiel zu zitieren, Samuel Gotthold Lange eine Episode aus dem ‚Dichterkrieg‘ der Aufklärung in einem Brief vom 12. April 1745 an Johann Jakob Bodmer mit militärischen Vokabeln: Es war ein glückliches Schicksal für die Feinde des guten Geschmacks, daß Ihre Zuschrift an uns von 1740. aufgefangen worden; denn wenn sie uns richtig zugekommen wäre, so hätten ohne Zweifel unsere vereinigten Arbeiten in den critischen Sammlungen einen noch weit grausamern Riß in den Heerzügen des Midas und der Dummheit gemacht, als ohne das geschehen ist.204
Im Dichterkrieg des 18. Jahrhunderts, wie ihn die Belustigungen des Verstandes und des Witzes 1741 in drei Fortsetzungen beschreiben, stehen nachrichtentechnische Probleme weit oben auf der Problemliste. In dieser Satire versucht die „Göttinn der Zwietracht“, das eigentümlich verschlafen-friedliche Reich der Dichter in Aufruhr zu versetzen – „die Völker in Europa rüsten sich, [...] die Gelehrten selbst sind streitbar untereinander“, _____________ 200 Zur Auseinandersetzung um die Polemik in der Aufklärung vgl. Oesterle: Das „Unmanierliche“ der Streitschrift – das hier vorgestellte Material scheint mir allerdings zu zeigen, daß sich keine deutliche Verlaufskurve von einer ‚friedlichen’ zu einer ‚gewaltsamen’ Kritik oder umgekehrt zeigen läßt, sondern daß dieser Streit das ganze 18. Jahrhundert über anhält und von verschiedenen Positionen immer wieder differenziert entschieden wird (vgl. z. B. Kap. 3.2.1). 201 Riedel: Briefe über das Publikum, S. 94, 106, 110f. 202 Riedel: Briefe über das Publikum, S. 117. 203 Das ist freilich nicht die einzige Möglichkeit – vgl. beispielsweise zur „bellikosen“ Redeweise im literarischen Diskurs als Ausdruck ökonomischer Durchsetzungsprobleme: Martens: Zur Metaphorik schriftstellerischer Konkurrenz 1770-1800. 204 Lange: Sammlung gelehrter und freundschaftlicher Briefe. Erster Theil, S. 113.
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und die Poeten sollen nun ebenfalls „in Harnisch“ gebracht werden, „koste es auch soviel Thränen, Schimpfworte, Stachelschriften, Papier und Druckerfarbe, als es immermehr wolle!“205 Bedeutsam ist dabei: Zum einen wird Merbod (d. i. Johann Jakob Bodmer) auf Betreiben der personifizierten (falschen) „Critik“ zum Kriegsverursacher; zum zweiten führen die Dichter ihren Krieg mit den Waffen „Tinte“ bzw. „Druckerfarbe“ und „Papier“ unter Mithilfe des „Waffenträgers“ Relo (d. i. Bodmers Neffe und Verleger Hans Conrad Orell).206 Die Satire nennt damit zwei der entscheidenden medien- und institutionsgeschichtlichen Momente für die Steigerung der Gewalt vom Wettkampf zum Krieg im Reich der Literatur: die Verbreitung und Durchsetzung der Technik und Ökonomie des Buchdrucks sowie die Autonomisierung des Literaturbetriebs (im Sinne eines sich spezialistisch bearbeitenden Zusammenhangs) – beides gewinnt im Laufe des 18. Jahrhunderts semantisch für die Selbstbeschreibung207 und damit für die Konstruktion des „Dichterkrieges“ an Relevanz. Nicht umsonst also hat man bereits am Anfang der Gutenberggalaxis im Buchdruck ein militärisches Instrument gesehen: das trojanische Pferd;208 und nicht umsonst werden der Buchdruck und die Erfindung des Schießpulvers als Beginn einer neuen Zeitrechnung gelesen,209 denn die Druckschrift als Medium der Distanzkommunikation erhöht die Unübersichtlichkeit ebenso wie die durch Schießpulver ermöglichte Fernwaffentechnik. So bestimmt Johann Gottfried Herder den „Geist der Zeit“ sei_____________ 205 Der Dichterkrieg. Erstes Buch. In: Belustigungen des Verstandes und des Witzes. Heumonat, Leipzig 1741, S. 49-66, S. 52. Die Fortsetzungen finden sich ebda. Brachmonat, Leipzig 1742, S. 518-541, Wintermonat, Leipzig 1742, S. 434-463. 206 Der Dichterkrieg. Erstes Buch (Belustigungen des Verstandes und des Witzes. Heumonat, Leipzig 1741, S. 49, 54, 66). 207 Hierzu und zum folgenden: Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert, S. 325ff., 351f., 359ff. Zur Verbindung von „Kritik“ und „Buchdruck“ vgl. Gieseke: Der Buchdruck der frühen Neuzeit, S. 595f. 208 Gieseke: Der Buchdruck der frühen Neuzeit, S. 168; zum Problem der Unkontrollierbarkeit auch ebda., S. 185ff. 209 Francis Bacon schreibt in Novum Organum: „[...] die Buchdruckerkunst, das Schießpulver und der Kompaß. Diese drei haben [...] die Gestalt und das Antlitz der Dinge auf der Erde verändert [...], und es scheint, daß kein Weltreich, keine Sekte, kein Gestirn eine größere Wirkung und größeren Einfluß auf die menschlichen Belange ausgeübt haben als diese mechanischen Dinge“ (Neues Organon. Teilbd.1, S. 271). Jean Fernal sieht 1548 in De abditis rerum causis ein „Neue[s] Zeitalter[ ]“ markiert durch „die Weltumseglung, die Entdeckung des größten Kontinents der Erde, die Erfindung des Kompasses, die Verbreitung des Wissens durch die Druckpresse, die Revolutionierung der Kriegskunst durch das Schießpulver, die Rettung antiker Handschriften, die Wiederbelebung der gelehrten Forschung [...]“ (zit. nach: Marie Boas: Die Renaissance der Naturwissenschaften 1450-1630. Das Zeitalter des Kopernikus, Gütersloh 1965, S. 19). Carl Gustav von Hille bildet 1647 eine Reihe mit den Elementen: Erfindung der Uhr, der Geschütze, der Druckkunst sowie Umgang mit Magneten (Der Teutsche Palmbaum, S. 9).
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nes „redende[n] und schreibende[n] Jahrhundert[s]“ in einer Schulrede von 1798 ebenso vielsagend wie optimistisch, wenn er den „Krieg“ als historischen Motor durch das „Wort“ ersetzt sieht. Die Worte allerdings, zumal in ihrer zeitgemäßen medialen Form, agieren nicht weniger gewalttätig als die Heere: „Noch mehr beförderte und wirkte das geschriebene, das gedruckte Wort; wie Schießpulver flog es in den einzelnen Blättern umher und zündete allenthalben“.210 Orientierungslosigkeit prägt die Lage der Produzenten und der Rezipienten – „in Büchern spricht alles zu allem; niemand weiß, zu wem“211 –, entsprechend unheroisch fallen die Angriffe der Kritiker aus, gezeichnet von „Hinterlist, Schimpf, niedrige[m] Gewerbe und Feigheit“. Zugleich dehnt sich die zeitliche Dimension und macht damit den Bildbereich der Gerichtsverhandlung erneut wenig hilfreich: Das Publikum der Schriftsteller ist also von eigner Art, unsichtbar und allgegenwärtig, oft taub, oft stumm und nach Jahren, nach Jahrhunderten vielleicht sehr laut und regsam. Verloren und doch unverloren, ja unverlierbar ist, was man in seinen Schoß schüttet. Man kann nie mit ihm abrechnen; sein Buch ist nie geschlossen, der Prozeß vor und mit ihm wird nie beendet; es lernt immer und kommt nie zum letzten Resultat.212
Schießpulver und Buchdruck symbolisieren die Kontingenz des Betroffenseins, beide orientieren sich nicht an der Sozialposition einer Person, beide untergraben eine auf Hierarchie angelegte Diskursordnung. Daher brandmarken Ariosts Orlando furioso und Miltons Paradise Lost das Pulver als teuflische und umstürzlerische Erfindung, die die Rangfolge von „Schlechten“ und „Wackern“ untergräbt und damit nicht weniger unglückselige Wirkungen mit sich bringt als „Evas Apfel“.213 Daß gerade die Eposdichter gegen den neuen Krieg Front machen, ist nur konsequent, da dieser die Zeit der Helden beendet und die Zeit unpersönlicher Mächte (wie z. B. des Geldes) einläutet,214 auch wenn in der Renaissance durchaus _____________ 210 211 212 213
Herder: Journal meiner Reise im Jahr 1769. Pädagogische Schriften, S. 768. Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität. Bd.1, S. 313. Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität. Bd.1, S. 314, 316. Ariost: Der rasende Roland. Bd.I, S. 203 (9, 90f.), 241f. (11, 21ff.); Bodmer: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie, S. 67f., 71. Vgl. zu Ariost: Burke: Die Geschicke des Hofmann, S. 48. Auch Grimmelshausens verzeichnet die Umkehr von Ordnung durch das Pulver, wenn Simplicius als „Kind“ doch einen volltauglichen Soldaten abgiebt: „Aber diese Ursach macht mich so groß / daß jetziger Zeit der geringste Roß-Bub den allerdapffersten Helden von der Welt todt schiessen kann / wäre aber das Pulver noch nit erfunden gewesen / so hätt ich die Pfeiffe wohl im Sack müssen stecken lassen“ – im Simplicissimus setzt sich jedoch die alten Ordnung insofern durch, als das Verhalten des Titelhelden zwar zeitweise erfolgreich ist, dann aber als Selbstüberhebung entlarvt wird, die zu entsprechend negativen Konsequenzen führt (Grimmelshausen: Werke. Bd.I/1, S. 289). 214 Fielding: Das Journal einer Reise nach Lissabon, S. 52f. Friedrich der Große schreibt: „Seit die Erfindung des Schießpulvers das System der gegenseitigen Vernichtung von Grund auf verändert hat, erscheint auch die Kriegskunst in ganz anderer Gestalt. Körperkraft, das
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positiv auf die neue menschliche Kontrollgewalt durch Feuerwaffen reagiert wurde.215 Traditionell gilt die Artillerie als ‚bürgerliche‘ und – wie andere Fernwaffen – als eher geringzuschätzende Waffe.216 Der vom Schießpulver geprägte Krieg teilt mit der Philosophie und der Kritik eine distanzkommunikative Semantik, für die das „Vorurtheil des Ansehens“217 keine Anknüpfungspunkte bietet. Daher ist dieser Krieg für Hegel eine Erscheinung, die dem „Prinzip der modernen Welt“ korreliert: Das Prinzip der modernen Welt, der Gedanke und das Allgemeine, hat der Tapferkeit die höhere Gestalt gegeben, daß ihre Äußerung mechanischer zu sein scheint und nicht als Tun dieser besonderen Person, sondern nur als Gliedes eines Ganzen, – ebenso daß sie als nicht gegen einzelne Personen, sondern gegen ein feindseliges Ganze überhaupt gekehrt, somit der persönliche Mut als ein nicht persönlicher erscheint. Jenes Prinzip hat darum das Feuergewehr erfunden, und nicht eine zufällige Erfindung dieser Waffe hat die bloß persönliche Gestalt der Tapferkeit in die abstraktere verwandelt.218
Für die konzeptionelle Normalisierung des Kriegs in der frühen Neuzeit, die den Souveränitätsdiskurs unterläuft,219 gilt wie für die Übertragung des Kriegs auf Kommunikationsprozesse, daß das Hobbessche Modell des „Kriegs aller gegen alle“ nicht wirklich den Kern des Problems zu greifen bekommt. Der kritische „Krieg aller gegen alle“220 läuft nämlich gerade nicht auf eine Befriedung durch die Einsetzung des Souveräns zu. Dieses Telos wird vielmehr durch die kritische „Freyheit“ ersetzt: „Weil, in dem Reiche der Critik, kein Pabst, kein Tyran, und Souverain stat findet, so herrscht in demselben eine allgemeine critische Freyheit“.221 Das Spezifikum dieses literaturkritischen Kriegsdiskurses liegt entsprechend in der Aufhebung des Vertrauens in einen übergeordneten Standpunkt (z. B. des Philosophen oder Juristen) im Perspektivismus unumgänglicher Parteilichkeit. Es ist in der Tat „ein Diskurs der Perspektive“ – wenn man eine Positionen bezieht, dann immer schon gegen eine andere Position.222 Daß _____________
215 216 217 218 219 220 221 222
Hauptverdienst der alten Helden, gilt heute nichts mehr. List siegt jetzt über Gewalt, Kunst über Tapferkeit. Der Kopf des Heerführers hat mehr Einfluß auf den Erfolg eines Feldzuges als die Arme seiner Soldaten. Klugheit bahnt dem Mute die Wege; die Kühnheit bleibt für die Ausführung aufgespart. Wer den Beifall der Kenner erringen will, muß noch mehr Geschicklichkeit als Glück haben“ (Friedrich der Große: Betrachtungen über die militärischen Talente und den Charakter Karls XII., Königs von Schweden, S. 553). Wind: Heidnische Mysterien in der Renaissance, S. 130f. Stumpf: Carl von Clausewitz, S. 711; Creveld: Die Zukunft des Krieges, S. 126ff. Bemühungen zur Beförderung der Critik und des guten Geschmacks, 1743, 1. St., S. 29. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 283 (§ 328). Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft, insbes. S. 59ff. Neben der oben zitierten Stelle vgl. auch Bayle: Historisches und Critisches Wörterbuch. Bd. II, S. 108. Meier: Abbildung eines wahren Kunstrichters, S. 206. Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft, S. 61, 63.
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der emphatische Begriff des Autors sich gerade zu jenem Zeitpunkt herausbildet, als tatkräftiges Heldentum einer vergangenen Zeit angehört, ist aus diskursanalytischem Blickwinkel weniger paradox als vielmehr konsequent, denn „das Individuum ist [...] nicht das Gegenüber der Macht; es ist eine ihrer ersten Wirkungen“.223 Gerade die Entsubstantialisierungen von Beziehungen bringt die Phantasmen der Nähe und Intimität hervor224, gerade die Auslieferung des Einzelnen an die unübersehbare Vielfalt der Anderen in der Distanzkommunikation die Phantasmen von Schöpfertum und Eigensinn (2.1). Dieser konfliktäre Zuschnitt des Literaturbetriebs überdauert auch die programmatische Wende von der ‚Gesellschaft als Krieg‘ zur ‚Gesellschaft der Friedfertigen‘ im 18. Jahrhundert, die ja ohnehin das Mißtrauen in mögliche Verstellung nicht auszuräumen vermag, wenngleich die Entlarvungskunst jetzt nicht mehr als Teil der conservatio sui, sondern als Teil einer aufs Allgemeinwohl bedachten Handlungsrolle fungiert.225 Dieser Wechsel läßt sich – stark schematisiert – als Übergang von einer auf den Souverän zulaufenden Ordnung zum Sicherheitsdispositiv verstehen, das Risiko, Fehler und Mißstände als Normalität akzeptiert.226 Adam Müller entwirft dabei 1810 im Blick auf den Literatur- und Gelehrtenbetrieb eine neue Pazifizierungsstrategie: Der jetzt herrschende, aller wahren Wissenschaft abgewendete, hyperkritische Geist der Gelehrten, der Krieg aller gegen alle, die fruchtlose Zersplitterung der literarischen Republik ist nicht anders zu beschwichtigen, ein Verein unter Gelehrten nicht anders zu errichten und dem gelehrten Stande nicht anders seine Ehre zurückzugeben, als durch den Staat, durch ein gemeinschaftliches, bestimmtes, praktisches Ziel, welches diesen entzweiten Wissenschaften vorgehalten wird.227
Wenn die Konturen einer eindeutig zurechenbaren und in einer Person repräsentierten Macht durch die Verbreitungsmedien und im „Wechsel von der Interaktion zur Kommunikation“228 verschwimmen, erscheint Staatsbürgerschaft und damit die Orientierung am konkreten Allgemeinen als eine zeitgemäße Möglichkeit, den Eindruck des Anarchischen zu bewältigen. _____________ 223 Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft, S. 37, 39. 224 So ließe sich die grundlegende These von Koschorkes „Mediologie des 18. Jahrhunderts“ formulieren (Körperströme und Schriftverkehr). 225 Geitner: Die Sprache der Verstellung, S. 36ff. Generell gilt es bei dieser historischen Entwicklungslogik die oben angedeutete ‚altdeutsche’ Kritik am Verstellungsdiskurs nicht zu vernachlässigen (vgl. Beetz: Negative Kontinuität). 226 Vgl. dazu Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I, z. B. S. 73ff. 227 So im „Beschluß“ der Freimüthigen Gedanken bei der Gelegenheit der neuerrichteten Universität in Berlin in den Berliner Abendblättern vom 4. 10. 1810. 228 Maresch / Werber: Vorwort, S. 7ff.
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Die Aufklärung versteht sich mit Kant als „Zeitalter der Kritik“ – um auf den Beginn dieses Kapitels zurückzukommen –, und diese Kritik begibt sich, so scheint es dem Königsberger zumindest für den Bereich der Philosophie, auf einen „Kampfplatz“ der „endlosen Streitigkeiten“, um dort die „despotisch[en]“ Herrschaftsverhältnisse zu beenden.229 Aber die Verabschiedung der „Machtsprüche“ zugunsten jener scheinbaren Friedlichkeit des besseren Arguments bleibt ein kriegerischer Akt. Die Unterscheidung einer ‚falschen‘ kriegerischen von einer ‚wahren‘ friedlichen Kritik ist eine Karte, die von jeder Position aus gespielt werden kann. Und so erklärt die ‚wahre‘ und damit ‚neue‘ Kritik der Aufklärung zur programmatischen Einleitung der von Kant auf den Begriff gebrachten Epoche allen Nachlässigkeiten offen und ohne Umschweife den Krieg: [...] we presume [...] to declare open War against those indolent supine Authors, Performers, Readers, Auditors, Actors or Spectators; Who making their humour alone the Rule of what is beautiful and agreeable, and having no account to give of such odd fancy, reject the criticizing or examining Art, by which alone they are able, to discover the true beauty and worth of every Object.230
Die Vorstellung vom Krieg fasziniert die Beobachtung der Poesie als Exempel für Informations- und Kommunikationsprobleme und dadurch bestimmte Gewaltsamkeiten. Als Modell gewinnt der Krieg zu jenem Zeitpunkt zunehmend paradigmatische Qualitäten, als die Kommunikationsverhältnisse sich in der Rekonstruktion der Beteiligten zeitlich und räumlich ins Unübersichtliche vervielfältigen und als diese Unübersichtlichkeit als Bedrohung wahrgenommen wird. Die quantitative Expansion der Gutenberggalaxis führt zu einer qualitativen Veränderung der Kommunikationsverhältnisse oder zumindest zur Anerkennung der schon zuvor von außen feststellbaren Komplexität. Das Publikum verliert für die Akteure seine eingebildete direkte Ansprechbarkeit, denn selbst mögliche Adressierungen gehen in der Anonymität ins Leere, und entsprechend müssen Bücher potentiell für jeden (für den „Menschen“) interessant sein.231 Zugleich läuft jedes Buch Gefahr, von einer positionsreichen und immer weniger voraussagbaren Literaturkritik bearbeitet zu werden. Zwar mag die Herausbildung eines literarischen Teilsystems Komplexität reduzieren, indem sie mehr oder weniger klar Zuordnungen erlaubt und beispielsweise die Kriterien zur Behandlung eines poetischen von derjenigen eines theologischen Textes weitgehend unumstritten unterscheidet. Gleichwohl entzerrt die „Neuordnung von Zeit und Kultur“ durch die (Druck-)Schrift Aktion und Reaktion mit den Folgen (potentiell) wach_____________ 229 Kant: Kritik der reinen Vernunft, A VIIIf., XI. 230 So Shaftesbury, zitiert nach: CD I, S. 280. 231 Vgl. zum Zusammenhang von ‚Literalisierung’ und ‚Humanität’ Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 188.
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sender und weniger kontrollierbarer Meinungsvielfalt. Die Möglichkeiten des Mißverstehens steigen mit den Möglichkeiten des Verstehens,232 und das heißt mit der immer neuen Möglichkeit zur Negation von Negationen oder Positionen, die die Negationssemantik von Grund auf ändert.
2.5 Die Etablierung von Negativität im literarischen Diskurs Die Versuche, Fernkommunikation im Bild der Gerichtsverhandlung, des Hoflebens oder des Kriegs zu konzeptionalisieren, bereiten der Akzeptanz von kritischer Negativität den Boden.233 Sie führen unübersehbar vor Augen, daß die Stabilität einer hierarchisch gegliederten Welt mit entsprechend klaren Orientierungen, Einschlüssen und Ausschlüssen ein vielleicht wünschenswert einfaches (literarisches) Leben garantiert, aber den Realitäten einer literalisierten Kultur nicht angemessen ist. Dieser Einsicht entsprechen Techniken des Unsicherheitsmanagements – allen voran die Temporalisierung von Autor und Werk (2.4) –, die als stets mögliches oder sogar wahrscheinliches Pendant einer Position die Negation setzen. Wer schreibt, muß mit Gegenschrift rechnen. In einem letzten Schritt will ich den Prozeß zunehmender Kritisierbarkeit und damit wachsender Akzeptanz von Negativität im literarischen Diskurs als Effekt der konzeptionellen Durchsetzung von Schriftlichkeit interpretieren. Die basalen medialen Voraussetzungen einer Streitkultur liegen in der Entwicklung der Sprache, genauer in der Entwicklung der sprachlichen Möglichkeit, etwas zu negieren, da sich von diesem Zeitpunkt an für alles eine „positive“ und eine „negative“ Fassung anbieten läßt.234 Auch hier entwirft Sokrates ein erstes Szenario: Wenn du dir selbst ein Urteil gebildet hast und mir nun deine Vorstellung davon mitteilst, so muß nach Protagoras’ Behauptung für dich zwar dies Wahrheit sein; steht es aber uns anderen nicht frei, auch wieder Richter zu sein über dein Urteil, oder urteilen wir, daß du dir immer das Richtige vorstellst? Und werden nicht vielmehr in jedem Fall unzählig viele gegen dich streiten, die sich das Gegenteil vorstellen und glauben, daß du falsch meinst und urteilst?235
Kritik sowie die „in jedem Fall“ erfolgende Kritik der Kritik tun genau das, was sie verhindern wollen, sie öffnen einen Raum der Möglichkeiten, _____________ 232 Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 258f., 269; McLuhan: Die GutenbergGalaxis, S. 164. 233 Als Kurzfassung des folgenden Gedankengangs vgl. Verf.: Negativität im literarischen Diskurs um 1700. 234 Zum folgenden vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 221f., 225f., 958. Weyrauch: Das Buch als Träger der frühneuzeitlichen Kommunikationsrevolution, S. 12. 235 Platon: Theaitet, S. 67f. (179).
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in dem Positionen (und Negationen) befragbar sind (wobei diese Fragen wiederum befragt werden können). Die Schrift wirkt dann als Katalysator bei der Hervorbringung von Irrtum und Täuschung als stets bestehende Möglichkeiten, die sich nurmehr mühsam und temporär durch Unfehlbarkeit verdrängen lassen. „Gedruckte Stücke veranlassen Anmerkungen und Kritiken [...]“, erklärt J.E. Schlegel in seinen Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters,236 und tatsächlich konnte man bereits bei Scaliger bemerken (2.2): Schrift „stimuliert geradezu zweite Gedanken und Kritik“.237 Denn auch wenn Scaliger im Kontext der rhetorischen Kultur die Kritik auf Positivität, also auf die lesende Ausbildung des Schreibers, verpflichtet, so kritisiert er doch im Blick auf vorangegangene Kritiken, und er provoziert weitere Kritiken, die sich gerade gegen die Rigidität seiner Kritik wenden.238 Genau daran aber sieht man, daß Schrift nicht zur Redeverknappung, sondern zur Vervielfältigung von Positionen anhält (3.3).239 Für den Fall der medialen Fixierung von Meinungen gilt die Multiplikation bis hin zum Unzähligen. Der Verlust an ‚Ontizität‘ und damit die Möglichkeit, schriftlich Gedanken zu entwickeln, die man mündlich zurückhalten würde und deren Verteidigung man in direktem Austausch kaum durchhalten könnte, führt zu Unsicherheit und Meinungskampf – darin liegt die multiplikatorische Potenz des Buchdrucks. Die Erhöhung der Kritikmöglichkeit durch schriftliche Fixierung, die unter Umständen von der faktischen Kritik nicht eingeholt werden kann, weil die Zunahme an Büchern die Chancen verringert, daß Zeit zur Kritik beim extensiven Lesen bleibt, die Erhöhung der Kritikmöglichkeit also bedeutet zunächst eine quantitative, ab einem bestimmten Punkt jedoch auch eine qualitative Veränderung. Sobald Negationen und Positionen verschriftlicht und somit gesammelt und präsent gehalten und nicht – wie in der mündlichen Rede – sogleich wieder vergessen oder allenfalls dem unzuverlässigen Speicher des menschlichen Gedächtnisses anvertraut werden können, steigen die Vielfalt potentieller Betrachtungsvarianten und die Möglichkeiten zur Ablehnung. Schrift erzeugt einen Überschuß an _____________ 236 Schlegel: Canut, S. 111. 237 Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 178f. Vgl. auch einen Passus bei Harsdörffer: Beim ‚stillen Lesen’ kann man demnach „eine Sache mit viel reiffern Bedacht lesen / aus den Figuren erkennen / der Sachen nach sinnen / und es zu Sinne fassen / da die flüchtige Rede / bestehend in ihrer Unbeständigkeit / verschwindet / und hat man nicht Gelegenheit zu allen Zeiten nachzufragen / wie man mit den Verstorbenen aus den Büchern reden kann“ (Delitiae Philosophicae et Mathematicae. Bd. 3, S. 21). 238 Reineke: Julius Caesar Scaligers Kritik der neulateinischen Dichter, S. 20, 32f., 111, 496; Scaliger: Poetices libri septem. Bd. VI. Buch 5, S. 64f.; Vogt-Spira: Einleitung, S. 26, 28. 239 Zum Traditionsaufbau, also zur umgekehrten Funktion der Druckschrift in der Frühen Neuzeit vgl. Stöckmann: Vor der Literatur, insbes. S. 236, 366 – folglich kann von der „Reinheit eines medialen Aprioris“ nicht die Rede sein.
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Bedeutung, gleichsam eine Verhandlungsmasse von Meinungen, die Konflikte wahrscheinlich macht und daher auf eine entsprechende soziale Akzeptanz von Konflikten oder sogar auf deren Prämierung angewiesen ist. In diesem Sinn ist „Kritik“ eine „Folge“ des Buchdrucks, der die Verbreitung von Schrift befördert. Erst hier bekommt „Kritik“, auch und gerade als bloßes „Ablehnen“ gedacht, einen festen Ort. Der Tadel erscheint als positive Qualität, weil im Laufe der Mediengeschichte die Schrift als relativ stabiles Medium der Kommunikation Sinn und damit ‚Gegensinn‘ wuchern läßt, bis sich diese Reflexionen nicht mehr (etwa durch Kritik an der Kritik) als Unfall der Diskursgeschichte verbuchen lassen – bereits Thomasius versichert, er würde die Kritik an seiner Kritik drucken.240 Auf dem erreichten Niveau von Kritisierbarkeit drängt die durch Schriftlichkeit (als vervielfältigende Bereitstellung ablehnbarer Positionen) gewachsene Wahrscheinlichkeit von Negation auf eine konstruktive Antwort. Weil die Aufklärung sich an diese Aufgabe macht, erscheint sie als „Zeitalter der Kritik“.241 Die Vermehrung des Konfliktpotentials durch Schrift, die Umdeutung des Streits von einem Hemmnis zu einem produktiven kulturellen Faktor und die entsprechende Reflexion des Zusammenhangs von Innovation, Täuschung, Irrtum und Kritik, läßt sich an einer bestimmten Kritikgattung verdeutlichen: den Rezensionszeitschriften zum Rezensieren von Rezensionen. 1714 erscheinen erstmals Christian Gottfried Hofmanns Aufrichtige und Unpartheyische Gedancken, Uber Die Journale, Extracte und Monaths=Schrifften, Worinnen Dieselben extrahiret, wann es nützlich suppliret und wo es nöthig emendiret werden, die immerhin bis 1717 fortgesetzt werden. Auch hier steht eine Tradition im Hintergrund. So veröffentlicht Tanneguy le Fevre 1666 das erste Stück seines Journal du Journal, ou Censure de la Censure, bezieht sich damit allerdings nicht auf das Zeitschriftenwesen insgesamt, sondern auf eine Kritik aus dem Journal des Scavants und richtet dagegen eine gezielte Duplik.242 Bei Hofmann nun interessieren mich weniger die Inhalte der konkreten Besprechungen als vielmehr zum einen der systematische Einsatz einer Kritik zweiter Ordnung sowie zum anderen die konzeptionelle Begleitung dieses Phänomens in den Vorreden zur Theorie der Gelehrsamkeit, mit denen er in der Nachfolge französischer Kritiktheorien243 am Wechsel der Negationssemantik mitarbeitet. Hofmann bestimmt seine Ausgangssituation als eine Lage, in der der sekundäre Diskurs den primären zu überwuchern beginnt. Es gebe, stellt _____________ 240 241 242 243
Woitkewitsch: Thomasius’ „Monatsgespräche“, Sp. 661. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 298, 458, 460f., 466, 472, 493f., 958. Fevre: Journal du Journal (1666). Für diesen Hinweis danke ich Lutz Danneberg. Jaumann: Critica, S. 225f.
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er einem Topos folgend im ersten Stück fest, bald mehr Auszüge aus Büchern und Bücher über Bücher als Bücher (die nicht über Bücher geschrieben werden).244 Das Problem der Exzerptkultur liege in der interessegebundenen Auswahl, und das Problem der kritischen Kultur im Verbergen der „Qvellen derer Urtheile“. Anders gesagt: Hofmann begründet sein Unternehmen einer Kritik zweiter Ordnung, der Überprüfung der Prüfung, mit dem Perspektivismus und der Gefahr von Täuschung. Entsprechend illustriert das zweigeteilte Titelkupfer zum dritten Stück der Gedancken von 1714 erstens das Prinzip „Mundus vult decipi“ und zweitens im Bild eines Journalschreibers die Reaktion „Ergo decipiatur“ (Hofmann selbst versteht sich natürlich als interesseloser Wahrheitsfreund).245 Im Hintergrund steht zum einen die rückhaltlose Vorurteils- und Autoritätskritik in der Tradition von Thomasius, zum anderen aber auch der Versuch einer Disziplinierung von zu harscher Kritik. Hofmann setzt die typische Form einer Zwei-Seiten-Verteidigung in Gang. In der Vorrede De Libertate sententiendi in Republica Eruditorum zum vierten Stück (1714) der Gedancken rechtfertigt er zunächst die „Freyheit des Verstandes“, die sich von außen nicht einschränken lasse. Das legitimiere eine historische Situation, wo „die Erfahrung lehret, daß täglich neue Wahrheiten entdecket werden, die offt von vielen tausend Augen vorhero nicht sind in acht genommen worden“. Der Normalität von Innovation entsprechend stellt er fest, „daß von der Natur die Vernunfft zu nichts andern als einer beständigen Ubung in Beurtheilung gegeben worden etc.“.246 Die Institutionalisierung von „Beurteilung“ (z. B. in Form kritischer Zeitschriften) signalisiert die Potentialisierung von Vernunft („Ubung“). Zugleich verzeichnet Hofmann die gegenstratifikatorische Ausrichtung der Kritik, die erstens das „Ansehen der Personen“ außen vor lasse (Vorurteilskritik) und zweitens ihre Legitimation allein aus der Publizität von Positionen ziehe: „Wer sich die Freyheit nimmt, der Welt seine Paenséen vorzulegen, wird erlauben, daß man ohne zu fragen, wer er ist, von seiner Meinung raisoniret“247 – mit dem aptum-Geboten der Interaktion ist das nicht vereinbar: Die „Vernunfft“ als Instanz hat „kein Ansehen der Personen: Sie raisoniret von Wahrheiten, nicht von Personen [...]“.248 _____________ 244 Vgl. z. B. Montaigne: Essais [Versuche]. Dritter und letzter Theil, S. 343. 245 Aufrichtige und Unpartheyische Gedancken, Uber Die J OURNALE , E XTRACTE und Monaths=Schrifften, 1. St., S. 3, 8f., 10, 13. 246 Aufrichtige und Unpartheyische Gedancken, 1714, 1. St., S. 299ff. 247 Aufrichtige und Unpartheyische Gedancken, 1714, 1. St., S. 310. 248 Aufrichtige und Unpartheyische Gedancken. 1714, 1. St., S. 310.
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Die folgenden Stücke nehmen diese Ausweitung der kritischen Freiheit wieder zurück: Im fünften Stück beschäftigt sich die Vorrede mit der Modestie derer Gelehrten in ihren Schrifften und rät, „weder zu furchtsam, noch allzufrech“ zu Werke zu gehen.249 Wichtig ist jedoch die Begründung, denn die Höflichkeit des Kritikers leitet sich aus der Positivierung des Irrtums ab (ohne irrende Vorgänger, die intellektuelles Neuland erstritten, gebe es keinen Fortschritt den Wissenschaften) sowie aus der strikten Trennung von Wahrscheinlichkeit und Wahrheit. Entsprechend kann Hofmann auch Uneinigkeit zwischen den Gelehrten als selbstverständliche Konsequenz aus der menschlichen Wissensform akzeptieren und muß diese nicht als störendes Problem, sondern kann sie als erkenntnisfördernde Irritation begreifen.250 Die Vorrede De Logomachiis Eruditorum zum achten Stück formuliert das für den Gelehrtenkrieg, also für die aus den Bahnen geratene Form der Uneinigkeit, so: Alle Leute können nicht einerley Gedancken haben: wo nicht einerley Gedancken sind, da entstehen unterschiedene Meinungen, wo diese sind, und die Thorheit derer Affecten darzu kommt, da gehet die Comœdie an, da ziehet man zu Felde, und lässet eine Scarteque nach der andern in die Welt fliegen, darinnen man die Force seines Verstandes will sehen lassen.251
In einer Situation, in der es objektive Maßstäbe kaum mehr gibt, verlagert Hofmann daher verständlicherweise die Urteilskriterien ins Innere des Kritikers. Zum Abschluß des ersten Jahrgangs erklärt er in der Vorrede De Conscientia Eruditorum: Wir leben in einem Seculo da man an allen Sachen zweiffelt: Man darff auch deßwegen unsere Zeiten nicht tadeln. [...] nunmehro hat ein iedweder einen Kopff vor sich; eine Philosophie vor sich, eine Meynung vor sich, und es ist fast zu besorgen, daß man sich es künfftig vor einen Schimpff halten dörffte, wenn man eine Meynung, die ein anderer vor uns gehabt hat, annehmen solte.252
Die konzeptionelle Integration von Wahrscheinlichkeit, Irrtum und Täuschung, mithin der Verzeitlichung begleitet die Internalisierung und Pluralisierung von Maßstäben im Sinn des Wechsels von der frühneuzeitlichen Kultur der Auffälligkeit zu einer modernen Kultur der Unauffälligkeit – die Aufgabe der Aushandlung übernimmt das „Gewissen der Gelehrten“. Diese Unauffälligkeit wird freilich im Wissenschafts- und im Kunstbetrieb auf prima facie entgegengesetzte Weisen in Szene gesetzt: Während nämlich der Wissenschaftler seinen Gewissensentscheid in einer methodisch _____________ 249 Aufrichtige und Unpartheyische Gedancken, 1714, 5. St., S. 384. Zum Modestie-Gebot in den Gelehrtendebatten vgl. Gierl: Pietismus und Aufklärung, S. 560f. 250 Aufrichtige und Unpartheyische Gedancken, 1714, 5. St., S. 386f., 393. 251 Aufrichtige und Unpartheyische Gedancken, 1714, 8. St., unpag. (Vorrede). Zur Logomachie-Kritik vgl. Gierl: Pietismus und Aufklärung, S. 553ff. 252 Aufrichtige und Unpartheyische Gedancken, 1714, 9. St., unpag. (Vorrede).
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kontrollierten Einstellung und einem entsprechenden Habitus (Klarheit und Formalisierung der Argumente, Zurücknahme des Ornatus etc.) einläßt, tritt der literarische Autor als sichernde Instanz eines Textes erst voll ins Rampenlicht. Unauffälligkeit bedeutet gleichwohl auch hier, daß das Wesentliche eines Textes sich nun im Unsichtbaren (dem eingangs zitierten „innern Werth einer Schrift“) und der zum Leitbegriff avancierenden ‚Natürlichkeit‘ verbirgt (2.1, 3.1.1 u. 3.2.2). Die auffällige Paratextur der Barockliteratur gerät in Verruf bzw. wird zum Gegenstand der Satire, der „Vater“ muß der Schrift auf unauffällige Weise mitgegeben werden. Man versteht Hofmanns schwierige Lage, die gleichsam in die Programmatik der Vorreden eingelassen ist, besser, wenn man sich die Verwirrungen der Kritikkultur zu Beginn der Aufklärung an einem weiteren Beispiel vor Augen hält, wobei auch hier die Textperformanz interessiert: 1709 veröffentlicht ein Anonymus in satirischer Reflexion auf die wichtigste frühe deutsche Rezensionszeitschrift, die Acta Eruditorum, die Acta Semi Ervditorvm oder Kurtzer Auszug aus denen Halb gelehrten Schrifften und Chartequen mit denen die Buchläden ausstaffiret Nebst einigen Judiciis was von dergleichen zu halten.253 Wie Hofmann erklären die Acta Semi Ervditorvm zum Grundsatz: „Die Welt will betrogen seyn“. Sie führen das auf die Modeerscheinung der „Politische[n] Kunst“ zurück, erklären zu deren Fachmännern aber gerade nicht die Höflinge, sondern die Gelehrten254 – wiederum also wird das Hofleben zum Paradigma der kritischen Kommunikation (2.4). Aufgrund dieser These zur Simulationsbereitschaft der Gelehrten, so erklärt die „Erste Fortsetzung“ noch im selben Jahr, habe man den Verfasser der Acta Semi Ervditorvm als „Ketzer“ angeprangert: „[...] alle Buchstaben scheinen mir bereits wie grosse Postillen / welche mit denen entsetzlichsten Flüchen wieder diese himmelschreyende Ketzerey angefüllet [...]“.255 Kritik ist ein „Hirngespinnst“, um es mit den Belustigungen zu sagen (2.4). Sie betrifft den literarischen Diskurs potentiell, als Kritisierbarkeit („scheinen“). Die tatsächlichen Kritiken an der Kritik, die noch im Erscheinungsjahr der Acta veröffentlicht werden, beziehen diese Potentialität der Kritik ebenfalls als conditio sine qua non ein, und zwar über den bereits erwähnten Topos: Wer publiziert, kann auch kritisiert werden. Anders gesagt: Hofmann bringt in seinen Gedancken zweiter Stufe nur in Form, was als Struktur öffentlicher Kommunikation die Grundlage jeglicher Selbstbe_____________ 253 Als weiteres Beispiel für die Härte der Auseinandersetzung im Spannungsfeld zwischen Journalistik, Gelehrtenbetrieb und Dichtung vgl. den Streit um den von Christian Friedrich Weichmann betreuten Gelehrten Artikel im Hollsteinischen unpartheyischen Correspondenten in den Jahren 1722 und 1723 (Blühm: Christian Friedrich Weichmann, S. 70ff.). 254 A CTA S EMI E RVDITORVM , unpag. (Vorrede). 255 A CTA S EMI E RVDITORVM . Erste Fortsetzung, unpag. (Vorrede).
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stimmung bildet. Die Dynamik der Etablierung von Negativität kann nur noch in Nachhutgefechten begrenzt werden. Eben auf diese Widersprüche und Reflexionsschleifen provozierende Position begeben sich die Antikritiken. Des Sinceri Benevoli Anmerckungen über Eines ungenandten Satyrici 256 Acta Semieruditorum verkünden lauthals, die „Freyheit der Reipublicæ literariæ“ liege in der Legitimität von Kritik an Publiziertem. Der Verfasser schränkt das freilich sogleich ein, indem er eine der „honnéteté“ angemessene Kritik einklagt, die erstens „mit genugsamen Grund und Bescheidenheit geschehe“ und zweitens nicht durch „Neid und Haß“ motiviert sei. Dies gelte „umb so mehr / wenn er von jenem nicht ist beleidiget worden / auch von dieses Schrifften weder Gefahr noch Schaden in der Theologie und gemeinen Wesen zu besorgen ist“.257 Zwar wird die prinzipielle Legitimität der Kritik nicht angezweifelt, aber mit den Kriterien „raison“ und „Bescheidenheit“258 hält der Antikritiker die Instrumente in der Hand, um – je nach eigener Position – die ‚wahre‘ von einer ‚falschen‘ Kritik zu unterscheiden und damit Kritisierbarkeit zu begrenzen. Die zweite Gegenschrift, des Centorii a Centoriis Wohlgemeynte Erinnerungen An den Naseweisen Autorem der sogenannten Actorum SemiEruditorum, folgt der gleichen Argumentationsdramaturgie: Auf die grundsätzliche Akzeptanz der Kritikmöglichkeit von Veröffentlichtem folgt die Dichotomisierung von ‚wahrer‘ und ‚falscher‘ Kritik nach den Maßgaben von Affektlosigkeit und methodischer Stimmigkeit. Aber auch diese Erinnerungen untergraben ihre Zugeständnisse an die normative Kraft der faktischen Publikationsbedingungen durch Rückgriff auf die stratifikatorische Semantik, kurzum: über „Autorität“ als ordnende Kraft (die zuerst wie selbstverständlich abgewiesen wird): Im übrigen mögen welche derselben [der Fähigkeiten des Verfasser der Acta, S.M.] in realibus bewand seyn / wie sie wollen / so stehet doch einem solchen Geelschnabel nicht zu / sich ungebetener Weise zu einem Censore auffzuwerffen / und in anderer Leute ihre Arbeit die stumpffe Sichel seiner verrosteten und mistkäferischen Critiqve zu schlagen / sondern wenn er hätte weisen wollen / daß er ein solcher sey / der mit seines gleichen als ein Mensch zu leben wisse / so hätte er jeden in seinen Würden beruhen lassen sollen [...]. Man lasse einen jeden in seinem Werth und Unwerth beruhen / und ihn derjenigen Freyheit ge-
_____________ 256 Bezeichnenderweise hängen die Probleme der Kritik mit dem Legitimationsbedarf der Satire eng zusammen. Im 18. Jahrhundert wird dieser Konex durch Christian Ludwig Liscow repräsentiert, der für eine bestimmte Art der kritischen Einstellung als Vor- bzw. als Schreckbild dient: für die vernichtende Kritik (3.2.1). Die Acta Semi Ervditorum werden vor allem auch deswegen als Satire behandelt, weil sie wie diese sich gleichsam spezialistisch den Fehlern widmen und ihre Positivität in ihrer Negativität finden müssen. 257 S INCERI B ENEVOLI Anmerckungen, S. 4f. 258 S INCERI B ENEVOLI Anmerckungen, S. 30.
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brauchen / die ihm das Recht der Natur und Landes=Gesetze erlauben: Denn propria auctoritate sich gleichsam zu einem dictatore in denen Buchläden auffwerffen wollen / ist ein gar albern / absurdes und thörichtes Ding / vornehmlich wo man selber noch keine autorité hat [...]. Seind nicht alle Schrifften von gleichem Schrot und Korn / so haben sie dadurch schon Straffe genug auffm Halse / daß sie dem Verleger liegen bleiben [...].259
Für den Verfasser der Antikritik ist das Modell der kritikbefreiten Interaktion maßgeblich, und entsprechend liegt das „Recht“ auf seiten der Autoren. Allenfalls die Delegierung der kritischen Kompetenz an die Selbstregulation des Buchmarkts wäre noch als zeitgemäßer Programmpunkt anzurechnen. Die Kritiken der Acta stünden historisch auf der Verliererseite, würden sie nicht als Kritik der Kritik ihre Modernität in der Art und Weise ihres Auftretens unter Beweis stellen. 1718 jedenfalls erscheint eine Nachfolgeschrift der Acta, die zwar keine Kritik der Kritik mehr ins Zentrum stellt, die aber vor allem wegen der Erweiterung der kritisierten Gegenstände von der Sachliteratur auf Dichtung interessant ist: Acta SemiEruditorum Das ist: Nachricht und Urtheile Von Unnützen / schädlichen / und grobe Fehler und Irthümer mit sich führenden Büchern, Ubelgerathnen Dissertationibus, unbedachtsamen Ubersetzungen, nichts würdigen Chartequen Und andern Schrifften und Piecen, deren Urheber nicht geschickt gewesen sind / selbige so / wie sie hätten seyn sollen und können / zu verfertigen. Der Verfasser der neuen Acta „muß zwar gestehen / daß dieses Werck viele Verdrüßlichkeit und Haß mit sich führet“, rät aber selbstverständlich gleichwohl zur Formulierung von Kritik. Einschränkend greifen nun allerdings die neuen Acta in den Fundus der Kritikgeschichte: Wenn man zu den kritisierten Stellen „zugleich ihre Verbesserung setzen und zeigen / wie es hätte geschickter können ausgeführet werden / was man vor Bücher dabey hätte können aufschlagen u.s.f. wird es angenehmer zu erwegen seyn“260 – in den Kritiken selbst spielt die alte Maxime „Mache es besser!“ (2.2) allerdings bezeichnenderweise keine Rolle. Es scheint sich vielmehr um ein bloß legitimatorisches Motiv zu handeln. Kritiken zweiter Ordnung sind typisch zunächst für die Gelehrtenstreitigkeiten, dann für den Publikationsbetrieb überhaupt. Sie werden von Hofmanns Gedancken in feste Form gebracht und markieren den Stand der Etablierung von Negativität. Sie zeigen gewissermaßen an, wie groß mittlerweile die Entfernung von Positivität und Negativität, von Selektion und Variation, geworden ist, wie wenig eine Kritik produktiv im Sinne der Motivation des eigenen Schreibens auf der selben Ebene wie der kritisierte _____________ 259 C ENTORII a C ENTORIIS Wohlgemeynte Erinnerungen An den Naseweisen A UTOREM der sogenannten A CTORUM S EMI -E RUDITORUM , S. 17ff. 260 A CTA S EMI -E RUDITORUM . I. Theil, unpag. (Vorrede).
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Text sein muß. Produktiv sind Kritiken nun als eigenständige, die Stufe des ‚Primären‘ sekundär überwölbende Textformen. Zu den Bemühungen zur Beförderung der Critik gehören nicht umsonst ‚Verteidigungen‘ von Kritiken, die kritisiert worden sind, somit Nachricht[en] Von einigen neuen Wochenblättern oder Von einigen Monatschriften.261 Die möglichen Eskalationsstufen der Kritik und ihrer Potenzierung illustriert ein Nachfolgeunternehmen zu Hofmanns Gedancken, auf das ich abschließend noch eingehen will: Von 1768 bis 1769 erscheint in Lübeck der von Christian August Wichmann herausgegebene Antikritikus,262 eine Zeitschrift, die sich wie Hofmanns Gedancken vornimmt, Rezensionen zu rezensieren – die Rezension zum Antikritikus in der Allgemeinen deutschen Bibliothek erinnert daher an den Vorläufer und hält seine Vorrede nach wie für aktuell.263 Der Antikritikus beschäftigt sich vorwiegend mit Sachliteratur und wendet sich vor allem gegen die beiden großen Rezensionsimperien seiner Zeit: gegen die Zeitschriften von Klotz sowie gegen Nicolais Allgemeine deutsche Bibliothek. Die Vorredenfiktion begründet die Zeitschriftengründung mit einem Traum. Der Herausgeber des Antikritikus visioniert darin den Zustand des Literaturbetriebs, nachdem ihn die Lektüre der Komödie La cabale in tiefen Schlaf versetzt hat (die wiederum Erholung vom Studium kritischer Schriften im Freundeskreis spenden sollte): Die „Buchhändler, Buchdrukker, Setzer und Lehrlinge, mit dem ganzen Geräthe der Buchdruckerkunst“ brandopfern eine „Menge gedruckter Papiere“ der Göttin „Cabale“ (genauer handelt es sich bei dem Opfer um „Bibliotheken, Nachrichten, freye Beurtheilungen, litterarische Briefe von verschiedner Art und in verschiednem Format, Acta, Commentarii, gelehrte Zeitungen und dergleichen“). Die Forderung nach der libertas iudicandi („Freyheit zu denken“) wird gerade von den Parteigängern der „Cabale“ strategisch zur Legitimation der eigenen und zur Delegitimation der anderen Partei eingesetzt. Verwirrend wird die Situation nun aber vor allem deswegen, _____________ 261 Vgl. Bemühungen zur Beförderung der Critik und des guten Geschmacks, 2. Bd., 1744, 9. St., S. 62ff. (Kurze Vertheidigung Herrn Schlegels wegen seiner Critik über den Hallerischen Vers: So bald der trübe Herbst die falben Blätter pflücket); ebda., 1745, 12. St., S. 366ff. u. 13. St., S. 431ff. oder Herrn M. Kästners Antwort auf das im 13ten Stück an Ihn gerichtete Schreiben (ebda., 1746, 14. St., S. 558ff.), die von der Prämisse ausgeht: Wer etwas im Druck erscheinen läßt, muß mit Kritik rechnen. 262 Dazu Deneke: Lichtenbergs Leben, S. 83ff. 263 „Vielleicht ist es wenigen bewußt, daß wir schon im Anfange dieses Jahrhunderts einen deutschen Antikriticus gehabt, der vielleicht den Zweck eines solchen Buchs so gut und besser, als der itzige getroffen hat, und sich über die Monatschriften aller Nationen ausbreitete. Der Titel ist: Aufrichtige und unpartheyische Gedanken […]. Jedem Stücke ist ein emblematisches Kupfer, und eine Vorrede vorgesetzet, welche letztere ungemein viel nützliche Dinge enthalten […]“ (Allgemeine deutsche Bibliothek 10 [1769], 2. St., S. 117; für diesen Hinweis danke ich Frank Fischer).
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weil die Anhänger der „Cabale“ Selbstkritik unter fremdem Namen veröffentlichen sowie umgekehrt generell ihre Tricks auch gegen das eigene Lager wenden, nicht allein gegen „wahre Gelehrte und verdiente Männer“.264 Auf diese – wie Riedel es formulierte (2.4) – „völlige Anarchie“ reagiert der Antikritikus: „Wohlan, werde ein Antikritikus, und stehe als ein unerschrockner Vertheidiger der Wahrheit auf!“ Kritik legitimiert sich dabei weniger aus ihrer produktiven Energie heraus als vielmehr durch die stets für möglich gehaltene und für legitim erklärte Negation der Negation. Einen „gegründeten Widerspruch“ kann jeder, der zum Nutzen des Publikums arbeitet, ertragen. Schließlich kommt es, wie bei Shaftesbury (2.4), zur offenen Kriegserklärung: Ich kündige demnach allen ungesitteten, verläumderischen, ungerechten, hämischen, verkätzernden, gewissenlosen und läppischen Kunstrichtern hiermit öffentlich den Krieg an, und hoffe unter dem Beystande der mächtigern Gerechtigkeit, und unter der sichern Leitung der Wahrheit und Klugheit, welche mir die Gerechtigkeit zu Führerinnen zugeordnet hat, gegen die überhand nehmenden Anfälle der Cabale, und ihrer Gönner sowohl als Clienten, glücklich auszuführen.265
Die im Kriegsparadigma mitgeführte Kontingenz des Betroffenseins unterläuft soziale Ordnungsmuster unter Berufung auf „Wahrheit“, denn auch Freunde werden vom Antikritikus nicht verschont: Es soll „kein Ansehen der Person gelten“.266 Daher folgt der Antikritikus – anders als Hofmanns Gedancken – nicht mehr einer einfachen Logik der Reflexion als Negation der Negation. Er arbeitet vielmehr heraus, wie der Literaturbetrieb auch ohne eine Zeitschrift zum Rezensieren von Rezensionen auf Potentialität bzw. auf „unbestimmte Negation“ ausgerichtet ist, wenn er beispielsweise zwei Zeitschriften im Blick auf eine dritte aus der Position einer vierten kritisch bearbeitet.267 Die Zwote Appellation an das Publicum am Ende des ersten Jahrgangs bestätigt die bisherigen Einschätzungen des Antikritikus und legt dabei insbesondere die kriegerische Beobachtungsordnung offen: Der erste bemerkenswerte Punkt betrifft den Umgang mit der großen Menge von Rezensionen, die der Antikritikus erfahren hat, sie werden nämlich – wie zum Ende des zweiten Jahrgangs – in der Zeitschrift selbst auf 60 Seiten _____________ 264 265 266 267
Der Antikritikus, 1768, 1. St., S. 7, 10ff. Der Antikritikus, 1768, 1. St., S. 16ff., Zitat S. 18f. Der Antikritikus, 1768, 1. St., S. 19, 21. Die 33. Rubrik im 2. Stück des Antikritikus lautet: „Hallische gelehrte Zeitungen, 17tes Stück v. J. 1768 S. 135, verglichen mit der Göttingischen Anzeigen 45stem Stück v. J. 1768 S. 360 betreffend: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, 5ten Bandes 2tes Stück“.
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gesammelt und kommentiert, so daß eine feste Rubrik für Kritik vierter Ordnung entsteht. Der zweite bemerkenswerte Punkt zielt auf die Anhänger der Göttin „Cabale“, die bereits vor der Veröffentlichung das Vorhaben des Antikritikus „durch ihre Kundschafter“ in Erfahrung gebracht und zu hintertreiben versucht haben. Diese Unterminierungsversuche richten sich nun nicht auf die Sache, sondern ad personam, „wider die Absicht und den Charakter dererjenigen [...], die man als Gehülfen meiner Unternehmung entweder wirklich auskundschaftete, oder doch für Theilnehmer derselben hielte [...]“. Auch die Kritik der Kritik der Kritik arbeitet eingestandenermaßen im Raum der Möglichkeiten. Nur aufgrund dieser persönlichen Angriffe – so die Selbstdarstellung – habe der Antikritikus mit einer Appellation reagiert. Auch dieses Projekt sei jedoch bereits im Vorfeld ausgekundschaftet worden, und Friedrich Just Riedel, ein Parteigänger von Klotz, habe als Zensor das Erscheinen verhindert bzw. die Verlagerung des Druckorts der Selbstverteidigung – nunmehr ergänzt um eine Kritik Riedels – von Erfurt nach Leipzig erzwungen. Riedel wiederum reagiert auf die Kritik an seiner Person mit der Publikation eines kritisch kommentierten Briefes, den der Antikritikus an ihn gerichtet hatte, worauf der Antikritikus seinerseits in einer Vorrede antwortet.268 Daß Riedel den Literaturbetrieb in „Anarchie“ versinken sieht, wundert jedenfalls kaum (2.4). Der Streit um den Antikritikus findet auf vielen Schauplätzen statt. Es gibt zensierte Verteidigungsschriften, die dann in einer kommentierten und revidierten Ausgabe erscheinen; öffentliche und zum Teil fingierte Briefwechsel werden geführt; Polemiken und Pasquills erscheinen von allen Seiten.269 Einen der interessanteren Beiträge dieser Verbalschlacht bildet die Bibliothek der elenden Scribenten (ergänzt von Klotz’ Briefen, scurrilischen Inhalts: Eine Beylage zur Bibliothek der elenden Scribenten 270 sowie vom Museum der elenden Scribenten 271). Die selbstverständlich anonym veröffentlichte Bibliothek, in der Hauptsache verfaßt von Riedel272, stellt sich als Werk der Verfasser des Antikritikus vor und betreibt somit das bekannte Geschäft satirischer Selbstentlarvung. Ab dem zweiten, vermutlich von Christian Heinrich Wilke verfaßten Stück (1769) wird die Bibliothek jedoch von den „Gegnern“ Riedels weitergeführt, die nun die _____________ 268 Der Antikritikus, 1768, 8. St., S. 563, 565, 567ff. 269 Allgemeine deutsche Bibliothek 10 [1769], 2. St., S. 121, 123f., 126ff. 270 Dazu Deneke: Lichtenbergs Leben, S. 88 – hier auch zum Irrtum von Riedels Verfasserschaft sowie zur Fortsetzung des Streits (ebda., S. 90). 271 Vgl. dazu Allgemeine deutsche Bibliothek 10 [1769], 2. St., S. 126. 272 Meusel: Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 verstorbenen teutschen Schriftsteller. Bd.11, S. 307.; vgl. auch Deneke: Lichtenbergs Leben, S. 86f.
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Selbstentlarvung auf die zweite Stufe der Simulation von Simulation verlegen, bis dann im dritten Stück (1769; vermutlich von Christian August Wichmann) die Widmungsvorrede mit „Riedel und Consorten“ gezeichnet wird. Das vierte Stück (1769) stammt von Wilke, der allerdings zugleich die Verfasserschaft des zweiten Stücks ablehnt.273 Die „Erklärung des Titelkupfers“, auf dem ein Hase einem Artgenossen einen Spiegel vorhält, bringt die Struktur des Literaturbetriebs schließlich auf den Punkt: Diese Spiegelung sei imaginär zu erweitern auf weitere Hasen mit weiteren Spiegeln, die dieses Paar umgeben.274 Der Kritiker, um auf den Beginn des Kapitels zurückzukommen (2.1), läßt nicht nur Autoren ins Spiegelstadium der Kritik eintreten; er selbst stößt einen Prozeß unendlicher Vervielfältigung von Meinungen an, der Aufhebung von Stabilität in einem Raum der Möglichkeiten und diffusen Bedrohungsverhältnisse. Anders gesagt: Die Kritik stellt sich Probleme, die sie dann löst oder eben auch nicht, mit denen sie sich aber in jedem Fall am Laufen hält.
_____________ 273 Allgemeine deutsche Bibliothek 10 [1769], 2. St., S. 124ff. 274 Bibliothek der elenden Scribenten, 1769, 2. St., unpag. (Vorbericht). Vgl. zur Affäre um das Motto auf dem Titelkupfer: Allgemeine deutsche Bibliothek 10 [1769], 2. St., S. 124.
3. Das Zeitalter der Kritik Im vorangegangenen Kapitel habe ich fünf Aspekte kritischer Kommunikation in der frühen Neuzeit herausgestellt, um zu zeigen, daß es seit etwa ‚um 1700‘ für Autoren einige Gründe gibt, mit „Furcht und Zittern“ am literarischen Diskurs teilzunehmen. Sie befinden sich zum einen im ‚Spiegelstadium der Kritik‘, da die neuen Anforderungen von Geschlossenheit (an den individuellen Autor und an das ganzheitliche Werk) zu einem Zeitpunkt an Bedeutung gewinnen, als die druckschriftliche Dezentrierung Selbstkontrolle – zumindest im Rückblick – eher unplausibel und unwahrscheinlich wirken läßt (2.1). Zudem gerät – zweitens – die ‚Positivität der Kritik‘, also die Einordnung des Tadels in den rhetorischen Kreislauf von Lesen und Schreiben, gegenüber kritischer Negativität ins Hintertreffen. Die Verpflichtung des Tadlers aufs ‚Besser-Machen‘ erscheint immer weniger selbstverständlich. Vor diesem Hintergrund entfalten sich – drittens – die Probleme einer auf Interaktion fixierten Semantik mit der Akzeptanz von kritischer Negativität. Man sieht dabei die katalysatorische Wirkung der Umstellung der Semantik auf Distanzkommunikation für die Etablierung von Negativität (2.3). Der Durchgang durch eine Reihe von Verhaltenslehren vom späten 17. bis ins 19. Jahrhundert belegt gerade durch die kleinen Verschiebungen, die sich zugunsten ablehnenden Verhaltens feststellen lassen, die strukturelle Immunität der Interaktion gegen den Tadel. Demgegenüber versuchen die frühen ‚Konzeptionen von Kommunikation‘, die ich in einem vierten Punkt behandelt habe, Momente wie Irrtum, Vergänglichkeit oder Unsicherheit im Modell der ‚Entwicklung‘ ins Positive zu wenden bzw. überhaupt Modelle für die Orientierung in einem von überindividuellen, unpersönlichen Mächten geprägten Raum zu finden – daß diese Konzeptionen mit der Gerichtsverhandlung, der höfischen Intrigenwelt und dem Krieg wenig freundlich ausfallen, muß angesichts der Widersprüche des ‚Spiegelstadiums der Kritik‘ nicht verwundern (2.4). Schließlich habe ich am Beispiel von Rezensionszeitschriften zum Rezensieren von Rezensionen die These entfaltet, daß die ‚Etablierung von Negativität im literarischen Diskurs‘ auf die kritikprovozierende Energie der Schriftlichkeit bezogen werden kann, insbesondere auf die den Anreiz für Variationen, Ablehnungen oder Umakzentuierungen erhöhende Form
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Das Zeitalter der Kritik
der Druckschriftlichkeit. Wenn es immer mehr Angebote gibt, sich positiv oder negativ gegenüber Meinungen zu verhalten, weil diese nun über Zeit und Raum hinweg relativ dauerhaft bestehen können und Reaktionen provozieren, dann steigt die Notwendigkeit, Negativität als normales Diskurselement zu verstehen (2.5). Im folgenden Kapitel soll dieser erste Entwurf einer kritischen Kultur als Bedingung der Möglichkeit von Werkpolitik weiter an Kontur gewinnen und vor allem auch historisch bis hin zu Klopstock, also dem ersten Autor, den ich in einer Einzelstudie behandeln will, weitergeführt werden. Wichtig ist mir dabei, daß das ungeklärte Verhältnis von kritischer Theorie und kritischer Praxis als weiterer elementarer Unsicherheitsfaktor in den Blick kommt – die beiden ‚Exempel‘ in den Kapiteln zu Gottsched und Bodmer sollen zeigen, daß die argumentative Geschicklichkeit in der konkreten Urteilsbildung und -begründung nur in Teilen von der Programmatik eingeholt wird (3.1.2 u. 3.2.1). Bei Gottsched (3.1) wird es zunächst um die Schwierigkeiten und die sich daraus ergebenden Inkonsequenzen bei der Einführung einer ‚philosophischen‘ Kritik gehen: die Abkehr von der Leitorientierung an der Interaktion (a), das Nebeneinander der Prinzipien von ‚Fundamentalität‘ und ‚Temporalität‘ in der Suche nach den ‚Gründen‘ (b), die durch diesen Rückgang ‚begründete‘ Ausbildung eines kritischen Selbstbewußtseins einerseits (c) und von Furchtsamkeit andererseits (d). In diesem Zusammenhang zeigen sich erneut die engen Bezüge zwischen den Konkurrenzsystemen bei Hof und im Literaturbetrieb. Bei Bodmer (3.2), der auf Gottscheds Arbeit an der Etablierung von Negativität aufbauen kann, läßt sich sehen, wie ‚verletzende Kritik‘ (a) in der Konkurrenzsituation des ‚Dichterkriegs‘ zugunsten des Autors verwendet wird, indem der Kritiker ‚Tiefsinnigkeit‘ unter Beweis stellen muß (b) und ein kritisches Urteil durch Verweis auf eine falsch eingenommene ‚Perspektive‘ entkräftet werden kann (c). Die ‚kritischen Reflexionen‘ (3.3) der folgenden Generation führen die Argumentationsstränge von Gottsched und Bodmer weiter, rekombinieren aber die Elemente der etablierten Kritik-Theorien, und dies nicht zuletzt unter dem Eindruck des strategischen Zuschnitts kritischer Kommunikation. Friedrich Nicolai greift den Perspektivismus Bodmers auf, der die Position des Autors stützt, und verbindet ihn mit dem Gottsched zugesprochenen Interesse an der Fehlerhaftigkeit, die den Kritiker an die Spitze der Diskurshierarchie stellt (a). Gotthold Ephraim Lessing reagiert auf den Zustand vervielfältiger Standpunkte, indem er die Reflexionsförmigkeit der kritischen Kommunikation in den Verfahren seiner Rezensionspraxis einfängt und damit den Zuständigkeitsbereich des kritischen Perspektivismus sowohl produktions-, als auch werk- und rezeptionsästhetisch ausweitet (b).
Johann Christoph Gottsched
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Bei Christoph Martin Wieland schließlich werden diese konzeptionellen Lösungen für die Bewältigung der Virtualität, Potentialität und Perspektivität von Kritik konsequent so weiter entwickelt, daß der kritischen Kommunikation das Kritische genommen und sie in die historisch interessierte philologische Kommunikation überführt wird (c). Die dabei ausgebildeten Muster der Temporalisierung der Kategorien ‚Autor‘ und ‚Werk‘ führen einerseits die Problemlagen des Spiegelstadiums der Kritik (2.1) noch einmal vor Augen und markieren andererseits den Horizont der ersten Einzelstudie zu Klopstocks Werkpolitik (4.).
3.1 Johann Christoph Gottsched Am Beispiel von Gottscheds Bestimmung der Kritik im ersten Teil der Critischen Dichtkunst läßt sich die Einführung des Kritikers als einer unvordenklichen Instanz des literarischen Diskurses verfolgen. Dies geschieht vor dem Hintergrund einer Kritik der Kritik, die durch Gottscheds anfängliche Verteidigungshaltung hindurch die daran gekoppelte Umstrukturierung der Wissensordnung reflektiert. Er hält die Gedankenfiguren von Autor und Kritiker noch so eng zusammen, daß die Verbindung zur rhetorischen Kultur nicht abreißt, und er gesteht dem Kritischen bereits so viel Eigensinn zu, daß es zu einer provokativen Herausforderung für den traditionellen Literaturdiskurs wird. Gottsched denkt dabei aufgrund seines wolffianistischen Weltbildes die Beobachtungsverhältnisse im literarischen Diskurs auch auf neuartige Weise als wechselseitige Beobachtungsverhältnisse, da in der ‚besten aller möglichen Welten‘ alles mit allem zusammenhängt und somit der Poet nicht ohne andere Poeten (also Vor- und Gegenbilder) und Kritiker, der Kritiker aber selbstverständlich auch nicht ohne Poeten und andere Kritiker zu begreifen ist. Anders gesagt: (Entscheidungs-)Macht wird hier als durchaus soziales Phänomen diskutiert, als etwas, was man nicht hat, sondern was in Beziehungen entsteht, wie das um 1700 z. B. in der Analyse der Hofsituation als Prototyp eines zwar perhorreszierten, aber nichtsdestoweniger modellhaften Zustandes für die ganze Gesellschaft konzeptionalisiert worden war (2.4).1 Die aufsehenerregende Zentrierung des literarischen Diskurses in der Kritik erfolgt dabei nicht zuletzt in den Vorreden zu den verschiedenen Auflagen der Critischen Dichtkunst – auf die Bedeutung der Paratexte verweist ungewollt die Vorreden-Kritik Bodmers unter dem Titel Herren _____________ 1
Zur Hofpolitik als Ort der Entdeckung emergenter Qualitäten des Sozialen: Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Bd. 2, z. B. S. 375.
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Das Zeitalter der Kritik
Johann Christoph Gottscheds Seltsame Vorrede von 1742.2 In den zwei Jahrzehnten zwischen der ersten Vorrede (1729/30) und der vierten und letzten (1751) liegt der eigentliche Wirkungsraum des Leipziger Aufklärers. Während er in der ersten Auflage zwar mit dem Anspruch des Neuerers, aber doch zurückhaltend und mit Autoritäten im Rücken auftritt, kann er bereits in der Vorrede zur zweiten Auflage (1737), die an die Stelle der Erstausgabenvorrede tritt, selbstbewußt seine Erfolge verbuchen: „Viele [haben] einen bessern Begriff von der wahren Dichtkunst bekommen“ (CD I 11). Die Vorrede zur vierten Auflage schließlich überspielt nur allzu auffällig und notdürftig die sich senkende Popularitätskurve der Regelpoetik mit dem einleitenden Ausruf: „Und meine Dichtkunst lebet noch!“ (CD II 407) Die sich wandelnde Vorredendramaturgie entspricht Gottscheds innovativer, dann katalysatorischer und schließlich transitorischer Funktion im aufklärerischen Literaturdiskurs und markiert damit wichtige Etappen der Etablierung von Negativität in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 3.1.1 Kritische Gespenster a) Theorie und Praxis der ‚philosophischen‘ Kritik Die erste Auflage der Critischen Dichtkunst reflektiert den ungesicherten Ort der Kritik, aber auch deren verunsichernde Wirkung. Vom Einleitungssatz der Vorrede an beginnt Gottsched mit der Selbstverteidigung einer Sache, von der außer auf dem Titelblatt noch gar nicht die Rede war: der zentralen Bedeutung der Kritik auf der einen, der Neubestimmung des Wesens der Poesie durch die Naturnachahmung im Unterschied zur traditionellen Einordnung als oratio ligata3 auf der anderen Seite (CD II _____________ 2
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[Bodmer]: Herren Johann Christoph Gottscheds der Weltweish. u. Dichtk. öffentl. Lehrer zu Leipzig Seltsame Vorrede Zu seinem eigenen Drey mahl wiederholten Versuche Einer Critisch. Dichtkunst für die Deutschen. Um weiterer Ausbreitung willen absonderlich aufgeleget und mit gründlichen Anmerckungen über die Kunstmittel des Vorredners versehen von Wolfgang Erlenbach, Zürich 1742. In: SCPS, 1742, 6. St., S. 91-137. Im Unterschied zum bislang meist nur kursorisch analysierten Kritikbegriff (vgl. z. B. Rieck: Johann Christoph Gottsched, S. 146ff.; Borjans-Heuser: Bürgerliche Produktivität und Dichtungstheorie, S. 170ff.) wurde Gottscheds Postulat der imitatio naturae in der Forschung behandelt und kann daher hier vernachlässigt bzw. muß nur insoweit herangezogen werden, als die „Naturnachahmung“ auch für die Bestimmung der Kritik relevant ist. Vgl. zum Thema als eine Art kommentierter Inhaltsangabe Dahlstrom: Die Aufklärung der Poesie, insbes. 153ff.; zur kontroversen Interpretationslage vgl. Bruck / Feldmeier / Hiebel / Stahl: Der Mimesisbegriff Gottscheds und der Schweizer; zu Übergängen und Abgrenzungen im Vergleich mit vorangegangenen Poetologien vgl. Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland, S. 620ff.; ein prägnanter Überblick findet sich bei Alt: Auf-
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400ff.). Vorbildliche Kritik nun wird von Gottsched durch „philosophisch[e]“ Einsicht in die „Regeln der freyen Künste“ definiert. Es tritt allerdings, ohne daß Gottsched das als solches anmerken würde, noch ein zweiter Punkt hinzu: die Fähigkeit, „darnach [nach den „Regeln“, S. M.] zu prüfen und richtig zu beurtheilen“ (CD II 395).4 In diesem schmale Spalt zwischen Einsicht und Anwendung, zwischen Regelkenntnis und Regelnutzung liegt nämlich nicht nur das kreative, sondern auch das polemische Potential der Regelpoetik5, jene systematisch unartikulierbare Lücke, die erst die narrative Aufarbeitung von Autorschaft, also die Temporalisierung literarischer Produktivität im Wechsel von der techné zur praxis, in den Blick nimmt (2.4). Die literaturkritische Praxis führt ein eigenständiges Leben neben den Programmschriften. So bestehen etwa entgegen aller oberflächlichen Kongruenz zwischen Gottsched und den Schweizern auf Ebene der Regeln – beim Prinzip der Naturnachahmung, den Maximen der Wahrscheinlichkeit und der Akzeptanz des Wunderbaren (3.2) – offensichtlich dennoch provozierende Differenzen in der applicatio. Daß die Regelfindung auch einer Art theoretischer Variation über einem praktischen Interesse gleicht, wird in den Polemiken des ‚Dichterkriegs‘ festgehalten, allerdings als fundamentaler Mangel an kritischer Kompetenz und nicht als Einsicht in die normative Kraft der Praxis selbst. Zu den ausführlich belegten Fehlern gehört in Bodmers Kritik der Gottsched-Vorreden nicht umsonst der polemisch motivierte Positionswandel des Leipzigers als Beleg für die Grundlosigkeit von dessen Urteilen6, so wie umgekehrt die Gottsched-Verteidigung den Schweizern Beliebigkeit in der Wahl ihres Standpunkts nachzuweisen versucht.7 Auch die Kritiker befinden sich im _____________
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klärung, S. 68ff. Ausführlich und mit wichtigen Einsichten in die „strategische“ Funktion der Argumente behandelt Hans Freier Gottscheds Kritikmodell (Kritische Poetik). Während Freier aber, fasziniert vom Habermasschen Modell des „Strukturwandels der Öffentlichkeit“, auf das Idealbild einer im Unterschied zur unberechenbaren Machtinsatz früherer Publikumsformen sachlich und unparteiisch urteilenden „bürgerlichen Öffentlichkeit“ fixiert bleibt (ebda., S. 66f.), interessieren im folgenden die von Gottscheds Kritikmodell ablesbaren neuen Unwägbarkeiten im machtpolitischen Kräftefeld. Zur Aufweichung der Regelpoetik im Laufe des 18. Jahrhunderts Stüssel: Poetische Ausbildung und dichterisches Handeln, S. 81ff. Eine andere spannungsvolle Kombination bei Gottsched, nämlich das problematische Verhältnis von Nachahmungs- und Wirkungspoetik, wird durchdekliniert von Härter: Digressionen, S. 113ff. Zur Problematisierung des Anwendungsproblems bei Aristoteles und Schleiermacher vgl. Danneberg: Die Anatomie des Text-Körpers und Natur-Körpers, S. 101. Z. B. [Bodmer]: Herren Johann Christoph Gottscheds Seltsame Vorrede (SCPS, 1742, 6. St., S. 130ff.). Bemühungen zur Beförderung der Critik und des guten Geschmacks, 1743, 4. St., S. 237 (Anmerkungen über den Brief eines Schweizers an einen Franzosen).
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‚Spiegelstadium der Kritik‘ und haben unter dem kontrafaktischen Prinzip der Selbstidentität zu leiden; sie sind, wie sich im folgenden zeigen wird, das Spiegelbild des Autors, so wie dieser das Spiegelbild des Kritikers ist (4.1.1). Gottsched zieht aus dem ‚Dichterkrieg‘ sowie aus der darin geleisteten Reflexion von Dezentrierung keine theoretischen Konsequenzen, die Positionierung explizit als Effekt einer polemischen Konstellation erscheinen lassen, sondern vertraut auf die universelle Einsehbarkeit seiner Grundsätze. Die Kritik soll mit seiner Dichtkunst – wie die anderen „Wissenschaften“ – zu einer „demonstrativen Gewißheit“ gebracht8 und auf das Niveau gehoben werden, das Wolffs Modell des in sich gegründeten Wissens gegen traditionale Wissensformen vorgeschrieben hat. Der Kritiker ist Gottsched zufolge ein Philosoph (CD I 145). Was bedeutet nun das ‚Philosophisch-Werden‘ für die Kritik? Zunächst einmal wertet die ‚philosophische‘ Kritik die stratifikatorische Ordnung ab, indem auf Selbstbezüglichkeit und genau damit auf Distanz umgeschaltet wird (Eigenständiges kann unabhängig von raumzeitlichen Beschränkungen für sich bestehen). Im Gefolge der kritischen Neupositionierung des philosophischen Diskurses gegenüber der Autorisierung durch Traditionsbezug bei Autoren wie Francis Bacon, René Descartes oder Gottscheds Lehrmeister Christian Wolff geht es darum, die Eigenständigkeit des Denkens zu belegen. Die Critische Dichtkunst bestimmt die Kritik daher im Medium einer Kritik (an traditionalen Formen der Kritik, der Poesie, des Poeten, des literarischen Betriebs etc.) und erzeugt damit historische Alterität, auch wenn Gottsched zur traditionalen Absicherung eine ganze Reihe von Vorläufern und ideellen Weggefährten anführt.9 Mit welchem Selbstbewußtsein Gottsched tatsächlich auftritt, gibt er erst in der Vorrede zur dritten Auflage seiner Poetik von 1742 offen zu erkennen, als ihm durch Breitingers Critische Dichtkunst zumindest titulatorisch unmittelbar ein Konkurrent gegenübersteht: Der Schweizer betrete „diejenige Bahn, die ich nunmehr vor dreyzehn Jahren, als ein junger _____________ 8 9
Vgl. dazu Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland, S. 620ff. Diese wie auch die im folgenden aufgezeigten internen Komplizierungen fallen weg bei Küpper: Das inszenierte Alter, S. 25ff. – nicht reflektiert wird hier das Prinzip der Atemporalität einer „philosophischen“ Poetik (das dann in bestimmte Widersprüche mit den von Gottsched eingeführten Temporalisierungen gerät; 3.1.1 b), die unzulängliche Eigensinnigkeit der Altersbereiche jung/alt (die Jugend ist eine Art unvollkommenes Alter), die Akzentuierung einer mittleren Alterslage (also nicht des ‚Alters’ im Sinn einer dritten Lebensstufe nach Jugend und Erwachsen-Sein) – Gottsched redet von „erwachsene[n] Männer[n]“ (ebda., S. 39). Die entscheidende Pointe der Frage nach Jugend und Alter für die Literatur im 18. Jahrhundert liegt m. E. in der Entstehung eines Lebenswerks und der dadurch ermöglichten Einsetzung eines Jugend- und eines Alterswerks (3.3 c; 4.1.1; 5.4.1; sowie: Verf.: Die Entstehung von Tiefsinn im 18. Jahrhundert).
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Schriftsteller zuerst gebrochen [...]“ (CD I 20). Wie wichtig diese Position war, sieht man am Streit um den ersten Platz bei der Einsetzung einer „critischen Dichtkunst“.10 Das ist mehr als nur eine Frage von Imagegewinn über Gründungsmythen, weil in die Problemstellung selbst schon die Innovation der Negationstypik bzw. ein historisch spezifisches Modell von Innovation überhaupt eingelassen ist. Im Hintergrund steht jeweils die Feststellung, jene Form von Wahrheit, die Wolff durch die Evidenz des Selbstbewußtseins gegründet sieht, brauche keine Autoritäten mehr („Es ist ohnedem unnütze, mit Zeugen etwas auszumachen, was durch Gründe erwiesen werden muß [...]“; CD II 403). Allenfalls strategisch greift die Vermittlung von ‚Wahrheit‘ im Kontext eines autoritätsfixierten Diskurses auf traditionale Beglaubigungsformen zurück: „[...] man bedient sich derselben [der „Zeugen“, S. M.] in solchen Fällen nur gegen die, so noch in dem Vorurtheile des Ansehens stecken, und nicht im Stande sind, die Krafft gründlicher Beweise recht bey sich wircken zu lassen“ (CD II 404).11 Mit der Abwertung der Legitimation über Fremdbezug verbindet sich also auch bei Gottsched die Wendung von der interaktionsfixierten Repräsentationskultur („Vorurtheile des Ansehens“) zur Kommunikationskultur, die nicht auf Statusostentation oder Präsenz zurückgreift (2.1, 2.4 u. 2.5). Die doppelte Orientierung an den ‚Gründen‘ auf der einen, der Rückwendung in den Fundus der Literaturgeschichte auf der anderen Seite ist indes entgegen Gottscheds Beteuerung nicht nur einer reflektierten Einsicht in die strategisch geschickte Vermittlung von Innovation geschuldet, sondern belegt auch auf eine irritierende Weise die generelle Ambivalenz seiner Gedankenfiguren, die den Prinzipien von Fundamentalität und Temporalität gleichermaßen zur Geltung verhelfen.12 Diese Doppelgesichtigkeit verweist auf eine historische Übergangssituation13, und sie verweist auf die Argumentationsnot, in die Gottsched durch das im eigentlichen Sinn ‚ungeregelte‘ Verhältnis zwischen kritischer Theorie und kritischer Praxis gebracht wird. Konzepte der Temporalisierung müssen Lücken ausfüllen, die die Fundamentalität der Theorie nicht zu _____________ 10
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In den Anmerkungen über den Brief eines Schweizers an einen Franzosen dekuvrieren die Bemühungen, wie bei der schweizer Darstellung des Kriegsverlaufs in dem zuvor abgedruckten Schreiben eines Schweitzers an einen Franzosen von dem critischen Kriege der witzigen Köpfe in der Schweiz und in Sachsen die Chronologie zugunsten Breitingers verdreht werden soll (Bemühungen zur Beförderung der Critik und des guten Geschmacks, 1743, 4. St., S. 247). Vgl. zu dieser sich nach zwei Seiten absichernden Begründung in bezug auf Gottscheds Regelverständnis Borjans-Heuser: Bürgerliche Produktivität und Dichtungstheorie, 172ff. Dahinter steht die für den Aufklärungsdiskurs charakteristische paradoxe Engführung von Sein und Sollen (Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, S. 345ff.). Berghahn: Von der klassizistischen zur klassischen Literaturkritik, S. 23f.
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ausfüllen, die die Fundamentalität der Theorie nicht zu schließen und nicht zu explizieren vermag, die aber performativ zutage treten. Das Nebeneinander der beiden Prinzpien von Fundamentalität und Temporalität in der Critischen Dichtkunst kann zunächst aus dem Bezug von Gottscheds Theoriegebäude zu Christian Wolffs philosophischem System abgeleitet werden: In einer Welt, in der alles seine guten Gründe hat, darf es zwar Voraussetzungslosigkeit nicht geben, den instantan perfekten Zustand kann jedoch nur Gott einsehen, wohingegen die menschliche Perspektive auf Perfektibilierung angelegt ist.14 Jene seltsame Ungereimtheit im Zusammenspiel von zeitlos gültigen Regeln und fortwährender Verbesserung, die Gottsched in der Vorrede zur zweiten Auflage selbst thematisiert, bildet diese Ambivalenz des Wolffschen Systems in gewisser Weise ab.15 Die konzeptionelle Integration von Temporalität läßt sich weiterhin an der Ordnung des zweiten „praktischen“ Teils der Dichtkunst beobachten, der sich an der Entstehungsgeschichte der Gattungen orientiert und dabei mit seinem rudimentär ausgebildeten Entwicklungsmodell ein zukunftsweisendes Konzept anbietet (CD II 413). Interessanter ist freilich, wie Gottsched mit dem Faktum menschlicher Perfektibilierungsnotwendigkeit auf sich selbst bezogen umgeht, als er die fortlaufende Überarbeitung der Critischen Dichtkunst erläutert. Er legitimiert die stetige Aktualisierung des Standpunkts nämlich weniger ‚philosophisch‘ als vielmehr medientheoretisch und marktstrategisch: Wenn sich an den Regeln der Dichtkunst nichts ändert, so erläutert Gottsched, müssen die Käufer der ersten Auflage sich nicht über sinnlos investiertes Geld ärgern (es gibt die eine Wahrheit und dazu ein kanonisches Werk, so „daß, in den wesentlichen Stücken, diese neue Auflage vor der erstern keinen Vorzug hat“). Zugleich reagiert Gottsched auf die Änderungen im Literatursystem durch den Trend zur Literalität, also zur Durchsetzung und Verbreitung der mit dem Buchdruck verbundenen Kulturtechniken (Wahrheit wird pluralisiert und temporalisiert, so daß „niemand ein Recht hat, einem Schriftsteller die Ausbesserung seiner Arbeit zu verwehren“; 2.4 u. 3.3) – daß Gottsched an gleicher Stelle auf die Qualität von „Schrift“, „Papier“ _____________ 14 15
Wolff: Vernünfftige Gedancken Von der Menschen Thun und Lassen, S. 31ff. Die Idee vom Weltzusammenhang führt im übrigen auch zum zweiten großen Problem der Gottschedschen ‚philosophischen’ Poetologie, nämlich zu jener Kohärenztheorie der Wahrheit mit den beiden Prinzipien vom zureichenden Grund und vom ausgeschlossenen Dritten, die das Prinzip der Naturnachahmung als Korrespondenztheorie im Augenblick seiner Begründung bereits wieder aushebelt: Die Diskussion um die Theorie der möglichen Welten und die Probleme, die sie für Gottsched z. B. bei der Ermittlung des Unwahrscheinlichen mit sich bringt, deckt diesen Zusammenhang auf (vgl. dazu z. B. CD I, 203ff.).
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und „Zierrathen“ sowie auf das „Register“ zu sprechen kommt, ist kein Zufall (CD I 18).16 b) Temporalisierung und Biographie Die Etablierung von Negativität läuft über die Integration von Konzepten der Virtualität bzw. Unsichtbarkeit (2.4 u. 2.5). Daher profiliert sich der ‚philosophische‘ Kritiker gegen das tradierte Modell des Kritikers als Grammatiker und dessen Wissensform, die sich auf ostentativen Fremdbezug richtete. Diese Abgrenzung erfolgt erstens durch die Verabschiedung der Repräsentationssemantik, zweitens durch eine poröse Fundamentalität, die über Modelle wie ‚Natürlichkeit‘ oder ‚Ganzheit‘ unauffällige Kohärenzkriterien einbringt, und drittens durch eine ansatzweise ausgebildete Temporalität, die geordnete Positionswechsel als Erfolgsmodell prämiert: Die „wahre Critick“ ist „keine schulfüchsische Buchstäblerey, kein unendlicher Kram von zusammengeschriebenen Druck- und Schreibefehlern [...]; kein übelverdauetes Bücherlesen; kein wüster Haufe unendlicher Allegationen und fremder Meynungen von einer verderbten Stelle [...]“ (CD II 394). Gottsched fordert anstelle dessen eine „philosophische“ Einsicht, also ein Urteilsform, die „gegründet“ ist und die damit auf neue Formen der Sichtbarkeit hinausläuft (2.1 u. 3.2.1): Begründungsverhältnisse lassen sich nicht sehen (oder hören), sondern allenfalls konstruieren. Sie sind per se nicht-repräsentativ, entfalten eine Autorität aus sich selbst heraus, nicht durch eine vorgeschaltete Machtquelle. Mit nachgerade nachtwandlerischer (Un-)Sicherheit führt allerdings Gottscheds Fixierung auf die ‚Gründe‘ erneut von der Fundamentalität zur Temporalität, also einer der Möglichkeiten, Wandelbarkeit und darüber Negativität als positives Moment in der Ordnung der Dinge akzeptabel zu machen (2.4 u. 2.5). Indem nämlich die ‚gegründete‘ Kritik die Strukturhomologie von „bester Welt“ und Poesie zu überprüfen hat, gerät auch der ‚Grund‘ des Kunstwerks in den Blick, der „Character[ ] eines Poeten“ und dessen „tugendhafte Gemüthsart“ (CD I 163). Das entspricht der aufklärerischen Hermeneutik, die Worte als Zeichen von Gedanken versteht und daher der intentio auctoris nachforscht, wobei die weitergehende Folge der Privilegierung der Autorperspektive bei Gottsched zugunsten der Kritikerperspektive entschieden wird, was wiederum auf das Wolffianistische Konzept des „Besserverstehens“ bezogen werden kann.17 Daß Gottsched, für den die Ausbildung des Poeten in seiner An-
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Vgl. zum Modell einer differenzierten Stufenfolge von der Aliteralität bis zur Literalität Glück: Schrift und Schriftlichkeit, S. 182ff. Madonna: Die unzeitgemäße Hermeneutik Christian Wolffs, S. 29f., 34f.
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wendungspoetik entscheidend ist, die Qualifikationen sowohl des Kritikers als auch des Dichters in ein und demselben Kapitel der Dichtkunst bestimmt („Von dem Charaktere eines Poeten“), markiert den noch rudimentären Grad der Etablierung von Negativität, also der Auflösung des Zirkels von Lesen – Urteilen – Schreiben – Lesen. Zwar unterstützt er das folgenschwere Auseinandertreten von Lesen und ‚Fremdbeurteilen‘ auf der einen und Schreiben und ‚Selbstbeurteilen‘ auf der andere Seite, das den Eigensinn von Negativität durch Abwehr der Maxime „Mache es besser!“ zu einem selbständigen Element des literarischen Diskurses macht (2.2 u. 2.5), dennoch bleibt er mit mindestens einem Fuß im alten Paradigma stehen. Das Innovationspotential läßt sich indes an Gottscheds Reaktion auf den ‚möglichen‘ bzw. ‚wahrscheinlichen‘ Vorwurf der Inkompetenz ablesen, den er infolge seines angestrengten Kritikprogramms erwartet: einer Herleitung seiner intellektuellen Biographie. Er will sein Autoritätsdefizit als noch nicht etablierter Kritiker ausgleichen (CD I 12), indem er seine Kompetenzen ‚wahrscheinlich‘ macht, und ‚Wahrscheinlichkeit‘ ist nun einmal das Zentralkriterium der „Fabel“-Theorie als Theorie der Handlung, die wiederum im Zentrum der Poesiedefinition steht. Die narrative Legitimierung von Kritikfähigkeit führt somit ins theoretische Herzstück der Dichtkunst selbst, wobei für die Trennung der Autoren- und der Leserrolle wiederum spricht, daß Gottsched je nach Ausrichtung mehrere Lebensläufe entwirft: In der Critischen Dichtkunst legt er seinen kritischen Lebenslauf vor, in der Cato-Vorrede seinen literarischen, und in der Vorrede zur Weltweisheit findet sich schließlich der Werdegang des Philosophen Gottsched.18 Zwar überschneiden sich die Lebenswege in bestimmten wegweisenden Figuren sowie in der Struktur des Erkenntnisgewinns, aber Gottscheds Rollendiversität, sein Auftritt einmal als kritischer Leser, dann als Dichter und schließlich als Philosoph, scheint mir dennoch aufschlußreich für eine komplizierte historische Lage zu sein, in der sich Orientierungen ausdifferenzieren. Aber nicht nur die an sich bereits bemerkenswerte Tatsache, daß Gottsched seine Biographie als Kritiker ausbreitet, auch der Aufbau selbst ist aufschlußreich: In der ersten Stufe wirken zunächst „Exempel“ (Gott_____________ 18
Gottsched: Sterbender Cato, S. 5ff.; ders.: Erste Gründe Der Gesamten Weltweisheit, Leipzig 1733, unpag. (Vorrede). In den Vorreden zu den Ausgaben der Weltweisheit von 1756 und 1762 fügt Gottsched dann eine „Nachricht von meinen sämmtlichen Schriften“ hinzu, die die verschiedenen Sphären zwar nicht mehr trennt, aber auch keine konzeptionelle Verbindung stiftet, sondern die Informationen über die verschiedenen Schriften aneinanderreiht (Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit. Bd. 5,3, S. 247ff.; ebda. Bd. 5,2, S. 3ff.) – bei der Behandlung der Critischen Dichtkunst (ebda., S. 29ff.) ist interessant, daß Gottsched den Anstoß zur Verfertigung einer Poetik wesentlich stärker von außen kommen läßt als in der frühen Fassung.
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scheds Vater, seine Lehrer, Vorbildpoeten), an deren Beispiel sich Gottsched „den ersten Begriff von einer Critischen Dicht-Kunst“ bildet (CD II 397f.). Daß Gottsched, als er durch den Erfolg seines Modells beflügelt in den späteren Vorreden konsequent als Erneuerer auftritt, von den hier genannten Namen nichts mehr hören will, wird von Bodmer in seiner Kritik der Gottsched-Vorreden zur Dichtkunst natürlich angemerkt.19 Auf einer zweiten Stufe entfaltet Gottsched durch seine Mitarbeit in der Deutschen Gesellschaft die angelegten Keime weiter, auch wenn es ihm noch immer nicht gelingt, seine „Gewohnheit auf eine überzeugende Art zu vertheidigen“. Der Antrieb zur „völligen Gewißheit“ und zu einem „regelmäßigen Begriff von der Poesie“ speist sich dann aus der Lektüre kritischer und poetologischer Zentralwerke von Aristoteles bis Steele (darunter auch die Schweizer Literaturkritik, ein Geständnis, das Gottsched später einigermaßen unangenehm gewesen sein dürfte). Daraufhin erst folgt die letzte Stufe, auf der Gottsched „die bisherigen unordentlichen Gedancken und Anmerckungen von der Poesie [...] in einen systema[ ]tischen Zusammenhang“ bringt, und zwar in einem „ziemlich vollständige[n] Werckchen“ (CD II 399f.). Die Stufenleiter der Erkenntnis, mit der Gottsched der Ausbildung des Poeten in Grundzügen folgt (CD I 163f.), läßt unschwer jenes historisch signifikante Nebeneinander essentialistischer und temporaler Kriterien erkennen, der allmählichen Ausbildung von Begründungsfähigkeit und des immer schon vorhandenen Willens zur Begründung. Diese Kombination von Zeitlichkeit und Zeitlosigkeit, die Gottsched mit Leibniz („par le Naturel & par l’Usage“) und mit Shaftesbury („Use, Practice and Culture“) bestätigt, garantiert zum einen die Zugänglichkeit und Formbarkeit des Geschmacks. Zum anderen soll durch Geschmacksausbildung und Kritik die oben erwähnte Lücke zwischen Regelwissen und Regelanwendung geschlossen werden. Wenn der Geschmack von Jugend an ausgebildet werden muß und wenn es Regeln für das Geschmacksurteil gibt, die der juvenile Poet jedoch aufgrund seiner natürlicherweise beschränkten Erkenntnisfähigkeit nicht einsehen kann, dann ist – wie bei Gottsched – sowohl Lebenszeit vonnöten als auch ein Kritiker, der die Dehnung von Wissenserwerb personalisiert. Wie dieser nämlich die Poetologie auf das Niveau einer ‚Wissenschaft‘ hebe, so führe er auch „junge Leute“ über das Urteil „nach undeutlichen Empfindungen“ hinaus (CD II 403). Der kritische Stachel steckt tief in der Biographie des Autors. Daß Gottsched sich im übrigen bei seinem biographischen Programm auf Gottlieb Stolle beruft, ist paradigmengeschichtlich bedeutsam, da Stol_____________ 19
[Bodmer]: Herren Johann Christoph Gottscheds Seltsame Vorrede (SCPS, 1742, 6. St., S. 101).
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le ein Vertreter der thomasianischen Wissenschaftstheorie ist,20 die sich in besonderer Weise für lebensgeschichtliche Zusammenhänge interessiert. Die wenigen Anmerkungen zu Thomasius‘ Hermeneutik im vorigen Kapitel (2.4) gaben dafür bereits einige Anhaltspunkte.21 Die Gemeinsamkeiten von Stolle und Gottsched verdeutlichen somit auch die Übergänglichkeit zwischen thomasianischen und wolffianischen Positionen und weisen auf eine epochale Einheit jenseits der philosophischen Streitigkeiten.22 So geht es Stolle wie Gottsched darum, die „Ursachen“, die den Autor beim Verfassen eines Werks antreiben, zu explizieren, denn für ihn gilt, daß „die Leben der Gelehrten [...] ihren Schrifften offt ein helles Licht aufstecken“.23 Wie groß die strategische Bedeutung narrativer Plausibität war, um in den Diskussionen der Frühaufklärung bestehen zu können, sieht man wiederum an der Aufmerksamkeit, die im ‚Dichterkrieg‘ diesem Moment geschenkt wird: So senkt Gottsched den Daumen über den schlechten Kritiker – also ab der dritten Auflage der Dichtkunst über Bodmer und Breitinger – nicht nur aufgrund systematischer Bedenken (weil Breitingers Critische Dichtkunst z. B. keine Anleitungspoetik ist; CD I 23), sondern er denunziert seine Gegner gewissermaßen auch ‚narrativ‘. Daß dabei ein Intrigenkosmos vor den Augen der Leser entfaltet wird, der der Höflingswelt in Sachen Heimtücke in nichts nachsteht, erhellt den Zusammenhang von privatpolitischen und ‚aufklärerischen‘ Imperativen der Geschlossenheit und Handlungskohärenz.24 Zunächst druckt Gottsched 1742, wie das ein Jahr zuvor Bodmer mit Schreiben aus Leipzig getan hatte, Briefe aus Zürich ab, die den „Hoch_____________ 20 21 22 23
24
Wiedemann: Polyhistors Glück und Ende, S. 221ff.; Seifert: „Historia literaria“ an der Wende zur Aufklärung. Zu Thomasius als eifrigem Bearbeiter seines Selbstbildes vgl. Jaumann: Frühe Aufklärung als historische Kritik, S. 161f. Während Gottsched sich im Biedermann noch in die Thomasius-Nachfolge stellt, verdrängt er diese Vorläuferschaft im folgenden (Winkler: Johann Christoph Gottsched, S. 152f.). In der Vorrede zur andern Auflage seiner Anleitung Zur Historie der Gelahrheit will Stolle die „Ursachen, die mich solches [Werk] zu schreiben bewogen“ bzw. die „Art und Weise, wie es nach und nach zu stande kommen“, darlegen, und das selbst bei einem Werk, das für ein unwichtiges Nebenwerk deklariert wird (Stolle: Anleitung Zur Historie der Gelahrheit, unpag.). Zum zweiten Zitat vgl. ebda., S. 44. Weiterhin fordert Stolle zur Individualisierung der Biographie und zur Aufhebung der Anonymität auf, wenngleich er dabei den Maßstab der stratifikatorischen Semantik („Meldung des Vaterlandes, Amts und Würde, also einer nicht-individualisierenden Ordnung anlegt (ebda., S. 45f.). Vgl. für Beispiele aus der Spätaufklärung Sauder: Ein deutscher Streit 1789 (hier geht es um dem Streit zwischen K.P. Moritz und J. H. Campe, die sich in Moritz. Ein abgenöthigter trauriger Beitrag zur Erfahrungsseelenkunde [1789] und in der Replik Ueber eine Schrift des Herrn Schulrath Campe, und über die Rechte des Schriftstellers und Buchhändlers [1789] öffentlich die Geschichte ihrer Auseinandersetzung erzählen).
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muth und die Einbildung“ Bodmers und Breitingers beklagen und versichern, daß die Absender sich „an dem Kriege, den unsere Landsleute von Zürich wider die ganze deutsche Nation vorgenommen haben“, nicht beteiligten (CD I 25f.; umgekehrt vgl. SCPS 1. St., unpag. [Vorrede]). 1751 schließlich klärt Gottsched die Nation „über den ersten Grund und Anlaß“ der Streitigkeiten in einer Musterfabel über falsche Kritik auf. Demzufolge habe er sich den Zorn Bodmers durch eine Kritik an dessen Verurteilung der Gelegenheitspoesie zugezogen, woraufhin der Schweizer – ungeachtet der Gottschedschen „Gründe“ – beschlossen habe: „die kritische Dichtkunst müßte ausgerottet werden“ (CD II 408f.). Daß diese Erzählung die Sachlage selbstredend stark vereinfacht, ist hier weniger entscheidend25 als daß Gottsched dem Verfahren narrativer Entfaltung überhaupt einen Ort in der kritischen Analyse zuweist. Als Bodmer seinerseits die „geheimen Trieb=Federn“ einer Kritik in Gottscheds Critischen Beyträgen aufdeckt (der Verfasser habe sich durch seine Wendung nach Dresden den Unmut der Leipziger zugezogen),26 bewegt er sich genau in diesem Kontext. In satirischer Absicht rückt er das fingierte Verteidigungsschreiben eines in den Critischen Beyträgen getadelten Tragödienschreibers ein, der aus der Differenz zwischen Regeln und Exempel in der Dichtkunst auf der einen und der Praxis der Kritik in den Beyträgen auf der anderen Seite für sich Kapital zu schlagen versucht. Bodmer faßt die Kritik in den Beyträgen zusammen: „So ist alles in dieser Tragödie entweder zu hoch, oder zu natürlich, zu weitläufftig oder zu kurz abgehandelt [...]“.27 Regeln begründen die Vermeidung des in beiden Richtungen Übersteigerten, sie sagen aber nicht, wie man Kriterien von „zu hoch“ oder „zu natürlich“ genau zu verteilen hat. Die Argumentation folgt hier polemischen Interessen und muß daher – mit welchen Darstellungsstrategien auch immer – in der literaturkritischen Praxis plausibilisiert werden. Die Suche nach den „geheimen Trieb=Federn“ bzw. die Temporalisierung eines gegenwärtigen Mißstandes reagiert auf die Verunsicherung der Urteilsfähigkeit, die sich nicht mit prinzipiellen Argumenten beseitigen läßt, sondern geheime Machenschaften ins Feld führem muß. Die rückwärtsgewandte Rekonstruktion kann als Zeichen der Einsicht in das nur schwer zu vermittelnde Verhältnis von Theorie und Praxis gelesen werden. Die theoretischen Maßstäbe (Wahrscheinlichkeit, Ganzheit, Natürlichkeit etc.) werden unmißverständlich formuliert, die praktische Bewertung selbst allerdings tendiert offensichtlich ins Willkürliche, was _____________ 25 26 27
Vgl. eine Skizze der Entwicklung in: Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. Kommentar, S. 193f. [Bodmer]: Schreiben an die Critickverständige Gesellschaft zu Zürich, S. 15f. [Bodmer]: Schreiben an die Critickverständige Gesellschaft zu Zürich, S. 73.
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zumindest beim Gegner gesehen wird. Umgekehrt scheint auch die narrative Entfaltung der eigenen Persönlichkeit einer Situation angemessen, in der neue Formen der (Un-)Sichtbarkeit in Gestalt der ‚philosophischen‘ Kritik auftauchen. Die Flexibilität des Erkenntnisgewinns über einen längeren Zeitraum korreliert einer Situation, in der Positionen unter Vorbehalt bezogen werden, weil ihnen möglicherweise Negation droht. Verständlich daher, daß Gottsched seiner Critischen Dichtkunst eine Art kritische Pädagogik einschreibt. c) Kritische Pädagogik Theoretisch zeigt sich Gottsched – so wenig wie Bodmer – verunsichert. Ihm ist nichts an einem Werk unbegreiflich oder geheimnisvoll, alles hat seine angebbaren Gründe, auch die aller numinosen Kräfte entkleidete poetische Schaffenskraft (CD I 151). Praktisch allerdings sieht das anders aus: In einem Brief berichtet Bodmer etwa von seiner Opitz-Edition und vom Vorhaben, die „Absicht des Poeten“ zu entschlüsseln und zu zeigen, „wie dem Poeten die Series seiner Erfindungen und gedanken nach und nach hat in den Sinn kommen müssen“.28 Auf dieses Projekt der wolffianistischen „Begründung“ des Werks antwortet Gottsched: Allein was die übrigen gelehrten Zusätze anlangt, so gestehe ichs, daß ich mir so viele Mühe nicht genommen hätte, ob sie gleich zum Theil sehr nützlich werden kann. [...] Die Allwissenheit traut man auch keinem Ausgeber fremder Gedichte zu, daß er es werde wissen können, wie der Poet auf diesen oder jenen Gedanken habe kommen können oder müssen; da er es oft selbst nicht weis, wie er darauf gekommen.29
Bei Gottsched, der an dieser Stelle die Editorenmaximen für Trillers Opitz-Ausgabe vorformuliert (1. c), behält der Kritiker, bei aller Skepsis gegenüber völliger Durchschaubarkeit, immer die erste Position im Diskurs. Auf seine Weise überträgt allerdings auch Gottsched – entsprechend der temporalen Dimensionierung seiner Poetologie – den Detailismus auf die Autorbiographie und präpariert den Verfasser dadurch für die ihm in der Critischen Dichtkunst zugewiesene Rolle. Das Grundproblem von Autorschaft sieht Gottsched dabei im verfrühten Griff der Dichter zur Feder, „ehe sie noch wissen wie man recht schreiben müsse“ (CD II 396). _____________ 28
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Briefwechsel Gottscheds mit Bodmer und Breitinger, S. 375. Im gleichen Brief fragt Bodmer um Nachrichten von den Moralischen Wochenschriften nach, „da die Haupt=Absicht einer jeden, ihr Unterschied von den übrigen, der Character, den der Verfasser angenommen, die Zeit da er geschrieben, der Ort, die Anzahl seiner Blätter, der Beyfall, den er erhalten und dgl. ein wenig fleissig ausgesezet wären“ (ebda., S. 376). Briefwechsel Gottscheds mit Bodmer und Breitinger, S. 378f.
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Von der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Schreiben hält Gottsched ersichtlich nichts. Er geht von John Lockes Theorie der Prägekraft anfänglicher Eindrücke aus30 und sieht die Aufgabe bei der Poetenausbildung im wesentlichen darin, möglichst früh eine kritische Perspektive zu internalisieren, indem man „junge Knaben beizeiten aufweck[t], und ihren Witz, so zu reden in die Falten rück[t]“, ja indem man zeitlich so weit wie möglich zurückgreift, um in die Nähe eines lebensgeschichtlichen ‚Grundes‘ zu gelangen: „[D]er Grund [...] kann noch früher geleget werden, wenn man sie beyzeiten im Zeichnen und Reißen unterweisen läßt“, denn dabei muß man „auf die allerkleinsten Puncte Achtung geben“, wodurch man „einen hohen Grad der Aufmerksamkeit“ erlangt, welche wiederum „endlich zu einer Fertigkeit gedeihet, in großer Geschwindigkeit, und fast im Augenblicke viel an einer Sache wahrzunehmen“ (CD I 153f.). Das „Zeitalter der Kritik“ ist gleichermaßen das „Zeitalter der Pädagogik“31 – immerhin ‚rührt‘ es die Tadlerinnen am meisten, wenn die Anlagen eines Kindes (der „Grund“ alles Späteren) durch schlechte Erziehung ins Negative geleitet werden (T II, 377, 379). Und so geht es Gottsched um die kritische Erziehung des Autors bzw. um die Erziehung zur Kritik. Wer über „Beurtheilungskraft“ verfügt, entzweit sich in der Selbstkritik (CD I 158) und internalisiert auf diese Weise den externen Kritiker. Shaftesbury, der Kronzeuge für Gottscheds Kritikkonzept, versteht die Ausbildung des „self“ konsequenterweise als Inquisition im Innern des Menschen.32 Auf jeden Fall arbeitet Gottsched – gewollt oder nicht – daran, daß der Autor nie wirklich bei sich selbst ist. Auch das wird wie im Fall des Kritikers nur in der Darstellung selbst offensichtlich: Gerade einmal drei Sätze lang gelingt es Gottsched in seinem Kapitel zur Autorschaft („Von dem Charactere eines Poeten“), den Dichter positiv zu behandeln, um sogleich wieder zur Einschätzung des Autors durch sein Anderes, den Kritiker, überzugehen. Gottsched bereitet die Jugend mit der Internalisierung von Negativität auf eine Welt vor, in der Zeit zu einer knappen Ressource („in großer Geschwindigkeit“) und das Detail („die allerkleinsten Puncte“) zu einer wichtigen Größe werden. Die größte Geschwindigkeit wäre dann erreicht, wenn Handlung und Selbstkontrolle zusammenfallen, wenn sich also der (zeitliche) Spalt zwischen Aktion und Reaktion schließt. Dann muß man keine Furcht mehr vor Kritikern haben, da Autorschaft und Kritik sich untrennbar verbinden. Auch wenn die Theorie von den ‚Gründen‘ sowie die entsprechende Theorie von Autorschaft darauf hinauslaufen soll, so _____________ 30 31 32
Vgl. dazu Ball: Moralische Küsse, S. 41, 220. Herrmann (Hrg.): „Das pädagogische Jahrhundert“. Shaftesbury: Soliloquy, S. 82, 194, 252.
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kann sie doch jenen Spalt, den die Begründung hinterläßt, nicht schließen. Daß Forderung nach Hochgeschwindigkeit im Urteilen eine Forderung der Geschmackstheorie und damit der Privatpolitik ist,33 also der Lehre von Verhaltenstechniken in einer potentiell feindlichen und unübersichtlichen Umgebung, fügt sich dabei ins Bild, denn dieser Zusammenhang deutet auf eine prinzipielle Dezentrierung hin, die die Aufklärung zu verschleiern bemüht ist, die sie aber für ihre ‚kritische Pädagogik‘ braucht. Die Steigerung innerer Geschwindigkeit gehört damit auch zum Bild des selbstidentischen Menschen, der auf die Unwägbarkeiten der Moderne mit neuen Formen der Steuerung reagiert34 und der sich durch das Gegenbild des Verhaltenstechnikers hindurch herausbildet, ohne sich eine vergleichsweise pragmatische Behandlung menschlicher Belange zugestehen zu dürfen. Wie nahe Gottscheds Einkreisung des Autors der höfischen Verhaltenslehre kommt, die im Hintergrund der Selbstkontrollverfahren steht, wird deutlich, wenn er zum Beleg für die Kongruenz von sittlicher und stilistischer Haltung Boileau zitiert und dann erklärt, daß „der Poet selbst innerlich tugendhaft seyn müsse, wenn er allezeit keusch und rein schreiben wolle; weil er sich sonst unversehens verrathen würde“ (CD I 163). Zuvor hatte Gottsched bereits die Verbindung zum Detailismus hergestellt: „Ein einzig Wort giebt oft seine [des Poeten, S. M.] Einsicht, oder auch seine Unerfahrenheit in einer Sache zu verstehen. Ein einzig Wort kann ihn also in Hochachtung oder in Verachtung setzen [...]“ (CD I 155). Wie die privatpolitischen Verhaltenstechniken fordern auch die poetischen Verfahren ein Höchstmaß an Selbstkontrolle, denn die unbedeutendsten Nebensächlichkeiten des Dichtens werden wie die kleinsten Facetten der Persönlichkeitsvorstellung beständig von Spiegelungen und der Ablenkung bedroht („Hochachtung“ bzw. „Verachtung“). Und umgekehrt gilt: Erst die Vervielfältigung und Verlängerung der Abhängigkeitsbeziehungen provozieren Disziplinierung in Form möglichst unauffälliger, ‚natürlicher‘ Selbstkontrolle, von Lang- und Weitsicht: Der Dichter hat sich wie ein „redliche[r] Bürger“ zu verhalten (CD I 163). Individualität ist das Korrelat von ‚Macht‘, nicht deren Gegensatz (2.4); und Angst ist ein Effekt der idealen Selbstbildung unter faktischen Bedingungen von Kritisierbarkeit, also von Handlung in Virtualität und unter (Selbst-)Beobachtung. Gottsched kann jedenfalls auch in dieser Beziehung bereits in der zweiten Auflage der Dichtkunst seine Erfolge bei der Einsetzung der kritischen Instanz verkünden: _____________ 33 34
Vgl. zu Graciàn-Rezeption im Kontext der Geschmackstheorie Kapitel 2.1 bei Gabler: Geschmack und Gesellschaft. Zur „Neubestimmung des Menschen als selbstreferentiell organisierte Negativität“ vgl. Luhmann: Frühneuzeitliche Anthropologie (Zitat S. 176f.).
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Das Critisieren ist seit einigen Jahren schon gewöhnlicher in Deutschland geworden, als es vorhin gewesen: und dadurch ist auch der wahre Begriff davon schon bekannter geworden. Auch junge Leute wissens nunmehro schon, daß ein Criticus oder Kunstrichter nicht nur mit Worten, sondern auch mit Gedanken; nicht nur mit Sylben und Buchstaben, sondern auch mit den Regeln ganzer Künste und Kunstwerke zu thun hat. (CD I 16; Hervorhebung S.M.)
d) Virtualität und Autorenangst Der Zusammenhang der besten Welt rückt den Schreibenden ins Blickfeld, wobei der Kritiker dem Poeten immer eine Nasenlänge voraus ist – der Mensch ist per se unvollkommen, folglich sind seine Werke stets verbesserungsfähig und damit kritisierbar (CD I 155f.). Das bleibt nicht ohne pathologische Konsequenzen: Was hat man nun Ursache, vor einer solchen vernünftigen Critick einen Abscheu zu bezeugen, wenn man nur vor sich sicher ist, und nicht fürchten darf, selbst in ihre Untersuchung zu gerathen? Aber das ist es eben, was viele, die sich ins Bücherschreiben mischen, mit der grösten Unruhe besorgen. Der Zoilus, der Momus, oder die Critici sind die Gespenster, die Riesen, die Zauberer, wie Schafftsbury redet, vor welchen sie zittern und beben. (CD II 396)
Aber Shaftesbury redet nicht nur von der zauberhaften Zuständigkeit des Kritikers, er redet auch von „the antecedent Labour and Pains of Criticism“ (CD II 403). Die Antizipation der Kritik, die gespenstische Beschaffenheit des Kritikers und die Furcht des Poeten – all das sind Formulierungen die klarstellen: Wer schreibt, kann kritisiert werden, und zwar von einer unfaßbaren Kritikergesellschaft. Die von Gottsched hochgehaltene „Vernunft“ nähert sich damit der „Furcht“.35 Das Gespenstische der kritischen Instanz markiert damit ein neues Emergenzniveau. Die Konstruktion von Kommunikation integriert darüber die Virtualisierung und damit eben auch Invisibilisierung von Beobachtungsverhältnissen, der die Unsichtbarkeit der Fehler und Qualitäten eines Kunstwerks korreliert. Der Einsatz der Critischen Dichtkunst bildet diese Situation ab, da Gottsched die Bestimmung der Kritik mit deren Verteidigung beginnt – auch der Kritiker muß mit einer Kritik rechnen, Verdoppelungen und Vervielfältigungen gehören zum kritischen Diskurs (2.5 u. 3.3). Wichtig ist dabei für die historische Konturierung, wie sich dieses Strukturphänomen auf die Ebene der Ereignisse abbilden läßt, wenn man fragt, warum genau Gottsched eine Verteidigungshaltung einnimmt: Als Gottsched 1724 nach _____________ 35
So an einer Stelle in der Satire Der Autor, die in zehn Folgen in den Belustigungen des Verstandes und des Witzes erscheint (hier: 1743, Weinmonat, S. 300). An mehreren Stellen geht die Satire auf die einem vorbildlichen Poeten eigene Furchtsamkeit ein (ebda., 1743, Augustmonat, S. 152; 1743, Christmonat, S. 503; 1744, Jenner, S. 85).
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Leipzig kommt, gelangt er an einen Kommunikationsknotenpunkt, die Schnittstelle der „Korrespondenzen jener Tage“36 – das kann wörtlich genommen werden: Nicht nur geben ihm die Leipziger Buchmessen „die beste Gelegenheit [...] alle neue Sachen, die in ganz Deutschland heraus kommen, zu sehen und zu lesen“.37 Er wird auch von Johann Burkhard Menke in die Gelehrtenkultur eingeführt, zunächst in die Vertraute Rednergesellschaft, dann in die Deutsche Gesellschaft, deren Vorsitzender sein Mentor ist. Menke vertritt pars pro toto das Prinzip gelehrter Kommunikation. Er unterhält ein weitgespanntes Korrespondentennetz und einen umfangreichen Briefwechsel, die Grundlage der Acta eruditorum sowie – seit 1715 – der Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen.38 Gottsched schreibt dazu in einer biographischen Selbsterklärung in der Critischen Dichtkunst: Im Jahr 1724 kam ich nach Leipzig und ward in der unter Hn. Hofraths Menckens Aufsicht stehenden Poetischen, itzo Deutschen Gesellschafft, gewahr; daß man bei Verlesung eines Gedichtes unzehliche Anmerckungen machte, und solche Sachen, Gedancken und Ausdrückungen in Zweifel zog, die ich allezeit vor gut gehalten hatte. Ich fand sehr wohl, daß die meisten so ungegründet nicht waren: und ob ich wohl in einigen Stücken auf meiner Meynung blieb, und die Einwürfe so man mir machte, vor ungegründet hielte; so war ich doch nicht im Stande dieselben zu heben, und meine Gewohnheit auf eine überzeugende Art zu vertheidigen. (CD II, 398)
Dieses Verfahren ist in den Grundregeln Der Deutschen Gesellschaft in Leipzig (1731) verankert, die die Kritik eingesandter „Proben“ oder die „Beurtheilungen von Büchern“ zum Programm erklären39 und bezeich_____________ 36 37
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39
Waniek: Gottsched, S. 18. Zu der sich für Gottsched aus dieser zentralen Position ergebenden Machtposition vgl. Ball: Moralische Küsse, S. 248, 287f. So in der Nachricht von der erneuerten deutschen Gesellschaft in Leipzig und ihrer jetzigen Verfassung (1727), zit. nach: Waniek: Gottsched, S. 87. Zum Thema: Heimbürge: Literaturvermittlung in Leipzig in der Zeit von 1650 bis 1700. Als Überblick: Das literarische Leipzig, S. 57ff.; in einer kurzgefaßten Zusammenschau zum Buchmarkt: Rosenstrauch: Leipzig als ‚Centralplatz’ des deutschen Buchhandels; zur Publizistik: Elkar: Leipzig, Sachsen und die Journale. Waniek: Gottsched, S. 21f. Zum Anschluß der „Deutschen Gesellschaft“ an das Pariser Vorbild der „französischen Akademie“ sowie zur Kombination von Traditionalität im Anschluß an das Nationalsprachenprojekt des 17. Jahrhunderts und zur Traditionskritik in Ablehnung der ‚Unnatürlichkeit’ manieristischer Sprachformen vgl. Kühlmann: Frühaufklärung und Barock, S. 207ff. Den unmittelbaren Übergang der gelehrten Briefkommunikation ins Zeitschriftenwesen belegt Ball (Moralische Küsse, S. 256, 292f.) am Beispiel des Neuen Büchersaals. Zum Thema insgesamt: Ammermann: Gelehrten-Briefe des 17. und frühen 18. Jahrhunderts. Als Teil von Gottscheds Nachricht von der Deutschen Gesellschaft zu Leipzig (18. Jahrhundert, S. 858ff.). Vgl. dazu: Neumann: Gottsched und die Leipziger Deutsche Gesellschaft, S. 196; zur Kritik im Rahmen der (Vor-) Geschichte der Deutschen Gesellschaft vgl. auch Döring: Die Geschichte der Deutschen Gesellschaft in Leipzig, S. 53, 86, 123, 163, 223, 228, 258f., 260f. – bei aller Strenge entschärfen hier die interne (aber auch die ex-
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nenderweise von Gottsched, hierin ebenfalls ein Wegbereiter der Negativität, verantwortet werden. Dabei führt die Verschriftlichung der Kritik in den Critischen Beyträgen, dem Publikationsorgan der Deutschen Gesellschaft, ebenfalls zu den für kritische Kommunikation typischen Verdoppelungen, wenn Artikel eingesandt, abgedruckt und dann ihrerseits kommentiert bzw. beantwortet werden. Wenn Gottsched, der nach seiner Ankunft in Leipzig zunächst bei Menke wohnt, 1737 in das Haus des Verlegers Bernhard Christoph Breitkopf einzieht und im Folgejahr aus der Deutschen Gesellschaft austritt, markiert das wie der gegnerische Vorwurf, er sei ein Homunkulus seines Verlegers, geradezu idealtypisch den Übergang in einen neuen umfänglichen Kommunikationszusammenhang.40 Schon daß der Streit zwischen Gottsched und der Deutschen Gesellschaft sich an der Behandlung der sogenannten zweiten schlesischen Dichterschule entzündet,41 ist vielsagend, schließlich geht es bei diesem Thema um die Selbstunterscheidung einer neuen Epoche durch Kritik. Mit Gottscheds Schülern wie J. A. Cramer, Chr. Mylius, J. E. Schlegel oder J. J. Schwabe betritt nach der Abkopplung der Critischen Beyträge von der Deutschen Gesellschaft dann auch die neue Generation den Schauplatz der kritischen Verhandlung.42 Nachdem die Auseinandersetzung zwischen Gottsched und der Deutschen Gesellschaft um die Besitzrechte an den Critischen Beyträgen 1739 zugunsten Gottscheds entschieden war, verabschiedet sich die Zeitschrift zumindest titulatorisch von der alten Gelehrtenrepublik, indem das Herausgebergremium von „einigen Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft in Leipzig“ zu „einigen Liebhabern der deutschen Litteratur“ wechselt. Bemerkenswerterweise geschieht das unmittelbar vor jenem Zeitpunkt, als der Literaturstreit – auch in den Critischen Beyträgen 43 – beginnt und sich damit die kritische Landschaft endgültig diversifiziert (Bodmer war im übrigen erst kurz zuvor zum Mitglied der Deutschen Gesellschaft ernannt _____________
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terne) Kritik Vorgaben wie die Maxime der Verbesserung und das Höflichkeitsgebot oder die Selektion von dichterischem Können als Voraussetzung für die Mitgliedschaft. Zu Kritikverschärfung im Zuge von Gottscheds Einflußnahme vgl. ebda., S. 263ff. Waniek: Gottsched, S. 60, 347. Ernst Kroker verdeutlicht, daß dieser Konflikt unterschwellig Gottscheds Reformprojekt in der Deutschen Gesellschaft seit den 20er Jahren begleitet (Gottscheds Austritt aus der Deutschen Gesellschaft, S. 18ff.; vgl. weiterhin Neumann: Gottsched, S. 210, Winkler: Johann Christoph Gottsched, S. 148, Anm.5.; Ball: Moralische Küsse, S. 109ff.; vgl. auch CB 6, S. 21, unpag. [Vorrede]. Wilke: Literarische Zeitschriften des 18. Jahrhunderts. Teil II, S. 8. In den dreißiger Jahren publiziert Bodmer noch einen Aufsatz in den Beyträgen, und seine Milton-Übersetzung wird bemerkenswert liberal präsentiert. 1740 dann erscheint eine Kritik an seiner Milton-Verteidigung, deren Schärfe – so der Selbstlegitimation des Kritikers zufolge – nur eine Reaktion auf den kritischen Ton der Schweizer sei.
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worden).44 Ende der 30er Jahre formieren sich nicht nur in Zürich Gottscheds Gegner, sondern auch in Dresden, Berlin, Königsberg, Hamburg, Greifswald, Erlangen, Straßburg oder Göttingen, und selbst in Leipzig nehmen die Gelehrten Zeitungen eine neutrale, und das heißt für Gottsched: eine distanzierte Haltung ein.45 Um Johann Adolph Schlegels Einschätzung der Situation zu zitieren, in die Gottsched nun sehr schnell gerät: Diese Nachricht, daß man in Leipzig wider den König Teutobeck schon längst wiewohl nur heimlich zu rebelliren angefangen, wird Ihnen die Nachricht, daß das gottschedische Leipzig sich über ein halbes Dutzend Personen nicht erstrecke, die Ihnen so unglaublich vorkömmt, glaubwürdiger machen helfen. Sie ziehen aus der Behutsamkeit, mit welcher ich meinen Namen verberge, einen Schluß wider mich. Eines Theils habe ich mich Ihnen nicht eher entdecken wollen, als bis ich mich vorher würdig zu machen gesucht, Ihnen bekannt zu seyn: Andern Theils bin ich darum so behutsam gewesen, damit ich Gottscheden nicht bekannt würde. [...] Zu Verschweigung meines Namens in dem Briefe an Dieselben, treibt mich blos die Besorgnis an, daß der Brief in unrechte Hände fallen könnte, ehe er zu Ihnen gelangt. [...] Wenn Sie daraus, daß ich Gottscheden nicht bekannt werden mag, schliessen, daß Gottsched schaden kann: So gebe ich Ihnen dasselbe zu. Er kann nur als Bürger, aber nicht als Kritiker, schaden [...].46
Gottscheds Vorwort zur Neuorientierung der Beyträge ist für die beginnende Komplizierung der Lage aufschlußreich: Zum einen betont er die konzeptionelle Kontinuität der Zeitschrift – das wird publikationspolitisch zumal vor dem Hintergrund der Neugründung einer Zeitschrift durch die Deutsche Gesellschaft verständlich, weil der alte Leserstamm gehalten werden soll. Zum anderen macht Gottsched diese Kontinuität daran fest, daß bereits die Bindung an die Deutsche Gesellschaft eher locker gewesen sei, daß also die publizierten Aufsätze und Rezensionen keinesfalls eine Art Kollektivmeinung repräsentierten (zuvor hatte er allerdings erfolgreich verhindert, daß der interne, zu seinem Austritt führende Streit zwischen ihm und Steinbach öffentlich ausgetragen wurde).47 Die ausgestellte interne Pluralisierung der Positionen führt zur Legitimation einer externen Pluralisierung. Gegen die Kritik einer anderen Zeitschrift an einer Kritik in den Beyträgen macht Gottsched geltend: Man gönnet in diesen Fällen einem jeden seinen Geschmack und seine Einsicht; sieht aber hingegen auch nicht, woher man sich ein Recht anmaßen könne, seine
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Briefwechsel Gottscheds mit Bodmer und Breitinger, S. 365f., 369. Waniek: Gottsched, 354ff., 443ff. Litterarische Pamphlete, S. 81f. (Brief von 1745 unter dem Pseudonym „Orontes“ an Bodmer). Rieck: Johann Christoph Gottsched, S. 29. Vgl. hier auch Steinbachs brieflicher Rat an Gottsched, anstelle verschärfter negativer Kritik doch lieber vorbildliche Schriften und Lobendes zu publizieren (Döring: Die Geschichte der Deutschen Gesellschaft in Leipzig, S. 264; vgl. hier auch zum Streit um die Beyträge: ebda., S. 274ff.).
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Meynung auch andern aufzudringen, oder es andern Journalisten vorzuschreiben, was für Bücher sie in ihren Monatschriften der Welt bekannt machen, oder wie sie davon urtheilen sollen. (CB VI, 21, unpag. [Vorrede])
Kompliziert aber war die Lage für Gottsched auch schon um 1730 in denjenigen Konstellationen, in denen die Critische Dichtkunst entstand. Denn vor der Veröffentlichung seiner poetologischen Programmschrift war Gottsched u.a. mit den Tadlerinnen an die Öffentlichkeit getreten48, einer programmatischen Positionierung von Negativität, wobei er die Reaktionen auf den provokativen Titel einkalkuliert, also den immer wieder formulierten Vorwurf der „Schmähsucht“ sowie den Apell an die eigenen Sicherheit („Bedencket nur, was ihr euch vor Urtheile über den Halß ziehen werdet“) (T I, 1, 3, 193; T II, 25). Bereits hier werden die Konsequenzen der neu zu formierenden Kritik in wünschenswerter Offenheit erläutert: Die Tadelnswerten leben in „Furcht“, „kein ehrlicher Kerl [kann] mehr sicher“ sein, den „nachläßigen Scribenten“ soll die „Sicherheit im Schreiben“ genommen, sie sollen „furchtsam gemacht“ werden (T I, 197, II 105, 107). Die provokative Kombination von Autorschaft und Ängstlichkeit gehört zu den Marksteinen einer Epochenwende, in der Negativität als festes Diskurselement des sich formierenden literarischen Systems etabliert wird. Während die bisherigen kritischen Zeitschriften, so Gottscheds weitgehend zutreffende Beschreibung, „Auszüge“ und damit „ausstudirte Lob=Sprüche“ bringen, fordert er eine Kritik, die den Autoren „Furcht und Zittern“ beibringt (T II 106; 2.1). Eben diesen ängstlichen Selbstbezug verkörpern die Tadlerinnen, indem sie Autorschaft in einer Gruppenidentität zerlegen49 und sich selbst gegenseitig kritisieren und indem kritische Kommentare der Leser aufgenommen werden („weil fremde Augen in Entdeckung unsrer Fehler allezeit durchdringender seyn, als unsere eigene“). Die sich durch Kritikbereitschaft legitimierende Kritik hat ihren Ort zunächst nach dem Druck, soll aber dadurch selbstredend den Umgang mit den eigenen Texten vor künftigen Publikationen beeinflussen. Kritik bewirkt, daß die Tadlerinnen ihre Ausführungen „noch schärfer“ vor dem Druck durchsehen, _____________ 48
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Einen Überblick über die Tadlerinnen und den aktuellen Stand der Sekundärliteratur bietet Ball: Moralische Küsse, S. 49ff. Die Zeitschrift wird zwar nicht ganz, aber doch zum größten Teil von Gottscheds selbst verantwortet. Zu einigen polemischen Strategien vgl. ebda., S. 62ff. An der ersten Auflage der Tadlerinnen arbeiteten neben Gottsched Johann Georg Hamann, Johann Friedrich May, Lucas Geiger, Ernst Wilhelm Frick und Gottlob Friedrich Wilhelm Juncker, wobei die Mitarbeiter nur wenige Beiträge geliefert haben. Daß die Verfassergesellschaft im Streit um die eskalierende Kritikaffäre mit Johann Andreas Fabricius (genauer: um die Sprachmischung in dessen Philosophische Oratorie) zerbricht, zeigt allein schon die Problematik kritischer Kommunikation (vgl. dazu Gühne: Gottscheds Literaturkritik in den „Vernünftigen Tadlerinnen“, S. 13ff., 33ff.).
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daß sie also die druckschriftliche Dezentrierung antizipieren und damit die Virtualität kritischer Kommunikation bzw. die Kritisierbarkeit bestätigen (T I 365, T II 265ff.). Gottscheds bereits erwähnte Kritik an der von ihm selbst veranstalteten Pietsch-Ausgabe, die auf eine vernichtende Kritik im Teutschen Pavillon der Musen reagiert,50 ist nur ein Beispiel für die verschiedenen Formen der Selbstbezüglichkeit, die die neue Kritikkultur entfaltet (T II 108ff.; 2.2). Entscheidend ist an dieser Stelle für das Verständnis der Critischen Dichtkunst, daß Gottsched mit den Tadlerinnen eine ganze Lawine lostritt,51 deren Eigendynamik einiges über den kritischen Betrieb und damit über die überindividuellen Kommunikationsmuster der kritischen Kultur aussagt: Die Tadlerinnen kritisieren nämlich auch Bodmers und Breitingers Discourse der Mahlern (T I, 271, II 107), woraufhin Bodmer – zugleich gegen den Hamburgischen Patrioten gerichtet – Die Anklagung des verderbten Geschmacks verfaßt. Die Zensurbehörden in Dresden verbieten jedoch die Publikation, wobei vermutlich Johann Ulrich König seine Finger im Spiel hatte, dem die Kritik an Brockes in den Tadlerinnen wichtig war. Damit nun beginnen erst die Probleme: Denn nachdem Bodmer 1727 Von dem Einflusse und Gebrauch der Einbildungskraft mit der Kritik an der Kritik der Tadlerinnen veröffentlicht hat (die Kritik der Tadlerinnen halte sich bei Äußerlichkeiten auf und ihr fehlten Beurteilungsprinzipien), was wiederum Gottsched im Biedermann unter Bezugnahmen auf den Patrioten und Königs Untersuchung Von dem guten Geschmack beantwortet, erscheint 1728 die Anklagung Des verderbten Geschmackes, worin Bodmer von seinem Bündnis mit König gegen die ‚Niedersachsen‘ berichtet und auf entsprechende Briefe seines solchermaßen vereinnahmten Bündnispartners verweist.52 König war aber inzwischen wieder mit Michael Richey und Christian Friedrich Weichmann, also den Wortführern der ‚Niedersachsen‘, in Kontakt getreten und läßt daher in den Leipziger gelehrten Zeitungen eine Gegenerklärung veröffentlichen.53 _____________ 50
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Nach Ekkehard Gühne (Gottscheds Literaturkritik in den „Vernünftigen Tadlerinnen“, S. 38, 44f., 212ff.) gehört diese Kritik in den Kontext des in der vorhergehenden Anmerkung erwähnten Streits mit Johann Andreas Fabricius und dient dazu, Gottscheds Verfasserschaft der Tadlerinnen zu verdecken. Vgl. zuvor schon den Streit mit dem Leipziger Rat wegen der Anzeige zweier Leipziger, die sich durch die Tadlerinnen verunglimpft gefühlt hatten (Gühne: Gottscheds Literaturkritik in den „Vernünftigen Tadlerinnen“, S. 23f., 53ff.). Vgl. zum folgenden Waniek: Gottsched, S. 72ff. [Bodmer]: Anklagung Des verderbten Geschmackes, unpag. (Widmungsvorrede an J.U. König). Vgl. dazu SCPS 2. St., 157f. Vgl. zur Feindschaft zwischen König und Gottsched: Döring: Die Geschichte der Deutschen Gesellschaft in Leipzig, S. 286f.
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Offensichtlich bedarf ein Anwalt kritischer Negativität wie Gottsched ausgeprägter Fähigkeiten zur Orientierung in einem Raum ohne klare Wegmarken. Er muß die Virtualität von Konflikten in einem Netz vervielfältigter Beziehungen akzeptieren, denn sie lassen sich nicht durch interaktionistische Modelle wie ‚Höflichkeit‘ oder ‚Angemessenheit‘ bewältigen. Tatsächlich scheint Gottsched dann auch mit ‚Freimütigkeit‘, also dem verhaltenstechnischen Katalysator zur Etablierung von Negativität (2.3), begabt gewesen zu sein, was ihn von der rückwärtsorientierten Gelehrtenkultur, wie sie Teilen der Deutschen Gesellschaft eigen war, ausgrenzt. Das jedenfalls läßt sich aus einem Pasquill schließen, das Johann Wilhelm Steinauer gegen Christoph Ernst Steinbach, der Gottscheds Trennung von der Deutschen Gesellschaft provoziert hat, verfaßt. Darin heißt es über Gottsched: Der P. Gottsched ist meines Erachtens ein Mann, welcher mehr Freunde haben würde, wenn er prüfen wollte, wo seine Guthertzigkeit und Aufrichtigkeit angewendet wäre, oder nicht. Er will allen dienen, und schadet sich. Er ist nicht gewöhnt, anders zu reden, als der denckt. Seine meisten Schoos=Kinder werden dadurch Schlangen. Durch diese Gewohnheit, daß er allezeit die wahre Meynung seines Gemüths eröffnet, ist er in diesen Fehler verfallen, daß ihm auch seine Minen ungetreu geworden sind, und nunmehro verrathen, wenn er gleich aus Höfligkeit oder Schertz manchmal anders reden will, als er denckt. Wenn ich mit ihm genauer bekannt geworden wäre: so würde ich ihm dieses gerade zu gesagt haben. Denn ich weis vielleicht beßer als er, wieviel ihm dieses schadet. – Er muß wissen, daß die Welt, und also auch Leipzig hinter ihren Larven und Kappen einen Verräther, einen Spötter und einen Schadenfroh haben.54
Hier werden aus Perspektive der gelehrten Privatpolitik Eigenschaften als Defizite verbucht, die im Kontext der aufklärerischen Aufrichtigkeitsprogramme einen – mit Gottsched formuliert – vorbildlichen „Biedermann“ ausmachen. In der Kombination von Unverblümtheit und Tadelfähigkeit stellt der Typus ‚Gottsched‘ Eigenschaften unter Beweis, die ihn zur Teilnahme an kritischer Kommunikation prädestinieren, wohingegen er im Rahmen der vorkritischen Ordnung allenfalls einen Molièrschen Menschenfeind abgegeben hätte. Umgekehrt zeigt Steinauer, indem er seinen Tadel an Gottsched zurückhält und diesen dadurch wider besseres Wissen ins Unglück laufen läßt, wie Selbstbewahrung in einem auf Unterdrückung von Kritik und Ostentation von Bestätigung abgestellten Zusammenhang funktioniert. Damit präsentiert er zugleich jene Kompetenzen, die unterhalb der Programmebene für die kritische Kommunikation auch der Aufklärung relevant bleiben, nur daß sie in diesem Kontext nicht mehr offen eingestanden bzw. als Fehler der Gegner bezeichnet werden (2.4). _____________ 54
Zit. nach Kroker: Gottscheds Austritt aus der Deutschen Gesellschaft, S. 34.
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Die faktischen und nicht nur metaphorischen Beziehungen zwischen Kritikbetrieb und Hofkultur55 lassen sich noch an einem weiteren Beispiel aus dem Kontext der Deutschen Gesellschaft andeuten, das zur Konstellation des ‚Dichterkriegs‘, also zu Gottscheds Position nach seinem Austritt aus der Deutschen Gesellschaft überleitet. Bezeichnend ist es nämlich, daß sich Gottsched und Bodmer in ihren Briefen nicht nur „Hochedle und Hochgelahrte insonders hochzuehrende Herren Professoren“, sondern auch „hochgeschätzte Gönner“ sind. Das bedeutet mehr als nur eine Floskel aus dem Titulierbuch, wenn Bodmer seine Aufnahme in die Deutsche Gesellschaft als Folge jenes Lobs ansieht, das Gottsched ihm in der Vorrede zur Critischen Dichtkunst ausgesprochen hatte.56 Nicht anders als bei Hof bewegen sich die Kritiker in sozial unsicheren Abhängigkeitsverhältnissen, in denen z. B. ein philosophisches Werk wie die Weltweisheit nicht nur die weitgespannten Interessen eines Poeten und Kunstrichters anzeigt, sondern ihm durch seine kalkulierte Ausrichtung am Hof, „wo man auf solche Proben sieht“, allererst eine feste Stelle verschafft – Gottscheds Versicherung in der Dichtkunst, die Poesie sei keinesfalls sein Hauptgeschäft (CD II 404), erklärt sich vor diesem Hintergrund. Es zählen eben nicht nur Argumente, sondern nach wie vor auch Repräsentationsformen von Werken, die gerade gegen Repräsentativität als Prinzip der Diskursordnung anschreiben. Sie versuchen dabei, ihre Wirkung im Konjunktiv als dem Raum der möglichen Welten vorausschauend zu berechnen. So meldet Bodmer 1735 an Gottsched über eine ihm anonym zugekommene „Critische Schrift“ und seine „Bedenken“: Ich fürchtete, so fern Hr. Geh. Rath König innen würde, daß Ew. HochEdlen diese Crit. Untersuchung durch meinen Canal bekommen hätten, würde er mirs verargen, und mir vielleicht aufbürden, daß ich belieben trüge, den Feinden seiner poetischen Verdienste Vorschub zu thun. Ich wollte mich nicht gerne seinem Zorn bloß geben, von welchem ich schon vordem öffentliche, wiewohl nicht gesuchte Proben empfangen hatte. Jedennoch weil die Critick mit aller gelindigkeit geschrieben ist, und der Verfasser die gebührende Hochachtung gegen den H. König nicht aus Augen setzet, habe ich beschlossen, sie nach seinem Begehren an Ew. HochEdlen zu übersenden und aber dieselben zu ersuchen, daß sie gegen H. König verborgen halten, daß sie solche durch mich erhalten haben.57
Bodmer, der ja einige Jahre zuvor noch mit König ein Bündnis schmieden wollte,58 macht sich jedoch umsonst Sorgen, denn Gottscheds Versuch, die Kritik von Königs Gedicht August im Lager in den Critischen Beyträ_____________ 55 56 57 58
Gottscheds versucht gezielt Hofkreise zur Unterstützung der Deutschen Gesellschaft zu gewinnen (Ball: Moralische Küsse, S. 105). Briefwechsel Gottscheds mit Bodmer und Breitinger, S. 366f. Briefwechsel Gottscheds mit Bodmer und Breitinger, S. 361. Vgl. dazu auch die Briefe Königs an Bodmer in den Jahren von 1725 bis 1727, abgedruckt in Brandl: Barthold Heinrich Brockes, S. 139ff.
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gen zu publizieren, scheitert aus nicht weniger signifikanten Gründen: „Mein Censor D. Jöcher, ist ein Freund des Hn. Königs und wollte diese Schrift nicht drucken lassen“.59 Kurzum: Die Critische Dichtkunst entsteht in einem in jeder Hinsicht kritischen Kommunikationsklima. Um aber die Verbindung zu höfischen Diskurs ganz in den Blick zu bekommen, muß man noch die zeitgleichen Bemühungen Gottscheds um eine Professur in Leipzig in Betracht ziehen, bei denen König sein Kontaktmann zum Dresdener Hof war. Auch diese Verbindung nimmt hofgerecht ihren Ausgang vom „Argwohn“, den König abgelegt zu haben verspricht, nachdem Gottsched ihm 1727 ein Schreiben hatte zukommen lassen.60 In den folgenden Briefen macht sich der Hofzeremonienmeister von Dresden aus Gedanken, welche „patrone“ zu welcher Zeit von Gottsched in welcher Weise mit Dedikationen, Widmungen und Gelegenheitsgedichten versorgt werden müssen, um Fürsprecher im Augenblick der Entscheidung über die „Prof. Eloqu. Extraord.“ zu bekommen. Und hierbei spielt nun eben auch die Critische Dichtkunst eine Rolle: Sie haben aber einen Fehler begangen, den Sie eiligst redressiren müssen. Sie haben weder an den Herrn v. Leipziger, noch an den v. Bünau oder Zech und Dr. Marperger ein exemplar Ihrer kritischen Dichtkunst geschickt, welches doch um so unentbehrlicher, da es Ihr vornehmstes Specimen ist, und just zu der Zeit herauskommt, da die Stelle vacant wird, lassen Sie gleich welche binden [...] und senden Sie solche an mich, daß ich Sie überreichen kann.61
Poesie und Poetologie haben hier mit sehr viel handfesteren Problemen zu tun als mit der bloßen Frage nach der Plausibilität einer Metapher, der Reinheit eines Reims oder der korrekten Schreibung. Man sieht also deutlich, wie der höfische und der kritische Diskurs ineinandergreifen, wie in beiden die Unsicherheiten der Kommunikation offensichtlich werden, und man sieht, daß ‚Vorsichtigkeit‘ nicht nur eine Frage kritischer ‚Billigkeit‘, sondern auch privatpolitischer Einsicht ist. Das Möglichkeitsdenken der Leibniz-Wolffschen Philosophie findet hier ihr Spielfeld praktischer Anwendung. Es ist der ideale konzeptionelle Begleiter eines Konkurrenzsystems, in dem die Virtualität von Beziehungen als Reflexionshintergrund stets mitläuft, und dient daher der Beweglichkeit im Hofsystem auf der einen, in der literarischen Kommunikation auf der anderen Seite. Die pädagogischen Konsequenzen der Fabeltheorie, der Theorie der möglichen Welten, des begründeten Wissens etc. werden in ihrem ganzen Ausmaß erst deutlich, wenn diese Zusammenhänge in den Blick kommen. Dann klärt sich auch – und hier kommt man zum Kern _____________ 59 60 61
Briefwechsel Gottscheds mit Bodmer und Breitinger, S. 363. Folgende Zitate nach Danzel: Gottsched, S. 70-73. Danzel: Gottsched, S. 72 (Brief vom 22. Okt. 1729).
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der Kritiktheorie in der Critischen Dichtkunst –, inwiefern gerade die Durchschaubarkeit der Welt, die den Kritiker Gottsched beruhigt, den Poeten beunruhigt: Ergreifen nicht die meisten die Feder, ehe sie noch wissen wie man recht schreiben müsse? Giebt man nicht allerley Bücher heraus, ehe man gewust hat, wie sie gemacht werden müssen, und nach was vor Regeln sie sich richten sollten? Daher entsteht nun die Furcht vor den Criticis; wie ihre Vorreden sattsam zeigen. Man weiß, daß dieselben unerbittliche Richter sind. Sie lassen sich nicht durch den äußerlichen Schein eines Werckes blenden; Sie bleiben nicht an der Schale kleben; Sie dringen bis aufs innerste Marck derselben; Sie durchforschen die verborgensten Schlupfwinckel einer Schrifft, sie sey von welcher Art sie wolle. Und da bleibt vor ihren scharfsichtigen Augen nichts verstecket. Werden sie offt Schönheiten gewahr, die andre nicht sehen: So entdecken sie auch offt Fehler wieder die Regeln der freyen Künste, die nicht ein jeder so gleich wahrnimmt, der solch ein Werck ohne eine tiefere philosophische Einsicht in die Natur desselben, nur obenhin angesehen. (CD II 396)
Der Detailismus sichert dem Kritiker neben der prinzipiellen Unvollkommenheit und damit Kritisierbarkeit des Menschen einen Platz oberhalb des Poeten in der Diskurshierarchie. Um hier erneut nicht traditionell zu wirken, muß Gottsched sich – in dem bereits oben angesprochenen Sinn – von der humanistischen Kritikkultur abgrenzen. Daß nämlich die vorgängige (Text-)Kritik sich den kleinsten Details gewidmet hat, ist auch Gottsched klar, zumal die rhetorische Tradition ihren eigenen, aufs höchste gesteigerten Detailismus ausgebildet hat.62 Auch die interpretatorische Konsequenz dieses Detailismus („Ein lateinischer Mann suchet hinter einem jedem Wörtchen eines alten Schriftstellers ein großes Geheimnis“; CB VIII, 32, 589f.) ist Gottsched bekannt. Nichtsdestotrotz beharrt er auf der historischen Differenz, die die neue, durch die ‚philosophische‘ Kritik begründete Sichtbarkeit markiert. Die Form des Wissens, die Gottsched über „Gründe“ bestimmt und die im Zentrum seiner Poetologie steht, kreist den Poeten und seine Werke ein, und zwar in alle Zeitrichtungen. Sie läßt den Poeten die Kritik in der Zukunft befürchten, den Kritiker das Werk aus der Vergangenheit heraus erklären und macht die Poesie im Blick auf ein ‚Wesen‘ der Dichtkunst in der Gegenwart zu guter oder schlechter Poesie. Der prinzipielle Vorteil des Kritikers (die Kritisierbarkeit der Poesie) ineins mit der genauen Einkreisung von Werk und Autor erzeugt „Furcht und Zittern“ auf _____________ 62
Die Anweisung auf die beste Art ein Kunstrichter zu werden charakterisiert diese Form der Kritik in den Critischen Beyträgen beispielsweise so, daß sich bei den „Schriften der Alten [...] kein Buchstabe mehr findet, über den kein critisches Urtheil ergangen wäre“ (CB VIII, 32, 591). Gerade die Beyträge stehen hier in der Tradition der frühneuzeitlichen (patriotischen) Sprachtheorien. Vgl. zur Einzelwort-Behandlung in der Rhetorik Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik, S. 46ff.
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Seiten des Dichters bzw. eine vehemente Abwehr von Kritik – so zumindest stellt sich die Lage für Gottsched dar, und deswegen inszeniert er den Einsatz der Kritik als großangelegte Apologie. Sein Stolz auf die Begründung einer neuen kritischen Kultur ist berechtigt im Blick auf sein Faible für Negativität, die Virtualisierung von Bedrohungslagen als Autoren„Angst“, die ins Gewand der Fundamentalität verkleidete Absage an die Feudalsemantik hierarchisch geregelter Abhängigkeitsverhältnisse sowie die rudimentäre Einführung einer zur Verarbeitung von Negativität fähigen Temporalität. Gottscheds Ordnung der Instanzen im literarischen Diskurs ist allerdings nur eine vorläufige, transitorische Position. Von seiner Critischen Dichtkunst in den dreißiger über Bodmers und Breitingers Schriften in den vierziger (3.2) bis hin zu Nicolais, Lessings oder Wielands Beiträgen zum literarischen Diskurs in den fünfziger Jahren (3.3) rüsten nämlich die Poeten auf und nutzen dabei gerade diejenigen Waffen, die die Kritiker ihnen an die Hand gegeben haben: Die Komplexität der Werke, die die Kritiker mit ihrem Detailismus installieren, um ihre Sonderkompetenzen entfalten zu können, die Durchsichtigkeit der Werke also vor den Augen des bis in die „verborgensten Schlupfwinckel einer Schrifft“ vordringenden Kritikers wird von den Autoren nun zur Undurchsichtigkeit gemacht. Sie bilden gewissermaßen über die Sonderkompetenzen der Kritiker ihre Eigenständigkeit aus, die die Kritiker wieder – je nach Sichtweise – auf den zweiten Diskursplatz verweist. 3.1.2 Exempel: Gottscheds Kritik der Cato -Kritik Daß Gottsched die wechselseitigen Beobachtungsverhältnisse in den Blick nimmt und Autor und Kritiker als (ungleiches) Zwillingspaar behandelt, hat neben der Verankerung im rhetorischen Diskurs sowie den theoretischen Implikationen auch gute praktische Gründe: Er selbst ist Kritiker und Autor in Personalunion (ohne freilich aufgrund dieser Rollendoppelung die eigensinnige Etablierung von Negativität abzuwehren). Für den Autor trifft es sich in diesem Zusammenhang gut, daß der Kritiker zwar mehr ‚Fehler‘ als der Normalleser entdecken kann, aber eben auch mehr ‚Schönheiten‘ (CD II 396). Die Gegenkritik bzw. Verteidigung des Sterbenden Cato in den Critischen Beyträgen von 1733 ist daher in mehrerlei Hinsicht ein instruktives Beispiel für Gottscheds Form der Literaturkritik: Nicht nur werden zentrale Urteilskriterien sowohl innerhalb der Kritik als auch innerhalb der Gegenkritik genannt, sondern Gottscheds Selbstverteidigung lotet zudem die argumentativen Möglichkeiten im Raum zwischen Prinzip und Praxis, Regel und Kunstwerk, Allgemeinem und Be-
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sonderem aus, da die Gegenkritik durchaus die Maßstäbe seines Kritikprogramms teilt, sie aber anders anwendet. Inhaltlich ist dabei aufschlußreich, wie auch hier die manifeste Virtualität und Potentialität der Kritik ihre Entsprechung in Gedankenfiguren findet, die auf die Konstitution von Selbstidentität über Zeit hinweg hinauslaufen. Die Critischen Beyträge sind ein wichtiges Dokument für die Neubegründung einer kritischen Kultur.63 Das betrifft neben anderem (3.1.1) auch ihre titulatorische und damit programmatische Unterordnung unter das Prinzip der Kritik.64 Ihr historischer Standpunkt ist dabei durchaus unsicher: Wie die anderen beiden großen Zeitschriften Gottscheds im Kontext der rhetorischen Entgleisungen des Literaturkriegs (der Neue Büchersaal und das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit) knüpfen die Critischen Beyträge an die alte (gelehrte) Tradition der Zeitschriftenkultur an65, formulieren negative Kritik oft nur sehr vorsichtig und stellen die sogenannten „Auszüge“, also mehr oder weniger umfangreiche Inhaltsangaben, in den Vordergrund (2.1 u. 2.3). Augenfällig macht das z. B. der liberale Umgang mit Miltons Paradise Lost: Die Kritik an der Übersetzung Ernst Gottlieb von Berges (1682) beginnt mit einem Abriß der Lebensgeschichte Miltons, dann folgt eine mehrseitige Inhaltsangabe des Epos sowie eine Einführung in die Problematik des reimfreien Verses, was wiederum zum Anlaß einer reimfreien Übersetzung der Eingangsszene von Addisons Cato genommen wird, bis schließlich einige Exempel der Übersetzung von Berges vorgestellt und im letzten Absatz in wenigen Worten hart kritisiert werden („seine Sprache überhaupt ist so gezwungen und altväterisch, daß man ihn unmöglich mit Vergnügen lesen kann“; CB I, 1, 104) – damit bereitet der Beitrag auf die Kritik von Bodmers Neuübersetzung vor. In der Bodmer-Kritik steht ebenfalls die Exemplifizierung im Vordergrund, allerdings machen die Beyträge en détail Verbesserungsvorschläge, insbesondere die sprachgeographischen Besonderheiten der Ü_____________ 63
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Vgl. zum Überblick Wilke: Literarische Zeitschriften des 18. Jahrhunderts (1688-1789). Teil II, S. 5ff. Vgl. zu Gottscheds Zeitschriftenpolitik Winkler: Johann Christoph Gottsched im Spiegelbild seiner kritischen Journale, speziell zu den Beyträgen vgl. ebda., S. 148f. Zu einem Stufenmodell der Zeitschriftenentwicklung von den frühen Moralischen Wochenschriften Gottscheds über die Critischen Beyträge bis zum Neuen Büchersaal vgl. Ball: Moralische Küsse. Auf diese Weise kann Gottsched, der im übrigen Bodmers Kritik an den Tadlerinnen akzeptiert, entschuldigen, daß Bodmers Milton-Übersetzung kritisiert worden ist (weil es nämlich die Zeitschriftengattung erfordert); und umgekehrt kann Bodmer sich darüber wundern, daß mit ihm so sanft umgegangen wurde, und eine schärfere Kritik fordern (Briefwechsel Gottscheds mit Bodmer und Breitinger, S. 354f.). Zur Einordnung des Neuen Büchersaals als eine den Themen nach gelehrte, aber auf breite Popularität zielende Zeitschrift vgl. Ball: Moralische Küsse, S. 123ff. Zur polemischen Situation und zur Verletzung des Gebots zur Zurückhaltung von Kritik vgl. ebda., S. 141, 144ff., 174, 230, 232f., 235ff., 252, 324.
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bertragung betreffend („grammatische Erinnerungen“; CB I, 2, 292, 295f.). Wenn man die Annäherung Gottscheds an Bodmer in dieser Zeit in Betracht zieht, wird jedenfalls der literaturpolitische Aspekt dieser Rezensionspraxis deutlich. 1733 also veröffentlichen die Critischen Beyträge im 5. Stück einen kurzen Aufsatz mit dem Titel Eines ungenannten Gönners unserer Arbeiten Critische Gedanken über den sterbenden Cato, der Gottsched über Gottlieb Stolle zugekommen sein soll (CB II, 5, 44f.)66 und dem er seine Bescheidne Antwort auf die vorhergehenden Critischen Gedanken über den sterbenden Cato folgen läßt. Der ungenannte Kritiker bemängelt im wesentlichen sechs Punkte: erstens die ungeschickte, weil zu auffällige Anwendung der Regel von der ‚liaison des scenes‘, zweitens eine „unwahrscheinlich[e]“ Handlungsweise Catos, drittens das im Vergleich mit dem Protagonisten zu positive Auftreten des Gegenspielers Cäsar (wodurch das wirkungsästhetische Ziel des Trauerspiels nicht erreicht werde), viertens einen Verstoß gegen das aptum-Gebot des Trauerspiels (zu „niedrig[e]“ bzw. zu „matt[e]“ Ausdrücke), fünftens den grundlosen Abgang einer Person und schließlich sechstens eine Charakterabweichung Catos (CB II, 5, 39ff.). Auf engstem Raum versammelt die Cato-Kritik damit eine Reihe von Zentralproblemen der aufklärerischen Poetologie: die ‚Natürlichkeit‘ des Ausdrucks (unauffällige Regelanwendung), den Kausalnexus (Wahrscheinlichkeitsgebot, Einsehbarkeit und Begründbarkeit der Handlungen, Konstanz der Charaktere) und den Finalnexus des Kunstwerks (Wirkung) sowie das Problem der Hierarchie als Ordnungsmodell (Gattungs- bzw. aptum-Theorie). Ohne dabei ins Detail zu gehen, lassen sich in Gottscheds Gegenkritik einige wichtige Punkte herausheben: Zunächst erklärt Gottsched Kritik für zweifellos legitim, weil kein „grosses“ Gedicht „ohne alle Fehler zu Stande gebracht werden könne“ – der Grund ist, wie in der Dichtkunst, die „menschliche Unvollkommenheit“ (CB II, 5, 44f.). Dieses Eingeständnis der Kritisierbarkeit steigert Gottsched dann sogleich, indem er behauptet, daß der Kritiker „aus gar zu grosser Güte gegen diesen tragischen Versuch, noch manchen weit wichtigern Fehler übersehen habe“ (CB II, 5, 46) – die prinzipielle Fehlbarkeit entpuppt sich damit als Kritik der Kritik, als Möglichkeit, nicht nur die eigene, sondern auch die Fehlbarkeit des Kritikers ins Spiel zu bringen und darauf eine höherstufige Beobachtung folgen zu lassen. Warum sollte es jedoch dabei bleiben? Im Zentrum der Wiederlegung des ersten Kritikpunktes steht eine eigentümliche Verwendung von Exemplarität. Corneilles Cid wird zum _____________ 66
Laut Gottsched sind der Verfasser („demjenigen gelehrten Manne“) und Gottlieb Stolle nicht ein und dieselbe Person, wie Horst Steinmetz sowie ihm folgend verschiedene Interpreten meinen (Gottsched: Sterbender Cato, S. 91, 142 i. U. zu S. 95).
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Beleg für die Legitimität von Gottscheds Szenenverbindungen, weil dieser erstens diese Regel oft mißachtet bzw. diese Regel nicht gekannt und gleichwohl zweitens „ganz natürlicher Weise“ in einigen Fällen angewendet habe: „Warum sollte ich es in meinem Cato nicht wahrscheinlicher Weise haben thun mögen?“ (CB II, 5, 48) Diese Kombination von Außergewöhnlichkeit und Normalität, Intuition und Unkenntnis zeigt sehr deutlich die Variabilität der sogenannten Regelpoetik, die zwar auf der Programmebene von Vorschriften ausgeht, sich in der Beurteilungspraxis jedoch als sehr flexibel erweist. Gesehen hat man in der Einschätzung Gottscheds allerdings nur das Diktatorische in den Richtsprüchen des Leipzigers Kritikers, die sich nach Maßgabe der literaturpolitischen Strategie verschieben, aber Ansprüche auf allgemeine Anerkennung erheben.67 Aufschlußreicher als die Reaktion auf den ersten Vorwurf sind freilich die Entgegnungen auf die anderen Punkte, denn hier operiert Gottsched mit den Techniken des Möglichkeitsdenkens, d. h. er setzt bestimmte Bedingungen voraus („Gründe“) und beurteilt die Einrichtung des Kunstwerks nach diesen Voraussetzungen. Anders gesagt: Er beginnt damit, die Bedingungen der Beurteilung genau an das Werk zu binden. Das kann sich auf werkexterne Möglichkeiten beziehen, wenn er z. B eine (scheinbare) Unwahrscheinlichkeit als Wahrscheinlichkeit auf einer größeren Bühne vorstellt; oder es kann sich auf werkinterne Möglichkeiten beziehen, wenn Gottsched z. B. mehrere denkbare Handlungsvarianten für wahrscheinlich erklärt oder diejenigen Voraussetzungen auflistet, die Cäsar entgegen dem ersten Eindruck zu einem minderen Charakter („Scheintugend“) im Vergleich mit Cato machen und die notwendigerweise gegeben sein müssen, um Cato als fehlerhafte und bemitleidenswerte Figur zu markieren. Die Argumente gegen eine am aptum-Gebot orientierte Gattungstheorie, derzufolge in einer ‚hohen‘ Gattung mit ‚hohen‘ Personen auch der ‚hohe‘ Stil zu herrschen habe, liegen in der Fluchtlinie der gleichen Gedankenfigur, denn „die wahre Regel der Schreibart ist bloß die Wahrscheinlichkeit, und die allgemeine Pflicht des Poeten, die Natur selbst nachzuahmen“. Die Stilebene hat sich den Situationen und den Charakteren, nicht einer abstrakten Gattungsnorm gegenüber angemessen zu verhalten. Die Personen der Tragödie sind nicht sinnreiche Poeten, die so künstlich denken und reden können, wie Seneca und Lohenstein. Sie sind ordentliche Menschen, die nach Beschafffenheit ihres Standes, Alters, Geschlechtes, Glückes und Unglückes, diese oder eine andere Sprache führen. (CB II, 5, 56)
_____________ 67
Vgl. z. B. [Bodmer]: Herren Johann Christoph Gottscheds Seltsame Vorrede (SCPS, 1742, 6. St., 130ff.).
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Arsene redet demnach mit ihrer Zofe so „natürlich“, wie das nun einmal „Prinzessinnen“ in vergleichbaren Situationen tun – unter den Voraussetzungen, die im Stück herrschen (Bedrängnis, Verlassenheit etc.), kann sie keine „Prunkworte[ ]“ finden. Wie tief diese Bedingungsverhältnisse in die Feinstruktur des Stücks und in seine poetische Logik eingelassen sind, zeigt Gottsched selbst: In zwei zitierten Zeilen – so erklärt er – seien keine Wiederholung, sondern eine Erweiterung sowie ein Ursachenangabe enthalten. Die Aufklärung wechselt von der Akkumulation zum Fortschritt, von der Tautologie zur Kausalität, daher entsteht der Mensch von außen umgrenzt im Geflecht der Normalität und Natürlichkeit. Wenn die aufklärerische „Schwulst“-Kritik eine bestimmte Ökonomie des Sprachgebrauchs fordert und sich gegen den verbalen „Überfluß“ wendet (z. B. CB I, 3, 497), dann funktioniert dieses Argument im Rahmen ein und desselben Diskurses. Der Mensch wird durch die Maßgaben der Normalität von außen umschlossen und zudem von innen durch die Kontinuitätsmaxime bestimmt, und zwar als Konstanz des Charakters nicht im Sinne einfacher Gleichförmigkeit, sondern der ‚Ähnlichkeit‘ und damit der Einheit in der Mannigfaltigkeit. Gegen den Vorwurf, „Portius sei sich selber nicht ähnlich“ geblieben, wird daher von Gottsched eine Reihe äußerer und innerer „Gründe“ angegeben und somit die verborgene Kausalstruktur des Charakters entfaltet. Er hat so seyn müssen, wenn er Portius, das ist, ein Jüngling, und zwar in solchen Umständen als er war, hat seyn sollen. [...] Er ist stolz und trotzig, da sein Vater noch lebt, auf den er sich verlassen kan: Darum begegnet er dem Pharnaz so heftig und höhnisch. Er ist heftig in Begierden, indem er sich in Arsenen verliebt hat, und hernach bey entstandenem Tumulte der erste seyn will, der den Pharnaz erlegt. Er ist endlich auch unbeständig in seinen Entschlüssungen: Denn da er sich bey den letzten Lehren seines Vaters am Ende der vierten Handlung so willig erkläret, daß er ein solches Leben, als ihm Cato vorschreibt, unmöglich hassen könne: So verläßt er freylich am Ende, da ihn der unvermuthete Tod des Cato zaghaft macht, diesen löblichen Vorsatz, und will lieber den Cäsar in der Güte gewinnen. Er ist also ein vollkommener junger Mensch, so wie die Natur und Erfahrung uns dieselben vorstellet. (CB II, 5, 58; Hervorhebungen S.M.)
Die Ähnlichkeitstheorie der Aufklärung, die ihren bekanntesten Ausdruck im „Witz“-Begriff gefunden hat68, liegt dem ganzen Gedankensystem zugrunde: Der sich stufenweise wiederholende Aufbau von ‚gegründeten‘ Zusammenhängen des wolffianistischen Systemprinzips und damit die darauf aufbauende Fabel- bzw. Wahrscheinlichkeits- und Mimesistheorie Gottscheds suchen nicht weniger nach „Ähnlichkeiten“ als die Begrün_____________ 68
Als Überblick vgl. Böckmann: Das Formprinzip des Witzes in der Frühzeit der deutschen Aufklärung.
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dungsmuster der Stilkritik, die sich gegen „weithergeholte Ähnlichkeiten“ auf der einen Seite, gegen die Verführung durch eine offensichtlich naheliegende, aber nur in Buchstaben bestehende „Ähnlichkeit der Wörter“ auf der anderen Seite wendet (z. B. CB I, 3, 499, 503, vgl. auch 505, 507, 509, 517). Anders gesagt: Gottscheds Kritik versucht, einerseits die Parameter sowohl im Bereich des Unsichtbaren („weithergeholte Ähnlichkeiten“) als auch im Bereich des Sichtbaren („Ähnlichkeit der Wörter“) neu zu bestimmen (2.1). Andererseits verschiebt sie die Gewichte in der Aufmerksamkeit, denn das Unsichtbare gewinnt im 18. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung (2.1, 3.1.1 u. 3.2).69 Der polemische Kern aufklärerischer Stilpurifizierung besteht in der Wendung vom bereichsspezifischen Sprachgebrauch (bei dem nur bestimmte Aspekte z. B. eines Gleichnisses interessant sind) hin zur einer auf umfassende Übereinstimmung angelegten Kontrolle der Sprache,70 die ihr anthropologisches Pendant in der Forderung nach einem sich selbst in allen Situationen ‚gleich‘ bleibenden Menschen hat. Wie die Feststellung von ‚Gründen‘ ist die Feststellung von ‚(Selbst-)Ähnlichkeit‘ eine Frage der argumentativen Virtuosität. Daß von der ‚Vernunft‘ Gottschedschen Zuschnitts die Horazische Orientierung an den Leitbegriffen „simplex“ und „unum“ „überall gebilliget wird“, trifft jedenfalls den Kern der Sache (CB I, 3, 520; Hervorhebung S.M.). Wie sich im Raum der Ähnlichkeiten ein Raum der Möglichkeiten und damit die eigentlich verfügbare Argumentationsmasse herausbildet, zeigt nicht erst ein Blick auf die Kontroverse um Milton, in der Bodmer dort ‚Natur‘ entdeckt, wo es für Gottsched nur ‚Schwulst‘ zu sehen gibt (z. B. CB VI, 24, 657f., 663). In der Praxis freilich verläuft die Argumentation in Gottscheds Cato-Verteidigung doch recht schematisch und orientiert sich dabei an den Kriterien von „Stand[ ]“, „Alter[ ] und „Geschlecht[ ]“ bzw. hier genauer: an den Bestimmungen der Alterslehre, die Horaz vorgegeben hat und der die Beweisführung Punkt für Punkt folgt. Interessant sind gleichwohl die Gegenproben Gottscheds („Sollte ich denn [...]“, „Wie wäre [...]“, „Ich müste [...]“, „Und was hätte [...]“) als eine ständig wiederholte Gedankenfigur des Möglichkeitsdenkens und damit auch der Variabilität von Möglichkeiten und der Unsicherheit der Einschätzung, Beurteilung und Kritik. Insofern sind die von Gottsched immer wieder gestellten Fragen („Was ist es also Wunder, daß sie davon geht, ohne zu sagen, warum?“; „Allein ich frage nur, ob Cato, aller seiner Philosophie ungeachtet, nicht noch ein Mensch geblieben?“ etc.; CB II, 5, 60f.) nicht nur rhetorische Fragen. Daß sich diese in einem Zusatz häufen (CB II, 5, 67), in dem Gottsched auf die Kritik an der Abweichung von historiographischer _____________ 69 70
Vgl. Verf.: „Man setzet sich eben derselben Gefahr aus, welcher man andre aussetzet“. Vgl. zu den Argumentationsmustern der „Schwulst“-Kritik Schöberl: „liljen=milch und rosen=purpur“, S. 25ff., insbes. S. 50ff.
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Überlieferung und poetischer Anverwandlung des Stoffs eingeht, ist bezeichnend: Da Gottsched eine bestimmte „Absicht“ verfolgt, kann er einige geschichtliche Ereignisse (z. B. den Akt des Selbstmords) nicht den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechend darstellen, sondern nur den „Gründen“ gemäß, die er sich selbst gesetzt hat. Wenn er allerdings zunächst ein Horaz-Zitat als Regel anführt und danach erst auf das Kriterium der Wirkung zu sprechen kommt, verweist das wiederum auf die theoretisch stets behauptete Hierarchie von Poetologie und Poesie in der Beweisführung, die Gottsched den Ruf eines Regelpoetikers und damit auch Regelkritikers eingebracht hat. Man kann das zwar problemlos nachvollziehen, bekommt aber die Komplexität der kritischen Kommunikation damit nicht zu fassen.
3.2 Johann Jakob Bodmer Bodmer und Gottsched haben ein großes gemeinsames Ziel: die Installierung eines kritischen Diskurses, in dem eine mittels Autoritäten und positiver Rückbezüge geregelte Bewertung durch „gegründete“ Urteile abgelöst wird. Zentraler Bezugspunkt bei dieser Einführung neuer Formen von Negativität ist daher für beide Parteien die Leibniz-Wolffsche Philosophie – auch Bodmer und Breitinger wollen „alle Theile der Beredtsamkeit in mathematischer Gewißheit“ ausführen (SCPS 2. St., 149).71 Im Blick auf diesen gemeinsamen argumentativen Fundus verwundern die positiven Bezugnahmen und der zwar nicht unproblematische, aber doch solidarische Umgang miteinander gerade in den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts wenig. Irritieren sollte vor dem Hintergrund der offensichtlichen Gemeinsamkeiten vielmehr, wie plötzlich der Streit zwischen den beiden Kritikern bei allen Vorgefechten ausbricht und mit welcher Geschwindigkeit die Auseinandersetzung eskaliert. Hierin liegt auch das größte Problem für Gottsched, denn natürlich werfen die Schweizer ihm den bloß taktischen bzw. polemischen Zuschnitt seiner Argumentation vor, indem sie seinen Meinungsumschwung hinsichtlich Miltons Paradise Lost immer wieder zitieren (z. B. SCPS 2. St., 78, 6. St., 44f., 58f.). Der „deutsch-schweizerische Literaturstreit“ läßt sich von verschiedenen Seiten aus analysieren: inhaltlich als literaturtheoretische Auseinandersetzung um die Lizenzen der Phantasie und der sprachlichen Erfindung, _____________ 71
Vgl. den Brief von Wolff an Breitinger in: Litterarische Pamphlete, S. 47. Bender: Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger, S. 71f. Berghahn: Von der klassizistischen zur klassischen Literaturkritik, S. 27.
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hinter dem sich theologische Anliegen verbergen72, sozial als verteilungspolitischer Streit um Gruppenzuordnungen im literarischen Feld und kommunikationsgeschichtlich als Effekt der massenmedialen Aufrüstung des Literaturbetriebs durch die entstehende Zeitschriftenkultur.73 Im folgenden interessiert nun zunächst weniger, welche der beiden Parteien dabei auf seiten eines wie auch immer konstruierten Fortschritts der Literaturgeschichte zu suchen sein könnte, sondern vielmehr, auf welche Weise Bodmers Theorie und Praxis von Literaturkritik – wie diejenige Gottscheds – einen Wechsel von Wissensordnungen begleitet. Denn beide Parteien entfalten Argumente, die in unterschiedlicher Weise auf die Diskurskonstellation ihrer Zeit reagieren und die in unterschiedlichen Kombinationen und Akzentuierungen für die nachfolgende Kritikergeneration Anschlußmöglichkeiten bieten (3.3). Auch hier liegt die Einheit der Aufklärung in der Einheit ihrer Kontroversen.74 Während Gottsched die neuen Kontinuitäten des typographischen Zeitalters herausstellt, arbeitet Bodmer an der Herstellung einer perspektivisch vervielfältigten Wahrnehmung. Beides aber, die Vereinheitlichung wie der Perspektivismus, haben ihren Grund in derselben medienhistorischen Wissensordnung der Gutenberg-Galaxis.75 Im folgenden werde ich dabei zunächst darstellen, wie Bodmers Votum für kritische Gewalt je nach Interesse von seiten des Kunstrichters wie von seiten der Autoren verwendet werden kann, um die eigene Position aufzuwerten (3.2.1 a). Analog zu Gottscheds Konzept ‚philosophischer‘ Kritik ist auch im Rahmen von Bodmers Kritiktheorie das Medium der Komplexitätssteigerung eine neue Form der Sichtbarkeit, die auf Tiefsinn (3.2.1 b) und Perspektivismus (3.2.1 c) basiert. Am Beispiel von Bodmers Milton-Apologie, also ebenfalls einer Kritik der Kritik, analysiere ich die praktischen Konsequenzen von Bodmers Programm (3.2.2).
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Meyer: Restaurative Innovation. Im Überblick: Wilke: Der deutsch-schweizerische Literaturstreit. Kondylis: Die Aufklärung, S. 19ff. McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis, S. 71, 139ff., 157ff., zu Milton ebda., S. 170; zu den medienhistorischen Implikationen des „perspektivischen Projizierens“ vgl. Giesecke: Der Buchdruck der frühen Neuzeit, S. 602ff.
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3.2.1 Die Freiheiten der Kritik a) Verletzende Kritik Die entscheidende Frage, ob „die Wercke der Wohlredenheit nach einer sinnlichen Empfindung oder nach gewissen Vernunfts=Gründen zu beurtheilen seyen“, entscheidet Bodmer im Brief=Wechsel von der Natur des Poetischen Geschmackes (1736) zugunsten der Eindeutigkeit: Die „Critick“ habe sich – so erklärt die Vorrede – nicht an die unsichere Urteilsinstanz des „Geschmackes“, sondern an die „geübte, fertige und selbst in den kleinsten Stücken behutsam=gehende Uberlegung“ zu halten. Schreiben und Kritisieren beruhen auf denselben Kompetenzen, folglich werden auch die Urteile einhellig ausfallen, „weil eines jeden Meinung auf den Verstand, der nicht mehr als einer ist, gegründet ist“.76 Bodmer wird bis zu seinem Lebensende ein Feind kritischer Relativität bleiben, auch wenn er, entgegen seiner Programmatik, zur Verunsicherung des Urteils in hohem Maß beiträgt, gewissermaßen in einem performativen Selbstwiderspruch befangen bleibt. Noch in den 70er Jahren, mittlerweile zur lächerlichen Figur geworden, greift er die junge Poeten- und Theoretikergeneration an und plädiert in der Schweitzerischen Vorrede zum Archiv der schweitzerischen Kritick (1768) für einen objektiven Schönheitsbegriff.77 Das heißt aber faktisch auch: Der von Bodmer angekündigte vernünftige Konsens hat sich nicht eingestellt. Bereits vier Jahre nach dem Brief=Wechsel über den Geschmack geht Bodmer in der Vorrede 78 zu Johann Jacob Breitingers Critischer Dichtkunst (1740) beim Entwurf seines Kritikprogramms erneut von der Geschmacksbedatte aus, und das selbstverständlich in bezug auf das Vorund Gegenbild von Gottscheds Poetik, dessen Programm ja bereits Breitingers Titel zitiert. Auf Gottsched kommt Bodmer mindestens an drei Stellen mehr oder weniger direkt zu sprechen, auch wenn er ihn namentlich nicht nennt: Zum ersten wendet er sich gegen Gottscheds Prinzip, keine lebenden Gegenwartsautoren zu kritisieren; zum zweiten verweist er als Beleg für den angefeindeten Status der Kritik auf die Notwendigkeit von deren Verteidigung; zum dritten erklärt er, daß „der Geschmack an critischen Schriften [...] bey der deutschen Nation noch nicht so wohl befestiget [sei], daß man nicht nöthig hätte, sie mit Vorerinnerungen über gewisse Puncten einzuführen [...]“. Anlaß zur Hoffnung gibt ihm nun nicht Gottsched, der ja in der zweiten Auflage der Critischen Dichtkunst _____________ 76 77 78
Bodmer: Brief-Wechsel von der Natur des Poetischen Geschmackes, unpag. (Vorrede). Feldmeier: Nachwort, S. 151. Bodmer: Vorrede, unpag.
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seine Erfolge bei der Etablierung eines kritischen Bewußtseins verbucht hatte (3.1), sondern der Gottsched-Gegner Christian Ludwig Liskow. Die Bezugnahme auf Liskow ist aus zweierlei Gründen wichtig: Liskow gehört gemeinsam mit Carl Heinrich Heineken zu den wenigen profilierten Kritikern Gottscheds (CD I 14, 16), was wiederum mit der verwickelten Beziehung Gottscheds zu Dresden und damit zu Johann Ulrich König zusammenhängt (3.1.1).79 Zudem steht der Satiriker für ein bestimmtes Kritikprogramm. Bodmer selbst erwähnt, daß Liskow in der Verteidigung der Satire Briontes der Jüngere „das allgemeine Recht der Menschen zu critisieren [...] vollkommen bewiesen“ habe. Tatsächlich könnte Liskows Apologie der Kritik gegen Johann Ernst Philippi von 1733 in jedem Schulbuch als Programmschrift der Aufklärung stehen: Er wendet sich gegen die Restriktion des kritischen Diskurses durch Kirche und „Obrigkeit“. Letztere habe nur darauf zu achten, daß nichts gegen den Staat geschrieben werde, „allein von der Wahrheit oder Falschheit einer Lehre ein Urtheil zu fällen, das kommt ihr nicht zu. Denn der Verstand ist keinem Gesetze unterworfen“. Die „Republik der Gelehrten“ habe kein sichtbares Oberhaupt, sondern nur die Vernunft als Königin.80 Die Unsichtbarkeit der kritischen Instanz verweist allerdings nicht nur auf einen herrschaftsfreien Diskurs, sondern zudem auf jene gespenstische Beschaffenheit, von der bereits Gottsched im Anschluß an Shaftesbury geschrieben hatte (3.1.1). Auch bei Liskow haben die Autoren allen Grund zur Furcht. Bodmer erwähnt nämlich nicht, daß Kritik im Kontext der Briontes-Satiren vor allem eines bedeutet: vernichtende Kritik. Scheinbar ganz und gar unaufgeklärt schließt Liskow sich an das staatliche Strafzeremoniell an: „In der bürgerlichen Gesellschaft werden einige Missethäter gezüchtiget zu ihrem eigenen Besten; einige hergegen, ohne Absicht auf ihre eigene Besserung, die nicht mehr zu hoffen ist, andern zum Schrecken, gestrafet und abgethan“. Diejenigen, die augenscheinlich nicht zum Schreiben geboren, aber hochmütig seien, verdienten kein Mitleid. Vielmehr sollten sie, zur Rache an der „beleidigte[n] Vernunft“, aus „dem Lande der Gelehrten vertilget“ werden.81 In einem weiteren satirischen Nachschlag berichtet Liskow dann, Philippi sei verprügelt und dabei lebensgefährlich verletzt worden, wolle aber nun seine Schriften widerrufen: [...] so kann ich daraus, daß er ganz vernünftig geredet, und von sich selbst und seinen Schriften eben so geurtheilet, als bisher die ganze kluge und vernünftige Welt gethan hat, nichts anders schliessen, als daß durch den Schlag über den Kopf sein Gehirn ganz umgekehret, und just in die Ordnung gesetzet worden, in
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Vgl. Verf.: Friedrich von Hagedorn, S. 250ff. Liscov: Schriften. Bd. II, S. 163. Liscov: Schriften. Bd. II, S. 175, 178f. Vgl. zu diesen Thema insgesamt die satiregeschichtlichen Richtigstellungen von Kämmerer: Nur um Himmels willen keine Satyren.
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welcher es sich bey Leuten von gesundem Verstande befindet. Bey einer so entsetzlichen Verrückung und Erschütterung des Gehirns kann der Herr Professor ohne Wunderwerk nicht über vier und zwanzig Stunden leben [...].82
Tatsächlich schließt sich Bodmer an dieses krude Kritikmodell an und verkündet im letzten Satz seiner Vorrede, also an exponierter Stelle: [...] es ist nicht möglich Wercke von diesem Inhalt zu schreiben, ohne daß sich dieser oder jener dadurch verletzt finde; ja dieses ist vielmehr das Wahrzeichen der rechtschaffenen Critick, so wohl als der rechtschaffenen Philosophie.
Verletzung als Zeichen wahrer Kritik – deutlicher läßt sich das gewaltsame Moment des aufklärerischen Diskurses kaum benennen. Konsequenterweise droht Bodmer Gottsched an anderer Stelle den finalen satirischen „Stoß in die Grube“ an, falls dieser „sein Reich weiter als über die gebrechlichen Köpfe der Nation“ ausdehnen wolle (SCPS 12. St., 87). Bodmer kann sich dabei im übrigen auf die Solidarität Breitingers verlassen. Dieser votiert in seiner Vertheidigung der Schweitzerischen Muse, Hrn. D. Albrecht Hallers (1744) ebenfalls für eine tumultuarische Durchsetzung der kritischen Kommunikationskultur der Aufklärung. Wir sind schuldig, das Unrecht nicht nur von andern, sondern auch von uns selber abzulehnen, und die Unschuld, die in unsern Personen verletzet wird, soll uns eben so angelegen seyn zu vertheidigen, als wenn wir sie in unserm Nebenmenschen beleidiget sehen. Es ist hier nicht genug, daß man der Wahrheit überlasse, die Falschheit durch die Stärke ihres eigenen Lichtes zu besiegen. Die Wahrheit hat zwar eine unüberwindliche Macht auf die Menschen, wenn sie von ihnen erkennt wird, aber die Falschheit hat eine gewisse Geschicklichkeit sich in die Gestalt derselben zu verwandeln, so daß sie für die Wahrheit selbst angesehen und geehret wird. Die Kurzsichtigkeit der Leute kömmt ihr zu ihrem Betruge nur allzugut zu statten. Daher muß man ihr die Larve vom Gesicht reissen, und sie in ihrer eignen Farbe vor Augen stellen. Erst dann wird sie einen Abscheu erwecken. Aber dieses kann ohne Mühe und Streit nicht geschehen. [...] Wenn er [ein „geistreicher Scribent“, S.M.] jemals empor kommen soll, so muß zuvor der Falschheit und der verführenden Critick die Herrschaft benommen seyn: Und dieses kann ohne Lärmen und Streiten nicht geschehen.83
Breitingers Plädoyer für „Mühe“, für „Lärmen und Streiten“, das kontroverstheologische Positionen aufgreift84, läßt freilich offen, welche Kriterien es für „Kurzsichtigkeit“ gibt. Daher muß es nicht erstaunen, wenn der Kanonikus an gleicher Stelle vorführt, welche Konsequenzen es nach _____________ 82 83 84
Liscov: Schriften. Bd. II, S. 415f. [Breitinger]: Vertheidigung der Schweitzerischen Muse, S. 132f. Zur Theologie gehört die Polemik bzw. die Kontroverstheologie. Für den Kirchenlehrer gilt es, mit Johann Georg Walchs Einleitung in die Religions=Streitigkeiten formuliert, die „Kriege des HErrn zu führen“. Die Bibel dient nicht nur dem Positiven, der „Besserung“, sondern auch der „Straffe“, der „kräfftigen Uberzeugung und Uberwindung, derer die von dem rechten Weg der Wahrheit abgewichen“ sind (Gierl: Pietismus und Aufklärung, S. 62f.).
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sich zieht, wenn man sich einmal auf eine Rangfolge von ‚besserer‘ und ‚schlechterer‘ Sehkraft eingelassen hat, nämlich die oben dargestellte kritische Eskalation (2.5; s. auch 4.1.1): Die Vertheidigung der Schweitzerischen Muse reagiert in ihrem „erste[n] Abschnitt“ auf eine Haller-Kritik im zweiten Stück der Critischen Versuche; der „zweyte Abschnitt“ geht dann auf eine Kritik an dieser Kritik ein, die an gleicher Stelle im neunten Stück erschienen ist und vom Verfasser der ersten Kritik wiederum annotiert wurde. Breitinger stellt Replik und Duplik vor, um dann selbst Stellung zu beziehen. Erneut stellt sich die Frage: Warum sollte damit das letzte Wort gesprochen sein? Wie also konstruiert Bodmer die Kritik, und welchen Anlaß gibt er Autoren, sich vor kritischer Gewalt zu fürchten? Zunächst einmal geht es ihm, wie gesagt, nicht anders als Gottsched ein Jahrzehnt zuvor: Er muß die Kritik verteidigen und richtet sich erneut sowohl gegen Gottsched, also einen Kritiker, der für sich ja die Etablierung der Kritik in Anspruch nimmt, als auch gegen furchtsame Autoren. An anderer Stelle reklamiert er explizit die Initialfunktion für sich bzw. für die Discourse der Mahlern, worin ihn Gottsched, zumindest in der Vorrede zur ersten Auflage der Dichtkunst, unterstützt (was Bodmer wiederum anmerkt) (CD II, 398; SCPS 2. St., 131f., 163, 171). Bodmers Argumente sind dabei, ohne daß er das so deutlich markieren würde wie sein Vorgänger, noch immer aus der Defensive heraus formuliert. Interessant wird dann sein, daß gerade Bodmers Bestimmung von Poesie und Kritik Anlaß dazu gibt, die Kritik erneut zu verteidigen (3.3). Bodmer muß zunächst erläutern, warum in den literarischen Diskurs eine Instanz eingeführt werden soll, die Autoren, wie es die Tadlerinnen bereits verkündet hatten, in „Furcht und Zittern“ versetzt (SCPS 2. St., 134). Er geht dabei von der Frage aus, ob die Regeln oder die Werke zuerst vorhanden gewesen seien, und votiert in einer etwas umwegigen Argumentation für die Regeln. Die ersten Schriftsteller haben demnach beobachtet, was eine „beständige Würkung [...] nothwendiger Weise“ ausübt, sie haben danach die entsprechenden (präexistenten) Regeln ausformuliert und diese wiederum ihren Werken eingeschrieben. Basis der Regelfindung ist zum einen das Prinzip der Naturnachahmung, zum zweiten die „Uebereinstimmung“ dessen, „was in den Vorstellungen gefällig ist“, mit „unserm Gemüthe“. Darin findet Bodmer einen „so unveränderlichen Grundsatz [...] als die Natur unsers Geistes selber ist [...]“. Die Explikation der Regeln ist – bis auf einige rühmliche Ausnahmen – Sache des kaltblütigen Kritikers, nicht des enthusiasmierten Poeten. Auch hier fungiert, wie bei Gottsched, die „Weltweisheit“ als Leitdisziplin der Geschmacksbildung. Der „schlimme Geschmack“ hat „den fürchterlichsten Feind an der gesunden Philosophie [...], indem diese durch das Mittel der Untersu-
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chung, das ist, der Critick, alles prüffet, und aus einem vorsichtigen Mißtrauen gegen der betrüglichen Empfindung und den ungenugsamen Erfahrungen nichts vor schön annimmt, wovon sie nicht zulängliche Gründe angeben kann“.85 Wiederum wie bei Gottsched ist auch bei Bodmer die Voraussetzung dieses Mißtrauens und der alles durchdringenden Prüfung die Einsicht in die prinzipielle Unvollkommenheit des Menschen und damit in dessen Kritisierbarkeit. Parallel zur Ermächtigung des Kritikers gibt Bodmer jedoch den Autoren Ratschläge, wie sie die kritische Instanz entmächtigen bzw. die Kritik zu ihrem Machtinstrument machen können. Weil diesen [den Autoren, S. M.] durch ihre [der Philosophie bzw. der Kritik, S. M.] Hülfe die Gründe dessen, was nothwendig gefallen muß, bekandt sind, so müssen sie nach diesem nicht auf gerathe wohl arbeiten, sondern wissen das Schicksal ihrer Schriften vorauszusehen, und es mit einer Gewißheit, die des Zweckes nicht verfehlet, zu regieren. Die billige Furcht den gescheuten Köpfen der Jeztlebenden zu mißfallen, läßt ihnen nicht mehr zu, ihre rohen Einfälle vor einer ernsthaften Prüffung und Ausarbeitung an das Licht zu stellen. Es schreibet nicht mehr, was Hände hat, wie Opitz von seinen Zeiten geklagt hat, sondern was Kopf und Hirn hat. Endlich wird durch die tiefsehende und freye Critick der Eifer nach Ruhm gewetzet, und die Leser überhaupt nach und nach eckler gemachet.
Autoren müssen die Kritik vorwegnehmen, weil sie sich vor ihren Lesern fürchten, und zwar, wie Bodmer später hinzufügt, nicht nur vor den „jeztlebenden“, sondern – was viel höherer Ansprüche stellt – auch vor den künftigen, die immer aufgeklärter und damit kritischer sein werden („[...] je erleuchteter auch die künftigen Zeiten seyn werden, destomehr Criticos wird er antreffen, und desto scharfsichtiger und ernsthafter werden solche seyn“).86 In diesem Sinn antizipierte Kritik wird ihrerseits wiederum zur Regierungskunst der Werkpolitik („mit einer Gewißheit [...] regieren“). Die quasi-philosophische Beschaffenheit und damit die Virtualität der _____________ 85
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Für Schlegel deutet die doppelte Orientierung an der konkreten Erfahrung des Kunstwerks und an abstrakten Kriterien auf die notwendige Verallgemeinerung der Orientierung unter Bedingungen eines anonymisierten Buchdrucks (Sich „von dem Gemüthe des Lesers Meister“ machen, S. 60f.). Vgl. zur synchronen Ausweitung des Publikums auf die „Ungelehrten“ Wetterer: Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch, S. 16ff., 161ff. Was Wetterer nicht berücksichtigt, sind gattungstheoretische Differenzierungen. So kann man z. B. nicht allen Barockpoeten eine Wendung gegen „Herrn Omnis“ zuschreiben (ebda., S. 10f.), solange sich satirische Romane wie Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch eben genau an „Herrn Omne“ wenden (Werke. Bd. I,1, S. 564). Gleiches gilt z. B. für die „Aufwertung des ‚Vergnügens’“ bei den Schweizern. Zwar ist für Johann Jacob Breitinger das delectare der poetische „Haupt=Zweck“, aber ausreichend ist das gleichwohl nur bei den „kleineren Gattungen“, wohingegen Epos, Tragödie und Komödie der „Erleuchtung des Verstandes und Besserung des Willens“ dienen, „ohne welche kein wahrhaftes und eigentliches, vernünftigen Geschöpfen anständiges Ergetzen statt haben kann“ (Critische Dichtkunst, S. 104ff.).
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Kritik, also die Suche nach den „Gründen“, bedingt nicht nur deren fürchterliche Genauigkeit, wie Bodmer an anderer Stelle der Vorrede erläutert, sondern auch deren Berechenbarkeit. Nur durch die unauffällige und permanente „Beunruhigung“ durch Kritisierbarkeit läßt sich die auffällige „Beunruhigung“ vermeiden, die tatsächliche Kritik beim Poeten verursacht.87 b) Kritischer Tiefsinn und die Innerlichkeit der Schrift Die zitierte Stelle bestimmt Kritik zunächst auf zweifache Weise: Sie sei „tiefsehend“ und „frey“. Die ‚Freiheit‘ der Kritik verweist auf ihre Unabhängigkeit von bloßer Autorität – hier bezieht sich Bodmer auf Gottscheds Apologie der Kritik und steht in einer längeren Traditionslinie, in der vor allem Adrien Baillet und Pierre Bayle wichtig waren.88 Der ‚Tiefsinn‘ der Kritik setzt dann den entscheidenden Akzent, zumal in Kombination mit der nachfolgenden Formulierung, der Wende von den schreibenden „Händen“ zu „Kopf und Hirn“, denn damit verweist Bodmer auf einen medienhistorischen Einschnitt: Literatur ist für ihn kein Handwerk. In diesem Sinn ist das Programm einer „tiefsehenden“ Kritik eine Variante der Forderung nach einem „tieferen Verstand“. Diese Forderung läßt sich sich geistesgeschichtlich nicht zuletzt in theologischen Zusammenhängen finden89 und begleitet die Etablierung des Buchdrucks,90 auch wenn die Überwindung der Schrift vom Phantasma einer vormodernen, interaktionistischen Autor-Publikum-Beziehung angeregt wird, die Bodmer in vielen Schriften als Kritik an der literarischen Vermitteltheit der Schriftkultur entwirft.91 Die Materialisierung dieses ‚Tiefsinns‘ obliegt jedenfalls der Kritik – schon bei Gottsched fiel, zumindest im Untertitel seiner Critischen Dichtkunst, die Etablierung der Kritik und die Bestimmung des „innere[n] Wesen[s] der Poesie“ zusammen.92 Bodmer verknüpft beides noch enger, indem die Kritisierbarkeit des Werks über dessen Wert entscheidet.93 _____________ 87 88 89 90 91 92
So Johann Georg Schuldheiß über Neukirch (Vorrede. In: Bodmer: Critische Lobgedichte und Elegien, S. IVf.). Jaumann: Das Modell der Literaturkritik in der frühen Neuzeit, S. 20; ders. : Critica, S. 218. Vgl. zum Modell von „Kern“ und „Schale“ in der Bibelhermeneutik: Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie. Bd. 2, S. 169ff. Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, S. 622. Schlegel: Sich „von dem Gemüthe des Lesers Meister“ machen, S. 14ff. Der Titel lautet in der Erstausgabe: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen; Darinnen erstlich die allgemeinen Regeln der Poesie, hernach alle besondere Gattungen der Gedichte, abgehandelt und mit Exempeln erläutert werden: Uberall aber gezeiget wird Daß das innere Wesen der Poesie in einer Nachahmung der Natur bestehe.
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Wenn übrigens die getadelten Scribenten, nicht nur die schlechtern, sondern die geschicktern öfters selbst, nicht mehrmahls gegen die Kunstrichter eingenommen wären, so würden sie sich nicht entbrechen können zu erkennen, daß ihnen durch die Critick selbst eine Ehre geschieht, welche andere Scribenten, so mit Stillschweigen vorbeygegangen werden, darum nicht erlangen mögen, weil sie den Kunstlehrern weder zum loben nach zum tadeln gut genug sind, als die nichts bey ihnen finden, was ihnen zur Erläuterung oder Befestigung ihrer Lehrsätze dienen könnte. Man muß in der That eine gewisse Art von Verdienst an sich haben, wenn man der Critick ernsthafter Kunstrichter würdig seyn soll.
Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen, und die Kritik bestätigt bzw. erzeugt Sagbarkeit. Antizipiert führt sie auf seiten des Autors zu einem tiefsinnigen Werk, auf seiten der Kritik dann zu einer Bestätigung (oder Bemängelung) ordnungsgemäßer Vorwegnahme ihrer selbst. Breitinger etwa – so erklärt Bodmer – fürchte keinen Kritiker, denn er habe sich „dergleichen scharfsinnige und unpartheyische Leser [...] in dem Lauffe seines Werckes beständig vor Augen gestellet, und diese Vorstellung hat ihn in der Sorgfalt unterhalten, etwas tüchtiges zu schreiben“. Autoren sind ihre eigenen Kritiker und verbessern ihre Schriften eigenständig, wie Schuldheiß das für Bodmer bezeugt, der als Autor wegen seiner „förchterlich[en]“ Kritiken „mit mehr Aufmerksamkeit“ gelesen werde.94 Der positive Zug der Kritik, der seine Voraussetzung in deren Gewaltsamkeit hat, soll offensichtlich die Autoren mit den Kritikern versöhnen. Die wahre Kritik zeigt sich daher auch in den „Absichten“ des Kritikers, indem dieser sein Bedauern über die Notwendigkeit tadelnder Urteile zur Schau stellt und neben dem Mangelhaften auch und vor allem das Lobenswerte erwähnt. Erneut gilt der bei Gottsched erwähnte Umkehrschluß, daß der Kritiker zwar mehr Fehler als der Normalleser sehen kann, aber eben auch mehr „Schönheiten“. Man sieht also, wie sowohl Gottsched als auch Bodmer einen prekären Ausgleich zwischen positiven und negativen Momenten der Kritik suchen, um der selbst erzeugten „Furcht“ der Autoren eine Belohnung für die zugefügten Qualen entgegensetzen zu können. Vor dem Hintergrund der komplizierten Einführung von Negativität in den literarischen Diskurs, die mit Motiven wie biographischer Entwicklung, Verbesserung, Stilmittelung etc. eine Linie bildet und in den Kontext der Innovation der Negationssemantik gehört (2.5), wird nun auch das andere von Bodmer in _____________ 93 94
Anstatt einer Einleitung ist Horatii Dichtkunst in deutsche Verße übersetzt, und mit Anmerckungen erläutert von M. Joh. Christoph Gottsched. Leipzig 1730. Im übrigen läßt Bodmer den Autoren den Weg der „Gegencritick“ offen. Die so entstehenden Varianten erzeugen wiederum Sinn bzw. „Anmerkungen“ von „Kennern“, wobei Schuldheiß seine Anmerkungen dem Besonderen der „Anwendung der Geisteskräfte“ und dem „verschiedene[n] Grade des Wizes“ widmet (Schuldheiß: Vorrede. In: Bodmer: Critische Lobgedichte, S. VIff., XXIV).
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der Vorrede zu Breitingers Dichtkunst angeführte Argument gegen Gottsched interessant, nämlich die Kritik an der Kritik lediglich verstorbener Autoren, einer Art Zweitauflage der um 1700 geführten Diskussion um die Höflichkeit der Gelehrten:95 Sollten die Autoren ihren „Vortheil recht einsehen“, werden sie wenig von der „ungebethenen Höflichkeit“ halten, erklärt Bodmer. Eine gegründete Kritik sei zu Lebzeiten wichtiger als danach, zudem könne sich ein Toter nicht mehr verteidigen, anders gesagt: Eine Kritik an Toten hat keinen Ort in einer auf Suspendierung von Endgültigkeit und auf Entwicklung angelegten Logik der Kritisierbarkeit (2.4). Andererseits kann der Umgang mit ‚Toten‘ aber auch Distanziertheit und damit die neuen Normen der Fernkommunikation exemplifizieren: „Einem unpartheyischen Kunstrichter sind sonst auch die Lebenden selbst in allen denen Stücken, mit welchen seine Critick zu thun bekömmt, wie Abgestorbene [...]“. Zudem ist die Diskussion um die Toten-Kritik ohnehin Makulatur, weil die Gottschedianer ihrem Programm selbst gar nicht folgen. Sie kritisieren lebende Autoren, und das auf eine durchaus krude Weise, wie 1742 eine Auflistung von kritischen Injurien unter dem Titel Von der Critischen Höflichkeit Einiger hochdeutscher Kunstrichter belegt (SCPS 6. St., 14ff., auch 41ff.).96 Bodmer nun sieht in der kritischen Grobheit nur einen Aspekt der „Freyheit“, die von ihm neben der Tiefensicht zur Bestimmung der Kritik verwendet wird, und geht damit in seinen Nachrichten von dem Ursprung _____________ 95 96
Zur Toten-Kritik: Voss: Die frühe Literaturkritik der Aufklärung, S. 49ff., 114ff.; zur Gelehrtenhöflichkeit: Gierl: Pietismus und Aufklärung, S. 543ff. Dieser Gegenbeweis reagiert auf den Vorwurf der Grobheit, der gegen die Schweizer Kritik erhoben wird (z. B. CB VI, 24, 668). Programmatisch erklärt Gottsched in seinen Zeitschriften, man wolle „weder übermäßige Lobsprüche, noch Satiren verschwenden“, sondern sich auf der „Mittelstraße“ halten (Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, Jänner 1751, S. 5), und fordert „critische[ ] Billigkeit und Leutseligkeit“ ein. Das sei zumal angesichts der Aggressivität gegen Autoren in „neulicher Zeit“ geboten (Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste. Bd. I, Leipzig 1745, 1. St., S. 8f.). Einige Rezensionen halten dies auf geradezu überraschende Weise ein: Einem bearbeiteten Demetrius-Schauspiel von Metastasio beispielsweise werden zwar die Verstöße gegen die Tragödienregeln vorgerechnet, aber auf eine sehr vorsichtige Weise: „Ferne sey es indessen, daß man hierdurch dem geschickten Herrn Verbesserer im mindesten zu nahe treten wollte“, woran sich eine fast schon Bodmersche Kontextualisierung anschließt: „Wir wissen die Umstände nicht, in denen er gewesen [...]“ (diese Wendung könnte sich freilich auch aus Devotion gegenüber dem Aufführungsort Wien erklären lassen) (Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste. Bd. VIII, Leipzig 1749, 1. St., S. 67). Daher polemisieren die Schweizer: „Der Verfasser fährt fort magere Auszüge mit halbigen Urtheilen, die er mit grosser Blödigkeit unbestimmt und wie verstohlen einstreuet, zusammen zu schreiben“ (Freymüthige Nachrichten Von Neuen Büchern, Und Andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen 4, 1747, 30. St., S. 238). Weil Gottsched bei der Erzeugung von Tiefsinnigkeit nicht mitzieht, kann Bodmer dessen Form der Negativität als ‚Krittelei’ abqualifizieren und definiert damit den Ort, den der Leipziger in der Kritikgeschichtsschreibung einnehmen wird (3.3).
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und Wachsthum der Critik bey den Deutschen (1741) deutlich in Richtung von Liskows Kritikprogramm: Wenn man die Höflichkeit so hoch treiben wollte, so würde sie zur Schmeicheley, Zagheit, und Scheinfrömmigkeit werden, die Critik würde dadurch ihre Nerven verliehren, und die albernen Scribenten würden der verdienten Strafe, womit sie andern zum Exempel dienen sollen, entrissen werden. Ich finde in der That in den schweitzerischen Critiken nichts weiter, als eine einfältige und aufrichtige Freyheit, welche nur der Wahrheit gut ist [...]. (SCPS 2. St., 156)
Angesichts der Gottschedianischen Schärfe der Polemik und der Kritik an lebenden Autoren, bei der offensichtlichen Selbstwidersprüchlichkeit der Leipziger Position also, versteht man die Auseinandersetzung besser, wenn man sie als Auseinandersetzung um einen Verhaltensstandard begreift, der Negativität auf positive Weise zu integrieren versucht (2.1.2).97 Demgegenüber beharren die Schweizer darauf: Ein billiges und gerechtes Urteil kann gar nicht grob und unhöflich sein, wobei Gerechtigkeit definiert ist durch die Begründung des Urteils im „innern Werth einer Schrift“. Fehlt diese Basis, werde auch das Lob zu einer Injurie (SCPS 6. St., 34ff., 37, 39). Der Akzent auf dem „innern Werth einer Schrift“ deutet an, womit die Einführung von Negativität zu kämpfen hat: mit den Beständen der traditionalen Repräsentationskultur (2.1). In der Auseinandersetzung um eine Neudefinition der Orientierungen, zu denen eine kritische Ausrichtung gehört,98 wird Gottsched von Bodmer auf einen der hinteren Plätze verwiesen. Das ist zunächst ein rhetorisches Unterfangen, denn Gottsched selbst forciert in seinen Schriften, und nicht zuletzt in der Critischen Dichtkunst, diesen Ablösungsprozeß, der seine zentrale Vokabel in den „Gründen“ hat.99 Daher versucht Bodmer die Interpretationshoheit genau über dieses philosophische Fundament beider kritischer Poetologien zu erhalten. Zunächst degradieren die Schweizer die Gottschedianern zu einfachen Wortklaubern und wenden damit die Gottschedianische Kritik an der humanistischen Kritik auf die Humanismuskritiker selbst an (z. B. SCPS 4. St., 34f.).100 Damit unterschätzen sie erstens (wie bereits Gottsched im _____________ 97
Denn die „unpartheyische Aufrichtigkeit“ und die „wahre Höflichkeit“ sind nicht für alle miteinander vereinbar (SCPS 2. St., 158). „Nach dieser Leute Meinung“ – so erklärt ein Parteigänger Bodmers in einem Aufsatz Von der Critischen Gerechtigkeit – „ist die Critick in so fern sie in Entdeckung der Unvollkommenheiten eines Schriftstellers geschäftig und scharfsichtig ist, schon für sich selbst strafbar [...]“. Die Menschen sind hier „empfindlich“. Und umgekehrt gilt auch: Die Toten sind dem Kritiker nicht mehr gefährlich. 98 Vgl. in diesem Kontext auch die kritikaffine Tradition der Hofkritik sowie die Umbrüche in der Komplimentierkultur: Beetz: Negative Kontinuität. 99 Vgl. Verf.: Gründlichkeit. 100 Voss: Die frühe Literaturkritik der Aufklärung, S. 70ff.
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Blick auf den Humanismus) die Tiefsinnigkeit ihrer Gegner bei weitem und unterschlagen zweitens einen Teil ihrer eigenen Kritikpraxis (z. B. SCPS 2. St., 102f.). Hinsichtlich der Selbstdefinition jedenfalls erklären sie sich zu Fachmännern für die „innerliche Kunst“ der Poesie „im Tiefen und Absonderlichen“ sowie für eine „tiefere und verborgenere Erkänntniß des Menschen und der Dinge“, die zwar vorbildliche Poeten, wie z. B. Martin Opitz, poetisch, nicht aber poetologisch verwirklicht haben (SCPS 2. St., 85, 87; Hervorhebungen S.M.). Das „Innere“ der Kunst101 und deren „Tiefen“ sind Kategorien zur Visibilisierung positiver, vor allem aber auch zur Invisibilisierung negativer Qualitäten (dies freilich jeweils nur im Vergleich mit entgegengesetzten Positionen). Aus dem Faible fürs „Innere“ erklärt sich die explizite Konfrontation von Kritikkultur und Repräsentationskultur, und zwar wiederum im Kontext der Debatte um das Verhältnis von „Höflichkeit“ und „Kritik“: Die Höflichkeit besteht in einer Mässigung der Affecten und des Willens nach den Regeln oder Gewohnheiten des äusserlichen Wohlstands; und die Natur der Höflichkeit erfodert, daß man nicht auf Recht und Verdienst, sondern auf das Vergnügen dessen, den man nützlich gewinnen will, sehe. Die Critick hingegen muß ihre Absicht von dem äusserlichen Range, Ansehen und Credit, und andern dergleichen Vorzügen gäntzlich abkehren, sie muß nur auf das innerliche Vermögen des Geistes, Verstandes und Witzes sehen, und ihre Beurtheilungen auf die Wahrheit gründen. Geist, Verstand und Witz aber sind nicht an einen gewissen Rang oder an gewisse Ämter in der Welt gebunden; sie werden nicht angeerbt, sie können nicht mit Geld erkauft, noch wie Titel und Ehrenstellen verliehen oder verpachtet werden. (SCPS 6. St., 39f.; Hervorhebungen S.M.)
Kritik befreit aus dieser Perspektive von einer autoritären Kommunikationsstruktur, insofern sie nicht auf Äußerlichkeiten, auf die Ausstellung von Macht, reagiert, sondern auf Innerlichkeiten. Sie bringt indes keinen herrschaftsfreien Diskurs mit sich. Vielmehr geht die Kritik in der Wendung gegen die „mechanische[ ] Verfertigung“ von Poesie102 mit Unsichtbarkeiten und damit unkontrollierbaren Bedrohungen Hand in Hand. Es _____________ 101 Vgl. zur Ambivalenz des „innerliche[n]“ der „Schrift“ Schuldheiß Kommentierung von Gottscheds Entgegnung von Bodmers Charakter der Deutschen Gedichte, wo das „Innerliche“ einmal ganz einfach den Inhalt bzw. die „Gedanken“ meint (Vorrede. In: Bodmer: Critische Lobgedichte, S. XI, dazu auch S. VII), auf der anderen Seite aber auch so etwas wie die Einheit von Ausdruck und Bedeutung: „Es ist wahrlich nicht der äusserliche Laut der Worte, der den Ausdruk angenehm oder widrig macht, sondern eine innre Schönheit des Gedankens; das Lebhafte, das Sinnreiche, der Schwung, die Ordnung, das Ebenmaß der Gedanken“ (ebda., S. XIII). Schließlich wendet sich Schuldheiß gegen das Lob aller „unpoetischen Lieder[ ] von frommem und erbaulichem Inhalt“, denn „wo das Herz Andacht nährt, da muß Affect seyn. Wenn sich aber dieser nicht in einem lebhaften, feurigen, dem Geist der Ode gemässen Ausdruck äussert, woher muß ich denn sehen, daß das Herz des Dichters von Andachts=Glut erhizt sey?“ (ebda., S. XVf.). 102 Sinnliche Erzehlung von der mechanischen Verfertigung des deutschen Original=Stückes von Cato. In: SCPS 8. St., 80ff.
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ist nicht nur der letztlich variabel einzusetzende rhetorische Spielstein der Wirkung, der zur Individualisierung beiträgt, und auch nicht nur die Entdeckung der den Werken vorgängigen Regeln in den Werken, wo sie für Gottsched per se jenseits der Werke zu finden sind. Was am schwersten wirkt, ist das „Vorurtheil[ ]“ zugunsten des Autors, sozusagen dem Spiegelbild der vernichtenden Kritik. Hier werden aus gegnerischer und daher durchaus sensibler Sicht „Fehler[ ] wider ihre Grammatik“, „Verkehrungen aller gewöhnlichen Wortfügungen“, und „tausend ander[e] sonst unerlaubte[ ] und von keinem andern Poeten begangene[ ] Schnitzer“ zu Schönheiten (CB VI, 24, 663). Dieses ‚Vorurteil‘ wird von Bodmer im Kritikprogramm nur in leichten Wendungen angedeutet, zum bestimmenden Prinzip wird es jedoch in der kritischen Praxis (3.2.2). c) Kritischer Perspektivismus Während Gottsched den Kritiker an die Hierarchiespitze setzt, richtet Bodmer seine Fragen in einer anderen Weise an den Text. Regel und Werk verhalten sich für Gottsched und Bodmer theoretisch so zueinander, daß die Regel dem Werk vorausliegt, der Kritiker das Werk also an der Regel mißt und diese nicht von jenem abliest. Entsprechend fragt Gottsched bei Bodmer um die angekündigte Verteidigungsschrift für Miltons umstrittenes Epos nach: „Ich gestehe, daß ich begierig bin die Regeln zu wissen, nach welchen eine so regellose Einbildungskraft, als des Miltons seine war, entschuldiget werden kan“. Und als er den „Anfangsbogen“ der Apologie zugeschickt bekommt, bedankt er sich mit der Versicherung, er erwarte sich „viel Gutes zu Beförderung des guten Geschmackes“ davon.103 Bodmer nämlich votiert zwar in der oben beschriebenen komplizierten Argumentation ebenfalls für die Vorgängigkeit der Regeln, in seiner Milton-Apologie aber zeigt er sich so, als entfalte er lediglich die „Schönheiten“ des Paradise Lost. Er setzt in Tradition der Erhabenheitsästhetik104 den Autor an die Hierarchiespitze und fordert daher ein größeres Maß an „Behutsamkeit“ vom Leser. Auf Bodmer selbst wendet sein Verleger Conrad Orell diese kritische Haltung im Vorwort der Gedichte an: Welche Kleinmüthigkeit daß einige den gewohnten Pfad, der durch die Reime gehet, nicht verlassen dürfen! Und welche Schwachheit daß andere sich durch das griechische Sylbenmaß hindern lassen, das Schöne und Lehrreiche in der Poesie zu entdeken und zu fühlen! Denn wir wollen den Kaltsinn vieler Leser, der dem Buchhändler vornemlich bekannt ist, lieber dieser Schwachheit zuschreiben, als
_____________ 103 Briefwechsel Gottscheds mit Bodmer und Breitinger, S. 354, 373f. 104 Longinus: Vom Erhabenen, S. 82 (Kap. 33).
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glauben daß die ungewöhnliche Denkart und die sittlichen Eigenschaften der eingeführten Personen daran Schuld haben.105
Der Kritiker muß lernen, seine allgemeinen Kriterien, die sich bei Bodmer wie gesagt nicht wirklich fundamental von denen Gottscheds unterscheiden, mit dem Besonderen eines Werks zu verbinden. Für die Differenzierung der beiden Parteien im Literaturstreit am Leitfaden der Über- oder Unterordnung von Autor und Kritiker bzw. Leser spricht, daß die Zeitgenossen und die folgende Kritikergeneration sich mit genau diesem Problem herumschlagen werden (vgl. 3.3). Die Critischen Beyträge haben diese eigentliche Provokation Bodmers, die Degradierung des Lesers, bemerkt: Nicht Milton hat demzufolge Schuld an der nur mäßigen oder sogar negativ-kritischen Rezeption des Paradise Lost, der Grund dafür liege vielmehr in der Unfähigkeit der Deutschen, die Güte dieses Epos zu erkennen. Die Beyträge verwahren sich gegen die Anmaßung Bodmers, „der uns zwingen will, ein ausländisches Buch zu bewundern, weil er es übersetzt hat“ (CB VI, 24, 659).106 Die Zürcher Partei reagiert darauf in der Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften mit dem Aufsatz: Ablehnung des Verdachts, daß die Schweitzerische Nation sich habe überreden lassen, an Miltons Verl. Par. einen Geschmack zu finden (SCPS 2. St., 73ff.).107 Gottsched kann sich jedoch bei seinen Vorhaltungen mit gutem Recht auf Bodmer selbst berufen, der seine Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie mit einer breit angelegten Leserkritik eröffnet. Da sich die Engländer flächendeckend gerührt zeigen, so folgert Bodmer, muß die ausbleibende Begeisterung hierzulande „von einer Ursache herrühren, die nicht in des Poeten Arbeit, sondern dem Zustande der deutschen Leser zu suchen ist“.108 Bereits die Verschiebung des kritischen Fokus auf den „Mangel an Fähigkeit auf Seite der Leser und Kunstrichter“, wie Bodmer zum Schluß der Vorrede noch einmal betont, sollte zu denken geben, und dies umso mehr, als Bodmer im Unterschied zu Gottsched ja die Gewichte auf die _____________ 105 Bodmer: Gedichte in gereimten Versen, unpag. 106 Zu diesem Streit mit längeren Zitaten bei Voss: Die frühe Literaturkritik der Aufklärung, S. 99ff. 107 Der Verdacht – so der Autor der Satire – geht fehl, weil Milton in der Schweiz ebenso schwach wie in Deutschland rezipiert werde. 108 Bodmer: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie, unpag. (Vorrede). Da Übersetzungsfehler von Bodmer nicht wirklich gelten gelassen werden, scheint die philosophische Orientierung der Deutschen, ihre ‚Mattheit’ und ‚Trockenheit’, als „Ursache“ übrigzubleiben. Henry Fielding behandelt diese Degradierung des Lesers zu einem poetentiell voreiligen „Wurm“ in der Vorrede zum 10. Buch von Tom Jones im übrigen bereits satirisch: Fielding: Tom Jones. Bd. 2, S. 12.
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Wirkungen zu legen scheint,109 die „natürlicher Weise und ohne Zwang folgen müssen“.110 Mit dieser Natürlichkeit ist es allerdings nicht weit her, andernfalls müßte Bodmer seine Zeit nicht mit Apologien verschwenden. Es geht dem Schweizer um eine Neuorientierung der Kritik durch die Naturalisierung seiner abstrakten Maßstäbe. Entsprechend fährt Bodmer nach dem zitierten Passus fort: „Ich habe viele besondere Nachrichten und Anmerckungen einfliessen lassen, welche dienen, die Fähigkeit des Lesers zu erweitern, ihn in die Gedancken, und Vorstellungen des Poeten einzuführen, und die Vorurtheile, welche desfalls im Lichte stehen, wegzuräumen“.111 Offensichtlich läßt sich ein literarisches Kunstwerk von verschiedenen Seiten aus betrachten, auch wenn Bodmers Argumentation auf Einseitigkeit hinauslaufen soll.112 Bodmer versucht damit – ungefähr zeitgleich mit Chladenius’ Einführung des „Sehe=Puncktes“ in die Auslegungslehre113 – den Blick des Lesers so zu wenden, daß dieser den richtigen „Gesichts=Punct“ einnimmt.114 Philosophiegeschichtlich liegt der Theorie vom „Gesichts=Punct“ Leibniz’ Möglichkeitstheorie zugrunde: Die Differenz zwischen Gott und dem Menschen – dem „petit dieu“ – besteht darin, daß die scheinbaren Unvollkommenheiten aus menschlicher Perspektive sich aus göttlicher Perspektive als Maßnahmen zur Vervollkommnung der Welt erweisen. Zur Illustration zieht Leibniz „inventions de perspective“ heran, bei denen erst aus dem angemessenen „point de vue“ die Ordnung entstehe.115 Seine metaphorische Basis hat dieser Perspektivismus bei Bodmer in der Verräumlichung des literarischen Kunstwerks, also im Konzept des ut pictura poesis bzw. der „poetischen Mahle_____________ 109 Wetterer: Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch, z. B. S. 163. 110 [Bodmer]: Abhandlung von der Schreibart in Miltons verlohrnen Paradiese. In: SCPS 1742, 3. St., S. 75-133, 75. 111 [Bodmer]: Abhandlung von der Schreibart in Miltons verlohrnen Paradiese. In: SCPS 1742, 3. St., 75. 112 Vgl. in diesem Zusammenhang zum Billigkeitsprinzip der Aufklärungshermeneutik: Danneberg: Der sensus metaphoricus in der Geschichte der Hemeneutik und die neuere sprachanalytische Metaphern-Diskussion, S. 92ff.; ders.: Siegmund Jacob Baumgartens biblische Hermeneutik, S. 132. 113 Die Kritik von Chladenius’ Allgemeiner Geschichts=Wissenschaft in den schweizerischen Freymüthigen Nachrichten verweist signifikanterweise insbesondere auf das fünfte Kapitel dieser Schrift zum „Zuschauer und Sehepunkte“ hin (Freymüthige Nachrichten Von Neuen Büchern, Und Andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen 9, 1752, S. 258). Zu Chladenius vgl. im Blick auf die Historiographie Koselleck: Standortbindung und Zeitlichkeit, insbes. S. 184ff.; im Blick auf die Hermeneutik vgl. Alexander: Hermeneutica Generalis, hier insbes. S. 187 zum „Sehepunckt“. 114 Bodmer: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie, S. 47, 169. 115 Leibniz: Die Theodizee von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels, S. 458ff. Vgl. weiterhin zum „point de vue“ § 57 der Monadologie (ders.: Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade, S. 52f.).
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rey“. Wenn es, wie bei Klopstocks Messias, um die Verteidigung des „Plans“ geht, also um die Beweisführung zugunsten der Ganzheit eines Werks, wird das zum Tragen kommen (z. B. 4.1.2). Hier werden „Züge gewählt und erhoben“, Charaktere werden „beleuchtet“ und Gleichnisse spenden dem poetischen Gemälde „Licht“.116 Aufschlußreich ist dabei, daß der Perspektivismus in Bodmers Literaturkritik eine doppelte Orientierung in der Kunsttheorie Christian Wolffs entfaltet: Wolff formuliert seine für die Frühaufklärung prägende Bestimmung von „Vollkommenheit“ als „Übereinstimmung“ eines Ganzen und dessen Teilen mit bestimmten „Absichten“ erstmals 1710 in den Anfangs=Gründen der Bau=Kunst als Teil der Anfangs=Gründe aller Mathematischen Wissenschaften 117, genauer in der dort vorgestellten Architekturtheorie und somit am Beispiel eines räumlichen Objekts. Signifikant ist, daß Wolff schon in der Einleitung die nur mangelhafte „geometrisch[e]“ Beweisführung seiner Architekturlehre anmerkt.118 Tatsächlich spielen darin neben den abstrakten Maßgaben der Proportionslehre auch Beobachtungen zur Empirie des subjektiven Illusionismus eine Rolle, wenn Wolff, der die Schönheit eines Gebäudes prinzipiell für beweisbar hält, z. B. das „Augen=Maaß“ als relevante Größe und dessen Ungenauigkeit als Maßstab anerkennt oder sich auf das „Ansehen“ und die entsprechende Standpunktrelativität bezieht.119 Wenn also 1743 in einer Abhandlung In welcher der Begriff der Critik bestimmt wird gerade die Betrachtung eines Hauses als Exempel für die Tätigkeit des Kritikers dient, dürfte das kein Zufall sein.120 Durch die Verlängerung der hier aufgezeigten Fluchtlinie wird deutlicher erkennbar, auf welche Weise die kritische Verräumlichung den Werkbegriff kompliziert und spezifische Sichtbarkeiten erzeugt. Einfache kausale Zurechnungen werden durch ein ganzes Bündel von Perspektiven ersetzt, wie das idealtypisch in Friedrich Schlegels Kritik von Goethes Wilhelm Meister der Fall ist. Diese Kritik hat sich nicht umsonst den Roman, also gerade jene Gattung, die in besonderer Weise über den Kausalund Finalnexus definiert wird, als Demonstrationsobjekt ausgesucht und _____________ 116 [Bodmer]: Abhandlung von den Schönheiten des vierten Gesanges der Messiade. In: Crito 1 (1751), 2. St., S. 45-57, S. 52 117 So Hans Werner Arndt in der Einleitung zu Wolff: Vernünfftige Gedancken Von der Menschen Thun und Lassen, S. [IX]. 118 Wolff: Anfangs-Gründe aller Mathematischen Wissenschaften. Bd. I, S. 304. Vgl. zur vitruvianischen Unterscheidung von „symmetria“ und „eurythmia“ Danneberg: Die Anatomie des Text-Körpers und Natur-Körpers, S. 24. 119 Wolff: Anfangs-Gründe aller Mathematischen Wissenschaften. Bd. I, S. 307f., 348f., 415. 120 Bemühungen zur Beförderung der Critik und des guten Geschmacks, 1743, 1. St., S. 28, 39.
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entfaltet neben der architektonischen und musikalischen Bildlichkeit ihre Argumentation am Leitfaden der bildenden Kunst.121 Der gemeinsame Grund der sich polemisch gegenüberstehenden Positionen Gottscheds und Bodmers liegt damit letztlich in der neuartigen Disziplinierung des stillgestellten Lesers122, die paradoxerweise gerade einen Wechsel der Sichtweisen möglich macht. Das perspektivische Sehen hat zunächst die Fixierung des Blicks zur Voraussetzung und erzeugt insofern Uniformität. Zugleich ordnet es die Dinge im neu erzeugten Illusionsraum so an, daß sie aufeinander bezogen sind, ihre Stellung sich also aus einer irgendwann einmal als ‚natürlich‘ akzeptierten immanenten Verwiesenheit, nicht aus einer von außen gestützten Macht ergibt (z. B. durch Gott oder durch die per Traditionalität gesicherte Autorität eines vorbildlichen Autors).123 Dadurch entsteht die Möglichkeit des Perspektivenwechsels und damit Relativität. Weiterhin tendiert das perspektivische Sehen auf eine „schichtenmäßige“ Wahrnehmung, auf das Sezieren der Gegenstände. Die Dinge werden, um es mit Bodmer zu sagen, für eine „tiefgehende“ Sicht transparent.124 Die Paradoxie der Etablierung von Negativität besteht darin, daß die Steigerung von Kritisierbarkeit der kritischen Kommunikation das Kritische nimmt. Wenn sich nämlich das Werk durch die Invisibilisierung von Kriterien komplizierter beurteilen läßt, dann profitieren Kritiker und Autoren davon. Nicht nur Autoren können stets kritisiert werden, sondern auch die Kritiker, und es ist nur konsequent, daß Bodmers gelehriger Kritikschüler Wieland diese Paradoxie entfaltet (3.3 c). 3.2.2 Exempel: Bodmers Kritik der Milton-Kritik Wo sich für den einen Kritiker „Schnitzer“ finden, stößt ein anderer auf „Schönheiten“. Anders formuliert: Das große Problem und zugleich die Bedingung der Möglichkeit kritischer Kommunikation besteht darin, daß sich Fehler nicht einfach erkennen und vermitteln lassen, weil die Kritie_____________ 121 Schlegel: Über Goethes Meister, z. B. S. 126: „[...] jeder Strich ist ein leiser Wink und alles ist durch helle und lebhafte Gegensätze gehoben“. Zu Veränderung der Ganzheitskonzeptionen im Blick auf Friedrich Schlegel vgl. Verf.: Sinn und Form in Goethes Egmont. 122 Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit, S. 63ff. 123 McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis, S. 71, 139ff., 157ff. 124 So im Blick auf den neuen Informationstypus und die neue Informationsfülle der auf Erfahrung abzielenden und mit zentralperspektivisch geordneten Illustrationen ausgestatteten Fachliteratur im Buchdruckzeitalter Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, S. 616ff. Vgl. in diesem Zusammenhang Foucaults Begriff des „Kommentars“, der auf eine ‚eigentliche’, ‚wesenhafte’ Tiefenschicht zielt und in dieser Bewegung das Sekundäre und Abgeleitete in Spiel bringt (Die Ordnung der Dinge, S. 73f.).
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rien sich immer mehr ins Unsichtbare, in die ‚Tiefe‘, verlagern und Kunstwerke von verschiedenen Seiten aus angesehen werden. Die symptomatische Verdoppelung der Kritik zur Kritik der Kritik – im Prinzip beliebig steigerbar und bis zum Jahrhundertende auch virtuos gesteigert (2.5 u. 3.3) – deckt die Betrachtungsvielfalt bzw. die Unsicherheiten auf, indem sie über demselben Set von Buchstaben Variationen konträrer Meinungen erklingen läßt. Analog zu Gottsched bietet sich daher bei Bodmer an, eine Kritik zweiter Stufe als Beispiel zu wählen, weil hierbei erstens die produktive Wirkung der Kritik, also die Verkomplizierung des Kunstwerks, und zweitens das Problem der applicatio deutlicher in den Vordergrund tritt als bei einer Kritik erster Stufe. Dabei schlägt Bodmer mit der Anwendung seiner kritischen Regeln in den Milton-Apologien sehr bewußt eine Richtung ein, die die Theorie der natürlichen und vernünftigen Regelbefolgung durch die Beurteilungspraxis aushöhlt. Es zeugt von Weitsicht, daß gerade er im Schreiben eines Schweitzers an einen Franzosen von dem critischen Kriege der witzigen Köpfe in der Schweiz und in Sachsen, der in den Bemühungen kritisch kommentiert abgedruckt wird, seiner Partei die Ergänzung der allgemeinen „Grundsätze des Schönen“ durch die Anwendung auf konkrete Kunstwerke als Pluspunkt anrechnet – bei „sehr besondern Fällen [...], wo die Absicht, die Umstände, und die Personen sehr unterschieden, verändert, und vielerley sind“.125 Aufschlußreich ist das auch für die bereits angesprochene Frage, worin sich die Leipziger von der Schweizer Position unterscheidet. Einig ist man sich darüber, daß es um Akzentverschiebungen geht.126 Sobald man diese aber auf Programmebene dingfest machen will, kommt es zu auffälligen Ausblendungen: So wird beispielsweise oftmals angeführt, daß die Schweizer den Naturbegriff und damit auch den Nachahmungsbegriff erweiterten, wofür Stichworte wie das „Wunderbare“ oder das „Neue“ stünden.127 Wie aber diese Erweiterung in den poetologischen Argumenten genau zu fassen ist, bleibt unklar. Denn Bodmer löst den Begriff der Wahrscheinlichkeit nicht von der „physikalischen Welt“,128 vielmehr kommt er gerade in der Milton-Verteidigung immer wieder auf die Vereinbarkeit von Miltons Erfindungen mit dem „Lauf der Natur“ zurück. Und umgekehrt kann man auch nicht sagen, Gottsched wage sich nicht in den Raum des „Möglichen“ anderer „Welten“ vor,129 wo er doch als Schü_____________ 125 Bemühungen zur Beförderung der Critik und des guten Geschmacks, 1743, 4. St., S. 217. 126 So z. B. bei Alt: Aufklärung, S. 80. 127 Z. B. Voss: Die frühe Literaturkritik der Aufklärung, S. 23: Die Schweizer bezöge das Mögliche in ihre Überlegungen ein, Gottsched nur das sinnlich Wahrnehmbare. 128 Bender: Nachwort (1966), S. 14*. 129 Bender: Nachwort (1965), S. 16*. Wilke schreibt sogar über die Schweizer: „Nicht nur das Wahrscheinliche, sondern auch das Mögliche soll Gegenstand der Nachahmung sein (kön-
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ler Wolffs den Möglichkeitsbegriff über die Fabel-Theorie ins Zentrum der Poetologie einführt und dabei zudem zwischen „glaublichen“, „unglaublichen“ und „vermischten“ Fabeln unterscheidet und jede der drei Varianten (also z. B. auch redende Dinge oder unterirdische Reisen) akzeptiert (CD I, 204f.).130 Umgekehrt heißt das nun selbstverständlich auch nicht, daß Gottsched und Bodmer programmatisch ein Herz und eine Seele gewesen wären.131 Insinuiert werden soll nur, daß erstens einige der Streitfaktoren nicht auf der Ebene der Programmatik, sondern wiederum auf der Ebene der Kritikpraxis, der applicatio, gesucht werden müssen, daß zweitens – dem hier interessierenden Zusammenhang folgend – die Verhältnisbestimmung von Kritiker, Autor und Leser dabei eine Rolle spielt und daß drittens die Etablierung der Kritik auf beiden Seiten der Literaturkriegsparteien als Effekt ein und derselben Wissensordnung verstanden werden kann. Denn auch Gottsched geht es darum, die „Tiefen“ des Textes auszuloten, die „Schale“ zu knacken und zum „Kern“ der Sache vorzudringen (3.1.1). Die Leipziger wie die Züricher Partei installieren also ein neues Wahrnehmungsverhalten bzw. eine je bestimmte Anwendung ihrer kritischen Kriterien auf einen Text. Woran nun also orientiert sich Bodmers kritischer Perspektivismus? Es ist – der aufklärerischen Hermeneutik entsprechend132 – der Autor, die immer wieder angeführten „Absichten“ Miltons, auf die Bodmer in spezifischer Weise abzielt. Der solchermaßen erfundene Autor gleicht nun eben nicht mehr dem Literaturtechniker der rhetorischen Kultur, für den gilt, daß „möglicher Weise ein jeder anderer Mensch in gleichmässigen Umständen eben dergleichen Werck hätte verfertigen können“, sondern für ihn sind Ausnahmeregelungen verbindlich, weil sich nicht jedes Werk dem Urteil jedes Menschen unterwerfen läßt. Es gibt eine „unermeßliche Verschiedenheit der Grade [...], nach welchen sich die Individua des menschlichen Geschlechtes so wohl in Ansehung des Verstandes als ihrer _____________
nen)“ (Der deutsch-schweizerische Literaturstreit, S. 143) – aber weder bei den Schweizern noch bei Gottsched gibt es zwischen dem Wahrscheinlichen und dem Möglichen einen Unterschied. 130 Auch die publikumsabhängige Relativität des Wahrscheinlichen kann nicht für die Schweizer reserviert werden (Wetterer: Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch, S. 194ff.); vgl. dazu z. B. CD I, 138 oder 238f. 131 Eindeutige Differenzen gibt es z. B. bei der Diskussion um die Traueroden von Canitz und Besser und um die Frage, ob man aus dem Augenblick der Empfindung heraus dichten solle oder nicht (vgl. Gottsched: CD I, 198f., vgl. auch die Kritik an Besser CD I, 246f.; Bodmer: Kritische Betrachtungen über die poetischen Gemälde der Dichter, S. 348ff.; zum Thema vgl. Guthke: Die Entdeckung des Ich in der Lyrik, S. 101ff.). 132 Bühler: Einleitung, S. 3. Arndt: Die Hermeneutik des 18. Jahrhunderts im Verhältnis zur Sprach- und Erkenntnistheorie des klassischen Rationalismus, S. 17.
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übrigen Gemüthes=Gaben von einander entfehrnen“.133 Für die Werke eines solchen Autors gelte dasselbe wie für die Werke Gottes: Über die göttlichen Machenschaften habe der Mensch keine Urteilskompetenz, er könne diese nur einer „ehrerbiethigen Betrachtung“ unterziehen, mit „reichem Nachsinnen und ohne Tadelsucht“. Eh ich aber den Anfang zu dieser Arbeit mache, wünschete ich das Gemüthe meines Lesers in den gehörigen Zustand der Bedachtsamkeit und Bescheidenheit setzen zu können, womit die Erwegung solcher Arten Wercke, welche zu verfertigen unleugbar die höchste Kraft des menschlichen Geistes erfordert wird, billig sollte vorgenommen werden. Ie weiter die Verfertigung eines Werckes so wohl in Absicht auf die Materie als die Kunst, die Fähigkeit der menschlichen Natur übersteiget, je mehr Behutsamkeit und Bescheidenheit muß man in den Urtheilen darüber gebrauchen. [...] Die Wesen von einem höhern Stand und einer vornehmern Natur als die menschliche ist, würcken auf eine gantz andere Weise und nach eigenen Gesetzen; was das vor Gesetze seyn, bleibet uns gröstentheils verborgen, ausgenommen in so weit uns die Wercke selbst, die nach solchen Regeln verfertigt worden, einige dunkele Merckmahle und Spuren davon errathen lassen. Von dieser Art sind die Wercke Gottes insgesamt [...].134
Für Gott und für Milton gilt die Prämisse, daß man eher an sich selbst, als an deren Werken zweifeln sollte. Negative Kritik wird auf diese Weise zur „Übereilung“, und das voraussetzungslose Vertrauen auf den Autor wird zur conditio sine qua non der Beurteilung („ehe ich aber den Anfang zu dieser Arbeit mache“).135 Während Gottsched den Autor radikal vermenschlicht und von der Voraussetzung ausgeht, daß aufgrund der unaufhebbaren menschlichen Unvollkommenheit alle menschlichen Werke kritisierbar sind, vergöttlicht Bodmer gegebenenfalls – entgegen der ebenfalls angeführten Fehlbarkeitsprämisse – den Autor, und das auf eine durchaus rückwärtsgewandte Weise, indem er das poetische Werk wie die _____________ 133 Bodmer: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie, S. 6f., 9. Systemtheorien und Diskursanalysen lassen diesen zweiten Teil gerne aus (Plumpe: Kunst und juristischer Diskurs, S. 335; Rieger: Autorfunktion und Buchmarkt, S. 156; Stöckmann: Vor der Literatur, S. 98, vgl. dagg. aber ebda., S. 108, 361) – Stöckmann weist in diesem Zusammenhang auf die rückwärtsgewandte Verankerung der Bodmerschen Milton-Apologie in der „alteuropäischen Ontologie“ einer auf Gott ausgerichteten Teleologie hin, um die Schweizer nicht historisch unzulässig auf die Seite der Erneuerer zu stellen. 134 Bodmer: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie, S. 5. 135 Bodmer: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie, S. 57, 144. Auch hier steht das Billigkeitsprinzip als wichtiges Moment der Aufklärungshermeneutik im Hintergrund. G. F. Meier beispielsweise stellt die hermeneutische Billigkeit ins Zentrum seiner Auslegungslehre. Die entsprechende Definition dürfte Bodmer sehr gut gefallen haben: „Die hermeneutische Billigkeit (æquitas hermeneutica) ist die Neigung eines Auslegers, diejenigen Bedeutungen für hermeneutisch wahr zu halten, welche, mit den Vollkommenheiten des Urhebers der Zeichen, am besten übereinstimmen, bis das Gegenteil erwiesen wird“ (Meier: Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst, S. 20; vgl. dazu: Scholz: Die allgemeine Hermeneutik bei Georg Friedrich Meier, S. 176ff.).
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Offenbarung einer ‚vernünftigen‘ Kritik entzieht. Seine Theoriebildung und Kritikpraxis zeigen das Zwiegesicht einer „restaurative[n] Innovation“.136 In diesem Kontext wird ein Argument vieldeutig: Bodmer führt an mehreren Stellen Gottes Entscheidungsmacht an, um eine Passage als wahrscheinlich zu beglaubigen. Sollte Gott beispielsweise den Engeln keine Körper verliehen haben können, selbst wenn er diese „Absicht“ gehabt hätte? Die Antwort versteht sich von selbst. Auf diese Weise läßt sich nun offensichtlich alles und jedes als wahrscheinlich präsentieren. Freilich gilt einschränkend: „massen solches [die „Sichtbarkeit“ und die „Natur der Engel“, S. M.] keinen Widerspruch in sich hat“.137 Bodmer ist Wolffianer, und die Hauptsätze der frühaufklärerischen Argumentationsordnung, der Satz vom zureichenden Grund und der Satz vom Widerspruch, bleiben auch bei ihm Grundlage der Kritik – zumindest theoretisch.138 Die Milton-Kritik fußt unauffällig auf der aufklärerischen Ganzheitstheorie, aber gerade wegen des gleichsam subkutanen Automatismus der entsprechenden Gedankenfiguren zeigt sie sich als Effekt einer bestimmten Diskursordnung. Auch hier spielt wieder das Problem der „Ähnlichkeit“ eine Rolle, also der mittels des „Witzes“ hergestellten Gleichheit von Unterschiedenem (3.1.2). Denn Bodmer zufolge besteht eine Möglichkeit, Kenntnis über die dem Menschen unzugängliche Welt der Engel zu bekommen, im Vergleich zwischen den Himmels- und den Erdbewohnern, indem man der durch die „geistliche Natur“ des Menschen vorgegebenen Richtung weiter folgt bzw. umgekehrt die Engel versinnlicht. Bodmers Kommentar dazu: Diese Vergrösserung oder Erweiterung der Englischen Natur ist wie diejenige, so kleine und dem Auge verschlossene, oder von ihm allzuweit entfernte Dinge mittelst der Vergrösserungs= und der Fern=Gläser bekommen [...].139
Bodmers Erweiterung der Sichtbarkeit140 zielt also auf den Beweis, daß alle von Milton entworfenen „Begebenheiten“ den „Preiß der Wahr_____________ 136 Meyer: Restaurative Innovation. 137 Bodmer: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie, S. 32f., eine ähnliche Argumentation auch ebda., S. 62f. 138 Daß Bodmers Perspektivismus zugunsten des Autors nicht an das religiöse Sujet gebunden bleibt, ließe sich an seiner Don-Quixote-Apologie zeigen, also ebenfalls einer Kritik der Kritik. Wichtig ist dabei die Behauptung: Je feiner der Autor, dem der Kritiker auf die Schliche kommen will, die Fäden verspinnt und alle „Gründe[ ] und Winckel[ ]“ seiner Personen ausleuchtet, „desto mehr Kunst, Verstand und Witz mußte er haben“, was im Falle Cervantes’, so Bodmer, eine Folge der Kritik am ersten Teil des Romans sei (Bodmer: Kritische Betrachtungen über die poetischen Gemälde der Dichter, S. 543ff.). Anders gesagt: Die Kritik liest das aus der Poesie, was sie selbst, vom Autor verarbeitet, hineingelegt hat. 139 Bodmer: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie, S. 15f., 34f.
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scheinlichkeit“ haben, „weil sie in den würcklichen eingeführten Gesetzen, und dem gegenwärtigen Lauf der Natur [...] gegründet sind“. Und damit wiederum entkräftet Bodmer den möglichen Vorwurf, er verlasse sich zu sehr auf die Tradition und zu wenig auf die Natur (bzw. auf die In-SichGegründetheit), denn wegen der Naturähnlichkeit von Miltons Darstellung würden selbst „Irokesen und Huronen“ bei Milton „Wahrheit“ finden.141 Aus Perspektive der Argumentationspraxis folgt Bodmer allem Anschein nach Gottscheds Befund, daß in aufgeklärten Zeiten das „Wunderbare“ bestimmten ‚aufgeklärten‘ Gesetzmäßigkeiten zu gehorchen habe. Zwar führt Bodmer immer wieder den Zentralsatz seiner (Wirkungs-) Poetik an, daß nämlich die vorzügliche Aufgabe der Poesie darin bestehe, den Leser zu affizieren. Aber begründet wird diese Affizierung auf eine durchaus Gottschedianische Weise, nur daß eben die Instrumente geschärft werden, daß also gleichsam kritische Mikroskope und Teleskope zum Einsatz kommen. Den Gottschedianern fehlen diese Sehhilfen, daher können sie keinen Blick in die ‚Tiefen‘ des Miltonschen Textes werfen. Was Bodmer hier zu installieren versucht, ist eine adorative Haltung, die die unter Bedingungen der Fernkommunikation fragwürdig gewordene Wirkmächtigkeit des Werks142 durch eine bestimmte Lesehaltung auszugleichen versucht. Auch hier reagiert die Kritik auf die Durchsetzung einer literalen Kultur der Distanzkommunikation. Die Argumente von Bodmers Verteidigung der inventio und dispositio Miltons werden von ihm auch auf die elocutio, auf die Abhandlung von der Schreibart in Miltons verlohrnen Paradiese, angewendet, die im Kern die Möglichkeiten einer adäquaten Übersetzung darlegen will.143 Wie bei Gottsched ergibt sich so ein gestuftes System, dessen Elemente von gleichartigen Gedankenfiguren strukturiert wird. Grundlage der Apologie _____________ 140 Vgl. dazu für den naturwissenschaftlichen Diskurs im Blick auf den Streit um die Sichtbarkeit der okulten Kräfte Wilson: Visual Surface and Visual Symbol. Daß die Kritik mit optischen Instrumenten bestückt wird, könnte ein Topos sein, jedenfalls weist Herbert Jaumann auf eine Allegorie der Kritik von Gregorio Leti von 1697 hin, die eine Brille trägt (Zur Rhetorik der Literaturkritik in der frühen Neuzeit, S. 191). Zur wissenschaftlichen und zur literaturkritischen Aufmerksamkeit vgl. auch 3.3 a. 141 Bodmer: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie, S. 41, 146f. Dieselbe Stelle ließe sich auch gegen die kontextualisierende Einschränkung der Wahrscheinlichkeit, also den Hinweis auf die Vertrauensseligkeit eines bestimmten, u.U. unaufgeklärteren Publikums, in Anschlag bringen (ebda., S. 22, 171). 142 Die Kritik der Vermitteltheit moderner Distanzkommunikation unterlegt Schlegel seiner Untersuchung der Wirkungsästhetik von Bodmer und Breitinger (Sich „von dem Gemüthe des Lesers Meister“ machen). Ihm folgt in größerem Zusammenhang Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 296ff. 143 [Bodmer]: Abhandlung von der Schreibart in Miltons verlohrnen Paradiese. In: SCPS 1742, 3. St., 131.
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ist erneut, daß Milton seine Mittel auf die Leser berechnet habe und daß die Mittel zugleich leserunabhängig einen konsistenten Zusammenhang bilden. Man muß, so Bodmer, bei der Untersuchung der „Schreibart“ auf die „Gemüthesart unsrer Nation, und die dießmahlen gewissermaassen eingerichtete Verfassung unsrer Sprache“ achten.144 Dabei stützt sich Bodmer jedoch in wenigen Fällen auf Miltons Text selbst, sondern verteidigt ganz allgemein die Adaption von Fremdwörtern und veralteten Wörtern, also Verstöße gegen die „Sprachreinigkeit“, die Zulässigkeit von Inversionen und Metaplasmen (Ellipse, Elision etc.) oder die Bildung von Metaphern und Neologismen. Das Verdikt, mit dem Bodmer rechnen muß, liegt auf der Hand und wird auch aus den Critischen Beyträgen zitiert: der Schwulst-Vorwurf. Die Richtung, die Bodmer dabei allmählich einschlägt, ist eindeutig: Wie im Falle der inventio wird auch bei der elocutio der Leser zur Fehlerquelle. Gegen Ende seiner Abhandlung erklärt Bodmer dann in klaren Worten: Die Begriffe, die viele Leser von Miltons Worten nicht bekommen, und der Eindruck, der dann bey ihnen ausbleibet, zeigen nicht, daß die Worte, oder die Vorstellungen nicht geschickt seyn, sondern daß diese Leute zu dergleichen Begriffen und Sachen nicht geschickt seyn.145
Gerade Elisionen bzw. Amplifikationen sowie die Neologismen Miltons bereiten laut Bodmer einem engstirnigen Leser Schwierigkeiten – die Qualität des Interpreten erweist sich demzufolge an den Stellen, an denen etwas Neues oder nichts steht, mithin u.a. am Umgang mit dem Unsichtbaren. Bodmer entfaltet – kurz gefaßt – allmählich das Programm einer nicht- bzw. selbstrepräsentativen Dichtung, die Traditionen und Fremdlegitimation ablehnt und sich selbst autorisiert. In der zweiten Auflage seiner Übersetzung des Paradise Lost hatte er so beispielsweise den einleitenden Musenanruf des Epos’ noch im Sinn der aufgeklärten Inspirationstopik gedeutet: Nur wenn es um die „Welt der Geister“ gehe, sei demzufolge die Wendung an einen „Bewohner[ ] des Himmels“ gerechtfertigt.146 In der dritten Auflage von 1754 fehlt diese Anmerkung und Bodmer fügt eine neue Erklärung Thomas Newtons hinzu: Dieser benennt das Topische in Miltons Inspirationsaufruf, allerdings nur, um darzulegen, daß es sich bei Milton gerade nicht um ein topisches, wiederho_____________ 144 [Bodmer]: Abhandlung von der Schreibart in Miltons verlohrnen Paradiese. In: SCPS 1742, 3. St., 89, vgl. auch ebda., S. 78, 85. 145 [Bodmer]: Abhandlung von der Schreibart in Miltons verlohrnen Paradiese. In: SCPS 1742, 3. St., 128. 146 Johann Miltons Episches Gedichte von dem verlohrnen Paradiese, S. 2. Vgl. entsprechend bei Gottsched CD I, 227ff.
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lendes, sondern um ein von der Authentizität des Biographischen getragenes Verhalten handle: [...] ich halte davor, daß Milton eine weitere Absicht gehabt hat; denn solche Leute, die in Umständen gewesen, mit seiner Wittwe zu sprechen, haben mir gemeldet, sie hätte oft gesagt, daß er sich wirklich vor begeistert gehalten, und mich dünkt seine Werke haben den Geist des Enthusiasmus ziemlich.147
3.3 Kritische Reflexionen Kritik scheint auf den ersten Blick ein Phänomen der Verknappung zu sein (und spielt historisch als Instrument der Selektion angesichts der wachsenden Büchermassen auch eine wichtige Rolle)148: Sie scheidet das Gute vom Schlechten, das Anschlußfähige, Bewahrens- und Lesenswerte vom Nichtigen. Daß sie gerade in einer Zeit an Dynamik gewinnt, die Traditionsbestände temporalisiert bzw. als Tradition an sich fragwürdig werden läßt, paßt daher ins Bild. Zugleich darf man aber die primäre Produktivität der Kritik nicht aus dem Blick verlieren, denn zunächst ist Kritik vor allem Effekt, Funktion und Motor einer Vervielfältigung von Schriftlichkeit. Sie erweitert einen bestehenden ‚primären‘ Diskurs durch einen offensichtlich ‚sekundären‘, und sie provoziert weitere Vervielfältigungen. Die Reflexionsförmigkeit149 kritischer Kommunikation wird bereits in Gottscheds wirkmächtiger Installierung des Wortes „critisch“ in seiner Dichtkunst deutlich, die ja umstandslos mit einer Verteidigung der Kritik, einer Kritik der Kritik der Kritik also, einsetzt. Diese Neigung zur Potenzierung ist keine Eigenheit einer kritischen Frühphase (2.2, 3.2.2 u. 3.3.2), sondern – wie sich zeigen wird – konstitutiver Bestandteil des kritischen Diskurses selbst. Schiller wird Bürgers Gedichte kritisieren, dieser wird der Kritik von Schiller mit einer „Antikritik“ entgegnen, und Schiller wiederum wird der Kritik der Kritik mit einer neuerlichen Kritik antworten. Zudem bezieht Schillers Kritik sich bereits auf eine vorgängige Kritik der Bürgerschen Gedichte (vermutlich diejenige August Wilhelm Schlegels), die sich wiederum auf eine andere Kritik bezieht. Bei Schillers Bürger-Kritik handelt es sich also um eine Kritik mindestens fünfter Stufe, um eine Kritik der Kritik der Kritik der Kritik der Kritik.150 Wenn Friedrich Schlegel die Kritik wie die Poesie dem Prinzip der Potenzierung un_____________ 147 Johann Miltons Episches Gedichte von dem verlohrnen Paradiese, S. [592]. 148 Zur Kritik als Teil der (bibliographischen) Literaturinformation: Seifert: Die Entwicklung der kritischen Literaturinformation im 18. Jahrhundert in Deutschland, S. 71ff. 149 Zur „Reflexivität“ als Technik der Risikominderung von Negation: Luhmann: Über die Funktion der Negation in sinnkonstituierenden Systemen, S. 205f. 150 Vgl. Verf.: „Man setzet sich eben derselben Gefahr aus, welcher man andre aussetzet“.
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terstellt,151 dann beschreibt er damit schlicht die tatsächliche Form des Literaturbetriebs – daß die Allgemeine Literatur-Zeitung, in der Schillers Bürger-Kritik erscheint, Getadelten gegen Gebühr einräumt, im beigelegten Intelligenzblatt eine Antikritik einzurücken152, bestätigt die Reflexionsförmigkeit kritischer Kommunikation und deren Akzeptanz auf kuriose Weise. Gerade das Phänomen der Selbstkritik könnte zeigen, wie sehr die bloße Vermehrung von Schriftlichkeit als Kommunikationsanreiz im Literaturbetrieb dient. Schlimmer als eine schlechte Kritik ist nämlich gar keine Kritik, so daß die Ratgeber zur charlataneria eruditorum immer auch empfehlen, die ausbleibende Diskussion eines Werks durch Polemiken des jeweiligen Verfassers selbst in Schwung zu bringen.153 In der Fernkommunikation provoziert Ablehnung eben Fortsetzung der Kommunikation (2.3). Selbstkritiken können so (etwa im Falle von Lessings Kritik seiner eigenen Logau-Ausgabe) teils als verkaufsfördernde Maßnahme, teils aber auch als Formen der nach außen verlagerten Antizipation von Kritik gedeutet werden (beispielsweise bei Schillers Kritik an seiner Anthologie auf das Jahr 1782 als Vorwegnahme seiner späteren ‚klassischen‘ Programmatik)154. Die Produktivität der Kritik als ein Akt des Schreibens wird auf zweiter Ebene von einer weiteren Steigerungsform begleitet, durch die Erzeugung von ‚Sichtbarkeit‘. Bei Gottsched firmiert dies als kritischer Zugriff auf den ‚Kern‘, bei Bodmer als Einsicht in die ‚Tiefen‘ eines Textes. Die Kritik beschäftigt sich nicht mit dem, was jeder sehen kann, sondern entdeckt die „verborgensten Schlupfwinckel“ und dringt „bis aufs innerste Marck“ eines Textes, sie geleitet den Leser auf jene Position, die ihm allererst den angemessenen „Gesichts=Punct“ auf den Text erschließt (3.1.1 u. 3.2.1). Diese beiden Seiten kritischer Produktivität, Reflexionsproduktion und Sinnproduktion, unterstützen sich wechselseitig. Die Reflexivität demonstriert die Vielsinnigkeit der Betrachtungsmöglichkeiten, die Tiefsinnigkeit hält zu unterschiedlichen Herangehensweisen an. Daß ist per se keine Innovation des ‚kritischen Zeitalters‘, aber hier werden diese Phänomene akzeptiert (und sei es nur aus der Not der Normativität des Faktischen heraus), sie werden zur Sprache gebracht und konzeptionalisiert. _____________ 151 Menninghaus: Unendliche Verdopplung. 152 Carlsson: Die deutsche Buchkritik von der Reformation bis zur Gegenwart, S. 100. Zum Zusammenhang von Aktion, Reaktion und Reflexion in den Antikritiken und den Antworten der Rezensenten vgl. Denissenko: Die inszenierte Öffentlichkeit des Streites. 153 Mencke: Zwey Reden Von der C HARLATANERIA Oder Marctschreyerey der Gelehrten, S. 38. 154 Hinderer: Schiller und Bürger, S. 149.
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Spezifische, historisch jeweils zu bestimmende Formen der Positivität und der Negativität spielen in der Verteilung der Standorte auf dem kritischen Spielfeld eine zentrale Rolle. Gottsched etwa wird von seinen Gegnern mit der Aura einer mediokren Form der Negativität umgeben, sie heften ihm den Vorwurf des pedantischen Krittlers an, der nicht in der Lage sei, die wahren Schönheiten eines Kunstwerks wahrzunehmen. Bodmer hingegen verläßt sich auf den gottähnlichen Autor und stellt das auf diese Weise ausgezeichnete Werk unter Sinnverdacht, was ihm wiederum den Vorwurf der Positivität im Gewand der Unterstellung vorurteilsbeladener Kritik einträgt. Bemerkenswert ist nun, daß sich Bodmers Votum für „Bedachtsamkeit“ im Urteil mit der Verteidigung kritischer Gewalt verbindet, wie sie die Vorrede zu Breitingers Critischer Dichtkunst legitimiert und seine Gegner sie ihm im Vorwurf kritischer Pöbelei zur Last legen; bemerkenswert ist umgekehrt, daß Gottsched die Forderung nach Mißtrauen gegenüber dem Autor und das zufriedene Registrieren von dessen Furchtsamkeit mit der Forderung nach kritischer Höflichkeit kombiniert (3.1.1 u. 3.2.1). Das Potential dieser Kombinationsmöglichkeiten und damit der Reflexionsformen von Kritik will ich im folgenden an drei weiteren Autoren entwickeln: Friedrich Nicolai, Gotthold Ephraim Lessing und Christoph Martin Wieland. Um es noch einmal zu betonen: Es geht mir nicht um eine Geschichte der Literaturkritik, sondern um die Etablierung von kritischer Kommunikation und damit einer bestimmten Problemlage, mit der Werkpolitiken zurechtkommen müssen. Die im folgenden behandelten Autoren habe ich daher vor allem aus zwei Gründen ausgewählt: Erstens reagieren sie sehr sensibel auf die polemischen Spiele der Aufklärung, indem sie die Strategien des Kritikbetriebs bzw. das Strategische als faktische Dimension des Kritikbetriebs explizit in ihren Kritiken reflektieren; zweitens greifen sie zentrale Elemente des kritischen Prozesses auf, die in den vorangegangenen Kapiteln eine Rolle spielten, und demonstrieren auf kreative Weise einige der sich daraus ergebenden Variationsmöglichkeiten. Nicolai etwa kombiniert das Gottschedsche Prinzip der Spitzenstellung des Kritikers mit Bodmers kritischem Perspektivismus (a); Lessing schreibt seinen Rezensionen performativ die entsprechenden Reflexionsstufen der Kritik ein (b); Wieland schließlich widmet sich in dieser kritischen Kommunikationssituation Fragen der ‚inneren‘ Kohärenz eines Gesamtwerks als Vorgabe für die Beurteilung des Einzelwerks sowie deren relativistischen Beschreibung und Beurteilung. Er leitet damit die kritische Kommunikation in eine philologische über (c). Anders gesagt: Während sich am Beispiel Nicolais und Lessings gut sehen läßt, wie eine Reihe von kritischen Aporien entsteht, macht Wieland einen instruktiven Lösungsvorschlag. Die Ausführungen zu Wieland weisen damit zum einen
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auf den Ausgangspunkt meines Einführungskapitels, das ‚Spiegelstadium der Kritik‘, zurück und leiten zugleich zu Klopstock über, denn das kritische Zentralproblem besteht für den Messias-Dichter in der Versicherung von Einheitlichkeit angesichts eines sich über Jahrzehnte hinziehenden Schaffensprozesses. Daß auch seine Leser sich in den kritischen Aporien verfangen (5.1), zeigt dann nur, wie groß die Probleme sind, die der philologischen Kommunikation aufgebürdet werden (5.2). a) Nicolai 1755 veröffentlicht Friedrich Nicolai seine Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland und behauptet damit, „daß die schärfste Kritik, zu der Aufnahme der schönen Wissenschaften, unumgänglich nothwendig sei“.155 Aufschlußreich sind die Briefe im hier interessierenden Zusammenhang vor allem deswegen, weil sie sehr genau auf die kritischen Prinzipien der beiden großen Parteien der vorangegangenen Generation eingehen und diese auf eine überraschende Art rekombinieren bzw. gegeneinander ausspielen. Im Rahmen einer eher groben Typologie könnte man sagen, daß Nicolai von Gottsched die Spitzenstellung des Kritikers übernimmt und von Bodmer den kritischen Perspektivismus (der ja gewissermaßen durch das Spiel von Schreiben und Antwortschreiben ins Verfahren kritischer Briefe eingelassen ist). Auf diese Weise widersprechen sich der Respekt vor der möglichen Qualität des Werks und die Bereitschaft zu detailliertem Tadel nicht mehr – die „Ehrfurcht“, erklärt Nicolai, „hindert ihn nicht, die Fehler zu bemerken [...]“. Daher betont er stets, die Elemente eines Gedichtes müßten in bezug auf die „Schönheit des Ganzen“, aber eben zugleich für sich selbst bestehen können, und zwar im Sinne einer „bedachtsamen Bestimmung auch der geringsten Theile [...]“.156 Gegen die Mittelmäßigkeit der deutschen Schriftsteller und gegen eine kritik-kritische Haltung, die die avisierte „genau[e] Untersuchung“ von „Kleinigkeiten“ für „Spitzfindkeit“ hält, verteidigen die Briefe „eine ge_____________ 155 So im Inhaltsverzeichnis in: [Nicolai]: Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland, unpag. Zu den Briefen vgl. Möller: Aufklärung in Preußen, S. 68ff.; Engel: Vivida vis animi, S. 20ff. 156 [Nicolai]: Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften, S. 61, 53. Bereits Nicolais kritischer Erstling, die sich vornehmlich gegen Gottsched wendende Untersuchung ob Milton sein Verlohrnes Paradies aus neuern lateinischen Schriftstellern ausgeschrieben habe (1753), zeigt dabei, wie virtuos er in den kritischen Perspektivismus ausbuchstabiert, indem er die Verteidigung im Blick auf die Persönlichkeit und die Lebensumstände des Autors durchführt (Möller: Aufklärung in Preußen, S. 64ff.; Engel: Vivida vis animi, S. 16ff.).
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naue und gesunde Kritik, das einzige Mittel, den guten Geschmakk zu erhalten, und zu bestimmen [...]“, was im übrigen auch für das Publikum gilt, dem das Schreiben den „schwer zufrieden zustellenden Geschmakk bei[ ]bringen“ will.157 Die Kritik dient der Erzeugung von Ansprüchen und entsprechenden Visualisierungsstrategien. Die Schriftsteller ihrerseits sollten die „Kritik, und zwar die genaueste Kritik“, nicht fürchten, denn die „schönen Wissenschaften“ werden dadurch befördert, ja sogar die „unbescheidenen kritischen Streitigkeiten“ in Deutschland haben mehr Gutes als Schlechtes bewirkt.158 Der Brief bestimmt – wie Gottsched und Bodmer – die ‚Genauigkeit‘ der Kritik als Fähigkeit, das nicht oder doch nur wenig Sichtbare in den Blick zu bekommen: Es gehe darum, auf „die feinen Schönheiten“ und die „feinen Fehler“ zu achten, „die nicht, gleich den gröbern, sogleich in die Sinnen fallen [...].“ Und wie bei den Vätern dieser Kritiktheorie müssen die Autoren unter der kritischen Gewalt leiden („[...] so wehe sie [die Kritik, S.M.] der Eigenliebe gewisser Schriftsteller thut, so heilsam ist sie denselben“).159 Auf diese Weise verbindet der Brief Furcht und Gewalt sowie die immer wieder nachdrücklich betonte Genauigkeit der Kritik und bietet dafür eine vielsagende Erklärung: Es gehet mit dem Verderben des Geschmakks, wie mit der Neigung zu den Lastern, es bestrikket uns nach und nach. [...] Es ist also das sicherste, daß man dem Mittelmäßigen die Hofnung auf unsern Beifall gänzlich abschneide. Ich bin weit entfernt, meine Urtheile, ia nur meine Art zu urtheilen, für unbetrüglich und unverbesserlich zu halten; Aber ich preise nicht meine Meinungen an, sondern ich vertheidige den Weg, auf welchem alle grosse Geister zu ihrer Grösse gestiegen sind, wann ich wünsche, daß alle unsere Schriftsteller und Kunstrichter mit dem Mißtrauen zu Werke gingen, das sie an mir tadeln.160
Der kritische Detailismus hat sein Pendant in einem anthropologischen Detailismus, einer Eingrenzung und Erzeugung von Individualität über (Selbst-)Mißtrauen, hier vor allem in ihrer temporalen Dimension. Gottscheds ‚kritische Pädagogik‘ (3.1.1) wird auf diese Weise konsequent weitergeführt, wobei die krude Pädagogik der Briefe eine Pädagogik der vernichtenden Kritik ist, bei der – auch im Hinblick auf Liskows Programm der Scribentenexekution (3.2.1) – vor allem die Zeitorientierung auffällt. Die Kritik reagiert einerseits mit Härte wegen der schleichenden Entste_____________ 157 [Nicolai]: Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften, S. 179ff., 184. 158 Im 18. Brief kommt Nicolai dann explizit auf die Auseinandersetzung zwischen Gottsched, Bodmer und Breitinger und auf die Abspaltungen aus dem Gottschedianischen Lager zu sprechen ([Nicolai]: Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften, S. 190ff.). 159 Auch die Diskursbausteine „Shaftesbury“ und „Nachwelt“ fehlen nicht ([Nicolai]: Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften, S. 182f., 184f., 187, 189). 160 [Nicolai]: Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften, S. 188f.
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hung von Fehlern in der Vergangenheit („es bestrikket uns nach und nach“). Sie zielt nun aber nicht auf die Bestraftung dieser Fehler im Sinne der Rache, sondern sie verkehrt die Zeitstruktur und baut auf künftige Besserung („heilsam“), wie sich das sowohl im juridischen als auch im pädagogischen Diskurs der Aufklärung verzeichnen läßt.161 Dabei bleibt in den Briefen allerdings ein Moment der repräsentativen Strafkultur erhalten, nämlich die Exemplarität der Strafe. Das Beispiel des vernichtend kritisierten Autors bringt das Mittelmaß zur Selbstbesinnung und hält es von poetischer Produktion ab. Für die Konstellation in den 1750er Jahren ist symptomatisch, daß Nicolai mit seiner Kritikapologie nicht allein steht. Im 16. Brief der Briefe die Neueste Literatur betreffend verteidigt Nicolais kritischer Weggefährte Lessing beispielsweise die Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freien Künste gegen einen Angriff von Johann Jakob Dusch: Man hat ihr Parteilichkeit vorgeworfen; aber konnten sich die mittelmäßigen Schriftsteller, welche sie kritisiert hatte, anders verantworten? Diese Herren, welche so gern jedes Gericht der Kritik für eine grausame Inquisition ausschreien, machen sehr seltsame Forderungen. Sie behaupten, der Kunstrichter müsse nur die Schönheiten eines Werkes aufsuchen und die Fehler desselben eher bemänteln, als bloß stellen.162
Offensichtlich hält die Auseinandersetzung um die Legitimität der Kritik und deren Fähigkeit zur Invisibilisierung mehr als zwanzig Jahre nach der Critischen Dichtkunst Gottscheds noch immer an, wobei die Akzentuierung und Verhältnisbestimmung der positiven und negativen Momente im Zentrum der Diskussion stehen. Tatsächlich, so steht zu vermuten, läßt sich dieses Problem auch gar nicht zugunsten der einen oder anderen Seite lösen, denn Behutsamkeit und Gewalttätigkeit der Kritik sind zwei Seiten einer Medaille. Wenn der immer ‚aufgeklärtere‘ Blick mehr Lobenswertes als zuvor entdeckt, findet er eben auch mehr Fehlerhaftes. So etabliert sich die Berliner Kritik mit ihren Protagonisten Lessing und Nicolai zwar erklärtermaßen als dritte Instanz zwischen den literaturkritischen Fronten Leipzig und Zürich und will sich „keiner Parthei“163 zurechnen lassen, was allerdings nichts anderes als die Bildung einer neuen „Partei“ anzeigt, die von den Beobachtern _____________ 161 Dazu und zur Beibehaltung der Strafhärte Begemann: Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung, S. 177, 191, 201. 162 Lessing: Werke. Bd. 5, S. 68. Zu den weiteren Bestimmungen der Kritik an dieser Stelle und zu den Ungereimtheiten im Verhältnis von Theorie und Praxis vgl. Peter Michelsen: Der Kritiker des Details. Lessing in den „Briefen die Neueste Literatur betreffend“. In: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung. Im Auftrage der Lessing-Akademie hrg. von Günter Schulz. Bd. II, Wolfenbüttel 1975, S. 148-181, insbes. S. 171. 163 [Nicolai]: Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften, S. 179.
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auch sogleich als solche identifiziert wird.164 Die Gewalttätigkeit im literarischen Diskurs nimmt aus Perspektive der Beteiligten bzw. der zeitgenössischen Beobachter durch den neuen „Mittelweg“ jedenfalls nicht ab, und vieles scheint für Goethes Intuition zu sprechen, daß sich gerade hier in der Kritik ein Trend hin zu mehr Respektlosigkeit zeige, d. h. hin zu einer Kommunikations- und weg von einer Repräsentationskultur (MA 16, 353).165 Gerstenberg redet von der „grausamen Berl. Kritik“166; Friedrich Just Riedel betrachtet mißtrauisch den Herrschaftsdiskurs der neuen „Befehlshaber“ im Reich der Kritik167; und Johann Heinrich Gottlob von Justi berichtet Friedrich II. von der „nie erhörten Unverschämtheit und Frechheit“ der Berliner Angriffe auf die „würdigsten und verdienstvollsten Gelehrten unserer Zeit“.168 Diese Vorwürfe werden auch später nicht aufhören: Lessing wird man „den monarchischen Scepter“ seiner Kritik vorwerfen, Nicolai an der Spitze eines monopolistischen Imperiums vermuten.169 Einen aufschlußreichen Einblick in die Diskursmechanik im allgemeinen erlaubt die Frage nach dem Adressaten von Nicolais Kritikapologie im besonderen. Man kann ihn eigentlich schon durch eine einzige Formulierung des oben referierten 17. Briefs identifizieren, wo anstelle von „Bedachtsamkeit“ im Loben eine ebensolche „Bedachtsamkeit“ im Tadeln eingefordert wird. „Bedachtsamkeit“ ist nämlich genau jene Kompetenz, die Bodmer von den Lesern Miltons fordert (3.2.2). Im Zusammenhang der Briefe wird dann vollends klar, daß sich der 17. Brief gegen Bodmers Sinnunterstellung wendet und sich als Beitrag zur Diskussion um das über- oder untergeordnete Verhältnis von Autor und Kritiker verstehen läßt. Durch eine Reihe von fünf Briefen zieht sich eine (fingierte) Auseinandersetzung mit den „in der Schweiz seit einiger Zeit heraus gekomme_____________ 164 Vgl. zu den Zusammenhängen Guthke: Der junge Lessing als Kritiker Gottscheds und Bodmers, insbes. S. 25ff. 165 Diese These markiert freilich zugleich, daß Goethes Kritik-Verständnis in die Tradition der Bodmerschen ‚lobenden’ Kritik zu stellen ist, die sich – wenn geboten – durch „Behutsamkeit“ auszeichnet (3.2.1, 5.4.1; vgl. auch unten [c] zu Wieland). Oesterle markiert umgekehrt eine Tendenz zur Verfriedlichung der Kritik in der Aufklärung, zur Ästhetisierung der Polemik in der Frühromantik sowie zur Parallelisierung von Polemik und (französischer) Revolution um 1800 (Oesterle: Das „Unmanierliche“ der Streitschrift, insbes. S. 110f., 116ff.) 166 [Gerstenberg]: Briefe über die Merkwürdigkeiten der Litteratur, S. 104 („Zusatz der Sammler“ zur „Fortsetzung des zwölften Briefes“). 167 Riedel: Briefe über das Publikum, S. 94. 168 Zit. nach Lessing: Werke. Bd. 5, S. 828. 169 Lessing: Werke. 4. Bd., S. 674. Zu Nicolai vgl. vor allem im Blick auf die Allgemeine Deutsche Bibliothek Möller: Aufklärung in Preußen, S. 199; weiterhin: Barner: Autorität und Anmaßung, S. 29f.
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nen epischen Gedichte[n]“ und deren Kritikern. In Nachfolge Gottscheds steht darin ein Vorwurf im Zentrum: „Dem allem ohnerachtet, finden diese Gedichte keinen Beifall, aber wer ist schuld daran? etwa deren Dichter? Bei leibe nicht! die Leser, die sich durch das Griechische Silbenmaaß hindern lassen, das Schöne und Lehrreiche in dieser Poesie einzusehen“.170 Der Briefschreiber, der an dieser Stelle Orells Verteidigung von Bodmers Gedichten wortwörtlich zitiert (3.2.1),171 faßt zusammen: Die Kritik, die sich vor Zeiten erniedriget hatte, mit philosophischer Genauigkeit die Gründe des Schönen zu untersuchen, und den feinen Geschmakk, dem es oft noch geschwinder als iener glükte, diese Schönheiten zu empfinden, ist durch ein geblendetes Staunen verdrängt worden, das einen preismatischen Schimmer mit einem leuchtenden Sonnenstrahl verwechselt.172
Der sechste Brief ist daher eine „Vertheidigung dieser Gedichte“, beginnend und endend mit dem zentralen Argument Bodmers gegen die Kritiker Miltons: Der Tadler sei in seinem Urteil „ein wenig zu geschwind gewesen“.173 Der Antikritiker gesteht zwar einige Punkte zu, bittet aber um „Nachsicht“ und begründet diese Bitte, indem er die „Schläfrigkeit“ der Gedichte biographisch erklärt und die neuen Gedichte ins Gesamtwerk einbettet. Anders gesagt: Er sammelt, wie vor allem Wieland das später tun wird (3.3 c), Argumente, die den Leser zu einem positiven Vorurteil führen („[...] so überlegen Sie die Grösse des Genies, daß den Noah herfür gebracht hat, bedenken Sie die Menge der Anordnungen, die der Dichter hat machen müssen [...]“) und dadurch eine „bedächtliche Untersuchung“ anregen bzw. auf den richtigen „Augpunkt“ hinweisen.174 Wann Sie eine bedächtliche Untersuchung anstellen wollen, so werden sie in ihren Gedichten Ordnung im Plane, starke und genau gezeichnete Charaktere, Harmonie des Silbenmaaßes, [...] einen Ausdrukk, der so pathetisch, als einfältig, die lebhaftesten Empfindungen der Religion und Tugend, die Ausdrükke der zärtlichsten und reinsten Liebe, und ich gestehe es, auch Fehler antreffen. Ich überlasse es Ihrer eigenen Unpartheilichkeit, ob diese leztere, wann sie auch häufiger wären, als ich es glaube, vermögend sein solten, diese Gedichte, Leuten von Geschmackk und Tugend, gleichgültig oder verächtlich zu machen.175
_____________ 170 [Nicolai]: Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften, S. 48ff. 171 „Und welche Schwachheit daß andere sich durch das griechische Sylbenmaß hindern lassen, das Schöne und Lehrreiche in der Poesie zu entdeken und zu fühlen! Denn wir wollen den Kaltsinn vieler Leser, der dem Buchhändler vornemlich bekannt ist, lieber dieser Schwachheit zuschreiben, als glauben daß die ungewöhnliche Denkart und die sittlichen Eigenschaften der eingeführten Personen daran Schuld haben“ (Bodmer: Gedichte in gereimten Versen, unpag.). 172 [Nicolai]: Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften, S. 52. 173 [Nicolai]: Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften, S. 54, 59. 174 [Nicolai]: Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften, S. 58f. 175 [Nicolai]: Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften, S. 60.
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Damit referiert der Brief zwar treffend Bodmers Kritikprogramm, gibt aber nur umso mehr Grund, die Vorwürfe im Antwortbrief als Kritik dritter (in den Briefen) bzw. vierter Ordnung (in bezug auf die positive Kritik der Schweizer Gedichte) zu bekräftigen176 und im folgenden nicht dem Publikum den Dichter, sondern dem Dichter das Publikum als Orientierungspunkt zu empfehlen. Es ist folglich ein Fehler, „wenn ein Schriftsteller affectiret, alle seine Vorwürfe aus einem besondern Augpunkte anzusehen, und wann er das Publicum nicht allein zwingen will, alle Sachen aus eben diesem Augpunkte zu betrachten, sondern es auch zu überreden sucht, daß dis der einzige richtige Augpunkt sei [...]“.177 Diese Inversion der Bodmerschen Perspektive wird vor allem in Kombination mit dem ebenfalls von Bodmer forcierten Perspektivismus bedeutsam. Der Kritiker stellt nämlich die Natürlichkeitsforderung oben an, historisiert die Exemplarität der antiken Dichtung, lehnt in Konsequenz dessen das traditionale Argument der Legitimation durch Antikebezug als Schutzbehauptung im Sinne eines praeiudicium antiquitatis ab und setzt das „Ganze“ eines Kunstwerks als Richtwert ein. Dieses Programm profitiert vom Bodmerschen Perspektivismus und erklärt wie dieser zur Aufgabe, nach der „Verschiedenheit der Wendungen, die einem ieden Vorwurf das ihm gehörige Licht giebt“, zu schauen, aber es akzeptiert nicht eine ausgezeichnete Perspektive („der einzige richtige Augpunkt“) als maßgebend. Die Briefe greifen die in Orientierung am Autor entwickelten Kompetenzen auf, kehren aber die Hierarchie zugunsten des Kritikers um und fordern nicht vom Leser bzw. Kritiker, sondern vom Poeten „Behutsamkeit“, geben also den Vorwurf der Übereilung an dessen Adresse zurück.178 Wenig wunderlich, daß gerade Autoren wie Haller, Hagedorn oder Gellert zu Nicolais dichterischen Helden gehören, denn diese _____________ 176 Interessant für die bisherige Kritikgeschichtsschreibung dürften vor allem jene Passagen sein, in denen sich Nicolai gegen eine gelehrt-elitäre Dichtung ausspricht ([Nicolai]: Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften, S. 63f., dazu: Möller: Aufklärung in Preußen, S. 74), so daß man seine späteren Argumente nicht einfach als Beleg für die Trennung von hoher und niederer Literatur im Rahmen einer teleologischen Konstruktion in Anspruch nehmen kann (so z. B. bei Berghahn: Maßlose Kritik, S. 197f.). Kritisch zur These von der Dichotomisierung von ‚hoher’ und ‚niederer’ Literatur: Fontius: Tendenzen der Literaturkritik in Frankreich und Deutschland im 18. Jahrhundert, S. 133. 177 [Nicolai]: Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften, S. 63f. Selbst nachdem der Verteidiger der Schweizer sich im 14. Brief wieder zu Wort meldet, erneut den „Augpunkt“ und die „Hauptabsicht des Dichters“ anführt (d. h. hier: „die Beförderung der Religion und Tugend“), läßt sich der Kritiker nicht umstimmen. Er besinnt sich vielmehr auf den Eigensinn der Poesie: „Es braucht [...] keines Beweises, daß ein mittelmäßiger Moralist und ein grosser Dichter zweierlei sind“ (ebda., S. 152f., 157f.). Vgl. zu Nicolais späterer Wende zur Priorität des Moralischen bzw. des gesellschaftlichen Nutzwertes im Zusammenhang mit der Werther-Kritik Möller: Aufklärung in Preußen, S. 121ff. 178 [Nicolai]: Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften, S. 67ff., 79, 82.
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Reihe steht für das Programm der Verbesserungsästhetik, also einer genauen und immer neuen kritischen Durcharbeitung des eigenen Werks.179 Schlechte Kritiken sind aus dieser Perspektive nur Folgen einer mangelnden Selbstkritik bzw. Antizipation von Fremdkritik. Aus der distanzierten Haltung zu den beiden vormals maßgeblichen Parteien heraus entlarven die Briefe nun auch die Kontingenz der auf Perspektivismus fußenden Urteilsbildung: Je nach Parteizugehörigkeit fallen die Urteile der Kritiker aus.180 Bei Bedarf läßt sich also alles verteidigen, indem man die Bedingungen der Beurteilungen zugunsten des Autors festlegt und damit jede Möglichkeit der Kritik ausschaltet.181 Die rhetorische Qualität des kritischen Urteils wird zwar dabei von den Briefen stets bedacht, jedoch unter dem Rubrum „Parteilichkeit“ geführt, so daß diese Einsicht für die Einschätzung der eigenen Lage irrelevant bleibt und die paradoxale Selbstanwendung des Beliebigkeitsvorwurfs vermieden wird. Dazu hat der Kritiker allen Grund, denn in den konkreten Analysen von Bodmers Gedichten verläßt er sich so gut wie völlig auf das Einverständnis des Lesers, wenn er behauptet, sowohl im Detail als auch in der Ausarbeitung des ganzen „Plans“ hielten Bodmers Gedichte nicht die angemessene Stillage, unterbrächen unter dem Vorwand der Natürlichkeit den erhabenen Ton durch Tändeleien, Langweiliges, Alltägliches oder Unsinniges.182 Entscheidend ist aber zunächst die Einsicht in den Zusammenhang zwischen der Komplizierung des kritischen Instrumentariums (die Kritik läßt sich nicht von sinnlich Wahrnehmbarem blenden, sondern geht in die „Tiefen“ eines Werks) und der Beliebigkeit des Urteils (für jedes Werk läßt sich der „Gesichts=Punct“ finden, von dem aus es gelobt oder getadelt werden kann). b) Lessing Nicolais Kritik der Kritik an der Kritik zeigt, wie Gedankenfiguren sowohl Bodmers als auch Gottscheds wirksam werden. Das gilt ebenfalls für Lessing, der wie sein Berliner Kompagnon den kritischen Perspektivismus mit der Unbarmherzigkeit des Urteils verbindet, der sich gleichermaßen als Anwalt wie als gefürchteter Richter des Autors etabliert und der auf_____________ 179 [Nicolai]: Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften, S. 190, 204. Vgl. zum Thema Verf.: Die Entstehung von Tiefsinn im 18. Jahrhundert. 180 [Nicolai]: Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften, S. 189, 203, auch S. 49, 74. 181 [Nicolai]: Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften, S. 74. 182 [Nicolai]: Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften, zusammenfassend S. 68, 72, 76.
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grund der nachhaltigen Prägung durch die schulische Disputationskultur sowie durch die ‚Streitbarkeit‘ als theologische Haltung auf wichtige Traditionsstränge der Kritikkultur verweist183, die im hier gesteckten Rahmen unbeachtet bleiben müssen. Sein Ort im Prozeß der Etablierung von Negativität wurde oben bereits markiert, als es um die Ablehnung der Maxime „Mache es besser!“ als Leitthese der ‚alten‘ Kritikkultur ging (2.2). Die Problemlage des kritischen Diskurses für Lessing wird dabei bereits durch das Faktum bestimmt, daß er sich – wie zitiert – überhaupt mit dem Geschäft der Kritik-Apologie befassen muß. Interessant für die spezifische Konstellation ist dann weiterhin die Frage, warum er die Kritik nicht nur gegen Dusch, sondern auch gegen die Freymüthigen Nachrichten verteidigt, also gegen eine deutlich unter dem Einfluß von Bodmer und Breitinger stehende Zeitschrift.184 Diese hatten erklärt: Hr. Dusch hat den Herren Nicolaiten zuerst gesagt, daß es schwerer und nützlicher sey, die Schönheiten in den Schriften von Geschmack zu entdecken, als die Fehler herzuzählen, daß sie jene nicht gesehen haben, wo sie waren und diese, wo sie nicht waren, erdacht, und dann kunstmäßig getadelt haben.185
An wenigen Stellen dürfte deutlicher werden, daß der kritische Diskurs vor allem ein Spiel mit der Neuverteilung von Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten ist, daß Kritiker sich dadurch auszeichnen, an Stellen etwas zu stehen, wo andere nichts sehen. Lessings Aufstieg zur zentralen Kritikerfigur der Aufklärung erklärt sich nicht zuletzt aus seinen überraschenden Schachzügen in diesem Spiel. Lessing, der das Disputieren auf alle Bereiche des Lebens ausgedehnt186 und damit der Negation ein weites Feld bereitet hat, äußert sich bemerkenswert selten und nur wenig ausführlich theoretisch zum Problem der Kritik. Seine diesbezüglichen Einlassungen sind meist Teil der literaturkritischen Praxis, weswegen man sein Vorgehen schlüssigerweise mit dem Etikett einer „induktiven“ Kritik versehen hat.187 Das sollte weniger _____________ 183 Zu letzterem Stenzel: Auseinandersetzung in Lessings frühen Schriften, insbesondere S. 495. 184 Lessing: Werke. 5. Bd., S. 840. Zur Zeitschrift: Wilke: Literarische Zeitschriften des 18. Jahrhunderts (1688-1789). Teil II, S. 41ff. 185 Freymüthige Nachrichten Von Neuen Büchern, Und Andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen 15 (1758), S. 299. 186 Mettler: Lessings unabdingbares Bedürfnis, mit Freunden zu disputieren. Freilich wäre auch hier nach den medialen Voraussetzungen einer freundschaftlichen Streitkultur sowie nach den im freundschaftlichen Disput zur Geltung kommenden Vorsichtsregeln zu fragen, wenn Lessing sich erklären muß, wenn er seine Argumente bewußt strategisch wählt oder wenn er so variabel seine Positionen bezieht, daß allein noch die Kommunikation selbst als Positives im Theater der Lessingschen Disputationskunst übrig bleibt. Zur prozessualisierten Form der Meinungsbildung bei Lessing vgl. Kimpel: Lessings Hermeneutik 187 Steinmetz: Der Kritiker Lessing, S. 32ff. Berghahn: Von der klassizistischen zur klassischen Literaturkritik, S. 38f. Vgl. zu einem neuen Überblick über Lessings Kritikertätigkeit: Bar-
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auf Lessings generelle Ablehnung von Regeln bezogen werden, denn faktisch argumentiert er immer wieder und je nach Bedarf mit der Regelhaftigkeit der Kunst. Allerdings sucht er dabei die Gesetzmäßigkeit der Poesie gewissermaßen auf einer ‚tieferen‘ Ebene (die eben in dieser Suche gesetzt wird), etwas, was man bei Gottsched andeutungsweise in seinem Votum gegen Gattungsgesetzlichkeit und für die Natürlichkeit bzw. Naturnachahmung des Kunstwerks im Kontext der Verteidigung des Cato finden konnte und was in Bodmers Perspektivismus kritische Energien freisetzte (3.1.2 u. 3.2.1). Daß diese Herstellung von ‚Tiefsinnigkeit‘ die Variabilität der Argumentation in beachtlichem Maß steigert, zeigte der Streit zwischen Leipzig und Zürich sehr deutlich, und auch Lessings Streitbarkeit kann in dieser Linie gesehen werden, auf der die Virtualisierung des Gegenstandsbereichs durch Bezug auf den „innern Werth einer Schrift“ kritische Auseinandersetzung immer wahrscheinlicher macht und daher zur Etablierung und zur Akzeptanz von Negativität beiträgt.188 Bereits in einer frühen Kritik Lessings, dem Beschluß der Kritik über die Gefangnen des Plautus (1750), lassen sich die Prinzipien und Strategien seiner Literaturbetrachtung aufzeigen. Bevor Lessing sich hier abschließend generell zur Poetologie des Lustspiels äußert und die „Absicht“, also die moralische Wirkung, zum einzig legitimen Maßstab der Beurteilung erklärt, beendet er seine Detailverteidigung mit einem bemerkenswerten Bekenntnis: „Wie vieles läßt sich entschuldigen, wenn man es nur nicht immer auf der schlimmsten Seite ansieht!“189 Das ist nichts anderes als Bodmers Programm eines kritischen Perspektivismus zugunsten des Autors, bei dem es ganz entschieden auf die argumentative Geschicklichkeit ankommt. Und wie bei Bodmers DonQuixote-Apologie greift dabei in der Plautus-Kritik die Doppelfigur erstens der Historisierung durch die Einblendung des eigentlich adressierten Publikums und zweitens der Verteidigung über die prinzipielle Stimmigkeit der poetischen Konstruktion (3.2.2)190 _____________
ner u.a.: Lessing, S. 134ff., 198ff., hier S. 143f., 186f.; Brenner: Gotthold Ephraim Lessing, S. 134ff., hier S. 143. Eine kritische Diskussion der Induktionsthese bei: Nivelle: Lessing im Kontext der europäischen Literaturkritik, S. 100ff. 188 Zur Prozessualisierung der Kritik und zur entsprechenden Virtualisierung des Textbegriffs unter dem Stichwort „Geist“ im Blick vor allem auf kognitive Fragestellungen: Bohnen: Geist und Buchstabe, S. 11ff.; vgl. zum Thema auch die harmonisierende Sicht bei: Werner: Selbstdenken und Mitfühlen. Zur Standpunktvariabilität (oder etwas kritischer: Widersprüchlichkeit) Lessings: Steinmetz: Der Kritiker Lessing, S. 34. 189 Lessing: Werke. 3. Bd., S. 502. 190 Um ein Beispiel zu geben: Sollte ein Ortswechsel im Drama unter den Verdacht geraten, der zu bewältigende Abstand sei ohne Verletzung der Zeiteinheit nicht zu bewältigen, muß man eben das Drama so genau anschauen, daß zwei ausreichend nahe Städte gefunden werden („Wenn man also dem Dichter nicht ohne Not allzugroße Ungereimtheiten auf-
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Nun hat Lessing keinesfalls immer die Bedingungen zugunsten des Autors gesetzt, sondern sich im Gegenteil sogar in höchstem Maß ungerecht verhalten und die produktive Kritik gern und oft durch die vernichtende ersetzt.191 Aber selbst im berühmtesten Beispiel, der Ausradierung Gottscheds aus der Theatergeschichte im 17. Literaturbrief, folgt Lessing bei allen Ungereimtheiten und eindeutig diffamierenden Behauptungen192 immerhin rudimentär den Maßgaben des Kausalitätsprinzips, indem er den Geschmack durch Kontextualisierung zum Nationalgeschmack erklärt und damit den Paradigmenwechsel vom französischen zum englischen Theater im Rahmen des aufklärerischen Argumentationsrasters begründet.193 Lessings frühe Schriften stehen jedenfalls in der Tradition von Gottscheds Programm verhaltener Kritik194 sowie von Bodmers Perspektivismus zugunsten des Autors, und erst später formuliert er wie Nicolai die Maxime, ein unverdientes Lob sei jederzeit schlimmer als ein unverdienter Tadel.195 Zum Anschluß an das Programm des kritischen Perspektivismus paßt, daß Lessing sich mit Vehemenz gegen die Anmahnung von „Höflichkeit“ in Kombination mit der auf Titel gegründeten Hierarchisierung der Kommunikation wehrt.196 Neben allen biographischen Gründen für Lessings Reizbarkeit im Streit mit Christian Adolf Klotz gerade in diesem Punkt, also vor allem seine Bemühungen um eine Stelle am Berliner Hof, die Klotz innehatte, geht es hier noch einmal um den nach wie vor setzbaren Spielstein der Repräsentativität. Die historische Unangemessenheit von ‚Höflichkeit‘ als Kommunikationsregel wird indes in den Schriften des „Klotzianismus“ offenbar, die ja – zumindest aus Lessings Perspektive – faktisch von kritischer Radikalität bzw. Unhöflichkeit sind. Aus diesem _____________
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bürden will, so nehme man ein Paar Grenzörter, die aufs höchste etliche deutsche Meilen von einander liegen können“) (Lessing: Werke. 3. Bd., S. 499). Zur Perspektivik bei Lessing jenseits der Literaturkritik und vor allem im Blick auf bildkünstlerische Konntexte: Seeba: „Der wahre Standort einer jeden Person“. Berghahn: Zur Dialektik von Lessings polemischer Literaturkritik; vgl. die Verbindungslinien zu Liskow, hergestellt bei Grimm: „O der Polygraph!“, S. 264, 266; zu Lessing als Polemiker auch: Brenner: Gotthold Ephraim Lessing, S. 153ff. Dazu im einzelnen Michelsen: Der Kritiker des Details, S. 151ff. Lessing: Werke. 5. Bd., S. 71f. Freilich könnte man gerade hier auch ein Gegenbeispiel anführen, nämlich Lessings Kritik der Gedichte Gottscheds, wobei die Kritik im Kontext einer Kritik an Formen der Einflußnahme durch Repräsentativität zu verstehen ist, hier also an der Aufmachung und Ordnung der Sammlung, „welche der schärfsten Hof-Etiquette Ehre machen würde“ (Lessing: Werke. 3. Bd., S. 52). So im Blick auf die Vorrede zu den Beiträgen zur Historie und Aufnahme des Theaters (Werke. 3. Bd., S. 357), die Lessing in einigen Punkten als Nachfolger Gottscheds erscheinen lassen (Guthke: Der junge Lessing als Kritiker Gottscheds und Bodmers, S. 41f.). So in der Hamburgischen Dramaturgie (Lessing: Werke. 4. Bd., S. 573). Vgl. allgemein Bahr: Autorität und Name; zu Klotz vgl. Steinmetz: Die Sache, S. 486.
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Grund etabliert Lessing neben der Dichotomie „grob“ / „höflich“ eine dritte Größe, die der Kritik seit dem späten 17. Jahrhundert ihren Ort in einer nicht-repräsentativen Semantik einräumt: „[...] zum Besten der Mehrern, freimütig sein, ist Pflicht“.197 Unschwer läßt sich erkennen, wie an dieser Stelle die Etablierung des Begriffs der ‚Freimütigkeit‘ mit seiner vorsichtigen Begrenzung durch die Maxime der Sozialverträglichkeit zusammenfällt, wie sehr also auch noch bei Lessing das Programm der ‚Freimütigkeit‘ provozieren konnte (2.3). Die Verteidigung von Kritisierbarkeit, die Sensibilität für den kritischen Möglichkeitssinn und die Abwehr der Repräsentationsordnung als Blockade der Etablierung von Negativität führt bei Lessing konsequent zur Vervielfältigung des kritischen Perspektivismus: werkästhetisch als ‚Feinheit‘ interner Verknüpfung und als Nachahmung eines bestimmten Ausschnittes der Natur; wirkungsästhetisch als wechselnder Standpunkt des Rezipienten; produktionsästhetisch als historische Bedingung des Werks bzw. seiner Aufführung. Stilistisch markiert Lessing diesen Perspektivismus als Technik der Rekonstruktion, die mit Mitteln der Frage, des Konjunktivs sowie des Konditionalis als Kontextmarkierung Bezüge stiftet. Das ist nicht zuletzt im Hinblick auf Gottscheds Cato-Verteidigung bemerkenswert, die sich mit ihrer Fragetechnik ebenfalls in der Welt des Möglichen bewegt und damit implizit bzw. im Vollzug den von Bodmer programmatisch vertretenen Perspektivismus als Moment kritischer Kommunikation bestätigt (3.1.2). Weiterhin etabliert Lessing die Differenz von Kritiktheorie und praxis als grundlegendes Problem: Was Bodmer als „Gesichts=Punct“ einführt und als „Absicht“ des Autors zu kontrollieren versucht, was Gottsched als „Vorurteil“ denunziert und was Nicolai als Kontingenz des Perspektivismus unter dem Rubrum „Parteilichkeit“ nur verdeckt anführt, benennt Lessing als Problem der applicatio, und zwar als Sonderproblem der Kritik. In der Zuordnung der Kompetenzen in der Vorrede zum Laokoon. Diese Vorrede ist eine Kritik mindestens zweiter Ordnung, die mit Herders Erstem Kritischen Wäldchen zum Anlaß einer Kritik dritter Ordnung wird. Darin spricht Lessing dem „Liebhaber“ das „Gefühl“ und dem „Philosophen“ die Einsicht in die „Regeln“ für die Kunst im allgemeinen zu. Der „Kunstrichter“ hingegen mache sich Gedanken „über den Wert und über die Verteilung dieser allgemeinen Regeln“. Bei ihm „beruhet das Meiste in der Richtigkeit der Anwendung auf den einzeln Fall“, und aller _____________ 197 Lessing: Werke. 6. Bd., S. 372, 394, 398f. Zur Konstellation im Detail vgl. Barner: Autorität und Anmaßung. Vgl. in diesem Kontext auch die Besprechung der Hamburgischen Dramaturgie durch Klotz und darin den Vorwurf der diktatorischen Gewaltausübung sowie den Vorwurf „philosophischer Kälte“, den ähnlich Bodmer gegen die deutschen Verächter Miltons geltend gemacht hatte (Lessing: Werke. 4. Bd., S. 855ff.).
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Streit lasse sich vermeiden, wenn diese „Anwendung“ mit der gebotenen „Vorsicht“ stattfinde.198 Das Problem liegt jedoch – was bereits die von Beginn an polemische Argumentationsstruktur des Laokoon verdeutlicht – darin, daß „nicht jeder Kunstrichter [...] ein Genie“ ist, selbst wenn „jedes Genie [...] ein geborner Kunstrichter“ sein sollte, wie Lessing es in der Hamburgischen Dramaturgie formuliert und sich damit gegen das Kritikverdikt von seiten der Genieästhetik wehrt.199 Die Vorrangstellung des Einzelfalls vor dem Allgemeinen im genialen Kunstwerk macht die Lösung des Kritikers von einer schlichten Regelpoetik notwendig. Zugleich aber bewahrt Lessing die Analysierbarkeit von Genialität, indem er das Unbegreifliche des Genies zeitlich entzerrt: Das Genie kann zwar mit Regeln wenig anfangen, sehr wohl aber mit „Beispiele[n] und Übung“ sowie mit der „Erinnerung“ daran, die während der künstlerischen Tätigkeit als ebenso unfaßbare wie permanente Kontrollinstanz fungiert. Die durch Selbstbezug gestiftete Kontinuität variiert temporal jene geordnete Welteinheit, die das Genie als alter deus im Kunstwerk dem Publikum vorlegt; sie verdoppelt eine Ordnung, auf die der Kritiker sich beziehen kann und in die sich der Kritiker selbst mit dem Anspruch an seine kritische Tätigkeit, also mit der Markierung von Zeitbedarf für den Akt der Kritik, einschreibt. Bezeichnenderweise führt Lessing – ähnlich wie Bodmer (3.2.2) – zur Illustration der neuen Sichtbarkeit ein technisches Hilfsmittel an: das „Vergrößerungsglas“.200 Wenn die ‚Feinheiten‘, die der Kritiker wahrzunehmen hat, mit dem gewöhnlichen Auge nicht mehr wahrgenommen werden können, wird Zeitmangel zu einem plausiblen Grund, die Arbeit an der Hamburgischen Dramaturgie zu beenden.201 Das aber ist nur ein Moment. Einen Teil der Schuld schiebt Lessing – darin gewissermaßen unfreiwilliger Nachfolger der Bodmerschen Publikumsbeschimpfung (3.2.1) – dem Auditorium in die Schuhe, das „noch etwas schlimmers, als nichts“ getan habe: „Nicht genug, daß es das Werk nicht allein nicht befördert: es hat ihm nicht ein_____________ 198 Lessing: Werke. 6. Bd., S. 9. 199 Bohnen: Geist und Buchstabe, S. 112f. Zur Geniediskussion bei Lessing: Barner u.a.: Lessing, S. 188ff.; Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945. Bd. 1, S. 69ff., hier S. 93ff. 200 Zur Verteidigung der Kritik vgl. Lessing: Werke. 4. Bd., S. 673; zur alter-deus-Theorie vgl. ebda., S. 385f.; zur entsprechenden Nachahmungstheorie ebda., S. 556ff. 201 Lessing beendet aus Zeitmangel die Hamburgische Dramaturgie, denn die produktive Kritik „kostet [..] mich so viel Zeit, ich muß von andern Geschäften so frei, von unwillkürlichen Zerstreuungen so ununterbrochen sein, ich muß meine ganze Belesenheit so gegenwärtig haben, ich muß bei jedem Schritte alle Bemerkungen, die ich jemals über Sitten und Leidenschaften gemacht, so ruhig durchlaufen können [...]“ (ebda., S. 695).
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mal seinen natürlichen Lauf gelassen“.202 Selbstredend ist auch diese Äußerung Teil einer spezifischen lebensgeschichtlichen Situation. Im Kontext einer symptomatologischen Lektüre belegt sie darüberhinaus Vermittlungsprobleme zwischen den Instanzen des literarischen Diskurses. Die vielstimmige und vielsinnige kritische Kommunikation etabliert neue Möglichkeiten, etwas an einem Kunstwerk zu sehen und dann angemessen darüber zu schreiben. Sie arbeitet dabei mit Unverständlichkeit, zunächst freilich noch im Blick auf die traditionelle Trennung einer verständigen von einer unverständigen Leserschaft.203 Daß Lessing hier in Andeutungen verharrt, versteht sich vor dem Hintergrund seiner erwähnten Reserve gegenüber der Genie-Ästhetik als Form der Kritikabwehr: Wie in Bodmers Milton-Apologie, unterstützt kritische Kommunikation durch Sinnvermehrung die Steigerung des Unverständlichkeitsgrads, was allerdings insofern unproblematisch ist, als sich die Kommunikation dadurch nicht blockieren lassen muß: Günstigerweise kann man nämlich dem Verdikt der ‚Unverständlichkeit‘ die Aura eines positiven Werts verleihen. ‚Unverständlichkeit‘ markiert dann einen besonderen Anspruch, dem Leser oder Kritiker gegebenenfalls nicht entsprechen. Hier hilft allein ‚Sympathie‘ weiter, wie Goethe in der Nachrede zum 72er-Jahrgangs der Frankfurter Gelehrten Anzeigen ausführt, also das Übersteigen der Schrift und des Sichtbaren auf eine ungreifbare Verbindung zwischen Leser bzw. Kritiker, Autor und Werk. In Reaktion auf den Vorwurf mangelnder „Deutlichkeit“ von seiten des Publikums auch „bey dreymaliger Durchlesung“ schreibt er: Das gröste Uebel aber, das daher entsprungen, sind die Mißverständnisse, denen unsre Gedanken dadurch unterworfen worden. Wir wissen uns rein von allen bösen Absichten. Doch hätten wir bedacht, daß über dunkle Stellen einer Schrift tausende nicht denken mögen noch können, [...] wir würden uns, soviel möglich, einer andern Schreibart befleißigt haben. [...] Sie [die scheidenden Rezensenten, S.M.] haben dabey erfahren, was das sey, sich dem Publiko kommuniciren wollen, mißverstanden werden, und was dergleichen mehr ist; indessen hoffen sie doch, manchen sympathisirenden Leser gefunden zu haben, dessen gutem Andenken sie sich hiermit empfehlen.204
Neben der Etablierung des Unsichtbaren als Gegenstand ‚wahrer‘ Kritik scheint mir dabei wichtig zu sein, daß ‚Unverständlichkeit‘ sich typischerweise mit kritischer Gewalt paart (das gilt für Bodmer nicht weniger als _____________
202 Lessing: Werke. 4. Bd., S. 698. 203 Schumacher: Die Ironie der Unverständlichkeit, S. 26ff. 204 Frankfurter gelehrte Anzeigen vom Jahr 1772, S. 831f.; zu den Frankfurter gelehrten Anzeigen insgesamt sowie zur allmählichen Herausbildung der kritischen Sprache des „Sturm und Drang“-Jahrgangs: Jansen: Frankfurter Gelehrte Anzeigen; zur Programmatik des „Charakteristischen“ vgl. Dahnke: Intentionen und Resultate des Jahrgangs 1772 der Frankfurter Gelehrten Anzeigen.
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für die Frankfurter Anzeigen) und daß dies eine marktstrategische Größe bedeutet.205 Denn bei allem Vorbehalt gegenüber Kritik sind sich noch die Verhaltenslehren darüber im Klaren, daß man zwar selbst Zurückhaltung in Sachen Kritik üben sollte, sich aber nichtdestotrotz gern die Kritik an anderen anhört.206 Auch die Affektivität der genieästhetischen Rezensionspraxis gehört dabei zu den integralen Aspekten kritischer Kommunikation als Kunst der Bezugnahme auf Unsichtbares: Aus der Perspektive der aufklärerischen Bestimmung der Kritik markiert nämlich ostentative Affektivität bei der Beurteilung, daß der Kritiker keine ‚Gründe‘ und damit eben auch keinen realen Gegenstand für seine Einschätzung anzuführen versteht – die Aufgabe, die (Un-)Gegründetheit eines Kunstwerks und damit seine (Un-)Natürlichkeit oder (Un-)Vernünftigkeit darzulegen, ist eine Sache des „Verstandes“ und eben nicht des „Willens“.207 Wie reagiert Lessing auf eine Zeit, in der einerseits Kritiker von „Schönheiten, die man nicht empfindet, [...] beweisen, daß man sie empfinden solle“, und in der andererseits Polemik, Prätention und Affektivität an die Stelle des Beweises tritt, in der Tadler und Bewunderer ein und desselben Gegenstandes womöglich gleichermaßen mit Geschmack begabt sind?208 Er reflektiert im Akt der Kritik die Tatsache, daß er in einem von vielen Stimmen, Urteilen und Meinungen durchhallten Raum schreibt, dessen diffuse Gegenständlichkeit in der Polyphonie der kritischen Kommunikation ersteht. Auf diese Weise bildet Lessing die prinzipielle Unsicherheit des Standpunkts ab. Die Form von Lessings Kritik, die vor allem als dialogischer Akt der Verständigung mit den Lesern gesehen worden ist209, bezeichnet viel klarer die Situation des Kritikers und vice versa des Autors als jede Rede von _____________ 205 „Wir trieben das kritische Handwerk ein bißchen freier als sie [die „Mitbrüder an der kritischen Innung“, S. M.] und mit mehr Eifer“, erklärt Goethe. Johann Conrad Deinet, der verkaufstüchtige Verleger der Zeitschrift schreibt in einem Brief über die marktstrategische Funktion kritischer Gewalt: „Wenn der Ton der Zeitung 1773 wie anno 1772 fortdauerte, so glaube ich, hätte ich hundert Taler dabei verdienen können“ (zit. nach: BräuningOktavio: Herausgeber und Mitarbeiter der Frankfurter Gelehrten Anzeigen 1772, S. 512). In diesem Sinne zu Lessings frühen Kritiken Baasner: Lessings frühe Rezensionen, S. 132. 206 Menantes: Die Beste MANIER in Honnêter CONVERSATION, Sich höflich und Behutsam aufzuführen, S. 34f. 207 So in der Vorrede sowie in der Abhandlung In welcher der Begriff der Critik bestimmet wird in: Bemühungen zur Beförderung der Critik und des guten Geschmacks, 1743, 1. St., S. 16, 39. 208 So bei einem Überblick über den Kritikbetrieb anläßlich einer Messias-Besprechung (Lessing: Werke. 3. Bd., S. 303). 209 So z. B. Vierhaus: Kritikbereitschaft und Konsensverlangen bei deutschen Aufklärern, S. 80; Althaus: Der Streit der Worte, S. 122 (hier auch weitere Literatur zum Thema). Steinmetz schreibt überzeugend vom „Pseudogespräch“ und von der „Pseudodiskussion“ (Der Kritiker Lessing, S. 39) – weniger überzeugend ist dann die ‚Direktheit’ von Lessings Kritiken (ebda., S. 36).
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der Gültigkeit oder Ungültigkeit der Regeln. Denn was für eine Konversation operiert im Raum des Ungewissen (Frage), des Möglichen (Konjunktiv) und der Kontextualität (Konditionalis)?210 Es handelt sich offensichtlich um eine sich selbst reflektierende und mißtrauende Konversation, die mit anderen, konkurrierenden Beobachtungen rechnet und die Vermittlungsprobleme einkalkuliert.211 Lessings Kritiken markieren performativ, daß sie sich – wie das ja vielfach und zumal bei Verteidigungen der Fall ist – auf Werke beziehen, die bereits kritisiert wurden und die auch weiterhin Kritik erfahren werden, über die also viele Reden, oder besser: Schriften aus verschiedenen Perspektiven ergehen und die diesen Perspektivismus in ihren eigenen Reflexionsformen einfangen. Seine Kritiken sind nicht umsonst oftmals Kritiken höherer Ordnung (also Kritiken von Kritiken), die in Reihen von Fragen und Gedankenspielen Möglichkeiten der Betrachtung austesten212 und die zwischenzeitlich erreichten Ergebnisse wiederum befragen: Wo er nicht ohnehin im Raum des Konjunktivs bleibt, wird ihm ein Tadel zu nicht mehr als „vielleicht nur eine[r] Grille“ oder einer „Kleinigkeit“. Hinzu kommen dann noch die Signale der Zerstreuung, wenn Lessing seine Papier durcheinandergeraten oder er seinen „Zweck aus den Augen“ verliert (4.1.2).213 Gehört ‚Zerstreuung‘ einerseits zur Vertrauenssemantik des 18. Jahrhunderts (als Zeichen für die ‚natürliche‘, d. h. unkontrollierte und damit unstrategische Präsentation von Gedanken)214, so eröffnet sie andererseits zugleich den Raum kritischer Möglichkeiten, denn anstelle des Gesagten könnte auch etwas anderes gesagt werden, was dem Kritiker nur unglücklicherweise gerade nicht einfällt. Wenn Lessing schließlich die Reflexionsförmigkeit der Kritik auch noch dadurch spiegelt, daß er beispielsweise in der Fiktion einer Konzeptabschrift, die ihm die Möglichkeit zur Selbstkritik der Kritik bietet, die tatsächliche Überarbeitung von Kritiken für die Sammelpublikation spiegelt,215 dann werden kritische Potenzierung und _____________ 210 In diese Richtung auch Althaus: Der Streit der Worte, S. 125. 211 Vgl. in diesem Zusammenhang Bohnen (Geist und Buchstabe, S. 56) zum TrauerspielBriefwechsel, wo sich Lessings Emphase des Urteils mit der Entschärfung der Gefahr von Mißverständnissen durch den transliteralen Bezug auf den „Geist“ verbinden, sowie zum „Spiel mit dem ‚Buchstaben’“ in der Hamburgischen Dramaturgie (ebda., S. 103ff.). 212 Lessings Messias-Besprechung beispielsweise ist zugleich eine Besprechung von Georg Friedrich Meiers Messias-Besprechung (Lessing: Werke. 3. Bd., S. 307). Zum kritischen Experimentieren vgl. ebda., S. 311ff. 213 Lessing: Werke. 3. Bd., S. 306f., 312, 316. 214 Vgl. in diesem Zusammenhang – da Lessing sich ja im Medium kritischer Briefe bewegt – zur zeitgenössischen Brieftheorie: Verf.: Friedrich von Hagedorn, S. 298ff. 215 Lessing: Werke. 3. Bd., z. B. S. 308. Die Briefe basieren auf Lessings frühen Kritiken, die für die erste Werkausgabe in diese Form gebracht worden sind, im Falle der KlopstockKritik auf einer Rezension für das Neueste aus dem Reich des Witzes.
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kritischer Perspektivismus nicht nur als Prinzipien der Urteilsbildung im einzelnen herausgestellt, sondern als Prinzipien kritischer Kommunikation in ihrer Schriftlichkeit überhaupt. Lessing spielt mit dem Zustand des ‚Spiegelstadiums der Kritik‘ im Prozeß der ‚Etablierung von Negativität‘, weil er jenseits des rhetorischen Paradigmas einen Weg findet, ‚Effekt‘ zu sein. Dem Kritiker empfiehlt er daher in der Hamburgischen Dramaturgie, sich im Sekundären einzurichten: „Er suche sich nur erst jemanden, mit dem er streiten kann: so kömmt er nach und nach in die Materie, und das übrige findet sich“.216 Lessings Schriften sind die abgeleiteten Schriften des Buchdruckzeitalters.217 c) Wieland Im Rahmen seiner Bodmer-Kritik kommt Nicolai in den Briefen auch auf Wieland zu sprechen und markiert dessen Ort in den kritischen Diskursen mit einer schlichten Beobachtung, wenn er despektierlich bemerkt: „seine ganze Kritik ist Lobgesang“.218 In der Tat steht Wieland nicht nur auf der Seite Bodmers, weil er dessen Dichtung verteidigt, sondern auch insofern, als er dabei die Verfahren des kritischen Perspektivismus als laudatorisches Verfahren nutzt. Poetologische Divergenzen zwischen Mentor und Protegé dürfen dabei allerdings nicht unterschlagen werden.219 In der Abhandlung von den Schönheiten des Epischen Gedichts Der Noah (1753) wird Wielands Nähe zu Bodmer bereits im Titel („Abhandlung von den Schönheiten“) sowie am Beginn des ‚allgemeinen‘ Teils deutlich, der „Vorbereitung des Lesers“ – in Bodmers Milton-Apologie war es ja darum gegangen, die Perspektive des abwesenden Lesers korrekt zu justieren, bevor man ihn an das Epos überhaupt heranläßt (3.2.2). Die Freymüthigen Nachrichten fordern daher konsequenterweise die Leser zur Parallellektüre von Bodmers Noah und Wielands Abhandlung auf, weil diese dann „da Ordnung und Schönheit bemerken werden, wo auch manchmal die vernünftigen Leser beym ersten Anblick Fehler zu sehen geglaubt haben.“ _____________ 216 Lessing: Werke. 4. Bd., S. 559. Vgl. – als kanonische Stelle – auch in Wie die Alten den Tod gebildet (Werke. 6. Bd., S. 407). 217 Vgl. zur Vermischung dialogischer, rednerischer und mit Interaktion rechnender Momente mit solchen der Ausweitung und Verallgemeinerung des Publikums Barner: Lessing und sein Publikum in den frühen kritischen Schriften, insbes. S. 327, 329f. Zu Lessings als kritischem Briefautor: Bödeker: Lessings Briefwechsel. 218 [Nicolai]: Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften, S. 66. 219 Baudach: Die Dichtungsauffassung des jungen Wieland. Wichtig könnte für Wielands Fortführung von Bodmers Perspektivismus vor allem seine Übertrumpfung der Zürcher Konzeption vom „Wunderbaren“ sein, weil er in neoplatonischer Tradition das ‚Mögliche’ auch als ‚Wirkliches’ denkt (ebda., S. 190ff.).
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Wielands „Mißtrauen in sich selbst“ bringt das Spiel von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit weiter.220 An sich selbst exemplifiziert Wieland eine dem kritischen Perspektivismus angemessene Lesereinstellung, indem er „Furchtsamkeit“ beim Beurteilen an den Tag legt. Wenn es nämlich darum geht, „richtig sehende[ ] Augen“ zu haben, wird ein beträchtlicher Teil der Anforderungen von der Seite des Autors auf die Seite des Lesers geschoben, der sich unter Bedingungen der Perspektivenvielfalt seines Urteils nicht mehr sicher sein kann und der daher „mit Ehrfurcht, mit Lehrbegierde, mit behutsamer Aufmerksamkeit“ sowie mit dem von den Freymüthigen Nachrichten herausgehobenen „Mißtrauen in sich selbst“ dem Kunstwerk gegenübertritt. Zeigt ein Tadel nicht eher „einen Mangel meiner Erkentniß als einen Fehler des Dichters“ an? Deutet „vielleicht“ umgekehrt ein Lob auf die Blindheit gegenüber einem „würkliche[n] Fehler“? Die Gefahr, daß Leser „aus Mangel richtiger Einsicht Schönheiten vor Fehler gehalten, oder Mißtritte und Sprünge da zu finden vermeynt, wo Ordnung und Zusammenhang ist“, läßt sich nicht bannen, so daß Wieland auch seine eigene Kritik einer möglicherweise kompetenteren Kritik zur Disposition stellt, damit für potentiell vorläufig erklärt bzw. temporalisiert.221 Im Rückblick auf Lessings Verfahren läßt sich diese Reflexionsförmigkeit der Kritik als Abbildung einer kritischen Kommunikationslage am besten brieflich entfalten, wie an einer weiteren Verteidigungsschrift Wielands für Bodmer zu sehen ist: In den von Wieland herausgegebenen Briefen yber die Einfyhrung des Chemos und den Character Josephs in dem Gedichte Joseph und Zulika zeigt sich der erste Briefschreiber zunächst enthusiasmiert von Bodmers Bibelgedicht, stößt dann jedoch auf „hæufige[ ] fehler[ ]“. Daraufhin entspinnt sich die Diskussion mit einem BodmerApologeten, der den Kritiker umzustimmen vermag. Wieland, der von der „richtigen austheilung des lichtes und schattens in seinen [Bodmers, S.M.] gemæhlden“ überzeugt ist und daher in seiner Funktion als BodmerVerteidiger mit dem erzielten Ergebnis eigentlich zufrieden sein könnte, bestätigt jedoch diesen Konsens nicht, sondern schließt seinerseits ein Schreiben von eigener Hand an, „vveil mich dæuchte, der character JOSEPHS kœnne noch in einem sehr sonderbaren licht betrachtet vver_____________ 220 Freymüthige Nachrichten Von Neuen Büchern, Und Andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen 11 (1754), 45. St., S. 353f. Zu einer harmonisierenden, die privatpolitische Dimension des Verhältnisses ausblendenden Sicht auf das Bündnis von Wieland und Bodmer: Freitag: „Welch ein himmlischer Affekt ist die Freundschaft? Wie schön kann sie edle Seelen bilden?“ 221 [Wieland]: Abhandlung von den Schönheiten des Epischen Gedichts Der Noah, S. 1-4.
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den“.222 Keine Genauigkeit ist so groß, daß sie nicht noch übertroffen werden könnte. Sicher bleibt in einer solchen Situation vervielfältigter Betrachtungsmöglichkeiten offensichtlich nur eine tiefe Verunsicherung, die Wieland freilich nicht vom selbstbewußten Lob Bodmers und ebensowenig von der vehement polemischen Gegenkritik der Noah-Kritik abhält. Bezeichnend für die Lage ist indes, daß sich in Wielands Noah-Abhandlung die kritische Kommunikationssituation, die Verzeitlichung, Perspektivenvielfalt und Invisibilisierung der Qualitäten, nicht durch das Vertrauen auf Perfektibilierung ‚aufklärt‘, sondern nur im Medium einer Kulturvernichtungsphantasie: In einer fernen Zeit – Wieland rechnet mit 1000 Jahren – werde Deutschland wieder eine „ungebaute Wildniß“ sein, „eine Wohnung der Bären und Luchse“. Wenn einst von der Gegenwartsliteratur nur noch Bodmers Noah überliefert sein wird, um es in der entsprechenden grammatischen Lieblingsfigur Klopstocks zu sagen, „würde man aus diesem einzigen Werke einen sehr deutlichen Begriff von dem Zustande der Wissenschaften und Völker unsrer Zeit ziehen können“.223 Zwei Dinge scheinen mir an dieser Pointe bemerkenswert: zum einen die Phantasie des Einfachen als Reaktion auf eine durch Vervielfältigung gekennzeichnete Situation; zum zweiten die Wendung der Kritik von ästhetischen zu historischen Kriterien als Reaktion auf eine Temporalisierung des Standpunkts (der vor dem Hintergrund potentiell anderer Urteile eben nur vorläufig ist und damit einen Zeitindex trägt). Wielands Gedankenfigur demonstriert erstens, daß die Orientierung an ‚Natürlichkeit‘ keinen wirklichen Ausweg aus einer verfahrenen ‚Kultur‘-Situation bietet, weil die Idee des Einfachen nur ein Effekt des Komplizierten ist.224 Bei der imaginativen Entfaltung eines „künftige[n] Weltalter[s]“ als Positiv der Gegenwart benutzt Wieland Kompetenzen, die der auf diese Weise überwundenen Gegenwart eigentümlich sind, d. h. hier: die Fähigkeit, einen anderen „Gesichtspunct“ ins Kalkül zu ziehen und damit die Standpunktvariabilität des perspektivischen Sehens einzubeziehen (ganz abgesehen davon, daß das Interesse an historischen Studien in der künftigen „Wildniß“ nicht wirklich plausibel wirkt).225 _____________ 222 Briefe yber die Einfyhrung des Chemos und den Character Josephs in dem Gedichte Joseph und Zulika, S. 108, 129. 223 Wieland: Abhandlung von den Schönheiten des Epischen Gedichts Der Noah, S. 7f. 224 Als Prinzip der Literalisierung entfaltet Koschorke diese Paradoxie in Körperströme und Schriftverkehr insbesondere für das 18. Jahrhundert. 225 Vgl. auch die konjunktivischen Gedankenspiele bei der Verteidigung des historischen Kollorits im Noah (Wieland: Abhandlung von den Schönheiten des Epischen Gedichts Der Noah, S. 18).
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Der Rückzug aufs Einfache unter Bedingungen der Komplizierung wird in der Noah-Abhandlung praktisch relevant, weil Wieland sich beim Durchgang durch die einzelnen Gesänge weitgehend auf die Evidenz des Eindrucks verläßt. Rhetorische Fragen, Ausrufe und vor allem extensive Zitation markieren, daß der vorab richtig ‚eingestellte‘ Leser den „Gesichtspunct“ mit dem Kritiker teilt und daher durch das schlichte Lektüreerlebnis von der Qualität des Kunstwerks überzeugt wird. Wielands Kritik entfaltet gewissermaßen die empfindsame Reaktion bei der ersten Lektüre des Epos, die er Bodmer in einem Brief vom 11. April 1752 schildert: Es müste Ihnen ohne zweifel angenehm gewesen seyn, wenn Sie unbemerkt hätten gegenwärtig seyn können, da ich den Noah das erste mal las, wozu ich einen Abend und einen Tag verwandte, und wenn Sie die Aufwallungen, die Veränderung der Minen, die Ausruffungen, und andre solche Zeichen eines gerührten und in die Sache selbst verwikelten Lesers an mir bemerkt hätten. [...] Ich bekam anfangs eine Menge Zweiffel und Einwendungen, im Durchlesen aber lößten sie sich mir auf, und als ich zu Ende war, war ich au fait de tout.226
In seiner Abhandlung geht es Wieland dann erklärtermaßen darum, den Leser die Qualitäten des Epos „selbst [...] empfinden“ zu lassen.227 Abzüglich aller kritischen Inkompetenz auf seiten Wielands, die man durchaus in die Einschätzung der Besprechung einzubeziehen hat, demonstriert er damit ein charakteristisches Verfahren, mit der Kritiken in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf die Verunsicherung des Urteils reagieren. Allen voran gehen dabei die Sturm-und-Drang-Kritiker, deren Emphase sich oftmals zu einem „Hier steht es“ oder „Man trete herzu und empfinde!“ aufgipfelt und sich in dieser Beschwörung von Evidenz zugleich erschöpft.228 Für Wieland entscheidend ist jedoch das zweite Moment, die Historisierung des „Gesichtspuncts“: Wenn die Qualität des Noah im Rückblick darin bestehen wird, als Beleg bzw. Quelle für eine bestimmte geschichtliche Konstellation fungieren zu können, dann bleibt der Kritik als letztes Kriterium offensichtlich nur noch der Zeugniswert. Daß Wieland neben der bislang in der kritischen Kommunikation gültigen Leitdifferenz von ‚schön‘ / ‚fehlerhaft‘ die Kategorie des ‚Interessanten‘ einbringt und sich dabei immerhin auf Bodmer berufen könnte229, scheint mir bezeichnend: _____________ 226 Starnes: Christoph Martin Wieland. Bd. 1, S. 24 227 Wieland: Abhandlung von den Schönheiten des Epischen Gedichts Der Noah, S. 42. 228 Frankfurter gelehrte Anzeigen vom Jahr 1772, S. 57, 59. Zur Sturm-und-Drang-Kritik: Berghahn: Von der klassizistischen zur klassischen Literaturkritik, hier insbes. S. 54f. 229 Wieland: Abhandlung von den Schönheiten des Epischen Gedichts Der Noah, z. B. S. 11f. Zur Kategorie ‚interessant’ bei Bodmer vgl. Schlegel: Sich „von dem Gemüthe des Lesers Meister“ machen, S. 99ff. Zur Etablierung der Leitdifferenz ‚interessant’ / ‚uninteressant’ im Lauf des 18. Jahrhunderts vgl. Werber: Literatur als System, S. 68ff. Entscheidend ist in
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Das historisch Interessante kann auch Fehler haben, wichtig ist nur, daß es diese als Symptome einer bestimmten Zeit ausweist und dadurch die Aufmerksamkeit an sich bindet. Hier bereitet der Zerfall klarer Orientierung in der Entfaltung kritischer Kommunikation eine historischphilologische Einstellung vor, die zwar keine Kritikabstinenz üben muß, die sich aber durch erkannte Mängel nicht von der Beschäftigung mit dem vehement kritisierten Material abhalten läßt.230 Ich will diese weiterführende Linien der Temporalisierung von Kritik zur historisch interessierten Philologie an zwei Beispielen plausibel machen: zum einen an der GötzKritik, in der Wieland seinen perspektivistischen Witz entfaltet, zum zweiten an seiner selbstreflexiven Beschäftigung mit der Situation kritischer Kommunikation bei der Erfindung einer Werkform, die der Philologie in die Hände arbeitet und entsprechend der Kritik ‚Verständnis‘ anstelle von ‚Tadel‘ abnötigt. Auf diese Weise lassen sich die Etablierung von kritischer Kommunikation und eine bestimmte, in die Zukunft weisende Werkpolitik als Diskursverbund verstehen. Wielands Besprechung des Götz von Berlichingen ist eine Antikritik zu Christian Heinrich Schmids Götz-Rezension. Beide Kritiken erscheinen in den Jahren 1773 und 1774 in dem von Wieland herausgegebenen Teutschen Merkur, und das ist kein Zufall, sondern deutet wiederum auf eine institutionelle Verarbeitung der Reflexionsförmigkeit von Kritik als Effekt der Etablierung von Negativität (2.5): Der Merkur, so erklärt Wieland in der generellen Vorrede des Herausgebers im ersten Band von 1773, müsse vor dem Hintergrund der Dezentralisierung in Deutschland, also der fehlenden Hauptstadtkultur, gesehen werden. In dieser Lage teilt er seine Zeitschrift in drei Rubriken: „vermischte Aufsätze, Beurteilungen neuer Schriften und Revision“.231 Für die Rezensionspraxis gibt Wieland die für ihn typische Parole kritischer ‚Bescheidenheit‘ aus, auch wenn er die ‚Furcht‘ vor der Urteilsinstanz Merkur ins Spiel bringt. Als ob Wieland in nuce das Verfahren der Noah-Abhandlung in Maximen fassen oder die Kompetenzen zur ‚Etablierung von Negativität‘ bestimmen wollte, erklärt er den „Ton des Zweifels“, das Interesse an „Schönheiten“ sowie die möglichste „Behutsamkeit“ zu Prinzipien der Kritik.232 Bevor er schließlich – wiederum in Tradition Bodmers – zur Maßregelung des Publikums _____________
den zeitgenössischen Bestimmungen des ‚Interessanten’, daß dieses „unserer Aufmerksamkeit reizet“ (Sulzer). 230 Zu Wielands „Hermeneutik“ im Blick vor allem auf seine späten philologischen Arbeiten vgl. Cölln: Philologie und Roman, insbes. S. 262ff.; zum Interesse auch am ästhetisch Defizienten vgl. Verf.: Zwischen Dichtung und Wahrheit, insbes. S. 64ff. 231 Wieland: Von der Freiheit der Literatur. 2. Bd., S. 896f. 232 Wieland: Von der Freiheit der Literatur. 2. Bd., S. 899. Zur Kritik im Merkur vgl. Jørgensen / Jaumann / McCarthy / Thomé: Christoph Martin Wieland, S. 169ff.; Urban: Kunst der Kritik, S. 85ff.
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übergeht (die deutsche Literatur leide unter der „Willkürlichkeit des Geschmacks“ eines noch nicht ausreichend gebildeten Publikums)233, nennt er neben der Kritisierbarkeit des Kritikers ein zweites Moment, das die zeitgenössische Kommunikationssituation in seinen Augen ausmacht: Die gelehrte Republik in Deutschland hat seit einiger Zeit die Gestalt einer im Tumult entstandnen Demokratie gewonnen, worin ein jeder, den der Kitzel sticht, oder der sonst nichts zu tun weiß, sich zum Redner aufwirft, wohl oder übel über die Angelegenheiten des Staats spricht, und, wenn es nicht durch Verdienste geschehen kann, durch Ränke, Kabalen und verwegne Streiche, sich wichtig zu machen sucht. Man muß gestehen, die Nachlässigkeit und nicht selten auch die Parteilichkeit, womit zuweilen die ordentlichen Richter ihr kritisches Amt verwalten, gibt zu Beschwerden Anlaß, von welchen jene anmaßliche Demagogen den Vorwand nehmen, die gelehrte Republik in Verwirrung zu setzen, und die Verfassung dieses Staats, der seiner Natur nach Aristokratisch sein muß, gänzlich umzukehren.234
Wie wenig sowohl das traditionelle Gerichtsbild (2.4) als auch die Idee einer Refeudalisierung der kritischen Kommunikation Wieland tatsächlich weiterhilft, wird augenblicklich deutlich, wenn er nur wenige Zeilen nach dem zitierten Passus erstens den Anspruch auf das „Oberrichter“-Amt von seiten des Merkur ablehnt und zweitens – da es ja dann auch keine letztgültige Entscheidungsgewalt gibt – die „Zeit“ zum Sprecher des „Endurteils“ erklärt. Als konzeptionelle Antwort bleibt daher die feste Rubrik des „Literarischen Revisions-Gerichts“ im Merkur übrig und somit die implizite Anerkennung der Reflexionsförmigkeit der Kritik sowie des damit verbundenen Perspektivismus, den Wieland allenfalls durch die unbestimmte Aussicht einer sich „vielleicht“ bzw. „nach und nach“ einstellenden Ordnung begrenzt.235 Die Kritik der Kritik verflüssigt die erstarrten Urteile, um sie dann den überparteilichen Meinungsbildungsverfahren der ‚Zeit‘ zu übergeben bzw. um den Faktor ‚Zeit‘ als Element des Beurteilungsprozesses bewußt zu machen. Ob die Mitarbeiter des Merkur von Anfang damit gerechnet haben, selbst im Merkur ‚revidiert‘ zu werden, dürfte fraglich sein. Wieland jedenfalls entwickelt eine Vorliebe für Einleitungen und Anmerkungen zu Artikeln, wie er überhaupt ein ausgesprochenes Faible für Revisionen und Rettungen an den Tag legt, das – wie bei Lessing (s.o.) – auf ein literarisches Leben im Sekundären und Abgeleiteten deutet. Auch zu Schmids Götz-Kritik findet sich ein kleiner Anhang von der Hand des MerkurHerausgebers: _____________ 233 Wieland: Von der Freiheit der Literatur. 2. Bd., S. 900f. 234 Wieland: Von der Freiheit der Literatur. 2. Bd., S. 900. Vgl. zur Paradigmatik des von Wieland angesprochenen Ordnungsmodells: Gamper: „Die Verfassung sei republikanisch“. 235 Wieland: Von der Freiheit der Literatur. 2. Bd., S. 900.
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Die Mitarbeiter am Merkur haben nicht auf die Grundsätze und Meinungen des Herausgebers geschworen. Jeder denkt und urteilt nach seiner Fähigkeit, Überzeugung und eignen Weise; und daher wird es sich nicht selten zutragen, daß der Merkur sich selbst widersprechen und in einem Stücke behaupten wird, was ein andrer Verfasser in einem andern Stücke bestreitet.236
Was also hatte Schmid falsch gemacht? In einer komplexen und selbst interpretationswürdigen Argumentation, die auf mehreren Umwegen den „rechten Gesichtspunkt“ sucht, entfaltet Schmid im Kern die für die Götz-Kritik durchaus gängige These237, daß das Schauspiel als Bühnenstück zwar mißlungen sei, daß es als Lesedrama jedoch seine Qualitäten habe. Dennoch bleibt für Schmid bei allem Faible für die Überschreitung gängelnder Regeln klar: Der Dichter ist nicht berechtigt, „alle Grundgesetze der Kritik und Psychologie zu brechen [...]“. Schmid rechnet dem Autor daher eine ganze Reihe unzulänglicher Motivationen vor und bezichtigt diesen somit letztlich des Zentralvergehens überhaupt im 18. Jahrhundert: der Verletzung der ‚Ganzheit‘.238 Während Schmid sich am Leser und dessen Fassungsvermögen orientiert, richtet Wieland sich am Autor aus. Nachdem er seinerseits (unter gleichzeitiger Verteidigung des regelmäßigen Schauspiels) dem Lesedrama Götz sein Lob gezollt hat und bevor er am Ende zu einer kurzen Sprachkritik ansetzt, beschäftigt er sich im Kernstück der Besprechung mit dem Vorwurf mangelnder Motivation: Wer – wie Schmid – im Charakter Weislingens Ungereimtheiten finde, dem fehle es an Bekanntschaft mit der komplizierten menschlichen Natur; wer Szenen für entbehrlich halte, der möge darin seinem Geschmack folgen, Wieland jedenfalls wolle auf nichts im Götz verzichten; und wer Elisabeth nicht als „würdige Gemalin“ erkenne, dem mangle es an Empfindungsfähigkeit.239 Worauf die maßregelnde pädagogische Geste der Antikritik hinausläuft, gesteht Wieland schließlich bei der Verteidigung Marias offen ein: Bescheidenheit im Urteilen über Werke des Genies ist in unsern Tagen schon eine Art von Verdienst; Behutsamkeit im Tadeln würde für jene kunstrichterliche Tugend eine sehr nützliche Gesellschafterin sein. Wie oft scheint uns bei der ersten Lesung tadelhaft, was wir bei der zweiten oder dritten vortrefflich finden.240
In Tradition des Bodmerschen Perspektivismus schiebt Wieland dem Leser die Schuld in die Schuhe. Dieser muß seine Kompetenzen durch „Bescheidenheit“ und „Behutsamkeit“ bei Werken beweisen, deren kom_____________ 236 Goethe im Urteil seiner Kritiker. Teil I, S. 520. 237 Vgl. dazu die gesammelten Kritiken bei: Henning: Goethes „Götz von Berlichingen“ in der zeitgenössischen Rezeption, z. B. S. 209. 238 Goethe im Urteil seiner Kritiker. Teil I, insbes. S. 2f., 5f. 239 Goethe im Urteil seiner Kritiker. Teil I, S. 16, 17, 18. 240 Goethe im Urteil seiner Kritiker. Teil I, S. 18f.
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plexe Anlage sich erst mehrmaliger Lektüre, also der Bodmerschen ‚Tiefsinnigkeit‘, erschließt (3.2.1). Dennoch stellt sich angesichts der durchaus differenzierten Urteilsfindung Schmids und der argumentativ nicht gerade üppig ausgestatteten Antikritik Wielands die Frage, warum Wieland sich für Goethe und gegen einen Autor seiner eigenen Zeitschrift eingesetzt hat, wo ihm doch der Götz-Verfasser wenige Zeit zuvor mit Götter, Helden und Wieland nicht eben freundlich begegnet war? Immerhin spekulieren ließe sich, ob Schmids Götz-Kritik Wieland an eine (ironische) Agathon-Kritik Lessings in der Hamburgischen Dramaturgie erinnert haben mag, die in etwa derselben Argumentationsdramaturgie folgt: Lessing zitiert im 69. Stück aus dem zweiten Teil des Agathon eine Verteidigung der Tragikomödie als Nachahmung der verschlungenen Weltverhältnisse. Er setzt dem entgegen, daß die Nachahmung der komplexen Wirklichkeit zwar die „Natur der Erscheinungen“ beachte, nicht aber „die Natur unserer Empfindungen und Seelenkräfte“ (Schmid hatte, wie zitiert, „die Grundgesetze der Kritik und Psychologie“ angeführt). Für „endliche Geister“ müsse das komplizierte Spiel des theatrum mundi vereinfacht werden.241 Würde dieser Bezug stimmen, entgegnete Wieland in der Götz-Antikritik Lessings Verteidigung klarer Verhältnisse im ganzheitlichen Kunstwerk damit, daß er eine genauere Lektüre von seiten des Lesers anstelle deutlicherer Motivation von seiten des Autors fordert. Unter veränderten Bedingungen kehrte hier der alte Streit zwischen Gottsched und Bodmer um die Hierarchie von Kritiker bzw. Leser und Autor wieder. Wie auch immer die intertextuellen Verhältnisse und die unabsehbaren Reflexionsformen der Kritik sich hier verhalten: Wieland scheint ein außerordentliches Bedürfnis danach gehabt zu haben, Kontinuitäten an Stellen wahrzunehmen, an denen andere nur Brüche und Risse zu erkennen vermögen – oder anders gesagt: Ihm lag viel daran, in der Kritik eine neue Form der Sichtbarkeit zu installieren und damit das Spiel und Widerspiel von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, das die kritische Kommunikation charakterisiert, auf ein neues Niveau zu heben. Die ausführliche Einleitung der Goetz-Antikritik, in der Wieland sich mit der Person Goethes sowie mit dem Verhalten der Stürmer und Dränger auseinandersetzt, verdeutlicht diese argumentative Zielrichtung: „Man muß die Herren ein wenig toben lassen“, erklärt er, „aus diesen nämlichen wilden Jünglingen“ können „noch große Männer werden“, ja der Götz-Verfasser werde vermutlich in Zukunft noch ein Freund Wielands werden und die Richtigkeit des aristotelischen Regelkanons einsehen. Diese Prophezeiung überrascht angesichts von Goethes Wieland-Kritik sowie des Gegenstands, also des _____________ 241 Lessing: Werke. 4. Bd., S. 552ff., 557.
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prototypischen Sturm-und-Drang-Dramas Götz von Berlichingen, aber genau auf diesen Argumentationscoup dürfte es Wieland ja abgesehen haben, um seine kontrafaktische Sonderkompetenz in Sachen Entwicklungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Was dem übereiligen und damit unqualifizierten Betrachter auf den ersten Blick unwahrscheinlich erscheinen mag, ist für den ‚bescheidenen‘ und ‚behutsamen‘ Kritiker durchaus plausibel. Wenn Goethe gesprächsweise tatsächlich Wieland neben Lessing als einzigen kompetenten Leser seines Dramas anerkannt haben sollte, dann dürfte sich auch seine abschließende Bemerkung zum Thema auf Wielands kritischen Blick und die entsprechende Zeitkonzeption zurückbeziehen lassen: „Die Folge meiner Werke solls zeigen, ob ich meine Fehler kannte“.242 Ähnlich wie bei Gottsched antwortet der Autor auf die kritische Kommunikationslage mit Temporalisierung in Form biographisch-narrativer Beglaubigung, um seine Kompetenzen in einem Kontext zu beweisen, der Negativität und damit Wandelbarkeit akzeptiert (3.1.1). Der Blick auf die „Folge der Werke“ markiert indes eine neuartige Temporalisierung des kritischen Blicks, die – und damit komme ich zum zweiten Punkt – den Zeugniswert eines Werks und das historisch Interessante über die Qualifizierung nach Maßgabe der Leitdifferenz ‚schön‘ / ‚fehlerhaft‘ stellt bzw. die Fehler als Teil einer Werk- und Autorentwicklung ‚versteht‘. Für Wieland war kritische „Bescheidenheit“ und „Behutsamkeit“ beim Urteil über die Einheit des Charakters und der Handlungen von elementarer Bedeutung. Genau im Vorwurf unglaubwürdiger biographischer Kehren nämlich bestand eines der Zentralargumente der gegen ihn gerichteten Kritiken, und dies nicht erst, seitdem er sich von seinem „seraphischen“ Jugendwerk abgewandt hatte. So zweifelt Lessing in den Literaturbriefen bereits an der Einheit des Frühwerks: So viel ist unwidersprechlich, daß jenes Lehrgedicht [Die Natur der Dinge, S.M.], und die „Moralischen Briefe“ uns den Herrn Wieland auf einem ganz andern Wege zeigten, als ihm hernach zu betreten beliebt hat. Wenn diese Veränderung durch innere Triebfeden, (mich plump auszudrücken) durch den eigenen Mechanismus seiner Seele erfolgt ist; so werde ich nicht aufhören, mich über ihn zu verwundern.243
Drastischer noch formuliert Martin Künzli diesen Topos, wenn er in einem Brief vom 16. Juni 1760 an Bodmer schreibt, Wieland fehle leider die „Bestandheit“, dieser sei „sich selbst heut ein Gott und morgen kaum ein _____________ 242 So in einem brieflichen Gesprächsprotokoll, das Friedrich Heinrich Jacobi im Mai 1774 an Wieland sendet (Wieland: Briefwechsel. 5. Bd., S. 257). 243 Lessing: Werke. 5. Bd., S. 43. Zum Verhältnis Lessing/Wieland vgl.: Albrecht: Zwiespältigkeiten Lessingscher Streitkultur; Brenner: Gotthold Ephraim Lessing, S. 172f. Zu Wielands „Wandlung“ vgl.: Jørgensen / Jaumann / McCarthy / Thomé: Christoph Martin Wieland, S. 42f., 192, 194.
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Affe“.244 Für Wieland, der bezeichnenderweise 1759 über eine „critische Geschichte meines Geistes“ nachdachte, die dann vorerst im AgathonProjekt aufging245, mußte es nun gerade um den Widerspruch zu dem für Lessing (und andere Kritiker) ‚Unwidersprechlichen‘ gehen; wenn er nicht moralisch diskreditiert werden und sich in den Diskursen der Aufklärung behaupten wollte246, mußte er beweisen, daß der Vorwurf mangelnder Kontinuität lediglich die mangelnde Aufmerksamkeit der Kritiker belegt: „Die Urtheile welche gewisse Schriftsteller [...] über meine Gedichte und mich selbst, öffentlich ausgesprochen haben, sind einer von den unzählichen Beweisen die uns das menschliche Leben täglich zeigt, wie leicht man sich im Urtheilen betrügen kann“.247 Um den Kritikern „Bescheidenheit“ und „Behutsamkeit“ beizubringen (und natürlich auch, um Geld zu verdienen!)248, entwirft Wieland ein neues Werkmodell249, indem er seinen Poetischen Schriften von 1762 das Frühwerk einordnet, obwohl er sich über dessen Unzulänglichkeit keine Illusionen macht. Dabei legitimiert er die Integration des eingestandenermaßen Tadelnswerten durch Verzeitlichung, indem er seine „eigene Ge_____________ 244 Starnes: Christoph Martin Wieland. Bd. 1, S. 171. 245 So in einem Brief an Johann Georg Zimmermann vom 4. Mai 1759 (Wieland: Briefwechsel. Bd. 1, S. 434). Einleitend schreibt Wieland dazu: „So ungleich Ihr Freund, mein liebster Zimmermann, sich selbst scheint, So viel Analogie und Zusamenhang würden sie in allen Entwiklungen, Ausschweiffungen, Sprüngen, Flügen und Metamorphosen seines Geistes finden, wenn Sie eine Chronologische Geschichte desselben vor sich hätten“ (ebda., S. 433). Vgl. bereits den kurzen Lebensabriß, den Wieland im Kontext der Selbstversicherung gegen „Verläumdung“ und seine „Feinde“ an Zimmermann am 20. Februar 1759 schickt (ebda., S. 405ff.). Zur autobiographischen Dimension des Agathon: Müller: Autobiographie und Roman, S. 99f.; Nübel: Autobiographische Kommunikationsmedien um 1800, S. 143f. 246 Die Provokation des Aus-Der-Rolle-Fallens, also eines Bruchs im inszenierten Persönlichkeitsbild, gehört zu den traditionellen Techniken der Entlarvung (Thomasius: Die neue Erfindung einer wohlgegründeten und für das gemeine Wesen höchstnötigen Wissenschaft Das Verborgene des Herzens anderer Menschen auch wider ihren Willen aus der täglichen Konversation zu erkennen, S. 69), die auch im ‚Dichterkrieg’ von größter Bedeutung waren, wie beispielsweise an den den wechselseitigen Vorwürfen von Positonsänderungen zwischen Leipzig und Zürich zu sehen war (3.1.2). 247 Wieland: Poetische Schriften. 1. Bd. (1762), S. 13f. In gewisser Weise könnte man die nach 1945 einsetzende Wieland-Rehabilitierung sowie das entsprechend harmonisierte WielandBild (vgl. dazu den Forschungsüberblick bei Walter Erhart, der gegen die ‚teleologische’ Wieland-Forschung eine paradigmengeschichtlichen Perspektive setzt: Entzweiung und Selbstaufklärung, S. 1ff.) als späten Erfolg von Wielands Bemühungen verstehen und daraus einiges über den methodischen Stand der Literaturwissenschaft lernen. Zu einer ‚verstehenden’ Sicht, die Wieland als sich entwickelnden Autor präsentiert vgl.: McCarthy: Wielands Metamorphose. 248 Zur verlagsrechtlichen Seite des Problems vgl. Ungern-Sternberg: Chr. M. Wieland und das Verlagswesen seiner Zeit. 249 Vgl. zum historischen Stellenwert der Ausgaben: Manger: Wieland, der klassische Nationalautor.
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schichte“, ohne die die Juvenilia „nicht richtig beurtheilt werden können“, als ‚Gesichtspunkt‘ ins Spiel bringt und auf diese Weise die Beurteilung von der historisch-biographischen Kontextualisierung abhängig macht (Lessing hingegen konnte in der oben angeführten Stelle zur Verteidigung Wielands den Zugriff auf das „Privatleben“ zur Erläuterung der „Werke“ nur für illegitim erklären). Die Kritik muß nun – zumindest wenn es nach Wieland geht – als „Maasstab“ die „Umstände“, die spezifische Adressatenorientierung oder die individuelle „Stimmung der Seele“ einkalkulieren.250 Wieland hilft ihr dabei auf die Sprünge, indem er jedem der fehlerhaften Werke einen kurzen Vorspann voranstellt, der den biographischen Entstehungszusammenhang umreißt. In der zweiten Fassung der Werkausgabe von 1770 legt Wieland sein defizientes Frühwerk auch einem künftigen Biographen ans Herz („weil ein Autor doch über lange oder kurz einem Biographen anheimfallen muß“)251, und in den Sämmtlichen Werken der 1790er Jahre, wo er eine Autobiographie als „Beschluss seiner Schriften“ in Aussicht stellt252, erklärt er zur Legitimation des Abdrucks von Die Natur der Dinge: Auch hätte ihn keine andere Rücksicht bewegen können, es in die gegenwärtige Sammlung aufzunehmen, als die Betrachtung, dass es gewisser Massen zur Geschichte unsrer Litteratur gehört, zu sehen, von welchem Punkt er ausging, und welch einen Zwischenraum er zurückzulegen hatte, um 15 Jahre später nur zu Musarion zu gelangen. Überdiess würde ein nicht unbeträchtlicher Theil der Geschichte seines Geistes und seiner Schriften, die er zu geben versprochen hat, unverständlich und ohne allen Nutzen seyn, wenn er, von einer falschen Schaam verleitet, die Erstlinge seines Geistes und seines ihm selbst damahls noch wenig bewussten Dichtertalents hätte unterdrücken wollen.253
Die Verzeitlichung des Werks zum Lebenswerk betrifft dabei nicht nur die Integration des Frühwerks, sondern auch das Interesse an der Entwicklung der späteren Dichtungen – jedenfalls fügt Wieland ohne weiteren Kommentar zur Kombabus- und zur Oberon-Ausgabe in Band 10, 22 und 23 der Sämmtlichen Werke Varianten älterer Fassungen an. Wie unwahrscheinlich diese Neuorientierung der kritischen Kommunikation ist, sieht man an den immer neuen Anläufen Wielands, sein Werk auf verschiedene Art und Weise zu ordnen; daran, daß er in der Ausgabe letzter Hand das Frühwerk in die Supplement-Bände verbannt254; daran, _____________ 250 251 252 253 254
Wieland: Poetische Schriften. 1. Bd. (1762), S. 15; ebda., 2. Bd., S. 6. Wieland: Poetische Schriften. Dritter verbesserte Aufl. 1. Bd. (1770), S. 4f. Wieland: Sämmtliche Werke (1984). Bd. I, 1, S. IV. Wieland: Sämmtliche Werke (1984). Bd. XIII, 1, S. 9f. Im Brief vom 26. Dezember 1791 an Göschen reflektiert Wieland über das „Arrangement des Ganzen“ seiner Werkausgabe und schreibt: „Sollen die Werke in der Ordnung auf einander folgen, worin sie entstanden sind; oder wäre es nicht vielmehr besser, die Arbeiten der reiffern Jahre [...] voran zu schicken, und alles, was ich vom 18ten bis 25sten Jahre pub-
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daß er das Frühwerk ständig verbessert und so zwischen biographischem und ästhetischem Wert zu vermitteln versucht; daran, daß die Autobiographie ungeschrieben bleibt und daß erst J.G. Gruber, der Herausgeber der Sämtlichen Werken von 1818, als verlängerter Arm des einige Jahre zuvor verstorbenen Autors die Schriften chronologisch ordnet und die Lebensbeschreibung nachliefert. Hier werden dann die „Werke Wielands zu einem Spiegel des halben Jahrhunderts [...], welches seine schriftstellerische Laufbahn umfaßt, und welches gewiß dereinst die Kulturgeschichte als den Zeitraum der merkwürdigsten Umwandlungen auszeichnen wird“. Die „Kenntniß seiner Individualität“ bekommt Bedeutung für die Erkenntnis des „Zeitgeistes“. Am schönsten ist freilich, daß Gruber den Schriften jeweils die „Aeußerungen der Kritik“ beifügen will, „um diese neue Ausgabe wirklich zu einem Beytrag der Literatur= und Kulturgeschichte des Wielandischen halben Jahrhunderts zu machen“.255 Mit dieser Aufmerksamkeitshaltung und mit diesem Interesse läßt sich dann ein Kommunikationszusammenhang etablieren, der auf permanente Reversibilität angelegt ist: Daher scheint noch Bernhard Seuffert, als er sich 1904 an die Konzeption einer Wieland-Ausgabe macht, wieder ganz neu beginnen zu müssen. Die Probleme sind indes vergleichbar: Er durchleuchtet Wielands wechselnde Positionen bei der Frage der Werkkonzeption und zieht daraus den Schluß, die Konzeption der Ausgabe letzter Hand nicht als zu erfüllenden Autorwillen verstehen zu müssen. Statt dessen greift der Philologe Wielands Überlegung einer „chronologischen Ordnung“ auf, orientiert an der Entstehungs-, nicht an der Publikationszeit, so daß die „Ordnung der Werke wirklich ein Beleg der geistigen Geschichte W.s“ wird. Freilich kann auch Seuffert sich nicht vorstellen, die Zeit- über die Gattungsordnung zu stellen und so beispielsweise die „Fortsetzungen erzählender Gedichte“ durch „Aufsätze und Anzeigen des Merkur“ zu unterbrechen.256 Das Beispiel einer solchen radikalen Neuordnung findet sich dann auch nicht bei Wieland, sondern bei Klopstock, dessen Ort in der kritischen Kommunikation im folgenden Kapitel untersucht wird (5.2 b). Wieland also bereitet seine Schriften teils aus Gründen der Selbstverteidigung, teils aus Gründen der Verlagspolitik als „Geschichte meiner Seele“ zu, eine Geschichte, die aufklärungstypisch von der Prämisse der _____________
liziert habe, als Anhang folgen zu lassen“ (Schelle: Wielands Beziehungen zu seinen Leipziger Verlegern [Teil 3], S. 204). Immer spielen bei Wieland und Göschens Votum für die überarbeitete Fassung der Werke Argumente im Streit um die Eigentumsrechte an Wielands Werken gegen die ‚Weidmannsche Buchhandlung’ eine Rolle, denn durch die Veränderung wird der Vorwurf der Nachdruckerei entkräftet (ebda., S. 176f.). 255 Wieland: Sämmtliche Werke (1818), S. IXf., XII; zur chronologischen Ordnung und zu Biographie ebda., S. Xf., XIII. 256 Seuffert: Prolegomena zu einer Wieland-Ausgabe, S. 8f.
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Bruchlosigkeit ausgeht, die Entdeckung dieser Bruchlosigkeit aber verkompliziert, weil „alle Dinge in der Welt“ durch eine „unendliche[ ] Menge von Zügen, Drücken und Stössen“ miteinander verbunden sind, durch „unzählige[ ] kleine[ ] Operazionen“.257 Daß Wieland den zitierten Passus als Selbstverteidigung in Gestalt einer Unterredung mit dem Pfarrer von *** präsentiert, deutet bereits auf die Tradition einer Geständniskultur, die im 18. Jahrhundert den Menschen narrativ begründet und zugleich die Strafkultur tiefgreifend verändert:258 An die Stelle des ostentativ gewaltsamen Strafzeremoniells tritt eine Bestrafung, die der individualisierenden Deutung des Verbrechens als einer aus der Vergangenheit bzw. dem Lebenszusammenhang heraus verstehbaren Handlung angemessen ist. Das Faktum der Tat tritt dabei in den Hintergrund zugunsten der Motivationen. Wie in der kritischen Kommunikation gewinnt auch hier das Unsichtbare an Relevanz. So versucht Wieland der Aufmerksamkeit auf den Text die kritische Gewalt zu nehmen, indem er sie auf das historische Verstehen verpflichtet. Es sei nichts „ungereimter“, entgegnet Wieland einem Kritiker, „als einem Verfasser daraus ein Verbrechen zu machen, wenn er nicht immer über einerlei Gegenstände, in einerlei Styl und in einerlei Ton geschrieben hat“ (Hervorhebung S.M.).259 Die neue, komplizierte und verfeinerte Aufmerksamkeit macht durch Sinnvermutung und Autorvertrauen den vom Kritiker zum Interpreten mutierten Leser im Blick auf das Individuelle ‚bescheiden‘ und ‚behutsam‘. Die Kritiker „sollten begreiffen können, daß es würklich Leute haben kan, die, vermöge ihrer individual=Beschaffenheit, von gewissen Gegenständen anders gerührt werden als sie [...]“.260 Wie sehr Urteilskriterien sich im Rahmen dieses biographisch geleiteten Perspektivismus auflösen, der weniger nach Fehlern als nach der Begründung der Fehler fragt, zeigt die Vorrede zu Wielands Auserlesenen Gedichten von 1784, die jedem Gedicht einen „eignen ton“ zugesteht, jedem Werk eine spezifische „Natur“ und eine besondere „abgezielte würkung“, so daß alles vom jeweiligen Kontext abhängt: „Gemeine und sogar niedrige ausdrücke können durch die stelle, die er [der Dichter; S.M.] giebt, schiklich, ja zuweilen sogar edel werden“261 – bei Klopstock wird man sehen, welche Chancen und welche Probleme diese Individuali_____________ 257 Wieland: Unterredungen mit dem Pfarrer von ***, S. 436, 450, 495. 258 Foucault: Überwachen und Strafen, insbesondere S. 25ff.; ders.: Der Wille zum Wissen, S. 29ff., 139f. 259 Wieland: Von der Freiheit der Literatur. 2.Bd., S. 893 (so in einer Erklärung in der Erfurterischen gelehrten Zeitung von 1772 zur Herausgabe seiner Prosaischen Schriften). 260 Wieland: Poetische Schriften. 1. Bd. (1762), S. 197 (im „Vorbericht“ zu den Erzählungen). 261 Wieland: Auserlesene Gedichte. 1. Bd., unpag.
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sierung des Werks mit sich bringt, weil der Autor seine Eigenheit im Medium der standardisierten Druckschriftlichkeit transportieren muß (5.1). Wieland jedenfalls ‚rettet‘ mit Vorliebe gegen den Augenschein Menschen aus den Fängen ihrer Kritiker, indem er beweist, mit welcher Behutsamkeit und Zartheit man im Urtheilen über die Triebfedern, Absichten und innere Moralität einzelner Personen und Handlungen verfahren müsse, und welche feine Instrumente, welch eine leichte Hand erfordert werde, um bey Zerlegung des menschlichen Herzens die zarten, oft kaum sichtbaren Fasern nicht zu zerreissen, die man entdecken will, und von deren oft sehr fein verwickeltem Zusammenhange die Erklärung der schwersten psychologischen Aufgaben abhängt.262
Auf diese Weise treibt die Etablierung von Negativität der kritischen Kommunikation schließlich tendenziell das Kritische aus, läßt ihr den (Tief-)Sinn übrig und macht sie dadurch zur philologischen Kommunikation. Das historisch bis in die kleinsten Details hinein Interessante kann Fehler haben und trotzdem rät man nicht von der Lektüre ab. Aus dem Entscheidungsnotstand der Literaturkritik entwickelt sich damit eine literaturgeschichtliche Perspektive, die Texte für relevant erklären kann, die nach den Wertmustern der Literaturkritik eigentlich aussortiert werden sollten. Ebenso wie die Unsicherheiten der Literaturkritik die Literaturgeschichte als möglichen Gegenstand der Philologie konstituieren, konstitutieren sie auch Autor und Werk als Beobachtungsgegenstand. Fehlerhafte Werke werden ‚interessant‘, nicht nur weil sie zur Literaturgeschichte, sondern auch, weil sie zum Werk eines Autors gehören, der sich in seiner biographischen Entwicklung verfolgen und verstehen läßt. Die Autoren entlastet dieses ‚Interesse‘ freilich nicht in jedem Fall, denn zum einen können die Kompetenzen fürs historisch Interessante auch gegen den Gegenstand gewendet werden, so wenn Wieland beispielsweise den in „allgemeine[r] Achtung“ bei den Gelehrten stehenden Mäcenas „von der Seite“ aus ansieht, von der aus seine Tugenden sich als wenig schmeichelhafte habituelle Eigenschaften zeigen, die nur in bestimmten „Umständen“ moralisch vorteilhaft erscheinen konnten.263 Der Normalisierungsdiskurs bringt eigene Formen der Unsicherheit und zugleich eigene Formen des Unsicherheitsmanagements mit sich. Gerade unter dem Druck einer umfassenden, ungreifbaren Beobachtungsordnung, in der Kritiker Abweichungen, Sprünge und Risse sogleich registrieren, wird die Feststellung von Brüchen schwieriger und zugleich einfacher. Was bleibt, ist eine unstillbare Unruhe, die durch das Spiel von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit angeregt wird, durch die Kritik der Kritik, durch _____________ 262 Wieland: Briefe an einen Freund über eine Anekdote aus J. J. Rousseaus geheimer Geschichte seines Lebens, S. 251. 263 So in der Einleitung zu Horaz Ep. I,1: Wieland: Übersetzung des Horaz, S. 19ff.
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Das Zeitalter der Kritik
deren Perspektivität und die Häufung einander widerlegender, relativierender oder überholender Meinungen. Die kritischen ‚Ferngläser‘ (Bodmer) und ‚Vergrößerungsgläser‘ (Lessing) können das Unsichtbare sichtbar machen und setzen damit eine historisch spezifische Form der Aufmerksamkeit als Standard der kritischen Kommunikation. Die Besonderheit dieser Aufmerksamkeit fürs Kleine, Fernliegende und Unsichtbare gehört zu einer größeren Verschiebung der Aufmerksamkeitsschwellen, -fokussierungen und -legitimierungen, die auch die wissenschaftliche Kunst der Objektkonstituierung betrifft.264 Von der mittelalterlichen Abwertung des Staunens und der curiositas bei der Erforschung der Natur zur frühneuzeitlichen Kombination von Staunen, lustvoller Neugierde und Aufmerksamkeitsinvestition bis zur modernen Abkoppelung einer arbeitsförmig und gleichmäßig gewordenen Aufmerksamkeit, die sich mit einer mühseligen Neugierde verbindet, vollzieht sich eine Entwicklung, die die Aufmerksamkeit gleichsam auf sich selbst stellt. Ein Objekt muß für die naturwissenschaftliche Aufmerksamkeit nicht schön, moralisch oder theologisch interessant sein; es ist interessant um seiner selbst willen – auch hier entfällt die Pflicht zur Höflichkeit.265 Im Gegenteil: Gerade die Unattraktivität des Objekts bestätigt das Ethos der „wissenschaftlichen Persona“. Wo auch immer die Gründe für die Konvergenzen verschiedener Geschichten der Aufmerksamkeit liegen: Im Rahmen des literarischen Diskurses antwortet die Aufmerksamkeit fürs Unsichtbare konzeptionell auf die Virtualisierung von Kritik, auf die entsprechende Invisibilisierung von Kriterien und auf die Horribilität der Kommunikation. Wichtig ist dabei, daß die Lösung nicht in der Selbstverhärtung, in der schlichten Selbstabschottung liegen kann. Wieder erweist sich die Theologie ungewollt als hellsichtiger Beobachter, weil sie Erfahrung im Umgang mit der Kritik der Kritik, mit dem Umgang des Unsichtbaren, mit allseitiger Beobachtung und unwägbaren Schlüssen hat: Welch ein geplagter und mühseliger Zustand, wenn man allezeit einen innerlichen Krieg bey sich unterhalten, und so oft man siehet, höret, empfindet, schmecket, riechet, die Sinnen und Einbildung durch die Vernunft im Zügel halten muß, daß sie in uns keine Lust erregen, und auch die Lust keine Meynungen und Neigungen erwecken können? [...] Der Zwang allein, den ein Mensch, der nach der Unempfindlichkeit ringet, sich anlegen muß, wird es nie zugeben, daß jemals eine wahre und reine Zufriedenheit in seinem Gemüthe sich äussert. Eine ängstliche
_____________ 264 Vgl. zum folgenden Daston: Eine kurze Geschichte der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit. 265 Daston: Eine kurze Geschichte der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit, S. 36f.
Kritische Reflexionen
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Aufmerksamkeit auf alles, was sich hervorthut, und uns nähert, damit man nicht betrogen und verführet werden möge, ist eine Marter des Gemüths [...].266
Anders gesagt: Um in einer Situation der aufs höchste gereizten Aufmerksamkeit und der dadurch erzeugten Bedrohlichkeit durch kritische Gewalt Werkpolitik erfolgreich ausüben zu können, muß man zum Mitspieler werden und eine kritische Persönlichkeit ausbilden. Klopstock hat dies getan.
_____________ 266 Mosheim: Gründe und Gedanken von der Zufriedenheit, S. 43.
4. Werkpolitik im 18. Jahrhundert: Friedrich Gottlieb Klopstock In den vorangegangenen Kapiteln habe ich die Strukturen der kritischen Kommunikation in der frühen Neuzeit beschrieben und deren Eigendynamik insbesondere medienhistorisch interpretiert: Die Stabilität der Schrift provoziert die Vervielfältigung von Reaktionen und Perspektiven, die Virtualisierung von Beobachtungsverhältnissen sowie die Privilegierung von Positionswechseln. Das Unsichtbare und Diffuse gewinnt faktisch an Bedeutung, auch wenn die Programme dies oft nur in Abwehrgesten reflektieren oder lediglich in ihrer Performanz davon zeugen, daß über die ‚Gegenstände‘ der kritischen Kommunikation immer auch andere Geschichten erzählt werden können als schon erzählt worden sind. Bei der Suche nach den ‚geheimen Gründen‘ gerät dabei regelmäßig die Biographie in den Blick, weil man hier Stabilität im Wandel findet oder zumindest zu finden meint, denn: In welchen Fällen Selbstähnlichkeit vorliegt, ist wiederum strittig. Das Kleine und Kleinste, die feinen Zusammenhänge, die kaum mehr bzw. nur für wenige sichtbaren Bezüge bilden den Objektbereich, den die kritische Kommunikation thematisiert. Über diesen Grundzug der Beobachtungslage sind sich alle Parteien einig. Uneinigkeit besteht indes in der Frage, ob darunter die Autoren oder die Leser zu leiden haben und welche Merkmale das Werk als Kreuzungspunkt von Produktion und Rezeption aufweist. Daß die Opposition von Leser und Autor nur zwei Seiten einer Medaille bezeichnet, bleibt einer der blinden Flecken in diesem Spiel um Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, das als Werkpolitik ausgetragen wird. Bei Gottsched habe ich zu zeigen versucht, wie eine virtuelle Bedrohungssituation und entsprechende Angststrukturen konstruiert und auf der Seite der Autoren verbucht werden; zugleich ging es darum, daß die Selbstsicherheit des Lesers von unhintergehbaren (hof- und literaturpolitischen) Infragestellungen begleitet wird, daß kritische Theorie und kritische Praxis sich nicht einfach vermitteln lassen und daß sich daraus ein Sinn für Möglichkeiten und Unschärfen entwickelt. Bodmer verteilt im Unterschied zu Gottsched die Gewichte zugunsten des Autors, aber auch bei
Friedrich Gottlieb Klopstock
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ihm wird die Willkürlichkeit dieser Entscheidung offensichtlich. Mehr noch als sein Leipziger Opponent ist er dazu bereit, die Gewaltförmigkeit der kritischen Kommunikation zu akzeptieren, ‚Verletzung‘ zur eigentlichen Signatur gelungener Kritik zu erklären. Wichtig für die kritische Kommunikation, die sich an ihn anschließt, war vor allem, daß Bodmer das Bildfeld der Perspektivität und der Innerlichkeit von ‚Gegenständen‘ weiterentwickelt und damit den Zusammenhang des eingangs genannten Gegensatzes von Stabilität und Wandel einer Analyse zugänglich macht: Das Werk wird zu einem dreidimensionalen Gebilde mit Tiefenstrukturen, auf das ein Betrachter von verschiedenen Seiten aus einen Blick werfen kann und dafür Zeit braucht. Die Frage nach der richtigen Positionierung des Betrachters stellt für Bodmer kein eigentliches Problem dar – darin gleicht er Gottsched. Die folgende Kritikergeneration findet keine Lösung für die Problemstellungen der kritischen Kommunikation, geht jedoch sensibler und offener damit um. Der frühe Nicolai knüpft an den kritischen Perspektivismus an, kehrt aber die Forderung nach „Behutsamkeit“ gegen den Autor. Die Willkürlichkeit kritischer Urteilsbildung gerät dabei zunehmend in den Blick. Lessing zieht daraus insofern die Konsequenz, als er die prinzipielle bzw. virtuelle Infragestellung jeder Positionierung in die Verfahren der Beurteilung hineinnimmt und auf diese Weise für die Akzeptanz von Unsicherheit, Vorläufigkeit und Überholbarkeit als Merkmale kritischer Kommunikation votiert. Während Lessing die Selbstdementierung der Kritik bisweilen fast ins Spielerische treibt, schlägt Wieland eine andere Lösung der intrinsischen Probleme kritischer Kommunikation vor: Wenn der Code schön / fehlerhaft nicht mehr praktikabel, weil stets dementierbar erscheint, empfiehlt sich der Wechsel zum Code interessant / uninteressant, der weniger vermittlungsbedürftig und damit auch weniger angriffsanfällig ist. Das interessante Objekt läßt eine ständige Verfeinerung der Beobachtungen zu. Es muß nicht ‚schön‘ sein, es kann vielmehr Fehler haben und trotzdem in seinem Zeugniswert für eine bestimmte historische Situation Relevanz beanspruchen. Auch Wieland arbeitet dabei an der Erzeugung neuer Sichtbarkeiten mit, die mit dem Faktor ‚Zeit‘ rechnen. Er leitet zur philologischen Kommunikation über, indem seine Werkpolitik deren Verfahren der kontraintuitiven, zeit- und arbeitsintensiven Lektüre in einer Art Vorlauf testet. Am Beispiel Friedrich Gottlieb Klopstocks lassen sich die Stationen von der kritischen zur philologischen Kommunikation erneut durchlaufen. Die Konzentration auf einen Autor ermöglicht, eine Vielzahl von Anschlußstellen zu markieren und eine Reihe von aufschlußreichen Komplikationen zu entfalten. Die Autorzentrierung soll dabei nicht automatisch bedeuten, daß es um Intentionen geht, auch wenn sich entsprechen-
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de Formulierungen nicht immer vermeiden lassen werden. Es entsteht leicht der Eindruck, Klopstock richte sich, bei aller Aversion gegen den Kritikbetrieb, auf die Etablierung von Negativität ein. Mir geht es im folgenden wie bei den anderen Autoren, auf die ich exemplarisch zu sprechen komme, aber vielmehr um die Analyse Klopstocks als einer kritischen Person. ‚Person‘ verstehe ich dabei nicht in einem psychologistischsubjektivistischen Sinn, sondern gerade umgekehrt im Sinn eines Bezugspunkts, der sich vom empirischen Menschen unterscheidet und als „Verkehrssymbol“1 im Spiel der (kritischen) Kommunikation fungiert (1.). Als ‚kritische Person‘ betrachtet, bezieht Klopstock seinen Standpunkt im Widerspiel doppelter Kontingenz, in dem sich die eigene Position nur im Blick auf Positionen anderer bestimmt und umgekehrt. Eine ‚Kritische Person‘ entwirft sich auf die faktischen und potentiellen Erfordernisse von ‚kritischer Kommunikation‘, die sie selbst ermöglicht;2 sie entfaltet die Suggestion von Identität über faktische Dezentrierung. Ein positiver Nebeneffekt dieser Art der Perspektivierung liegt m. E. darin, daß die verschiedenen Ansätze der Klopstock-Forschung, die eine Vielzahl verhältnismäßig exklusiver Bilder ihres Autors entwerfen, zusammengeführt werden können.3 Form- und ideengeschichtliche Analy_____________ 1 2
3
Zu diesem „Person“-Begriff vgl. Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft, S. 28ff., Zitat S. 39 – die eingängige Unterscheidung lautet: „Menschen werden geboren. Personen entstehen durch Sozialisation und Erziehung“ (ebda., S. 38). Dies kann im folgenden nur exemplarisch geschehen. Wichtige Teile des Werks – z. B. die Geistlichen Lieder – werden gar nicht beachtet. Zu den sicherlich empfindlichsten Lücken gehören der fehlende Einbezug der Dramen, inbesondere der ‚vaterländischen’ Schauspiele. Ich meine aber, daß sie sich zwanglos in den im folgenden vorgestellten Interpretationsrahmen intergrieren ließen, denn der Patriotismus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts etabliert sich in der Kommunikationswelt, die die Empfindsamkeit heraufgerufen hatte (Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 188). Strukturell bilden die Dramen einen neuen Sinn für Zusammenhänge aus, der typisch ist für die von den Regeln des klassizistischen Kanons entbundene Dramatik. Sie provozieren ein Zeit- und Leseverhalten, das Klopstocks Autor- und Werkbegriff entspricht, und dies auch im Blick auf den exponierten Handlungsbegriff, der von Klopstock – wie im Messias – auf eine verinnerlichte, nicht mehr einfach sichtbare Aktion umgestellt wird. Den Zusammenhang von Patriotismus und Modernisierung im Sinne einer paradoxen Entfaltung von Besonderheit und Allgemeinheit habe ich im Blick auf die Dramen- und Mediengeschichte des 18. Jahrhunderts an anderer Stelle in bezug auf Goethe, Möser und Herder dargestellt (Verf.: Staatskunst). Eine poetologische Lektüre der Dramen legt beispielsweise Hermanns Schlacht nahe, weil hier das Geschehen als ein durch Dichtung vermitteltes und von Dichtung gesteuertes Geschehen inszeniert wird. Für das Bild von kritischer Kommunikation läßt sich der Streit um die Entscheidungsmacht zwischen den germanischen Fürsten nutzen. So exponiert z. B. die Eingangsszene von Hermann und die Fürsten diesen Streit, kombiniert ihn mit der Verbindung von Krieg und Kunst (Dichtung und Tanz), und dies alles im Medium von zentralen poetologischen Begriffen Klopstocks (z. B. ‚Bewegung’, ‚Schnelligkeit’ oder ‚Stolz’) und zentralen poetologischen Konzepten, hier vor allem der Wasser- bzw. Bach-Metaphorik. Neben den im folgenden genannten Studien, die für meine Darstellung besonders wichtig sind, muß ein Hinweis dem ausgezeichneten Kommentar der historisch-kritischen Klop-
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sen, die von der Prädominanz der Theologie ausgehen4, lassen sich in das Bild Klopstocks als einer kritischen Person ebenso integrieren wie sozialund buchhandelsgeschichtliche Arbeiten5, stilhistorische Beschreibungen6, dekonstruktive Lektüren7 sowie rhetorik-,8 ästhetik-,9 oder metrikgeschichtliche Untersuchungen.10 Darüber hinaus sollte deutlich werden, daß man auf der Programmebene nur einen Teil des ‚Werk‘ zu fassen bekommt, daß also zur historischen Einordnung Klopstocks die Performanz und die Inszenierungsformen genauso in den Blick genommen werden müssen wie die poetische Realisierung seiner ambitionierten Projekte.11 Die Ausführungen untergliedern sich in zwei größere Abschnitte: Der erste entfaltet eine Reihe von Aspekten, die Klopstock als kritische Person unter dem Eindruck etablierter Negativität auszeichnen, und untersucht poetologische und ökonomische Konzeptionen des Werks aus dieser Perspektive (4.1); der zweite beschäftigt sich davon ausgehend mit inhaltlichen und formalen Verfahren der Werkbildung (4.2). Das folgende Kapi_____________
4 5 6 7 8 9 10 11
stock-Ausgabe gelten, ohne den ich viele Facetten nicht bemerkt hätte. Die Auswertung der dort zur Verfügung gestellten Materialien ist in der Klopstock-Forschung noch lange nicht geleistet. Vor allem Kaiser: Klopstock. Vor allem Pape: Die gesellschaftlich-wirtschaftliche Stellung Friedrich Gottlieb Klopstocks; ders.: Klopstocks Autorenhonorare und Selbstverlagsgewinne; ders.: Klopstock, S. 424ff.; Sickmann: Klopstock und seine Verleger Hemmerde und Bode. Z. B. Schneider: Klopstock und die Erneuerung der deutschen Dichtersprache im 18. Jahrhundert. Vor allem Menninghaus: Klopstocks Poetik der schnellen „Bewegung“. Vor allem Hilliard: Philosophy, Letters, and the Fine Arts in Klopstock’s Thought; Kohl, Katrin: Friedrich Gottlieb Klopstock. Als neuere Arbeit mit subtilen Überlegungen zum historischen Standort Klopstocks vgl. Benning: Rhetorische Ästhetik. Hellmuth: Metrische Erfindung und metrische Theorie bei Klopstock. Der Streit zwischen den – vereinfacht gesagt – Historiographen der rhetorischen Literaturtradition und den Dekonstruktivisten unter den Klopstock-Forschern beruht zu einem nicht geringen Teil auf der unterschiedlichen Akzentuierung dieser verschiedenen Ebenen. – Hilliard selbst merkt an, daß seine Darstellung durch fehlenden Praxisbezug zu einer gewissen Einseitigkeit neige (Philosophy, Letters, and the Fine Arts in Klopstock’s Thought, S. 186); umgekehrt gesteht Menninghaus durchaus offen einen gewissen Dezisionismus bei der Gewichtung relevanter Textstellen ein (z. B. Klopstocks Poetik der schnellen „Bewegung“, S. 259f., 316ff.). Der Vorteil von Menninghaus’ Analysen besteht m. E. darin, daß er die theoretischen und programmatischen Ausführungen Klopstocks mit dessen Dichtungspraxis abgleicht. Er holt damit u. U. Klopstocks spezifische historische Stellung ein, die laut Inka Mülder-Bach darin besteht, daß Klopstock seiner durchaus konventionellen empfindsamen Ausdrucksästhetik „eine poetische Praxis zur Seite stellt“ bzw. „seine Theorie in einer poetischen Praxis fundiert“ (Im Zeichen Pygmalions, S. 172). Wenn es stimmt, „daß Klopstock schon in seinen frühesten Gedichten praktiziert, was seine Poetik erst in den siebziger Jahren reflektiert [...]“ (ebda., S. 198), dann reicht ein noch so genauer Nachvollzug der poetologischen Schriften nicht aus.
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tel schließt direkt an die entsprechenden Problemlagen an und exemplifiziert Probleme kritischer Kommunikation (5.1) und deren Lösung durch den Wechsel zur philologischen Kommunikation (5.2) an zwei Fällen, der Beschäftigung Johann Heinrich Voß’ und Carl Friedrich Cramers mit Klopstock. Bei Tieck (5.3) und bei Goethe (5.4) kann man dann sehen, wie kritische und philologische Reflexionshorizonte auf dieser Linie die Kreativität der Werkpolitik stimulieren.
4.1 Kritik und Zeit Klopstock schließt sich bei aller Kritik am Kritikbetrieb an die Semantik etablierter Negativität an. Im folgenden zeige ich, wie er Positionsflexibilität, die Einstellung auf Unsichtbarkeit, Wandelbarkeit und Unkontrollierbarkeit in sein Selbstbild einbaut, und dies unter Bedingungen permanenter Beobachtung und potentieller Publizität. Zugleich aber wirkt Klopstock auch als Katalysator der kritischen Kommunikation, die er insbesondere durch seinen Umgang mit Zeit herausfordert (4.1.1). Der spezifische Umgang mit Zeit prägt vor allem Klopstocks ‚Ästhetik des Plans‘. Er kompliziert Explikation und Analyse des ‚Plans‘, also der Ganzheitlichkeit eines Werks, durch die enorm gedehnte Publikationsgeschichte des Messias und virtualisiert dadurch ‚Fehler‘ und ‚Schönheiten‘ eines Werks, weil sich der Zusammenhang, der über die Qualität des Teils entscheidet, nur divinieren läßt. Diese Komplizierung betrifft insbesondere Klopstocks eigene Ausführungen zur Ästhetik des Plans (4.1.2). Zeit ist zudem ein wesentlicher Faktor für Klopstocks Positionierungsversuche auf dem literarischen Markt, die neue Formen freier Schriftstellerei ausprobieren und ältere Formen mäzenatischer Förderung nutzen und zugleich unterlaufen. In beiden Fällen geht es um das Zusammenspiel von Vertrauen auf Kontinuität und Akzeptanz von Wandelbarkeit. Daraus geht eine spezifische Aufmerksamkeit für den ‚Geist‘ eines Werks hervor. Die Verfahren zur Ein- und Ausprägung einer solchen Aufmerksamkeit bestimmen die literarischen Makro- und Mikrostrukturen (4.1.3). 4.1.1 Klopstocks kritische Persönlichkeit In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts steht es nicht gut um die Gelehrtenrepublik. Zwar sind Streitschriften und Zänkereien verpönt, aber niemand hält sich wirklich daran (KW 7/1, 26, 40, 48). Überall werden Ränke geschmiedet, Intrigen beherrschen den „Landtag“ (z. B. KW 7/1,
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97, 177f.). Gerade die Kritik, über deren Unwesen kein Zweifel besteht12, bleibt von oben herab unkontrollierbar: Es gelingt nicht einmal, den anmaßendsten unter den Kritikern seiner Strafe zuzuführen13 – wegen eines Verfahrensfehlers kommt er frei (KW 7/1, 169). Den Unterschied von Ideal und Realität beschreibt ein Rezensent, der im übrigen ebenfalls nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann, und zeichnet diese Linie konsequent weiter bis zum Thema der Etablierung von Negativität: Nach den Gesezen, hat freylich jeder von uns nur Eine Stimme. Nach den Gesezen, ist unser Amt kein Richteramt. Recht gut das! Mag es doch in den Rollen stehen! Aber, der Wirkung nach, haben wir viele Stimmen; sind wir Richter! Kurz, wir herrschen innen und aussen, in der Republik, und draussen unter den Altfranken! [...] Wenn man denn nun einmal etwas von einer gewissen Art seyn muß; so ist’s doch immer besser der Wolf, als das Schaf zu seyn. Wir sind also die Wölfe; treten wie Wölfe mit einander in Bündnisse, und wenn die Ränke, die sich unsre verschiednen Rotten zu spielen pflegen, in Kriege ausbrechen; so beissen wir uns auch wie Wölfe. [...] Wie wir sie führen diese Herrschaft, das heisset, wie wir denen, welche Neigungen, welche Neigungen bey sich verspüren, sich selbst zu Schafen zu machen, die Hülfe geben? Unter andern durch Gründe unsrer Beurtheilungen, die entweder an sich selbst, oder so angewendet, wie wir sie anwenden, keine Gründe sind. Aber wir wissen sie schon in genugsamen sophistischen Nebel einzuhüllen, daß sie wol, als Gründe, durchschleichen müssen. Es würde lächerlich seyn vorzugeben, daß die Beschaffenheit unsrer Gründe uns selbst nicht gar gut bekant wäre: allein führen Mittel nur zu Zwecken; was ist Herschern an der übrigen Beschaffenheit derselben gelegen? Wir solten selbst etwas hervorbringen? [...] gesezt, nicht zugestanden, wir könten’s; ist dieß denn so süß, so hinreissend, als herschen? Selbst etwas hervorbringen? Nein, nein, komt uns nur nicht mehr damit. (KW 7/1, 152f.)
Freilich scheint der Kritiker seine eigene Lagebeschreibung nicht wirklich zu verstehen. Denn: Wie soll Herrschaft bei diesen diffusen Machtver_____________ 12
13
Zur Kritik Klopstocks am Rezensionsbetrieb vgl. KW 7/2, 524ff. – Hurlebusch akzentuiert m. E. zu sehr den gleichsam positiven programmatischen Teil der Gelehrtenrepublik, ohne die faktische Unfähigkeit der Versammelten zu sehen, zu Entschlüssen zu kommen oder einmal gefällte Entschlüsse umzusetzen. Im ganzen leidet sein materialreicher und wichtiger Kommentar, der eigentlich eine Monographie zu Klopstock darstellt, an solchen Einseitigkeiten, weil er Werk- und Autorbewußtsein nicht als zwei Seiten einer Medaille versteht, sondern als prinzipiell entgegengesetzte ästhetische Konzepte. Im folgenden möchte ich u. a. an die Argumentation in meinem Wieland-Kapitel (3.3.c) anschließen, um zu zeigen, daß die Bindung an den Autor und die Autorbiographie ein Werk konstituiert, und zwar sowohl im Sinn eines Einzel- als auch eines Lebenswerks (Problematisierungen dazu bei Foucault: Was ist ein Autor? S. 1009f.; als These – schon im Titel – formuliert bei Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft). Weil Hurlebusch sich auf der programmatischen Ebene bewegt, blendet er auch die Zusammenhänge aus, die ich im folgenden rekonstruieren möchte: Klopstock mag die kritische Kommunikation und Schriftförmigkeit ablehnen, faktisch bilden genau sie die Voraussetzung für seine phonozentrische, energetische Selbstauffassung. Gemeint ist Friedrich Germanus Lüdke, der Klopstocks Geistliche Lieder in der Allgemeinen deutschen Bibliothek besprochen hatte (KW 7/2, 530).
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hältnissen ausgeübt werden? Wenn daher die Gesetze der Gelehrtenrepublik fordern, daß die Kritiker sich nicht als Richter aufspielen sollen (KW 7/1, 59, 113), dann entspricht dieser Widerstreit von Regel und Praxis nur der normativen Kraft des Faktischen: Tatsächlich, so heißt es an anderer Stelle, können sie weder die Durchsetzung guter Bücher befördern noch schlechte Bücher verhindern (KW 7/1, 146). Daß also Klopstock, der sich mit der Gelehrtenrepublik gegen den Rezensionsbetrieb an sich wendet14, seinen Entwurf von Autorschaft gegen die kritische Kommunikation entwickelt und gleichwohl deren Strukturimperativen gehorcht, darf nicht verwundern. Man kann dies bereits an der Reaktion auf die von außen geforderte biographische Aufbereitung des eigenen Werks sehen: In den Jahren 1755/56 führt Klopstock eine Art Arbeitstagebuch, vermutlich auf Wunsch Meta Mollers, die das Leben ihres Ehemannes beschreiben wollte (KA 2, 2f.). Die 72 Folioseiten enthalten neben meist nur knappen Tagebucheinträgen oder kurzen Vermerken zur Arbeit am Messias vor allem schriftstellerische Maximen, akribisch bearbeitete Epigramme sowie ‚Vornotierungen‘, ‚Paralegomena‘ und ‚Entwürfe‘ zu theoretischen Schriften, etwa zur Gelehrtenrepublik oder zu einer nicht weiter ausgeführten ‚Seelenlehre‘. Selbst wenn das Tagebuch die Informationserwartungen souverän enttäuscht (so wie Wieland die angekündigte Autobiographie nie schreibt; 3.3 c): bereits als autobiographisches Dokument, das vornehmlich als Test- und Experimentierfeld ständig revidierter Ausformulierungen einer eigenen poetologischen Position dient, ist es ein Dokument der Etablierung von Negativität, die dem Tadel und der Infragestellung einen historisch spezifischen Stellenwert zumißt, indem es Veränderungen als etwas Positives versteht. Das von der Klopstock-Forschung immer wieder herausgestellte Prinzip der Bewegung bestimmt nicht allein die Faktur der ‚Werke‘, sondern definiert Klopstocks Arbeitsweise und erhebt „das Schaffen selbst“ zum eigentlichen Ziel. Die „Herzenslust“ am „Entwurf zu einem Buche“, wie es in der Gelehrtenrepublik heißt, macht ihn ein ebenso „glüklich“ wie die Umsetzung des Entwurfs (KW 7/1, 87; KW 7/2, 252ff.).15 Klopstock thematisiert diese Kontextbedingung in den Einträgen des ‚Arbeitstagebuchs‘ auf verschiedenen Ebenen. So stellt er beispielsweise in den Tempel der Unsterblichkeit die „Bildsäule des Zweifels“ (KA 2, 17); mit dem dänischen König debattiert er über seine „Feinde“ bei Hof (KA 2, 33f., 73, 269ff.); er sinniert über die ‚Furcht‘ vor den „Weisen“, wenn man nicht „ganz edel“ ist (KA 2, 37); und in den ausführlichen Konzepten _____________ 14 15
So aus Sicht von Zeitgenossen, vgl. die Zeugnisse von Miller (KW 7/2, 326f.) und Goethe (KW 7/2, 337). Hurlebusch: Klopstock, Hamann und Herder als Wegbereiter autorzentrischen Schreibens, z. B. S. 14. Dazu ausführlich auch in KW 7/2, 234ff.
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zum Entwurf einer ‚Seelenlehre‘ trägt er in die drei Rubriken, die er unter „Mißvergnügen“ anordnet, nur die „Furcht“ ein (KA 2, 39).16 Es scheint so, als seien die aufklärerischen Kritiker bei Klopstock ihrem Ziel, die Autoren in „Furcht und Zittern“ zu versetzen (2.1), näher gekommen. Auch wenn er oftmals mit einer kaum mehr überbietbaren Geste literarischen Selbstbewußtseins auftritt, bildet Klopstocks Überzeugung von der eigenen Leistung bei der Erneuerung einer deutschen Nationalliteratur nur die Kehrseite einer „beinah furchtbaren Sorgfalt, daß wir uns dennoch in diesem Urtheile, wie streng und unpartheiisch wir auch gegen uns gewesen sind, geirrt und uns mehr gute Eigenschaften zugeschrieben haben möchten, als wir wirklich besitzen“.17 Bei aller Aversion gegen den Kritikbetrieb richtet Klopsock sich auf die Etablierung von Negativität ein. Klopstock entfaltet seine Autorschaft als kritische Persönlichkeit und kombiniert daher die Akzeptanz von Tadel, die entsprechende Selbstverbesserung sowie die ‚Furcht‘, „daß er sich selbst noch nicht genug kenne“, mit der „Freimüthigkeit“, einen „nicht gegründet[en] Tadel“ anzumerken, also den Tadel zu tadeln und die Kritik zu kritisieren.18 Den Paradigmenwechsel von der Konzentration auf Lob und Bestätigung zur Favorisierung von Tadel und Infragestellung dokumentiert gerade sein Essay Von der Freundschaft im Nordischen Aufseher (1759), weil Klopstock darin das ältere Interaktionsparadigma einer auf Lob abonnierten Konversation dem neuen Interaktionsparadigma entgegenstellt. Der Verteidiger ‚höflicher‘ Gesprächskultur wird mit den Maximen der „Aufrichtigkeit“ und „Freimütigkeit“ konfrontiert: Ich weiß nicht zu welchem erniedrigenden Zwange Sie Ihre Seele gewöhnt haben müssen, daß es Ihnen keine angenehme Vorstellung ist, Ihre völlige Meinung zu sagen? Wie beseelt es den Umgang der Freundschaft, wenn keiner von seiner Meinung etwas zurückhält; aber zugleich nicht so sehr von derselben ist, daß er unbiegsam sein sollte, sich von stärkern Gründen, als die seinigen sind, überzeugen zu lassen. Wenn ich mir diese Freimütigkeit, diese Biegsamkeit und die Freude, daß unser Freund unsrer Meinung wird, oder daß wir die seinige annehmen, als Gefährtinnen der Freundschaft vorstelle, so denke ich sie mir unter ihren Grazien.19
Die ‚Beseelung‘ der Freundschaft zielt auf eine an der Innerlichkeit orientierte Beziehung, die von direkter Sichtbarkeit abstrahiert und damit auf Gegenwärtigkeit verzichten kann. Die Zumutungen der „Freimütigkeit“ _____________ 16 17 18 19
Vgl. zum Verhältnis Klopstocks zum ‚Ruhm’ Hilliard: Klopstocks Tempel des Ruhms – gegenüber Hilliard akzentuiere ich durchgehend die Momente der Brüchigkeit von Klopstocks ‚Ruhmsicherheit’. Von der Bescheidenheit (im Nordischen Aufseher, 1758) (Klopstock: Sämmtliche Werke. Bd. 10, S. 293). Klopstock: Sämmtliche Werke. Bd. 10, S. 296f. Klopstock: Ausgewählte Werke, S. 941.
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werden dabei durch „Biegsamkeit“ entschärft, oder anders: Das positive Verhältnis zum Tadel setzt ein positives Verhältnis zu Positionswechseln und zur Verlagerung von Lösungsoptionen in die Zukunft voraus. Klopstock steigert auf diese Weise in der Interaktion in beachtlichem Maß die Chancen für Ablehnung, die sich aus der Eröffnung von Kommunikation ohnehin ergeben, und schließt damit die Interaktionssemantik an die Entwicklung kritischer (Distanz-)Kommunikation an. Vor diesem Hintergrund reflektieren Klopstocks Briefe als Katalysator einer von Fernbeziehungen geprägten Semantik der Innerlichkeit20 die Probleme der Schriftlichkeit: Daß Schriftlichkeit beispielsweise spezifische Anforderungen an selbstidentisches Verhalten stellt, tritt klar vor Augen, wenn ältere Briefe aus dem Archiv gezogen und als Argumentationshilfe verwendet werden, um dem störrischen Gegenüber seine vorangegangenen Aussagen entgegenzuhalten und ihn damit auf Kontinuität in seinem Verhalten zu verpflichten (z. B. KB 2, 64). Zwar hält Schrift die Möglichkeit bereit, problematische Stellen zu zitieren und damit konkret verhandelbar und vielfältig interpretierbar zu machen (z. B. KB 2, 71f.). Aber Schrift provoziert auch die Notwendigkeit, zum ‚Scholiasten‘ seiner selbst zu werden, sich selbst zu erklären und zu sagen, was man eigentlich gemeint hat – Schrift erhöht insofern die Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation, als bei ihr die Situierung in einem geteilten Kontext wegfällt und die Möglichkeit zu vertrauensbildenden Maßnahmen fehlt. Ein Gespräch, so stellen Klopstock und Meta Moller immer wieder fest, hätte die ihren Briefverkehr geradezu okkupierenden Mißverständnisse nicht aufkommen lassen (z. B. KB 2, 88, 124, 127): „Es giebt Minen unsers Herzens, die immer verlieren müssen, wenn sie nur durch die Sprache ausgedrückt werden“ (KB 2, 130).21 Klopstock hält Briefe für „unmündige[ ] Redner“ (KB 2, 129) und schließt sich damit an den Phaidros-Dialog an, den locus classicus zur Unkontrollierbarkeit der Schrift, in dem Platon bzw. Sokrates die Schrift als eine vater- und damit schutzlose Kommunikationsform problematisieren (2.1). Die Anforderungen an die Konstruktion von Identität steigen aber nicht nur durch die Speicherung und Entkontextualisierung, die Schrift als Medium ermöglicht, sondern auch durch Dezentrierung, Verspiegelung, Vermittlung und andere Ablenkungsbewegungen. Die Unkontrollierbarkeit der Schrift bedeutet nämlich weiterhin, daß schriftliche Kommunikation potentiell öffentliche Kommunikation ist. Auch dies macht Klopstocks Briefverkehr klar, wenn als Hintergrundüberlegung die _____________ 20 21
Zur Entstehung des Briefverkehrs von „Menschen“ vgl. Siegert: Relais, S. 13, 39, 60ff. Mit „Sprache“ meint Klopstock hier „Schrift“, jedenfalls geht es im Satz zuvor um die Differenz zwischen „sagen“ und „schreiben“. Zum Briefwechsel Klopstock / Moller vgl. Clauss: Liebeskunst, S. 25ff.
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Buchfassung einer Korrespondenz oder die Publizierbarkeit von Briefen ins Spiel kommt, die ja ohnehin in Abschriften wild zirkulieren und ungehindert in den Medien der Aufklärung auftauchen können – über Gleims Pläne, eine „Druckerey“ zu gründen, schreibt Ebert in einem auch von Klopstock verfaßten Gemeinschaftsbrief an Ramler: „[...] wenn das geschieht, so dürfen Sie ihm nicht einmal mehr Briefe schreiben; er läßt alles drucken, was man spricht und denckt“ (KB 1, 9, 93, 213f.; Zitat KB 2, 18).22 Daß Klopstock „voll der kleinen Attentionen“ ist (KB 5, 153f.), was vor allem im Kontext des ‚Wiener Plans‘ zur Unterstützung der ‚Gelehrtenrepublik‘ auffällt, machen seine unmittelbaren Erfahrungen als ‚Schreiber‘ im Kontext der kritischen Kommunikation verständlich.23 Jedenfalls bringt er Verständnis auf für die „Wisser“, die ihre Handschriften verbrennen, damit sie den Kritikern nicht in die Hände fallen (KW 7/1, 147). Klopstock entwirft sein Werk durchaus im Blick auf den eigenen Nachlaß. Klopstock arbeitet in einem Kontext, der sich gewissermaßen auf Publizität ausrichtet und in privaten oder scheinbar privaten Äußerungen den Messias-Dichter in die kritische Kommunikation involviert. So befindet er sich von früh auf unter permanenter Beobachtung24: Die erste _____________ 22 23
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Im Nachlaß zum zweiten Teil der Gelehrtenrepublik beschäftigt Klopstock sich auch mit Verteidigungsstrategien von Kritikern, die scheitern, weil „denn doch der Briefwechsel, den man wegen des Bündnisses führte, gedrukt“ wird (KW 7/2, 69). Vgl. zu Klopstock als einem mißtrauischen Interpreten seines Gegenüber z. B. KB 5, 143f., 148, 153, KB 6, 18 – immer geht es darum, vielleicht zu ‚offenherzig’ zu sein, den anderen argwöhnisch anhand stilistischer Auffälligkeiten zu überführen, ihn jedenfalls auf seine Verschwiegenheit hin zu prüfen, bevor man bestimmte Dinge äußert. Symptomatisch ist auch eines der frühesten Schreiben, das überhaupt von Klopstock überliefert ist: Am 8. Dezember 1745 berichtet Klopstock seinem Schulfreund Christian Wilhelm Becker von der Universität Jena, an der er seit ungefähr zwei Monaten immatrikuliert ist, aus dem Gelehrtenbetrieb. In nur wenigen Zeilen verflicht er sich dabei bemerkenswert tief in die kritische Kommunikation seiner Zeit und zeigt, daß er weiß, was Kritiker mit Autoren anrichten können: „Philippi, der elende – – befindet sich hier, und ich werde ihn ehestens auf meine Stube auf ein gut Gespräch von H. Zinken, einladen. Liskow ist so grossmüthig, dass er ihm öfters Geld von Dresden, wo er Secretair ist, schicket“ (KB 1, 2). Barthold Joachim Zink, Redakteur des Hamburgischen Correspondenten, wird zwar als „entschiedener Gegner Gottscheds“ eingeschätzt, weil er sich für Immanuel Pyras Erweis, daß die Gottschedianische Sekte den Geschmack verderbe (1743) eingesetzt hat (KB 1, 176), aber vielleicht ist noch wichtiger, daß den Parteien sein tatsächlicher Standpunkt nicht klar genug war. Jedenfalls muß Bodmer den Journalisten – vermittelt über Friedrich von Hagedorn – darauf hinweisen, daß Neutralität im Dichterkrieg keine opportune Option darstellt: „Wenn nur zwei Parteien sind, des Schönen und des Abgeschmackten, so kann kein Verständiger neutral bleiben“ (Brief vom 6. September 1744 in: Hagedorn: Poetische Werke. 5. Theil, S. 173; vgl. hierzu und zu weiteren Zinkiana: Verf.: Friedrich von Hagedorn, S. 222f., 245f.). Mit Philippi und Liskow ist dann weiterhin das kritische Paradigma der ‚verletzenden Kritik’ angesprochen, an das sich Bodmer in der Vorrede zu Breitingers Critischer Dichtkunst anschließt. Vgl. den finalen Satz, der Gewaltanwendung zum Signum gelungener Kritik erklärt: „[...] es ist nicht möglich Wercke von diesem Inhalt zu schreiben, ohne daß sich dieser oder jener dadurch verletzt finde; ja dieses ist vielmehr das
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Nachricht von seinen poetischen Ambitionen liefert sein Mitschüler Johann Daniel Andreas Janozki in den Critischen Briefen an vertraute Freunde geschrieben und den Liebhabern der gelehrten Geschichte zu Gefallen herausgegeben (1745)25; als eine der initiierenden Informationen über das Messias-Projekt rückt Bodmer, der tatsächlich zunächst hinter vorgehaltener Hand und im Geheimen von Klopstocks Unternehmen erfährt, einen „Aufgefangene[n] Brief“ in die Freymüthigen Nachrichten 26 ein; „Briefwechsel [...] über den Werth der Meßiade“ werden veröffentlicht27 etc. Kurzum: Keiner kann sicher sein, daß in einer multiperspektivischen, potenzierten Beobachterlage eine verdeckt geäußerte Meinung nicht doch irgendwann ans Licht kommt. Aus der Teilnehmerperspektive scheint man seine Schwierigkeiten damit zu haben, daß als das andere der bürgerlichen Privatheit nicht die Öffentlichkeit oder Publizität als solche, sondern die Indiskretion firmiert.28 Aus dieser Sicht mindert Zeit in der schriftlichen Kommunikation eben nicht die Gefahr, sie erhöht sie vielmehr, und dies gilt vor allem in der Epoche des Drucks. So bekommt Eberts Verhältnis zu Klopstock doch erheblich Schlagseite, als dieser in Hans Caspar Hirzels Sulzer-Biographie Briefdokumente für die kritische Einstellung der ‚Bremer Beyträger‘ gegenüber dem Messias findet.29 Zu einem Zentrum der kritischen Kommunikation avanciert Klopstock nicht nur, weil er auf der Autorenseite Antworten auf die Etablierung von Negativität findet, sondern weil er auch Kritiker zu Auseinandersetzungen motiviert, die nur offensichtlich kontrafaktisch erlauben, an _____________
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Wahrzeichen der rechtschaffenen Critick, so wohl als der rechtschaffenen Philosophie“ (3.2.1). Bodmer liefert damit von der Kritikerseite aus das Pendant zu Klopstocks Hoffnung, „einem gewissen Theile von Lesern zu mißfallen“ (s.u.). Schließlich kommt Klopstock auch noch auf seinen ersten Sekundärliteraten, Johann Daniel Andreas Janozki, zu sprechen, der im Hamburgischen Correspondenten auf die Rezension seiner eigenen Critischen Briefe reagiert habe. Einen Überblick mit ausführlichen Zitaten liefert Großer: Der Junge Klopstock im Urteil seiner Zeit, S. 126ff. Freymüthige Nachrichten Von Neuen Büchern, Und Andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen 5 (1748), S. 310f.; vgl. auch ebda. 6 (1749), 12. St., S. 90-92, 25. St., S. 195-196, 31. St., S. 244-246. Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit. Wintermond 1762, S. 13-27. Vgl. hier auch Ludwig Friedrich Hudemanns Verteidigung seiner Messias-Rezension (ebda. Wonnemond 1757, S. 332-353). Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 114. Hirzel schreibt: „Selbst die Freunde Klopstoks, welche die drey ersten Gesänge den Brämischen Beyträgen eingerükt hatten, wußten im Anfange ihren wahren Werth nicht recht zu schätzen. Ebert hatte selbst zu Sulzern gesagt, (wie ich es in einem Brief von diesem an Bodmern unter dem 18. Jenner 1749. lese) daß die Verfasser der Brämischen Beyträge es nicht ungern sähen, daß er stehen bliebe“ (zit. nach KB 7, 937). Vgl. zu den Vorbehalten der ‚Bremer Beyträger’ auch Pape: Klopstocks Autorenhonorare und Selbstverlagsgewinne, Sp. 31ff.
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einer literarischen Kultur der Positivität festzuhalten. Die Verbindung von kritischem und literarischem Text zeigt sich dabei am deutlichsten an Klopstocks Umarbeitungen seiner Werke, für die Einwände von Freunden, die oftmals gezielt eingefordert werden, ebenso von Bedeutung waren wie das von ihm so sehr gescholtene Rezensionswesen (KW 4/3, 183, 185, 216).30 Die konzeptionelle Verbindung zwischen der zeitgenössischen kritischen Kommunikation und dem Messias wird ebenfalls augenscheinlich, wenn man sieht, daß die erste Messias-Einzelausgabe u.a. auf das Betreiben des Messias-Kritikers und -Korrektors (KB 1, 69, 152, 424) Georg Friedrich Meier zurückgeht und daß das Epos mit Meiers Beurtheilung des Heldengedichts als gemeinsames Projekt des Verlegers Hemmerde vertrieben wurde, teilweise gemeinsam angeboten und angezeigt, bisweilen zusammengebunden.31 Klopstock hatte sogar die Idee, den vierten und fünften Messias-Gesang gemeinsam mit Kritiken der ersten drei Gesänge zu veröffentlichen (KB 1, 51). Die Irritation des Kritikbetriebs durch Klopstock betraf dabei weniger die Gottschedianer oder die Anhänger der Schweizer32, die Klopstock jeweils zum Spielstein in ihrer schon länger laufenden Partie um die deutsche Literatur machen wollten und daher ihre Kriterien – ob angemessen oder nicht – bereits zur Verfügung hatten. Irritiert zeigten sich vielmehr insbesondere diejenigen Leser, die zwischen den Parteiungen standen bzw. sich keiner der beiden Richtungen in toto zuordnen lassen wollten. Friedrich von Hagedorn etwa, der eine exponiert unparteiische Haltung einnahm und für die Verbreitung des Messias Erhebliches geleistet hatte, camouflierte seine literarischen Bedenken notdürftig mit der Sorge um Klopstocks Wohlergehen in den theologischen Streitigkeiten um den Messias 33; und die ‚Bremer Beyträger‘, die von Gottsched kamen und sich Bodmer näherten, gingen ebenso „unbarmherzig“ mit Klopstock und der „schweizerischen Abgötterey“ ins Gericht34, wie sie die Publikation und den Fortgang des Messias-Projekts beförderten. Die aufschlußreiche Posi_____________ 30 31 32
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Zur anfänglichen „Gegnerschaft“ des Messias im Überblick vgl. KW 4/3, 213ff. – vgl. auch 4.1.2 zu einer von Klopstock befolgten Kritik Heß’, die dieser dann wieder zurücknimmt. Sickmann: Klopstock und seine Verleger Hemmerde und Bode, Sp. 1487, 1490; Pape: Klopstocks Autorenhonorare und Selbstverlagsgewinne, Sp. 23f., 27f.; KW 4/3, 193f. Für Bodmer hatte Klopstock zunächst die Aufgabe, durch den Messias zur Verbreitung von Miltons Paradise Lost beizutragen (Klopstock: Der Messias. Gesang I-III, S. 173); zum zweiten freute er sich diebisch darüber, „daß in dem Lande der Gottscheds ein Gedicht von Teufels-Gespenstern und Miltonischen Hexenmährchen geschrieben wird!“ (ebda., S. 173). Vgl. Verf.: Friedrich von Hagedorn, insbes. S. 381ff. Schlegel bezieht sich in diesem Brief vom 23./24. Oktober 1749 insbesondere auf Johann Arnold Ebert und Johann Andreas Cramer (vgl. die Dokumentation der frühen Rezeption des Messias in: Klopstock: Der Messias. Gesang I-III, S. 197).
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tion von Christian Fürchtegott Gellert und Gottlieb Wilhelm Rabener schildert Johann Georg Schultheß in einem Brief an Bodmer vom 27. September 1749: „Ihrem Bedünken nach ist ‚Messias‘ noch zu frühe aufgetreten, ehe der Geschmack der Deutschen genugsam zubereitet war, sich in solche Höhen nachzuschwingen. Von der bißherigen biß an Klopstocks Poesie sey ein solcher Sprung, da die meisten deutschen Leser den Zwischenraum nicht absehen mögen“.35 Auf diese eigentümliche Situation, in der die scheinbar klaren Fronten des literarischen Feldes sich einmal mehr verwirren, reagiert Bodmers verstimmte Bemerkung, daß sich gerade „Klopstoks Cameraden [...] zu leicht an dem großen Lobe, das er [Klopstock, S.M.] bekömmt“, ärgern und daß sie zugleich „zu langsam und zu blöde [sind], ihn öffentlich, und ex professio, und mit einer entschlossenen Mine, eines Märtirers, zu loben“.36 Dagegen verteidigt sich Rabener einerseits mit dem Parteilichkeitsvorbehalt und andererseits mit einer langfristigen Strategie der allmählichen Unterwanderung des Publikumsgeschmacks: Sie thun uns aber ein wenig unrecht, wann Sie, wie es aus Dero Briefe vom 12ten Jun. scheint, glauben daß Herr Klopstock mehr nicht als ein leeres Mitleiden von seinen hiesigen Freunden habe. So viel er Freunde hier hat, so viel hat er Emissarien, welche unter der Hand Proselyten machen, und die Macht des Unwitzes untergraben, ohne die gewaltsamen Mittel einer öffentlichen Reformation zu wagen. Wir müssen dem Volke noch ein wenig seine alten Götzen lassen, und sind zufrieden, wann sie selbige verehren, ohne sie anzubeten. Mit der Zeit gehen wir weiter, und bekennen unsern Glauben öffentlich.37
Offensichtlich greift Bodmer mit seiner Position klarer Parteilichkeit zu kurz, dies zumal dann, wenn man nicht nur die ‚Primär‘-Autoren, sondern auch die ‚Sekundär‘-Autoren in den Blick nimmt, die ebenfalls einen Multiperspektivismus potentieller Kritisierbarkeit ausprägen müssen: Georg Friedrich Meier kommt mit seinen Beurtheilungen des Heldengedichts, der Meßias (1748 u. 1752), „zwischen ein doppeltes Feuer“, weil er sowohl dafür kritisiert wird, „nicht genung gelobt“, als auch, „zu sehr gelobt“ zu haben;38 Vinzenz Bernhard von Tscharners Rezension der MessiasRezension von Johann Caspar Heß, die ihrerseits eine Rezension von Meiers Messias-Rezension ist, wird in den Freymüthigen Nachrichten rezensiert, worauf wiederum der rezensierte Rezensent der Rezension der Rezension in einer Rezension reagiert39 – beide Rezensenten von Rezensi_____________ 35 36 37 38 39
Klopstock: Der Messias. Gesang I-III, S. 193f. Klopstock: Der Messias. Gesang I-III, S. 197f. Brief an Bodmer vom 9. September 1749 (Klopstock: Der Messias. Gesang I-III, S. 188). Rabener an Bodmer, 9. September 1749 (Klopstock: Der Messias. Gesang I-III, S. 190). Freymüthige Nachrichten Von Neuen Büchern, Und Andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen 6 (1749), 27. St., S. 213-215; ebda. 38. St., S. 299-301; ebda., 44. St., S. 346-348; ebda. 45. St., S. 354-357; ebda., 53. St., S. 421-424.
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onen von Rezensionen entdecken dabei im übrigen bei sich und beim anderen stets zuvor unsichtbare Lücken, die sich durch neuerliche Lektüren schließen. Heß und Tscharner führen eigentlich nur eines vor: daß immer noch größere Genauigkeit möglich ist, selbst wenn man Klopstock einfach nur loben will. Entsprechend betrifft das Virtuosentum der Visibilisierung und Invisibilisierung im Kontext des kritischen Perspektivismus sowohl die Literatur als auch die Literatur, die von Literatur handelt, wie man sich in öffentlicher Korrespondenz recht „frey“, vielleicht „zu frey“, eingesteht: Es wäre verwunderlich – so die Vermischten Critischen Briefe (1758) –, „wenn ein Narr nicht so sehr ein Narr seyn solte, daß er an einer schönen Schrift Flekken, und an einer abentheuerlichen Schönheiten entdekte. Eine iede Sache, sagt man, hat ihre gute und ihre böse Seite, ie nachdem man den Gesichtspunkt wählet“.40 Eben dies gilt auch für ‚kritische Schriften‘, wenn der anonyme Kritiker und Kritiktheoretiker Meiers Rezension gegen die Rezension Lessings in Schutz nimmt, weil sich die von Lessing angemerkten Mängel bei Meier gar nicht finden lassen, ja die beiden Kontrahenten vielmehr, ohne dies zu wissen, einer Meinung seien.41 Die tief in die Strukturen der kritischen Kommunikation eingelassene agonale Dimension des Perspektivismus, dessen Genauigkeit nie so groß ist, daß sie von einer folgenden Beobachtung nicht überholt werden könnte, prägt noch die Kritiken, die sich das Lob des Messias zum Ziel setzen. Meiers mehr zitierender und referierender als kommentierender und reflektierender Durchgang durch das Epos, der Klopstocks Vorbereitungskunst betont,42 endet beispielsweise im ersten Stück mit der sich selbst zur Disposition stellenden Bemerkung: „[...] wo ich nicht irre, so werden meine Leser durch meine kurtze Critik überzeugt seyn, daß dieses Heldengedicht ein Meisterstück seyn werde, wenn die folgenden Gesänge den drey ersten ähnlich seyn werden“.43 Das zweite Stück der Beurtheilung, nach Bodmers eigener Kritik im Crito verfaßt und vielleicht auch dadurch inspiriert, konzentriert sich noch deutlicher auf Formen von Selbstähnlichkeit, wenn Meier spannungserzeugende Momente herausarbeitet44 oder auf die Bezüge zwischen den älteren und den aktuell veröffentlichen Gesängen hin_____________ 40
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Vermischte Critische Briefe, S. IVf., XVf. – mit dem Votum für lobende Kritik gehören die Critischen Briefe eher auf die Seite der Bodmerschen Kritiktheorie: „Überhaupt ist es für einen Critikverständigen rühmlich, wenn er mehr auf die Schönheiten als auf die Fehler in einer Schrift sein Augenmerk wendet“ (ebda., S. XII). Vermischte Critische Briefe, S. 16. „Der Dichter bereitet, wie Homer, seine Leser immer auf die folgenden merckwürdigen Begebenheiten“ (Meier: Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias. Erstes Stück, S. 54). Meier: Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias. Erstes Stück, S. 63 (Hervorhebung S. M.) – auch später beobachten die Leser die Selbstgleichheit Klopstocks (z. B. KB 5, 13). Z. B. Meier: Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias. Zweytes Stück, S. 108f., 114.
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weist.45 Diese vom Beziehungssinn geprägte Kritik läuft auf eine Selbstverpflichtung Klopstocks hinaus: „[...] er bleibt sich selbst gleich, und er legt sich dadurch die Verbindlichkeit auf, eben so schön bis ans Ende dieses Gedichts zu bleiben“.46 Entscheidend ist freilich, daß sich auch die Kritiker selbst verpflichten und unter Druck setzen. Man sieht dies beispielsweise daran, daß Meier im zweiten Stück seiner Beurtheilung triumphierend auf die Erfüllung einer im ersten Stück analysierten Handlungsanlage hinweist.47 Diese Vorausdeutung war von Johann Caspar Heß kritisiert worden,48 dessen MessiasBesprechung einen symptomatischen Untertitel trägt: Veranlasset durch Herrn Georg Friedrich Meiers, Beurtheilung des Heldengedichtes. Nicht der Messias motiviert eine kritische Auseinandersetzung, sondern eine Kritik provoziert eine Kritik (2.5), und sie potenziert ihren Gegenstand, indem sie genau das macht, was Bodmer sich am Ende seiner Messias-Kritik erhofft hatte:49 Sie entdeckt an den Stellen Zusammenhänge, wo sie der lobende Vorgänger noch vermißt, um durch möglichst fernliegende Bezüge zu demonstrieren, welche „ungemeine[ ] Deutlichkeit und Ordnung [...] in dem Geiste des Dichters“ geherrscht haben muß.50 Zwar sehen sich folglich Autoren der Willkür ihrer kritischen Leser ausgesetzt, aber erstens wird die Willkür einer Beobachtung zweiter Ordnung durch andere Beobachter exponiert und damit entmächtigt, und zweitens gilt in der kritischen Kommunikation Pierre Bayles Maxime insbesondere für Kritiker: „Man setzet sich eben derselben Gefahr aus, welcher man andre aussetzet“.51 Die kritische Kommunikation der Aufklärung orientiert sich vor allem daran, ob Autoren ‚sich selbst gleich bleiben‘.52 Wenn Klopstock, wie Meier konstatiert, sich dadurch auszeichnet, „daß er auch die seltene Kunst versteht, sich tadeln zu lassen“,53 dann bedeutet diese Tadelfähigkeit auf das Problem Selbstgleichheit bezogen zweierlei: Einerseits erlaubt Tadelfähigkeit Veränderung im Rahmen eines ‚sich selbst gleichbleiben_____________ 45 46 47 48 49 50 51 52 53
Meier: Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias. Zweytes Stück, S. 70. Meier: Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias. Zweytes Stück, S. 69f. Meier: Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias. Zweytes Stück, S. 137f. (vgl. dazu im ersten Stück S. 46ff.). [Heß]: Zufällige Gedanken über das Heldengedicht der Meßias, S. 31ff. Crito 1 (1751), S. 72. [Heß]: Zufällige Gedanken über das Heldengedicht der Meßias, S. 15f. Bayle: Historisches und Critisches Wörterbuch. Bd. II, S. 108. Vgl. dazu: Verf.: „Man setzet sich eben derselben Gefahr aus, welcher man andre aussetzet“. Vgl. neben der bereits zitierten Stelle (Meier: Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias. Zweytes Stück, S. 69f.) z. B.: „Der Dichter bleibt in seiner poetischen Mahlerey allezeit ihm selbst gleich“ (ebda. Erstes Stück, S. 61). Meier: Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias. Zweytes Stück, S. 138f. – Meier beruft sich dabei auf seine persönliche Bekanntschaft mit dem Dichter.
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den‘ Lebens, nähert damit das Modell der Selbstähnlichkeit den pragmatischen biographischen Erfordernissen an und macht Selbstähnlichkeit tauglich für die Strukturbedingungen kritischer Negativität. Personale Identität wird paradoxerweise verzeitlicht; dem mit sich selbst identischen Menschen wird erlaubt, von Abweichungen aus zu sich selbst zu finden – nur: Wo war er dann eigentlich zuvor? Andererseits stellt Tadelfähigkeit ein permanentes Risiko dar, weil sich Abweichungen hochrechnen lassen. Wenn an einer Stelle des Lebenslaufs Ungereimtheiten auftreten, besteht die Gefahr, daß das Bild, das man sich bislang gemacht hat, überhaupt nicht stimmt. Weil die aufklärerische Beobachtungsordnung nach Maßgabe der ‚Gründlichkeit‘ die Funktionalität und Stimmigkeit jedes Teils sowie die Veränderbarkeit des Ganzen durchs Detail behaupten muß, ergibt sich daraus eine enorme Aufmerksamkeit für die ‚kleinen Ursachen mit großen Folgen‘. Dabei gilt für die Kritiker: Sie profitieren nicht weniger als Autoren davon, wenn sie Meinungsänderungen als etwas Positives verkaufen können, weil sie erstens eine lebenslange Meinungsstabilität kaum durchhalten, weil sie zweitens in einer kritischen Beobachtungslage damit rechnen müssen, daß andere ihre Meinungen und Meinungsänderungen bemerken, und weil sie drittens gerade aufgrund der Schriftförmigkeit ihrer Äußerungen möglicherweise mit Positionen konfrontiert werden, die sie zu verschiedenen Zeitpunkten bezogen haben. Während Bodmer und Gottsched mit der Flexibilisierung, die der Negativität literarischer Kommunikation angemessen ist, einige Schwierigkeiten haben, arbeitet die Nachfolgegeneration eine zeitsensible Haltung aus (3.3). Als Fachmann für diese Situation permanenter Meinungsfluktuation und prinzipieller Überbietbarkeit der Genauigkeit von Beobachtung etabliert sich Lessing.54 So reagiert etwa Lessing (3.3 b) offensiv auf die Bedingungen kritischer Kommunikation und hängt nicht den Phantasmen einer geordneten Argumentationslage nach. Das versteht sich nicht von selbst, weswegen beispielsweise Julius Gustav von Alberti in einem Brief an Klopstock vom 30. Mai 1759 überraschend registriert, daß die „so genannten critischen Briefe[ ] die in Berlin herauskommen, [...] ihr Urtheil über d Meßias gerne zurücknehmen“ möchten, „das sie in der Bibl. der schönen Wißenschaften gefället hatten“. Alberti kann dies nur in den Parametern des Dichterkriegs verbuchen: „Sie scheinen sich deßen zu schämen. aber der Berliner Criticus siehet doch noch aus allen Zeilen hervor“ (KB 4, 25). Lessing zeichnet seine Kritiken auf verschiedene Weisen als vorläufig aus. Er verliert sich in Digressionen, verwechselt seine Papiere, korrigiert _____________ 54
Zur kritischen Auseinandersetzung (vermutlich) mit Lessing in der Gelehrtenrepublik, ausgehend von dessen Kritik am Nordischen Aufseher, vgl. KW 7/2, 511ff. sowie im Kontext der ‚Laokoon’-Diskussion KW 7/2, 681ff.
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sich selbst in der Abschrift und zeigt, daß anstelle des Gesagten auch etwas ganz anderes gesagt werden könnte. Tadel formuliert er nur optional und unter dem Vorbehalt, sich auch irren zu können, und dies mit gutem Grund, wie beispielsweise die Vermischten Critischen Briefe zeigen, die auf Lessings Kritik an der zweiten Zeile des Messias reagieren: Die Zeile ist leer, sagt Herr Leßing, und ich behaupte gerade das Gegentheil. Keine Zeile im ganzen Inhalt ist so voll, so gedankenreich als eben diese. Das ganze Werk der Erlösung ist in derselben ausgedrükt, und kein Wort stehet müßig oder überflüßig darinn: auch nicht einmahl das vollenden. Es ist wahr, es scheinet mit den Grundsäzzen der Lehre von der Erlösung nicht überein zu stimmen: allein man betrachte die ganze Stelle mit Aufmerksamkeit. Ohne Zweifel wird sich der Plan des Herrn Klopstoks mit der Himmelfarth des Meßias endigen. Er wollte uns dieses durch eine verdekte Wendung zu verstehen geben. Virgil macht es gleichfals so, zwar etwas bestimmter. Multa - - - - passus, dum conderet vrbem Inferretqve deos Latio War also das Wort vollendet hier nicht unumgänglich nöthig? Der einzige Name Meßias drükt alle Genugthuung aus, die für das menschliche Geschlecht sowol im Stande der Erniedrigung, als Erhöhung geschehen mußte. Die Begriffe auf Erden und in seiner Menschheit bestimmen den Umfang des meßianischen Leidens noch mehr. Vielleicht wäre der Gedanke schwächer; vielleicht nicht so gros gewesen, wenn der Dichter den Namen Meßias in ewiger Sohn, oder etwas gleiches verwandelt hätte. Meinem Urtheile nach erfordert ein Ausdruk den andern nothwendig, und man muß auch hier dem Verfasser das Lob ertheilen, daß er die ehrfurchtsvollsten Gedanken in dem Gemüthe aufmerksamer und nachdenkender Leser zu erwekken weis.55
Den „Plan des Herrn Klopstocks“ vorausgesetzt, erhöhen sich die Möglichkeiten von „Aufmerksamkeit“ so, daß ‚Fehler‘ zu ‚Schönheiten‘ werden. Um es noch einmal mit den Worten des Kritikers selbst zu formulieren: „Eine iede Sache, sagt man, hat ihre gute und ihre böse Seite, ie nachdem man den Gesichtspunkt wählet“.56 Mindestens katalysatorische Funktion hatte dabei die Haltung der Bodmerianer, die bei Tadel an einem als vorbildlich anerkannten Autor darauf aus sind, sich widerlegen zu lassen. Das beste Beispiel bietet wiederum Heß: Er kritisiert an Klopstocks Messias die Charakterisierung von Judas’ Vater, und Klopstock ändert diese Stelle.57 Daraufhin schreibt Heß an den von ihm bewunderten Autor: „Ich war eben im Begriff, da ich Ihren Brief bekam, dieselbe Stelle aus dem Grund der poetischen _____________ 55 56 57
Vermischte Critische Briefe, S. 25f. Vermischte Critische Briefe, S. V. Die Besprechung der Varianen stellt dies als die zentrale Veränderung heraus (Nachricht von einigen in der neuen Ausgabe des Messias gemachten Veränderungen. In: Freymüthige Nachrichten Von Neuen Büchern, Und Andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen 9 [1752], S. 94 [zuerst 1751 in den Critischen Nachrichten; vgl. KW 4/3, 216]).
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Nothwendigkeit noch weiter zu vertheidigen, nachdem mir jemand in den ‚freimüthigen Nachrichten‘ dazu Anlaß gegeben“ (KB 1, 63) – gemeint ist damit die Kontroverse mit Tscharner, die in einer Kritik fünfter Stufe, einer Kritik (Tscharners) der Kritik (Heß’) der Kritik (Tscharners) der Kritik (Heß’) der Kritik (Meiers), ausläuft (4.1.1). Klopstock bedient mit seinem Werkentwurf eine sich verwirrende Situation. Aus diesem Grund scheint es Riedel, als stehe der MessiasDichter im Zentrum einer „neuen Epoche“ der Kritikgeschichte: Klopstock erschien mit den ersten Gesängen seiner Meßiade und verursachte ein bellum omnium aduersos omnes, ein Gewühl, wo alle durch einander und wider einander liefen, um sich auf die eine, oder auf die andere Seite zu stellen. Die Schweizer betrachteten den neuen Dichter, als ihr Geschöpf; und er war es nicht. Gottscheds Parteygänger feindeten ihn an; und er antwortete nicht. Andere schrieben lange Apologien für ihn; und er laß sie nicht; er dichtete fort.58
Bis 1755 habe man sich nach der Zugehörigkeit Klopstocks zu Bodmers oder Gottscheds Partei gefragt, bis „auf einmahl [...] eine neue Partey ins Mittel [trat], [...] auf beiden Seiten um sich herum [schlug]; die bisherigen Rotten [verdrängte] und das Recht allein [sprach]“: „die Verfaßer der Litteraturbriefe machten, daß Gottsched mit Bodmern vergeßen wurde; sie allein führten den Scepter und die übrigen Kunstrichter wurden entweder verlacht, oder sie beteten ganz andächtig die Aussprüche nach, welche ihre Befehlshaber dictirten“ (vgl. 3.3). Diese neue dikatorische Situation führt jedoch nicht zur Klärung der Lage, im Gegenteil: „Das Gute, was aus allen diesen Kriegen entstehen wird, ist vielleicht das, was man am wenigsten vermuthet – eine völlige Anarchie“.59 Klopstock – so die im folgenden ausgeführte These – wirkt damit als eine Art Katalysator für die Entfaltung der ‚kritischen Kommunikation‘, wie ich sie in den vorangegangenen Kapiteln beschrieben habe, und er experimentiert mit Techniken und Verfahren, die die daraus entstehenden Probleme bewältigen sollen. Sein Werk reagiert auf Fragestellungen, die es selbst provoziert. „Er wird nie ein Poet für die Welt“, meint Gellert 1755 in einem äußerst kritischen Briefpassus über Klopstock an Charlotte Sophie von Bentnick, „sondern nur für wenig Leser seyn. Die Schweizer haben ihn zu hastig u. ausschweifend gelobt. Die andre Partey hat ihn zu seicht u. zu beleidigend getadelt“60 – so wie der Autor ‚Klopstock‘ ein literarisches Maximalprojekt entwirft, reagieren auch die Leser, sei es im Positiven oder im Negativen, mit kritischem Extremismus. Als Kritiker zeichnete man sich daher in der Mitte des Jahrhunderts durch sein Verhältnis zu Klopstock aus. Bodmer verpackt das in seine autorzentrische _____________ 58 59 60
Riedel: Briefe über das Publikum, S. 93. Riedel: Briefe über das Publikum, S. 94. Klopstock: Der Messias. Gesang I-III, S. 206.
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Perspektive: „Ich dünkte mich selbst viel grösser, seitdem ich mich fähig sehe, die Vortrefflichkeit der Klopstokischen Poesie einzusehen“.61 Erneut zeigt Wieland sich als gelehriger Schüler seines Mentors (vgl. 2.4): „Der wahre Aufschlus zum Rätzel warum so wenig, die sonst Kenner der Wercke des Geistes sind, sich in den Messias finden können, ist die Denkungsart des Hr. Klopstocks und die Empfindungen die sein Gedicht beseelen. Mann mus ihm nachdenken ihm nachempfinden können, aber wie viele können das?“62 Diese Wechselseitigkeit im Verhältnis von Klopstock und seinen Kritikern verweist auf die Eigendynamik und den Potenzierung stimulierenden Automatismus kritischer bzw. schriftlicher Kommunikation. Nicht nur die begründete Sorge um das Schicksal der Briefe demonstriert, daß Schrift in der Mitte des 18. Jahrhunderts potentielle Veröffentlichung bedeutet und eine Tendenz zum gleichsam selbstläuferischen Übergleiten in die literarische Kommunikation entwickelt, sondern auch die Geschichte der ersten Teilveröffentlichung aus dem Messias: Klopstock, so zumindest der Mythos, der sich um die Publikation der ersten drei Gesänge in den Bremer Beyträgen rankt, wollte das Epos zunächst nur vollendet dem Publikum präsentieren. Die ‚Beyträger‘ erfahren vom Messias-Projekt, weil Johann Christoph Schmidt, der Bruder Maria Sophia ‚Fanny‘ Schmidts, in einer Art Wettkampfsituation ohne Klopstocks Zustimmung dessen Handschrift zitieren kann (C I, 147ff.). Danach ist keine Rede mehr von der Geheimhaltung. Der Messias wird rückhaltlos Teil der kritischen Kommunikation. Gärtner schreibt an Bodmer, die Publikation diene nur dem Ziel, das „Urtheil der Kenner zu erfahren“63 – das ist natürlich eine captatio benevolentiae gegenüber dem Zürcher Kritiker, paßt aber ins Bild einer auf Dezentrierung angelegten Produktionssituation. Klopstock versucht sich und seine Schriften zwar bisweilen noch aus der Publizität herauszuhalten, so wenn er beispielsweise Giseke bittet, Gleim eine satirische Schrift aus seiner Feder zu entwenden, damit diese nicht durch einen Zufall bekannt werde (KB 3, 72, 74). Erfolgversprechender als solche Geheimaktionen war indes, daß Klopstock sich auf die kritische Kommunikation eingerichtet hat64: Er fordert explizit Kritiken65, _____________ 61 62 63 64
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Klopstock: Der Messias. Gesang I-III, S. 198. Brief an Johann Heinrich Schinz vom 29. Februar 1752 (Klopstock: Der Messias. Gesang I-III, S. 204). Klopstock: Der Messias. Gesang I-III, S. 169. Dazu gehört auch, daß Klopstock zwar zunächst der Bitte Metas folgt, ihre Briefe zu verbrennen, dann aber doch noch einige zufällig verschont gebliebene Schreiben in die Ausgabe von ihren Hinterlassenen Werken (1759) einrückt (KB 2, 111, 117, 119, 283; KB 5/2, 410). Klopstock: Der Messias. Gesang I-III, S. 185 – die Aufforderung richtet sich an Bodmer, der dies für so bemerkenswert hält, daß er es gleich weitergibt (ebda., S. 186).
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ja er „schreyt um Rache“ derjenigen, die er mit seiner literarischen und theologischen Position implizit reizt66. Er registriert die kritischen Reaktionen (z. B. KB 1, 58) – die Allgemeine Deutsche Bibliothek, die Deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften von C.A. Klotz sowie die Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste von C. F. Weiße hat er sogar abonniert (KB 5, 131)67; er regt Kritiken an und gibt Hinweise, wie Kritiken zu gestalten sind (z. B. KB 1, 35; KB 5, 243); seine Freunde versorgen ihn mit Informationen – „weil Sie doch gerne wißen mögen, was man hier u. dort wider Sie schreibt […]“ (KB 4, 24). Klopstock, der bisweilen von unsichtbaren Besuchen träumt oder tatsächlich Inkognito auftritt (z. B. KB 1, 325, 418), nutzt die Anonymität des aufklärerischen Publikationsbetriebs sogar für Testläufe aus, teils unfreiwillig,68 teils gezielt wie im Fall der oftmals für eine schlechte Klopstock-Nachahmung gehaltenen Drei Gebete eines Freigeistes, eines Christen, und eines guten Königs.69 Spätestens nach der ersten Kritikwelle, die über den Messias rollt, ist Klopstock klar, daß seine „Feinde“ nur auf eine Fortsetzung warten, um die Polemik gegen ihn weiterzuführen: „Das weiß Klopstock“, schreibt Rabener an Bodmer, „aber vielleicht ist er zu groß, darüber zu erschrecken“.70 Im übrigen ist die Haltung der „Freunde“ nicht weniger belastend, denn diese „erwarten eine Fortsetzung, so dem Anfange gleich kommt“.71 Auch sie also erlauben Klopstock keine Entspannung (4.1.2). Diese kritikaffine Haltung hängt indes nicht von faktischer Kritik, sondern von der Einstellung auf potentielle Kritik und die entsprechende phantasmatische Einschätzung des literarischen Feldes ab. Giseke schreibt vor der ersten Publikation von Messias-Gesängen über Klopstock: Ich muß es unserm Freunde, dem Hrn. Klopstock, nachrühmen, daß er in der That keine andre Aufmunterung nöthig hat, und ungeachtet aller der widrigen Urtheile, die auf ihn warten, mit dem Muthe eines Geistes fortfährt, welcher sie verachtet, weil er sie vorhersieht, und sehr unzufrieden seyn würde, wenn ihn seine Hofnung, einem gewissen Theile von Lesern zu mißfallen, betriegen sollte.
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Rabener an Bodmer, 7. Mai 1749 (Klopstock: Der Messias. Gesang I-III, S. 184f.). In einem späteren Brief heißt es, er lese die Allgemeine Deutsche Bibliothek nicht mehr, weil er aus einer Lesegesellschaft ausgetreten sei, die „Schurnale hĭlt“ (KB 8, 11). Funk berichtet beispielsweise in einem Brief 30. Mai 1759, Zink habe in einem Gespräch partout nicht akzeptieren wollen, daß der Aufsatz Von dem Publiko im Nordischen Aufseher von Klopstock stamme, weil dieser nicht „so gut“ schreibe (KB 4, 25). An Moltke schreibt Klopstock am 6. März 1752: „Ew. Excellenz finden hierinn einige kleine Prosaische Stücke, die ich, noch gegen das Ende des vorigen Jahrs, gearbeitet habe. Ich habe sie auswärts drucken lassen, weil ich gern unbekannt seyn, u hinter dem Vorhange zuhören wollte. Es weis auch, ausser Seiner Excellenz von Bernstorf Niemand, daß sie von mir sind“ (KB 3, 2; zur Rezeption der Drei Gebete vgl. KB 3, 131 sowie Großer: Der junge Klopstock, S. 87ff.). Klopstock: Der Messias. Gesang I-III, S. 191. Klopstock: Der Messias. Gesang I-III, S. 191.
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Er ist so ungedultig dieses zu erfahren, daß er gesonnen ist im 4ten und 5ten Stücke des izigen Bandes der Beyträge, die ersten drey Bücher den Urtheilen des Publici Preis zu geben.72
Umgekehrt geht dieses Bild, das Klopstock sich von dem unübersehbaren Feld kritischer Kommunikation macht, und die Haltung, die sich mit dieser Vision verbindet, in das Autorenbild ein, das die Kritik entwirft. Nachdem Klopstock Johann Caspar Heß gebeten hatte, sich mit dem Lob des Messias, das von vielen Seiten als übermäßig verurteilt wurde, in Zukunft zurückzuhalten, antwortet der Rezensent am 30. September 1749: Aber warum legen Sie mir schon in der zarten Jugend unsrer Freundschaft eine so schwere Probe auf, daß Sie mir verbieten, ja nichts mehr von Ihnen zu schreiben? [...] Doch ich verstehe Sie. Sie wollen mir hierüber zwei Stüke verbieten. Das eine, daß ich Sie nicht mehr so gar nach Herzenslust loben; das andere, daß ich von dem Verfolg Ihres Gedichtes nichts mehr errathen soll. Beides kann ich Ihnen wohl versprechen [...]. – Warum fordern Sie nicht auch von mir, daß ich Sie nicht mehr tadeln soll? Dieses hätte ich Ihnen lieber als alles andere versprochen.73
Hinter der Divination des Lob-Verbots wie hinter der Verwunderung über die Tadel-Akzeptanz verbirgt sich die rudimentäre Einsicht in den Umbau der literarischen Kommunikation: Klopstock akzeptiert als Autor die sich etablierende Negativität des literarischen Diskurses und entwirft sein Werkmodell vor diesem Hintergrund – er würde, wie es im zitierten Brief Gisekes heißt, „sehr unzufrieden seyn [...], wenn ihn seine Hofnung, einem gewissen Theile von Lesern zu mißfallen, betriegen sollte“ (2.3). Klopstocks exponierte Abneigung gegen den Kritikbetrieb bedeutet in diesem Kontext zunächst nur, daß er die Rollen von scheinbar primärer und offensichtlich sekundärer literarischer Kommunikation auseinanderzuhalten versucht und damit dem Besser-Machen bzw. der Positivität der Kritik jeden Weg zu seinem Werk verbaut. Klopstock blockiert an vielen Stellen die gängigen Verlaufsformen literarischer Kommunikation. Diese Blockaden lassen sich zwar bisweilen als Lösungsversuche für Probleme einer durch räumliche und zeitliche Dehnung bestimmten Distanzkommunikation und als Antworten auf deren Unwahrscheinlichkeit verstehen. Dazu gehört vor allem die Konzentration auf kompetente Leser und Hörer bzw. die Abwendung von den „Meisten“ (4.2 d).74 Nur: Wie soll diese Kontrolle in der kritischen Kommunikation funktionieren? Erfolgversprechender ist da schon die mindes_____________ 72 73 74
Klopstock: Der Messias. Gesang I-III, S. 174f. Klopstock: Der Messias. Gesang I-III, S. 194f. So im Nordischen Aufseher-Beitrag Ein Gespräch, ob ein Skribent ungegründeten, obgleich scheinbaren Kritiken antworten müsse. Von Kl. und Cr. (Klopstock: Sämmtliche Werke, z. B. S. 320).
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tens implizite Akzeptanz dieser kritischen Lage, die Konzentration auf Neuheit und Abweichung, also auf das, was unter massenmedialen Bedingungen noch auffällig bleibt, sowie auf die Arbeit mit Konfliktivität, Diskontinuität und Verunsicherung.75 Letztlich kann ja auch die publizierte Publikumsselektion nicht mehr als eine polemische Behauptung sein, deren Funktion im Provokationswert und in der Akzeptanz von Mißfallen als Normalität literarischer Kommunikation besteht. Genau auf diese Provokation verstand sich Klopstock in einer Zeit, die Provokationen zum geläufigen Muster zu machen bereit war. Als sein Hauptwerk endlich vorliegt, schreibt das Magazin der deutschen Critik: Klopstock schaft sich eine neue Epopee, ein ganz neues Silbenmaas, und eine neue Sprache. Er wagt den Flug auf ungebahnten Wege. Unsre Pflicht ist es nur ihm nachzusehn, alle Theorien der Poesien, alle Regelngebäude für die Epopee, und – man erlaub es meiner Verachtung sich niedrig genug auszudrucken – alle Leisten, worüber bisherige Nachahmer ihre Arbeit schlugen, zu vergessen. Nur die philosophischen Begriffe vom Schönen und Erhabnen müssen unsre Seele erfüllen, und nur nach ihnen, nicht nach dem eigensinnigen Maasstabe alter Regeln einer schon bearbeiteten Dichtungsart müssen wir alsdenn Klopst. neue Erfindungen messen. [...] Klopstock ist ein Originalgenie!76
Wie gelingt es Klopstock, einen Teil der Kritiker in dieser Art auf sich zu ‚verpflichten‘? Welche Möglichkeiten und welche Anreize bietet sein Werk für die Entfaltung kritischer Kommunikation? Und wie geht Klopstock mit der entsprechenden Verunsicherung durch die Etablierung von Negativität im literarischen Diskurs um? Ein heuristisches Modell läßt sich im Blick auf Klopstocks Verfahren der Komplizierung entwerfen, denn zunächst reagiert Klopstock mit der strikten Überforderung seiner Leser.77 Dies gilt vor allem für seinen Umgang mit der Zeitlichkeit.78 Klopstocks Werk exponiert Zeitbedarf erstens durch die Zeit, die man zum Lesen und Verstehen benötigt, zweitens durch die Zeit, die es sich als Entfaltungsraum imaginiert, und drittens durch die Zeit, die es in der Entstehung verbraucht: Wenn es erstens unwahrscheinlich ist, daß man sich unter der Bedingung getrennten und individualisierten Bewußtseins versteht, dann kompliziert Klopstock dieses Verstehen zusätzlich durch eine Darstellungsart, _____________ 75 76 77 78
Luhmann: Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation, S. 89f. Magazin der deutschen Critik 2 (1773), 1. Theil, S. 183 (= Rezension des vierten MessiasBandes, Halle 1773). Vgl. zur ‚Regellosigkeit’ von Klopstock Mahr: „Die Regeln gehören zu meiner Materie nicht“. Einen Überblick über verschiedene Dimensionen von Klopstocks Autorschaft und die daraus resultierenden Vermittlungsprobleme bei Werner: Klopstock und sein Dichterberuf, zur gebrochenen Publikumsbeziehung S. 26ff. Zur theoretischen Grundlage des folgenden vgl. Luhmann: Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation.
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die seinen Zeitgenossen mit einigem Recht je nach Verständnisbereitschaft „sehr dunckel, oder besser sehr hoch“ vorgekommen ist (KB 4, 232). Das Votum für die eine oder die andere Option, für Dunkelheit oder Hoheit, bestimmt sich nach der Zeit, die man als Leser bis zur Ablehnung oder Annahme der Kommunikation zu investieren bereit war.79 Für Anhänger Klopstocks jedenfalls bedeutet die Klage, über dessen Dichtung müsse man stets nachdenken, ein Lob (KB 6, 466).80 Klopstock nimmt – wie Bodmer – den Leser in die Pflicht: „Wenn nicht nur meine guten, sondern selbst meine besten Leser dunkle Stellen bey mir finden; so komt zulezt alles darauf an, an wem die Schuld liege, an ihnen, oder an mir. [...] Je besser meine Leser sind, je mehr Verantwortung laden sie auf sich, wenn sie mich der Dunkelheit beschuldigen; die besten also die schwerste“ (KB 9, 6f.). Wenn es zweitens unwahrscheinlich ist, daß Kommunikanten einander bei zeitlicher und räumlicher Extension erreichen, dann steigert Klopstock diese Unwahrscheinlichkeit durch die Orientierung gerade an ferner liegenden Zeiten, sei es, weil die gegenwärtigen Leser noch nicht für seine ‚dunkle‘ oder ‚hohe‘ Poesie bereit sind, sei es, weil seine Nachruhmphantasien sich in weit ausgreifenden Dimensionen bewegen.81 Wenn schließlich drittens der Erfolg von Kommunikation bzw. die Übernahme der Information als Handlungsprämisse nach dem an sich schon unwahrscheinlichen Erreichen des Adressaten unwahrscheinlich ist, dann werden die Erfolgsaussichten sicherlich nicht dadurch größer, daß man sich – wie Klopstock mit dem Messias – für die Vollendung eines Kommunikationsakts ein halbes Jahrhundert Zeit läßt und damit den Adressaten viele Chancen gibt, sich inzwischen an andere Kommunikationsofferten anzuschließen (4.2). Klopstocks Werk zeichnet eine bestimmte Temporalordnung aus, die den Verzicht auf schnelle Urteilsbildung unterstützt und dadurch auf eine ebenso extensive wie intensive Auseinandersetzung damit verpflichtet. Dafür wird – vermutlich erstmals in der deutschen Literaturgeschichte – das Konzept des Lebenswerks genutzt, mit dem Klopstock, wie ansatzweise andere Schriftsteller ab der Mitte des 18. Jahrhunderts, das früh_____________ 79
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Zur Zeitinvestition als Vorausetzung einer adäquaten Klopstock-Lektüre vgl. z. B. Stockhausen: Sammlung vermischter Briefe, S. 16ff.; generell zum Vorwurf der Unverständlichkeit vgl. Küster: Das Problem der „Dunkelheit“ von Klopstocks Dichtung, insbes. S. 25ff. – der Vorwurf der „Schwerständlichkeit“ gegenüber Haller erweitert sich bei Klopstock zum Vorwurf der „Unverständlichkeit“ (eba., S. 24, 58). Vgl. dazu und zur Akzeptanz von Lektüre-„Mühe“ in der Klopstock-Kritik Küster: Das Problem der „Dunkelheit“ von Klopstocks Dichtung, S. 58f., 65ff. Vgl. zur Verzeitlichung der Urteilsfindung über Jahre Klopstocks Journalbeitrag Von dem Publiko (Sämmtliche Werke. Bd. 10, S. 302ff.) (4.2 a).
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aufklärerische Autormodell überwindet82 (4.2 a; 5.2 b; 5.4.1): Klopstock hat kein Jugendwerk, daß es abzulegen und in einem Akt tiefgreifender Selbstkritik zu verabschieden gilt, und im Alter versiegt auch nicht seine poetische Schaffenskraft, so daß an die Stelle des literarischen Werks die weise Lebensführung des vom ‚Autor‘ wieder zum ‚Menschen‘ gewordenen Schriftstellers bzw. das Ende der schriftstellerischen Karriere treten müßte. Im Gegenteil: Klopstock hat ein Alterswerk und einen entsprechenden Altersstil, der ihn unverkennbar macht und seinen Zeitgenossen doch immerhin als Ärgernis und als Tendenz zunehmender Enigmatik, Verkürzung und Verdichtung auffällt; er hat ein Jugendwerk, nämlich einen Teil der Oden und die frühen Fassungen des Messias, die genug Möglichkeiten bieten, eine Entwicklung zu konstruieren, eine Entwicklung, die zudem mit der vaterländischen Wende, den freirhythmischen Formen und den selbsterfundenen Metren eine spektakuläre Form annimmt.83 4.1.2 Ästhetik des Plans: Detailismus und Ganzheitsverlangen Für Klopstock stellt der Messias sein Hauptwerk dar, auch wenn das Publikum sich im Lauf der Zeit mehr für die Oden interessiert. Er arbeitet sein ganzes Autoren-Leben über, also mehr als ein halbes Jahrhundert lang, an diesem Epos. Die eine Hälfte der Zeit braucht er, um den Messias zu verfassen, die andere, um das Werk zu verbessern.84 Stellt man zunächst einige bodenständige Gründe zurück, wie etwa das Problem, daß Klopstock bei Vollendung des Messias seine dänische Pension, die er ja nie als Förderung seiner Person, sondern des Messias-Projekts und damit der religiösen Bildung verstanden wissen wollte (vgl. z. B. KB 1, 137), in _____________ 82 83
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Vgl. Verf.: Die Entstehung von Tiefsinn im 18. Jahrhundert. Vgl. Cramer in den Tellow-Fragmenten (TH 103, 235) sowie in Klopstock. Er; und über ihn (C II, 83). Hottinger schreibt 1789 in seinem Versuch einer Vergleichung der deutschen Dichter mit den Griechen und Römern über Klopstocks späte Gedichte: „Die feierliche Dämmerung der frühern Oden hat sich hier in dunkle Nacht verwandelt: und die Fackel, welche diese Nacht erleuchten mag, hat der Dichter für sich behalten“ (zit. nach KB 8, 735). Vgl. auch Eberts Bemerkung zur dichterischen Perfektionierung im Blick auf den Messias (KB 6, 15). Zur Ausdifferenzierung eines Generationenbewußtseins über Klopstocks Werk vgl. Quabius: Klopstock und die Jugend, S. 35ff.; zur „Dunkelheit der späten Dichtung Klopstocks“ vgl. Küster: Das Problem der „Dunkelheit“ von Klopstocks Dichtung, S. 118ff. Vgl. im kurzen Überblick Höpker-Herberg: Nachwort, S. 235. Zur Bearbeitung der Oden vgl. Klopstocks Bemerkung in Anspielung auf Horaz’ Ars Poetica (V. 388f.), Oden, die „nicht neun Jahr alt geworden“, nenne er „unvollendet“. Zu einer geplanten OdenAusgabe schreibt er: „[...] ich fange nun auch nach und nach an zu glauben, daß sie genug Olympiaden des Durchsehens auf dem Rücken haben“ (6. Januar 1767 an Denis; KB 5, 2).
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Gefahr sehen konnte oder daß Fortsetzungen und Veränderungen im Verlagsgeschäft eine wirtschaftlich relevante Praxis darstellen (4.1.3 a), bleibt in erster Linie übrig, daß Zeitverbrauch Anspruch markiert: Die spezifische „Langsamkeit“ des Arbeitstempos entspricht dem Level des zu bewältigenden literarischen Schwierigkeitsgrads und markiert die „Religion gegen den Inhalt“ sowie die „Hochachtung für die Welt“ (KB 2, 132; KB 3, 6).85 Die allmähliche Verfertigung und Herausgabe der Gesänge (ebenso wie die Verbesserung) bietet die Möglichkeit, Zeitverbrauch sichtbar zu machen. Man ist dabei weniger als bei einem schlagartig komplett vorliegenden Werk auf das Phantasma vollkommener Durchbildung angewiesen. Dessen Zeitverbrauch läßt sich lediglich an der Ganzheitlichkeit ablesen, die der Willkür des kritischen Perspektivismus ausgeliefert ist (2.1). An der Willkürlichkeit des kritischen Perspektivismus ändert sich selbstverständlich auch bei Klopstock nichts. Aber er zwingt die Kritiker dazu, diese Willkürlichkeit zu reflektieren, weil Urteile zunächst nur unter Vorbehalt gefällt werden können. Eine ‚Schönheit‘ kann im Kontext des nur erschließbaren Ganzen immer auch ein ‚Fehler‘ sein, ein ‚Fehler‘ in Wirklichkeit eine ‚Schönheit‘. Das Einsatzrisiko von Klopstocks ‚Langsamkeit‘ läßt sich daran ermessen, daß Dauer als Produktionsmodus kein schlicht kommensurables Zeitverhalten darstellt, nicht einmal für Klopstock selbst. Denn sein anfängliches Bemühen um die Unterstützung Bodmers begründet er nicht mit Zeitdauer, sondern mit Zeitknappheit: Vermutlich sei ihm nur eine kurze Lebensspanne zugemessen, daher müsse man ihn für die Produktion seines Epos auch von anderen Verpflichtungen frei halten (KB 1, 14). Offenbar geht ihm das andere Argument eines langen Lebens und eines per se langen Produktionsprozesses noch nicht so leicht wie später von den Lippen, selbst wenn es prinzipiell zur Verfügung steht.86 Bodmers spätere Reaktion, deren gereizter Ton sicherlich viele Ursachen hat, zeigt, daß Klopstocks Vorsicht begründet ist: Die Messiade hat eine Menge Verehrer und Freunde, die auf ihr langsames Ende nicht warten können [...]. Und wie sehr würde der Ruhm des Poeten bei der Nachwelt verkürzt werden, wenn ihm selbst etwas Menschliches begegnete, bevor er sein Werk vollendet hätte! Wenn es [das ‚epische Gedicht‘, S.M.] unvollendet bliebe, so könnte man nicht sagen, daß er ein vortreffliches episches Gedicht geschrieben; man könnte nur sagen, daß er die Talente dazu in seiner Gewalt gehabt hätte. (KB 2, 405)
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Vgl. im Arbeitstagebuch auch die Äußerungen zur Kombination aus schneller Erfindung und langwieriger Ausarbeitung (KA 2, 14, 64; zum Thema auch KW 4/3, 204f.). Vgl. die Ankündigung Hagedorns in einem Brief an Bodmer, Klopstock werde „Jahre[ ]“ brauchen (Klopstock: Der Messias. Gesang I-III, S. 170), sowie Klopstocks Brief an Haller, bei dem er auf Verständnis für einen langen Arbeitsprozeß hoffen konnte (KB 1, 15).
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Wie also bringt Klopstock seine Leser dazu, sich Zeit für ihn und sein Werk zu lassen? Einen ersten Anlauf unternimmt Klopstock 1745 in seiner Schulabschiedsrede Declamatio qua poetas epopoieae auctores recenset in Pforta,87 die als eine Art Testlauf temporalisierender Gedankenfiguren für ein begrenztes Publikum gelesen werden kann. Die Abschlußrede behauptet erstens die „Göttlichkeit“ der Dichtkunst und umreißt zweitens das Epos poetologisch als Krone der Poesie. Drittens konstatiert sie in einem Durchgang durch die Epen der griechischen und römischen Antike sowie der unterschiedlichen Nationalliteraturen der Neuzeit von Italien bis Belgien deren Defizienz – entweder disqualifiziere die vorliegenden Epen ihre mangelhafte literarische Qualität oder sie seien literarisch vorbildlich wie die Epen Homers oder Vergils, dann aber fehle ihnen das christliche Sujet. Schließlich formuliert Klopstock vor diesem Hintergrund die Chancen des bislang epenlosen Deutschland: Durch die Sache selbst, durch ein groszes unvergängliches Werk müszen wir zeigen was wir können! O wie wünscht ich, es würde mir so gut, dieses in einer Versammlung der ersten Dichter Deutschlands zu sagen! [...] Wofern aber unter den jetzt lebenden Dichtern vielleicht keiner noch gefunden wird, welcher bestimmt ist, sein Deutschland mit diesem Ruhme zu schmücken, so werde geboren, groszer Tag, der den Sänger hervorbringen und nahe dich schneller, Sonne, die ihn zuerst erblicken und mit sanftem Antlitze beleuchten soll! [...] Möge das ganze Feld der Natur ihm sich eröffnen und die ganze, Andern unzugängliche Grösze der anbetungswürdigen Religion! Selbst die Reihe der künftigen Jahrhunderte bleibe ihm nicht gänzlich in Dunkel verhüllt und von diesen Lehrern werde er gebildet, des menschlichen Geschlechts, der Unsterblichkeit und Gottes selbst, den er vornämlich preisen wird, wert!88
Klopstocks Überbietungsstrategie, die noch Milton durch die Verschiebung des Stoffs vom alten zum neuen Testament auf den zweiten Platz verweist, läßt sich in die Tradition der schulischen Redeübungen und der aemulativen Anlage der rhetorischen Dichtung einbetten89, und weder der literaturhistorische Rückblick noch der Entwurf einer ‚heiligen Poesie‘ stellen Klopstock an sich ein besonderes Zeugnis aus.90 Gleichwohl reicht die bloße Feststellung von Versatzstücken der Literaturgeschichte noch nicht aus, um die spezifische Funktion und den konkreten Ort in der Semantik kritischer Kommunikation zu bestimmen. Hier scheinen mir zwei Momente von Bedeutung zu sein: erstens Klopstocks Anspruch auf Visi_____________ 87 88 89 90
Vgl. zur Abschlußrede im Kontext des Konzepts der ‚heiligen Poesie’ Jakob: Heilige Poesie, S. 111ff. Klopstock: Abschiedsrede, S. 135f. Pape: Klopstock, S. 61ff.; Jacob: Heilige Poesie, S. 112ff. Die literaturhistorischen Beispiele konnte Klopstock bei Morhof und Gottsched finden (Boetius: Nachwort, S. 403); als Beispiel einer dezidiert christlichen Poetik vgl. z. B. Sigmund von Birkens Teutsche Rede-bind und Dicht-Kunst (1679).
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bilisierung verborgener religiöser Dimensionen, zweitens sein paradoxerweise von einer extremen futurischen Orientierung geprägtes Traditionsverhalten. Klopstock konzeptionalisiert die Wahrnehmung der „Religion“ als räumliche Wahrnehmung. Die Fähigkeit, in Bedeutungsweiten zu sehen, die andere nicht sehen („die ganze, Andern unzugängliche Grösze der anbetungswürdigen Religion“), läßt sich geistesgeschichtlich naheliegend auf die pietistische Bibelhermeneutik und die Unterscheidung von ‚Kern‘ und ‚Schale‘ beziehen (3.2.1); sie hängt insofern intrinsisch mit dem Konzept der ‚heiligen Poesie’ zusammen.91 Im Kontext der kritischen Kommunikation des 18. Jahrhunderts bekommt diese Visibilisierung einen spezifischen Irritationssinn, weil sie im literarischen Feld, auf dem Klopstock sich, gewollt oder nicht, bewegt, auf einen hermeneutischen Perspektivismus trifft, der Deutungskompetenzen mit Deutungskomplizierungen kombiniert: Die dreidimensionale Konzeptionalisierung des literarischen Werks entfaltet einen Bedeutungsraum, der die Vorstellung von Tiefsinn anregt. Schrift läßt sich ‚aus dieser Perspektive‘ von vielen Standpunkten betrachten. Wenn man ein Werk folglich stets nur teilweise sehen kann, bleibt die eigene Sichtweise per se perspektivisch gebunden. Man muß den Blick richtig justieren. Genau dafür aber gibt es keine Vorgaben. Bodmers Lösung behilft sich im Fall Miltons mit einem letztlich dezisionistisch begründeten Autorvertrauen, dem die nicht minder dezisionistische Entscheidung darüber vorausliegt, ob sich ein Autor überhaupt als kritisierbar bzw. „der Critick ernsthafter Kunstrichter würdig“ erweist (3.2.2).92 Entscheidend ist: Die Entfaltung eines Werkkörpers und eines Bedeutungsraums schränkt die Analyse ein, weil bei einem Körper nicht alle Seiten zugleich gesehen werden können, und sie erweitert die Analyse, weil diese nun deutlicher mit Zeitverbrauch arbeiten kann. Visibilisierung und die entsprechende Perspektivität führen also genau zum zweiten Punkt, der Temporalität von Klopstocks literarischem Koordinatensystem. Klopstocks Temporalordnung dominiert eine geradezu eschatologische Perspektive. Dies gilt zum einen für das zutiefst irritierende Schülerverhältnis zu Lehrern „künftige[r] Jahrhunderte“, das im Grunde nichts anderes als eine radikale Verabschiedung von Schulpforta bedeutet („Selbst die Reihe der künftigen Jahrhunderte bleibe ihm nicht gänzlich in Dunkel verhüllt und von diesen Lehrern werd er gebildet“). Zum anderen gilt dieser Entwurf einer Literaturgeschichte der Erlösung für die Erwartung eines künftigen Dichters, der das bislang defiziente und sich nur _____________ 91 92
Hirsch: Geschichte der neueren evangelischen Theologie. 2. Bd., S. 169ff. Bodmer: Vorrede, unpag.
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tentativ ankündigende Epos der Deutschen endlich verwirklicht.93 Daß beides, die Verabschiedung der vorhandenen Wissensbestände in der Hinwendung zu den zukünftigen „Lehrern“ sowie die Orientierung an einem zukünftigen Dichter, zusammengehört, ließe sich nicht allein an Bodmers Hinweisen auf einen kommenden jungen Poeten und vor allem auf einen kommenden Ependichter im Charakter der Teutschen Gedichte (ca. 1734ff.) verdeutlichen. Fatalerweise könnte man auch Gottsched als Gewährsmann anführen: Er nimmt Bodmers poetische Literaturgeschichte, nachdem noch einige lobende Verse über ihn eingeschoben worden waren, 1738 in die Critischen Beyträge auf94 und versucht insgesamt die kritische Kultur als eine nicht-traditionale Kultur neu zu fundieren (3.1.1).95 In der Critischen Dichtkunst äußert er einen Wunsch, dessen Erfüllung er sich in Gestalt Klopstocks wohl kaum erhofft haben dürfte: Die Reime haben uns in den andern Arten genug zu schaffen gemacht: in dieser neuen [des ‚heroischen Sylbenmaaßes‘, S.M.] müßten wir das Herz fassen, endlich einmal reimlose Verse zu machen. [...] Meines Erachtens fehlt nichts mehr, als daß einmal ein glücklicher Kopf, dem es weder an Gelehrsamkeit, noch an Witz, noch an Stärke in seiner Sprache fehlet, auf die Gedanken geräth, eine solche Art von Gedichten zu schreiben; und sie mit allen Schönheiten auszuschmücken, deren sonst eine poetische Schrift, außer den Reimen, fähig ist. Denn wie Milton in England ein ganz Heldengedicht ohne alle Reime hat schreiben können, welches itzt bey der ganzen Nation Beyfall findet [...]: so wäre es ja auch im Deutschen nicht unmöglich, daß ein großer Geist was neues in Schwang brächte.96
Tatsächlich reagiert Gottscheds Eingriff in die Auseinandersetzung um Klopstock nicht nur darauf, daß „viele meine unmaßgebliche Gedanken, von der neumodischen Art epischer Gedichte, zu wissen verlanget“, sondern auch darauf, daß „andre [...] gar mich, und meine Schriften zum Vortheile derselben anzuführen beginnen“.97 Erneut besetzt der Kritiker keine weniger vakante Position im literarischen Feld als der Autor.98 _____________ 93 94 95 96 97
Zu typologischen Figuren in der Abschlußrede vgl. Jacob: Heilige Poesie, S. 122. Zur Publikationsgeschichte des Gedichts vgl. Baechtold: [Vorwort], S. IVff. Vgl. Verf.: Gründlichkeit. Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst, S. 397. Vgl. zur Diskussion um das Heldengedicht bei Gottsched und in seinem Umkreis Ball: Moralische Küsse, 200ff., 278, 299 (konzertierte Aktion). So in der Einleitung zu Herrn Prof. Joh. Chr. Gottscheds bescheidenes Gutachten, was von den bisherigen christlichen Epopoeen der Deutschen zu halten sey? (in: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit. Wintermonat 1752, S. 62-74, S. 62) – in seinem Gutachten, von der heroischen Versart unsrer neuen biblischen Epopoeen verweist Gottsched für die Empfehlung eines deutschen Hexameters sowie reimloser Verse auf seine Critische Dichtkunst, noch einmal vermutend und bedauernd, er selbst könnte an dem „itzigen Unwesen in dieser epischen Versart“ Schuld sein (ebda. Lenzmonat 1752, S. 208ff.). Gottsched reagiert damit auf Johann Heinrich Stuß’ Festschrift „prolusio de novo genere poeseos Teutonicae rhythmis destitutate“ von 1751 (Muncker: Lessings persönliches und literarisches Verhält-
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Bereitet Klopstock also mit seiner Schulabschlußrede sein literarisches coming out vor? Hat er wirklich, wie er das später behauptet, den „Plan“ seines Epos schon als Schüler in der Tasche (KB 1, 181)?99 Die entscheidende Frage jedenfalls mußte für Klopstock nicht zuletzt wegen der Bemühungen um eine Pension oder um Subskribenten (4.1.3) sein: Warum sollte irgend jemand glauben, er sei gleichsam der Messias der Literaturgeschichte? Verständlich wird das nur, wenn man sieht, wie sensibel die kritische Kommunikation auf Fragen des ‚Plans‘ reagiert hat bzw. wie die Diskussion um den ‚Plan‘ die diskursiven Schaltstellen der kritischen Kommunikation berührt. Für die Öffentlichkeit bereitete zunächst Johann Jakob Bodmer dem Vertrauen in die Zukunft des jungen Messias-Autors den Boden. Seine publizistische Umtriebigkeit sorgt für die Bekanntheit des Epos-Projekts bzw. für den Streit darum. Daß Klopstock in Bodmer den „Evangelist[en] meines Mess“ sieht, leuchtet jedenfalls ein (KB 1, 51, 182, 424; KW 4/3, 197). Man darf indes nicht vergessen, daß Bodmer Klopstocks Zeitmanagement nur mit Widerständen akzeptiert und deswegen letztlich keine unproblematische Partnerschaft zu seinem Protegé unterhält (4.1.2), daß aber intrikaterweise zugleich der Mentor von seinem Protegé abhängt – ohne ‚Messias‘ gibt es keine ‚Evangelisten‘. Selbst wenn die ‚Evangelisten‘ den ‚Messias‘ in seine Rolle hineinschreiben, bleibt für sie nur die Position eines Vermittlers des ‚Mittlers‘. _____________ 98
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nis zu Klopstock, S. 32). Vgl. auch den diesbezüglichen Einschub in der 4. Auflage der Critischen Dichtkunst (CD III, 74f.). Klopstock legt, und mehr können diese wenigen Beispiele nicht zeigen, eine Fülle von Anschlüssen, deren Funktion sich aus dem Netz der aktuellen Bezüge heraus versteht und die sich vor allem nicht einfach auf der Programmebene finden. Nur so auch erklärt sich die abschließende Pointe von Klopstocks Schulabschlußrede, die an die poetologische Exkursion in der Gratiarum actio ein Gotteslob, ein Herrscherlob, ein Lehrerlob und ein Lob der Mitschüler anschließt. Letzteres stuft sich nach den wenigen ab, die er wegen ihrer außerordentlichen Geistes- und Herzensbildung „geliebt“ habe („amavi“), nach den Mittelmäßigen, aber Bemühten, die er „geschätzt“ habe („faci“), sowie nach den „Geistesschw[a]che[n]“, die er immerhin nur zum Teil „gehaszt“ habe („odio“). Auch diesen wolle er danken, „denn sie haben mich die Ungestalt der Feler desto heller einsehen gelehrt“ (Klopstock: Abschiedsrede, S. 144). Diese abschließende Reihung läßt sich mit den Aufgaben der schulischen Übung im genus demonstrativum, also mit laudatio, vituperatio und comparatio (Quintilian: Ausbildung des Redners, II 4, 20f.), verrechnen, aber ebenso bleibt ein semantischer Mehrwert für eine Einstellung auf Negativität, denn immerhin verläuft die klimaktische Bewegung auf die Fehler zu und dient nicht umgekehrt teleologisch der besonderen Erhöhung des Lobenswerten. Am Ende der Rede heißt es: „Du endlich Pforte [...]. Ewig werde ich mich deiner mit Dankbarkeit erinnern und dich als die Mutter jenes Werkes, das ich in deiner Umarmung durch Nachdenken zu beginnen gewagt habe, betrachten, verehren!“ (Klopstock: Abschiedsrede, S. 144).
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Das Epos fiel demnach in Zürich um 1750 auf fruchtbaren Boden. Diese positive Reaktion ergibt sich nicht zuletzt daraus, daß Bodmer an eine umstandslose Verwertung des Epos für die eigene Parteipolitik glaubte.100 Das zentrale Problem bestand darin, wie unter der Prämisse der aufklärerischen Ganzheitstheorie mit einem Werk umgegangen werden konnte, das zunächst und – wie sich bald herausstellen sollte – für längere Zeit nur als Fragment vorlag. Den Lesern blieb zunächst nur eines übrig: zu warten, und es ist erstaunlich, wie umstandslos sie zur Unterdrückung des Urteilstriebs in der Mitte des 18. Jahrhunderts bereit waren. Immer wieder suspendieren sie ihre Einschätzungen durch den Verweis, letztlich ließe sich nur das ganze Werk kritisieren.101 Weder der Geschmack, der mit großer Geschwindigkeit sein Urteil fällt102, noch die ‚gründliche Kritik‘, die in der Gottschedschen Variante von der Dominanz des Lesers über den Autor und in der Bodmerschen Variante von der unproblematischen Wirksamkeit ausging, waren auf diese Irritation der Zeitordnung angemessen vorbereitet. Klopstock provoziert die aufklärerischen Autor- und Werkkonzeptionen mithin durch die extreme temporale Streckung der literarischen Gestaltung. Der Messias-Verteidiger in Stockhausens Sammlung von Briefexempeln kündigt daher an, die Fertigstellung des Epos werde noch lange dauern, man müsse sich jedoch um Klopstock nicht sorgen103 – das aber schreibt man nur über jemanden, um den man sich sehr wohl begründet Sorgen machen kann. Die äußerst gedehnte Entstehungszeit setzt damit kritische Energien frei und bringt den Perspektivismus sowie die Virtuosität der Meinungsbildung auf eine wegweisende Art ins Spiel der literarischen Kommunikation, weil alle Urteile mit einem Zeitindex versehen werden. Die Offenheit des Messias wirkt als Katalysator für die kritische Kommunikation sowie für die Formierung von Autorschaft und Werkpolitik, und dies so sehr, daß der Fortgang des Epos das Publikum im Laufe der Zeit immer weniger interessierte und seine tatsächliche Fertigstellung _____________ 100 Vgl. Bodmer an J.E. Schlegel am 2. September 1747 zu Klopstock als Katalysator für die Milton-Rezeption (s.u.): Klopstock: Der Messias. Gesang I-III, S. 172. 101 Vgl. z. B. Meier: Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias. Erstes Stück, S. 7f.; [Heß]: Zufällige Gedanken über das Heldengedicht der Meßias, S. 8f.; Hagedorn an Bodmer, 10. April 1747 (Klopstock: Der Messias. Gesang I-III, S. 170). In diese Richtung deutet 1797 schon Benkowitz: Der Messias von Klopstock, S. 4f.: „Die Kritiker, welche in der Mitte dieses Jahrhunderts, nach Erscheinung der ersten Gesänge, darüber schrieben, haben alle die gerechte und vollwichtige Entschuldigung, dass man über das Ganze eines Werks nicht eher urtheilen kann, als bis es vollendet sey, und lassen sich also bloss auf Zergliederung der einzelnen Theile ein“. 102 Interessanterweise bringt Klopstock den Geschmack in seinem Aufsatz Von dem Range der schönen Künste und der schönen Wissenschaften (1758) zum Nachsinnen (Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 213). 103 Stockhausen: Sammlung vermischter Briefe, S. 30.
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von deutlich geringerer Relevanz war als sein Beginn unter der Perspektive eines unbestimmten Produktionsprozesses und einer nur imaginierbaren Vollendung. Die Herausforderung Klopstocks gilt insbesondere für diejenigen Maximen, die auf Herausbildung eines mit sich selbst identischen Schriftstellers und eines entsprechend geordneten Werks hinauslaufen. Behandelt wird dieses Moment unter den Stichworten „Plan“ und „Grundriß“. Die Theorie vom „Plan“ oder „Grundriß“ eines Gedichts erklärt sich aus der traditionellen Theorie der ästhetischen Ganzheit, wie sie etwa Horaz’ literarische Maßgaben „simplex“ und „unum“ formulieren.104 Im 18. Jahrhundert bestimmen die Bedingungen für ein ganzheitliches Werk105 insbesondere Argumente, die eine ganze Generation von Kritikern, darunter nicht zuletzt Gottsched und Bodmer, aus Christian Wolffs Philosophie der „Gründlichkeit“ und „Vollkommenheit“ entlehnen: Alles, was ist, hat seinen „Grund“ und läßt sich aus diesem „Grund“ und aus seiner Funktion für den Zusammenhang des Ganzen erklären. Daraus ergibt sich sowohl ein Blick, der sich für die übergreifenden Beziehungen interessieren muß, der gewissermaßen ganzheitskompetent ist, als auch ein Blick, der jedem Detail Aufmerksamkeit schenkt, weil kein Teil unnötig für die Vollkommenheit des Ganzen ist. Freilich kann man von einer gewissen Dominanz des ‚Ganzen‘ über das ‚Teil‘ ausgehen, insbesondere was die Idee der ‚besten aller möglichen Welten‘ betrifft. Diese Anforderungen werden indes insoweit entschärft, als die vollkommene Perspektive für die Wahrnehmung der Vollkommenheit ohnehin letztlich nur Gott zukommt, der Mensch also per se standpunktgebunden agiert.106 Welche Zeichen erhält der beschränkte Beobachter aber, um sich von der Vollkommenheit des Ganzen überzeugen zu können? Ihm bleibt nur die Möglichkeit, die Verknüpfungen ausschnittweise wahrzunehmen und – Kontinuität als Prinzip voraussetzend – vom Teil auf das Ganze zu schließen, aber eben immer unter Fehlbarkeitsvorbehalt.107 _____________ 104 Horaz: Satiren und Episteln, S. 236, V. 23. Generell zu den Ganzheitsvorstellungen, die sich mit dem Buch und seiner Lektüre verbinden, Danneberg: Die Anatomie des TextKörpers und Natur-Körpers. 105 Vgl. für die Diskussion poetischer Texte zum Lehrgedicht Siegrist: Das Lehrgedicht der Aufklärung, S. 70ff. 106 Wolff: Vernünfftige Gedancken Von der Menschen Thun und Lassen, S. 31ff. In dieser Linie liegt auch Dieter Kimpels Wolff-Interpretation, die hier eine Gelenkstelle in der Diskussion um den „Geschmack“ im 18. Jahrhundert sieht: Christian Wolff und das aufklärerische Programm der literarischen Bildung, insbes. S. 209f. 107 Wolff: Vernünfftige Gedancken Von den Absichten Der natürlichen Dinge, S. 34ff. – hier zeigt sich auch, wie die teleologische Perspektive durch die Etablierung von Negativität, also durch die Etablierung eines positiven Verständnisses von Wandelbarkeit, überwunden wird, wenn Wolff über die Verbesserung bemerkt: „Ich wil nicht hoffen / daß jemanden dieses anstößig vorkommen werde / wenn wir behaupten / GOTT haben von Ewigkeit
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Für die literarische Kommunikation bedeutet diese Philosophie der Gründlichkeit zweierlei: Zum einen setzt die von Wolff inspirierte Ganzheitsästhetik Autoren unter Druck, weil sie auch die kleinsten Teile in ihrer Kontrolle haben müssen, und sie belastet Kritiker, weil alles potentiell relevant sein kann. Zum anderen erleichtert die Ganzheitsästhetik Autoren, weil Bezüge nicht gesehen, sondern konstruiert werden und damit ein gewisses Maß an Virtualität in die Ganzheitsbildung eingeht, und sie entlastet Kritiker, weil eben diese Virtualität der Ganzheitsbildung ihnen die Möglichkeiten des kritischen Perspektivismus eröffnet (3.1.1 u. 3.2.1). Für das Epos hat Bodmer die Bedeutung des „Plans“ hervorgehoben. In Grundriß eines epischen Gedichtes von dem geretteten Noah in der Sammlung Critischer, Poetischer und anderer geistvollen Schriften von 1742 gibt er in Nachfolge der „trefflichsten Kunstrichter“ die Parole aus, die „Schönheiten“ lägen in der „Zusammensetzung des gantzen Werkes“, die „Ausbildung eines jeglichen absonderlichen Stükes“ sei demgegenüber von geringerer Bedeutung für die Einschätzung und Beurteilung. Dies versteht sich vor allem auch als Replik auf die Einzelstellenpoetik der Barockdichtung (3.1.2).108 Der Dichter, so Bodmer, „solle sich nicht allzu sorgfältig um die Ausschmückung und den Zierrath bekümmern, und nicht so sehr besorgt seyn, daß man hier und dar ausruffe, was vor ein zierlicher Vers! als daß man nach Durchlesung des gantzen Gedichtes sage: Wahrhaftig ein schönes Werk!“. Folglich geht es vornehmlich um die richtige Platzierung der Elemente im Gefüge des Ganzen mit dem Blick auf eine übersichtliche „Haupthandlung“ (SCPS 4. St., 1). Diese Werkästhetik betont die inventio, die „Erfindungskraft“ als „wahre[n] Grundstein der Poesie“, und ist damit auch in besonderem Maß produktionsästhetisch fixiert. „Erfindungsgabe und Ordnungs=Talent“ – beides rückt den Autor und sein Werk in den Vordergrund und dient der Erwartungserregung einerseits und einer gleichsam divinatorischen Vorurteilsbildung andererseits: Es ist nichts mehrers nöthig, einen fertigen Leser auf die Spur zu führen, was er sich in Ansehung dieser beyden vornehmsten Eigenschaften in einem Gedichte
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her diese Verknüpffung [der Dinge in der Welt, S. M.] feste gestellet / wie die Dinge aus einander kommen sollen / und nun nicht nöthig / daß er wie ein Künstler / der sein Werck selbst nicht völlig kennet / noch alle seine Zufälle vorher sehen kan / etwas darinnen ändere“ (ebda., S. 25). Zur Tradition des Problems von der Unerkennbarkeit der Schönheit des Teils aufgrund perspektivischer Beschränkung ausgehend von Augustinus vgl. Danneberg: Die Anatomie des Text-Körpers und Natur-Körpers, S. 72f. – Die Demut, die der Gläubige Gottes gegenwärtig unübersehbarem Werk gegenüber aufbringen muß, bringen die Kritiker Klopstocks Werk entgegen, weil dieser durch die zeitliche Streckung ein (zunächst) unübersehbares Werk hervorbringt. 108 Schöberl: „liljen=milch und rosen=purpur“, S. 25ff., insbes. 50ff. Vgl. zum dahinterstehenden theoretischen Problem, wie die Schönheit der Teile gedacht werden kann, wenn das Ganze ebenfalls schön sein soll, Danneberg: Die Anatomie des Text-Körpers und Natur-Körpers, S. 26ff.
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zu verheissen habe, als daß ihm ein Abriß auch nur der ersten Anlage vorgeleget werde. Diese zartgezeichneten Züge fassen das gantze Werk in einen einzigen Gesichtspunct, so daß das Auge des Verstandes dasselbe mit einem Blicke übersehen, und wie die Materialien [...] also die Verbindung derselbigen ohne Mühe wahrnehmen und unterscheiden kann. Die Geschiklichkeit, welche der Poet in der Erfindung der Haupttheile, und Begegnisse, und der Ordnung derselben erweiset, giebt uns daneben zu ermessen, daß Erfindung und Ordnung in den absonderlichen Stüken und Umständen nicht geringer seyn werden. (SCPS 4. St., 2)
Der Leser wird in die göttliche Position des totalen Überblicks gebracht, er bleibt jetzt allerdings insofern menschlich, als er die Teile nicht bzw. noch nicht sehen kann. Beides zugleich, also die wahrhaft göttliche Einsicht in die ästhetische Theodizee als Kombination von Detailismus und Überblickswissen, ermöglicht auch Bodmer nicht. Wie Klopstock mit diesen Vorgaben der ‚Plan‘-Ästhetik spielt, zeigt sich bereits daran, daß er zwar zu den jeweils veröffentlichten Gesängen Zusammenfassungen liefert, diese aber für das Gesamtwerk im voraus verweigert. Bodmer hatte demgegenüber den „Grundriß“ des gesamten Noah-Epos geliefert, um die Erwartung der Leser zu erregen und diese gleichzeitig zu orientieren – das Epos selbst verfaßt er im übrigen innerhalb eines Jahres.109 Erneut irritiert Klopstock mit seinem auf zeitliche Dehnung berechneten und daher die Leser durchaus auch verwirrenden „Plan“ sein literarisches Umfeld: Als Gärtner die ersten Gesänge an Bodmer sendet, ist von einem „Grundplan“ von „ungefehr zwölf Bücher[n], oder einige[n] mehr“ die Rede. Bodmer schreibt später an Schlegel bezeichnenderweise nur von „10 oder 12 Büchern“. Es scheint, als habe er die Informationen, wonach Klopstocks Gedicht „eine Zeit von Jahren erfordern soll“, nicht in ihrer ganzen Tragweite erkannt.110 Johann Heinrich Meister gegenüber macht Klopstock unmißverständlich klar: „Weitere Nachrichten von der Fortsetzung des Meßias kan ich ihnen deßwegen nicht geben, weil ich nicht gesonnen bin von dem Plane des Gedichts etwas in Voraus zu entdecken“ (KB 1, 35).111 Zwar erhält Bodmer ab und zu Einsicht in weitere Zusammenhänge (KB 1, 20), dennoch freut sich der Zürcher Kritiker schon, wenn ihm sein Protegé überhaupt „etwas von seinem Plane“ entdeckt.112 1750 jedenfalls macht er sich dann doch „wenig Hoffnung, daß ich ihr [der „Messiade“, S.M.] Ende _____________ 109 Pape: Klopstock, S. 379. 110 Klopstock: Der Messias. Gesang I-III, S. 169f., 172 – letzteres in einem Schreiben von Hagedorn vom 10. April 1747. 111 Vgl. auch die Antwort auf Christian Wilhelm Beckers Bitte um den „Grundris“ – Klopstock schreibt über sich in dritter Person: „Den Grundris? sagte er, und wenn ihn Bodmer von mir verlangte, so würde er ihn nicht bekommen“ (KB 1, 5). 112 Brief an Sulzer vom 29. März 1749 (Klopstock: Der Messias. Gesang I-III, S. 182).
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erleben werde“.113 Die Vermutung liegt nahe, Klopstock habe anfangs schlicht keinen genauen „Plan“ gehabt (KB 1, 205).114 Aber das erklärt noch nicht, warum er darauf vertrauen konnte, mit seiner Geheimhaltungsstrategie eine erfolgversprechende Position zu beziehen. Daß für Klopstock der ‚Plan‘ eine besondere Bedeutung hat, läßt sich – abgesehen von den Reflexen in der Abschlußrede115 – an mindestens zwei Momenten festmachen: Zum einen stellt er – wie erwähnt – in den Messias-Ausgaben von 1751 bis 1773 jedem Gesang eine kurze Inhaltsangabe, eine ‚Plan‘-Skizze, voran, zum zweiten steht im Zentrum seiner ersten poetologischen Selbstbeschreibung, des Aufsatzes Von der heiligen Poesie im ersten Band der Kopenhagener Messias-Ausgabe von 1755, eine Theorie vom „Grundriß des Ganzen“.116 Ein erster Anlaß dafür dürften marketingstrategische Überlegungen gewesen sein: Klopstock mußte seine Leser davon überzeugen, daß sich das Warten auf die Fortsetzung des Epos lohnt, daß er das Vertrauen, das die positiven Kritiker in ihn setzten, auch theoretisch beglaubigen kann und daß – wie Bodmer das ja in der oben zitierten Briefstelle despektierlich angemerkt hatte – die zögerliche Vollendung weniger dichterische Mängel als vielmehr besondere literarische Qualität annonciert. Damit aber zielt Klopstocks Theorie vom „Plan“ nicht wie bei Bodmer auf Lektüreerleichterung, sondern auf Lektürekomplizierung. Tatsächlich unterläuft Klopstock auf vielfältige Art Bodmers Theorie vom „Plan“. Dies impliziert vielleicht schon Bodmers Bemerkung in seiner Messias-Kritik im Crito, dankenswerterweise habe Klopstock selbst die Inhaltsangaben verfaßt, dem Kritiker wäre das schwer gefallen: „Ich bekenn, wenn ich den Inhalt hätte liefern müssen, welchen man von einem critischen Rezensent billige erwartet hätte, daß ich diese Arbeit nicht _____________ 113 Brief an Zellweger vom 5. September 1750, zit. nach: Mörikofer: Klopstock in Zürich im Jahre 1750-1751, S. 96. 114 Hurlebusch: Klopstock, Hamann und Herder als Wegbereiter autorzentrischen Schreibens, S. 22f.; KW 7/2, 247f. 115 Das Epos, behauptet Klopstock dort, sei der Erde vergleichbar, die anderen Gedichtarten verhielten sich dazu wie Teile zum Ganzen. Wie die Erde „erscheint“ das Epos nur dann vollkommen, „wen man sie mit Einem Blicke ganz überschaut“, so daß man den, „der ein Heldengedicht hervorbringt, wie einen himlischen Genius, andere Poeten aber [...] für blosze Menschen achte“ (Klopstock: Abschiedsrede, S. 104f.). In seinem Arbeitstagebuch schreibt Klopstock: „Der würde mit der Ausarbeitung zu früh anfangen, der nicht vorher seinen ganzen Plan von neuem übersehn, jeden Theil desselben, und alles überfliessige mit Strenge aus demselben entfernt hätte. [...] Wer einen erhabnen Entwurf am geschwindesten macht, und in ihm am langsamsten ändert; der hat oft den glücklichsten gemacht“ (KA 2, 109) 116 Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 192f. Zu einem detaillierten ‚Nachvollzug’ des Aufsatzes Von der heiligen Poesie vgl. Jacob: Heilige Poesie, S. 135ff.
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als etwas leichtes auf mich würde genommen haben“.117 Wichtig hieran ist die für Bodmer typische Autororientierung. Der „Dichter“ weiß besser als der „Kunstrichter oder Journalist[ ]“, wie das „Ganze“ und der „Zusammenhang“ zu verkürzen und zu perspektivieren ist. Wenn der Autor also selbst die Zusammenfassung übernimmt, lassen sich Verfälschungen vermeiden, die „Schönheiten des Ganzen“ werden nicht „zu schwach angemerkt.118 Anders gesagt: Werkherrschaft und Werkkomplizierung gehen in Klopstocks Praxis des Plans Hand in Hand. Entsprechend läuft Klopstocks Theorie vom „Plan“ in Von der heiligen Poesie auf die Herausforderung der Leser und auf die Abwehr der Kritiker hinaus. In seinem Aufsatz begegnet er den Zweifeln an der Legitimität des Sujets, wie sie z. B. Gottsched in seinem oben zitierten Gutachten geäußert hatte, mit einem Argument aus der pragmatischen Geschichtsschreibung und der Theorie der Naturnachahmung: Der Autor heiliger Poesie gestaltet die in den Quellen sichtbaren Anlagen nach Maßgabe der Wahrscheinlichkeit aus. Damit steigert er die Wirksamkeit seiner Form der religiösen Vermittlung, weil er den Menschen in seiner intellektuellen und sensuellen Komplexität ergreift.119 Ich zitiere den Passus über die „Kunst des Plans“120: Das Schwerste für den Verfasser und den Beurteiler jedes größern Gedichts ist der Grundriß des Ganzen. Das Wesentlichste dieses Grundrisses ist, Einfalt und Mannigfaltigkeit auf eine Art verbinden, die großen Endzwecken angemessen ist [...]. Es ist noch eine gewisse Ordnung des Plans, wo die Kunst in ihrem geheimsten Hinterhalte verdeckt ist, und desto mächtiger wirkt, je verborgener sie ist. Ich meine die Verbindung und die abgemeßne Abwechslung derjenigen Szenen, wo in dieser die Einbildungskraft; in jener die weniger eingekleidete Wahrheit; und in einer andern die Leidenschaft, vorzüglich herrschen: wie sich diese Szenen einander vorbereiten, unterstützen, oder erhöhn; wie sie dem Ganzen eine größre, unangemerkte, aber gewiß gefühlte Harmonie geben. [...] Einige werden diese Anmerkungen über die Kunst des Plans für zu hoch getrieben halten; aber wohl nur diejenigen, die, wenn sie andrer Meinung gewesen wären, den Satz in der Ausübung übertrieben hätten.
Bezeichnenderweise nimmt Klopstock Autor und Kritiker gemeinsam in den Blick („den Verfasser und Beurteiler jedes größern Gedichts“) und leitet seine „Plan“-Theorie mit Ausführungen über den Autor ‚heiliger Poesie‘ und deren Kritik ein: Er [der Dichter, S.M.] bringt uns [...] mit schneller Gewalt dahin, daß wir ausrufen, uns laut freuen; tiefsinnig stehnbleiben, denken, schweigen; oder blaß werden, zittern, weinen. Die Kritik sollte sich fast nicht einlassen, die Ursachen die-
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Crito 1 (1751), 1. St., S. 18. Crito 1 (1751), 1. St., S. 18. Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, insbes. S. 187ff., 194ff. Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 194.
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ser so schnellen und so mächtigen Wirkungen aufzusuchen. Sie sind von so verschiednen Feinheiten, und diese haben ein so mannigfaltiges Verhältnis untereinander, daß es unendlich schwer ist, sie alle mit Richtigkeit zu entwickeln. Und wenn sie entwickelt sind, so untersucht sie der Leser von tiefsinnigem Geschmacke zwar gern; allein der Poet wußte sie schon, und wußte noch mehr, als diese; oder, wenn er auch etwas Neues lernte, so würde er doch nicht mehr Poet dadurch. Überdies sind diese feinen Entwicklungen, die den Faden durch das ganze Labyrinth ziehn, zu sehr der Gefahr ausgesetzt, unrichtig, durch ihre Feinheit, zu werden. Doch etwas davon läßt sich sagen. 121
Klopstock verfolgt offensichtlich eine Strategie der Abwehr oder zumindest der Distanzierung von Autorenkollegen und Kritikern, indem er in der Gestaltung und adäquaten Rezeption des Epos Schwierigkeiten aufzuweisen versucht, die bislang unbekannt waren. In der Logik Klopstocks macht die aufs höchste gesteigerte Komplexität dabei einerseits – wie er an anderen Stellen immer wieder betont122 – den nicht räsonnierenden, bloß empfänglichen Leser bzw. die Leserin zum kompetenten Adressaten und andererseits die „tiefen Kenner[ ]“.123 Auf diese Weise trennt er die primäre von der sekundären literarischen Kommunikation, und er schließt die Kritiker aus: Der Poet wird selbst durch eine innovative und angemessene Kritik „nicht mehr Poet“, als er dies zuvor schon war. Umgekehrt: „Leser von tiefsinnigem Geschmacke“ bleiben „tiefsinnig stehn[ ]“ – sie rezipieren, produzieren aber nicht. Diese Trennung gilt indes nicht für die Entstehungs- bzw. Verhinderungssituation von Autorschaft. ‚Vor der Literatur‘ verschmelzen Produktion und Rezeption in der phantasmatischen Vorwegnahme der Leserreaktionen auf ein noch nicht erfolgtes Schreiben. Für die Maximierung der poetischen Wirkung auf die „Seele“ gilt: „Sie [die Seele, S.M.] bemerkt hier jeden Mißton, auch den feinsten. Wer dieses recht überdacht hat, wird sich oft entschlossen haben, lieber gar nicht zu schreiben“.124 Die Kategorie der ‚Feinheit‘, die wie in den beiden zitieren Stellen in Klopstocks poetologischen und sprachtheoretischen Überlegungen insgesamt eine zentrale Stellung einnimmt, dient der Selektion von Zuständigkeiten. Im ersten Band der Messias-Ausgabe von 1751 richtet Klopstock sich beispielsweise im Vorbericht zur Ode an Ihre Majestät Friedrich den Fünften, König in Dännemark und Norwegen „an den feinern Theil des Publici“, der sich durch einige Hinweise in den Stand gesetzt sieht, „noch _____________ 121 Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 192f. 122 Vgl. dazu Alewyn: Klopstocks Leser, S. 114f.; Quabius: Klopstock und die Jugend, S. 32. 123 So in Vom deutschen Hexameter (Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 60; vgl. auch ebda., S. 101). Dazu für die komplizierte Metrik der 60er Jahre Hilliard: Klopstock in den Jahren 1764 bis 1770, S. 175f. 124 Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 190.
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vieles zu diesem kurzen Vorbericht hinzu zu denken“.125 Eine zwar spätere, aber nichtsdestotrotz aufschlußreiche Explikation des Begriffs liefert Sulzers Artikel „fein“ in der Allgemeinen Theorie der Schönen Künste von 1771: Man nennt im eigentlichen Verstand dasjenige fein, was in seiner Art zwar bestimmte und klare, aber nicht starke Eindrüke auf die Sinnen macht, so daß schon scharfe Sinnen zu bestimmter Empfindung desselben erfodert werden, wie ein feiner Ton, ein feiner Geruch, ein feiner Faden. Im figürlichen Sinn nennt man also dasjenige Fein, was eine etwas scharfe Vorstellungskraft erfodert, um den gehörigen Eindruk zu machen; was denen, die nicht genau aufmerken, leicht unbemerkt bleibt. [...] Das Feine ist dem Groben entgegen gesetzt, das sich stark fühlen läßt, und auch gröbern Sinnen nicht entgeht. [...] Wo aber die Sachen selbst sehr wichtig, pathetisch, oder sehr ernsthaft sind, da ist das Feine weniger nöthig, und würde auch unnatürlich seyn, weil eine ernsthafte, oder empfindungsvolle Gemüthsfaßung ihm entgegen ist. Das Große, das Pathetische, das Erhabene, kann selten mit dem Feinen verbunden seyn.126
Genau das, was Sulzer – auf den ersten Blick einleuchtend – von einander getrennt wissen will, das „Feine“ und das „Große“, kombiniert Klopstock in seinem Konzept von ‚Feinheit‘. Auf diese Weise verbindet er den Detailismus und den Beziehungssinn der Ganzheitsästhetik, den Sinn fürs Teil wie für die Summe, und die gelungene Verbindung von Element und Totalität läßt sich letztlich nur konstatieren, nicht aber explizieren. Dem entspricht durchgehend127 die Selbstabschließung in der Form von Tautologien oder Verzeitlichungen. Die Ausgestaltung der religiösen Quellen folgt entsprechend inkalkulablen Kriterien: Der Autor ‚heiliger Poesie‘ macht den in den Quellen gegebenen „Grundriss“ zu dem „großen, ausgebildete[n] Gemälde“, das die „Begebenheiten“ einst tatsächlich vorgestellt haben. Der inhaltliche Fokus, das „Innre der Religion“128, bleibt dabei so geheimnisvoll wie in der Schulabschlußrede.129 _____________ 125 [Klopstock]: Messias. Erster Bd., unpag. 126 Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste Bd.1, S. 376. 127 Z. B.: „Dem Verstande legt er am liebsten diejenigen Wahrheiten vor, die gewußt zu werden verdienen, und die nur der rechtschaffne Mann ganz verstehe“ (Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 192). 128 Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 197 – zuvor schreibt Klopstock vom „innern Plane der Religion“ (ebda., S. 189). Klopstock könnte hier an einem analogen Unternehmen arbeiten, wie es die Theorie der Geschichtsschreibung konzipiert. Die „innere“ Geschichte formuliert als Stichwort dort das futurische, „noch“ nicht verwirklichte Projekt einer ganzheitlichen Historiographie, die sich von der vorangegangenen „äußeren“, aggregierenden Geschichtsschreibung absetzt und ihr Zentrum ebenfalls im „Geist“, nicht in den materiell vorliegenden Daten, hat (vgl. zur Herausbildung dieser Idee in der Geschichtsschreibung Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, S. 35ff.). 129 Klopstock erklärt demnach Momente für verbindlich wie die Art der Rede Gottes, die Verbindung von „Würdigkeit“ und „Wahrscheinlichkeit“ der biblischen Personen und Handlungen, der Unausgesprochenheit (oder: Unaussprechlichkeit) des „Geheimnisvol-
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Der Aufsatz Von der heiligen Poesie endet folgerichtig beim Perspektivismus kritischer Kommunikation, dies allerdings auf eine Weise, die die Plausibilität der dahinter stehenden Bildlichkeit zerstört. Im Blick auf die Glaubensintensität als Produktions- und Rezeptionsvoraussetzung bzw. im Blick auf den Autor als besten Leser seiner selbst („Nichts geringers darf derjenige sein, der hier unser ganzes Herz bewegen, und der, welcher hier den Dichter ganz empfinden will“) schreibt Klopstock in einer seiner typischen enigmatischen Schlußwendungen: Der Freigeist und der Christ, der seine Religion nur halb versteht, sehn da nur einen großen Schauplatz von Trümmern, wo der tiefsinnige Christ einen majestätischen Tempel sieht. Und wie konnten jene etwas anders sehn? Denn nicht selten verwandeln sogar kleine Züge, die sie verkannten, den Tempel für sie in Trümmern. Und gleichwohl haben sie, wenn mir diese kühnste unter allen Vergleichungen erlaubt ist, die Mythologie studiert, den Homer zu verstehn.130
Die kompetenten Leser des Messias bilden ihr Urteil unter der eschatologischen Prämisse der Werkvollendung, an die mit größtmöglicher Willkürlichkeit geglaubt wird oder nicht – daß sich durch einen Perspektivenwechsel ein Haus einmal „in Trümmern“, das andere Mal als „majestätische[r] Tempel“ wahrnehmen läßt, ist wenig plausibel.131 Nachdem Klopstock damit den Perspektivismus über die Grenzen der Anschaulichkeit hinausgeführt hat, füllt er die vakante Stelle neu aus. Vier Jahre nach seinen Überlegungen zur ‚heiligen Poesie‘, in den Gedanken über die Natur der Poesie (1759), die substantialistisch die „Gegenstände[ ]“ für poetische Texte und relationistisch den dafür festgelegten „Gesichtspunkt“ bestimmen, nimmt Klopstock vom Gebäude-Bild Abstand und setzt an dessen Stelle das Bild von der englischen Gartenlandschaft132: _____________
len“, das sich mit der „historisch[en]“ Qualität des Geschehens verbindet (Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 196ff.). 130 Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 201. Vgl. zum Motiv des Tempels in den Oden Lee: Klopstock’s Tempel Imagery. 131 Diese Virtuosität der Visibilisierung und Invisibilisierung hat auch Konsequenzen für die Frage nach Klopstocks Religiosität: Die Entbindung der Offenbarung vom genauen Wortlaut, die die Voraussetzung dafür bietet, daß Klopstock sich um den „Grundriß“ bzw. um das „Innere“ der Religion kümmern kann und darin seine poetische Gestaltungsfreiheit findet, hat bezeichnenderweise ihre Pendant in der historischen Bibelkritik der Aufklärung, die die Schrift der Bibel naturalisiert und den einzelnen Autoren in ihrer Menschlichkeit nachspürt (Jacob: Heilige Poesie, S. 149). In Klopstocks Verfahren ist damit die Historisierung der Religion eingelassen, gleich welche Intensität des Glaubens er auch immer behaupten mag; die heilige Poesie ist kein Moment der Regression im einsinnig fortlaufenden Prozeß der Säkularisierung, sondern adäquate Antwort und Effekt dieses Prozesses. Daher zielt auch Joachim Jacob auf die Modernität der ‚heiligen Poesie’, die zwar ein „Entdifferenzierungsprogramm“ verfolge, dies jedoch auf der Grundlage der ausdifferenzierten Kompetenzen der Poesie (Heilige Poesie, S. 220). 132 Diese Entwicklung der Theorieimagination läuft parallel zu einer Abwendung vom Paradigma der Malerei und einer Hinwendung zum Paradigma der Musik (vgl. dazu Benning:
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Es gibt eine Anordnung des Plans eines Gedichts, die einem Gebäude gleicht; und sie sollte einer schönen Gegend gleichen. Der Poet ist kein Baumeister; er ist ein Maler. Ich nenne ihn hier in einem andern Verstande einen Maler, als man diesen Ausdruck gewöhnlich nimmt. Ich rede von ihm, als von dem Zeichner seines Grundrisses. Wie wenig Kunst gehört dazu eine gewisse Symmetrie gerader Linien zu machen. Durch die Zusammensetzung krummer Linien Schönheit hervorzubringen, erfordert eine andre Meisterhand.133
Unabhängig vom Rückgriff auf Elemente der zeitgenössischen Theoriebildung (also z. B. auf William Hogarths Ästhetik der ‚krummen Linie‘) und unabhängig von den vielen kleinen Ablenkungen von einer stringenten Argumentation (Was bestimmt beispielweise das ‚Andere‘ der „Meisterhand“? Wie unterläuft Klopstock die Vorstellung vom Prinzip des ‚ut pictura poesis‘?), unabhängig schließlich auch vom Kontext der BatteuxPolemik, die eine Interpretation noch einmal erschweren würde, scheint mir Klopstock in diesem Passus auf mehrfache Weise seine Ganzheitsästhetik und damit verbunden sein Modell von Werkpolitik zu erweitern: Wenn man die Beobachtung der „schönen Gegend“ von einem Aussichtspunkt aus entwirft, kommt zunächst ein irreduzibles und unabschließbares Spiel der Bezüge hinzu.134 In der Begehung verstärkt sich dieses Moment, weil sich erstens die Erkundung einer „schönen Gegend“ mit fließenden Grenzen zeitlich nicht so gut planen läßt, wie die Erkundung eines Gebäudes, das sich aus einer absehbaren Menge von Elementen zum Ganzen fügt. Zweitens steht es dem Betrachter einer ‚schönen Gegend‘ nicht frei, mehr oder weniger willkürlich seine Perspektiven zu wählen; er wird vielmehr von den abwechselnden Ein-, Durch- und Überblicken überrascht und befindet sich _____________
Ut Pictura Poesis – Ut Musica Poesis; eine ausführliche diachrone Interpretation von Klopstocks theoretischen Schriften in diesem Sinn in dies.: Rhetorische Ästhetik). Frauke Berndt bringt den Wechsel auf die Formel „vom rhetorischen ins ästhetische Register“ (Die Erfindung des Genies, S. 31f.). 133 Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 182. 134 Vgl. z. B. Addison: Remarks on several Parts of Italy, S. 214f.: „Tivoli is seen at a distance lying along the Brow of a Hill. Its Situation has given Horace occasion to call it Tibur Supinum, as Virgil perhaps for the same Reason intitles it Superbum. The Villa de Medicis with ist Water-works, the Cascade of the Teverone, and the Ruins of the Sibyls Temple [...] are described in every Itinerary. I must confess I was most pleased with a beautiful Prospect that none of them have mention’d, which lies at about a Mile distance form the Town. I opens on one Side into the Roman Campania, where the Eyes loses itself on a smooth spacious Plain. On the other Side is a more broken an interurrpted Scene, made up of an infinite Variety of Inequalities and Shadowings that naturally arise from an agreeable Mixture of Hills, Groves and Valleys. But the most enlivening Part of all ist the River Teverone, which you see at about a quarter of a Mile’s distance throwing itself down a Precipice, and falling by several Cascades from one Rock to another, ‘till it gains the Bottom of the Valley, where the Sight of it would be quite lost, did not it sometimes discover itself thro’ the Breaks and Openings of the Woods that grow about it“.
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eher in der Gewalt der Landschaft, als daß er diese in seiner Blickgewalt hätte. Die englische Gartenlandschaft ist zwar das Ebenbild einer liberalisierten Gesellschaft und einer entsprechend sich selbst überlassenen Seelenbewegung, die vom Gängelband ostentativer Machtaustellung im französischen Garten befreit wird.135 Aber diese Befreiung bedeutet nur, daß die Machtverhältnisse unauffälliger geworden sind. Um sich der ‚schönen Gegend‘ ästhetisch und damit angstfrei nähern zu können, muß man sich vor bösen Überraschungen sicher fühlen.136 Das Vertrauen in die Macht des Schöpfers, im Falle der Landschaft also Gottes oder des Landschaftsgestalters als alter deus, gewinnt eine neue, unauffällige, dafür aber umso rigorosere Form. Naturbeherrschung ist zur verdeckten Voraussetzung geworden, aus der sich die ‚natürliche Natur‘ der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dann entfalten kann. Sie geht in die Gewißheit des Betrachters über und muß daher nicht mehr repräsentativ ausgestellt werden.137 Zusammenfassend: Ausgehend von Klopstocks auffälliger Exponierung von Langsamkeit als Produktionsmodus habe ich am Beispiel seiner Schulabschlußrede gezeigt, wie Anspruchssteigerung und Zeitverbrauch zusammenhängen und wie Zeitverbrauch sich mit dem Perspektivismus der kritischen Kommunikation verbindet. Die Virtualisierung von Bezügen, die ‚noch‘ nicht da sind, erzeugt eine zumindest potentiell unbeschränkte Aufmerksamkeit, weil jedes Element sich als wichtig oder unwichtig, schön oder fehlerhaft herausstellen könnte, wenn das Ganze vorläge.138 Klopstocks Spiel mit dem Vorgaben der ‚Plan‘-Ästhetik, speziell sein spezifischer Zuschnitt des Begriffs von ‚Feinheit‘ zeigt, wie die Inszenierung _____________ 135 Bezeichnenderweise wird der französische Garten durch Architekturmetaphorik beschrieben (Baltrušaitis: Imaginäre Realitäten, S. 116). 136 Zum Zusammenhang von Naturbeherrschung und Ästhetisierung von Natur vgl. Schneider: Utopie und Landschaft im 18. Jahrhundert, S. 175, vgl. auch Willems: Anschaulichkeit, S. 260 sowie Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Bd.2, S. 406f. 137 Vgl. dazu die Analyse des 20. Gesangs bei Rößler: Rößler vertraut auf den Ordnungswillen Klopstocks und entdeckt dann eine zyklische Struktur aus sieben ‚Abschnitten’, die ein Grundprinzip mehr oder weniger locker umspielen und deren Grenzen sich nicht mehr genau bestimmen lassen (Theologie als Form, S. 42f.). 138 Ein gutes Beispiel für die Probleme, die eine perspektivengebundene Kritik nicht nur mit der ‚Ganzeit’ eines Werks, sondern auch mit der ‚Ganzheit’ der Werkteile hat, ist der Streit um die Fehlerhaftigkeit oder Perfektion eines unvollständigen Hexameters im Messias, den einige Leser für gewollt und damit ‚richtig’, andere für ungewollt und damit ‚falsch’ halten (KW 4/3, 308; vgl. dazu Lessing: Werke. Bd. 3, S. 100). Vgl. strukturell analog dazu auch die Argumentation von Reichel, der das ‚scheinbar’ zu „Tonvoll[e]“ und „Wohlklingend[e]“ einiger Messias-Verse im Blick auf den jeweils ganzen Gesang verteidigt: Im Kontext gesehen würde auch diese Stellen zu „natürliche[n] Schönheiten“ (Critik Über den Wohlklang des Sylben Maases In dem Heldengedichte der Meßias, S. 21f.).
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des Werks die Selektionsvorgaben der kritischen Kommunikation unterläuft und dadurch Beurteilungsmacht beschränkt wird. Bei der Einstellung auf eine bestimmte Aufmerksamkeit führt der dabei eingeschlagene Weg von der Ordnung der Repräsentation und Machtausstellung zu einer an Diffusität und Unauffälligkeit ausgerichteten Ordnung, und zwar über die Etablierung von Negativität. Klopstock entfaltet seine Autorschaft als kritische Persönlichkeit, indem er ein literarisches Maximalprojekt entwirft und damit die kritische Kommunikationslage verschärft, auf die er reagiert. Im Blick auf die kritische Persönlichkeit als Produzent wie als Effekt einer Kommunikationsordnung kann sich der Beobachter immer entscheiden, ob er die eine oder die andere Seite bevorzugt, ob er Handlungsmächtigkeit oder Ohnmacht notiert. Beides kann auf einer zeitlichen Achse angeordnet werden und ergibt dann eine Biographie. Durch die zeitliche Entfaltung seines Werks macht Klopstock daher unübersehbar deutlich, welchen durchaus in sich widersprüchlichen Standards Autoren und Kritiker genügen müssen. Beide Seiten literarischer Kommunikation, die sich aufgrund der irreduziblen Reflexionsschleifen gar nicht mehr so klar in einer räumlichen Ordnung fixieren lassen, bringen Stabilität und Wandel in ein labiles Gleichgewicht, versuchen die Kontinuitätsforderungen mit faktischer Positionsveränderung zu verknüpfen, indem sie sichtbare Irritationen invisibilisieren und unsichtbare Bestätigungen visibilisieren. Leben und Schreiben findet in der kritischen Kommunikation unter Vorbehalt statt, Ablehnung ist ein Normal-, kein Unfall, kann aber den Tadler ebenso disqualifizieren wie den Getadelten. Es gibt keinen sicheren Standpunkt. Gerade aus dieser Unsicherheit erwächst das Phantasma einer unverbrüchlichen Identität, an der man sich orientieren kann. ‚Vertrauen‘ bzw. der produktive Umgang mit dem Unsichtbaren wird daher zur Kommunikationsprämisse wie bei Klopstocks Überschreibung der architektonisch modellierten durch die gartenästhetisch konzeptionalisierten Ganzheitsästhetik.139 Man kann das gleichermaßen an Bodmers autorzentrischer Lite_____________ 139 Von daher setzt Benning zwar einen wichtigen Akzent, indem sie gegen die Entsubstantialisierung von Klopstocks Poetik auf den tief verankerten Gegenstandsbezug aufmerksam macht (Rhetorische Ästhetik, z. B. S. 19ff.), aber man sollte m. E. auch fragen, was dieser Gegenstandsbezug in einem bestimmten Zustand des literarischen Feldes tatsächlich für eine Rolle spielen kann, oder anders: inwiefern die Rede von einer durch den Gegenstand gesicherten Stabilität gedeckt ist (vgl. zu einer Infragestellung des Klopstockschen Gegenstandsbegriffs von der Theorie des Erhabenen ausgehend Menninghaus: Klopstocks Poetik der schnellen „Bewegung“, S. 349f.; ders.: Dichtung als Tanz, S. 149f.). Gleiches gilt für die Schuldzuschreibung an den Leser, die Klopstock vor einer radikalen Problematisierung von Kommunikation sichert (ebda., S. 21f.), denn: Was sind die Argumente für richtiges und falsches Lesen? Daß es hierbei um relativ willkürliche Zuschreibungen geht, legt z. B. der Streit um Milton nahe und wurde von den Zeitgenossen zumindest teilweise auch so gesehen (3.2.2).
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raturkritik, an den Volten der empfindsamen Freundschaftskultur wie an Klopstocks Entfaltung eines Lebenswerks sehen. Genauigkeit und das Gespür für „Feinheit“ wird hier zur Leserpflicht und läßt sich stets übertreffen. Das macht auf den ersten Blick den Kritiker zu einer freien Urteilsgewalt über den Autor und dessen Werk, aber dies eben nur so lange, wie man ihn nicht gleichermaßen als kritische Persönlichkeit sieht, ebenso krisenhaft wie kritikfähig. Er mag – um es überspitzt zu formulieren – sehen können, was er sehen will, aber eben deswegen kann er auch etwas übersehen. Wenn daher der Autor als ultima ratio des Verstehens eingeführt wird, dann muß das nicht Zeichen einer irgendwie naiven Hermeneutik sein. Der Autor als der Abwesende seines Textes kann auch nur eine jener unsichtbaren Instanzen sein, auf die man vertraut, weil gar nichts anderes übrigzubleiben scheint. Eben dieses Autorvertrauen wollte Bodmer bei Milton installieren (3.2.2). Er war nicht zuletzt daran interessiert, mit Hilfe von Klopstocks Epos das deutsche Publikum auf Milton einzustimmen.140 Der Messias sollte jene Empfänglichkeit erzeugen, die sich auf dem Weg des Sekundären, der Kritik also, nicht einfand, die Bodmer aber brauchte, um die Qualität von Paradise Lost über den gleichsam selbstläuferischen Beweisgang der Wirkung zu bestimmen (3.3.1). Ärgerlicherweise stellen sich beim Messias jedoch dieselben Probleme ein wie bei Miltons Epos. Bodmers Kritik an der fehlenden Bereitschaft von Klopstocks Umfeld, für den Messias einzutreten, habe ich schon erwähnt, und auch Klopstock erkennt, daß die Deutschen deutlich darauf hingewiesen werden müssen, „eh sie nur mercken, daß ein Messias da ist“ (KB 1, 17). Meier wird noch deutlicher: „Man muß die Deutschen gleichsam mit der Nase drauf stossen, wenn sie die Schönheiten fühlen sollen“.141 Dem Unternehmen der Publikumssensibilisierung war auf den ersten Blick kein durchschlagender Erfolg beschieden, jedenfalls schreibt Gleim Jahre später fast gleichlautend: „Unsere Deutschen haben einen Addison der sie mit der Nase auf die Schönheiten im Meßias stoßt, so nöthig als die Engeländer“ (KB 4, 207). Aber noch Anton Reisers Leiden am Messi_____________ 140 An J.E. Schlegel schreibt Bodmer am 2. September 1747: „Ich bin versichert, daß das Gedicht von dem Messias mit einer gewissen Geschwindigkeit zuwegen bringen wird, was die Kritik mit vieler Mühe und in langer Zeit nur halbig gethan, nämlich, den Deutschen einen Geschmack an Milton’s Erfindung und der Hoheit seiner Gedanken beyzubringen“ (Klopstock: Der Messias. Gesang I-III, S. 172) – wie nahe der Milton-Vergleich lag und wie prägend er für die Wahrnehmung von Klopstocks Epos war, wenn man sich mit Bodmer darüber auseinandersetzte, zeigen die Briefe Friedrich von Hagedorns, der fast gleichzeitig mit der Sendung der Bremer Beyträger die ersten Gesänge heimlich nach Zürich schickte (vgl. dazu Verf.: Friedrich von Hagedorn, S. 383f.). 141 Klopstock: Der Messias. Gesang I-III, S. 179.
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as dokumentiert, wie gerade die Wirkungslosigkeit des Messias zu Klopstocks eigentlichem Triumph wird: N.... fand nun einen vorzüglichen Gefallen daran, Klopstocks Messiade Reisern ganz vorzulesen; bei der entsetzlichen Langeweile nun, die diese Lektüre beiden verursachte, und die sie sich doch einander, und jeder sich selber kaum zu gestehen wagten, hatte N.... doch den Vorteil des lauten Lesens, womit ihm die Zeit verging: Reiser aber war verdammt zu hören, und über das Gehörte entzückt zu sein [...] [.] [...] keine Größere Qual kann es wohl geben, als eine gänzliche Leerheit der Seele, welche vergebens strebt, sich aus diesem Zustande herauszuarbeiten, und unschuldigerweise sich selber in jedem Augenblicke die Schuld beimißt, und sich selber ihres Stumpfsinns anklagt, daß sie von den erhabenen Tönen, die unaufhörlich in ihre Ohren klingen, nicht gerührt und erschüttert wird.142
An dieser Stelle ist weniger der wohlfeile Lacheffekt und die Abwertung des Messias interessant, als vielmehr der positive Befund: Selbst diejenigen Leser, die sich nicht automatisch von einem Werk ergriffen fühlen, bekommen dabei ein schlechtes Gewissen.143 Bodmer hatte dasselbe Projekt mit der Propaganda für Milton verfolgt, war damit allerdings gescheitert; Klopstock indes scheint die Selbstverpflichtung der Leser auf ein positives Verhältnis zu seinem Werk in der kritischen Kommunikation verankert zu haben. Im folgenden wird es um eben diese Verfahren der Selbstverpflichtung gehen. 4.1.3 Geld und Geist Die Forderung nach dem „aufmerksame[n] und nachdenkende[n] Leser“ als adäquatem Partner Klopstocks in der literarischen Kommunikation, wie sie positive Kritiken erheben,144 zielt auf einen Rezipienten, der mit potentiellen Bedeutsamkeiten in einem vom Autor eröffneten und durch den Autor beglaubigten Verständnishorizont rechnet. Nach wie vor bleibt die Frage offen, warum man sich in diese Position bringen lassen sollte. Oder anders: Wie wird Lesern ihr aktuelles Verständnis als mögliches Mißverständnis vor Augen geführt, an dessen Auflösung es zeitintensiv zu arbeiten gilt? Erste Hinweise darauf, daß Klopstock hier Handlungsbedarf gesehen hat, lassen sich den diversen Beigaben zum Messias ablesen: den Summarien etwa, die Klopstock ab 1751 hinzufügt, oder den theoretischen Einlassungen, die den Messias-Bänden vorgeschalteten sind (Von der heiligen _____________ 142 Moritz: Werke. Bd.1, S. 493. 143 Vgl. zu den Berichten über eine jugendliche enthusiastische Klopstock-Lektüre als Folie dieses schlechten Leser-Gewissens die Beispiele bei Quabius: Klopstock und die Jugend, S. 26ff. 144 Etwa die oben zitierten (4.1.2) Vermischten Critischen Briefe (S. 25f.).
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Poesie, Von der Nachahmung des griechischen Sylbenmaasses im Deutschen, Vom deutschen Hexameter sowie Vom gleichen Verse). Daß es sich hierbei auch um vertrauensbildende Maßnahmen für die Erwartungen auf die sukzessiv erscheinenden Gesänge handelt, sieht man daran, daß Klopstock sowohl die Abhandlungen als auch die Summarien ab der Ausgabe letzter Hand wegläßt bzw. nicht mehr in den Messias einarbeitet (KW 4/3, 247). Erläuternde Funktion übernehmen nun die Register, die neben einigen Begriffen vor allem die Namen und die entsprechenden Handlungselemente verzeichnen (KW 4/6, 446ff.). Die Frage nach Klopstock als Funktionsstelle im Sinne einer ‚kritischen Person‘ (4.1) in der literarischen Kommunikation habe ich bislang insbesondere im Blick auf den literaturkritischen Diskurs behandelt. Ein weiteres Feld der wechselseitigen Förderung, Hemmung und Aushandlung eröffnen Klopstocks Einsätze auf dem ökonomischen Feld der literarischen Kommunikation.145 Ich kann hier nur einige Aspekte benennen, die Anschlußstellen markieren. Die lang andauernde Arbeit am Messias ist in diesem Zusammenhang auf zweierlei Weise relevant: für Klopstocks Verhältnis zu den etablierten Strukturen des Buchmarkts und für seine Pension vom dänischen Hof, die die auf dem Buchmarkt undurchsetzbare finanzielle Absicherung kompensiert.146 In beiden Fällen spielen Veränderung und Selbstgleichheit eine Rolle, und in beiden Fällen war die Aufmerksamkeit des Publikums groß, die Beobachtungslage komplex und kompliziert. Sowohl Klopstocks Bemühung um einen Mäzen147, die von vielen Seiten aus unterstützt worden ist, als auch die Verhandlungen mit seinem Verleger Hemmerde oder die Subskriptionsprojekte waren öffentliche Unternehmungen.148 Entscheidend ist hier zunächst, daß man das funktionale Ineinandergreifen der verschiedenen Elemente sieht, was bei Klopstocks Bemühungen um die Kapitalisierung des Autorberufs naheliegt: Die sich im Laufe der Frühen Neuzeit etablierende Ökonomie der Arbeit, die anstelle der Verteilung einer ‚vorherbestimmten‘ Gütermenge auf Produktivität und damit auf _____________ 145 Zu Klopstocks finanzieller Ausstattung im Überblick vgl. Pape: Klopstocks Autorenhonorare und Selbstverlagsgewinne, Sp. 191f., 251ff., sowie Kohl: Friedrich Gottlieb Klopstock, S. 40ff. 146 Vgl. zu diesem Thema insgesamt die Standardwerke von Sickmann (Klopstock und seine Verleger Hemmerde und Bode) und Pape (Klopstocks Autorenhonorare und Selbstverlagsgewinne). 147 Heß kombiniert beispielsweise den Wunsch nach der Vollendung des Epos mit dem von Klopstock formulierten Wunsch nach einem Mäzen (Zufällige Gedanken über das Heldengedicht der Meßias, S. 59f.). 148 Vgl. z. B. zu den kritischen Äußerungen über Klopstocks Preispolitik bei Hemmerde: Pape: Klopstocks Autorenhonorare und Selbstverlagsgewinne, Sp. 41.
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eine nicht per se begrenzte Gütermenge setzt149, unterstützt Veränderung, Weiterentwicklung und Beweglichkeit und liefert damit einen Nährboden für ein Werk- und Autormodell, das Negativität zum Prinzip hat. a) Subskription und Werkbildung Veränderlichkeit hat ihr Widerlager in Elementen, die Identität über Zeitdistanzen hinweg festzustellen erlauben, und das Zusammenspiel von Veränderlichkeit und Selbigkeit kann die Akzente mehr auf den einen oder mehr auf den anderen Pol setzen. Die Subskriptionsprojekte Klopstocks sind unabhängig von allen buchhandelsgeschichtlichen Dimensionen im engeren Sinn einerseits Verfahren, die Kontrolle über den ‚korrekten‘ Text möglichst weitgehend in Händen des Autors zu halten (KB 5, 450), und sie sind andererseits auch Proben auf das Vertrauen des Publikums in diejenige Fähigkeit, die die positiven Kritiker Klopstock immer wieder konzedieren: sich selbst ‚gleich‘ zu bleiben. Zumal der (gescheiterte) Subskriptionsaufruf auf den Messias aus dem Jahr 1753 verlangte dem Publikum einiges ab, da die Subskription für das ganze Epos gelten sollte, das zu diesem Zeitpunkt auf fünf Bände angelegt war, von denen der Erscheinungszeitpunkt jedoch nur für zwei von ihnen genau bestimmt wurde (KW 4/3, 219).150 Die Projekte konnten nur dann Erfolg haben, wenn das Publikum davon überzeugt war, daß Klopstock die in ihn gesetzten Erwartungen, die monetär beglaubigt werden sollten, auch erfüllen werde. Werkkonstitution und Autorenbild setzen daher ein gewisses messianisches Potential voraus. Offen bleibt, wie eine Subskription ohne dieses Autorvertrauen funktionieren soll bzw. wie eine Autorenkarriere in einem Subskriptionssystem beginnen soll151, wie Klopstock es bei seinem großen Selbstverlagserfolg der Gelehrtenrepublik entwirft. Aber selbst wenn der Vertrauensvorschuß eingeholt wird: Sobald die Erwartungen des Publikums nicht bedient wer-
_____________ 149 Brocker: Arbeit und Eigentum; Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 66ff.; Wegmann: Tauschverhältnisse, S. 153ff. 150 Zum Vorbild der Popeschen Homer-Übersetzung und zum Scheitern des Projekts vgl. KB 3, 143; Sickmann: Klopstock und seine Verleger, Sp. 1510ff.; Pape: Klopstocks Autorenhonorare, Sp. 43ff., sowie zu den frühen Überlegungen zur Subskription, ebda., Sp. 19ff. 151 So der Einwand von P.E. Reich in Zufällige Gedanken eines Buchhändlers über Herrn Klopstocks Anzeige einer gelehrten Republik (1773; KW 7/2, 321). Vgl. zu den Schwierigkeiten für den Erwerb von Vertrauensvorschuß auch die Klagen der Subskribentensammler über Klopstocks Weigerung, den Inhalt der Gelehrtenrepublik genauer zu beschreiben (z. B. KW 7/2, 317, 319f).
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den, stockt auch die Serienbildung.152 Daß Paul Scheel das Sammeln von Subskribenten „für eine geistige Heyraths-Angelegenheit“ hält und die Subskription für eine „Verheyrathung des Wercks mit seinem Leser“ (KB 7, 210), ist mehr als ein beliebiges bon mot in einer Zeit, in der Liebe die Grundlage einer emotional stabilen und lebenslangen Beziehung von Subjekten darstellen sollte, die sich in allem beachtenswert finden und denen es nicht langweilig miteinander wird.153 Der Produktionsmodus ‚Langsamkeit‘ als Signal für die Anspruchshaltung des Autors an sein Werk hat von hier aus gesehen nicht nur eine im engeren Sinn poetisch-poetologische Dimension, sondern schließt die allmähliche Verfertigung des Messias auch an den sich kapitalisierenden Buchhandel an: Die langwierige Entstehung bekommt arbeitsförmigen Charakter154, wobei Klopstock generell bei Herausgabe eines Werks das nächste anzukündigen pflegt (KA 2, 13), also sein Werk als fortgesetzte Produktion anlegt. Wie groß die Bedeutung ökonomischer Überlegungen für den ‚Plan‘ des Messias war, den Klopstock immer wieder als sein Eigenstes gegen Einflußnahmen verteidigt, zeigt beispielsweise die für die Tektonik des Ganzen sinnfällige Verteilung des Epos auf fünf Gesänge pro Band. Diese Verteilung verdankt sich mutmaßlich Klopstocks Verleger Hemmerde, der die Einzelausgabe der Anfangsgesänge an die danach veranstalteten Ausgaben anschlußfähig halten wollte, wohingegen Klopstock zwischenzeitlich eine Verteilung von je vier Gesängen auf fünf Bände anvisierte (KW 4/3, 221). Lessings Rezension von Nicolais Messias-Rezension im 19. der Briefe die neueste Literatur betreffend dokumentiert, daß Klopstocks Neuordnung _____________ 152 So beim geplanten und angekündigten (KW 7/2, 330) zweiten Teil der Gelehrtenrepublik – Sickmann: Klopstock und seine Verleger Hemmerde und Bode, Sp. 1481f., 1600f.; Pape: Klopstocks Autorenhonorare und Selbstverlagsgewinne, Sp. 133ff., 137ff.; zahlenmäßig konnte Klopstock mit der ‚Altonaer Ausgabe’ nicht an den Subskriptionserfolg der Gelehrtenrepublik anknüpfen, finanziell allerdings überbot er diesen sogar. Voraussetzung dafür war die Einstellung des Publikums, mit der ‚Altonaer Ausgabe’ ein nationalliterarisch bedeutendes Werk in der Ausgabe der letzten Hand zu erhalten, das gar nicht dieselbe Enttäuschung wie die Gelehrtenrepublik bringen konnte (ebda., Sp. 140ff., insbes. 154ff. u. 166ff.). Zur überwiegend negativen Kritik vgl. Kozieâek: Klopstocks „Gelehrtenrepublik“ in der zeitgenössischen Kritik; vgl. auch die Rezeptionszeugnisse in KW 7/2, 313ff. sowie zur Enttäuschung über die Gelehrtenrepublik KW 7/2, 292ff. 153 Luhmann: Liebe als Passion, S. 125ff. Angesichts der Autorzentrierung des Subskriptionsprojekts, das nichts über das Werk verriet und ganz auf den „Namen“ des Autors als Werbemaßnahme setzte (KW 7/2, 260f.), hätte Scheel vielleicht besser von einer „Verheyrathung“ des Autors mit „seinem Leser“ gesprochen. Vgl. in diesem Zusammenhang zur Erotisierung der Poetik: Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions, S. 149, 154. 154 Am 6./9. Januar 1767 schreibt Klopstock beispielsweise an Denis: „Ihr Brief traf mich beym Messias an. Ich war eben ein wenig von der Arbeit ermüdet, und er wurde mir eine sehr angenehme Erhohlung“ (KB 5, 1, auch 3).
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auch etwas mit der Machtverteilung zwischen Autor und Verleger zu tun hat, denn Hemmerde ist nicht zuletzt insofern erfolgreich, als der Autor die von ihm favorisierte Ausgabe nicht durchsetzen kann: Während Lessing im Auflagenvergleich demonstriert, wie Klopstock die ersten Gesänge in der „Kopenhagener Ausgabe“ verbessert, bezieht Nicolai sich auf den „Halleschen Nachdruck“, der die ersten drei Gesänge in der alten Fassung von 1749 und nur den vierten und fünften Gesang in der neuen Fassung bringt.155 Ein anderes Beispiel für den Einfluß ökonomischer Maßgaben auf die dichterische Produktion bietet der Kontinuitätszwang, den der Anschluß an die Kapitalströme ausübt: Klopstock ist sofort bereit, seine konstellative Arbeitsweise (s.u.) zu beenden und die Teile des Epos in der Handlungsfolge zu bearbeiten, wenn eine Subskriptionsausgabe des Messias in Planung geht (KB 2, 500; KW 4/3, 217) – nur finanzielle Unabhängigkeit ermöglicht biographische Diskontinuität als Erfolgsgeschichte; Erwerbszwänge hingegen fordern eine kontinuierlich funktionierende Person156. Freilich ist Klopstock nicht ganz unbeteiligt an Hemmerdes Erfolg mit der ‚Halleschen Ausgabe‘: Er erlaubt seinem Verleger nämlich den Nachdruck der ‚Kopenhagener Ausgabe‘, um damit sein finanzielles Desinteresse zu unterstreichen und um zu demonstrieren, daß es ihm nur um die ‚Korrektheit‘ der Ausgabe geht (KB 3, 15f.; KW 4/3, 219).157 Tatsächlich mußte Klopstocks bei jeder Ausgabe und mit jedem seiner Verleger um das Projekt einer ‚korrekten‘ Ausgabe kämpfen (KW 4/3, 220f., 250). Dies darf allerdings nicht verdecken, daß auch die unaufhörliche Verbesserung ihren ökonomischen Aspekt hat: Zum einen stand Klopstock – ähnlich wie Wieland158 – auf dem Standpunkt, durch Veränderungen des Messias jeweils ein Werk hervorzubringen, für das mindestens ein Honorar fällig wird und für das vielleicht sogar die Verkaufsrechte nicht mehr _____________ 155 Lessing: Werke. 5. Bd., S. 77ff.; vgl. auch KW 4/3, 228. Nicolai schreibt an Lessing, er habe von der ‚Kopenhagener Ausgabe’ „nichts gewußt. Sie ist in keiner hiesigen Buchhandlung gewesen [...]“ (Der Aufstieg zur Klassik in der Kritik der Zeit, S. 19; vgl. hier auch die komplette Rezension ebda., S. 1ff.; Lessing bezieht sich auf ebda., S. 14ff.). 156 ‚Person’ wiederum verstanden als Zurechnungspunkt von Erwartungen und Begründungen (1., 4.) – vgl. in diesem Kontext zum Zusammenhang von Monetarisierung und der Ausbildung psychologischer „Langsicht“ mit entsprechenden Verhaltensstrukturen Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Bd. 2, S. 279ff. Zur Monetarisierung des Autors vgl. in diesem Zusammenhang Jaumann: Emanzipation als Positionsverlust, S. 62f. 157 Vgl. dazu KB 3, 150 und die dort genannten Stellen; darüber hinaus z. B. auch KB 3, 20. Zur strategischen Funktion des Arguments vgl. Pape: Klopstocks Autorenhonorare und Selbstverlagsgewinne, Sp. 46: Erst nachdem Klopstock die Aussichtslosigkeit seines Projekts klar wird, kommt er auf die Idee der ökonomischen Interesselosigkeit, zuvor dürfte er eher von der fraglosen Konkurrenzfähigkeit seiner Ausgabe überzeugt gewesen sein. 158 Daher vergleicht Göschen auch den Streit Klopstocks mit Hemmerde mit dem Streit Wielands mit Weidmann (KB 9, 70).
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automatisch beim Verleger der je älteren Fassung liegen (KB 7, 100f., 603f.). Zum anderen bieten Veränderungen die Chance, ein Werk in neuer Fassung dem Publikum abermals zu verkaufen. Als Klopstock nach der (vorläufigen) Fertigstellung des Messias mit einer Streichung der dänischen Pension rechnen mußte, verbindet sich so schließlich das Revisionsmit einem Subskriptionsprojekt, indem er eine überarbeitete Fassung des Epos, die erst 1781 als ‚Altonaer Ausgabe‘ erscheint, in den Blick nimmt (KB 6, 255). Schließlich wird Klopstock auch zum historisch-kritischen Leser seiner Werke, weil er die oft nur schwer zu entdeckenden und von der Klopstock-Forschung lange Zeit übersehenen Doppeldrucke Hemmerdes durch „Vergleichung der Exemplare“ bzw. „collazionirte Ex.“ identifizieren will (KB 7, 111, auch 125; KB 9, 71) – erneut geht es ums Geld, das für Nachauflagen fällig ist.159 Im Vorgriff auf das anschließende Kapitel zum Übergang von der kritischen zur philologischen Kommunikation (5.) läßt sich jetzt schon feststellen, daß die Philologie auch beim Kampf gegen den Nachdruck und für den autorisierten Text als verlängerter Arm des Autors fungiert. Die Verkoppelung von ästhetischen und ökonomischen Aspekten in der permanenten Revision hat weitere unmittelbare Folgen für die Werkpolitik, denn diese Revision der Gesänge dient auch der Formierung einer Werkharmonie, bei der alle Gesängen auf dasselbe prosodische Niveau gebracht werden sollen (KW 4/3, 238ff., 245). Über die formale Vereinheitlichung hinaus arbeitet Klopstock motivisch an der Geschlossenheit des Werks: Bei der Revision versucht er, durch neue thematische Verknüpfungen und durch Einsatz verbindender Bildelemente oder wörtlicher Entsprechungen zwischen ‚frühen‘ und ‚späten‘ Gesängen ein einheitliches Werk zu liefern (KW 4/3, 247). Sein über Jahrzehnte gleichbleibendes Bemühen, Zeilenbrüche zu verhindern (z. B. KB 3, 15), seine Sorge um Papiersorte, Format, Seiteneinrichtung oder Letternqualität (z. B. KW 4/3, 262)160 kann ebenfalls auf dieser Fluchtlinie angeordnet werden. So wie bei den Textveränderungen, die vor allem der metrischen ‚Glättung‘ und ‚Wegglättung‘ (KB 5, 146) oder der sprachlich-grammatischen ‚Regulierung‘ dienen161, zielt er auch _____________ 159 Zur Auseinandersetzung vgl. Sickmann: Klopstock und seine Verleger Hemmerde und Bode, Sp. 1478ff., 1543ff., 1556 (zur Kollazionierung) – auch der u. U. ohne Wissen Klopstocks formulierte (erfolglose) Antrag Johann Erich Biesters auf die Erteilung des preußischen Druckprivilegs führt das Verbesserungsargument an (ebda., Sp. 1551). Pape: Klopstocks Autorenhonorare und Selbstverlagsgewinne, z. B. Sp. 64ff., 141ff. (hier auch allgemein zum typischen Betrugsverfahren von Doppeldrucken im 18. Jahrhundert, mit dem Autoren um den ihnen rechtmäßig zustehenden Lohn geprellt worden sind). 160 Sickmann: Klopstock und seine Verleger Hemmerde und Bode, z. B. Sp. 1495f. 161 Vgl. dazu vor allem den Streit mit den Korrektoren der Göschen-Ausgabe, wo die Willkür von Klopstocks Sprechregulierung thematisiert wird (KB 10, 19ff.).
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beim visuellen Eindruck auf Werkförmigkeit, etwa im Fall einheitlicher und vereinfachter Letternformen (KB 5, 88; KB 9, 222f., 233, 376; KB 7, 156). Das Ideal eines ‚lichten Satzbildes‘ (KB 5, 448 dazu 50), für das Klopstock sogar finanzielle Zugeständnisse macht162, weist in dieselbe Richtung wie die Überlegungen zum Druck in Fraktur oder Antiqua163, wie die Sorge um die ‚Schwärze‘ des Drucks, die auch Klopstocks Verleger Göschen umtreibt (KB 9, 250, 267, 470)164 oder um die Schärfe des Druckbildes (KB 7, 635) und die Glättung sowie das ‚Weiß‘ des Papiers (KB 1, 61; KB 9, 651). Ingesamt geht es darum, durch Augentauglichkeit materialiter das Buch eingängig zu machen und – typisch für das ‚Aufschreibesystem 1800‘165 – auf den ihm inhärenten „Geist“ hinzulenken (KB 9, 60, 89), der doch „im Buchstaben“ wohnt (KB 9, 128). Damit stehen die unterschiedlichen, auch auf verschiedene Käuferschichten hin entworfenen Ausgaben in einem spannungsvollen Verhältnis zu denjenigen Programmpunkten der Werkpolitik, die die repräsentative Außenseite des Buchs zurückstellen. Entgegen der behaupteten aristokratischen Verfassung der ‚Gelehrtenrepublik‘ (KW 7/1, 17)166 werden die Werke nicht nur an ein deutlich hierarchisch gestaffeltes Publikum adressiert167, das sich in Käufer von Vorzugsausgaben und wohlfeilen Ausgaben teilt, sondern auch an ein _____________ 162 Da Autoren bogenweise bezahlt werden (KB 1, 295), bedeutet ein größerer Zeilenabstand auch ein höheres Honorar. In den Verhandlungen mit Hemmerde bietet Klopstock den Verzicht auf das Honorar für zwei Bögen an, wenn der von ihm gewünschte weite Zeilenabstand eingehalten wird (KB 2, 6). Dabei geht es Klopstock nicht um abstrakte Normen, sondern um eine wirkungsästhetische Modellierung des Seiteneindrucks, so rechnet er beispielsweise mit optischen Täuschungen, die dann wieder ausgeglichen werden müssen (KB 9, 188). 163 S. u. – für den Hintergrund der Arbeit an einer visuell vereinheitlichten Seite vgl. Wehde: Typographische Kultur, S. 222ff., 230f. 164 Vgl. für Klopstock die Subskriptionsanzeige bei Pape: Klopstocks Autorenhonorare und Selbstverlagsgewinne, Sp. 222. 165 Kittler: Aufschreibesysteme 1800 1900, vgl. z. B. zur ‚Schwärze’ des Drucks S. 111. 166 Vgl. dazu auch die ausführliche Besprechung der Gelehrtenrepublik in der Auserlesenen Bibliothek der neuesten deutschen Literatur (1775), wo genau diese Selbsterhebung Klopstocks ausführlich kritisiert wird (KW 7/2, 358ff.), und dies im Zusammenhang mit der Verteidigung der kritischen Spiegelwelten: „Aber nun sich mehrere Stimmen erhoben haben, nun ist vielmehr Freiheit im Urtheilen, das Werk des berühmtesten Mannes findet seinen Tadler, der Journalisten Unfug hat gröstentheils aufgehört, weil jeder ein scharfes Auge auf den andern hat, und immer bereit ist, der Welt die Blöße, die ein andrer giebt, zu entdecken, die Journale werden im Ganzen besser, denn sie müssen mit einander weteifern, und endlich durch Anhörung der verschiednen Urtheile hat das Publikum selbst zu urtheilen lernen [...]“ (KW 7/2, 361). 167 Vgl. zur Kopenhagener Ausgabe im „Royal-Format“ und zur Kritik daran KA 2, 268. Vgl. zu Klopstocks Interesse an der Quartausgabe seiner Werke letzter Hand KB 10, 378.
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egalisiertes Publikum, das noch bei ‚Volksausgaben‘ Anspruch auf einen durchs Material inszenierten einheitlichen Werkgeist hat.168 Daß die ‚Vollendung‘ des Werks nicht den ‚Abschluß‘ der Verbesserung bedeutet, daß auf die Ausgabe „letzter Hand“ noch die des „letzten Fingers“ folgt und daß vielleicht auch damit für Klopstock noch nicht das endgültige Wort geschrieben war (KW 4/3, 240f., 248ff., 253; KB 9, 39f.), hebt noch einmal die Besonderheit einer auf permanente Positionsflexibilität abonnierten Autorschaft hervor, die durch ihre Beweglichkeit auf einen Geist hindeutet, der ‚hinter‘ der Materialisierung der Buchseite agiert und dem es durch die Textfassungen hindurch nachzuspüren gilt (5.2 b). Diese Inszenierung von Eigentümlichkeit konzentriert sich aufs Material, um dieses zu übersteigen; und sie hintergeht das Material, um dadurch materiellen Gewinn zu erzielen. Auf diese Weise fördert gerade die Einbindung des Autors im ökonomischen Feld eine Entbindung von Souveränität – dies freilich nur ansatzweise, denn Klopstock bleibt auf den faktischen Souverän angewiesen: den dänischen König, der ihm eine Pension zur Produktion des Messias stiftet. Die Pension hat insofern einen (lebens-)werkstiftenden Charakter, als sie Klopstocks Werk bis zu dessen Tod und damit über die ‚Vollendung‘ des Messias hinaus gewährt wird. b) Der Autor als Pensionär Für die Pension ist zunächst der Eindruck größtmöglicher Seriosität und Kompetenz wichtig, vor allem, als noch nicht klar ist, wer Klopstocks Förderer werden könnte – im Gespräch waren vor dem dänischen König zunächst Frederick Louis, Prince of Wales, sowie Friedrich II.169 Nachdem die Pension durch Friedrich V. gesichert ist, stellt sich das Problem, daß mit Abschluß des Epos auch der Pensionsanspruch Klopstocks erlöschen könnte (z. B. KB 5, 270f., 324; KB 7, 481f.). Diese Sorge ist nicht nur wegen der unsicheren politischen Situation nach dem Sturz seines Gönners Bernstorff verständlich170, sondern auch insofern, als Klopstock immer behauptet, nicht er persönlich erhalte eine Zuwendung, sondern allein das Werk stehe im Interesse des Königshauses. Tatsächlich erweist sich die Befürchtung letztlich als unbegründet, denn Klopstock behält die _____________ 168 Zur Diskussion um die Präsentationsform literarischer Werke im Zuge der Schriftstelleremanzipation vgl. Ungern-Sternberg: Schriftstelleremanzipation und Buchkultur im 18. Jahrhundert, S. 74, 77ff., inbes. 80ff.; zur Marktorientierung der Ausgabenkultur Wehde: Typographische Kultur, S. 232ff. 169 Vgl. die Diskussionen in den Briefwechseln mit Klopstock und um Klopstock (Klopstock: Der Messias. Gesang I-III, S. 192, 185, 192f., 198, 198f., 200; KW 4/3, 203f.). 170 Pape: Die gesellschaftlich-wirtschaftliche Stellung Friedrich Gottlieb Klopstocks, S. 60ff.
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Pension (KB 5, 930; KB 6, 306; KB 8, 668f.).171 Entscheidend ist für ihn bei seinen fürstlichen Geldgebern die Überzeugung, daß – erstens – sein Projekt eine Förderung verdient, daß – zweitens – Anspruch und Dauer in einem korrelativen Verhältnis zueinander stehen und daß – drittens – er derjenige Dichter ist, der die hochgesteckten Erwartungen erfüllen wird. Ich will Klopstocks Verfahren der Vertrauensbildung lediglich am Beispiel der Ode an Ihre Majestät Friedrich den Fünften, König von Dännemark und Norwegen nachgehen, um exemplarisch die Auflösung mäzenatischer Förderungsstrukturen im Zuge von deren Indienstnahme vorzuführen.172 Klopstocks spezifische mäzenatische Bindung an den dänischen Hof verschaffte ihm einen bemerkenswerten Grad an Unabhängigkeit: Weder war er zu Gegenleistungen verpflichtet, etwa zur dichterischen Begleitung und Repräsentation des Hofgeschehens, noch war er an einen Ort gebunden.173 Die Widmungsode174 an Friedrich V. zum ersten Band des Messias von 1751 hat Klopstock daher viel Kopfzerbrechen bereitet. Das Problem, in den Ruf eines Panegyrikers zu kommen175, verringert sich für ihn zunächst dadurch, daß er Friedrich V. als einen der „liebenswürdigsten Männer“ beschreibt (KB 2, 32, 150, 294; KB 3, 1). Diese Normalisierung des Königs bestimmt Klopstock zufolge auch insofern die Gestaltung der Ode, als sie allgemein rezipierbar sein sollte, sich also gerade nicht, wie es für Gelegenheitsdichtung charakteristisch ist, an einen konkreten, räumlich und zeitlich fixierten Adressaten wendet. An Moltke schreibt Klopstock am 9. Dezember 1750 über die Widmungsode: Die meisten unsrer Poeten, auch einige von den grossen Ausländern, haben, wenn sie Gedichte an Monarchen gemacht haben, durch ein prächtiges Geräusch auf einander gehäufter Lobeserhebungen zu gefallen gesucht, u die Wahrheit u Einfalt der Alten ganz verfehlt. Der Erfolg ist gewesen, daß Kenner der Welt u guter Schriften Gedichte dieser Art nicht gelesen, oder doch bald weggelegt haben. Ich habe meiner Ode eine Bildung zu geben gesucht, mit welcher sie vor die Augen der Ausländer u Nachkommen, u, wenn es möglich wäre, daß unser gros-
_____________ 171 Vgl. den Überblick bei Pape: Klopstocks Autorenhonorare und Selbstverlagsgewinne, Sp. 251ff. 172 Vgl. zu den Hintergründen der Pensionierung sowie zum Verhältnis Klopstocks zum Hof und zu Friedrich V. ausführlich Pape: Die gesellschaftlich-wirtschaftliche Stellung Friedrich Gottlieb Klopstocks, S. 55ff.; ders.: Klopstock, S. 470ff., speziell zur Widmungsode S. 509ff. 173 Pape: Klopstocks Autorenhonorare und Selbstverlagsgewinne, Sp. 16; vor diesem Hintergrund zur Widmungsode Thayer: Klopstock’s Occasional Poetry, S. 188ff. 174 Zur Problematisierung der Widmung des Messias durch die Ode vgl. Pape: Klopstock, S. 514ff. – Pape vertritt die These, daß die Ode, ausgehend von den expliziten Hinweisen, „eigentlich nur in Bezug [!] auf sich selbst ‚Widmungsgedicht’ genannt werden“ könne (ebda., S. 514). 175 Dasselbe Problem ergibt sich für Klopstock beim Scheitern des ‚Wiener Plans’ (KB 6, 21).
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ser u liebenswürdiger König Feinde haben könnte, auch vor ihre Augen hervortreten darf. (KB 1, 151)
Das Interesse Klopstocks an allgemeiner Rezipierbarkeit ist charakteristisch.176 Um dies nur kurz zu belegen: Durch Übersetzungen arbeitet er an einer Verbreitung seines Werks im Ausland, er macht seine Schriften konfessionspolitisch kompatibel177, und er knüpft ein literarisches Netzwerk, das „ganz Deutschland“ verbindet und gerade auch die „kleinen Städte“ erreicht178; alle Alters- und alle Einkommensstufen werden als Publikum anvisiert179; selbst mit den Nachdruckern kann Klopstock sich verbünden, wenn es der Verbreitung dienlich ist.180 Die erwähnte Frage, ob sich als Schrifttype Antiqua oder Fraktur empfiehlt, dreht sich um dasselben Problem: In Deutschland stellt Antiqua ein Rezeptionshindernis dar, im Ausland Fraktur (z. B. KB 1, 141; KB 9, 2, 59). Der breit geführte Streit um Antiqua und Fraktur macht weitere Parallelfelder auf, denn die ent_____________ 176 Vgl. zur sozialen Unbestimmtheit der Publikumsadressierung auch Alewyn: Klopstocks Leser, S. 102 – daraus resultiert dann das Problem, überhaupt ein Publikum zu finden (ebda., S. 104ff.; Küster: Das Problem der „Dunkelheit“ von Klopstocks Dichtung, S. 116f.). Zum „neue[n] Publikum“, gebildet aus den „Unbelesenen“, aus „Frauen“ und aus der „Jugend“, vgl. Alewyn: Klopstocks Leser, S. 109ff. sowie Quabius: Klopstock und die Jugend, S. 20. In Dänemark könnte der Wille zum Allgemeinen freilich auch einen politischen Hintergrund haben, insofern Klopstock seine Arbeit dem Allgemeinwohl dienstbar macht, um seinen „Neidern“ u. U. den Wind aus den Segeln zu nehmen (Zimmermann: Zwischen Hof und Öffentlichkeit, S. 11f., 28f.). Dies würde allerdings nur im speziellen Fall die allgemeine These bestätigen, daß die höfische Kommunikations- und Konkurrenzstruktur eine Vorreiterrolle für die kritische Kommunikation übernimmt (2.4). 177 Klopstock fügt z. B. im Lauf der Bearbeitung Stellen ein, die er, „um die Katholiken zu schonen“, gestrichen hatte (KB 9, 40). Auch bei den Geistlichen Liedern ist es Klopstock wichtig, daß diese von Katholiken genutzt werden können (KB 4, 270f.; Pape: Klopstocks Autorenhonorare und Selbstverlagsgewinne, S. 89). 178 So in der Nachricht von der Subscription auf folgende Schrift: Die Deutsche GelehrtenRepublik im Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten (1773), wo Klopstock bemerkt, „[...] daß die Anzahl der Städte, in denen Collecteur sind, noch nicht zureichend zu einem Versuch ist, der nicht eher als gemacht kann angesehen werden, als bis man sich mit demselben durch ganz Deutschland ausgebreitet hat. [...] so wende ich mich hiermit vornehm [...] an die Gelehrten in verschiedenen noch fehlenden, auch kleinen Städten, und ersuche sie, die Collectur daselbst zu übernehmen“ (abgedruckt bei Pape: Klopstocks Autorenhonorare und Selbstverlagsgewinne, Sp. 225-229, Zitat Sp. 228f., s. auch ebda., Sp. 157). Aufschlußreich ist auch, daß Klopstock das Subskriptionsprojekt der Gelehrtenrepublik, das ja dazu dienen sollte, die Autoren zu wirklichen „Eigenthümer[n] ihrer Schriften“ (ebda., Sp. 218, 222; KB 6, 41, 48) zu machen, wie ein eigenes Werk behandelt, auch an diesem Unternehmen den ‚Plan’ vor äußeren Einflüssen zu schützen versucht und keine Veränderungen daran zuläßt (KB 6, 325, 535). 179 Bei der ‚Altonaer Ausgabe’ des Messias gewährt Klopstock für diese Käufergruppen Preisnachlässe (Pape: Klopstocks Autorenhonorare und Selbstverlagsgewinne, Sp. 150; vgl. auch ebda., Sp. 157, zur Tendenz zur wohlfeilen Ausgabe gegen Ende des 18. Jahrhunderts. 180 Klopstock akzeptiert den Messias-Nachdruck von Johannes Thomas Edler von Trattner in Wien vermutlich, weil er sich davon die Verbreitung des Messias in katholischen Gebieten versprach (Pape: Klopstocks Autorenhonorare und Selbstverlagsgewinne, Sp. 59).
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sprechenden Dichotomien laufen nicht nur entlang der Leitdifferenz deutsch / ausländisch, sondern z. B. auch entlang der Differenz gelehrt / ungelehrt und gehen insgesamt auf Strategien der Entmaterialisierung und Vergeistigung als Teil der von Klopstock geförderten Kultur der Unsichtbarkeit zurück.181 Zurück zur Ode an Friedrich V.: Um seine Autorschaft zu entinstrumentalisieren, löst Klopstock die Ode nicht nur aus dem repräsentativen Geflecht literarischer Nahkommunikation, sondern macht die Widmungsode auch zu einer Art Parallelaktion des Messias. Er produziert sie im Arbeitsmodus der Langsamkeit182, und er betont gegenüber Hemmerde nachdrücklich, daß die Ode „allezeit mit den Lettern, wie sie in jeder [Messias-]Edition sind“, gedruckt werden soll (KB 2, 9). Bildet die Ode damit im Kleinen ein Modell, von dem aus man auf das Ganze des Epos’ schließen kann? Sie würde dann mehr über den Dichter als über den dänischen König aussagen; Klopstock würde so über einen anderen sprechen, daß er selbst zum eigentlichen Gegenstand der Rede wird. Wenn die Ode auf diese Weise einen Vorgeschmack des Epos’ vermittelte: Wäre dann in Fortsetzung dieser Strukturhomologie nicht auch zu befürchten, daß Gesänge über den Erlöser mehr über den Dichter des Messias als über den Messias selbst aussagten? Bodmer jedenfalls legt eine solche Perspektive in seiner Kritik des Epos ungewollt nahe, indem er in seiner Besprechung von Fortsetzungsproblemen ausgeht, daraufhin am Beispiel der Ode demonstriert, wie man bei Klopstock von Mikro- auf Makrostrukturen schließen kann, und schließlich in den Verhaltensformen des Königs Analogien zu denjenigen eines vorbildlichen Panegyrikers entdeckt.183 Daß Bodmer damit keine Sonderstellung einnimmt, belegt Lessings Oden-Beschreibung, die auf ähnliche selbstrekurrente Strukturen abhebt. Nach einem in fortlaufende Zeilen gesetzten Zitat schreibt er: Seht da, die zerstreuten Glieder des Dichters! Jeder Satz ist eine Schilderung, und jedes Wort ein Bild. Betrachtet sie Stückweise. Eine Schönheit wird die andre hervorbringen, und jede bleibt groß genug, unzähliche Anfangs unbemerkte in
_____________ 181 Ungern-Sternberg: Schriftstelleremanzipation und Buchkultur im 18. Jahrhundert, S. 83f.; Wehde: Typographische Kultur, S. 218ff., zur Entmaterialisierung insbes. ebda., S. 242ff. – Wichtig sind hier auch die Hinweise auf erstens das Scheitern der AntiquaReformbewegung, zweitens die Übernahme von Gestaltungsprinzipien der AntiquaReformbewegung in die traditionelle Fraktur-Fraktion (Schlichtheit des Buchschmucks, gleichförmige Seitengestaltung u.a.) und drittens die Hinweise darauf, daß gerade Antiqua von Zeitgenossen als Leseblockade beschrieben wird, so daß also nicht die Form an sich, sondern die Habitualisierung des Umgangs mit bestimmten Formen die Historizität der Schrift bestimmt (ebda., S. 236f., 239ff.). 182 „Ich arbeite langsam daran, weil es eine sehr delicate Sache ist, etwas würdiges von einem wirklichen Vater des Vaterlandes zu sagen“ – auch hier bringt Klopstock sein Ziel einer umfassenden Rezipierbarkeit ins Spiel (KB 1, 145). 183 Crito 1 (1751), S. 17f.
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sich zu enthalten, wann ihr mit der Zergliederung fortfahret. So wird unter dem Schnitte des neugierigen Naturforschers jedes Teil des Polypus ein neuer, und erwartet nur die wiederholte Trennung, auch aus seinen Teilen vollständige Ganze dem verwundernden Auge darzustellen.184
Zwar ist Bodmers Beobachtung doch recht gewagt und Lessings Behauptung nicht wirklich belegt, aber dies scheint mir weniger wichtig als die Tatsache, daß zeitgenössische Leser überhaupt auf solche komplizierten Deutungsansätze gekommen sind und daß sich ihre Intuition interpretatorisch bestätigen läßt: Lessing verweist auf die „Horazische“ Versart der Ode und auf die Könnerschaft Klopstocks, die „kunstreiche Harmonie [ ]eines Flaccus“ zu „fühlen“.185 Tatsächlich läßt sich der Horaz-Vergleich weiter ausbauen, denn der Beginn der Widmungsode an Friedrich V. (2. asklepiadeische Ode) zitiert strukturell die Melpomene-Ode von Horaz (ebenfalls eine 2. asklepiadeische Ode), die Klopstock sich bereits in seinem ersten Gedicht, Der Jüngling der Griechen, zur Vorlage genommen hatte.186 Horaz: Oden IV,3 Quem tu Melpomene, semel nascentem placido lumine videris [...] (Wen du, Melpomene, einmal / bei der Geburt mit freundlichem Auge angeschaut [...]) Klopstock: Der Lehrling der Griechen Wen des Genius Blick, als er gebohren ward, Mit einweihendem Lächeln sah [...] (KO 3) Klopstock: Ode an Ihre Majestät Friedrich den Fünften, König von Dännemark und Norwegen Welchen König der Gott über die Könige Mit einweihendem Blick, als er geboren ward, Vom Olympus her sah [...] (KO 1, 86)
Der Subtext der ‚Lehrlingsode‘ ist wichtig, weil Klopstock an diesem initiatorisch inszenierten Beginn seiner (Oden-)Dichtung im Durchgang durch _____________ 184 So in der Besprechung der ersten fünf Messias-Gesänge im Neuesten aus dem Reiche des Witzes von 1751 (Werke. Bd. 3, S. 98). 185 Lessing: Werke. Bd. 3, S. 98. 186 Zur metrischen Abweichung vgl. Menninghaus: Klopstocks Poetik der schnellen „Bewegung“, S. 287ff.
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und in der direkten Berufung auf die antike Tradition deren Geltung in Frage stellt:187 So wählt Klopstock beispielsweise ein leicht abgewandeltes Horazisches Versmaß und setzt sich damit implizit an die Stelle des Römers, der sich das Verdienst zuspricht, die griechischen Versmaße in seine Nationalliteratur eingeführt zu haben. Klopstock wäre insofern also weniger ‚Lehrling der Griechen‘ als vielmehr ‚Lehrling der Römer‘ – anders gesagt: Odenüberschrift und Odentext dementieren sich wechselseitig, so daß Klopstock weder der einen noch der anderen Traditionslinie ganz zuund damit nachgeordnet werden kann.188 Eine vergleichbare Strategie der depotenzierenden Erhöhung und verkehrenden Bezüglichkeit läßt sich auch in der Ode an Friedrich V. feststellen: Zunächst macht Klopstock den „Herrscher“ zum empfindsamen pater patrias, der mehr geliebt als gefürchtet sein will; eben damit wird er gottgleich, denn „Schöpfer des Glückes [...] / Vieler tausend“ zu sein, bedeutet „wie Gott zu seyn!“ (KO 1, 87). Daß der König in einem Gespräch mit Klopstock direkt nach der Ode auf Johann Elias Schlegel zu sprechen kommt189, den zweiten berühmten Fall dänischer Förderung eines deutschen Dichters, erscheint schlüssig, denn dieser hatte in Canut einen ähnlichen Fall göttlich-gütiger Herrschaft in Szene gesetzt und ihr mit Ulfo einen Opponenten an die Seite gestellt, der über den von Klopstock besungenen Verlust heroischer Handlungsoptionen und die entsprechend Divinisierung klagt: Rühmt mir denn jeder nur des Königs Gütigkeit? Ist keiner, der sich nicht ihm zu gehorchen freut? Weiß denn Canut allein das Kunststück auf der Erde, Wie man vergöttert sei, doch nicht beneidet werde? [...] Sind diese Zeiten denn so ganz von Helden leer? Ist denn ihr ganzer Schmuck Canut und niemand mehr? [...] Itzt glaubt ein jeder sich als Untertan beglückt, Die Güte des Canut hat allen Mut erstickt.190
_____________ 187 Hierzu und zum folgenden vgl. Menninghaus: Klopstocks Poetik der schnellen „Bewegung“, S. 281ff. 188 Im Epigramm Aufgelöster Zweifel heißt es entsprechend: „So ahm dem Griechen nach. Der Griech’ erfand“ (KW 2, 12, vgl. auch KW 2, 33). 189 Klopstock referiert das Statement des Königs in einem Brief an Giseke vom 4. Mai 1751: „Er redete von meiner Ode, u sagte, daß sie sehr schmeichelhaft für Ihn wäre. Er beklagte Schlegels frühen Tod, der so viel Geist gehabt hätte. Er redete von der Wollust des Gemüts, die ein Geist, der sich immer zu erweitern fähig wäre, in den Wissenschaften fände. daß man wahre Gelehrte mehr, als Gold, schäzen müßte“ (KB 2, 31). 190 Schlegel: Canut, S. 30f. (II/4). Von hier aus gesehen wird der entsprechende Passus bei Klopstock also etwas weniger „blasphemisch“ (so Pape: Klopstock, S. 528).
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Die Gottebenbildlichkeit Friedrichs V. führt in der Widmungsode zu korrespondierenden Handlungsweisen, nämlich zunächst zur Belohnung „redliche[r] Thaten“, dann zum wohlwollenden Blick „herab“ auf diejenigen, „die der Muse sich weihn, welche, mit stiller Kraft / Handelnd, edler die Seele macht“ (KO 1, 87). Bis zu diesem Punkt sind die Verhältnisse relativ klar: Der König steht ‚oben‘ und blickt ‚herab‘ auf die Dichter und Bürger. Die folgenden vier Strophen verwirren diese Hierarchie: Zunächst wird der König als Vorbild der Dichter für Unsterblichkeitsbestrebungen, die ohne „Muse“ auskommt, beschrieben; dann wird die in der Erstausgabe anfangs vom „Olymp“, später „vom Sion herab“ singende Muse der Messias-Dichtung eingeführt, die „zu den Höhen hin“ strebt, „wo das heilige Lob jener Monarchen tönt, / Die Nachahmer der Gottheit sind!“ Diese „fromme Sängerinn“ erhält die Aufforderung, den „Namen“ zu nennen, „der in deinem Gesang künftig oft tönen wird, / Wenn du einst von dem Glück, das nur die Tugend lohnt, / Und von frommen Monarchen singst“. Diese Verse muten dem König beinahe noch mehr Langsicht zu, als Klopstock sie ohnehin von allen Messias-Lesern erwartet: Friedrich V. muß nicht nur auf den Messias warten, den er finanziert, sondern auch auf sein entsprechendes Herrscherlob (das er allerdings genau in diesem Augenblick erhält). Daran schließt die letzte Strophe an: König Friederich ists, welcher mit Blumen hat Jene Höhen bestreut, die du noch steigen mußt! Er, der Christ und Monarch, wählt dich zur Führerin, Bald auf Golgatha Gott zu sehn. (KO 1, 88).
Bis zu den letzten beiden Versen also hält Klopstock die Nachordnung von Dichtertum und Königtum ein, um sie dann in der Schlußwendung zu verkehren und den in der Ode zuvor behaupteten Status des Königs wieder in Frage zu stellen: Nicht nur wird nun die Messias-Muse zur „Führerin“ des Königs, sondern der Gottgleiche muß zudem eine zeitliche Distanz überbrücken, um „bald auf Golgatha Gott zu sehn“. „Golgatha“ wiederum ist der Ort, an dem Gott Gericht über den Messias hält und damit das Weltgericht präfiguriert (KW 4/3, 304, 309), das im 18. Gesang im Gericht über die „bösen Könige“ kulminiert, „des ewigen Todes / Fürchterlichste Gestalt“ (KW 4/2, 232). Daß Klopstock zu einem frühen Zeitpunkt außerhalb der fortlaufenden Handlungsreihe schon an der Weltgerichtsszene gearbeitet (KB 2, 5) und daraus auch dem dänischen König vorgetragen hat191, ließe sich von hier aus als Arbeit an der Depotenzierung weltlicher Herrschaft oder zumindest als Anspruch _____________ 191 Zimmermann: Zwischen Hof und Öffentlichkeit, S. 30f.
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auf geistige Orientierung verstehen. Das entscheidende Problem der „bösen Könige“ besteht jedenfalls darin, daß sie die Chance auf Gottebenbildlichkeit verspielen. Sie stehen wie Gott oder wie Jesus im Fokus der Aufmerksamkeit der „Himmel“, enttäuschen deren Erwartung aber durch ihren zerstörerischen Heroismus, den sowohl Der Lehrling der Griechen als auch die Widmungsode an Friedrich V. anprangern. Es wandten Alle Himmel ihr Angesicht weg, wenn sie sahn, was ihr thatet! Wenn sie sahen den mordenden Krieg [...] Keine Tugend belohnt, und keine Thräne getrocknet! Geh nun, du fülltest dein Ohr mit der süßen Unsterblichkeit Schalle! Geh, du hast sie erlangt; doch die nicht, welche du träumtest! Ewig ist euer Name, vom untersten Pöbel der Seelen Mit den wildesten Flüchen der Hölle genannt zu werden! (KW 4/2, 234)
Entsprechend wirft der erste Ankläger im Gericht über die Könige einem der Herrscher vor, seine Söhne moralisch korrumpiert zu haben – „Er raubte mein Blut mir, / Schuf es nach seinem Bild’, und entriß es dem Arme der Unschuld!“ (KW 4/2, 232). Der Anmaßung falscher Gottebenbildlichkeit, die beispielsweise das Bibel-Zitat markiert („VND Gott schuff den Menschen jm zum Bilde / zum Bilde Gottes schuff er jn“; Gen 1, 27), steht „ein gerechter König“ gegenüber, der sich immer als „Mensch“ begreift und folglich mitleidsfähig und wohltätig agiert. Dessen „Belohnung“ besteht darin, das „dankende[ ] Auge“ der ‚Beherrschten‘, „voll von dem heiligen Schauer der Menschlichkeit, vor mir zu sehen“ (KW 4/3, 233). In der Widmungsode nimmt Klopstock in der auch von Bodmer besonders exponierten siebten Strophe auf diese Zusammenhänge Bezug und bringt dabei vor allem das entsprechende Deutungsverfahren ins Spiel: Wie das ernste Gericht furchtbar die Wagschal nimt, Und die Könige wägt, wenn sie gestorben sind, Also wägt er sich selbst jede der Thaten vor, Die sein Leben bezeichnen soll! (KO 1, 87)
Die Strophe bildet jene Selbstrekurrenzen der jeweils Ganzheiten bildenden Teile nach, die Lessing an der Ode insgesamt herausstellt: Die Strophe parallelisiert in einem Vergleich das Handeln Gottes in den ersten beiden Zeilen mit dem Handeln des Königs in den letzten beiden. In jedem der Teile des Vergleichs verschieben sich zunächst die zeitlichen Dimensionen ineinander, einmal in Form der vollendeten Zukunft, dann durch die virtuelle Vorwegnahme künftiger Taten. Die Verse drei und vier sind zudem in die Anfangsverse eingeschachtelt, weil der König das tut,
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was mit Königen getan werden wird. Die deutlichen Hinweise auf die Gleichnishaftigkeit („Wie [...] Also [...]“) und auf die Deutungsdimension („bezeichnen“) dieses Passus exponieren damit ein ‚vorbildliches‘ Handeln, das als typologisches Verfahren des Epos insgesamt strukturiert (4.2). Klopstock spricht einige Zeilen danach vom König als einem „Muster“, was ebenfalls auf diese Zusammenhänge hinweist.192 Entscheidend dabei ist, daß in der Typologie der ‚Schatten‘ sein ‚Vorbild‘ einlöst und als bloße Vorausdeutung überschreitet. Das wirft ein bezeichnendes Licht auf Klopstocks Posten als ‚heiliger‘ Dichter: Die an der antiken Dichtkunst orientierte literarische Linie unterstützt ein gleichsam feudales Zeitmodell, in dem Herkunft und Abstammung entscheidend sind und in dem die Vorgänger einen bedeutsameren Stellenwert einnehmen als die Nachfolger; die neutestamentarische ‚heilige Poesie‘ hingegen hat zwar auch die Bibel als festen Orientierungstext, zugleich aber unterstützt sie ein progressives Zeitverständnis, bei dem freilich die Relation von Erwartung und Erfüllung das Temporalverhalten prägt.193 Futurische Einstellung und die Überbietung des Vorangegangenen durch das Folgende werden dadurch gleichwohl – zumindest aus menschlicher Perspektive – privilegiert. Nachträglichkeit verwandelt sich von einem Abhängigkeits- und Unterordnungsverhältnis zu einem Überlegenheitsverhältnis.194 Eine der expositorischen Funktionen der Widmungsode an Friedrich V. liegt somit in der Ausstellung und Vermittlung eines bestimmten Zeitverhaltens sowie eines entsprechenden Deutungs- und Aufmerksamkeitsmusters. Auch dies gehört in den größeren Rahmen einer umfassenden _____________ 192 Für eine allgemeine Bestimmung der Typologie vgl. Art. „Typologie“ in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Bd. 6, Sp. 1094: „T. liegt dann vor, wenn geschichtliche Fakten (Personen, Handlungen, Ereignisse, Einrichtungen) ‚als von Gott gesetzte, vorbildliche Darstellungen, d. h. ‚Typen’ kommender und zwar vollkommenerer und größerer Fakta aufgefaßt werden’“. Für den Messias vgl. Dräger: Typologie und Emblematik in Klopstocks „Messias“, zum ‚Vorbild’-‚Schatten’-Verhältnis S. 7, 58. Zedlers Universal=Lexikon baut eine Verweisungsreihe auf von „Muster“ über „Modell“ bis hin zu „Vorbildern“, die eben auch – zumal in der Bibel – „Typi“ sind: „Es heissen demnach Typi diejenigen Personen, Gebräuche oder allerley Dinge, welche von GOtt zu dem Ende gebrauchet werden, daß sie eine andere künfftige Sache, die gemeiniglich besser und vortrefflicher ist, insonderheit Christum und desselben Wolthaten gleichsam in Schatten vorstellen und Glaube und Gottseligkeit befördern sollen“ (Bd. 50, Sp. 751). Auch Adelung verweist als Pendant zu „Muster“ auf „Modell“, allerdings vor allem für den Bereich der „mechanischen und bildenden Künste[ ]“ (Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch. Bd. 3, S. 332f.). 193 Vgl. zur Ausbildung eines christlichen linearen Zeitkonzepts, das gleichwohl keine wesentliche Neuerung gegenüber zyklischen Zeitkonzepten bedeutet, Dux: Die Zeit in der Geschichte, S. 327ff. 194 Dem korrespondiert Papes Ansatz: Friedrich V. wird von Klopstock auf künftige Taten verpflichtet, so daß die Legitimation des Königs aus seiner Herkunft dadurch zurückgestellt wird (Klopstock, S. 526f.).
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Verschiebung, die die Kultur der Sichtbarkeit in Frage stellt und klar umrissene repräsentative Strukturen zugunsten von Diffusität, dem Umgang mit Abwesendem und der Orientierung an Unsichtbarem zurückstellt. Klopstock ordnet die Lektüre so, daß sie von einer gespannten Aufmerksamkeit getragen wird, die Verstehen als Prozeß vorführt und Vertrauen in die Wohlgeordnetheit der Werkwelten voraussetzt. Lesen bedeutet dann die je nach Umfang des ‚Teils‘ kürzere oder längere Suspendierung klarer Entscheidbarkeit. Vom Teil eines Einzelwerks zum umfassenderen Werk und von diesem zum Gesamt- oder Lebenswerk entsteht ein Beziehungsgefüge, das Beurteilung kompliziert. Insofern haben Bodmers und Lessings Hinweise auf Selbstrekurrenzen bei Klopstock sowohl innerhalb eines Werks als auch zwischen Werkteilen den Weg zu einem ‚ganzheitlichen‘ Verstehen gewiesen, das von der kritischen zur philologischen Kommunikation, d. h. zu einer gleichsam selektionslosen Aufmerksamkeit überleitet (5.2). Um noch einmal auf den Lehrling der Griechen zurückzukommen: Die Ode verbindet mit der Ode an Friedrich V. die horazisierende Einleitungspassage. Darüber hinaus greift sie der Widmungsode thematisch mit der Ablehnung des gewalttätigen Heroenmodells voraus („Wen des Genius Blick [...] / Mit einweihendem Lächen sah, / [...] Den ruft [...] der Eroberer / In das eiserne Feld umsonst. [...]“; KO 1, 3). Der Lehrling der Griechen gehört nicht allein zeitlich zu den frühesten Schriften überhaupt und leitet insofern das Werk ein (sie wird von Klopstock auf 1747, also auf ein Jahr vor der ersten Teilpublikation des Messias datiert); die Ode exponiert zudem die literarischen Verfahren und führt damit ins Werk ein – dies gilt für das Stilprinzip der Kürze und das Faible für Inversionen, für die faktische Mehrdeutigkeit oder die Virtualisierung von Gegenständlichkeit, und vor allem gilt dies für das Prinzip der Erwartungserregung.195 Was die Ode selbst in ihrer Sprachbewegung vollzieht, thematisiert sie an ihrem Ende, wenn es über den Dichter heißt: Ihm ist, wenn ihm das Glück, was es so selten that, Eine denkende Freundin giebt, Jede Zähre von ihr, die ihr sein Lied entlockt, Künftiger Zähren Verkünderin! (KO 1, 4)
Klopstock fördert eine Lesehaltung, die sich am Periodenbeginn ganz auf die letztliche Einlösung eines syntaktischen und semantischen Zusammenhangs verläßt und die dafür bei Einlösung dieser Erwartung wieder auf den Anfang zurückblendet, um den Zusammenhang auch herzustellen. Anders gesagt: In der Satzstruktur prägt Klopstock dem Leser das Zeit_____________ 195 Menninghaus: Klopstocks Poetik der schnellen „Bewegung“, S. 264ff.; KW 7/2, 690ff.
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verhalten vollendeter Zukunft ein.196 Die einzelnen Abschnitte setzen dasselbe Vertrauen auf den Autor voraus wie der ‚Plan‘ des Ganzen. Beides fördert einerseits einen befreiten, zwischen verschiedenen Zeit- und Seitenstellen vagabundierenden und irisierenden Blick197, der aber andererseits eine spezifische Kontrollmacht des Autors unterstützt im Unterschied zu dem von Klopstock abgewerteten Blick auf die Simultaneität der Bildfläche. Das ‚Fragment‘ Von der Wortfolge (1773) kommentiert dies später ausführlich: Der Redende bringt die Vorstellungen in der Ordnung bei dem Zuhörer hervor, in welcher er die Worte stellt; der Maler hingegen muß seine Gegenstände dem herumschweifenden Blick preisgeben, welches denn an diesem oder jenem so hängen bleibt, daß es darüber, einige Zeit, die andern fast gar nicht sieht. Er heftet es zwar allerdings auf die Gruppen, wenn sie gut sind; allein auch die Gruppen haben Teile, und in Ansehung dieser kann er dem Herumschweifen nicht genug Einhalt tun. Er kann also die Vorstellungen nicht so hervorbringen, wie es zu seinem Zwecke am besten sein würde. [...] Weil der Redende seine Gegenstände, einen nach dem andern, wie aus Dufte, hervortreten läßt; so macht er dadurch die Erwartung derer rege, die noch nicht da sind. Und wer kennt die Lebhaftigkeit des Erwartens nicht.198
Erwartungserregung verbindet die Welt der Leser mit der Welt der Gläubigen, und dies ist kein Zufall: Im folgenden zeige ich an vier Konstellationen, wie Klopstock theologische Vorgaben nutzt, um sein Werk in der kritischen Kommunikation zu lancieren. Ausgehend von der erwartungserregenden ‚stückweisen‘ Publikationsund Ausarbeitungspraxis Klopstocks geht es zunächst um die für ihn so wichtige Zeitfigur der vollendeten Zukunft und die entsprechende Dehnung der Zeitperspektiven von Autoren und Lesern (4.2 a); diese Zeitperspektive läßt sich mit typologischen Strukturen und deren Implikationen verrechnen, die insbesondere den Messias prägen (4.2 b); die daran anschließende poetologische Lektüre des Epos geht zunächst auf Leser- und Autorenbilder ein (4.2 c), um dann an den unterschiedlichen auditiven Kompetenzen, die Klopstock im Messias darstellt, Vermittlungsprobleme von Poetologie und Poesie zu entwickeln (4.2 c).
_____________ 196 Vgl. für die Oden Kaiser: Klopstock, S. 310ff.; Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions, S. 196ff. Weimar entziffert den gleichsam seelsorgerischen Sinn dieser bis in die Feinstruktur des Messias hineinreichenden Kunst der Verzögerung: Theologische Metrik, S. 157). 197 Vgl. zum ‚Zurückblättern’ als Eigenheit des Lesens Klopstocks Von der Schreibung des Ungehörten (Sämmtliche Werke. Bd. 9, S. 402). 198 Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 174f.
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4.2 Typologische Werkordnung Klopstock datiert ex post die Konzeption des Messias auf seine Schulzeit, wo tatsächlich nicht zuletzt die Milton-Lektüre für die eigene Vision eines Epos anregend gewesen sein könnte (KW 4/3, 187f., 266f., 271f., 282f., 309).199 Der möglicherweise vorhandene „Grundplan“, den Gärtner in einem Brief erwähnt200, erfährt im Laufe der Zeit jedoch erhebliche Veränderungen. Zugleich lassen sich erstaunlich lange und kontinuierliche Arbeitsprozesse an einzelnen Szenen und Episoden bzw. übergreifenden Zusammenhängen feststellen (KW 4/3, 180f., 334f.) – die Arbeit am elften Gesang erstreckt sich beispielsweise über mehr als zehn Jahre von 1756 bis 1768, teils mit großen Arbeitspausen (KW 4/3, 323). Textveränderungen betreffen dabei auf der einen Seite „vorzüglich das Sylbenmaß, bisweilen den Ausdruck, und nur selten den Inhalt“, wie Klopstock es in der Subskriptionsaufforderung zum Oktavdruck der Altonaer Ausgabe formuliert (KW 4/3, 262; ähnlich KB 3, 5; KB 5, 146f.). In dieser Hinsicht kann sich also die Stabilität des „Plans“, an der die theologische Substanz des ganzen Unternehmens hängt201, mit dichterischer Perfektibilierung verbinden. Auf der anderen Seite befreit Klopstock seinen Schreibprozeß durch eine konstellative Arbeitstechnik, die gleichsam auf punktuelle Erfindung und Ausarbeitung angelegt ist, von den Restriktionen, die eine festgelegte Szenenfolge der erfinderischen Spontaneität auferlegt (KW 4/3, 181f., 318). Klopstocks eigene Erklärung für diese von der Sukzession entbundene Produktionsform, wie sie sich exemplarisch in den Konstellationen des sogenannten ‚Arbeitstagebuchs‘ verfolgen läßt, liegt in der Kombination von Produktion und inspiriertem Augenblick (KB 1, 34; vgl. auch KW 7/1, 29).202 Aus diesem Grund hält er in seinem ‚Arbeitstagebuch‘ nicht _____________ 199 Als Materialfundus greife ich im folgenden auf die ausgezeichnete Darstellung und Analyse von Elisabeth Höpker-Herberg in KW 4/3 zurück, die zugleich eine Art Forschungsüberblick über den Stand der Messias-Forschung im Blick auf die Produktions- und Editionsgeschichte bietet. 200 An Bodmer, 8.4.1747 (Messias I-III, S. 169). 201 An Carl, Prinz von Hessen-Kassel schreibt Klopstock am 1. Januar 1779 im Blick auf Friedrichs II. Beschäftigung mit dem Messias: „Mein Plan (ich will nur dies Eine darüber anmercken) ist tief in der Religion gegründet. Wer meinem Gedichte an den Plan rührt, der rührt ihm an sein Innerstes [...]“ (KB 7, 113). 202 Vorbild dafür dürfte Vergil sein. In der Vita Suetonii (23) heißt es: „Aeneida prosa prius oratione formatam digestamque in XII libros particulatim componere instituit, prout liberet quidque, et nihil in ordinem arripiens. Ac ne quid impetum moraretur, quaedam inperfecta transmisit, alia levissimis versibus veluti fulsit, quos per iocum pro tibicinibus interponi aiebat ad sustinendum opus, donec solidae columnae advenirent“ („Die Aeneis, die zunächst in Prosa in großen Zügen entworfen und auf zwölf Bücher verteilt worden war, dichtete er allmählich, Stück für Stück, je nachdem jedes ihm beliebte und ohne etwas in
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nur Fortschritte in der ‚Arbeit‘ am Messias fest, sondern auch Momente, in denen diese stockt: „Vergebens mich bemüht, am Mess zu arbeiten. Allerhand geles“ (KA 2, 35) – dies ist ebenfalls eine spezifische historische Form von Negativität. Die Unbestimmbarkeit der Produktionszeit, sowohl was den Augenblick der Produktion als auch was deren Dauer bis zum ‚Abschluß‘ eines Werks betrifft, korrespondiert einem Text, der sich von der Linearität eines gemeinsam verfügbaren sprachlichen Haushalts befreit.203 Andere Gründe für die verhinderte Fortsetzung fügen sich in dieses Bild ein: Wenn Klopstock an Bodmer über seinen Aufenthalt in Langensalza schreibt: „Ich habe mehr mir gelebt, als dem Mess. [...]“, so wird die amouröse Blockade der Arbeit am Messias zugleich zu deren Stimulans in der zeitlichen Distanz: „Unterdeß hat mein Herz diese Jahre vieles gelernt, welches auf die künftigen Gesänge einen grossen Einfluß haben wird“ (KB 1, 73).204 Das „stückweise“ Ausarbeiten, wie Klopstock seine „löbliche[ ] Gewohnheit“ gegenüber Gleim genannt hat (KB 5, 46), läßt sich durchaus mit einer ‚planvollen‘ Produktion verbinden. Man kann dies an den von Klopstock in der Niederschrift freigelassenen Stellen sehen, die zur späteren Ausfüllung gedacht waren (KW 4/3, 273f.). Die Klopstock-Forschung hat auch vor diesem Hintergrund der Individualisierung des dichterischen Arbeitsprozesses immer wieder biographische Motivationen für Entwürfe oder Änderungen festgestellt (z. B. KW 4/3, 181, 183, 293, 297, 301, 331). Der Entstehungsprozeß macht das Schicksal des Messias und seiner Hauptfigur transparent auf die Autorpersönlichkeit. Der Text wird so beweglich und fluide wie sein Autor, so daß die Verwandlungen als thematisches Zentrum sich harmonisch ins Gesamtbild fügen. Im Unterschied zur Urteilsbildung des göttlichen Richters allerdings war diejenige des Messias-Autors bisweilen nicht durch Bestimmtheit und Schnelligkeit gekennzeichnet, sondern durch Entscheidungsunsicherheit gegenüber Alternativen, die sich erst im Laufe der Zeit als Verbesserung oder Verschlechterung verbuchen ließen (KW 4/3, 186). In diesem Zusammenhang bekommt die Idee, durch Anmerkungen den Messias von _____________
eine bestimmte Reihenfolge zu nötigen. Und damit nichts seinen dichterischen Schwung hemme, überging er manches, was noch unvollendet war, stützte anderes nur mit ganz leichten Versen, von denen er scherzhaft sagte, sie würden nur als Stützpfeiler dazwischen gesetzt, bis unterdessen die massiven Säulen ankämen“ (Vergil: Landleben, S. 220f.). 203 Hurlebusch: Klopstock, Hamann und Herder als Wegbereiter autorzentrischen Schreibens, S. 24; z. B. auch KW 7/2, 240f. 204 Vgl. dazu auch die Begründung der Produktionshemmung nach Meta Klopstocks Tod: „Der Tod derjenigen, die ich so sehr geliebt habe und liebe, hat, meines Bestrebens ungeachtet, solche Einflüsse auf mich gehabt, daß ich, da ich ohnedieß ein langsamer Arbeiter bin, bisher noch langsamer habe arbeiten müssen“ (an Meier, 29. April 1760; zit. nach Sickmann: Klopstock und seine Verleger Hemmerde und Bode, Sp. 1528f.).
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seinem „wahren Gesichtspunkte“ aus zu zeigen (KB 2, 231)205, eine spezifische Konnotation als Effekt einer konstellierenden Ästhetik. Klopstock setzt daher das Abschlußkriterium der Korrektheit in eine der typischen tentativen Wendungen und probabilisiert diese zugleich, etwa in der Subskriptionsanzeige des Oktavdrucks der Messias-Ausgabe von 1779, wo er von der annoncierten „Ausgabe der letzten Hand“ schreibt, sie „dürfte [...] vielleicht die correcteste sein“ (KW 4/3, 263). Die für Klopstock typische Konzentration auf den Drucktext und seine Statik gerät in die Spannung zwischen Verfahrensweisen, die auf „energetische[ ] Selbstschöpfung des Autors in der dichterischen Ausdrucksbewegung“ zielen, und einem „Werkbewußtsein“, das sich an der Produktion der Gattungsspitzen von Ode, Trauerspiel und Epos orientiert.206 Diese prozessualisierte ‚Werk‘-Verfassung zielt nicht zuletzt deswegen auf mündliche Präsentation, weil Vokalisierung in der „Rezeptionsbewegung“ gewissermaßen „produktionsanalog“ verfährt. Sie gewährt im Unterschied zum stillen Lesen geringere „Reflexionsdistanz“. Damit rangiert das Erleben von Prozessen höher als das Erkennen von Objekten.207 Zugleich steht der ‚stückweisen‘ Produktion eine ebenso ‚stückweise‘ Rezeption gegenüber. Die Oden werden beispielsweise von Klopstock verstreut publiziert oder kursieren in Abschriften.208 Beim Messias muß das _____________ 205 Vgl. dazu auch die Diskussion mit Göschen und Böttiger, die den Verleger viele Nerven gekostet haben dürfte (5.2 a). 206 Hurlebusch: Klopstock, Hamann und Herder als Wegbereiter autorzentrischen Schreibens, S. 13ff. (Zitate S. 14, 19); KW 7/2, 716ff. Das läßt sich auch an der Behandlung der unterhalb der Gattungsspitze rangierenden ‚belehrenden’ Prosa im Unterschied zu den ‚bewegenden’ hohen Gattungen sehen: In der Prosa prägt Klopstock eine „offene Struktur“ dergestalt aus, daß auch die Zuordnung zu einem Werk bzw. der Werkcharakter selbst problematisch werden, wohingegen der Rest des dichterischen Werks kaum vergleichbare Zuordnungsprobleme aufwirft (Hurlebusch: Klopstock, Hamann und Herder als Wegbereiter autorzentrischen Schreibens, S. 58f.). Im Kontext der Probleme, die sich aus dem Scheitern des ‚Wiener Plans’ ergeben, entwickelt Klopstock ein interessantes Leserkonzept: Der kompetente Leser versteht die mißverständlich gewordene Widmung zu Hermanns Schlacht richtig, weil er in den Oden Parallelstellen findet (KB 5, 76; vgl. dazu KB 5, 474f., 596) – Klopstock rechnet gewissermaßen mit Werklesern. Zum Thema auch ausführlich KW 7/2, 234ff. 207 Hurlebusch: Klopstock, Hamann und Herder als Wegbereiter autorzentrischen Schreibens, S. 14, 16, 18. Zum folgenden auch KW 7/2, 248f. 208 Klopstock projektiert mehrfach seit 1751 eine Oden-Ausgabe, geht die Edition aber erst Ende der 60er Jahre wirklich an und veröffentlicht dann – beschleunigt durch die korrumpierten Oden-Ausgaben des Darmstädter Kreises und Christian Friedrich Daniel Schubarts – 1771 seine Sammlung (Sickmann: Klopstock und seine Verleger Hemmerde und Bode, Sp. 1560f., 1586ff.; Pape: Klopstocks Autorenhonorare und Selbstverlagsgewinne, Sp. 72ff.; KB 5, 342, 449f.) – auch hier entwirft Klopstock sogleich den Plan einer veränderten Auflage, der allerdings erst Anfang der 90er Jahre konkret wird (Pape: Klopstocks Autorenhonorare und Selbstverlagsgewinne, Sp. 80ff.). Für Klopstocks Versuch, die unkontrollierte Zirkulation seiner Texte zu beenden, ist die Vorrede zu Oden, als Mskrpt (1780) auf-
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Publikum sich ebenfalls notgedrungen in die ‚stückweise‘ Rezeption fügen, weil die Gesänge erst nach und nach erscheinen bzw. weil Klopstock daneben nur sogenannte „Fragmente“ herumreicht oder publiziert, wie im Falle der Triumphgesänge und -chöre des 20. Gesangs. Einerseits demonstriert die ‚stückweise‘ Verbreitung und Rezeption des Messias wie der Oden die Bedeutung des Archivs für die ans Werk gebundene Form der Autorschaft, wenn Klopstock sich brieflich auf die Suche nach Fragmenten des Messias oder nach Oden macht (z. B. KB 4, 202). Andererseits provoziert diese Zirkulationsform bei Klopstocks Lesern eine aufs Werk gespannte Aufmerksamkeit, bei der sie u. U. den Autor überholen. Fragmente, so schreibt Heß an Klopstock, „machen uns auch gar zu begierig nach ganz neuen Gesängen“ (KB 1, 98).209 Lessing schließlich weist auf ein Leseverhalten hin, das die „stückweise“ Betrachtung in eine Werklektüre umsetzt. Ich zitiere noch einmal den entscheidenden Passus aus seiner Kritik der Widmungsode an Friedrich V.: „Betrachtet sie [„die zerstreuten Glieder des Dichters“, S.M.] Stückweise. Eine Schönheit wird die andre hervorbringen, und jede bleibt groß genug, unzähliche Anfangs unbemerkte in sich zu enthalten, wann ihr mit der Zergliederung fortfahret“.210 Die „stückweise“ Rezeption, die Klopstock seinen Lesern aufzwingt, führt demnach gerade nicht zur Fragmentierung des Werks, sondern provoziert eine spezifische Subtilität der Einheitsstiftung in der ‚aufmerksamen‘, zeitintensiven und erwartungsvollen Lektüre.211 Im folgenden geht es um die entsprechenden Verfahren, mit denen _____________
schlußreich: „Ich habe zu dänen, welche dise Oden fon mir bekommen, das Zutrauen, daß si diselben nicht abschreiben, noch fil weniger drukken lassen wärden Klopstock“ (zit. nach Pape: Klopstocks Autorenhonorare und Selbstverlagsgewinne, Sp. 81). 209 Brief vom 26. Juni 1750 – Heß bezieht sich hier konkret auf Fragmente aus dem vierten und fünften Gesang des Messias. Die Plan-Theorie steht weiterhin im Hintergrund der kritischen Erörterungen, wie man an der Auseinandersetzung zwischen Gerstenberg und Nicolai über die Vorabveröffentlichtunng von Teilen des 20. Gesangs unter dem Titel Fragmente aus dem XXten Ges. des Mess. als M. S. für die Freunde. im März 1764. zum Triumphgesange bey der Himmelfahrt sehen kann. Auf die negative Kritik Nicolais antwortet Gerstenberg am 31. Januar 1767: „[...] das Ganze geht nach einem reiflich überdachten, obzwar mit unendlichen Schwierigkeiten verbundenen, Plane fort, die deutsche Inversion, die Energie der Sprache, die Musik der Versification wird gewiß dabey gewinnen, und der Geist der Epopoe, nach allem dem, was Sie von dem Genie des Dichters voraussetzen können, nichts darunter leiden“. Nicolai antwortet darauf am 31. März 1767: „ich will es zurücknehmen, wenn die neuen Gesänge des Messias herauskommen und ich aus dem Zusammenhange sehe, daß ich die gantze Absicht des Dichters vorher nicht gesehen habe“ (R.M. Meyer [Hrg.]: Gerstenbergs Briefe an Nicolai nebst einer Antwort Nicolais. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 23 [1891], S. 43-67, S. 47f., 50. – Hinweise bei Rößler: Form als Theologie, S. 11). 210 Lessing: Werke. Bd.3, S. 98. 211 Die Unabgeschlossenheit scheint daher mit Klopstocks Privilegierung der Erstlektüre (KW 7/2, 695) in einem durchaus spannungsvollen Verhältnis zu stehen. Ebenso ist Klopstock ja nicht nur der entwerfende Autor (KW 7/2, 699), sondern auch der verbessernde Autor
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genden geht es um die entsprechenden Verfahren, mit denen Klopstock eine Lektüre unterstützt, die auf ein kompliziertes Werk zielt. a) Die Gegenwärtigkeit des Abwesenden Einen ersten Ansatz zur Entschlüsselung von Klopstocks Werkkonzeption insbesondere des Messias habe ich oben über die Theorie vom ‚Plan‘ bzw. vom ‚Grundriß‘ entwickelt (4.1.2). Klopstock greift auf die Überlegungen zum ‚Plan‘ zurück, wie sie etwa Bodmer im Blick auf das Epos anstellt. Bei ihm dient dies allerdings nicht zur Komplexitätsreduktion, sondern zur Komplexitätssteigerung. Dabei spielt die Dehnung der zeitlichen Perspektive eine besondere Rolle: als Produktionsmodus auf seiten des Autors, als Erwartungserregung durch das Werk und als Erwartungshaltung auf seiten des Lesers. Indem Klopstock so den Blick auf das Detail in seiner möglichen Bedeutsamkeit als Element eines nur erschließbaren Ganzen lenkt, provoziert er eine selektionslose Aufmerksamkeit, die er unter dem Sensorium für ‚Feinheit‘ laufen läßt. Hieran schließen sich weitere werkkonzeptionelle Aspekte an: So ist es etwa charakteristisch, daß Klopstock an zwei Stellen seiner Werkgenese die frühe Festlegung auf den ‚Plan‘ zum Messias besonders betont: Zunächst behauptet Klopstock zu Beginn seiner Laufbahn, daß sein Werkentwurf einem ‚Plan‘ folgt, was sich hier schlüssigerweise karrierestrategisch lesen läßt. Bemerkenswert war in diesem Zusammenhang die gedehnte Produktionsdauer sowie die Bereitschaft der Leser, sich auf diese Dehnung mit kritischer ‚Behutsamkeit‘ und kritischem ‚Feinsinn‘ einzulassen. Schließlich kommt Klopstock vor allem am absehbaren Ende seiner dichterischen Laufbahn auf das Thema wieder zu sprechen. In Briefen aus den Jahren 1799 und 1800 weist er beispielsweise eigens auf den bereits in den 40er Jahren entstandenen „Entwurf“ hin, zum einen, um sich gegen Fremdeinflüsse zu wehren212, zum anderen, als er wieder in Kontakt zu seiner Schule tritt und ihr die „grosse Ausgabe des Mess. [sendet] die Herrn Göschen nicht wenig Ehre macht“ (20. März 1800; KB 10, 144).213 _____________
(KW 7/2, 705f.), was man sich schwerlich reflexionslos-selbstüberwältigend vorstellen kann. 212 In einem Brief an Herder vom 13. November 1799 wehrt Klopstock eine Kritik ab, die im vorhält, er hätte zur Konzeption des Messias die Bibelübersetzung von Carl Friedrich Barth heranziehen müssen, indem er auf den frühen Konzeptionszeitpunkt hinweist (KB 10, 102). 213 Andere Quellen, die Andeutungen über den frühen Entwurf machen, bei Pape: Klopstock, S. 44f.; vgl. hier auch zu den konzeptionellen Unsicherheiten des jungen Klopstock bezüglich des Subjekts und anderer Fragen (ebda., S. 46f.).
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Der pädagogische Hintergrund ist gerade im Blick auf die behauptete Selbständigkeit aufschlußreich; hier interessiert indes zunächst nur, daß Klopstock an den beiden neuralgischen Punkten des Werks, an dessen Anfang und an dessen Ende, ansetzt. Denn nur wenn ein Frühwerk, das nicht verworfen, sondern allenfalls verbessert werden muß214, und ein Alterswerk, das nicht in der weisen Einkehr in ein Leben ohne literarische Ambitionen besteht, zum literarischen Diskurs zugelassen werden, kann sich ein Lebenswerk konstituieren (4.1.1; 5.2 b; 5.4.1).215 Ein Lebenswerk wiederum macht alle Werkteile zu Elementen einer Entwicklung und damit – unabhängig von ihrer literaturkritischen Beurteilung – beachtenswert: Potentiell trägt hier jede ‚Kleinigkeit‘ zum Verständnis eines ‚Ganzen‘ bei, und umgekehrt führt potentiell jedes übersehene oder nicht richtig gesehene Detail zu Mißverständnissen (5.2). Welchen Regeln dabei das ‚Übersehen‘ oder das ‚Richtig-Sehen‘ folgt, ist zunächst unklar. Um die „Verbindlichkeit“ zu beglaubigen, „eben so schön bis ans Ende dieses Gedichtes zu bleiben“, die Klopstock sich laut Meiers MessiasRezension selbst auferlegt216, gehört die für Klopstocks Frühwerk charakteristische Zeitfigur der vollendeten Zukunft.217 Das Faible für diese Zeitfigur ist zwar in der Schulabschlußrede schon angelegt, bleibt dort aber noch deutlich auf eine einfache futurische Orientierung beschränkt (4.1.2): Die vollendete Zukunft markiert, daß Klopstock sich und seine Umgebung, wie das ja vor allem die Gelehrtenrepublik dann auch ausführt (z. B. KW 7/1, 22), immer schon im Licht des Historischen wahrnimmt und daß er mit Abwesenheiten umzugehen versteht, letzteres sogar in seiner radikalsten Form, derjenigen des Todes. So bekennt er in einem Brief an Magarete Moller: „Manchmal rechne ich die Abwesenden unter die Tod_____________ 214 Eine andere Variante stellt die Gelehrtenrepublik vor: Das Autodafé betrifft nicht das Jugendwerk, sondern schon der „Jüngling“ verbrennt seine „erste Schrift“ – das gehört zu den „Merkzeichen, welche den künftigen grossen Schreiber wittern lassen ...“ (KW 7/1, 46). Vgl. überhaupt zur Konstitution einer ‚Jugend’-Kultur und damit einer Biographie in einem spezifischen Sinn Quabius: Klopstock und die Jugend, S. 22ff.; Pape: Klopstock, S. 378f. 215 Ein Modell für diesen Prozeß der Konstituierung des Lebenswerks habe ich zu entwerfen versucht in: Die Entdeckung von Tiefsinn im 18. Jahrhundert. Vgl. ergänzend dazu auch Lessings Auseinandersetzung in der Hamburgischen Dramaturgie mit einer Einstellung, die nur jungen Dichtern das Dichten erlaubt, dann aber ein „ernsthaftere Studia, oder wichtigere Geschäfte“ für angemessen hält (Werke. Bd. 4, S. 671f.). 216 Meier: Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias. Zweytes Stück, S. 69f. 217 Analog könnte man für das spätere Werk auf die Figur des hysteron proteron verweisen, bei Klopstock also die Vertauschung der Handlungsreihenfolge nach Maßgabe größtmöglicher Affekterregung – vgl. z. B. beim Sieg Davids über Goliath im 20. Gesang: „Da sank ihm der Stab, und er traf / Den Gathäer, der ihm Hohn sprach“ (KW 4/2, 272, V. 239f.; Rößler: Form als Theologie, S. 31).
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ten“ (KB 2, 100).218 Wie riskant die Denkform der vollendeten Zukunft ist, mußte Klopstock im übrigen beim Scheitern des ‚Wiener Plans‘ erfahren, den er ja aus der Perspektive der Zukunft als „schon geschehen“ lanciert hatte.219 Berühmte Beispiele für diese typische Zeit-Form finden sich in Klopstocks Oden-Dichtung, etwa in An Fanny 220 oder in Der Zürchersee. Die Zürchersee-Ode ist dabei besonders aufschlußreich, weil sie die Lücke, die durch die abwesenden Freunde entstehen, mit der Dichtung ausfüllt: Gegen Ende opfert die kaskadische Steigerungsstruktur221 der Ode zunächst den Dichterruhm der Freundschaft („Aber süßer ist noch, schöner und reizender, / In dem Arme des Freunds wissen ein Freund zu seyn!“, V. 61f.). Die angesprochenen Freunde sind aber nicht die zuvor apostrophierten „Jünglinge“. Zumindest taucht das Ich „mit gesenktem Blick“ in die Gedanken an die abwesenden Freunde ein und leitet „schweigend“ zu den beiden letzten Strophen über: Wäret ihr auch bey uns, die ihr mich ferne liebt, In des Vaterlands Schooß einsam von mir verstreut, Die in seligen Stunden Meine suchende Seele fand; O so bauten wir hier Hütten der Freundschaft uns! Ewig wohnten wir hier, ewig! Der Schattenwald Wandelt’ uns sich in Tempe, Jenes Thal in Elysium! (KO 1, 85).
_____________ 218 Ein Beispiel, wie leicht Klopstock die Mortifikation der Freunde fiel, findet sich im Brief an J.A. Cramer vom 4. Juli 1748: „Schicken Sie mir doch einige von Gisekens u Schlegels lezten Briefen. Man liest doch gern in den Papieren seiner verstorbenen Freunde“ (KB 1, 9f.) – um es deutlich zu sagen: Giseke und Schlegel leben zu diesem Zeitpunkt! 219 KB 5, 105; vgl. zur Kritik daran, daß der Kaiser möglicherweise nicht für etwas gelobt werden will, „was oder noch nicht geschehen, oder nicht gänzlich zuverlässig ist, daß es geschehen wird“ (KB 5, 141, auch 151f. sowie KB 6, 21). Vgl. auch die Auseinandersetzung mit diesem Problem in der Gelehrtenrepublik, wo Klopstock plausibilisieren will, daß er zurecht glauben mußte, der ‚Plan’ werde sich erfüllen (KW 7/1, 219ff.; dazu auch Voß an den ‚Hainbund’; KW 7/2, 328f.). 220 Die für Klopstock typischen Konditionalkonstruktionen mit „Wenn“, die u.a. die FannyOde prägen, werden im Spätwerk im übrigen signifikant weniger, verschwinden jedoch nicht (vgl. dazu Schneider: Klopstock und die Erneuerung der deutschen Dichtersprache im 18. Jahrhundert, S. 92ff. – weitere „Wenn“-Beispiele ebda., S. 125f.). Auch daran mag sich die spezifische Werkfunktion der Verschaltung von Zukunft und Vergangenheit ablesen lassen. Zur Ode allgemein und zum biographischen Hintergrund drängender Zukunftssorgen, nicht zuletzt in materieller Hinsicht, vgl. Pape: Klopstock, S. 117ff., speziell zur Zeitstruktur ebda., S. 122. 221 Dazu Sauder: Die „Freude“ der „Freundschaft“, S. 231ff.
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Das Ich verabschiedet die anwesenden Freunde zugunsten der abwesenden und versetzt diese an einen Literaturort, den es mit biblischen Motiven und Motiven der antiken Dichtung bestückt. Die Ode biegt also am Ende nicht die von Alkoholisierung („Lieblich winket der Wein, wenn er Empfindungen, / Beßre sanftere Lust, wenn er Gedanken winkt [...]“; V. 41f.) und Dichtung begonnene Kurve der Virtualisierung zurück, führt nicht vom ‚Leben‘ durch die ‚Dichtung‘ wieder zum ‚Leben‘, sondern virtualisiert auch die eingangs beschworene Geselligkeit und überführt sie in die Verfügungsgewalt des Dichters.222 Klopstock subvertiert auch hier die Logik der Re-Präsentation, mit der das Gedicht von Beginn an spielt, indem er das ‚Vorhandene‘ durch das ‚Nicht-Vorhandene‘ ersetzt und dieses ‚Nicht-Vorhandene‘ vergegenwärtigt.223 Diese Struktur ist werkkonzeptionell vor allem deswegen von Bedeutung, weil Klopstock mit der „Göttin Freude“ (V. 29) direkt auf Friedrich von Hagedorn Bezug nimmt. Er überbietet dessen Ode An die Freude 224 und unterläuft zugleich dessen Werkentwurf, der auf den weisen Abschied von den jugendlichen Dichterambitionen zugunsten des genußvollen Weinkonsums und der freundschaftlichen Begegnung hinausläuft. Hagedorn kann somit den Gedanken des Alterswerks und den des Lebenswerks nicht entfalten.225 Von daher ist es bemerkenswert, daß Klopstock bei seinem Werkentwurf mit Gellert und Wieland neben Hagedorn die beiden anderen Dichter, die zentrale Stationen des Lebenswerkkonzepts markieren, immer wieder vor Augen stehen.226 _____________ 222 Besonders deutlich wird diese Literarisierung durch die Varianten der beiden ersten Drucke von 1750 und 1751, in denen Klopstock den Freunden noch mehr Eigeninitiative ermöglicht hatte: „Möchtet ihr auch hier seyn, [...] O so wollten wir hier Hütten der Freundschaft baun!“ (KO I, 85). Kohls Ansatz, die frühe Freundschaftslyrik vor allem von der Seite der Leserbewegung her zu verstehen, ist einerseits überzeugend, umgeht aber andererseits vielleicht zu weiträumig die Frage nach der Autorinszenierung („Sey mir gegrüßet!“, inbes. S. 27ff.) – es scheint mir durchaus entscheidend, von was oder wem der Leser sich bewegt gefühlt haben soll, und hierbei ist der Autor ‚Klopstock’ oder zumindest Klopstocks Dichtung eine zentrale Figuration. Diese Perspektive holt die an gleicher Stelle erschienene Interpretation von Hilliard ein (Klopstocks Tempel des Ruhms). 223 Dazu Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions, S. 209f. 224 Zur Semantik der ‚Freude’ im 18. Jahrhundert vgl. Verf.: Friedrich von Hagedorn, S. 51ff., speziell zu Klopstock S. 70f. – hier wird auch die tradierte Meinung widerlegt, eine „Göttin Freude“ ließe sich vor Hagedorn nicht nachweisen, was dazu führt, daß man als alternativen Traditionsbezug zur Erläuterung des „Freude“-Begriffs auf Shaftesburys „enthusiasm“ zurückgreift (so auch in Haverkamps Zürchersee-Lektüre: Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik, S. 130f.; ders.: Fest/Schrift, S. 285f.): Die „Göttin Freude“ läßt sich als „Laetitia“ bzw. als „Euphrosyne“ entschlüsseln und an entsprechdende moralphilosophische Konzepte anschließen (Verf.: Friedrich von Hagedorn, S. 62ff.). 225 Verf.: Friedrich von Hagedorn, S. 70f., 91ff.. 226 Vgl. z. B. KB 1, 55, 62; KB 2, 6; KB 8, 1046; KB 9, 63, 130; vgl. dazu Verf.: Die Entstehung von Tiefsinn im 18. Jahrhundert.
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Einleuchtenderweise spielt Klopstock insbesondere in Liebes- und Freundschaftsangelegenheiten seine Distanzkompetenz aus: Die Aufklärung erneuert die Liebes- und die Freundschaftssemantik, indem sie das Problem der Abwesenheit durch den Rückgang auf Unsichtbares bewältigt, sei es die Seele227 oder ein Vertrauen, das sich gegen Äußerlichkeiten irritationsresistent erweist.228 Aber auch im Messias spielt die Einschleifung dieses Zeitverhaltens ein große Rolle: inhaltlich etwa durch die Erlösungsgewißheit (KW 4/1, 1, V. 1ff.)229, die Klopstock zum Ausdruck bringt, oder formal durch die vielen gestaffelten KonditionalisKonstruktionen (z. B. KW 4/1, 79, V. 538ff.). Deutlicher werden die Erzählerreflexionen, insbesondere der berühmte Eingang des dritten Gesangs: Sey mir gegrüßt! ich sehe dich wieder, die du mich gebahrest, Erde, mein mütterlich Land, die du mich im kühlenden Schosse Einst zu den Schlafenden Gottes begräbst, und meine Gebeine Sanft bedeckst; doch dann erst, dieß hoff ich zu meinem Erlöser, Wenn von ihm mein heiliges Lied zu Ende gebracht ist.230
Nach ‚Vollendung‘ des Epos drängt Klopstock dann im Laufe der nun folgenden andauernden Bearbeitung nicht nur merklich die Autorschaft des „Erlösers“ in den Hintergrund231, sondern er entfaltet auch die drei Dimensionen bzw. Objektbereiche seines Werks, in denen er seine Abwesenheitskompetenz unter Beweis stellt: die Heilsgeschichte, die Liebe und die Freundschaft. Zunächst fährt Klopstock folgendermaßen fort: Dann erst sollen die Augen, die seinetwegen vor Freude Oftmals weinten, sich schliessen; dann erst meine Freunde Und die Engel mein Grab mit Lorbeer und Palmen umpflanzen, Daß, wenn ich einst nach himmlischer Bildung vom Tode erwache, Meine verklärte Gestalt aus stillen Hainen hervorgeh.
_____________ 227 Zum frühaufklärerischen Umbruch in der Liebessemantik Osterkamp: Liebe und Tod in der deutschen Lyrik der Frühaufklärung; zur Liebessemantik der Empfindsamkeit vgl. Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, z. B. S. 20ff.; kurz gefaßt auch in ders.: Die Verschriftlichung der Liebe und ihre empfindsamen Folgen (dort zu Klopstock S. 259ff.) Vgl. auch im Messias die Rede vom „Verlangen, heiß, wie getrennte / Seelen allein es zu haben vermögen“ (KW 4/2, 194, V. 102f.). 228 Um nur eine Stelle zu zitieren (aus einem Brief an J.A. Schlegel vom 8. Oktober 1748): „Die Natur hatte uns schon vorher geseegnet, da sie uns schuf, u unsere Freunde für uns. Dieses Glück ist dem Pöbel unsichtbar, u wer so kühn, oder weise ist, es jedem andern Glücke vorzuziehn, der gleicht einem, der edel genug ist ohne Zeugen tugendhaft zu seyn“ (KB 1, 23) – anders gesagt: Der kompetente Umgang mit Unsichtbarkeit, den man im Umgang mit Freunden probt, macht einen unabhängig von Zeugen, also von Anwesenheiten. 229 Osterkamp: Lucifer, S. 162ff. 230 Klopstock: Der Messias Gesang I-III, S. 74 (III. Ges., V 1ff.). 231 Nach Abschluß des Messias lautet der letzte der zitierten Verse seit der Altonaer Ausgabe von 1780: „doch erst [...] / Wenn des neuen Bundes Gesang zu Ende gebracht ist“ (KW 4/4, 305).
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Im Druck heißt es statt dessen seit der ‚Altonaer Ausgabe‘ (1780): O dann sollen die Lippen sich erst, die den Liebenden sangen, Dann die Augen erst, die seinetwegen vor Freude Oftmals weinten, sich schließen; dann sollen, mit leiserer Klage, Meine Freunde mein Grab mit Lorbern und Palmen umpflanzen, Daß, wenn in himmlischer Bildung dereinst von dem Tod’ ich erwache, Meine verklärte Gestalt aus stillen Hainen hervorgeh. (KW 4/1, 45; KW 4/4, 305; Hervorhebungen S. M.)
Wie wichtig diese Zeilen gerade am Beginn seiner Dichterkarriere für Klopstock waren, sieht man beispielsweise an Briefen, in denen er sich mit den Exordialversen selbst charakterisiert (KB 1, 3f.). Hier findet sich im übrigen noch eine weitere Variante, die Klopstock an Bodmer nach einer „nicht eben ausserordentlich gefährlich[en]“ Krankheit schickt: Sey mir gegrüßt! ich sehe dich schon, dem Gottmensch erlöste Himmel, mein ewiges Land, der du mich im [Sc]hoosse des Friedens Unter den Schlafenden Gottes empfängst: in deß deckt die Erde Meine Gebeine, schon izt (so wollt es mein hoher Erlöser!) Da noch nicht mein heiliges Lied zu Ende gebracht ist. [...] So beweint [von Freunden und Engeln, S.M.] will ich schlummern, bis ich erwache, Ein Gott würdigers Lied der neuen Erde zu singen. (KB 1, 57)
Mit anderen Worten: Klopstock könnte sich offenbar durchaus schon eine autorschaftliche Existenz nach dem 20. Gesang des Messias und sein Publikum in anderen Sphären vorstellen. Klopstocks Nachruhmsicherheit wird an den Prozeß der Etablierung von Negativität anschlußfähig, weil er sich auch über Rezeptionszusammenhänge ein zeitlich differenziertes Bild macht: In Von dem Publiko, 1758 im Nordischen Aufseher erschienen, schließt Klopstock sich an die kritische Leitdifferenz zunächst von „Publikum“ und „große[m] Haufen“, dann an die Folgedifferenz von bloßer Geschmacks- und darüber hinausgehender Begründungskompetenz an: Er unterscheidet den „Richter“, der die Werke nach „der ihnen eigenen Wendung“ zu beurteilen vermag und der die Regeln zu den Werken findet, vom „Kenner“, der aufgrund theoretischer Defizite zu Parteilichkeit und Eigensinnigkeit neigt.232 Beide Dichotomien sind in der Kritiktheorie des 18. Jahrhunderts gängig. Auffällig ist indes, daß Klopstock den Meinungsbildungsprozeß zeitlich dimensioniert, und zwar in ausgreifender Perspektive: Das Publikum dehnt sich dieser Konstruktion zufolge im Laufe des Rezeptionsprozesses aus, nachdem die Entscheidung über den Wert eines in Frage stehenden _____________ 232 Klopstock: Sämmtliche Werke. Bd. 10, S. 302ff.
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Werks gefallen ist. Diese Entscheidungsfindung könne lange Zeit, oft sogar Jahre dauern und vollziehe sich in allmählicher Orientierung über Streitigkeiten und sukzessive Kanonisierung auf dem Weg der Urteilsakkumulation und -verbreitung. Voraussetzung einer derart dezentrierten Meinungsbildung ist daher das geschmackliche Niveau einer „Nation“.233 Daß man im 18. Jahrhundert Zeit für Urteilsbildung in Anspruch nimmt, Irrtumsfähigkeit und Multiperspektivität einbezieht und gleichzeitig in Wahrscheinlichkeiten zu denken beginnt,234 fügt sich zu einer Kategorie wie derjenigen der ‚Nation‘, die sich ja nur annäherungsweise statistisch erfassen läßt und seit dem 18. Jahrhundert auch statistisch erfaßt wird.235 Die Rückseite der Statistik ist die Erfindung des Risikos, also der Normalität des Unfalls.236 Die wirkungsästhetische Berechnung auf den Mittelwert geht in Von dem Publiko aus der kritischen Kommunikation und in der Gelehrtenrepublik korrespondierend dazu aus der Annahme anthropologischer Normalität hervor (KW 7/1, 11, 70f., 172f.): Der Poet hat die Aufgabe, durchschnittliche Wirksamkeit durch Erfahrungsdaten zu bestimmen.237 Klopstock will auf diese Weise im Rahmen seiner ‚empirischen Poetik‘ (5.1) wirksame Adressierungen ermöglichen, kombiniert aber Erfahrungssicherheit mit der Möglichkeit der Verfehlung, ohne sich dadurch widerlegt sehen zu müssen. Bodmer war bei seiner von der Wirkung her gedachten MiltonVerteidigung im Unterschied dazu in größte Schwierigkeiten geraten; ihm war nur die Möglichkeit einer mehr oder weniger verdeckten Publikumsbeschimpfung geblieben, was die Gottschedianer genüßlich ausgeweidet hatten (3.2.1 c). Klopstock behauptet demgegenüber eine „unterste“ _____________ 233 „Ein Werk [...] erscheint. Die Richter fangen an, ihren Ausspruch zu thun; auch einige Kenner erklären sich. [...] Unterdeß verurtheilt der große Haufen. [...] Hundert kleine Richterstühle erschallen von nichts als Aussprüchen. Das Publikum [...] bemerkt diese kleinen Nebenrichter nicht. [...] Unterdeß sind einige neue Richter aufgetreten. Mehr Kenner haben sich erklärt. Die völlige Entscheidung macht sich nun merklicher; die öffentlichen Urtheile haben sich auch in guten Gesellschaften ausgebreitet. Dort hatten schon vorher Richter und Kenner ihre Gedanken gesagt. Die gedruckten Urtheile waren einigen von den Gesellschaften nur eine Bestätigung desjenigen, was sie schon angenommen hatten. [...] Die Entscheidung des Publici kömmt gewöhnlich auf die angeführte Art zur Reife. Allein dieß geschieht früher oder später, nach dem der Geschmack unter einer Nation mehr oder weniger ausgebreitet ist“ (Klopstock: Sämmtliche Werke. Bd. 10, S. 305f.). 234 Stöckmann: Vor der Literatur, S. 213ff. 235 Vogl: Staatsbegehren. 236 Vgl. zum „Sicherheitsdispositiv“ Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I, z. B. S. 73ff.; Vogl: Staatsbegehren, S. 608ff. 237 Vgl. dazu auch schon die Gedanken über die Natur der Poesie: „Der Gegenstand ist gut gewählt, wenn er gewisse durch die Erfahrung bestätigte starke Wirkungen auf unsre Seele hat“ (Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 182).
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„Classe[ ] Zuhörer“, „mit der keine Erfahrung zu machen ist“ (KW 7/1, 173) – auch Erfahrung will gelernt sein. Die Dauer der Meinungsbildung korrespondiert der Dauer der Produktion und damit einem hochgeschraubten Anspruch. Klopstock reflektiert auf diese Weise durchaus die jahrelang währende Urteilsfindung der Kritik über den Messias, die sich mit den angeführten Dichotomien von unsachgemäßer Polemik und angemessener Meinungsbildung sowie von lobendem Enthusiasmus und reflektierter Beurteilung beschreiben läßt. Gerade im Widerspiel von ‚Kennern‘ und ‚Richtern‘, deren Kompetenzen sich ja nur graduell unterscheiden, bietet Klopstock ein Bild der abstrusen Situation, daß die Lobredner nicht nur den Kritikern (also bei Klopstock dem ‚große Haufen‘) Defizite vorrechnen, sondern auch anderen Lobrednern. Daraus ergibt sich eine Spirale von Kritik und AntiKritik oder von Lob und Anti-Lob, die schließlich den Blick in die Zukunft und die Akkumulation von positiver Meinungsenergie als Ausweg erscheinen läßt. Um ein Beispiel anzuführen: Heß schreibt gegen die Kritik an einem Detail, das sich für Meier nicht in den Zusammenhang des Ganzen integrieren läßt: Es ist also auch so fern, daß dieser hier beurtheilte Umstand, wie der Herr Prof. höflich besorget, eine, zwar nur sehr kleine Verwirrung in den Zusammenhang der ganzen Erdichtung machen könnte; daß diese Stelle im Gegentheil meines Bedünkens von allen Kennern zu allen Zeiten höchlich wird bewundert werden, als eine überzeugende Probe von der ganz ungemeinen Deutlichkeit und Ordnung, die in dem Geiste des Dichters geherrschet, als ohne welche er unmöglich im Stand gewesen wäre, weder einen so gar besondern Punct von dem verherrlichten Sieg seines Helden, schon beym ersten Anfang des Leidens desselben so genau im Auge zu haben, noch auch den Geist des Lesers zu hohen Gedanken von derselben besondern Verherrlichung des Meßias und seiner Erlösung gleichsam unvermerkt auf eine so einnehmende Weise vorzubereiten.238
Der Kritiker erkennt die temporale Weitsicht des Autors und beglaubigt diese Einschätzung, indem er selbst temporale Weitsicht für sich reklamiert und behauptet, im Kontext des Ganzen werde sich alles zum bestmöglichen Zusammenhang fügen. Diese ästhetische Theodizee entwickelt einen Sinn für „Vorbereitungen“239 von etwas, was noch nicht da ist, sich _____________ 238 [Hess]: Zufällige Gedanken über das Heldengedicht der Meßias, S. 15f. 239 Der zitierten Stelle geht bei Heß folgender Passus voraus: „Solchemnach wird man nun nicht mehr, wie Herr Meier, sagen können, dieser Umstand, daß hier Eloa der Schutzgeist der Erde heißt, sey nicht genugsam vorbereitet worden. Dieser Umstand ist vielemehr selber eine zwar entfernte, aber auch eine der geschicktesten und zugleich prächtigsten Vorbereitungen, die der Dichter nur immer zum voraus hätte machen können, zu der letzten Entwicklung aller Knoten, die in seine ganze Erfindung kommen werden, zu der vollkommenen Verherrlichung des Erlösers und seiner vollendeten Erlösung, mit einem Wort, zu dem Sieg seines Helden, welchen der Dichter, nach der wesentlichen Eigenschaft seines
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allenfalls tentativ erschließen läßt. Das heißt aber, daß man gar nicht genau sagen kann, wo eine ‚Vorbereitung‘ verborgen liegt. Die Einstellung auf solche potentiellen ‚Vorbereitungen‘ läßt somit im Blick auf die künftige Lektüre in der gegenwärtigen Lektüre alles bedeutsam werden. Das „prophetische Fortleiten des Ohrs“, wie Herder es in seiner Rezension von Klopstocks Oden formuliert240, prägt für größere Zusammenhänge jene spannungserzeugenden Figuren nach, die Klopstocks Prinzip der syntaktischen Inversionen motiviert.241 Die Konzentration, die die Lektüre dieser Verse erfordert, gleicht der notwendigen Aufmerksamkeitsinvestition für die Erfassung des Ganzen: „Wer die Schönheit in diesem Gedichte recht einsehen will, der muß dasselbe etlichemal lesen, damit er alle Theile desselben in seinen Gedancken gegen einander halten könne, und also zu erkennen vermögend werden, daß sich alles aufs schönste an einander paßt“.242 b) Ästhetische Theodizee Die Rede von der ‚ästhetischen Theodizee‘ macht die Struktur des Messias 243 zu einem Abbild des Heilsgeschehens. So wie dort alle Ereignisse erst im Licht der endgültigen Erlösung durch den Messias ihren eigentlichen Sinn gewinnen, gewinnen auch die einzelnen Teile des Messias ihren Sinn aus der ‚Vollendung‘ des Epos; so wie die Ereignisse im Laufe der Heilsgeschichte vom Ende her wahrgenommen werden müssen und zugleich immer schon typologisch ein Licht auf dieses Ende werfen244, so bereiten die Einzelteile des Epos das Ganze vor, lassen es erahnen und spannen _____________ 240
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Heldengedichts, allenthalben beständig im Auge haben muß“ (Zufällige Gedanken über das Heldengedicht der Meßias, S. 15). Der Aufstieg zur Klassik in der Kritik der Zeit, S. 199. Interessant ist hier auch die briefliche Auseinandersetzung zwischen Herder und Nicolai, bei der beide ihre Bedenken an der Position des jeweils anderen vielleicht auch deswegen so vorsichtig formulieren, weil es um Glaubenssachen geht, über die man nicht streiten kann (ebda., S. 202ff.). In Von der Wortfolge (1779 in den Fragmenten über Sprache und Dichtkunst) begründet Klopstock die Änderung der Wortfolge damit, daß der Dichter 1. den Ausdruck der Leidenschaften verstärken, 2. etwas erwarten lassen, 3. Unvermutetes sagen, 4. den Perioden mehr Wohlklang und leichtere, freiere Wendungen geben will (Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 178). Meier: Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias. Zweytes Stück, S. 158f. – vgl. hier auch die Verweise auf die Erwartungsreizung, z. B. ebda., S. 108f., 114. Die ersten drei Gesänge fungieren als Exposition in Himmel (I), Hölle (II) und Erde (III). Darauf folgt die Passionsgeschichte vom 4. bis zum 10. Gesang, die mit dem Kreuzestod als Umkehrpunkt endet. Die zweiten Hälfte des Epos beschreibt dann den Weg Jesu bis an die Seite Gottes (Höpker-Herberg: Nachwort, S. 237ff.). Manger: Klopstocks poetische Kathedrale, S. 46f.
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die Wahrnehmung der ‚Fragmente‘ darauf, wie sie sich in den ‚Plan‘ integrieren. Konsequent endet daher der Messias mit der singulären Form des 20. Gesangs, der die Summe der Geschehnisse bildet und zugleich das kaleidoskopische Prinzip auf die Spitze treibt. Kaleidoskopisch ist das Epos insofern, als es – wie Gerhard Kaiser herausgearbeitet hat245 – den Eindruck von Simultaneität erzeugt: Semantische Effekte von Gleichzeitigkeit erzielt Klopstock, indem er im Messias räumliche Bezüge verunklart und die Figuren in permanente Bewegung ohne statischen Bezugspunkt versetzt. Strukturelle Analogien dazu finden sich erstens in der Verschachtelung des Handlungsgefüges, das in sich willkürlich das historische Nacheinander in Gleichzeitigkeit überführt (etwa durch die den irdischen Geschehnissen parallel laufenden Aktionen in der Geisterwelt); zweitens in der Aufhebung der Handlung in Spiegelungen, Betrachtungen und Reflexionen246 bzw. generell durch den Polyperspektivismus der Beobachtungsverhältnisse; drittens in den Ressonanzen in Syntax und Bildsprache (etwa durch Gleichnisse oder syntaktische Inversionen und Kumulationen). Der theologische Horizont dieser Verfahren läßt sich auf vielfältige Weise rekonstruieren247: So werden beispielsweise durch die Simultaneität suggerierenden Verfahren die göttliche Allgegenwart sowie die Überzeitlichkeit eines Gottes in Szene gesetzt, der über das Erlösungsgeschehen schon seit jeher entschieden hat; die Spiegelverfahren und Wiederholungsstrukturen reflektieren liturgische und erbauungsschriftliche Prinzipien; und der Polyperspektivismus gleichberechtigter Beobachter, die sich in der Konzentration auf das Heilsgeschehen verbinden, findet sein Pendant in der Gemeindebildung mit dem Erzähler als Priester.248 Schließlich wird _____________ 245 Vgl. zum folgenden Kaiser: Klopstock, S. 215ff. (zum Prinzip allgemeiner Bewegtheit), 234ff. (zu den Verfahren der Spiegelung), 248ff. (zum Polyperspektivismus). 246 Kaiser führt als schlagendes Beispiel die über 650 Verse aufgebaute Erwartungshaltung auf die Auferstehung an, die dann in einem Nebensatz von 9 Versen erzählt wird – der Hauptsatz dazu behandelt wiederum die Empfindungen der Zuschauer, die ihrerseits mit der Erwartungsstimmung vor der Auferstehung bei den versammelten Zeugen verglichen werden. Darauf folgen 200 Verse zur Gefühlswirkung des Ereignisses (Klopstock, S. 241). 247 Lessing verweist darauf, daß man hier auch gattungstheoretisch argumentieren könnte. In seiner Messias-Besprechung, die 1751 im Neuesten aus dem Reiche des Witzes erscheint, bemerkt er zum Schlachtfeld-Gleichnis in der Kaiphas-Szene im 4. Gesang: „Wie vortrefflich ist dieses Gleichnis ausgemalt! Es ist eines von denen, welches der Dichter mehr als einmal braucht, und immer auf einer neuen Seite schildert, so wie Virgil den Löwen“ (Werke. Bd. 3, S. 99; s. dazu Vergil: Aeneis IX, 339ff., XII, 4ff.). 248 Kaiser: Klopstock, S. 247, 255. Für den 20. Gesang hat Rößler herausgearbeitet, daß sich „ein auf Quantitäten und Symmetrien beruhender Ordnungsimpuls“ beobachten läßt, der sowohl auf die epische Tradition, etwa auf die Tektonik von Miltons Paradise Lost, als auch auf die Leibniz-Wolffsche Metaphysik und die sie grundierende ‚mathematische’ Denkart zurückgeführt werden kann. Zudem spiegelt der 20. Gesang mit seinen 200 Strophen noch einmal die 20 Gesänge des gesamten Epos (Form als Theologie, S. 40f.).
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man darüber hinaus fragen können, welchen spezifischen historischen Sinn diese Verspiegelungen im Kontext der Leibniz-Wolffschen Philosophie entwickelt, die zwar nicht explizit den Konnex zwischen der irdischen Welt und deren göttlichem Schöpfer löst, bei der aber – auch aus Sicht der kritischen Zeitgenossen – sehr wohl implizit der Eindruck von Geschlossenheit über Selbstrekurrenzen entsteht.249 Gerade vor diesem Hintergrund sollte die poetologisch-poesiologische Dimension der Gestaltungsprinzipien Klopstocks nicht übersehen werden: Wie der Messias auf zwei Zeitebenen operiert, als Mensch in der linearen Zeit und als Gott in der Gleichzeitigkeit aller Zeiten, so agiert Klopstock als Autor auf zwei Zeitebenen: Einerseits gehorcht er dem Gesetz der Fortsetzung, andererseits arbeitet er konstellativ an verschiedenen Teilen der Erlösungsgeschichte. Für das von der vollendeten Zukunft bestimmte Zeitverhalten Klopstocks gilt: „Die künftige Welt war / Auf der Erde, da das geschah, was jetzt mein Gesang ist“ (KW 4/2, 132; 15. Ges., V. 3f.).250 Wenn Klopstock zeitgleich einen Teil der Passionsund einen Teil des Heilsgeschehens ausgestaltet (KW 4/3, 303), dann verwandelt er damit die typologischen Verfahren in Arbeitsprozesse, die sein Epos inhaltlich auf allen Ebenen bestimmen. Die typologischen Verfahren, die Zusammenhänge stiften, setzen eine „allgemeine Geübtheit“ in den Gedankenfiguren des typologischen Denkens voraus. Der Intention auf Rührung der Rezipienten steht die Intention auf intellektuellen Nachvollzug zur Seite251, wobei schon die Zeitgenossen auf das Problem mangelnder Bibelkenntnis hingewiesen haben, weil man „so viel kleine Sachen [...] nicht ganz versteht, wenn man nicht ihre Allusion auf die Bibel weis“.252 Klopstock – und das ist entscheidend – aktiviert diese Lesetechnik indes auch durch die Erfindung eigener Verweise.253 Damit nutzt er ein eingespieltes Schema, dessen wesentliche Funktion darin besteht, Ordnung im Vollzug der Deutung zu beglaubigen254 und Bedeutungsfülle zu suggerieren. Oder anders: Er zeigt durch die typologische Struktur erstens _____________ 249 Verf.: Friedrich von Hagedorn, z. B. S. 478f. 250 Erneut treibt Klopstock genau diese Verschachtelung der Zeitebenen in der Bearbeitung heraus, denn vor der Göschen-Ausgabe, also der Ausgabe des „letzten Fingers“ (KB 9, 39), lauteten die Verse: „Die künftige Welt war / Auf der Erde, da das, wovon ich singe, geschahe (KW 4/5.2, 676). 251 Höpker-Herberg: Nachwort, S. 240 – vgl. hier auch Beispiele für Deutungskomplikationen ebda., S. 241ff. 252 So Meta Moller in einem Brief vom 26. März 1757 an ihre Schwester (Meta Klopstock: Es sind wunderliche Dinger, meine Briefe, S. 404). 253 Dräger: Typologie und Emblematik in Klopstocks „Messias“, S. 45f., 91. 254 Dräger: Typologie und Emblematik in Klopstocks „Messias“, S. 55.
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die ‚Planmäßigkeit‘ seines Vorgehens und zweitens Deutungsbedarf an.255 Das Stilideal des verknappenden, andeutenden Sprechens läßt sich insofern als Teil dieser typologischen Struktur verstehen, als es ebenfalls ein Maximum an Bedeutsamkeit in einem Minimum an sprachlicher Darstellung zur Geltung bringt. Das eingeklagte ‚ganze‘ Verstehen jedenfalls hängt nicht unbedingt an der Bibelkenntnis, sondern kann auch durch homologe Lesetechniken eingeholt werden: Entscheidend ist dann der Sinn fürs Detail und dessen unabschätzbar weiten Bezugshorizont. Ein Passus in der Gelehrtenrepublik kommentiert dieses Verfahren der Insinuation von Ordnung: Auch das gehört zu dem Vollendeten einer Schrift, daß alles darin Beziehungen und Verhältnisse unter sich habe, und daß sich von diesen die seltneren Abstände nicht zu weit entfernen. Freylich sind diese Züge des Gemäldes manchem unsichtbar; aber sind sie deswegen nicht da, weil’s Leute mit blöden Augen giebt? (KW 7/1, 82)
Oder in epigrammatischer Form: Der Unschuldige Viel der Beziehungen sind im Gedichte, wodurch es die Theile, Wie in dem süssen Bund’ inniger Liebe, vereint. Jene dürfen auf sich mit dem Finger auch weisen; doch geben Öfter (Des Schönen Gesez will es so) Winke sie nur. Schlummert bey den Beziehungen dir dein Auge; so tappest Du im Dunkeln umher, ohne des Dichtenden Schuld. Zürne du dann nicht mit dem Liede, daß du es nicht fassest; Laß die Unschuld in Ruh, Gähnender, zürne mit dir. (KW 2, 59)
Die typologischen Bezüge in Form von intratextuellen Bezüge signalisieren, daß es in einem ‚Werk‘ wie dem Messias einen tieferen Sinn und Zusammenhang gibt, der sich nur dem nachdenklichen, aufmerksamen Leser erschließt, und sie signalisieren, daß der Leser sich auf den ‚Autor‘ verlassen kann. Wie sehr der Messias auf einen solchen Leser kalkuliert ist, zeigt das sicherlich bekannteste Beispiel für Klopstocks konzeptionellen Weitblick: die Abbadona-Geschichte256 vom gefallenen und schließlich erlösten Engel. Sie wird im Kern schon früh entworfen und dann über Jahre hinweg entfaltet.257 Entscheidend war beim Abschluß der Geschichte, also bei der Erlösung des gefallenen Engels, schließlich wohl auch, daß die anfängli_____________ 255 Zur Deutungsimplikation typologischer Verfahren Dräger: Typologie und Emblematik in Klopstocks „Messias“, z. B. S. 61f.; zu Klopstock Bedeutungsinsinuation ebda., S. 67, 103. 256 Vgl. als weiteres Beispiel auch zur Samma-Episode: KW 4/3, 277f. 257 1751 berichtet Heß Bodmer gegenüber, das Schicksal Abbadonas werde sich im 12. Gesang beschließen – tatsächlich aber kommt es dann erst im 19. Gesang zur Erlösung (Klopstock: Der Messias. Gesang I-III, S. 202).
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chen theologischen Bedenken sich erübrigten (KW 4/3, 284, 287f.).258 Für ein strategisches Vorgehen spricht nicht zuletzt die Tatsache, daß Klopstock sich von Anfang an über das Ende klar war, es aber nicht nur in der Ausführung, sondern auch privatim gegenüber Freunden meist geheim hielt (KW 4/3, 274, 281ff.). Mehr noch: In gezielter Irreführung ersetzt er das Versöhnungsbild vom Regenbogen durch das Bild eines „Berg[s], wo vormals Menschen sich würgten“ (KW 4/3, 284), so daß die Leser auf eine falsche Fährte geraten. Für Klopstock bestätigt sich seine „poetische Freiheit“, indem er der Publikumsmeinung keinen Einfluß auf die Gestaltung der Abbadona-Geschichte zugesteht.259 Die Bedeutung der Abbadona-Episode läßt sich daran ermessen, daß der reuige Teufel zu vielen Höhepunkten der Handlung wieder auftaucht und damit – mehr als anfangs geplant – zu einem der thematischen Gravitationszentren des Epos avanciert,260 daß er für Klopstock am Karrierebeginn zur Aufmerksamkeitsattraktion sowohl bei seinen empfindsamen Lesern261 als auch bei seinem Mentor Bodmer wird (KB 1, 20) und daß er selbst zu dem Zeitpunkt, als Klopstock seinem neuen, jungen Publikum als Odendichter erscheint262, als verkaufsträchtiger Gegenstand gilt: 1768 druckt Klotz ohne Erlaubnis Klopstocks den Schluß der AbbadonaGeschichte in der Deutschen Bibliothek ab, auf die Klopstock seinerseits mit einer Vorabveröffentlichung reagiert (KW 4/3, 235). Klotz schreibt dazu: „Mit der feurigsten Erwartung, welche nur vortreffliche Werke erregen können, sieht Deutschland der Vollendung der Meßiade entgegen. Wir haben von einem Freunde ein Fragment erhalten, und rücken es in diese Bibliothek desto lieber ein, da es die Entwicklung von dem Schicksaale des Abadonna enthält, auf die man sehr begierig gewesen ist“ (KW 4/3, 400, dazu auch 286f.). Tatsächlich ist es so, daß die Weltgerichtsszene im Manuskript wegen der darin enthaltenen Abbadona-Episode außerordentliche Verbreitung fand (KW 4/3, 286). _____________ 258 Vgl. dazu z. B. die Materialien in Klopstock: Der Messias. Gesang I-III, S. 176f. sowie Höpker-Herberg: Nachwort, S. 246f. 259 Hirzel schreibt an Kleist am 4. August 1750, daß Klopstock von Lesern zur Erlösung Abbadonas aufgefordert worden sei, aber keine Auskünfte über das Ende des gefallenen Engels erteile (Klopstock: Der Messias. Gesang I-III, S. 201). 260 So Elisabeth Höpker-Herberg, die auch die Stellen auflistet: „beim Gericht über den Messias im Garten Gethsemane, am Kreuz auf Golgatha, bei der Auferstehung Christi und im Weltgericht“ (Klopstock: Der Messias. Gesang I-III, S. 209) – vgl. KW 4/3, 282, 288f. zu den Brüchen und Verschiebungen, zu der die Änderung der ursprünglichen AbbadonaHandlung führt. 261 Vgl. den Bericht über die Messias-Lesung bei der Fahrt auf dem Zürchersee von Hirzel an Kleist (Klopstock: Der Messias. Gesang I-III, S. 201). Weitere Belege bei Pape: Klopstock, S. 170ff. 262 So zumindest in der berühmten Oden-Rezension aus den Frankfurter Gelehrten Anzeigen von 1772 (vgl. auch KW 4/3, 336).
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c) Der Leser als Jünger und der Autor als Messias Die Techniken der Erwartungserregung, die einen Sinn für Unsichtbares entwickeln, lassen sich nicht nur publikationspolitisch und in den Darstellungsverfahren feststellen, sie lassen sich auch inhaltlich weiterverfolgen, weil der Messias bekanntlich Handlung über weite Strecken in Reflexion auflöst.263 Aus diesem Grund präsentiert das Epos vielfältige Beobachterpositionen. Um nur eine davon exemplarisch zu umreißen: Der Apostel Thomas als Verkörperung von „Heilsblindheit“264 besetzt eine Position zwischen den eindeutig negativen Modellen von Beobachtung, etwa derjenigen Satans oder seines höllischen Widersachers Adramelech, und den eindeutig positiven in Form von schweigender ‚Tiefsinnigkeit‘ oder beredtem Lob. Thomas repräsentiert damit einen Beobachterypus, mit dem Klopstock es immer wieder zu tun hat: den prinzipiell wohlwollenden Leser, der trotz seines Wohlwollens Verständnisschwierigkeiten hat. Wenn z. B. Johann Heinrich Voß zu Klopstock bemerkt, „er glaubt bisweilen Dinge zu hören, die ich nicht höre, und überhört dagegen andre, die mir sehr hell tönnen [...]“ (KB 7, 910), dann stellt er das Gegenmodell zu einem Leser wie Carl Friedrich Cramer bereit, der zwar auch immer wieder verständnislos vor Klopstocks Versen steht, aber dadurch sein Vertrauen in die Kompetenz des Autors nicht verliert (z. B. KB 7, 254) – auf beide Fälle werde ich im nächsten Kapitel ausführlicher zurückkommen (5.1 u. 5.2). An Thomas jedenfalls läßt sich die Durchsetzung jener Fom von Aufmerksamkeit illustrieren, die Vertrauen in den ‚Messias‘ mit Mißtrauen gegenüber den eigenen Kompetenzen verbindet, oder anders: gegenüber jener Form von Aufmerksamkeit, die aus der angemessenen, nämlich hoffnungsvollen Erwartungshaltung resultiert. Thomas glaubt den anderen Jüngern nicht, daß sie dem auferstandenen Jesus begegnet sind, bis dieser ihm selbst erscheint und ihn den Finger in die Wunden legen läßt. Das bekannte, von Klopstock beinahe wörtlich zitierte Fazit der Szene lautet: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben“ (KW 4/2, 193, V. 61f.).265 Den kurzen Passus aus dem Johan_____________ 263 Martin: Klopstocks Messias und die Verinnerlichung der deutschen Epik. 264 Dräger: Typologie und Emblematik in Klopstocks „Messias“, S. 89f. 265 Joh 20: „24 THomas aber der Zwelffen einer / der da heisset Zwilling / war nicht bey jnen / das Jhesus kam. 25 Da sagten die andern Jünger zu jm / Wir haben den HErrn gesehen. Er aber sprach zu jnen / Es sey denn / das ich in seinen Henden sehe die Negelmal / vnd lege meinen Finger in die Negelmal / vnd lege meine Hand in seine Seiten / wil ichs nicht gleuben. 26 VND vber acht tage / waren aber mal seine Jünger drinnen / vnd Thomas mit jnen. Kompt Jhesus / da die thür verschlossen waren / vnd trit mitten ein / vnd spricht / Friede sey mit euch. 27 Darnach spricht er zu Thoma / Reiche deinen Finger her / vnd sihe meine Hende / vnd reiche deine Hand her / vnd lege sie in meine Seiten / vnd sey nicht vngleubig / sondern gleubig. 28 Thomas antwortet / vnd sprach zu jm / Mein HErr
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nes-Evangelium breitet Klostock auf mehrere hundert Verse aus.266 Ins Zentrum rückt er das Problem, daß für den Melancholiker Thomas das letzte Wort zu Jesus gesprochen ist: „Ach der göttliche Mann hat gelitten, was alle Propheten / Einst auch litten, und ist gestorben! Er [Thomas, S.M.] weint’, und verstummte“ (KW 4/2, 108, V. 548f.). Drei Momente sind für die Spiegelung des Messias-Beobachters im Beobachter des Messias interessant: Erstens exponiert Klopstock vor allem im 14. Gesang Thomas’ Zweifel und spannt dann die Aufmerksamkeit des Lesers, der ja aufgrund seiner Bibelkenntnis um die letztliche Einsicht des Jüngers weiß, bis zum 17. Gesang (V. 1-84) und damit von 1769 bis 1773 über vier Jahre bis zur Anagnorisis. Die Thomas-Szenen exponieren auf diese Weise das Verfahren von Spannungs- und Erwartungserzeugung mit Erlösungsgewißheit. Zweitens versucht Maria Magdalena, die den Wiedererstandenen an seiner Stimme erkennt (KW 4/2, 97, V. 120), den Skeptiker über die auditive Potenz des Messias zu bekehren:267
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vnd mein Gott. 29 Spricht Jhesus zu jm / Dieweil du mich gesehen hast Thomas / so gleubestu / Selig sind / die nicht sehen / vnd doch gleuben“. 266 Der dritte Gesang führt Thomas zunächst im Rahmen der Vorstellung der Jünger durch ihre Schutzengel als problematische Figur des Melancholikers ein: Er entwickle „aus Gedanken Gedanken“ ohne Ziel und Kontur, erst die Begegnung mit Jesus habe ihn aus den „labyrinthischen Irren“ gerettet, ohne jedoch letzte Stabilität einkehren zu lassen: „[...] Doch würd’ ich mich seinetwegen noch öfter / Zärtlich bekümmern, hätt’ ihm zu dieser denkenden Seele / Nicht die Natur ein redliches Herz und Tugend gegeben“ (V. 270ff.). Im zwölften Gesang, der dem Begräbnis Jesu und dem anschließenden Treffen seiner Anhänger in Johannes’ Haus gewidmet ist, empfiehlt Thomas, seiner schwermütigen Disposition entsprechend, einen baldigen Tod als Leitperspektive (KW 4/2, 52, V. 354ff.). Im 14. Gesang tritt er dann als unüberzeugbarer Zweifler auf, der auch nach der Verkündigung der Auferstehung durch Engel und nach diversen Erscheinungen Jesu keine Hoffnung schöpfen will (V. 153ff.-229, 279-295, 482-489, 508-517, 525-551, 784-1118, 1160-1167, 1194-1196, 1244). Er versucht statt dessen die Erzählung der Jünger ‚vernünftig’ aufzulösen, interpretiert sie als Sinnestäuschung, „Mährlein“, „Wahn“ und „Traum“; folgerichtig erkennt er auch Jesus nicht, als er sich Matthias und Kleophas entdeckt. Schließlich verläßt Thomas die Versammlung, geht „zu den fernsten Gräbern des Ölbergs“ (V. 857) und sucht im einsamen Gebet zu Gott Trost – wieder verkennt er dabei einen ‚Auferstandenen’. Erst im 17. Gesang wird schließlich auch Thomas von der Auferstehung Jesu überzeugt (V. 1-84). Zunächst hört er ein Auferstehungslied der Palmen, bricht daraufhin weinend zusammen und kehrt schließlich wieder zu den Jüngern zurück. Dort erscheint ihm der Messias, läßt ihn die Wunden berühren. Im 19. Gesang gibt es noch einmal ein Nachspiel, als Jesus den Jüngern beim Fischen erscheint, Thomas ihn zunächst – wie alle anderen auch – nicht erkennt (V. 280ff.) und auf göttliche Eingabe hin die Jünger nach Gethsemane führt (V. 978ff.). 267 Vgl. in diesem Kontext zur Rolle des ‚Zeugens’ in der Bibel sowie zur unterschiedlichen Rolle von ‚Sehen’ und ‚Hören’ bei Danneberg: Die Anatomie des Text-Körpers und NaturKörpers, S. 133ff.
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Ach Thomas, Meinest du, daß ein Engel im Himmel mit dieser Stimme, Dieser Wonnestimme des ewigen Lebens, die Chöre Himmlischer Psalmen ertönen nicht so! zu reden vermöge, Wie der Todenerwecker, der Auferstandene beym Namen Mich, die lechzte, wie du, ihn zu sehn, bey dem Namen mich nannte? (KW 4/2, 115, V.809ff.)
Diese Passagen entbinden nicht zuletzt deswegen ein selbstreflexives Potential, weil die Zweifler die Erscheinung des Messias als Täuschung durch Affekte, entweder durch die „Freude“ oder die „Traurigkeit“, interpretieren (z. B. KW 4/2, 123, V. 1109ff. u. 126, V. 1218ff.) und so Klopstocks eigenes Ziel der sprachlichen Illusionierung des Rezipienten durch affektive Überrumpelung anführen. Drittens schließlich wird Thomas in seiner ‚heilsblinden‘ Hoffnungslosigkeit zum Kritiker Gottes in seinem Klagegebet am Ölberg: Gott auf Ebal! auf Sinai Gott! im Donner! im Sturme! Vater! wo ist dein Sohn? Wo säumte dein Donner, wo schliefen Deine Wetter, als nun das hohe Kreuz sich emporhub? (KW 4/2, 118, V. 911ff.)
Damit zitiert Thomas Gottes Frage an Kain nach dem Brudermord („Da sprach der HERR zu Kain / Wo ist dein bruder Habel?“; Gen 4, 9), ist sich aber nicht der darin verborgenen Anspielung auf den typologischen Bezug zwischen der Ermordung Abels und der Kreuzigung des Messias bewußt.268 Anders gesagt: Die Kritik an der göttlichen Weltordnung bestätigt diese im Vollzug und führt damit nur eines vor: die Unkenntnis des Kritikers und sein Unvermögen, die Zusammenhänge zu erkennen.269 Zunächst erklärt die Zentralfunktion der geistlichen Erbauung die bemerkenswerte Ausweitung der Thomas-Episode im Rahmen des Messias. Die Legitimität einer poetologischen Lektüre läßt sich konzeptionell nur vage begründen. Sie wird indes im Kontext weiterer deutlicher poetologischer Anspielungen plausibler. Auch dies kann ich hier nur exemplarisch vorführen, indem ich dem Jünger als Leser den Messias als Autor an die Seite stelle. Der schon für zeitgenössische Leser auffälligste Fall einer extra-, intraund intertextuellen Spiegelung im Messias bezieht sich auf Klopstock, und zwar im Rahmen der Cidli-Episode, die bei den empfindsamen Lesern neben der Abbadona-Geschichte besonders beliebt war. In der ersten Fassung spiegelt Klopstock im Liebesverhältnis von Cidli und Lazarus _____________ 268 Dräger: Typologie und Emblematik in Klopstocks „Messias“, S. 92, 94. 269 Thomas vertritt so diejenigen Leser, die man – wie Meier an Bodmer schreibt – „gleichsam mit der Nase drauf stossen [muß], wenn sie die Schönheiten [des Messias, S. M.] fühlen sollen“ (Klopstock: Der Messias. Gesang I-III, S. 179).
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sein eigenes vergebliches Werben um Maria Sophia Schmidt. Durch die bis ins Wörtliche reichenden Bezüge zu den Oden, die die Beziehung zwischen Klopstock und Schmidt zumindest für das zeitgenössische Publikum direkt behandeln (z. B. An Fanny, Der Abschied oder An Gott), markiert Klopstock diese Verbindung überdeutlich. Die tiefgreifende Umarbeitung der Szene ersetzt Lazarus durch Semida, und auch dies wurde autobiographisch gedeutet, nämlich als Konsequenz aus der Hinwendung zu Meta Moller und der entsprechenden Abwendung von Maria Sophia Schmidt.270 Der auch poetologisch relevante Höhepunkt dieser Selbstspiegelung des Messias-Autors in seinem Epos als Liebender findet sich im 20. Gesang. Dort setzt Klopstock sich und Meta Moller als die beiden „künftige[n] Christen“ ein (V. 595ff.), indem er sie im letzten ihrer drei Lieder im „Jonikus“, einem Versmaß, daß er erfunden und sich in Vom gleichen Verse verschlüsselt persönlich zugeordnet hatte271, singen läßt. Auch ohne diesen Umweg lag der Bezug durch die Cidli-Oden und die Inszenierung des Paars Klopstock/Moller als vorbildlich Liebende272 und vorbildlich Gläubige in den von Klopstock herausgegebenen Schriften Metas ohnehin nahe. Damit rückt Klopstock, wie Johannes Rößler herausgearbeitet hat, ins Zentrum des 20. Gesangs, nämlich an die 28. Stelle von 55 Triumphliedern und -chören, und läßt seine eigene Heilsgewißheit mit dem Kreuzestod korrespondieren, der in der Mitte des gesamten Epos steht.273 Offen präsentiert sich Klopstock allerdings erst in der dem Messias angehängten Ode An den Erlöser und damit außerhalb des epischen Heilsgebäudes als ‚heiligen Sänger‘, der durch seinen Gesang Teil am Erlösungswerk hat. Im Epos selbst sind alle Stimmen nur Echo überirdischer Stimmen und damit in ihrer wie auch immer gearteten Schöpferkraft depotenziert.274 Kann man den fraglos dominanten theologischen Bedeutungshorizont als Reflexionsraum literarischer Kommunikation ausbuchstabieren? Wenn Klopstock in der unautorisierten Erstausgabe von Die Stunden der Weihe (1748) einen „Unsterbliche[n]“ prophezeien läßt, daß der „Meßias“ „ganze Jahrhunderte“ über rezipiert werden wird, dann läßt sich eben nicht entscheiden, ob es sich um den Messias oder um den Mes_____________ 270 Vgl. zu diesen Zusammenhängen Pape: Klopstock, S. 177ff. sowie zu den weiteren Bezügen innerhalb des Messias KW 4/3, 293f., 296ff. 271 Vgl. Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 50. 272 Zur Öffentlichkeit der Beziehung von Klopstock und Meta Moller vgl. Clauss: Liebeskunst, S. 17f. 273 Rößler: Form als Theologie, S. 45ff. 274 Rößler weist daraufhin, daß Klopstock seinem Verleger eigens aufgetragen habe, die Ode ohne Seitenzahlen dem Epos hinzuzufügen (KB VI, 23, 28) (Theologie als Form, S. 47f.).
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sias handelt;275 und wenn dem Messias-Dichter ein „Nachklang von dem Unsterblichen / [...] gewaltig durch [s]ein Gebein dahin[fährt]“ (KO 1, 46f.), dann partizipiert er an einer raum- und zeitlosen Kraft, die für Klopstock medienhistorisch sehr konkret zum Problem wurde, wie ich oben gezeigt habe. Tatsächlich mußte man ja auch gar nicht auf den 20. Gesang warten, um die Selbsterlösung Klopstocks in den Blick zu bekommen. Schon sehr viel früher schreibt beispielsweise Hagedorn an Bodmer in einer der typischen zeitgenössischen Verschlingungen von Text und Autor, bei der Klopstock mit Versen aus dem Messias charakterisiert wird: Ich habe kein Bedenken getragen, an den zärtlichen Klopstock zu schreiben, und ihm die Freude gemacht, von der Achtung, welche Sie für ihn hegen, ihm die angenehme Versicherung zu geben. Er selbst ist – – – Einer Von den Unsterblichen, welche der Nachwelt ihre Geschäfte Heiligen, und von Enkel zu Enkel unsterblicher werden. Oft bleibt ihr Ruhm nicht auf Erden allein. Unbegränzter und ewig Geht er von einem Gestirne zum andern.276
Der Titel des Messias provoziert eine Doppeldeutigkeit insofern, als – anders als beispielsweise bei der Rede von der „Messiade“ – nicht klar sein muß, ob vom literarischen Werk oder von der Hauptfigur dieses literarischen Werks die Rede ist. An Relevanz gewinnt diese Doppeldeutigkeit nicht zuletzt wegen Klopstocks Darstellungsbegriff, dessen energetische bzw. performative Qualität die Analysen von Winfried Menninghaus herausgestellt haben.277 Auch wenn sich längere Traditionslinien zu den rhetorischen Strategien der verbalen Vergegenwärtigung herstellen lassen278, so dürfte die spezifische Stellung dieses Konzepts in der Poetologie Klopstocks unumstritten sein. Wenn Klopstock in den Gedanken über die Natur der Poesie (1759) die Batteuxsche Nachahmungsästhetik verabschiedet, weil der Dichter, der ein emotiv wirksames, also ein Tränen provozierendes Werk hervorbringen will, eben nicht nachahmt, sondern „selbst gelitten“ hat279, dann scheint mir das eine besondere Bedeutung für einen Messias-Dichter zu haben. Weitere Rezeptionszeugnisse überspielen teils kritisch oder apologetisch, teils spielerisch-ironisch oder auch mit aller Ernsthaftigkeit die Ebe_____________ 275 In der Tradition der pietistischen Bibelhermeneutik ließe sich das immerhin auf den Doppelsinn des ‚Wortes Gottes’ einmal i. S. der Bibel, das andere Mal i. S. Christi beziehen (Küster, Werner: Das Problem der „Dunkelheit“ von Klopstocks Dichtung, S. 106). 276 Hagedorn: Briefe, S. 265 (Binnenzitat: Der Messias, III. Gesang, V. 214-218). 277 Z. B. Menninghaus: „Darstellung“; ders.: Dichtung als Tanz; Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions, S. 149ff.; KW 7/2, 680ff. 278 Z. B. Kohl: Friedrich Gottlieb Klopstock, S. 59, zur evidentia bei Longinus und Quintilian. 279 Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 181 (Hervorhebung im Original).
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nen von Darstellendem, Darstellung und Dargestelltem. Bodmer, den die Literaturgeschichte nicht als großen Ironiker kennt, wird von Klopstock als „Evangelist“ seines „Mess“ bezeichnet (KB 1, 51). Das dürfte von dem Schweizer als angemessene Hierarchisierung des Verhältnisses zwischen ihm und seinem Protegé angesehen worden sein, denn auch er fordert von Klopstocks Freunden, „mit einer entschlossenen Mine, eines Märtirers, zu loben“;280 und von sich selbst meint er: „Ich fahre fort, den neuen Messias den Heiden zu verkündigen. [...] Ich habe auch schon NebenEvangelisten“.281 Entsprechend schreibt Rabener an Bodmer aus Leipzig: „Herr Klopstocks Meßias ist mitten unter uns getreten, und wir kennen ihn nicht. Es fehlt also noch sehr viel, daß er einen Evangelisten unter uns finden sollte“.282 Genau diese Einstellung führt ja auch zu den oben behandelten Problemen bei Klopstocks Zürich-Reise – hier zumindest scheint es Klopstock und seinen einigen seiner Verehrer so, als müsse man Bodmer darauf hinweisen: „er ist ja nicht der Messias selbst, und wer weiß ob nicht der Messias in Gesellschaft von Mädchen lustig gewesen wäre“.283 Die entsprechende Gemeindestruktur von Klopstocks Leserschaft284, die Funktion des Messias als eines Erbauungsbuchs285 und ähnliche Sakralisierungen der literarischen Kommunikation deuten in dieselbe Richtung. Klopstocks Fantasien, unsichtbar aufzutreten, und seine tatsächlichen Inkognitobesuche (KB 1, 325) beleuchten jedenfalls die Szenen der Verkennung, Verschleierung und Entschleierung überirdischer Wesen im Messias nach der Auferstehung des Messias. Herder meint, Klopstock teile mit dem Helden seines Epos das Schicksal, ‚verkannt‘ und nicht verstanden zu werden.286 Auch dies deutet auf die Aporien der kritischen Kommunikation, weil sich negative Kritik eben immer auf die Unfähigkeit des Kritikers zurückführen läßt, das ‚verkannte Genie‘ zu ‚erkennen.287 Erst_____________ 280 Brief an Schultheß vom Dezember 1749 (Klopstock: Der Messias. Gesang I-III, S. 198). 281 Brief an Zellweger vom 2. März 1749 (zit. nach Pape: Klopstocks Autorenhonorare und Selbstverlagsgewinne, Sp. 21). 282 Brief vom 7. Mai 1749 (Klopstock: Der Messias. Gesang I-III, S. 183). 283 So Christian Ewald von Kleist am 20. Oktober 1751 an Gleim – er fügt freilich auch hinzu, Klopstock hätte „das äußerliche mehr beachten sollen!“ (zit. nach Großer: Der Junge Klopstock im Urteil seiner Zeit, S. 120). Für die Deutungsunsicherheit bzw. für die Potentialisierung von Bedeutung spricht z. B. auch, daß Bodmer vermutet, im „Eingang der Wiederkunft Jacobs“ verberge sich „eine allegorie die auf Klopstocks Aufführung gegen mich zielen solle [...]“ (Brief an Laurenz Zellweger vom 20. August 1753; zit. nach Pape: Klopstock, S. 177, Anm. 310). 284 Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 6/I, S. 445ff. 285 Alewyn: Klopstocks Leser, S. 117ff. – hier auch die Parallelisierung von Klopstock und Jesus in bezug auf die von ihnen ausgelösten „Laienbewegung[en]“ (ebda., S. 121). 286 Herder: Sämmtliche Werke. Bd. 29, S. 351ff. 287 Zum ‚verkannten Genie’ vgl. Alewyn: Klopstocks Leser, S. 103.
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mals kann sich im poetischen System Mißerfolg als eigentlicher Erfolg herausstellen, was zuvor eine Eigenheit moralischer oder religiöser Zusammenhänge war. Wenn Ebert und Funk angesichts der langen Entstehungszeit des Messias Klopstock scherzhaft beschuldigen, er würde sich offenbar „für unsterblich halten“ (KB 4, 155)288, wenn selbst der von Klopstock vehement kritisierte Bürger in Allusion auf das Neue Testament (Mk 1, 7) keinen für „wehrt“ hält, Klopstock „die Schuhriemen aufzulösen“,289 dann spielen diese Vergleiche mit einem um und für Klopstock etablierten Muster. Sie prolongieren zudem eine Selbstdeutung, die von Beginn an bei Klopstock vorhanden ist: In seiner Schulabschlußrede stellt er die Dichtung als Gabe Gottes vor und läßt die Reihe der ‚heiligen Poeten‘ der Propheten in Jesus kulminieren – in „diesem schimmernden Lichte“ sollen seine Zuhörer die Dichtkunst betrachten, wenn sie seine „Beschäftigung mit ihr richtig beurteilen“ wollen.290 Zwar ist Klopstock so vorsichtig, die Kunst der Ependichter nur „beinahe Göttlichkeit“ zuzusprechen. Aber indem er die Komplexität des Epos mit der Komplexität der Welt vergleicht, wird der Ependichter dann doch zum „himmlichen Genius“ im Unterschied zu „andere[n] Poeten“, die er „für blosze Menschen achte[t]“.291 Stellen wie diese machen verständlich, warum Meier nach einem persönlichen Treffen mit Klopstock dessen Bescheidenheit herausstellen muß, „denn er selbst hält sich nicht für einen menschgewordenen Seraph“.292 Aus den Publikationen Klopstocks geht dessen ‚Menschlichkeit‘ offensichtlich nicht so eindeutig hervor. Lessing hat diese Dimension von Produktion und Rezeption erkannt. In seiner Besprechung von Meiers Messias-Abhandlung in der Berlinischen Privilegierten Zeitung von 1749 rät er angesichts der Anforderungskomplexität der Epenproduktion dazu, sich mit kritischer Divinatorik zurückzuhalten: Erst wenn das Epos abge_____________ 288 Ähnlich auch die häufigen Erinnerungen an Klopstock, sich angesichts einer unsicheren Lebenszeit mit der Fertigstellung des Epos zu beeilen (z. B. KB 1, 133). 289 Bürger an Boie am 16. September 1773 (zit. nach KB 6, 304). 290 Klopstock: Abschiedsrede, S. 97ff., Zitat S. 103 – vgl. dazu Clemens Johannes Rößlers These von der „Zurückhaltungstaktik“ Klopstocks: Rößler legt überzeugend dar, daß Klopstock „zwischen Zurückhaltung und Ostentation“ changieren muß, um sich selbst als ‚heiligen Dichter’ zu präsentieren (Form als Theologie, S. 45f.). 291 Klopstock: Abschiedsrede, S. 103, 105. 292 Meier: Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias. Zweytes Stück, S. 138f. Auch Klopstock wehrt sich gelegentlich gegen den Kurzschluß zwischen ihm als Autor und dem Helden des Epos. Dies gilt vor allem für die Forderungen nach einer asketischen Lebensweise, die in Zürich an ihn gestellt worden sind, aber auch etwa für Heß’ „übertriebene[ ] Lobeserhebungen, die ihn in den Rang höherer Geiste erheben, und ihm die Menschheit rauben“ (so zumindest Gleims sicherlich perspektivisch gebundene Darstellung in einem Brief an Uz vom 29. August 1751; KW 4/3, 198).
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schlossen sei, solle man auch ein endgültiges Urteil fällen. Lessing klagt „Behutsamkeit“ ein, also jene kritisch-hermeneutische Tugend, die im Zentrum von Wielands Verstehenskonzept steht (3.3 c). Die Bedeutung des Produktionsprozesses für das Verständnis des Messias stellt Lessing in der Pointe der Besprechung heraus: Wenn das Gedicht zu Ende so ausgeführet sein wird, wie es dem Herrn Prof. [Meier, S.M.] schon itzo zu sein scheinet, so wird man nicht ermangeln, dasselbe bis in den Himmel zu erheben; ja man ist entschlossen, auf die Verfertigung dieses Heldengedichts, als eine sehr große Tat, alsdenn wieder ein Heldengedicht, unter dem Namen: „Klopstocks Messias“, zu verfertigen, und in 12 Büchern, auf ein mal, herauszugeben.
An späterer Stelle merkt er bei der Behandlung der einleitendend Invokation des Messias die mangelnde „Bescheidenheit“ Klopstocks im Unterschied zu Homer an, der im Musenanruf Handlungsfähigkeit an eine transzendente Macht delegiere. In Lessings prosaischer ‚Übersetzung‘ lautet die Eingangszeile folglich: „Ich unsterblicher Klopstock, singe der sündigen Menschen Erlösung“ – daß Lessing diesen Passus im dritten Druck der Briefe abschwächt und „Klopstock“ durch „Seele“ ersetzt, deutet auf interpretatorische Vorsicht, vielleicht sogar auf ‚Behutsamkeit‘.293 Lessing befindet sich mit seiner Kritik an der mangelnden „Bescheidenheit“ Klopstocks in zweifelhafter Gesellschaft, und er hat dies auch gewußt, denn ebenfalls im Neuesten aus dem Reiche des Witzes zitiert er aus Daniel Wilhelm Trillers Philippika gegen die neuen Ependichter in der Vorrede zum fünften Teil von dessen Gedichten: „Schöpferisch schreiben, schöpferisch dichten sind strafbare und unchristliche Ausdrücke – – – Wir Wissen aus der Schrift, Vernunft und Natur, daß nur ein einziger Schöpfer ist“.294 Entsprechend diffamierend soll es sein, wenn Christoph Otto von Schönaich sein Neologisches Wörterbuch „dem Geist=Schöpfer, dem Seher, dem neuen Evangelisten, dem Träumer, dem göttlichen St. Klopstocken“ widmet.295 Am ausführlichsten geht Ludwig Friedrich Hudemann in seinen Gedanken über den Messias in Absicht auf die Religion (1754) auf dieses Problemfeld ein. Er wirft Klopstock vor allem dreierlei vor: Klopstock mache das Erlösungswerk „zu einem leichten Spiel der ausschweifenden Phantasey“; er schmeichle der verderbten „menschlichten Natur“ und erweise ihr „hin und wieder abgöttische Ehre“; und er _____________
293 Lessing: Werke. Bd. 3, S. 307ff., insbes. S. 307, 742. 294 Lessing: Werke. Bd. 3, S. 104; Großer: Der Junge Klopstock im Urteil seiner Zeit, S. 54f.; KW 7/2, 521. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Haufes Beitrag zum Begriff „Geist Schöpfer“ im Eingangspassus des Messias (Zu Klopstocks Begriff „Geist Schöpfer“ [Messias I 10]). 295 Schönaich: Die ganze Aesthetik in einer Nuss, S. 3; Großer: Der Junge Klopstock im Urteil seiner Zeit, S. 60; Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 6/I, S. 441.
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schärfe „dem Menschen eine sehr falsche und dem Worte Gottes entgegen stehende Sittenlehre“ ein.296 Entsprechend wendet Hudemann sich in seinen Ausführungen immer wieder gegen Klopstocks „sündliche Eigenliebe“ und gegen die Minderung der Distanz Gottes zur Welt, die Hudemann vor allem in der ‚Verzärtlichung‘ der Schöpfung und des Schöpfers findet – wenn Klopstock verschiedene Menschen wie Johannes oder Maria für „unsündig“ erklärt, dann muß Hudemann natürlich darauf hinweisen, daß nur der „Heiland“ von Sünden frei sei.297 Vor dem Hintergrund der Vorwürfe Hudemanns, die lediglich eine längere Traditionslinie der Dichter-Kritik aus christlicher Perspektive fortsetzt298, ist es entscheidend, daß Klopstock gerade in die Liebesbeziehungen seine eigene Person einspiegelt. Er verflicht geistliche299 und weltliche Dichtung, indem er Motive, Verse und Gedankenfiguren zwischen dem Messias und den Oden, dem prätendierten Ausdruck der eigenen Gefühlswelt, überträgt. Immerhin wird man feststellen müssen, daß auch die zeitgenössische Rezeption sich letztlich nicht immer im Klaren darüber war, ob Klopstock der Mittler des Mittlers, also sein Jünger, oder der Mittler selbst ist. Drastisch bringt Schmid das in dem Aperçu zum Ausdruck, „der Messias wäre 2mahl verkauft, einmahl von Judas an die Hohepriester, u einmahl von Klopstock an Hemmerden“ (KB 1, 77). Und Rabener schreibt an Bodmer: Der mittellose Klopstock werde „der erste Märtyrer für seinen Meßias werden“, denn er fordere die „Rache“ der „dummen Richter“ heraus.300 Zwar bezieht Rabener sich hier auf theologische Fragen, aber der Hinweis auf die Gerichtsszenen im Messias ist wiederum in weiteren Kontexten aufschlußreich, denn das Verhalten des Messias vor den Hohepriestern, vor Herodes und Pilatus reflektiert Klopstocks Verhalten gegenüber den kritischen Richtern seiner Zeit: Beide schweigen gegenüber ihren Anklägern.
_____________ 296 Ludwig Friedrich Hudemann: Gedanken über den Messias, S. 15f. 297 Ludwig Friedrich Hudemann: Gedanken über den Messias, S. 32, 42f., 47f., 52f. 298 Vgl. vor allem Scheibel: Die Unerkannten Sünden der Poeten – dort z. B. zur Selbsterhebung des Dichters als Schöpfer (z. B. ebda., S. 8f.). Vgl. dagegen Meier, der zwar auch die Liebesszenen im Messias heraushebt, aber – fast – durchgehend deren theologische Kompatibilität feststellt (z. B. Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias. Zweytes Stück, S. 102). 299 Vgl. zum Messias als Erbauungsbuch Höpker-Herberg: Nachwort, S. 235ff. 300 Klopstock: Der Messias. Gesang I-III, S. 184; vgl. auch die Rede von den „Pharisäer[n]“, die nicht an Klopstock glauben, in Rabeners Brief von Bodmer vom 7. Mai 1749 (Litterarische Pamphlete, S. 130).
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d) Klopstocks messianisches Schweigen Klopstock selbst antwortet so gut wie nie auf Kritik an seinem dichterischen Werk oder er antwortet zumindest nicht explizit (KW 7/2, 282f., 526f.).301 Dies ist freilich nur dann wirksam und ‚bedeutsam‘, wenn das Schweigen auffällig genug ist. Schweigen macht für Klopstock also Sinn, weil er mit der diffusen Beobachtungslage der kritischen Kommunikation rechnet. Tatsächlich waren sich Klopstock und seine Zeitgenossen über die Exzeptionalität seines Verhaltens durchaus einig (z. B. KA 2, 348). Selbst der dänische König lobt das ‚Stillschweigen‘ seines Protegés, mit dem dieser auf Gegner herabsieht.302 Klopstock hatte erneut in seiner Widmungsode die Richtung vorgegeben: Dort macht die „Muse [...], mit stiller Kraft / Handelnd, edler die Seele [...]!“, und der König ist „dem stummen Verdienst“ der Dichter ein Vorbild (KO 1, 87).303 Auch in den beiden Stellungnahmen zum Status des Messias nach der ersten großen Kritikwelle formuliert er das Ideal des schweigenden Dichters: Sowohl in Von der Nachahmung des griechischen Silbenmaßes im Deutschen als auch in Von der heiligen Poesie erklärt Klopstock die Ansprüche des „Publikum[s]“ für berechtigt, „von dem, der etwas den Aussprüchen desselben unterwirft, zu fodern, daß er, wenn er das Gemälde aufgestellt hat, weggehe, und schweige. Ich darf sagen, daß ich diesem Gesetz beinahe mit einer Art Gewissenhaftigkeit nachgelebt habe“.304 Freilich wirkt das nicht so recht überzeugend als Vorrede zu längeren Traktaten, und daher schränkt Klopstock auch in beiden Fällen das Schweigeprinzip ein: Als Äquivalent des Schweigens gilt die Rede zu den „Kenner[n]“ bzw. zu den „Zuschauern, die mich hören wollen“.305 Die Rede richtet sich also nur an diejenigen, die ohnehin schon eine gewisse Affinität zum Gegenstand haben.306 _____________ 301 Die ausführlichste Kritik-Kritik im Blick auf Dichtung findet sich in den Epigrammen, auch hier freilich so verschlüsselt, daß sie schon den Zeitgenossen Rätsel aufgab (z. B. KW 2, 388) – für meine Argumentation ergeben sich daraus keine wesentlichen Ergänzungen. Zu den beiden Epigrammphasen der 70er und der 90er Jahre vgl. KW 2, 387. 302 Es geht hier um die konkreten Gegner Klopstocks bei Hof, die mehr Interesse an der Förderung einer dänischen Nationalliteratur als an der Förderung Klopstocks hatten (AT 73, vgl. dazu AT 33 u. 269f.). 303 Vgl. entsprechend zum Heldenbild des Messias KW 4/1, 100, V. 1341ff.: „Er nahte sich still den göttlichen Thaten. / Äußerliches Geräusch, und Lerm, süßtönend dem Eiteln, / Klein genung, zu folgen des Helden Thaten, der Staub ist, / War um den Messias nicht; und nicht um den Vater, / Als er dem Unding’ einst die kommenden Welten entwinkte“. 304 Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 187. 305 Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 187, 9. 306 Eine andere Variante findet sich in Vom deutschen Hexameter: Man solle sich um Klopstocks Prinzip des „Stillschweigen[s]“ keine Sorgen machen, weil er hier nicht sich, sondern nur den Hexameter verteidige (Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 62).
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Im Hintergrund steht die Überlegung, welchen Status die Aussage des Autors über sein eigenes Werk in der kritischen Kommunikation hat. Dies betrifft einerseits den nicht koordinierbaren Verlauf der Urteilsbildung, wie Klopstock ihn in Von dem Publico skizziert (4.2 a) – erst, wenn der „Geschmack seiner Nation schon völlig ausgebildet ist“, muß der „Scribent“ „blos zu einigen niederträchtigen Angriffen still[ ]schweigen“.307 Andererseits begründet Klopstock das Schweigen des Autors im Gespräch, ob ein Skribent ungegründeten, obgleich scheinbaren Kritiken antworten müsse (1760), der ausführlichsten Stellungnahme zu diesem Thema, damit, daß der Autor bei der Selbstverteidigung nicht „unpartheiisch“ wirke, seine Qualität aus seinen Schriften „mit völliger Deutlichkeit hervorleuchtet“ und er zudem „stolz“ sein müsse, um die wahren „Richter“ nicht zu beleidigen.308 Anders gesagt: Das Schweigen bringt ein bestimmtes Ethos zum Ausdruck. Auch hier stehen die Maßgaben der kritischen Kommunikation im Hintergrund der Überlegungen: Es gibt Schriften, vor allem diejenigen, die auf ein Geschmacksurteil Anspruch erheben, die „den Meisten“ nicht „gefallen“ können, die also notwendigerweise Kritik auf sich ziehen.309 Gegen eine Verteidigung ist vor allem einzuwenden, daß man „die Mitbrüder des Kritici dadurch reizt, ihre Lanze auch zu versuchen, und daß also des Geschwätzes immer mehr wird“ bzw. man dann immer „einige Bücher schreiben [müsse], um Eins zu vertheidigen“. Lediglich eine kurze Antwort wird dem Autor zugestanden: „Ihr Verfasser müßte eben nichts dawider haben, wenn man ihm den Vorwurf machte, daß seine Antwort zu lakonisch sey“.310 Man kann demnach – Klopstock führt dies für die Epistolographie explizit aus311 – das Stilprinzip der Kürze auch als Verfahren sehen, das Publikum zu sortieren und Adressierungsunsicherheit zu mindern, indem man Gegnerschaft provoziert.312 Im Gespräch kommt es darüber freilich nur zu einer annäherungsweisen Einigung über diesen _____________ 307 Klopstock: Sämmtliche Werke. Bd. 10, S. 307. 308 Klopstock: Sämmtliche Werke. Bd. 10, S. 323, 327, 319f. – das Gespräch hat Klopstock zusammen mit J. A. Cramer für den Nordischen Aufseher verfaßt. 309 Klopstock: Sämmtliche Werke. Bd. 10, S. 321ff. 310 Klopstock: Sämmtliche Werke. Bd. 10, S. 326f. – In diesem Zusammenhang wird der Kontext aufschlußreich, in den Oscar Fambach das Gespräch stellt, nämlich der Streit um die Kritik der Briefe, die neueste Literatur betreffend am Nordischen Aufseher, die zu einer längeren Auseinandersetzung führt (Der Aufstieg zur Klassik in der Kritik der Zeit, S. 29ff.); vgl. hier auch die Reaktion des Nordischen Aufsehers, der sich vor einer längeren Selbstverteidigung eben mit der Frage nach der Legitimität von Selbstverteidigungen auseinandersetzt (ebda., S. 83ff.). 311 Bei Briefen, die voraussichtlich in falsche Hände kommen könnten, empfiehlt sich ein enigmatischer Stil, den nur der Adressat entschlüsseln kann (KB 5, 69, 98). 312 Zur ‚Kürze’ als sprachtheologisches Moment vgl. KW 7/2, 465f.
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Punkt, und indem ein Kommentar des ‚Nordischen Aufsehers‘ das letzte Wort behält, bilden der offene Meinungstausch und die reflexive Struktur des Textes die Unsicherheit von Urteilsverfahren in der kritischen Kommunikation ab. Das typologische Urbild dieses Schweigens gegenüber den Kritikern hat Kevin Hilliard in der Gerichtsverhandlung der Hohepriester des sechsten und in der Pilatus- und Herodes-Szene des siebenten MessiasGesangs entdeckt:313 Also zeugten die Zeugen; und ringsum strömt der Erwartung Blick auf Jesus, wie sich der Empörer verteidigen werde. [...] Aber der Weise Betet für sie, und für sich, und lächelt die Gräber vorüber. [...] Aber der Gottmensch Schweiget. Kaiphas reißt geflügelter Grimm fort, er saget: Frevler, schweigst du zu dem, was diese wider dich zeugen? Aber der Gottmensch schwieg. (KW 4/1, 134, V. 418ff.)
Auch das Problem des vom Kritiker mißverstandenen Schweigens, wie es das Gespräch, ob ein Skribent ungegründeten, obgleich scheinbaren Kritiken antworten müsse formuliert, stellt sich für den Messias vor Herodes: Und du verstummest? Der Gottmensch sah, mit Einem Blicke Seiner Hoheit, ihn an! Der Fürst verkennt ihn in allem; Denn er glaubt, der Prophet veracht’ ihn! Da stand er in Grimm auf. Kaiphas sah in ergrimmen, ergriff den Augenblick, sagte: Nun entdeckst du selbst, nun siehest du, wer der Prophet sey! Sie, er verstummte vor dir, als du die Wunder verlangtest! (KW 4/1, 154, V. 590ff.)
Wie sehr sich Klopstock, der immer wieder gegen die egalisierende Einschätzung von Menschen, speziell des „großen Mann[es]“, Einspruch erhebt314, mit diesem Verhaltensmuster identifiziert hat, zeigt sein Verhalten in persönlichen Kontroversen. So tritt er im Streit mit Bodmer zunächst als Schweigender auf, und erst als Bodmer das „stillschweigen“ nicht „verstanden“ hat, droht er, daß die „gereizte großmuth endlich in eine gerechtigkeit ausbricht, welche eben so standhaft anhält, als es der großmuth schwer ankam, sich überwinden zu lassen“ (KB 1, 138). Pass_____________ 313 Hilliard: Philosophy, Letters, and the Fine Arts in Klopstock’s Thought, S. 99ff. – Hilliard deutet dies als Darstellung des vir bonus der Rhetorik, ohne allerdings aus der rhetorischen Tradition einen Beleg dafür anzuführen, daß das Schweigen eine geforderte Eigenschaft des Redners ist. An anderer Stelle akzentuiert Hilliard die theologischen Momente des Schweigens (Schweigen und Benennen bei Klopstock und anderen Dichtern sowie „Stammelnd Gered“ und „der Engel der Sprach’“). Vgl. in diesem Kontext auch die typologische Deutung von Kontroversen durch Hamann: Jørgensen: Hamanns Streitkultur, S. 69, 73. 314 So z. B. in Von dem Fehler Andere nach sich zu beurtheilen im Nordischen Aufseher 1758 (Klopstock: Sämmtliche Werke. Bd. 10, S. 298f.).
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enderweise arbeitet Klopstock bald darauf an der Weltgerichtsszene (KB 2, 5), und auch die Barabas-Szene dürfte einiges identifikatorisches Potential gehabt haben, jedenfalls warnt er Bodmer, vor den Richterstuhl des Publikums zu treten, dem es eben nicht um Gerechtigkeit gehe (KB 1, 161). Erneut erkennen die Beobachter den Sinn des Schweigens. Johann Christoph Schmidt schreibt an Gleim im Januar 1751: „Klopstockens Stillschweigen scheint mir recht heldenmüthig – – so gefährlich es ihm auch ist“ (KB 2, 260). Dies bedeutet eben weiterhin, daß es in der kritischen Kommunikation keine Nicht-Kommunikation gibt, weil Beobachter auch das Schweigen konstatieren. Daher muß zumal der Dichter des Messias – wie es im Kontext der Alberti-Affäre heißt – „sogar den geringsten Schein und Verdacht zu vermeiden suchen“ (KB 5, 283) und jedes „Detail“ beachten (KB 5, 286).315 Nur für die Einsichtigen ist offensichtlich, wer sich hinter dem Schweigenden verbirgt, und jedes Wort der Verteidigung kann dieses einfache So-Sein nur schmälern.316 Sie [Portia, S.M.] sah den erhabnen Mann, mit Bewundrung, Heiß von Erwartung, und froh, daß mit dieser Ruh’ er vor seinen Hassern, und vor dem gezückten Schwerte des Todesurtheils Dastand. [...] Aber die Stille ward stiller. Und Portia sah den Propheten, Wie er gegen die Rede des Todfeinds dastand. Freude Funkelt’ ihr Blick, und ihr Herz schlug lauter, und hohe Gedanken Strömten herauf in ihr Haupt. Ihr war, als hübe das neue Hohe Gefühl sie empor. Dann forscht sie mit feurigem Auge Um sich herum, ob sie unter der Menge nicht edlere fände, Welche mit ihr den Propheten bewunderten. (KW 4/1, 129 u. 131f., V. 254ff., 334ff.)
Ähnlich reagieren Pilatus und Herodes: Aber der Gottmensch stand tiefsinnig; der großen Erlösung Leiden ruhten auf ihm. [...] Aber so sehr er ein Römer auch ist, so bewundert Pilatus Doch den schweigenden Mittler. (KW 4/1, 142, V. 129ff.). Herodes Staunete, da er ihn sah! So sehr sein Stolz sich empörte, Staunt’ er doch! Die Hoheit, so viel unerschütterte Stille Hatte der Fürst nicht erwartet. (KW 4/1, 153, V. 557ff.)
_____________ 315 Auch hier präsentiert sich Klopstock als ‚Vergebenden’, als falsch Angeklagten und als Dulder (KB 5, 286f.). 316 Während Laute immer eine Differenz einführen, markiert das Schweigen Umfassendheit, z. B. die „Allmacht“ (KW 4/1, 26, V. 193) – vgl. auch die Szenen, in denen die größte Gewalt von einem Blick ausgeht, z. B. KW 4/1, 112, 439ff.
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Sehet, welch ein Mensch! Indem Pilatus es sagte, Gab der Versöhner den Engeln, die um ihn bebten, Befehle; Nicht durch Worte, sie sahen es in des Göttlichen Antlitz, Was er, bewegt von der Jünger Schmerz’, und der andern Erwählten, Ihnen gebot. (KW 4/1, 160f., 829ff.)
Der Messias ist gleichsam das Exemplum der evidenten ‚Darstellung‘, deren Urbild sich in der göttlichen Ruhe findet: „Gott Jehova, der Ewige, hörte die Stimme der Lästrung. / Ruhig in sich selber, in seiner unendlichen Größe, / Hört er sie, sagte zu sich: Ich werde seyn, der ich seyn werde!“317 Eine andere Variante desselben Modells findet sich in der moralphilosophischen Tradition, etwa in der Bestimmung des Weisen318 bzw. des moralisch hochwertigen Menschen (vgl. z. B. auch KW 4/2, 179, V. 243f.).319 Die „wahre[ ] Hoheit der Seele“, wie Klopstock sie im gleichnamigen Aufsatz 1759 bestimmt, strebt zwar nach Anerkennung besonders qualifizierter „Männer“, ist aber darauf nicht angewiesen; sie zielt auf Selbstüberwindung und befreit sich damit von Rachegefühlen, die aus Ehrbegierde entstehen. Eine solche „Seele [...] ist beständig in Arbeit gegen sich selbst“.320 Die Internalisierung permanenter Fremdbeobachtung ist die Voraussetzung für ein gleichsam kommunionales Weltverständnis, das Abwesendes in Anwesendes verwandelt, das glaubt, ohne zu sehen, das im Unsichtbaren seinen eigentlichen Entfaltungsraum findet. Der Messias gestaltet einen Zusammenhang in sich vervielfältigter Spiegelungen, bei denen unsichtbare Beobachter auftreten, bei denen aber auch Beobachter wissen, daß sie beobachtet werden, wo Unverständlichkeit zur Normalität avanciert und nur der Glaube an das Gute und ein tiefes Vertrauen in die sich letztlich beweisende Ordnung dem einzelnen Orientierung gibt. Das „Schweigen“ signalisiert dabei durchaus auch die Grenzen der (menschlichen) Sprache321: _____________ 317 So die Verse 348ff im zweiten Gesang der Erstausgabe – später hat Klopstock sie stark verändert (KW 4/4, S. 198). Vgl. hier aber zur Selbstgleichheit z. B. KW 4/1, 108, V. 273. 318 Zur Weisheits- und Gottessemantik im 18. Jahrhundert in diesem Sinn vgl. Verf.: Friedrich von Hagedorn, S. 351ff. 319 Vgl. dazu die Beschreibung des ‚Hochsinnigen’ bei Aristoteles: „Es ist auch nicht seine Art, viel von Menschen zu reden, weder von sich, noch von anderen. Ihm liegt ja nicht daran, daß er gelobt wird, noch daß andere getadelt werden. Aber auch vom Loben ist er kein Freund. Und weil er überhaupt nicht viel von anderen spricht, so sagt er auch nichts Schlimmes von ihnen, nicht einmal von seinen Feinden, es sei denn, wenn sie übermütig werden“ (Nikomachische Ethik, 1125 a). 320 Klopstock: Ausgewählte Werke, S. 949ff. (Zitat S. 951). 321 Vgl. dazu auch Das Schweigen (1801; KO 2, 164), eine der letzten Oden Klopstocks überhaupt, wo die Sprache im Verhältnis zu Gott im Bild der Morgenröte gespiegelt wird, deren Dämmerung den Tag ankündigt.
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Jesus Ging in diesem Sturme mit jener erduldenden Stille, Welche die Sprache zwar nennt, doch die Seele so hoch nicht hinaufdenkt, Als sie der Mittler empfand. (KW 4/1, 152, V. 519ff.)
Eben diese Unaussprechlichkeit, die Elemente der Erhabenheitsästhetik aufgreift322, bringen die beiden unvollständigen Hexameter im Schlußvers des zehnten Gesangs, als der Messias stirbt, und im dreizehnten Gesang, als der Messias aufersteht, zum Ausdruck (KW 4/1, 227, V. 1052; KW 4/2, 85, V. 695).323 Überhaupt wird im Messias nicht nur viel gesprochen und gesungen, sondern bekanntlich auch viel geweint und daher viel geschwiegen. Oder anders: Der enthusiastische Jubel angesichts des Heilsgeschehens hat sein direktes Pendant, vielleicht sogar seine vollkommene Steigerung324, in der ‚feiernden Stille‘ (z. B. KW 4/1, 10). Nicht nur verhält der Messias sich ruhig aus Seelenhoheit, auch seine Beobachter verstummen angesichts eben dieser Größe. Der Erzähler hilft sich über die Unzulänglichkeit der menschlichen Sprache hinweg, indem er beispielsweise die Reden Gottes in die Rede der Beobachter übersetzt (KW 4/3, 270). Zu fragen bleibt, ob man die permanente Bewegung der Sprache im Verbesserungsprozeß des Messias als sprachtheologischen Ausdruck einerseits der Inkompetenz menschlicher Sprache, andererseits des Versuchs, das erfüllte Wort wiederzugewinnen, verstehen soll.325 Über die Wirkmächtigkeit und die Funktionen der „Grösse des Göttlichen Stillschweigens“ im Messias haben sich jedenfalls die zeitgenössischen Kritiker bereits Gedanken gemacht. Wirkungsästhetisch sehen sie den Zweck der Stille in der Produktion „heiliger Schauer“ sowie „hohe[r] Begriffe des Lesers von der unendlichen Majestät des ewigen GOttes“.326 In strategi_____________ 322 Vgl. so z. B. das Verstummen beim oder als Gotteslob in der Schulabschlußrede (Klopstock: Abschiedsrede, S. 136f.) sowie das – nur prätendierte, tatsächlich aber sehr redselige – Verstummen angesichts des Rheinfalls (KB 1, 125). Auch ‚ganzes’ Verstehen provoziert bei Klopstock Unaussprechlichkeit (KB 3, 125). 323 Manger: Klopstocks poetische Kathedrale, S. 42ff. 324 Von den „Heiligen“ heißt es während des Auferstehungsgeschehens: „Denn noch war nicht das Schweigen der Freude, / Nicht das Verstummen der Wonne gekommen“ (KW 4/2, 71, V. 185f.). Vgl. zu den Traditionslinien Hilliard; Schweigen und Benennen bei Klopstock und anderen Dichtern, S. 15ff. – von Augustinus auf der einen und der Mystik auf der anderen Seite ausgehend verfolgt Hilliard hier die beiden Linien der Ersetzung der Rhetorik durch das gläubige Schweigen und der Entwicklung einer gleichsam christlichen Beredsamkeit, die freilich immer auch vom Unaussprechlichen zu zeugen hat, und zwar vornehmlich mit den Mitteln der Verstummens, der (variierenden) Nennung sowie des Ausrufs. 325 Hurlebusch: Klopstock, Hamann und Herder als Wegbereiter autorzentrischen Schreibens, S. 23, 25; KW 7/2, 240ff. 326 [Hess]: Zufällige Gedanken über das Heldengedicht der Meßias, S. 21f.; Meier: Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias. Zweytes Stück, S. 109f., auch 53f.
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scher Hinsicht sehen sie den Vorteil des Schweigens darin, daß man orthodoxen Positionen damit keine Angriffsfläche bietet.327 Wie oben gezeigt, gibt es für Klopstock unvermittelbare Positionen, bei denen gutwillige Gespräche nicht weiter führen. Auch dies demonstriert der ‚Messias‘: Jetzo sah er dem Priester ins Antlitz, sagt’ ihm: Ich bin es, Was du sagtest! [...] Kaiphas schritt entflammter hervor! [...] Redet! Er lästerte Gott! Was brauchen wir Zeugen? Ihr hörtet’s! (KW 4/1, 135, V. 460ff.) Und Pilatus befragt ihn: Du bist der König Judäa’s? Jesus schaut mit gelinderem Ernst dem Römer ins Antzlitz: [...] Ich bin kein König der Erde! Aber so bist du denn doch König? Ich bin es! Ich ließ mich Zu der Erd’ herunter, ich ward geboren, die Menschen Wahrheit zu lehren. Wer sich der heiligen weihte, versteht mich! (KW 4/1, 145, V. 247ff.)
Auf der einen Seite behauptet Klopstock durch die christologische Dimensionierung seiner Autorschaft einen gewissen Grad an Gottebenbildlichkeit und damit an Unabhängigkeit und Selbständigkeit, die ja schon das Provokationspotential der weisen Zufriedenheit mit sich selbst ausmacht, die sich im Schweigen ausdrückt. Es ist kein Zufall, daß für das 18. Jahrhundert neben anderen Christian Wolff ein Programm der Kritikermißachtung formuliert328 und darin mit dem Habitus seiner philosophischen Schüler im Klopstock-Umfeld übereinstimmt329, denn seine Philosophie der Selbstbegründung liefert der Ästhetik der Aufklärung viele Vorgaben, die in der kritischen Kommunikation brauchbar waren.330 Andererseits gehörten zum Messias seine Jünger, auch durch sie ist er „herrlich“ (KW 4/1, 98, V. 1289). Gegenüber Sulzer erklärt Bodmer in einem Brief vom 29. März 1749: er ist unter den Poeten, was der Messias unter den Menschen. Der Hr. Pfarrer Heß von Altstätten hält ihn für einen Poeten der nicht fehlen kann; Er hat ihn sehr tief gestudiret. Ich höre noch nicht, daß ihn ein deutscher Kunstrichter geprediget habe; die deutschen Heiden werden doch ohne das Wort der Predigt nicht an ihn glauben; Er ist ihnen eine Thorheit.331
_____________ 327 [Hess]: Zufällige Gedanken über das Heldengedicht der Meßias, S. 18ff. 328 Vgl. Wolff: Erinnerung, wie er es künftig mit den Einwürfen halten will, die wider seine Schriften gemacht werden (1751) (in: ders.: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, S. [785] - [800]). 329 Meier will die Kritiken an seiner Messias-Beurtheilung mit „Stillschweigen“ übergehen (Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias. Zweytes Stück, S. 68). 330 Einige Aspekte dazu bei Verf.: Gründlichkeit. 331 Klopstock: Der Messias. Gesang I-III, S. 182.
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Aber, so muß man im Anschluß an Klopstock fragen, besteht das Problem, nicht gerade darin, daß bei tauben Ohren alles Predigen nichts hilft? Um es mit der Rede des Nikodemus, der ebenfalls mit der Macht des Schweigens ausgestattet ist332, gegen Philo zu sagen: Hättest du Augen zu sehn; und Ohren zu hören; und wäre Nicht dein Verstand mit Dunkel umhüllt, und dein Herz voll Bosheit: O du hättest in ihm den Sohn des ewigen Vaters Lang’ erkannt! (KW 4/1, 76, V. 443ff.)
Wie aber soll sich dieses „Dunkel“ lichten? Weder die Verteidiger des Messias noch die des Messias haben darauf eine Antwort. Dennoch problematisiert der Messias eindeutig nicht Nikodemus’ Verhalten, sondern das Verhalten von Joseph, der zunächst vor einer offenen Stellungnahme für den Messias zurückscheut, oder von Petrus, der sich erst nach diversen Verleugnungen zu einem prospektiven Märtyrer entwickelt (KW 4/1, 67, 80, 137; KW 4/2, 43, 123, 182). Ähnlich verhalten sich die Kritiker, denen in einer dilemmatischen Situation nicht mehr einfällt, als weiterzuschreiben, Reaktionen des Unverständnisses zu provozieren, und auch dies in einer biblisch-prophetischen Tonlage333: „Ich weiß es, daß Leßing, Klopstok, Wieland, Gleim, Rabener gute Scribenten sind; aber wie soll ich es einem andern beweisen, der nicht in meine Brust schauen und in der seinigen nicht fühlen kan? [...] gehe hin, sage ich, und koste und wenn du nichts schmeckest, was kan ich dafür!“334 Der schweigende Klopstock jedenfalls fordert redende Märtyrer (4.1.1 u. 5.1). An Ebert schreibt er über eine Messias-Rezension in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek am 21. April 1773: Bey diesem Berliner Recensenten ist mir verschiedenes wieder eingefallen. Ich habe seit Johann Christoph Gottsched bis auf diesen lezten Ehrenmann, seit 1748 bis 1773, gegen diese Leute geschwiegen; u hätte es doch so zieml. in meiner Gewalt gehabt, sie nicht allein bis zu Ihrem völligen Unrecht, sondern auch zu ihrer völligen Lächerlichkeit, auch nicht allein bis hierher, sondern auch bis zu ihrer gar besonderen Abgeschmaktheit herunter zu bringen. – Aber meine Freunde haben auch geschwiegen, Ebert unter anderen; Cramer nicht. Das ist eine Aufforderung an mich! sagen Sie. Es ist eine; u ist auch keine. Ich nehme sie, in so fern es eine ist, näml. in so fern ich sie jezt so an Sie hinschreiben, vielleicht den nächsten Posttag zurük; aber es sey eine, oder keine, wen haben Sie denn gefürchtet? – Wenn Sie irgend Jemand gefürchtet haben; so muß ich Ihnen sagen,
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332 „Philo sprach’s, trat grimmig zurück. Allein Nikodemus / Stand mit unverwendetem Antlitz. [...] / Auf ihn schaute die ganze Versammlung. Sein Auge voll Ruhe, / Voll des unwiderstehlichen Feuers der furchtbaren Tugend, / Schreckte die Sünder. Sie fühlten ihn grimmvoll. Er zwang sie; sie hörten“ (KW 4/1, 74f., V. 377ff.). 333 Vgl. für ‚Gehe hin’-Stellen z. B. Math 5, 24; 8, 4, 9, 13; 9, 13; 10, 6; 11, 4; 17, 27; 18, 15; 19, 21; 20, 4, 14; 21, 2, 28; 22, 9 – sehr viele weitere könnten hinzugefügt werden. 334 Riedel: Briefe über das Publikum, S. 117.
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daß Sie vielmehr, als alles sonst, hätten fürchten sollen, daß ich endl. einmal gereizt werden könnte, gegen die Leute hervorzutreten. Kennen Sie etwa meine Empfindlichkeit nicht? (KB 6, 39f.)
Vorausgegangen war dieser Stellungnahme allerdings ein Streit mit Ebert, der bei der Durchsicht des Messias einiges kritisch anzumerken gehabt hatte, worüber er sich seinerseits mit Klopstock nicht einigen konnte (KB 6, 34f.). In diesem Zusammenhang gibt ihm Klopstock im bereits zitierten Brief auch folgenden Bescheid: „Ich kann Ihnen, m. l. was die St.335 angeht, deßwegen nicht beantworten, weil ich zu viel u zu vielerley schreiben müste – Glauben Sie mir, daß ich bey Dingen von dieser Wichtigkeit immer sehr gute Gründe zu meinen Handlungen habe“ (KB 6, 38). Er hätte Ebert wohl auch sagen können: „Der ist selig, der nicht sieht, / Aber dennoch glaubt!“ (KW 4/2, 193, V. 61f.). Dies führt zu einer weiteren Dimension des Klopstockschen Schweigens: Die Beschränktheit der menschlichen Ausdrucks-, Aufnahme- und Verständnisfähigkeit illustriert der Messias dadurch, daß er an die Stelle von Worten Geräusche treten läßt, die nur ausgewählten Rezipienten bedeutsam sind. Der Donner336, das Rauschen337, das Säuseln338 oder das Brausen339 sind Klangformen, die – bei entsprechender Aufmerksamkeit – die ganze Welt zu einem durchgöttlichten und daher zeichenhaften Raum machen. Dies verweist nicht nur auf das Wirken des Messias, sondern auch auf die Struktur des Messias. Ertönt sein Lob, Erden, tönt’s, Sonnen! Gestirn’! Ihr Gestirn’ hier in der Straße des Lichts, hallt’s feyrend, Des Erlösenden Lob! siehe, des Herrlichen, Unerreichten von dem Danklied der Natur! [...] Ihr Wasser der Mond’, Erdemeer, rauschet darein! Wie das sanftlispelnde Harfengetön zum Chorpsalm Der Posaunen empor Lüfte der Palme wehn, So erhebt euch zu der Sternheere Gesang! [...]
_____________ 335 U. U. sind die ‚Stolbergs’ gemeint (KB 6, 320). 336 Z. B.: „Jetzo hörten die Väter, und Seraphim fern in den Himmeln / Aus den Sonnenwegen herab ein Wetter Jehova’s / Kommen! Die Harmonien der wandelnden Welten verstummten, / Wenn der Donner, ein neues Erstaunen ihrer Bewohner, / Redete!“ (KW 4/2, 81, V. 546ff.). 337 Z. B.: „Judas vernahm des Unsterblichen Stimme. [...] Ich kenne das Rauschen / Deiner Stimme zu wohl! Du bist der todte Messias!“ (KW 4/1, 144, V. 203ff.). 338 Z. B.: „Und des ewigen Sohnes Allmacht war in den Säuseln“ (KW 4/2, 6, V. 223). 339 Z. B.: „Da erhub sich auf Einmal / Um die Hütt’ ein Brausen, als eines gewaltigen Windes! / Siehe, vom Himmel kam das erschütternde Brausen, und füllte / Ganz die Hütte, worin wir saßen“ (KW 4/2, 260, V. 928ff.).
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Jetzo schwieg der Gesang [der Engel, S.M.]; doch tönete fort der gehauchte Hall, und die Saite. So tönet der Hain, wenn weit in der Ferne Ströme durch Felsen stürzen; und nah von den Bächen es rieselt: Wenn es vom Winde rauscht in den tausendblättrigen Ulmen; Und der tanzbeginnenden Braut der Quell Melodie scheint. (KW 4/2, 279, V. 471ff.)
Die unterschiedlichen Klangwahrnehmungen deuten auf den emanativen Aufbau der Welt340 und ihre unterschiedlichen Spiegelungen des Heilsgeschehens, die der bildliche Vergleich in die Differenz von eigentlicher und uneigentlicher Bedeutung einläßt. Das Rauschen der himmlischen Harfen ist für Menschen eben nur als Gebirgsrauschen vermittelbar (KW 4/2, 265), der Gesang der Himmelsbewohner als Meeresbrandung (KW 4/2, 278). Wo kompetente Rezipienten strukturierte und geordnete Äußerungen wahrnehmen, nehmen inkompetente Rezipienten unstrukturierte und ungeordnete Äußerungen wahr.341 Kompetenz und Inkompetenz sortieren sich dabei nicht nach der Differenz Immanenz / Transzendenz, sondern auch unter den Menschen gibt es – wie gezeigt – diese Unterschiede. In Von der Heiligen Poesie hatte Klopstock dies mit dem Beispiel von Lesern illustriert, die dort einen Trümmerhaufen sehen, wo andere ein perfektes Gebäude betrachten (4.1.2). Das Problem von Wahrnehmbarkeit und Ausdrucksfähigkeit führt zu den Grundlagen von Klopstocks Dichtung, die bekanntlich auf Affizierung des ‚ganzen Menschen‘ durch Aktivierung der sinnlichen Dimensionen von Sprache zielt. Die Verbindung zum Problem der Sprachwahrnehmung im Messias läßt sich dabei zwanglos über das Bild vom rauschenden Bach342 herstellen, der für die Erhabenheitsästhetik einschlägig ist. Ich will hier nicht die vorliegenden überaus subtilen Interpretation von Klopstocks Sprach- und Metriktheorie343 um eine weitere ergänzen, weil es mir weniger um die theoretischen als vielmehr um die pragmatischen Valenzen des Werks geht. Nur so viel zur Erinnerung: In unterschiedlichen Akzentuierungen344 versucht Klopstock im Laufe der Ent_____________ 340 Vgl. dazu Hilliard: Philosophy, Letters, and the Fine Arts in Klopstock’s Thought, S. 82ff.; Kohl: Friedrich Gottlieb Klopstock, S. 71f. 341 Vgl. dazu auch die Kritik Hudemanns am „Rasseln und Rauschen“ des Messias (Gedanken über den Messias in Absicht auf die Religion, S. 13). 342 Vgl. dazu die poetologische Ode Der Bach (KO 1, 182ff.). 343 Zum Überblick vgl. bei Kohl: Friedrich Gottlieb Klopstock, S. 78ff.; Breuer: Deutsche Metrik und Versgeschichte, S. 191ff. 344 Einschneidend ist vor allem der Wechsel von der Kategorie der („künstlichen“) „Versfüße“ zur Kategeorie der „Wortfüße“ in den 60er Jahren (Hellmuth: Metrische Erfindung und metrische Theorie bei Klopstock, S. 80; zu weiteren Veränderungen s. ebda. S. 213ff.).
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wicklung seiner Poetologie die Ausdrucksfähigkeit der Sprache zu steigern, indem er erstens der Wortstellung, zweitens der klanglichen („Wohlklang“), drittens der dynamischen („Tonverhalt“) sowie viertens der temporalen Dimension von Sprache („Zeitausdruck“) die Fähigkeit zum „Mitausdruck“ zuspricht345; dabei bezieht er fünftens die konnotative Dimension der Sprache in besonderer Weise in die Überlegungen ein. Die optimale Verwendung der sprachlichen Ausdrucksmittel ermöglicht schließlich – sechstens – das Prinzip der „Mannigfaltigkeit“, also die Vermeidung der restriktiven Strukturierungstechniken ‚Reim‘ und ‚Alternation‘. Eines der Probleme für die Vermittlung dieser Theorie vom ‚Mitausdruck‘ in die Praxis formuliert Klopstock beispielsweise in der Gelehrtenrepublik im Abschnitt „Für junge Dichter“: Bey der eigentlichen und vorzüglichsten Sprachkentnis komt es darauf an, daß man die Bedeutungen der Wörter in ihren ganzen Umfange wisse. Dieser begreift unter andern den Sinn in sich, den ein Wort, in der oder jener Verbindung der Gedanken, auch haben kann. [...] Zu den vielfachen Bestimmungen der Hauptbedeutungen gehört auch sanfter und starker Klang, langsame und schnelle Bewegung der Wörter, ja sogar die verschiedne Stellung dieser Bewegungen. [...] Der eigentliche Umfang der Sprache ist das, was man, ohne den Redenden zu sehn, höret. Man hört aber Töne, die Zeichen der Gedanken sind, durch die Stimme so gebildet, daß vieles von dieser Bildung nicht gelehrt werden kann, sondern vorgesagt werden muß, um gelernt zu werden. Die unlehrbare Bildung der Töne begreift besonders das in sich, was das Sanfte oder Starke, das Weiche oder Rauhe, das Langsame und Langsamere, oder das Schnelle und Schnellere dazu beytragen, daß die Töne völlig zu solchen Gedankenzeichen werden, als sie seyn sollen. Man höret ferner mit dieser Tonbildung eine andre, die, in sehr vielen und sehr fein verschiednen Graden, Leidenschaft ausdrükt. Diese zweyte Tonbildung ist allein ein Geheimnis, denen ihr Gefühl nichts darüber sagt. (KW 7/1, 71f.)
Entsprechend prägen Klopstocks poetologische Selbsterklärungen auch eine Rhetorik der Unschärfe aus. Entschiedenheit war zwar Klopstocks Programm, umgesetzt hat er dies allerdings nur auf seine sehr spezifische Weise.346 Die Offenheit und Fragmentarität der entsprechenden Texte enttäuscht das Verlangen nach klaren Urteilen;347 Näherungswerte und _____________ 345 Der Streit in der Klopstock-Forschung geht dann darum, ob der „Mitausdruck“ eine abgeleitete Funktion hat (so z. B. die generelle Ausrichtung bei Benning: Rhetorische Ästhetik, die den Gegenstandsbezug bei Klopstock gewahrt sieht) oder ob, gleichsam als interner Widerstreit der Klopstockschen Poetologie ausgetragen, der „Mitausdruck“ im Rahmen der Theorie der Wortbewegung an die erste Stelle der relevanten Daten rückt (so vor allem Menninghaus, z. B. Dichtung als Tanz, S. 136f.) 346 Vgl. z. B. die ganz von der Theorie des ‚Gesichtspunkts’ aus aufgebauten Gedanken über die Natur der Poesie (1759) (Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 182). 347 Am deutlichsten wird dies in der Auseinandersetzung Von dem Range der schönen Künste und der schönen Wissenschaften (1758), wo beinahe ein Urteil fällt, das dann aber doch
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graduelle Bestimmungen gehören zum festen Bestand einer Theorie, die sich im „vielleicht“ oder „scheinbar“348, in verschwommenen Kollektivbildungen („einige“), in willkürlich abgebrochenen Argumentationsgängen und offenen Fragen entfaltet.349 So fordert Klopstock also eine bis dato unbekannte „Strenge“ der Beurteilung350 und verteidigt zugleich eine nur approximative Einstellung. In Vom deutschen Hexameter (1779) heißt es am Ende treffend: „Überhaupt gelten hier das öfter oder seltner, und das mehr oder weniger so sehr, und das Ziel, die durchgängige vollendete Schönheit des Silbenmaßes, ist so unerreichbar, daß man so gar weit davon der nächste sein kann“.351 Öffnet das nicht der Kritik alle Wege? Tatsächlich fordert Klopstock in Von der Darstellung (1779) vom „gute[n] Richter“, daß er „Gelindigkeit“ gegen größte Strenge eintauscht, je näher der Dichter dem „Vollendeten“ kommt, weil bei Qualitätssteigerung „auch dem Zuhörer ein wenig Unerreichtes, oder gar Verfehltes“ umso mehr auffällt. Freilich endet dieser Essay ebenfalls in einer typisch Klopstockschen Wendung: „Nur müssen sich die nicht unter die Beurteiler drängen, und über jenen Umriß mitsprechen wollen, vor denen es überhaupt dämmert. Denn was haben sie mit dem Vollendeten zu schaffen“.352 Noch einmal: Wie unterscheiden wir Inkompetenz und Kompetenz? Zusammenfassend: An Klopstock, so war zu sehen, scheiden sich die Gemüter; an ihm mußten sich die Kritiker beweisen; und im Umgang mit seinem Werk hatten sie ihre Fähigkeiten, ihre Positionierungen und ihre Aushaltestrategien zu markieren. Die Virtualisierung von Beobachtungsverhältnissen, die Neigung, im Positionswechsel und damit in der Negation etwas Positives zu sehen, sowie den virtuosen Umgang mit dem Unsichtbaren und dem Diffusen, dem Kleinen und Feinen, den kaum mehr sichtbaren Bezügen und Zusammenhängen – all diese Aufmerksamkeitskompetenzen hat der Autor des Messias dadurch in einem bislang uner_____________ 348 349
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durch das plötzliche Auftauchen der Tanzkunst verhindert wird – daraufhin vertagt man sich (Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 214f.). Vgl. z. B. den letzten Passus in Von der Sprache der Poesie (1758) (Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 33f.). Zu letzterem z. B. in Vom deutschen Hexameter (Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 122, 148). Zum Thema Menninghaus: Klopstocks Poetik der schnellen „Bewegung“, S. 289, zusammenfassend zu Menninghaus’ Thesen von der Subjektivierung des Zeitbegriffs, der Kontextsensitivität durativer Werte und zur Rückbindung der Prosodie an die Semantik ebda., S. 299. Z. B. in Vom deutschen Hexameter (Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 106f.). Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 152. Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 173.
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Friedrich Gottlieb Klopstock
reichten Maß gesteigert, daß er den Beobachtern seines Werks das abverlangt hat, was er in sein Werk investiert hat: Zeit. Bereits Bodmer hatte, über Gottscheds Sinn für die Virtualität der Beurteilung hinaus, die Werkbetrachtung temporalisiert und damit die kritische Tiefsinnigkeit angeregt. Aber Klopstock übersteigt mühelos die bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts vorhandenen Möglichkeiten zur Verunsicherung des Betrachters. Klopstock virtualisiert ‚Fehler‘ und ‚Schönheiten‘, indem er alle Urteile immer unter Vorbehalt stellt, daß entweder das Werk noch gar nicht im Ganzen vorliegt oder die ‚Ausgabe des letzten Fingers‘ noch nicht vorhanden sein könnte. Wichtig war mir dabei insbesondere, daß diese fundamentale Strategie der Werkpolitik Klopstocks auf unterschiedlichen Ebenen festzustellen und damit auch nur mit unterschiedlichen methodischen Zugriffen einsehbar war. Daraus ergibt sich die Möglichkeit, insbesondere dem Messias eine komplexe Werkpoetologie abzulesen. Denn die entsprechenden Aufmerksamkeitsforderungen bzw. die korrespondierenden Visibilisierungs- und Invisibilisierungsleistungen beziehen sich nicht nur auf die Produktionsästhetik und auf die Publikationsweisen. Sie lassen sich gleichermaßen in den makro- wie mikrostrukturellen ästhetischen Verfahren der Oden oder des Messias entdecken (4.2 a u. b), in den thematischen Ausgestaltungen seiner Gedichte (4.2 c u. d), in der Ausbildung von Persönlichkeitsstrukturen (4.1.1), in den Überlegungen zur Materialität des Werks oder in jenem dichterischen Kapitalismus, den Klopstock von der Pension bis zur Subskription durchdekliniert hat (4.1.3). In all diesen Fällen unterstützt Klopstock die Ausprägung von Rezeptions- und Produktionsmustern, die das Vertrauen auf Kontinuität mit der Akzeptanz von Wandelbarkeit verbinden. Denn er demonstriert nicht allein, daß jene Positionsflexibilität, die durch den Multiperspektivismus in fernkommunikativen Zusammenhängen angeregt wird, die Voraussetzung für das Phantasma von Selbstgleichheit im Wandel ist; sondern er weist auch die Kritiker darauf hin, daß sie sich nicht mehr Hoffnung auf Sicherheit machen können als die Autoren, die sie kritisieren. Klar wird am Beispiel der Klopstock-Kritiken um ein Neues: Wer kritisiert, kann kritisiert werden, und es gibt keine Lektüre, die nicht durch eine noch genauere Lektüre überholt werden könnte, weil Genauigkeit selbst eine verhandelbare Sache ist (4.1.1 u. 4.1.2). Eben durch diese Verunsicherung verpflichtet Klopstock seine Leser auf ‚Langsamkeit‘ als Rezeptionsmodus und damit auf Haltung, die er zuvor seinem Werk gegenüber eingenommen hat. Ich will die Konsequenzen des Werkverhaltens im folgenden Kapitel an zwei konkurrierenden Klopstock-Apologeten entwickeln: an Johann Heinrich Voß und an Carl Friedrich Cramer, die sich auf zwei unterschiedliche Weisen mit dem Problem von Kompetenz und Inkompetenz
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im Blick auf Klopstock herumgeschlagen haben und die gerade aufgrund der Erfahrung von Unverständnis und Mißverständnis zwei Dimensionen von Klopstocks Werkpolitik herausstellen. Daß Cramers Herangehensweise bei aller Skurrilität die Zukunft gehört, mag sich vielleicht schon im Ausgang eines Streits zwischen ihm und Voß andeuten. Um die Jahreswende 1782/83 gehen Cramer und Voß eine Wette ein über Stellen aus Klopstocks Ode Der rechte Entschlus, die sie unterschiedlich interpretieren – Klopstock gibt Cramer Recht (KB 7, 263, 1175), Voß hingegen versteht nicht einmal nach den Erklärungen des Autors ‚alles‘ und hält, gestützt durch Gerstenberg und Stolberg, an der Möglichkeit seiner Auslegung fest (KB 8, 5). Während so auf der einen Seite Herangehensweisen entwickelt werden, die sich um die Leitidee des Autors gruppieren, geht Voß von einer Art Eigenrecht des Textes und seiner vom Leser bestimmbaren Bedeutung aus.
5. Probleme der kritischen Kommunikation und ihre philologische Lösung Im letzten Kapitel habe ich die Unsicherheiten, Aporien und Paradoxien der kritischen Kommunikation am Beispiel Klopstocks herausgearbeitet und damit an dem Autor, dem bereits die Zeitgenossen paradigmatische Bedeutung für die Etablierung von Negativität zugesprochen haben. Wie Wieland (3.3 c) führt auch der Messias-Autor an einen Punkt, wo ein Codewechsel naheliegt, weil Wertungen nur noch gegen die faktische Vielfalt der Wertungsmöglichkeiten eindeutig zu sein vermögen. Anstelle der Entscheidung, ob ein Werk gut oder schlecht, schön oder häßlich, gelungen oder mißlungen ist, legen Wieland und Klopstock ihren Lesern nahe, Zeit für eine ständige Verfeinerung und Ausweitung der Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen und damit Leistungen zu erbringen, die die kritische von der philologischen Kommunikation unterscheidet. Die Konzeption des Lebenswerks ist dabei ein zentrales Angebot, um die Aufmerksamkeitsformen zu wechseln (4.1 u. 4.2 a). Wie schwierig diese Umstellung war, aber auch wie früh bereits Darstellungs- und Beobachtungsformen entwickelt wurden, die erst im Laufe des 19. Jahrhunderts zu institutionalisierten und habitualisierten Textumgangsformen von (Neu-)Germanisten wurden, läßt sich am Beispiel der Klopstock-Rezeption von Johann Heinrich Voß und Carl Friedrich Cramer sehen. Im Hintergrund des Streits zwischen Klopstock und Johann Heinrich Voß stehen die Komplikationen kritischer Kommunikation: die Klopstocksche Ausbildung eines aufmerksamen Lesers, das entsprechende messianische Verständnis des Messias-Autors, die Etablierung von Negativität im Kontext des ‚Göttinger Hains‘ sowie die Kritik an der Kritik, bei der die beiden Kontrahenten sich im übrigen einig sind. Dabei kommen die metakommunikativen Schwierigkeiten der kritischen Kommunikation verhältnismäßig deutlich zum Ausdruck. Die Auseinandersetzung dreht sich scheinbar um einen Gegenstand, nämlich um die Einschätzung von Homers Hexameter, tatsächlich aber um die Frage, wie etwas zum Gegenstand wird und wie man Gegenständlichkeit vermittelt. Wieder also führt die kritische Kommunikation zum Problem der Visibilität und Invi-
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sibilität, diesmal im Blick insbesondere auf die Frage, was dabei als Argument oder als Beispiel gelten kann; und wieder lösen sich die entstehenden Probleme werkpolitisch dadurch, daß das Kunstwerk als spezifischer historischer Fall verbucht und Zeit zum zentralen Faktor erklärt wird. Während Voß nur ansatzweise das Problemlösungspotential der Temporalisierung entbindet, nutzt Carl Friedrich Cramer deutlicher die drei Formen der Verzeitlichung, die ein philologisches Vorgehen werkpolitisch charakterisieren: Der Autor wird biographisch verzeitlicht, der Text wird durch Varianten verzeitlicht, und das Gesamtwerk wird durch die Abbildung auf ein Leben verzeitlicht. Daher paßt es ins Bild, daß Cramer zugleich mit der Monographie bzw. der Biographie, der historisch-kritischen Ausgabe sowie dem Kommentar die drei germanistischen Leitgenres des 19. Jahrhunderts nutzt, um eine gleichsam selektionslose Aufmerksamkeit zum ganzheitlichen Verständnis eines Autors und seines Werks zu etablieren. In einem Ausblick werde ich diese Linie von der kritischen Kommunikation zur philologischen kurz skizzieren (5.2 c) und damit ins 19. Jahrhundert zu Ludwig Tieck überleiten, der Poesie, Kritik und Philologie in besonders aufschlußreiche Weise verbindet und dabei zugleich das Politische der Ausbildung von Werkkompetenz reflektiert (5.3). Am Beispiel Goethes, dem Muster eines in vielen Hinsichten erfolgreichen und virtuosen Werkpolitikers, kann man dann sehen, wie verbreitet die Werkumgangsformen Cramers oder Tiecks waren (5.4), welche faktischen Vorleistungen die literarische und kritische Kommunikation für die philologische erbringt (5.4.3) und wie komplex die literatur-, kultur- und wissenschaftsgeschichtlichen Bezüge sind, in die Werkpolitiken eingelassen sind.
5.1 Kritische Probleme: Johann Heinrich Voß ‚verhört‘ Klopstock Nach der Auflösung des Kreises um die Bremer Beyträge schließt Klopstock sich noch ein weiteres Mal an einen jungen Dichterbund an: den Göttinger Hain.1 Der Hainbund formiert sich rund um den von Heinrich Christian Boie herausgegebenen Musenalmanach. Die offizielle Gründung datiert die Assoziation auf den 12. September 1772. Der Verlauf der Sitzungen _____________ 1
Vgl. zum folgenden Kelletat: „Der Bund ist ewig“, insbes. S. 404ff.; sowie Beck: „Der Bund ist ewig“, S. 104ff.; Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 6/III, S. 144ff. – hier auch zur Verbindung zwischem dem ‚Hainbund‘ und den ‚Bremer Beiträgern‘ (ebda, S. 141).
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des Bundes zeigt bereits Klopstocks prominente Stellung2: Zu Beginn liest einer der Hainbündler ein Gedicht von Klopstock oder von Ramler vor; die Lesung und das Gedicht werden gemeinsam beurteilt; darauf folgt die Besprechung eigener Produktionen. Das Bundesjournal dokumentiert verbesserte und gemeinsam abgesegnete Gedichte. Das erste gemeinsame Ergebnis der wechselseitigen Begutachtung war der handschriftliche Sammelband Für Klopstock3, auf den ich später zurückkommen werde. Klopstock, der in anderen Fällen den Anschluß an eine Gruppierung und damit den Eindruck der Parteilichkeit zu vermeiden versuchte, konnte den Hainbund aus verschiedenen Gründen gut gebrauchen:4 Er wollte sowohl inhaltlich (dies betraf vor allem die Bardendichtung) als auch stilistisch auf die kommende Generation Einfluß gewinnen und in ihr ein aufmerksames, verehrungsbereites Publikum finden; ideologisch lagen der Patriotismus der Hainbündler und die sich steigernden politischen Freiheitsphantasien ebenso auf seiner Linie wie die literarischen Polemiken insbesondere gegen Wieland, dessen Bild nicht umsonst rituell an Klopstocks Geburtstag verbrannt worden ist; schließlich nutzte Klopstock den Hainbund auf eine sehr praktische Weise: Nachdem seine frühen Subskriptionsprojekte an nicht ausreichend motivierten Mitarbeitern scheiterten, fand er hier jene äußerst eifrigen Subskribentensammler, die der Gelehrtenrepublik erst zu ihrem Erfolg verhalfen5 – mit gutem Grund setzte Klopstock dem Hainbund in der „heiligen Cohorte“ ein Denkmal (KW 7/1, 233).6 Klopstocks Beitrittsgesuch zum Bund war allerdings weniger ein Angebot, sich der Gruppe anzuschließen, wie die Göttinger meinten, als vielmehr der Versuch, sich an deren Spitze zu setzen (KB 6, 131).7 Wichtig für den hier interessierenden Zusammenhang ist, daß die Hainbündler – wie schon die ‚Bremer Beyträger‘ – eine kritikfixierte und kritikzentrierte Gruppe bilden.8 Christian und Friedrich Leopold Stolberg schreiben über den Hainbund an Klopstock: „Die Idee dieser Gesellschaft ist folgende: Wer etwas gemacht hat, liest es vor, man kritisirt frey u: kann sich frey vertheidigen“ (KB 6, 8). Wie immer in diesen Zusammenhängen, bereitet die kritische Freiheit bald Schwierigkeiten. Boie jedenfalls macht sich durch zu scharfe Urteile unbeliebt. Cramer berichtet über ihn an Bür_____________ 2 3 4 5 6 7 8
Vgl. einschränkend für die Bedeutung Klopstocks bei der Konstitution des Bundes Lüchow: ‚Die heilige Cohorte‘, S. 152f., insbes. Anm. 4. Vgl. dazu Lübbering: Einleitung, S. 121ff. Vgl. zum folgenden Annette Lüchow: ‚Die heilige Cohorte‘. Vgl. dazu neben Lüchow (‚Die heilige Cohorte‘, S. 164ff.) bei Kelletat: „Der Bund ist ewig“, S. 410f.; Sickmann: Klopstock und seine Verleger Hemmerde und Bode, S. 1514; Pape: Klopstocks Autorenhonorare und Selbstverlagsgewinne, insbes. S. 33, 155. Zu den Bezugsmöglichkeiten vgl. Lüchow: ‚Die heilige Cohorte‘, S. 176ff., 212, 214 Kelletat: „Der Bund ist ewig“, S. 412; Lüchow: ‚Die heilige Cohorte‘, S. 185ff. Ausführlich dazu: Kahl: Das Bundesbuch des Göttinger Hains.
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ger am 15. Februar 1773: „Das Schnällchen hat sich nun auch endlich durch seinen critischen Übermuth bey den Stolbergs stinkend gemacht. Das Gedicht, wovon der jüngste uns lezt den Anfang sagte, wo Du mit Recht das Gleichniß so bewundertest und das er noch gefeilt und herrlich verbessert hat, hat es für schlecht erklärt“ (KB 6, 259). Auch hier hilft der Wechsel von der mündlichen zur schriftlichen Kommunikation der kritischen Einstellung weiter, denn schriftlich – so behauptet Voß an Ernst Theodor Johann Brückner 1772 – „thun wir’s sogar unter uns, um freimüthiger und richtiger zu urtheilen“.9 Die Idolisierung und Idealisierung Klopstocks durch den Hainbund beeinflussen maßgeblich die von Cramer genannten Brüder Stolberg. Vielleicht resultierte der Beschluß, Klopstock eine Gedichtsammlung zu präsentieren, aus dessen Angebot an die Stolbergs zur Verbesserung einiger Gedichte. Klopstock hat dann auch wirklich Kritiken an die Hainbündler geschickt, allerdings nur auf eine äußerst reduzierte, wenig ausgereifte Weise in Form von kaum begründeten Wortlisten. Bekannt sind Gutachten zu sieben der 91 Gedichte von Für Klopstock.10 Die Hainbündler zeigen sich jedenfalls von der Aussicht auf Kritik, und zwar zumal auf negative Kritik, enthusiasmiert: Friedrich Leopold Stolberg verkündet dem Bund am 30. April 1773: Anmerckungen wird er machen, ofne, freye Anmerckungen, Wir haben kein Schonen zu befürchten, denn er liebt uns alle! Einzelne mündliche Urtheile könnte ich anführen, aber ich will nicht vorgreiffen; genug, (geben Sie sich zufrieden Hahn!) genug daß auch Tadel unter diesen Urtheilen war. Einen Brief von Klopstock an den Bund werden wir, hoffe ich, mitbringen, seine kritischen Anmerkungen aber will er uns nach und nach schicken wenn wir wieder in Göttingen sind. Er will sich Zeit nehmen um Musse zu haben u: desto specieller urtheilen zu können.11
Umgekehrt bemerkt Voß zu Klopstock: „Er hört gern Einwürfe“.12 Gerade aber am Verhältnis von Voß zu Klopstock, der, wie Ebert es formuliert, zu den „grossen Schüler[n]“ des Messias-Autors gehörte (KB 7, 86), lassen sich die Grenzen der Kritikbereitschaft, Kritikfähigkeit und Kritikmöglichkeit entwickeln. Zu Für Klopstock steuert Voß die Ode An Klopstock bei. Sie schließt den Sammelband ab, und dies mit einigem Grund, denn sie steigert das Klopstock-Lob auf eine extreme Stufe.
_____________ 9 10 11 12
Zit. nach: Dichter lesen. Von Gellert bis Liliencron, S. 47. Lüchow: ‚Die heilige Cohorte‘, S. 155f., 161, 167ff. Lüchow: ‚Die heilige Cohorte‘, S. 198. Brief vom 2./3. April 1774 an Brückner (Lüchow: ‚Die heilige Cohorte‘, S. 212).
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An Klopstock Trit hin, mein Lied! Trit muthig vors Angesicht Des Sioniten! Zittre wer Frevler ist! Du, klein und schwach, krochst keinem Ausland, Eiferst für Gott und Thuiskons Erbe. In hoher Wolke feyert den Ewigen Der Ruf des Donners: aber ihn feyert auch Die kleine Grille, die dem Erndter Munterung zirpt und dem Schnittermädchen Hat nicht Eloa seinen Gesang geehrt? Sprecht, Edens Träume, welch‘ ihm der Seraph schuff! Und er, ein Stolzer, sollte grausam Schmähn die Gesänge des deutschen Jünglings? Mann Gottes, wahrlich! kannst es nicht, kannst mein Herz Nicht so betrüben! – Schmeichler, umarmte mich Mein Bruder? rief mir falschen Beyfall? Mädchen, du weintest mir Heuchelthränen? – Still, meine Seele! Wahrlich! er kann es nicht! – – Und wenn der Schauer Segen mir lächelte: Getrost! mein Sohn! Du singst der Eiche Würdiger einst und des Palmenkranzes? O dann erhob ich, Brüder, zu eurem Schwur Die Hand! Dann kniet‘ ich weinend als Knabe schon Vor meinem Gott, und flehte kindlich, Mich mit der Freudigkeit Oel zu salben! Dann räch‘ ich, Unschuld, dich mit Jehova‘s Kraft An Satans Priestern! An den Verräthern dich, Mein Vaterland! Des Pöbels Hohnruf Trotzend, und trotzend dem Schwerdt des Wütrichs!13
Drei Größen werden von Voß in ein Äquivalenzverhältnis gesetzt: Gott, Klopstock und das ‚Vaterland‘. Bevor das ‚Vaterland‘ in der letzten Strophe an die Stelle der zuvor apostrophierten Objekte der Verehrung tritt, gestaltet Voß sein Verhältnis zu Klopstock parallel zum Verhältnis des Gläubigen zu Gott als Adoration sowie umgekehrt als Form der Segnung. Diese sakralisierende Dimension der Klopstock-Verehrung bestimmt das Verhältnis der Hainbündler zu ihrem Leitbild, wenn sie sich beispielsweise in die Position der Jünger bringen, unter die der Messias (oder der Heilige Geist) tritt: „Sie wollen unter uns seyn! Ach ietzt nicht Ahndung mehr, es _____________ 13
Für Klopstock, S. 84f.
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ist Gewißheit, Gott hat uns gesegnet! [...] Gott hat uns gesegnet! Unter uns Klopstock“ (KB 6, 140).14 Die Bedeutungsverschiebungen zwischen dem Autor des Messias, dem Vater des Messias und dem ‚Vaterland‘ in Voß‘ Klopstock-Ode sind – ebenso wie die zeitliche Verschachtelung der fünften und sechsten Strophe – typisch für die Besungenen, und von daher ist es auch konsequent, daß Voß die alkäische Odenform verwendet: Unter den KlopstockAnhängern ist das alkäische Versmaß eine häufig verwendete Art des Lobgedichts.15 Insbesondere die Mitglieder des ‚Göttinger Hains‘ und eben auch Voß16 sehen in Klopstock den Begründer dieser Form in der deutschen Dichtung. Klopstock hat sich, wie von Voß gefordert, nicht als „Stolzer“ erwiesen: Die Formulierungen „Mann Gottes“ und „Getrost mein Sohn“ bemängelt er in seinem Gutachten zum Sammelband als „zu geheiligte Ausdrücke“ (KB 6, 90). Aber die so sehr ersehnte Kritik kommt beim Autor der Lob-Ode an dieser Stelle nicht an: „Ich bin nicht überzeugt“, schreibt er an Brückner im August 1773, „daß es hier am unrechten Ort steht, und daher bleibts“ (KB 6, 430).17 Bemerkenswert ist dabei die relativistische Selbstbehauptung, die die Frage des richtigen ‚Gesichtspunkts‘ ins Spiel _____________ 14
15
16 17
Vgl. für die Parallele zu den ‚Bremer Beiträgern‘ auch noch einmal Rabeners Brief an Bodmer vom 7. Mai 1749: „Herr Klopstocks Meßias ist mitten unter uns getreten, und wir kennen ihn nicht. Es fehlt also noch sehr viel, daß er einen Evangelisten unter uns finden sollte“ (Klopstock: Der Messias. Gesang I-III, S. 183). Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen, S. 262. Die Nachahmung der alkäischen Oden in der deutschen Literatur – der am häufigsten imitierten antiken Odenform – orientiert sich an den Horaz-Oden (thematisch wäre hier z. B. an die Anfangsstrophe von Odi profanum volgus et arceo [carm. III,1] zu denken). Die von Klopstock gewählte weibliche Kadenz der beiden Anfangsverse verweist auf eine dem „antiken Vorbild strenger verpflichtete Strophenform“ – häufiger ist im Deutschen die Betonung der Endsilben und dadurch die Vermeidung „mehrsilbige[r] Tonlosigkeit“ (Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen, S. 259f.). Klopstock verwendet die alkäische Strophenform von Beginn seiner Odendichtung an. Die alkäischen Verse gelten ihm als die „vollkommensten lyrischen Verse“, und dies nicht nur wegen ihres Abwechslungsreichtums (Von der Nachahmung des griechischen Silbenmaßes im Deutschen (1755). in: Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 10). Sondern diese Wertschätzung erklärt sich auch daraus, daß das alkäische Odenmaß mit den Psalmen konkurrieren kann: „Wenn Horaz am höchsten steigen will, so wählt er die Alkäen, ein Silbenmaß, welches, selbst für den Schwung eines Psalms, noch tönend genung wäre. Er läuft da am oftesten mit dem Gedanken in die andre Strophe hinüber, weil es, so zu verfahren, dem Enthusiasmus des Ohrs und der Einbildungskraft gemäß ist; da jenes oft noch mehr als den poetischen Perioden, der nur in Eine Strophe eingeschlossen ist, verlangt, und diese den Strom des schnellfortgesetzten Gedanken nicht selten fordert. Horaz wußte entweder den Einwurf nicht, daß, wegen des Singens, die Strophe und der Periode zugleich schließen müßten, weil ihm die Sänger und die lyrische Musik seiner Zeit denselben nicht machten: oder er opferte die kleinere Regel der größern auf“ (Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S.18). Vgl. die spätere Ode Klopstock (Voß: Sämtliche Gedichte. Bd. 3, S. 251f.). Lüchow: ‚Die heilige Cohorte‘, S. 169.
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bringt. Welche Mittel aber gibt es, um einen Betrachter von der Unangemessenheit seines Standpunkts zu überzeugen? Die Diskussionen zwischen Klopstock und Voß liefern dazu ein Lehrstück. Zunächst jedoch revanchiert Klopstock sich mit einer Ode an Johann Heinrich Voss für die Unterstützung durch den Hainbündler.18 Ode an Johann Heinrich Voß Zween gute Geister hatten Mäonides Und Maro‘s Sprachen, Wohlklang und Silbenmaaß. Die Dichter wallten, in der Obhut Sichrer, den Weg bis zu uns herunter. Die spätern Sprachen haben des Klangs noch wohl; Doch auch des Silbenmaasses? Statt dessen ist In sie ein böser Geist, mit plumpem Wörtergepolter, der Reim, gefahren. Red‘ ist der Wohlklang, Rede das Silbenmaaß; Allein des Reimes schmetternder Trommelschlag Was der? was sagt uns sein Gewirbel, Lermend und lermend mit Gleichgetöne? Dank unsern Dichtern! Da sich des Kritlers Ohr, Fern von des Urtheils Stolze, verhörete; Verliessen sie mich nicht, und sangen Ohne den Lerm, und im Ton des Griechen. So weit wie Maro kam und Mäonides Mit Liedestanze, kämen mit ihrem Reim Die Neuern? unter seinem Schutze Sichrer im Gange, da ganz hinunter? Dank euch noch Einmal, Dichter! Die Sprache war Durch unsern Jambus halb in die Acht erklärt, Im Bann der Leidenschaften Ausdruck,
Welcher dahin mit dem Rhythmus strömet.
Wenn mir der Ruf nicht fabelt; verschmähet selbst Der Töne Land dieß Neue: und dennoch ist Die Sprache dort die muttergleichste Unter den Töchtern der Romanide. Weil denn in dieser Höhe die Traub‘ euch hängt; So hab‘ ich Freundes Mitleid mit euch, daß sie So gar es nicht vermag, die schönste Unter den Töchtern der Romanide.
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Musen Alamanch für 1786, S. 205ff.
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Die Sprachen alle stutzen, Begeistrung, oft, Gebeutst du, tönen soll es, wovon du glühst! Soll dir von allen deinen Flammen Keine bewölkender Dampf verhüllen! Doch klagt den Dichter, wenn es der seinen jetzt Gar an der Nothdurft Scherfe gebricht, ihr jetzt, Wo sich dem Geist das Wort nicht nachschwingt, Nicht die Bewegung die Schwesterhand beut: Wenn er in ihr Anlage zum Silbenmaaß Ausforscht, und gleichwohl schüchtern dieß Gold nicht gräbt; Fühlt, wie des Liedes Ernst der Reime Spiele belachen, und doch sie mitspielt. Des Guten mangelt viel ihm; des Schlimmen hat Er viel. Und jetzo komt die Begeisterung, Gebeut! Schnell blutet sie vom Dolch des
Stamlers! ihr Auge verlischt, sie sinket!
An Johann Heinrich Voß entsteht 1783/84 und erscheint zunächst in dem von Voß herausgegebenen Musen-Almanach für 1786.19 Das Gedicht hängt mit den poetologischen Oden zusammen, die Klopstock seit 1764 im Blick auf die von ihm erfundenen Versmaße schreibt, und formuliert erstens in hermetischer Weise Klopstocks Dichtungstheorie sowie zweitens die Selbsteinschätzung seines Verhältnisses zur Literatur der Antike, zur Literaturgeschichte der Neuzeit sowie zur Gegenwartsliteratur.20 Es geht mir an dieser Stelle nicht um eine ausführliche Kommentierung und Interpretation, die sich beispielsweise auch hier – wie beim Lehrling der Griechen (4.1.3 b) – dem subversiven Traditionsverhalten Klopstocks widmen müßte. Ich konzentriere mich lediglich auf Klopstocks Auseinandersetzung mit seinen (kritischen) Lesern. Die alkäische Ode läßt sich heuristisch in vier dreistrophige Teile gliedern, die ihre Zentren in den Themen ‚Poetologie‘, ‚Klopstockkritik und verteidigung‘, ‚italienische Literatur‘ und ‚Gegenwartsliteratur‘ haben. Die _____________ 19 20
Einige, wenig erhellende Bemerkungen zur Ode vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung um den Reim bei Ehrlich: Klopstocks Ode „An Johann Heinrich Voß“. Homers und Vergils Sprache zeichnen sich durch „Wohlklang“ und „Silbenmaß“ aus, die „neueren Sprachen“ erreichen dieses Niveau nicht wegen des „Reims“ und des jambischen (alternierenden) Versmaßes. „Wohlklang“ und „Silbenmaß“ führen zu „Liedestanze“, zu (Sprach-)“Bewegung“, zum „Strömen“ des Rhythmus‘: Die Sprache kann so „der Leidenschaften Ausdruck“ sein und die „Begeisterung“ darstellen. Vor diesem Hintergrund dankt das „ich“ „unsern Dichtern“ (dem ‚Göttinger Hain‘) für deren literarischen Beistand. Es bedauert einerseits „der Töne Land“ (Italien), da sie das „Neue“ – die Befreiung des „Ausdrucks“ der „Leidenschaften“ vom „Bann“ – noch nicht genutzt habe, und kritisiert andererseits die Gegenwartsliteratur, da sie die sprachlichen Möglichkeiten noch immer nicht ausschöpft.
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Triaden verknüpft Klopstock untereinander erstens grobstrukturell durch die Themenvorstellung in den beiden ersten Strophen und eine Art Summierung in der abschließenden Strophe. Die Ode folgt dabei zweitens dem von Klopstock favorisierten Prinzip der Ähnlichkeit als strukturbildendem Verfahren unter der Prämisse größtmöglicher „Mannigfaltigkeit“ – ein Netz motivischer und figuraler Anspielungen, Analogien, Variationen bis hin zu wörtlichen Wiederholungen von Begriffen oder Versen bestimmt die Feinstruktur, so daß die Themen sich wechselseitig spiegeln. Poetologisch fundieren diesen Aufbau die in den Oden genannten Themen: Reim- und Jambenkritik, „Wohlklang“ und „Silbenmaß“ als „Ausdruck“ der „Leidenschaften“ durch „Bewegung“. Auch hier also praktiziert Klopstock die ihm z. B. von Lessing (4.1.3 b) zugeschriebenen Verfahren der Einheitsbildung i. S. der Einschachtelung und der vervielfältigten Bezugsmöglichkeiten. Um exemplarisch ein Feld zu umreißen: Die Voß-Ode setzt mit dem „Herunterwallen“ von Vergil und Homer ein. Das „herunter“ wird in der fünften Strophe aufgenommen mit der Infragestellung der „Neuern“ im „hinunter?“ und am Ende der Ode mit dem Sterben der vom „Stammler“ erdolchten Allegorie der Sprache: „sie sinket!“. Diesem Vorgang der Degeneration entspricht der historische Verlauf („spätere Sprachen“) von der Antike bis zur Gegenwart. Die fünfte Strophe klinkt sich in diese wörtlich und thematisch gebildete Reihe ein, wo „hinunter“ einerseits das Verhältnis von Dichter bzw. Dichtung und Publikum beschreibt und zugleich das wirkungsästhetische Zentrum dieser Bemühung markiert, nämlich den Ausdruck der ‚Leidenschaften‘, also der ‚unteren Seelenkräfte‘. Ergibt sich bereits hieraus die Frage nach der bedeutungsstiftenden Funktion der Ähnlichkeitsverfahren, so irritiert Klopstock die Lektüre auch gezielt z. B. durch Ähnlichkeiten, die nur scheinbare Gemeinsamkeiten oder sogar Gegensätze anzeigen. Am deutlichsten geschieht dies in der Variation von „Wohlklang“ (1. Str.) zu „Klanges noch wohl“ (2. Str.): Die chiastische Verkehrung bereitet bei wörtlicher Übereinstimmung ein Höchstmaß an Verschiedenheit vor, nämlich die Differenz zwischen den Sprachen mit „Wohlklang“ und „Silbenmaß“ und jenen Sprachen, denen diese Ausdrucksqualitäten fehlen. Auf diese Weise provoziert die Ode eine Aufmerksamkeit, die ein Sensorium für sprachliche Relationen und multiplizierte Bezüge mit einem Detailsinn verbindet, der die Interpretation einer Stelle jeweils neu für sich und kontextuell bestimmt. Dies also ist auf performativer Ebene die ‚Lehre‘, vor deren Hintergrund Klopstock sich in der vierten Strophe den Kritikbetrieb vornimmt und „unsern Dichtern“ – gemeint sind angesichts des Titels wohl die Dichter des Hainbunds – für ihre Verteidigungsarbeit dankt. Ich zitiere die Strophe noch einmal:
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Dank unsern Dichtern! Da sich des Kritlers Ohr, Fern von des Urtheils Stolze, verhörete; Verliessen sie mich nicht, und sangen Ohne den Lerm, und im Ton des Griechen.
Die Begriffe ‚Krittler‘ und ‚Stolz‘ sind termini technici von Klopstocks Poetologie: Den ‚Krittlern‘, die zwischen (anmaßenden) ‚Richtern‘ und ‚Zänkern‘ angesiedelt sind, widmet er z. B. in der Gelehrtenrepublik eine längere Passage (z. B. KW 7/1, 75ff.); der ‚Stolz‘ ist eine Eigenschaft des Klopstockschen Autortypus, wie ihn etwa das Gespräch, ob ein Skribent ungegründeten, obgleich scheinbaren Kritiken antworten müsse (4.2 d) entwickelt, und dies im Blick auf die ‚Urteile‘ verschiedener Typen von ‚Richtern‘. Die oben behandelte messianische Perspektive (4.2 c) schließlich wird ebenfalls eingespielt, wenn die Klopstock-Jünger des ‚Göttinger Hains‘ den bedrohten Messias-Autor in der Stunde der Bedrohung nicht ‚verlassen‘. Daß Klopstock sich dabei gerade an Voß wendet, ist – auch unabhängig von dessen Ode An Klopstock – angesichts ihrer persönlichen Kontakte leicht verständlich (KB 7, 814). Das Idol setzt sich für den Vertrieb von Voß‘ Odüßee-Übersetzung von 1781 ein (KB 7, 180, 819) und versucht eine Sammlung von dessen kritischen Schriften zu befördern (KB 7, z. B. 190, 224, 1047f., 1064). Umgekehrt wird Voß zum Sprachrohr Klopstocks, z. B. bei der Unterstützung von Stolbergs Ilias-Übersetzung (KB 7, 817), beim Kampf gegen das anonyme Rezensententum u. a. (KB 7, 162, 944). Ein unmittelbarer Bezug zwischen der Voß-Ode und der KritikerKritik ergibt sich schließlich zur Besprechung von Klopstocks Schriften zur Orthographiereform durch den in Briefen zwischen Klopstock und Voß als „Kritler“ geführten Johann Bernhard Köhler (KB 7, 190). Voß nimmt sich dessen Besprechungen in einer ausführlichen Polemik vor und setzt damit seine länger andauernde Auseinandersetzung mit der Allgemeinen Deutschen Bibliothek bzw. Friedrich Nicolai fort (KB 7, 814ff., 907ff.). Im wesentlichen geht es dabei um das in der Ode erwähnte ‚Verhören‘, eines der Zentralprobleme der Klopstockschen Poetologie und der darauf bezogenen neuen Orthographie, deren Prinzipien Voß daher auch in seinem Verhör Köhlers rekapituliert. An Boie schreibt er, es gehe ihm auch um die „Mit-Untersuchung und Erklärung der Klopstockischen Grundsäze“ (KB 7, 910). 1779 beginnt die Reihe der Verhöre im Deutschen Museum mit dem Verhör über einen Rezensenten in der allgemeinen deutschen Bibliothek, einer Kritik von Köhlers Kritik an Stolbergs und Bodmers Illias-Übersetzungen. Interessant ist an der Rezension auf zweiter Stufe hier weniger die sehr detailreiche Mängelliste als vielmehr der Status der Verhöre im Kontext der kritischen Kommunikation. Indizien für dessen Bestimmung sind z. B. die
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von vielen Seiten aus getadelten Invektiven (KB 7, 816)21 oder die Beschwörung von Evidenzen22. Dies korrespondiert der durch alle Verhöre laufenden Polemik gegen das anonyme Rezensententum, bei der Voß sich mit Klopstock einig ist, sowie einer, ebenfalls für die Verhöre typischen Philippika gegen inkompetente Kritik, formuliert aus der genieästhetischen These heraus, nur ein Genie könne ein Genie beurteilen23 – auch darin treffen sich Klopstock und Voß, der sein Vorbild folglich zitiert (KW 7/1, 65f.).24 Das erste Selektionskritierium besteht also darin, daß Kritiker und Kritisierter sich auf Augenhöhe gegenüberstehen müssen, und dazu gehört für Voß – entgegen der faktischen Etablierung von Negativität (2.5) –, daß Kritiker produktive poetische Kompetenzen bzw. ‚Erfahrung‘ mit Dichtung und deren ‚Feinheiten‘ haben. Umgekehrt zeigen Voß‘ Gegenkritiken die Probleme, die sich dahinter verbergen, denn seine Verhöre widmen sich insbesondere den „Verbesserungen“ von Bodmer und Stolberg durch Köhler.25 Auf dieses erste Verhör reagiert Köhler in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek und provoziert damit 1780 Voß‘ Folge des Verhörs über einen Berliner Rezensenten im Deutschen Museum, die sich u. a. damit auseinandersetzen muß, daß Köhler der Kritik von Voß die Argumentationsförmigkeit abspricht und sie zu einer aus „der blinden Leidenschaft“ geborenen Rabulistik erklärt.26 Tatsächlich gibt Voß auch zu, daß die sachliche Auseinandersetzung für ihn nur Mittel zum Zweck ist, nämlich: Köhler zum Schweigen zu bringen.27 Bei Voß setzt sich somit die insbesondere von Liscow vertretene Linie einer vernichtenden Kritik fort (3.2.1 a), nun vermittelt über die genieästhetische Inspiration kritischer Polemik, wie sie _____________ 21 22 23
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Nicolai summiert in einer Antwort einige Schimpfwörter, vgl. Deutsches Museum (1781). Bd. 2, 7. St., S. 93. Vgl. z. B. den wiederholten Ausruf „Man höre“ (z. B. Deutsches Museum [1779]. Bd. 2, 8. St., S. 171). „[...] Leute, die nicht einmal ein Lied an Fillis zusammenreimen können, dünken sich befugt, die Werke des Genies zu beurtheilen [...]“ (Deutsches Museum [1779]. Bd. 2, 8. St., S. 158). Auch aus diesem Grund wird von Voß dann von der Gegenpolemik als „Schenie“ gehandelt (Deutsches Museum [1780]. Bd. 2, 11. St., S. 449). Deutsches Museum (1780). Bd. 1, 3. St., S. 268; vgl. auch zu der in der Gelehrtenrepublik getadelten Anmaßung derjenigen Kritiker, die sich „mehr als Eine Stimme angemaast“ haben (KW 7/1, 113) Deutsches Museum (1780). Bd. 1, 3. St., S. 267. Z. B. Deutsches Museum (1779). Bd. 2, 8. St., S. 162ff. – nachdem Voß dann seine Verbesserungen verbessert hat, reagiert Voß mit einer Verbesserung der Verbesserung der Verbesserung (ebda. [1780]. Bd. 1, 3. St., S. 271). Deutsches Museum (1780). Bd. 1, 3. St., S. 264, vgl. dazu auch S. 267, 269f., wo Voß mehr oder weniger explizit auf das prinzipielle Problem eingeht: „[...] ich fodere keine Beantwortung, denn ich habe des Possenspiels schon satt; nur ein stillschweigendes Geständniß, daß ich mich auf seine Untersuchungen, wie er sie nent, denn doch so ziemlich eingelassen zu haben scheine“ (ebda., S. 270). Deutsches Museum (1780). Bd. 1, 3. St., S. 268.
Johann Heinrich Voß ‚verhört‘ Klopstock
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sich etwa exemplarisch im 72er Jahrgang der Frankfurter Gelehrten Anzeigen findet (3.3 b). Auf diese Kritik der Kritik der Kritik der Kritik antwortet Nicolai, dem Voß dann, ebenfalls 1780, eine vorerst abschließende Zweite Folge des Verhörs über einen Berliner Rezensenten widmet: Voß rekapituliert darin noch einmal die ‚Argumente‘ beider Seiten, und zwar wiederum ausgehend von der Erfahrung, daß „man auf meine Beweise, daß der Rez. weder bescheiden noch mit Einsicht geurtheilt habe, [...] sich nicht einlassen“ wolle.28 Diese Kommunikationsverweigerung verschärft die Polemik: [...] daß ein Buchhändler einen bekanten Verlagsartikel, dessen Gebrechen und Schäden vor den Augen aller Welt bis zum Ekel wären aufgedeckt worden, vor den Augen aller Welt noch immer als ein Kind der Grazien aufstellte, und jeden, der sichs gelüsten liesse, über die schielen triefenden Aeugelein, über den Kropf, die krummen Beine, und die grosse herabhangende Speckgeschwulst auf dem Rücken, eine Anmerkung zu machen, für einen ungezogenen, unbescheidenen, groben und lügenhaften Lästerer erklärte: das schiene doch viel natürliche Dreistigkeit und Uebung zu erfodern.29
Voß fordert also, daß der Kritiker „entweder beweise und widerlege; oder schweige, und in der Stille die Wissenschaften kultivire“.30 Nur: Was kann als Beweis gelten, wenn selbst das offensichtlich Widersinnige Chancen auf argumentative Vertretung hat und das offensichtlich Richtige nicht anerkannt wird? Sein nächstes Verhör widmet Voß 1781 wiederum im Deutschen Museum einer Verteidigung Klopstocks: Verhör über die beiden Ausrufer Lt. und Lk., die in der allgemeinen deutschen Bibliothek, 41 B. 2 St. und 42 B. 1 St., Klopstocks Fragmente über Sprache und Dichtkunst beurtheilt haben. Vor dem Hintergrund der vorigen Verhöre erscheint es als Konsequenz aus einer spezifischen Aporie, wenn Voß seine Ausführungen diesmal mit längeren Einlassungen zu Prinzipien der Kritik beginnt. Voß wünscht sich im Kritikbetrieb ‚gerechte‘ Rezensenten mit „Verstand“, „Kenntnis“ und „Wissenschaft“, die entweder das alte Programm der weder lobenden noch tadelnden ExtraktZeitschriften fortführen oder „ihre Meinung, als Mitbürger, hinzufügen, es bescheiden, mit Gründen, und mit Nennung ihres Namens thun“.31 Voß, der diesmal nicht weiß, daß er es wieder mit Köhler zu tun hat (KB 7, 818, 908f.), fordert die Aufhebung der Anonymität, damit der Kritiker aus Angst vor Ehrverlust nur das behauptet, was er auch vertreten kann, und damit das Publikum die Kritik nicht „für einen Richterspruch“ hält, „das _____________ 28
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Deutsches Museum (1780). Bd. 2, 11. St., S. 446. Nicolai hatte geschrieben: „Jeder Leser, der den ungezogenen Ton erwägen will, den sich Herr Voß erlaubt, wird einsehen, wie vergeblich es für einen Mann sei, der nur Unterricht und Wahrheit sucht, sich mit Hrn. Voß ferner einzulassen“ (zit. nach ebda., S. 455). Deutsches Museum (1780). Bd. 2, 11. St., S. 457. Deutsches Museum (1780). Bd. 2, 11. St., S. 460. Deutsches Museum (1781). Bd. 1, 3. St., S. 198.
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heißt, für ein Urtheil eines oder mehrerer Gelehrten, die die Sache besser verstehn, als der Schriftsteller“, sondern nur für die „Meinung eines andern Gelehrten, der auch irren kan [...]“.32 Auf der einen Seite also beleuchtet Voß „manchmal ein dummdreistes Urtheil [...] zum Besten des irregeführten Haufens“, wobei das Prinzip kritischer Negativität gilt: „Ich urtheile über Urtheile, und erlaube jedem, ders kan, daß er meine Urtheile mit eben der Gerechtigkeit wieder beurtheile“.33 Auf der anderen Seite gilt sein kritik-kritisches Unternehmen den Kritikern: „Vielleicht bringt die Furcht vor der Strafe, die nun nicht mehr nachhinkt, manches Kunstrichterlein, das so in seiner Unschuld die Weise mitmachte, zu seiner Pflicht zurück“.34 Im Hintergrund steht noch immer das metakommunikative Problem, daß die Kommunikanten die „Beschuldigungen nicht ganz“ glauben oder daß das Publikum seine Sympathien entgegen der argumentativen Überzeugungskraft nach dem Mitleidsprinzip verteilt.35 Im Verhör über den Ausrufer Lt. geht es um Klopstocks Vom deutschen Hexameter. Der Zentralvorwurf besteht darin, daß ‚Lt.‘ Klopstocks Position „so verkürzt und verstümmelt“ referiert, „daß schlechterdings kein Verstand darin bleibt“.36 Dies bedeutet für Voß zum einen, daß ‚Lt.‘ seinen Status als Kritiker dritter Stufe hätte einholen müssen, denn Klopstock entfaltet seine Hexameter-Theorie als Kritik an verschiedenen anderen Kritiken, ohne deren Kenntnis seine Position unergründlich bleibt.37 Zum anderen bedeutet dies, daß bei Klopstock ins Detail, in die spezifische Wendung und in die leichten Abschattierungen einer Aussage, die Fülle der ‚Erfahrung‘ eingegangen ist.38 Daher erschöpft sich Voß zufolge auch die Kritik im wesentlichen in einem Argument: Klopstock sei „allzu subtil“.39 Dem korrespondiert der Vorwurf ‚unbegründeten‘ Kritisierens.40 Das Problem dürfte zu einem nicht geringen Teil darin liegen, daß Voß _____________ 32 33 34 35 36 37 38
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Deutsches Museum (1781). Bd. 1, 3. St., S. 199f. Deutsches Museum (1781). Bd. 1, 3. St., S. 202. Deutsches Museum (1781). Bd. 1, 3. St., S. 204. Deutsches Museum (1781). Bd. 1, 3. St., S. 204. Deutsches Museum (1781). Bd. 1, 3. St., S. 207f. Z. B. Deutsches Museum (1781). Bd. 1, 3. St., S. 208. Z. B.: „S. 340. verwandeln Sie Klopstocks stat findet in statt hat; denn dies ist eine ganze Silbe kürzer, und zugleich tönender. Klopstock redet vom Hexameter, der auch den Spondeen zum künstlichen Fuße angenommen hat; dies lautet bei Ihnen kürzer, obgleich etwas undeutsch: der sich auch des Spondeen gebraucht. Klopstock sagt: manchmal verdoppeln; Sie lassen manchmal weg, und sagen eine Unwahrheit. Doch wenn wirs so genau nehmen wollen, werde wir heute nicht fertig. Nur die Hauptverkürzungen neben den Erinnerungen“ (Deutsches Museum [1781]. Bd. 1, 3. St., S. 207). Deutsches Museum (1781). Bd. 1, 3. St., S. 209f., 212f. Deutsches Museum (1781). Bd. 1, 3. St., inbes. S. 211ff.
Johann Heinrich Voß ‚verhört‘ Klopstock
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‚Gründe‘ mit ‚Erfahrung‘41 bzw. Beispielen verwechselt. Denn letztlich kommt es auf das ‚gute Ohr‘ an.42 Das Verhör über den Ausrufer Lk., das sich u. a. der Kritik an Klopstocks Orthographiereform widmet, knüpft diesen Faden insofern weiter, als Voß die Diskussion um die ‚richtige‘ Rechtschreibung auf der Grundlage von Klopstocks Prämisse einer Entsprechung von geschriebener und gesprochener Sprache führt.43 Am Ende dieser beiden Verhöre greift Voß noch einmal direkt Nicolai an44, den er vermutlich ohnehin bei der Abfassung des Verhörs im Auge hatte: „[...] ich bin Willens“, schreibt er an Goeckingk, „mit solchen Verhören so lange fortzufahren, bis er schweigt, und selbst seine Schafe, die er irre führt, hohnblöcken“ (KB 7, 911). Nicolai repliziert darauf mit einer Erklärung über die Verhöre des Hrn. Voß in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek und im Deutschen Museum. Damit endet diese Runde im Streit von Voß und Nicolai. Zunächst betont Nicolai den exklusiven Status der Diskussion: Nur der „kleinste Teil der Leser“ werde damit etwas anfangen können, so daß „die am stärksten schreiende Partei allemal Recht behält [...]“.45 Zugleich scheint gerade die „Tonmessung“ eine „Materie [...] von der Art, daß zwei Gelehrten, ihrer Einsicht und Liebe zur Wahrheit unbeschadet, füglich darin dissentiren können“. Die Unentschiedenheit metrischer Fragen legitimiert eine zeitlich offene Auseinandersetzung, wie sie, „so lange Bücher geschrieben worden sind“, üblich ist: Freiheit zu denken ist das Vorrecht jedes Gelehrten. Jeder Gelehrte darf über die Meinungen jedes Gelehrten seine Meinung sagen. Auch dem größten darf er widersprechen. Jeder darf es [...]. Aber in solchem Ton, wie Hr. Voß über seine Widersacher herfahren, und seine und seiner Freunde Meinungen als ausgemachte Wahrheiten mit dem heftigsten Zorn aufzudringen, heißt die Freiheit zu denken verdrängen wollen.46
Auch sich selbst rechnet Nicolai zu denjenigen, die „Einwendens leiden mögen“ – nicht aber Voß, der auf die ‚Unwiderleglichkeit‘ seiner Beweise poche.47 Voß‘ Reaktion auf diese Kritik fünfter Stufe48, für die Klopstock ihm noch Ratschläge auf den Weg gibt49, bleibt auf seine eigene Entscheidung _____________ 41 42 43 44 45 46 47 48 49
Z. B. Deutsches Museum (1781). Bd. 1, 3. St., S. 214, wo Voß den „Grund“ durch keine „Erfahrung“ widerlegt sieht. So Deutsches Museum (1781). Bd. 1, 3. St., S. 209. Deutsches Museum (1781). Bd. 1, 4. St., S. 337. Deutsches Museum (1781). Bd. 1, 4. St., S. 340f. Deutsches Museum (1781). Bd. 2, 7. St., S. 87. Deutsches Museum (1781). Bd. 2, 7. St., S. 88f. Deutsches Museum (1781). Bd. 2, 7. St., S. 92. Klopstock reagiert auf Kritiken, darauf reagiert Köhler, darauf reagiert Voß und darauf Nicolai. KB 7, 214, 217f., 221f., 224f., 1005ff., 1035f.; vgl. auch KB 8, 2, 8.
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hin ungedruckt (KB 7, 818, 1039). Dem Projekt vernichtender Kritik begegnet auch sein näheres Umfeld mit Unverständnis. Zumal Boie, der Herausgeber des Deutschen Museums, mußte sich um das Prestige seiner Zeitschrift Sorgen machen (KB 7, 816, auch 853, 1038f.). Anders Klopstock, der neben Jacobi zu den einzigen Befürwortern der Verhöre gehört (KB 7, 816, 1010) und Voß – wie auch Cramer – zu fortgesetzter Polemik anregt: W r solten so fortfaren. Das Wild aus dem Busche herausgestöbert, wi ungerne es auch dran wil. [...] Denken Si n r, für wi file brafe Leüte es eine s r gute Sache sein [...] würde[ ], wen dise Herren eine algemeine Furcht überfile, daß, wi sicher si sich auch glauben, doch wider ein Hinterhaltender, ein dler, gerechte Rache übender hinter irem Hinterhalte lege [...]. (KB 7, 162)50
Die Förderung einer Ausgabe der kritischen Schriften von Voß durch Klopstock steht in diesem Zusammenhang (KB 7, 179f., 190, 222, 224). Bis zu diesem Punkt überwiegt im Verhältnis von Klopstock und Voß die literaturpolitische Einstimmigkeit; für ästhetische Divergenzen bleibt kein Raum. Zwar mögen die wechselseitig ausgetauschten Oden schon Ausdruck eines verdeckten Machtkampfes zwischen ‚Vorbild‘ und ‚Nachbild‘ sein, offen aber wird dieser Streit um Autorität, um Respekt und Kompetenz erst danach. Zwischen den beiden Krittler-Kritikern tauchen dieselben Probleme auf wie zwischen Voß und Köhler: Hier wie dort geht es um die Anerkennung von Erfahrung und um die Frage, wie Erfahrung vermittelt werden kann, wenn sich dafür kein Vertrauensvorschuß reklamieren läßt. Die von Nicolai eingeklagte „Freiheit zu denken“ verschafft sich ihr Recht: Die „Tonmessung“ erweist sich wirklich, wie der Berliner Kritiker behauptete, gemeinsam mit der Verslehre als „Materie [...] von der Art, daß zwei Gelehrten, ihrer Einsicht und Liebe zur Wahrheit unbeschadet, füglich darin dissentiren können“. Nicht umsonst macht Goethe in Dichtung und Wahrheit Klopstock für die „Unsicherheit“ bei der Versifikation verantwortlich – „es war keiner, auch der Besten, der nicht augenblicklich irre geworden wäre“ (MA 16, 759; 5.4.1). „Irre“ sind Klopstock und Voß geworden, indem sie – an einer kritischen Krankheit leidend (3.3 b) – Dinge gesehen haben, die nicht da waren (zumindest nicht für den jeweils anderen), und Dinge übersehen haben, die da waren. Wie erwähnt, schreibt Voß schon vor seiner rückhaltlosen öffentlichen Parteinahme für Klopstock in den Verhören kritisch an Goeckingk: „Sein Grundsaz, nichts zu schreiben als was man hört, mag richtig sein; aber er glaubt bisweilen Dinge zu hören, die ich nicht höre, und überhört dagegen andre, die mir sehr hell tönen“ _____________ 50
Vgl. auch die Hinweise auf die Kritiken an seiner Orthographie KB 7, 161, 168, 194f., 224f.
Johann Heinrich Voß ‚verhört‘ Klopstock
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(24. September 1778; KB 7, 910).51 Diese Linie der Kritik konturiert sich Mitte der 80er Jahre, dominiert 1789 den Briefwechsel zwischen Klopstock und Voß und führt letztlich 1794 zum Abbruch der Beziehung, bis beide – wiederum unterbrochen von Streitigkeiten – um 1800 erneut zusammenfinden (KB 8, 672). Die Divergenzen zwischen Klopstock und Voß betreffen zum einen die zunehmend enigmatische Oden-Kunst Klopstocks, bei deren Verständnis Voß ins Hintertreffen gerät (auf die verlorene Wette zwischen ihm und Cramer um die Auslegung einer Ode habe ich schon hingewiesen) (4.2 d). Nur mit „genauer Noth“ versteht Voß beispielsweise Die deutsche Sprache (KO 2, 54f.). An Goeckingk schreibt er darüber: „Es thut mir leid, daß der gefühlvolle Mann so ins Grübeln verfällt“ (KB 8, 475). Zum selben Kontext der „wissenschaftlichen Oden“ rechnet Voß im übrigen auch die ihm gewidmete Ode. Er hält sie zwar für „schön in ihrer Art“, liest aber „lieber was anders von Klopstock“ (KB 8, 475). Zum zweiten mißbilligt Voß die Darstellungsform der Grammatischen Gespräche. Dagegen stellt er die „filosofische Grammatik“, zu der die Gelehrtenrepublik beigetragen habe (KB 8, 529). Wie bei den Oden könnte der Ärger über Verständnisblockaden im Hintergrund stehen, die Klopstock einbaut. Schließlich wünscht Voß sich – zum dritten – von Klopstock eine „umständlicher[e] Prosodie“ (KB 8, 77). Auch hier genügen ihm offensichtlich die verknappten, andeutenden und offenen Ausführungen nicht mehr. Jedenfalls bekennt Voß gleichzeitig gegenüber Boie, er sei nun – u. a. durch den Widerspruch Cramers – so weit, „eine Theorie des deutschen Hexameters“ zu verfassen, „die in wesentlichen Dingen von der Klopstockischen abweicht“. Letzteres unterschlägt er zwar in seinem Brief an Klopstock, bereitet diesen aber schon auf die kommende Auseinandersetzung vor: „Ihre Kürze, u noch mehr ihre Abgebrochenheit sezt mich nun in Gefahr, sie manchmal sogar falsch zu verstehn“ (KB 8, 78, 531). Im argumentativen Kern dreht sich die Auseinandersetzung, dieser „Streit um Dudeldum u Dudeldei“, wie Voß es formuliert (KB 8, 160), um die Frage, wie sehr der ‚deutsche Hexameter‘ sich am ‚griechischen‘ zu orientieren habe. Dabei stehen auch prinzipielle Differenzen im Hintergrund: Während Voß eine quantitierende Metrik ausarbeitet, hält Klopstock sich an eine akzentuierende; während Voß auch die Kadenzen und Zäsuren am homerischen Vers ausrichten will, läßt Klopstock hier mehr _____________ 51
Vgl. in diesem Zusammenhang auch die bereits zitierte Stelle aus der Gelehrtenrepublik zur „unlehrbaren Bildung der Töne“ (KW 7/1, 72; 4.2 d). Das ganze potenziert sich natürlich noch einmal bei den selbst erfundenen Silbenmaßen für den 20. Gesang des Messias. Vgl. dazu exemplarisch die Auseinandersetzung mit Ebert (KB 4, 219ff.) – dazu auch der Brief vom 3. April 1771, in dem Ebert meldet, er glaube jetzt „auch ohne Hülfe Ihrer Zeichen“ mit „Ihrer Prosodie [...] so bekannt zu seyn, wie Sie selbst“ (KB 5, 264).
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Freiheiten zu und führt zudem noch den Trochäus als (‚künstlichen‘) Versfuß in den ‚deutschen Hexameter‘ ein (KB 8, 533). Mir geht es im folgenden aber nicht um diese ‚sachliche‘ Ebene52, sondern um die Frage der Vermittlung von ‚Sachlichkeit‘ bzw. um die Frage, wie eine ‚Sache‘ zum ‚Gegenstand‘ gemacht werden kann. Um noch einmal daran zu erinnern: Voß‘ Problem besteht nicht zuletzt darin, daß Klopstock „Dinge“ hört, die er nicht hört (KB 7, 910).53 Diese Hörunterschiede betreffen zunächst persönliche Empfindlichkeiten: Als Klopstock kolportiert wird, Voß habe despektierlich über bestimmte Hexameter gesprochen, fühlt er sich sofort angegriffen. Er sei „eine Stunde lang in Harnisch“ gegen Voß gewesen, der ihm dann auch versichert: „[...] meine Theorie gegen die Ihrige auszustellen, [...] das ist nie meine Absicht gewesen“ (KB 8, 98, 100) – allerdings vermag Voß kaum zu verdecken, daß seine Theorie „in wesentlichen Dingen von der Klopstockischen abweicht“, wie er in dem bereits zitierten Brief an Boie schreibt (KB 8, 531). Dennoch: Man dankt sich für Einwürfe und fordert Kritik ein, man entschuldigt sich für ‚mißverständliche‘, ‚scheinbar‘ verletzende Formulierungen, und man findet die Kritiken und Einwände des anderen anregend (KB 8, 136f., 139). Sehr schnell aber gelangt die Auseinandersetzung bei Fragen der Gesprächshaltung an: Argumente seien gefordert, keine Beschuldigungen, heißt es von Klopstocks Seite (KB 8, 140f.); Aufrichtigkeit und unbedingtes Bemühen um Wahrheit müsse herrschen (KB 8, 148f., 153); Verehrung durch Stillschweigen sei jedenfalls keine wünschenswerte Sache (KB 8, 149, 152). Gegenüber anderen beschwert Voß sich dann auch, daß Klopstock „durchaus keinen Widerspruch vertragen könne“.54 Klopstock und Voß testen also gewissermaßen aus, wie tauglich die Vorschläge des kritischen Umgangs in Von der Freundschaft wirklich sind (4.1). Um es vorwegzunehmen: Sie erweisen sich als unzulänglich, zumindest was den freundschaftlichen Umgang betrifft. Die Auseinandersetzung eskaliert. Daher spielen metakommunikative Fragen, die die Performanz der Diskussion reflektieren, eine große Rolle. _____________ 52
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Feststellen läßt sich immerhin, daß Voß für die Folgezeit eine Autorität in Sachen Metrik war, Klopstock hingegen nur sehr selten (Hellmuth: Metrische Erfindung und metrische Theorie bei Klopstock, S. 22), was freilich auch mit der Editionslage von Klopstocks metrischen Schriften zusammenhängen mag (ebda., S. 24). Vgl. dazu auch die Beschreibung von Klopstock als Vorleser durch Cramer: „[...] da sein lautestes Forte anderer Piano nicht übersteigt, muß man ein ungewöhnlich feines Tympanum haben, um die Schläge in seinem Pianissimo zu merken. [...] Es fällt ihm nicht ein zu zweifeln, man höre das was er selbst hört, und er fürchtet mehr zu betäuben, als das Ohr nicht zu erreichen. Es ist ihm mehr um die Richtigkeit und Feinheit der Modulation zu thun, als um ihre Stärke – und er würde Recht haben wenn Alle mit der Deutlichkeit das Gras wachsen hörten wie er selbst“ (KB 8, 269). Böttiger: Literarische Zustände und Zeitgenossen, S. 406 – hier auch das Diktum, im Messias seien „mehr als ein Drittel der Verse [...] unrichtig“ (ebda., S. 410).
Johann Heinrich Voß ‚verhört‘ Klopstock
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Der Grund dafür liegt nicht zuletzt in Klopstocks ‚empirischer Poetik‘55 sowie in deren relationistischer Anlage.56 Voß will „mehr Mechanisches“ in der Prosodie annehmen und weniger ‚Freiheiten‘ lizensieren als Klopstock, der von „begriffmäßig“57 bestimmten Einheiten ausgeht (KB 8, 78, 99, 139, 160).58 Vermutlich verläßt Voß sich auch deswegen auf die Theoretiker, nicht auf die Dichter (KB 8, 675, vgl. auch 676f.); Klopstock hingegen hat gerade mit den „Theoristen“ die Art von Schwierigkeiten, die Voß mit ihm hat, denn sie „haben vieles von dem, was doch so offenbar darliegt, gar nicht, verschiednes halb, und über das noch allerlei gesehen, was nicht da ist“.59 Letztlich scheitern die beiden Kontrahenten daran, sich über das Verhältnis von Periodenbildung und hexametrischer Gliederung bei Homer zu einigen (z. B. KB 8, 138, 143f., 152, 155, 679f., 693).60 Klopstock verdächtigt hierbei diejenigen, die Vers- und Sinngrenze zusammenfallen lassen, „Verse für das Auge“ anstelle der „Verse für das Ohr“ zu favorisieren (z. B. KB 8, 138, 144).61 Im Brief vom 30. Oktober 1789 stellt er Voß ein Beispiel vor, an dessen Beurteilung sich ultimativ herausstellen soll, ob überhaupt eine gemeinsame Basis für eine Diskussion gegeben ist (KB 8, 156). Dies war nicht der Fall. Voß reagiert am darauffolgenden Tag, setzt Klopstock die „eigne Erfahrung“ entgegen, die „durch einstimmige Erfahrung aller Alten, die die Verskunst ausgeübt oder gelehrt haben“, bestätigt werde (KB 8, 158), woraufhin die Schreiben vom 5. und 8. November 1789 die Kommunikation vorerst beenden (KB 8, 164f.). _____________ 55
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Vgl. dazu z. B. den auch kritiktheoretisch aufschlußreichen Brief an Herder vom 5. Mai 1773, wo Klopstock „in der Theorie der Poesie“ nicht gelten lassen will „als Erfahrung, eigne, u solcher Anderer, die erfahren können [...]“ (KB 6, 43). Der Bezug zwischen Verstheorie und Dichtung gilt insbesondere für die avancierte Verstheorie der 60er und 70er Jahre, die sich erst über die Erfindung neuer Versmaße erschließt (Hellmuth: Metrische Erfindung und metrische Theorie bei Klopstock, z. B. S. 18, 211). Zur „Autor-Poetik“ Klopstocks vgl. KW 7/2, 679. An Böttiger schreibt Klopstock am 25. Juni 1797, daß er „überhaupt sehr aufmerksam auf die veränderte Schattirung gewesen bin, welche die Worte oft durch die Stelle bekommen, wo sie stehn“ (KB 9, 134) – auch hier also steht als visuelles Modell die Vorstellung eines dreidimensionalen und damit vielfältig perspektivierbaren poetischen Raums im Hintergrund. Z. B. Vom deutschen Hexameter (Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 72, 80). Vgl. dazu auch die Auseinandersetzung Klopstocks mit den Korrektoren der GöschenAusgabe, hier inbesondere den Brief von Seume vom 10. und 18. März 1799 über die Unbestimmtheit des ‚deutschen Hexameters‘ (KB 10, 18f.). So in Vom deutschen Hexameter (Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 114). Klopstock behandelt dieses Problem ausführlich in dem Dialog Die Verskunst (Sämmtliche Werke. Bd. 9, S. 201ff.; s. auch die Bemerkung zu Voß ebda., S. 216). Vgl. Vom deutschen Hexameter (Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 123ff.). Zum Thema „Dichtung für das Ohr“ vgl. Kohl: Friedrich Gottlieb Klopstock, S. 66ff.
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Probleme wie diese begleiten Klopstocks gesamte hexametrische Dichtung. Johann Heinrich Meister beispielsweise, der 1749 die „Versart“ des Messias-Dichters „so schwer zu bestimmen“ findet, „als das Sylben Maaß der poetischen heiligen Schrifftsteller“, bekommt zwar einige Hinweise auf die Unterschiede von ‚deutschem‘ und ‚griechischem‘ Hexameter, dies rahmt Klopstock aber mit den Hinweisen darauf ein, daß er erstens „unmöglich hier alle Regeln sagen“ könne und daß man sich zweitens „Zeit“ zur Analyse des Versmaßes nehmen müsse (KB 1, 45f.). Zwar nimmt Klopstock sich 6 Jahre später selbst etwas mehr Zeit, um seine Position darzustellen, aber Von der Nachahmung des griechischen Silbenmaßes im Deutschen exemplifiziert eben jene oben umrissene Rhetorik der Unschärfe, die auf das schwer Bestimmbare, auf das ‚Feine‘, auf die Ausnahme von der Regel, auf Richtwerte und Wahrscheinlichkeiten zielt, gerade auch in bezug auf das „ganze Geheimnis der poetischen Perioden“ (4.2 d).62 Dasselbe gilt drei Jahre später für Von der Sprache der Poesie63, für die ein Jahr darauf erscheinenden „zerstreute[n]“ Gedanken über die Natur der Poesie64, für die Schriften der 60er und 70er Jahre, also für Vom Sylbenmaße, Vom gleichen Verse, Neue Silbenmaße und Vom deutschen Hexameter oder für die Grammatischen Gespräche. In der „Sprache des sportlichen Rekords“ auf der einen65, der gleichsam statistischen Bearbeitung poetologischer Streitfragen auf der anderen Seite66 ‚nähert‘ sich Klopstock Idealen, deren _____________ 62 63
Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 10, 12, 14f. Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, z. B. S. 24, 31, wo Klopstock ‚Grenzziehungen‘ vornimmt, aber keine ‚Regel‘ dafür bestimmen will. 64 Vgl. z. B. eingangs: „Das Wesen der Sprache besteht darin, daß sie, durch die Hülfe der Sprache, eine gewisse Anzahl von Gegenständen, die wir kennen, oder deren Dasein wir vermuten, von einer Seite zeigt, welche die vornehmsten Kräfte unsrer Seele in einem so hohen Grade beschäftigt, daß eine auf die andre wirkt, und dadurch die ganze Seele in Bewegung setzt“ (Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 180) – die Hervorhebungen stammen von Klopstock, markieren aber genau die für den hier interessierenden Zusammenhang wichtigen Stellen. 65 Menninghaus: Klopstocks Poetik der schnellen „Bewegung“, S. 343. 66 Vgl. z. B. die quantitativen Erhebungen, die Klopstock in Vom deutschen Hexameter (1779) durchführt (Gedanken über die Natur der Poesie, S. 60, 107, 111, 122, 123f.); weiterhin die nach dem Zufallsprinzip gefundenen Beispiele beim „Blättern“ oder durch willkürliche Entscheidungen in Vom deutschen Hexameter (1769) (Sämmtliche Werke. Bd. 10, S. 49f.); schließlich auch die in Gruppen zusammengefaßten und durchgezählten Versfüße in den Handexemplaren des Messias (KW 4/6, 259ff.). In diesen Zusammenhang könnte auch das experimentell-kombinatorische Vorgehen bei der Erfindung der neuen Versmaße gestellt werden sowie die auffällige Bevorzugung metrischer Mittelwerte: dies gilt z. B. für die Verwendung dreisilbiger Pedes oder für die Benennung von Strophen nach den dominierenden Pedes (Hellmuth: Metrische Erfindung und metrische Theorie bei Klopstock, S. 60f., 87, 91, 96f.). Vgl. in diesem Kontext auch das verstheoretische Konkurrenzunternehmen von Bürger, der zur Verteidigung jambischer Dichtung die ungefähre Verteilung unterschiedlicher Zeitwerte als Argument nutzt (Bürger an einen Freund über seine teutsche Ilias. In: Bürger: Sämtliche Werke, S. 658).
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Funktion in ihrer Unerreichbarkeit liegt. Das Korrelat dieser poetologischen Unschärfen auf Rezipientenseite liegt in der „Stimmung“ der „Seele für die Wirkungen des dargestellten einzelnen [...]“.67 Voß beschreibt diese spezifische Einrichtung von Klopstocks Poetik in einem Brief an Miller polemisch so: „Was kann ich dafür, daß er aufs Gerathewohl Hexameter machte, und hinterher Beschönigung ausgrübelte, woraus Niemand klug werden kann?“ (KB 8, 682). Gegenüber Boie nimmt Voß ebenfalls kein Blatt vor den Mund: Cramer hat ihn schon bedeutet, und gesagt, daß ich, bloß um ihn nicht zu beleidigen, meine Untersuchungen über Prosodie und Verskunst ganz abgebrochen habe. Das selbige hab‘ ich ihm geschrieben und Klopstock – schweigt. Kränken mag es vielleicht den alten Mann, daß seine Irgänge auf der Bahn des Hexameters trotz seinen sofistischen Unterschieden in den Abhandlungen, die niemand liest, künftig, wenn man Homers Hexameter kennt, nicht mehr für Bereicherungen des rhythmischen Tanzes gelten werden; und an den Messias nun noch einmal die lezte Hand zu legen – welches Anmuten! Aber er sollte es doch mich nicht entgelten lassen. So geht’s einem allenthalben, wenn man auf’s Bessermachen ausgeht. (Brief vom Juni 1787; KB 8, 583)
Wie in einem Brennspiegel bündelt Voß hier die Motive, die bislang in der Untersuchung der kritischen Kommunikation von Bedeutung waren: die Unvermittelbarkeit von Positionen, die nur durch Kommunikationsabbruch bzw. Schweigen eine Eskalation der Folge von Kritik und GegenKritik verhindert; die Verletzlichkeit der Kritisierten, nicht zuletzt im Blick auf die Zukunft ihres Werks; und die Angreifbarkeit, die sich aus der Positivität der Kritik, dem ‚Besser-Machen‘, ergibt und daher die Etablierung eigensinniger kritischer Negativität nahelegt. Entscheidend sind dabei weder die Wertungen noch die Frage, auf welcher Seite die ‚richtige‘ Perspektive zu finden ist. Man sieht das an der „wahrhaft[en]“ Reaktion der Gegenpartei, wenn Friedrich Leopold Stolberg an Klopstock über Voß bemerkt, es sei „sonderbar wie Voß, der so scharfsinnig ist wo er richtig sieht, so spizfindig, wo er irret, dabey so tactlos im Ausdruck, so unzart in der Empfindung seyn kann“ – Klopstocks Äußerungen über „das Geheimniß der Perioden“ werde er „nie einsehen können“ (KB 9, 169).68 Wer „richtig sieht“, ist „scharfsinnig“, wer „irret“, ist „spizfindig“, und wer sich von einer bestimmten Verteilung von ‚Scharfsinn‘ und ‚Spitzfindigkeit‘ nicht überzeugen läßt und dies ‚aufrichtig‘ darlegt, läßt ‚Takt‘ und ‚Zärtlichkeit‘ vermissen. „Spizfündigkeit“, laut _____________ 67 68
So in Von der Darstellung (Gedanken über die Natur der Poesie, S. 172). Vgl. dazu auch den Scherz Klopstocks mit Ebert, als dieser Teilen des 20. Messias-Gesangs ratlos gegenübersteht: Klopstock schickt ihm daraufhin die Fragmente aus dem XXten Ges. des Mess. als M. S. für die Freunde mit handschriftlich eingetragenen Längenzeichen und Anmerkungen dazu, die die absurden Begründungen Eberts zu dieser falschen Skansion fingieren (KB 4, 219ff., an Ebert, 24./28. 4. 1764).
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Sulzer „einer der schlimmsten Fehler des Geistes“, ist eine „unzeitige Scharfsinnigkeit, die die Begriffe über die Nothdurft und über die Natur der Sachen entwikelt, und subtile, schweer zu entdekende Kleinigkeiten bemerkt, die kein Mensch wissen will, oder wenn er sie bemerkt, verachtet; weil sie auf nichts gründliches führen“.69 Wenn aber Klopstocks Diktum gilt: „Für die Kunst ist nichts Kleinigkeit“70 – wer entscheidet dann über die ‚Gründlichkeit‘ von „Kleinigkeiten“?71 Und wie sehen Überzeugungsversuche in einer Situation aus, wo „Kleinigkeiten“ ebenso wichtig72 wie problematisch werden? Die Überzeugungskraft, darin sind sich Klopstock und Voß einig, muß von Beispielen ausgehen, durch deren „Eindrücke“ die eigene „Erfahrung“ und die „Erfahrung“ anderer überprüft, bestätigt oder eben in Frage gestellt wird (KB 8, 144) – „Behauptungen ohne Beispiele [...] sind Köcher ohne Pfeile“ (KB 8, 147). Aber auch das hilft nicht weiter, weil nicht klar ist, was als Beispiel gelten kann und was ein Beispiel illustrieren soll.73 Anders gesagt: _____________ 69 70 71
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Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2, S. 1097. So in Die Verskunst (Klopstock: Sämmtliche Werke. Bd. 9, S. 215). Auch darauf hat Sulzer eine Antwort, allerdings keine sehr befriedigende: „Wir würden hier aber auch selbst nothwendig in Spizfündigkeit gerathen; wenn wir unternehmen wollten, anzuzeigen, wo man sich mit den klaren Begriffen der gesunden Vernunft, mit dem bestimmten Gefühl des Geschmaks und der Empfindung begnügen soll, ohne die Gründe der Sachen weiter zu entwikeln, und wo man ohne Gefahr die Untersuchung weiter treiben könne. Man muß auch hier die Schranken empfinden; weil sie sich nicht zeichnen lassen. Der einzige Rath den man denen, die noch Gefühl haben, geben kann, ist dieser, daß sie, wenn sie sich in Untersuchungen und in Zergliederung der Sachen vertieft haben, den Erfolg, oder die Schlüsse, die sie herausgebracht, wieder gegen das, was sie vor der Untersuchung, durch blos genaue Aufmerksamkeit auf ihr Gefühl, geurtheilt haben, halten, und bey dem geringsten Wiederspruch den sie zwischen beyden entdeken, eher dem Gefühl, als der subtilen Untersuchung trauen. Findet ihr, daß euch ein Kunstrichter etwas, das ihr bey guter Aufmerksamkeit auf alles dazu gehörige schlecht, oder anstößig, oder unschiklich gefunden habt, durch sehr künstliche Entwiklung als gut und schiklich angepreißt; so vergleichet das, was ihr von seinen Gründen klar fühlet, gegen das, was ihr vorher von der Sache gefühlt habet. Hat dieses noch mehr Klarheit, als jenes, so sezet ein Mißtrauen in das Urtheil des Kunstrichters; es könnte gar wol seyn, daß er ein bloßer Sophist wäre“ (Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2, S. 1097f.). Vgl. z. B. den Eingang zu Von der Nachahmung des griechischem Silbenmaßes im Deutschen, wo Klopstock von der Bedeutung der „Kleinigkeit“ und den unter keinen Umständen vernachlässigenswerten „Nebenzüge[n] der schönen Wissenschaften“ handelt (Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 9). In Vom deutschen Hexameter heißt es: „Meint man [...], man habe mir die Beschäftigung mit Kleinigkeiten zu verzeihen, so glaube ich meinerseits viel bessern Anlaß zum Verzeihen zu haben. Denn man weiß also noch nicht einmal, daß alles, was Sprache ist, aus einem Gewebe von feinen Bestimmungen bestehe; oder, wenn dies auch nicht wäre, man sieht nicht ein, was aus den Kleinigkeiten denn doch gleichwohl folgen möchte [...]“ (Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 107). Darum fragt Voß beispielsweise nach: „Woran liegt es, l. Kl., daß Sie mich durch Verse, wie / μ / μ ~ μ μ / ‘ / glauben widerlegen zu können? (KB 8, 145). Klopstock antwortet darauf: „Ich wolte Sie durch ‚ μ ‘ nicht widerlegen, sondern Ihnen nur von neuem sa-
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Bei Klopstock und Voß ist die Umstellung der Beispielsemantik konzeptionell noch nicht angekommen, die die Funktion des Exempels von der Vermittlung von Erkenntnis auf die Vermittlung von Erkenntnisfähigkeit verschiebt.74 Die Trennung von Autoren und Rezipienten betrifft im Zuge der „Rarifikation des Talents“ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch die Verskunst, deren Rolle im Schulunterricht nun weniger der Dichter- als vielmehr der Leserausbildung dient, weniger den „Begabungsbeweisen in gebundener Rede“ als vielmehr der Sensibilisierung für die ‚Feinheiten‘ von Dichtung.75 Dieselben Probleme wie bei der Exemplifizierung ergeben sich im übrigen bei der Entscheidung über Mißverständnisse. Zwar könnte es einen Streit entschärfen, wenn man einen Punkt schlicht als Mißverständnis verbucht, aber dies funktioniert eben nur dann, wenn die Kontrahenten die implizierte Deutungshoheit desjenigen akzeptieren, der erstens weiß, was er gesagt hat, und der zweitens weiß, was der andere verstanden hat, und der drittens weiß, wie die Differenz zwischen Gemeintem und Verstandenem einzuordnen ist. Aber genau diese Deutungshoheit steht ja zur Debatte (KB 10, 36f., 41). Es fehlt, wie Klopstock es in dem Dialog Die Verskunst fürs korrekte Vorlesen formuliert, der „olympische[ ] Richter“.76 Der Streit zwischen Klopstock und Voß nimmt letztlich eine ähnliche Wendung wie der Streit um Verhaltensnormen zwischen Klopstock und Bodmer. Wie dort plädiert Klopstock für einen Vertrauensvorschuß. Wenn der Kritiker einen Punkt aufgreift, den man weder gesagt hat, noch sagen wollte, noch impliziert zu haben meint: Muß dieses ‚Mißverständnis‘ dann nicht letztlich darin begründet sein, daß „Sie mich nicht genung kennen“ (KB 10, 118f.)? Die Knappheit und Verkürzung der Begründung wird zum Zeichen nicht der Argumentationsnot, sondern zum Zeichen der Vertrauensseligkeit, die der Vorwurf mangelnder Beweise enttäuscht. Klopstock vermutet in Voß einen „Mann[ ], der Gleiches u Ähnliches _____________
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gen, daß mir Alles auf den Perioden, u also auf seine Theile ankomme“ (KB 8, 152). Vgl. ähnlich auch KB 10, 68f. mit einigen Anweisungen von Voß an die Adresse von Klopstock, wie dieser sich zu verhalten habe. Daß dies kein Spezialproblem von Voß mit Klopstock ist, zeigen z. B. auch die Schwierigkeiten der Stolbergs mit Klopstocks Umgang mit Beispielen: Als Voß, der von vielen Seiten aus den Vorwurf einer ‚undeutschen‘ Hexameterkunst erntet (KB 9, 567), öffentlich behauptet, er ‚vergrieche‘ nicht, verweist Klopstock die Stolbergs auf einen Brief an Voß von ihm, der das Gegenteil zeigen soll (KB 10, 151). Zwar sind die Stolbergs im Prinzip einer Meinung mit Klopstock, aber seine Beispiele können sie (und Jacobi) nicht gelten lassen (KB 10,152). Stüssel: Poetische Ausbildung und dichterisches Handeln, S. 110f. Bosse: Dichter kann man nicht bilden, S. 96ff. (inbes. S. 98 u. 100); vgl. zu einer Differenzierung im Blick auf einen vielschichtigen und allmählichen Übergang von der Metrik als Leser- und nicht mehr als Dichterhilfe vom späten 18. bis ins frühe 19. Jahrhundert Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, S. 367. Klopstock: Sämmtliche Werke. Bd. 9, S. 200.
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wittert“, aber das „Zutrauen zu Ihrem Wittern“ kann nicht auf diese Sensibilitätsgemeinschaft bauen (KB 10, 120). Und dennoch: Gerade die Härte der Auseinandersetzung signalisiert etwas Positives, nämlich den hohen Schwierigkeitsgrad der Problemzusammenhänge. Die „neueren Gottschede“ sind nicht zuständig für Fragen, die nur „zwei sorgfältige Forscher und Ausüber“ beantworten können, die „bis zum Ahnden auch leiserer Andeutungen gelangt“ sind (KB 10, 45f.). Klopstock hält für solche Fälle die Kategorie der ‚Feinheit‘ bereit (4.1.2), die generell mit der Intensität der Vertrautheit mit einem Dichter verbunden ist: Ein „langer und vertraulicher Umgang“ korrespondiert dem „allerfeinste[n] kritische[n] Gefühl“77 – auf diesen Aspekt des Zeitverbrauchs werde ich weiter unten zurückkommen. Der Sinn für ‚Feinheit‘ unterscheidet gute und schlechte Leser oder Autoren. Dabei lassen sich die ‚feinen Fäden‘ nicht entwickeln, ohne daß diese – wegen ihrer ‚Feinheit‘ – in die Irre führen.78 Gefordert wird damit der rezeptive Lesertypus, der dem Autor ohne weitere Begründung vertraut. Während Sulzer, wie oben gezeigt (4.1.2), im Artikel „fein“ seiner Allgemeinen Theorie der Schönen Künste das „Feine“ und das „Große“ für letztlich unvereinbare Größen hält79, kombiniert Klopstock genau dies: die Eindrucksfülle der Makrostrukturen mit dem Sinn für Mikrostrukturen. Klopstock zeichnet daher Voß, dem Gerstenberg eine bewundernswerte „Feinheit seiner Ohrgefühle“ konzediert (KB 8, 531), allein schon dadurch aus, daß er sich mit ihm überhaupt in eine Auseinandersetzung über die Webkunst der „feinen Fäden“ einläßt.80 Voß und Klopstock suchen in dieser Situation einen Ausweg, und sie testen dabei vier Möglichkeiten durch: die Selbstregulierung der Sprache, die Demokratisierung von Erfahrung, die Phonozentrierung sowie die Temporalisierung der Auseinandersetzung. Die erste Lösung besteht darin, daß man sich auf die Gesetzeskraft der Sprache beruft – die „Sprache“ selbst privilegiert demzufolge bestimmte metrische Bestimmungen (KB 8, 154f.).81 Daß diese Hypostase nicht weiterhilft, versteht sich, denn sie _____________ 77
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So Bürger in seinem Vorstellungsvortrag für die Aufnahme in die Göttinger Deutsche Gesellschaft unter dem Titel Etwas über die deutsche Übersetzung des Homers (1769) (Sämtliche Werke, S. 604, ähnlich auch S. 618 in Gedanken über die Beschaffenheit einer deutschen Übersetzung des Homer, nebst einigen Probefragmenten von 1771). Klopstock: Von der heiligen Poesie (ders.: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 192f.). Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste Bd.1, S. 376. „Überhaupt hängt unser ganzer Streit an sehr feinen Faden; aber diese müssen denn nun auch, wie in Pallas Webe, mit der äussersten Sorgfalt gewebt werden, oder es entsteht Gewirr“ (KB 8, 144). Vgl. zu diesem Verfahren auch KW 7/2, 567 mit Hinweis auf den Aufsatz Zur Geschichte unsrer Sprache (Klopstock: Sämmtliche Werke. Bd. 9, S. 445ff.). Zur „Personalisierung der Kreativität“ bei Klopstock vgl. Berndt: Die Erfindung des Genies, S. 28f.
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verschiebt lediglich das Problem. Zudem geht es um eine Sache von solcher ‚Feinheit‘, daß sie, „außer uns, in Deutschland wohl keiner kennt [...]“ (KB 8, 149). Daher ist auch der zweite Lösungsversuch wenig erfolgversprechend, der gleichsam auf demokratische Weise Orientierung verspricht: Die eigene „Erfahrung“ gilt als Argument, wenn sie durch Fremderfahrung abgesichert werden kann82 – hier ergeben sich die Schwierigkeiten aus dem oben beschriebenen Streit um die Zulassung (s. auch KB 8, 158) sowie um die Vermittlung von Beispielen. Auf diese ungelösten Probleme reagiert der dritten Lösungsansatz, der die Sache medientheoretisch in Angriff nimmt. Letztlich geht es darum, zu schweigen oder „uns unsere Erfahrungen auf Verlangen rein und ohne Vorbehalt mit[zu]theilen [...]“ (KB 8, 149). Wie aber teilt man „Erfahrungen“ mit? Immer wieder versichern sich die Kontrahenten, alle Probleme würden sich dann lösen, wenn sie gemeinsam läsen und „jedesmal den Ton bemerken, der [...] getroffen, oder nicht getroffen schiene“ (KB 10, 119; vgl. bereits KB 8, 78). Das Gespräch ist das angemessene Medium für ‚feine‘ Gegenstände: „Wir streiten über feine, u theils sehr feine Unterschiede“, schreibt Klopstock an Voß, „u da kan es denn leicht kommen, daß man sich auf das Gesagte nicht richtig antwortet. [...] Im Gespräch entwickelt sich das; aber für Briefe ist es zu weitläuftig“ (KB 8, 155).83 Umgekehrt ist Voß guter Hoffnung, daß er und Klopstock bei einem Gespräch „auf Ihrem traulichen Stübchen [...] die feinen Fädchen noch schonender trennen [würden], und vielleicht nur den lockersten Anfang zu Gewirr auflösen dürfen“ (KB 8, 145). Freilich reagiert Voß damit schon auf den strategischen Einsatz der medientheoretischen Problemformulierung. Klopstock nämlich setzt die Vision einer Auseinandersetzung unter Anwesenden in den von ihm favorisierten Irrealis (4.2 a) und will Voß vor allem demonstrieren, daß er alles „genau“ untersucht habe, daß er die präsentierten „Resultate“ nur „hier u da einmal [...] hingeworfen habe“ und daß „Voß selbst nicht alle gleich durchsieht – – –“ (KB 8, 144, auch 152, 155). Der Vorteil einer gesprächsweisen Auseinandersetzung liegt für Klopstock zunächst darin, daß das Gespräch eine scheinbar weniger restriktive und selektive Themenbehandlung erlaubt; es umgeht ‚Regelförmigkeit‘.84 _____________ 82
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Vgl. dazu in der Gelehrtenrepublik den Entwurf einer „Poetik, deren Regeln sich auf die Erfahrung gründen“, die sich im Ungewissen bewegt und die daher die eigene Erfahrung und Fremderfahrungen beobachten muß (KW 7/1, 172f.). Zu Klopstocks eigenen MessiasLesungen vgl. KW 4/3, 206. Nicht nur Voß gegenüber zieht Klopstock das ‚Gespräch‘ als Medium der Auseinandersetzung über Klopstock der schriftlichen Äußerung vor, vgl. z. B. auch KB 10, 69. Selmer, so Werthing in Vom Sylbenmaaße, werde „hundert Sachen sagen müssen“, die er „beim Aufschreiben weglassen würde[ ]“; im folgenden Gespräch bescheidet Selmer dann Minna: „Sie denken nicht daran, daß ich bisweilen Stunden würde zubringen müssen, die
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Das Gespräch scheint ihm thematisch voller, weil die Thematisierung nicht den Widerstand der Schrift überwinden muß85 und daher auch Zeit intensiv nutzen kann. Anders gesagt: Klopstock vertraut auf das Gespräch als Kritik-Blockade. Ein weiterer Grund für die Privilegierung von Nahkommunikation liegt darin, daß der direkte Kontakt Evidenzerlebnisse fördert. Das Gespräch als Lösung aller Probleme bzw. die Fernkommunikation als zentrales Verständigungshindernis zielen – wie im Fall der „Sprache“ als Regulierungsinstanz ihrer selbst – auf eine Hypostase als stabilen Orientierungspunkt. In dem Epigramm Das Entscheidende, das Klopstock zweimal an Voß sendet, heißt es: „Oberrichterin ist des Gedichts die Sprechung. Was ihr nicht, / Ganz sie selbst zu seyn, mächtiger Reiz ist, vergeht“ (KB 10, 122, 64).86 Daß aber der Vortrag in der ‚naturalisierten‘ Sprechkunst der Zeit letztlich keine verstheoretische Entscheidungen herbeiführen kann, weil es erstens zu viele Vortragsmöglichkeiten87 und zweitens verschiedene Wahrnehmungsmöglichkeiten gibt88, sieht man bereits an Cramers Lesung _____________
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Regeln zu finden, welche in der Vorlesung einer halben Zeile liegen, die Ihnen völlig gelungen ist, und uns eben so sehr gefallen hat. Und wie schwer würde es seyn, sich bei dieser Untersuchung nicht zu verirren. Aber wenn man sich auch nicht veirrt, und die Regeln durch die leichtesten Zeichen ausgedrückt hätte; welche Schwierigkeit für die Ausführung eines Vorlesers, welcher der Vorschrift folgen wollte“ (Klopstock: Sämmtliche Werke. Bd. 10, S. 167, 186). Das aber führt auch zu den bekannten Dialogdesastern, wenn es zu einer Einigung kommen soll. So vor allem in Von dem Range der schönen Künste und der schönen Wissenschaften (1758) – vgl. auch dazu kurz oben im Zusammenhang mit Klopstocks Rhetorik der Unschärfe (4.2 d). Daher erträumt Klopstock Briefe, die sich von selbst schreiben (z. B. KB 7, 29; KB 8, 183). Vgl. dazu auch andere Epigramme, die die Vollendung des Gedichts im Akt des Vorlesens behaupten und dabei – zumindest implizit – immer wieder auf Vermittlungsprobleme zu sprechen kommen bzw. Evidenz als ultima ratio behaupten, z. B. KW 2, 58, 60, 64f. Vgl. als Beispiel für eine Deklamationsanweisung Klopstocks den Brief an Carl Wilhelm Ernst Heimbach vom 14. Mai 1800 (KB 10, 163f.), in dem dieser von der gleichsam selbstläuferisch sich ergebende ‚richtigen‘ Lesung ausgeht, wenn die „verkünstelte“ Aussprache vermieden wird – auch hier zitiert er das Epigramm Das Entscheidende. In diesem Zusammenhang ist auch der Briefwechsel Klopstock / Mcpherson interessant, weil es hier u. a. um die schriftliche Vermittlung eines Versmaßes über die Beigabe von Melodien geht (z. B. KB 5, 505). Zu Klopstocks Position innerhalb einer ‚Geschichte der Stimme‘ vgl. Götterts Ausführungen im gleichnamigen Buch (S. 381f.). Zur Bedeutung der ‚Sprechung‘ für das Dichtungsverständnis vgl. Küster: Das Problem der „Dunkelheit“ von Klopstocks Dichtung, S. 76ff. McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis, S. 156f. Die briefliche Auseinandersetzung zwischen Bodmer und Gottsched über Milton ist hier vor dem Hintergrund der Bodmerschen Behauptung einer kontrollierbaren, verallgemeinerbaren Wirkung von Dichtung (3.2.1 c) aufschlußreich. Irenisch bemerkt Gottsched in seinem Schreiben vom 1. April 1739 nach Ausführungen zu verschiedenen Hörgewohnheiten: „Wenn nun das Ohr fähig ist, unendlich verschiedene Faltungen an sich zu nehmen, wie ungleich und wie verändert muß sein Urtheil von dem harten und sanften seyn!“
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der jambischen Homer-Übersetzung Bürgers vor Klopstock. Cramer nämlich „fing an zu lesen als ob es wirklich Prosa wäre, verbarg es sorgfältig daß es Jamben waren ruhte oft auf langen Sylben die der Jambus kurz macht, schlüpfte gemeiniglich über die Cäsur hin und gab doch jeder Stelle ihren gehörigen Affekt, so daß [...] Klopstocks Einwurf so ziemlich verschwand“.89 Von daher versteht man, daß auch Bürger, Klopstocks Hauptgegner im Streit um die Legitimität eines deutschen Hexameters, sich für seine jambische Homer-Fassung auf die „blanke bare Erfahrung“ beruft, aposteriorische Urteile ablehnt und behauptet, nach „genauer“ Prüfung werde man bei seinen Jamben „unendliche Abwechslung“ finden, ein Wechsel von Längen und Kürzen von solcher „Verschiedenheit, daß sie sich kaum ausrechnen läßt“.90 Die „Sprechung“ ist für Klopstock das Medium der umfassenden Affektion der Rezipienten, weil sie die unteren wie die oberen Seelenvermögen, die Sinnlichkeit wie den Geist zu berühren vermag und ein sympathetisches Einschwingen in die poetische Sprache ermöglicht.91 Sie reguliert sich selbst im Vollzug, zumindest dann, wenn sie richtig ausgesprochen wird.92 Erneut fehlt dafür das Kriterium, denn in der Schrift finden sich keine Hinweise auf Lautbildung, Akzentuierung, Rhythmisierung, Periodenbildung etc.93 Dies wird vor allem dann zum Problem, wenn es tatsächlich – wie Herder meint – so ist, „daß selbst bey zween Autoren in _____________
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(Briefwechsel Gottscheds mit Bodmer und Breitinger, S. 371f.). Ähnliche Positionen nimmt Gottsched in der Critischen Dichtkunst (CD I, 375) sowie in der Deutschen Sprachkunst ein (Vollständigere und Neuerleuterte Deutsche Sprachkunst, S. 584; kritisch im Blick auf den metrischen Eigensinn der neueren Ependichter ebda., S. 561); vgl. hier auch zu je nach Position relativen Längen und Kürzen (ebda., S. 590f.). Auch Gottsched hatte im übrigen mit dem Vorwurf der Willkürlichkeit bei seiner Metrik zu tun und setzt daher einen besonderen Akzent (ebda., unpag. [Vorrede zur 3. Aufl. 1752]) – vgl. dazu die Kritik von Carl Friedrich Aichinger, der Gottscheds Beispiele als Belege für das Gegenteil dessen nimmt, was Gottsched mit ihnen belegen will (Versuch einer teutschen Sprachlehre, S. 108). Brief von Cramer an Bürger, 16. April 1773 (Lüchow: ‚Die heilige Cohorte‘, S. 195). Bürger an einen Freund über seine teutsche Ilias (in: Bürger: Sämtliche Werke, S. 653, 655). Zur „Darstellung“ durch Deklamation vgl. Von der Deklamation (Klopstock: Sämmtliche Werke. Bd. 9, S. 443) sowie Bemerkungen in der Gelehrtenrepublik (KW 7/1, 69, 173; KW 7/2, 567ff.). Vgl. zum Verhältnis von Musik und Sprache im Kontext der empfindsamen Sympathetisierung Sauder: Die empfindsamen Tendenzen in der Musikkultur nach 1750. Immerhin gibt die „Aussprache“ im gleichnamigen Dialog zu, daß es in ihrem Bereich „Streitigkeiten“ gibt, „mit denen es, wegen der Feinheit der Gegenstände, nie zur Schlichtung kommt“ (Klopstock: Sämmtliche Werke. Bd. 9, S. 23). Vgl. auch das Fragment aus dem Gespräch Die Verskunst, wo vermerkt wird, daß es keinen „olympischen Richter“ gibt – auch hier bricht die Argumentation ab (ebda., S. 200). Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Hinweise auf Vermittlungsprobleme des praktischen Vortrags in den antiken Rhetoriken: Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zweiter Teil, XI, 15ff.; Rhetorica ad Herennium, III, 19, 27.
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Einer Sprache der Wohlklang Eines Sylbenmaases nicht derselbe ist, und in seinem zarten Wuchse kaum Vergleichung leidet“.94 Herder, der das Ohr ebenfalls als Vereinigungsorgang von Körper und Geist behandelt95, reagiert auf die Differenz von individuellem Gebrauch und allgemeinem Schema96 u. a. mit dem Traum von einer Notationstechnik, die es erlaubt, Lyrik individuell „nach Gehalt und Ton“ aufzuzeichnen.97 Auch er favorisiert daher das Gespräch als Medium der Auseinandersetzung über Poesie (KB 6, 99f.).98 Schriftliche Kritiken hält er prinzipiell für defizient, weil er keine Möglichkeit sieht, wie sich – so schreibt er über seine eigene Besprechung von Klopstocks Oden in den Nachrichten von gelehrten Sachen – die „Modulation, der Tanz, der lebendige Gliederbau der Empfindung, die jedes einzelne Stück so durchaus bezeichnen, ausdrücken, abmahlen“ läßt (KB 10, 84). Klopstock – darin besteht sein dritter Lösungsansatz – versucht auch vor diesem Hintergrund, der Schrift Stimmlichkeit zu implantieren,99 in_____________ 94
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So in der Rezension von Klopstocks Oden in der Allgemeinen Bibliothek der schönen Künste (Der Aufstieg zur Klassik in der Kritik der Zeit, S. 197). In Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele erklärt Herder ebenfalls, daß „keine zwei Dichter [...] je ein Sylbenmaß gleich gebraucht und wahrscheinlich auch gleich gefühlet“ haben (Herder: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774-1787, S.349). Dabei spielt gerade die ‚Undeutlichkeit‘ und die ‚Ungründlichkeit‘ des Gehörs die entscheidende Rolle: Das „Auge“ sei den „Ideen“ am nächsten, das „Gefühl“ der „Einbildungskraft“ und das „Gehör“ dem „Gefühl“, schreibt Herder im vierten der Kritischen Wälder (Utz: Das Auge und das Ohr im Text, S. 23f.). Ausführlich zu den persönlichen Beziehungen zwischen Klopstock und Herder Lohmeier: Herder und Klopstock, S. 14ff. – Herder schätzt insbesondere die Oden, speziell die Liebesoden, Klopstocks (ebda., S. 21f., 24ff., 33f., 142ff.); zum Messias und zu den Dramen finden sich beinahe durchgehend kritische Bemerkungen (ebda., S. 74ff., 116ff.), bis Herder dann Ende der 90er Jahre eine Art Zweckbündnis mit Klopstock gegen die neueren Literaturtendenzen schließt (ebda., S. 104ff.). Zum Verhältnis der Sprachtheorien von Klopstock und Herder: KW 7/2, 605ff. Vgl. allgemein zu dieser Differenz beim frühen Herder: Willems: Wider die Kompensationsthese, S.12f., 22f.; weiterhin: Schlegel: Sich „von dem Gemüthe des Lesers Meister“ machen, S. 31ff. Ein interessanter Fall ist auch Christian Gotthold Schochers Antwort auf die Frage Soll die Rede auf immer ein dunkler Gesang bleiben, und können ihre Arten, Gänge und Beugungen nicht anschaulich gemacht, und nach Art der Tonkunst gezeichnet werden? (1791), die in Klassik und Romantik breit rezipiert wird, aber ohne mündlichen Unterricht unverständlich bleibt (Kohlhäufl: Die Rede – ein dunkler Gesang? S. 142f., 144). Kittler: Aufschreibesysteme 1800 1900, S. 298. Zur Differenz zwischen Herderund Klopstock vgl. Benning: Ut Pictura Poesis – Ut Musica Poesis. Vgl. dazu auch das Journal meiner Reise im Jahr 1769, wo es zu Klopstocks Messias heißt: „Ihn lesen, ihn deklamieren zu hören! und also auch nur von seinen Sylbenmaassen rechten Begrif zu erhalten!“ (S. 118). Zu Herders spkeptischer Einstellung gegenüber dem Verhältnis von Autor und Publikum vgl. Irmscher: Herder über das Verhältnis des Autors zum Publikum, S. 117ff. Vgl. dazu grundsätzlich sowie im literaturgeschichtlichen Überblick: Schneider: Ins Ohr geschrieben – zu Klopstock ebda., hier insbes. S. 200ff., 249ff.; sowie: ders.: „Still auf dem Blatt ruhte des Lied“.
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dem er mit diakritischen Zeichen experimentiert, etwa bei den Silbenmaßnotierungen durch das Strich-Haken-Schema oder andere Markierungen100, indem er verschiedene Pausenzeichen zur Abgrenzung von Perioden in den Grammatischen Gesprächen101 und im Streit mit Voß einführt (KB 8, 155f.), indem er Versmaße musikalisch so notiert, daß es dabei nicht primär auf die Melodie, sondern eben vor allem auf die „Zeittheilung“ ankommt,102 oder indem er die Rechtschreibung reformiert, weil diese genau das verzeichnen soll, was gesprochen wird.103 Herder konnte damit im übrigen nichts anfangen: „Der alte stolze Narr“, schreibt er an Hamann, „ist dem delirio nahe“ (KB 7, 882, auch 874).104 Kurzum: Bei Klopstock, und auch das gehört zu seinem Streben nach ‚Korrektheit‘, kommt es auf die „kleinen Unterscheidungszeichen“ an (KB 5, 202). Generell ließe sich Klopstock Interesse an der Musik, etwa an Vertonungen105, aus dieser Perspektive beschreiben, und dies vielleicht auch _____________ 100 Das Strich-Haken-Schema verwendet Klopstock beispielsweise in Briefen und bei den Oden, die metrischen Eintragungen in den Handexemplaren des Messias folgen eigenen, uneinheitlichen Zeichenerfindungen (KW 4/6, 247ff.). In einem Exemplar hat Klopstock auch deklamatorische Anweisungen durch diakritische Zeichen festgehalten, die die Schnelligkeit und die Lautstärke der Lesung markieren sollten, und zwar in relativen Angaben von „langsamer“, „schneller“, „lauter“ und „leiser“ (KW 4/3, 389). Vgl. zu Anweisungen für seine Leser z. B. auch KB 5, 35 sowie 42, wo Klopstock einerseits Versmaßmarkierungen in Texte einträgt, das richtige Lesen aber als Folge des unkalkulierbaren Zusammenspiels von „Stimme“ und ‚Empfindung‘ verbucht. 101 Klopstock: Sämmtliche Werke. Bd. 9, S. 202 (Fragment aus dem Gespräch Die Verskunst). Vgl. zum ausgebildeten System der antiken Pausenzeichen Notation, S. 164. 102 In zwei Briefen an Zachariä um 1768/69 (vgl. Rößler: Form als Theologie, S. 84f.) und an Gerstenberg (KB 4, 258f.; Muncker: Lessings persönliches und literarisches Verhältnis zu Klopstock, S. 218f.) bittet er um Kompositionen nach von ihm verzeichneten Vorgaben. 103 Vgl. Über die deutsche Rechtschreibung (Klopstock: Sämmtliche Werke. Bd. 9, S. 325ff). Vgl. weitere Beispiele für Versuche der Notationserweiterung bei Weithase: Anschauungen über das Wesen der Sprechkunst, S. 19ff. und Meyer-Kalkus: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, S. 246. 104 Kohl: Friedrich Gottlieb Klopstock, S. 54f., 122ff. 105 Vgl. hierzu vor allem die Briefe an Gerstenberg und an Gluck mit den entsprechenden Kommentaren der Hamburger Klopstock-Ausgabe. Im Brief vom 24. Juni 1775 bringt Gluck die Probleme auf den Punkt anläßlich einer Entschuldigung von fehlenden „anmerckungen“ zum Gesangsvortrag für zugesendeten „arien“: „[...] ich glaube Es würde ihnen Eben so schwer vor kommen, wan sie sollten jemanden durch brieffe belehren, wie, und mit was vor Einen außdruck Er ihren Messias zu declamieren hötte, alles dieses bestehet in Empfindungen, und kan nicht wohl explicirt werden, wie sie bösser wiessen als ich [...]“ (KB 6, 218, 684). An anderer Stelle meint Klopstock dann entsprechend: „Am sichersten könte ich den Komponisten auf die rechte Bahn bringen, wenn ich ihm vorläse (KB 10, 75f.). Zur „Rezeption in der Musik“ vgl. Kohl: Friedrich Gottlieb Klopstock, S. 165ff.; Lütteken: Das Monologische als Denkform in der Musik zwischen 1760 und 1785, S. 54f., 59, 331f., 349ff., 353ff., 358f. Zur ‚Verunregelmäßigung‘ in Poesie und Musik aus dem Willen zur Intensivierung der affektiven Wirkung im Blick auf Bach und Klopstock vgl. Kunze: Carl Philipp Emanuel Bach, S. 33ff. In den Fragmenten zum zweiten Teil der Gelehrtenrepublik beschäftigt Klopstock sich ausführlicher mit dem Verhältnis von Dichtung und Musik. In-
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deswegen, weil sich in der empfindsamen Musikkultur in der Kombination von menschlicher Stimme und Instrumentalmusik jene unterschiedlichen Kompetenzen der Bedeutungszuweisung spiegeln, die Klopstock im Messias zwischen ‚Rauschen‘ und ‚Gesang‘ findet: wo es in den Ohren der einen nur rauscht, hören die anderen Musik.106 Die nicht zuletzt von Klopstock inspirierte Musikalisierung der Poetologie, die sich vor dem Hintergrund einer entrhetorisierten und damit remusikalisierten Musik in der Mitte des 18. Jahrhunderts entfaltet, verdeutlicht die Probleme, die bei der sprachlichen Behandlung nicht-sprachlicher Ausdrucksqualitäten entstehen.107 Über seine eigene Unmusikalität macht Klopstock sich allerdings kein Illusionen – im letzten von ihm überlieferten Brief vom 14. März 1803 schreibt er an Johann Margaretha Sieveking: „Wie wärs, liebste Sieveking, wenn Sie diesen Abend mit uns ässen? [...] Wir werden auch singen. Erschrecken Sie nur nicht, daß ich Wir sage. Denn ich singe nicht mit. Lassen Sie sich das ja nicht abhalten. Denn ich singe ganz gewiß nicht mit!!“ (KB 10, 273) Jedenfalls gehört zum ‚Wiener Plan‘ der Kunst- und Wissenschaftsförderung die Einrichtung von „Singhäuser[n]“ zur „musikalischen Declamation unsrer epischen Gedichte“ (KB 5, 192, 704; KW _____________
teressant daran ist die These, daß die „Sprache“ den Dichter am Ausdruck von bestimmten Aspekten des „Leidenschaftliche[n]“ hindere, daß es also für ihn ‚Unausdrükbares‘ gebe, was dann der Komponist ‚ausdrükbar‘ machen könne (KW 7/2, 49). Daraufhin wird die Frage debattiert, ob auch die „Ausführer“, also Musiker oder Sänger, ‚zünftig‘ werden sollen. Die Gründe dafür sind notationstheoretisch: „[...] so erinnert euch nur, wie viel die Ausführer, vornämlich Leidenschaftliches, indem sie singen oder spielen zu der Composition hinzu sezen. Stellet euch einmal vor, daß man auch für dies Hinzukommende Zeichen hätte; wie viel mehr dieser Zeichen an Zahl und Art würde man brauchen müssen, wenigstens alsdann, wenn man den Ausführer als Virtuosen annähme“ (KW 7/2, 50). 106 Im Kontext der empfindsamen Vorliebe für den Naturton weist Sauder auf die auch kritische Behandlung der Instrumentalmusik als eines ‚Rauschens‘ hin (Die empfindsamen Tendenzen in der Musikkultur nach 1750, S. 60f.). Vgl. zu Musikalisierung der Stimme Lappe: Studien zum Wortschatz empfindsamer Prosa, S.198ff. Klopstock – so Hurlebusch – entwickelt sein Musikverständnis aus dem älteren, auf Vokalmusik konzentrierten Musikparadigma heraus (KW 7/2, 674ff.; vgl. dazu KW 7/2, 44ff.) – allerdings schätzte Klopstock C.P.E. Bach auch als „Instrumentalkomponisten und Virtuosen auf dem Klavier“ (KW 7/2, 771), wobei das Klavier bzw. genauer: das Clavichorde die Instrumentalität und die menschliche Stimme in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch die Möglichkeit zur Tonmodulation und damit zur Sympathie zwischen Musiker, Musikvortrag und Musikhörer zu koordinieren erlaubte (Scherer: Klavier-Spiele, S. 43ff.; ders.: „Aus der Seele muß man spielen“, insbes. S. 303ff.). Klopstock trifft sich mit dem empfindsamen Klavierlehrbüchern insofern, als er vermutlich die Fiktion von Klaviertasten, die „die vorliegenden Noten aussprechen“ (so G. F. Merbachs Clavierschule für Kinder, 1783 – zit. nach: ebda., S. 304f.), gern wieder ins Sprachliche rückübersetzen würde. Die technisch bedingte geringe Lautstärke und die „empfindlich ansprechende Tastatur“ (ebda., S. 305) eignen sich als Spiegelbild für Klopstocks leisen Vortrag und seine Überlegungen zur Sprachdynamik. Zudem steigt in beiden Fällen das Mängelpotential, weil mehr relevante Bestimmungsmöglichkeiten des Vortrags (ebda., S. 306f.) auch mehr Fehlermöglichkeiten bedeuten. 107 Lütteken: Das Monologische als Denkform in der Musik zwischen 1760 und 1785, S. 85ff.
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7/2, 139f., 875ff.), und die Beschreibungssprache von Klopstocks Metrik läßt sich aus der musikalischen Terminologie der rhetorischen Deklamationstheorie heraus entfalten.108 Schließlich fügt sich auch die Poetologie des Eislaufs in gewisser Konkurrenz mit der Musik109 in diesen Komplex, weil die Kufenbewegungen auf dem Eis die Schwingungsbögen der Sprache analog verzeichnen; sie sind ‚Klangfiguren‘, die – anders als die diskreten Chladnischen110 – den kontinuierlichen Verlauf der „Sprechung“ notieren.111 Der Lauf der _____________ 108 Müller: Zur musikalischen Terminologie; Kohl: Friedrich Gottlieb Klopstock, S. 65ff. 109 Diese Konkurrenz trägt Klopstock vor allem im spektakulären Scheitern der Verhandlungen über den „Rang der schönen Künste und der schönen Wissenschaften“ in dem gleichnamigen Aufsatz aus (dazu Menninghaus: Klopstocks Poetik der schnellen „Bewegung“, S. 323f.; ders.: Dichtung als Tanz, S. 139ff.) – die Differenz zwischen Tanz und Musik liegt darin, daß dabei je verschiedene Formen der Bewegung akzentuiert werden: der Tanz repräsentiert die tonlose, die Musik die tönende Bewegung. Allerdings kann das Sortierungskriterium, das Klopstock im genannten Aufsatz zum Rangstreit der Künste anwendet, nämlich die Entgegensetzung von „Sinnen- versus Nicht-Sinnenkünste“ (Menninghaus: Dichtung als Tanz, S. 139), im Streit mit Voß nicht weiterhelfen, weil es ja hier um Verse „für das Ohr“ geht. Zur Kritik an Menninghaus‘ Fokussierung des „stumme[n] Tanz[es] auf dem Eis“ vgl. Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 6/I, S. 456, auch S. 464f. sowie Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions, S. 178. Vgl. zur Diskussion um die Ausdrucksqualität von Dichtung, Musik und Tanz in der Empfindsamkeit ebda., S. 164ff. – tertium comparationis zwischen den drei Künsten ist die „Bewegungsemphase“, die „wortlose[ ] Signifikation“ sowie die „Schnelligkeit“ (ebda., S. 172), so daß auch hier die Musik nicht zwingend über den ‚Wohlklang‘ von Bedeutung ist (so ebenfalls in Korrektur von Menninghaus ebda., S. 169). 110 Menke: Töne – Hören, S. 69, 71. 111 In Der Eislauf heißt es: „Wie schweigt um uns das weiße Gefild! / Wie ertönt vom jungen Frost die Bahn! / Fern verräth deines Kothurns Schall dich mir, / Wenn du dem Blick, Flüchtling, enteilst. // [...] Was horchst du nach der Insel hinauf? / Unerfahrne Läufer tönen dort her!“ – schließlich bewahrt das Gehör sogar vor dem Tod durchs Einbrechen auf einer zu dünnen Eisfläche: „O wie tönts anders! wie hallts, wenn der Frost / Meilen hinab spaltet den See!“ (KO I, 173f.). In Braga kommt zum Ton sogar noch das „Bild“ hinzu: „Unter dem flüchtigen Fuße, vom geschärften Stahl / Leicht getragen, scholl schnelleres Getöne der Bahn! / Auf den Moosen in dem grünlichten See, / Floh mir vorüber, wie ich floh, mein Bild“ (KO I, 188). In Der Kamin erläutert das Ich der Ode, ironischerweise ein Stubenhocker, den physikalischen Effekt der Eistanztons schließlich in Parallele zum Schwingen der Bogensaite (KO I, 224) und somit mit einem für die empfindsame Sympathie typischen Bild. Offen bleibt freilich, wie die ‚körnigte Fügung‘ von Klopstocks dichterischer Diktion mit den Bildern des Fließens, Schwebens und Gleitens zusammengebracht werden können, und dies zumal bei der experimentellen Verskunst der Eislaufoden (vgl. dazu im Anschluß an Hellmuth: Metrische Erfindung und metrische Theorie bei Klopstock, Hilliard: Klopstock in den Jahren 1764 bis 1770, S. 166ff., s. hier auch zur Musik S. 176f.; ders.: „Stammelnd Gered“ und „der Engel der Sprach‘“ zu den stiltypischen Interruptionen der Klopstockschen Diktion) – eine Verbindungsmöglichkeit mag in der von Klopstock favorisierten Benennung „Schrittschuh“ liegen. Klopstocks Plan eines Kanalsystems, das ganz Deutschland zu einer großen Schlittschuhfläche macht (Hilliard: Klopstock in den Jahren 1764 bis 1770, S. 148), demonstriert auch die Imagination von Kommunikationswegen, die Dichtung leichtfüßig und flächendeckend zu verteilen erlauben.
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‚Eistänzer‘ setzt dabei Naturklänge analog in körperliche Sichtbarkeit um und deren „Lieder“ korrespondieren der Naturszenerie,112 so daß wie im Messias eine Welt gestufter Wahrnehmbarkeit entsteht (4.2 d). Freilich muß man festhalten: Eine Eisfläche läßt sich faktisch nicht (vor-)lesen (oder abspielen); das „Singhaus“ wird nicht gebaut; und das impressionistische Vokabular der Sprachbeschreibung bleibt stumme Schrift. Immerhin hat Klopstock nach seiner Rückkehr nach Hamburg 1770 eine Lesegesellschaft eingerichtet (KB 5, 271ff.).113 Laut Lichtenberg handelt es sich dabei um eine „Schule der Empfindsamkeit“, in der es „gantz überaus ätherisch“ zugeht, „bis auf das Geld das HE K. dafür zieht“, wobei Klopstock den „Frauenzimmer[n]“ nicht „das geringste zum Unterricht [...] pro oder contra“ sage.114 Voß machte sich im übrigen die Lesewirkung des Messias auf eigene Weise zunutze: Als sich Johann Abraham Peter Schulz nach einer schweren Krankheit 1795 bei Voß zur Erholung aufhält und den ärztlichen Rat zur Mäßigung, auch im Reden, nicht annehmen will, liest Voß ihm aus dem Epos vor. Beim „Frühstück“ erklärt Schulz, „er habe an einer Vorlesung genug gehabt“. Man vereinigte sich, die Vorlesung aufzuschieben, wenn Schulz sich im Gespräch mäßigen wollte. Dies ward versucht, aber eben so schnell vergessen. Dann stand Voß ernsthaft auf, holte sein Buch, und fing an zu lesen. Geschwinde zündete Schulz sein Licht an, und entfernte sich. Man schien es nicht zu bemerken. Nach einer Weile kehrte er wieder zurück, um zu horchen, ob noch gelesen ward. Hörte er nichts, so trat er herein, und versprach sich zu bessern.115
Um zum Streit von Voß und Klopstock als Streit um Notationen zurückzukommen: Notation ist vielleicht nicht die unentbehrliche Voraussetzung für die Diskutabilität metrischer Fragen, aber verschiedene Notationsweisen steigern diese auf je eigene Weise.116 Dies liegt nicht zuletzt an der kulturellen Verbreitung von Einheitlichkeits- und Selbigkeitsphantasien durch die Performanz der Druckschrift, die zugleich unter der Hand Perspektivität ins Spiel bringt,117 denn nur das scheinbar Gleiche läßt sich von verschiedenen Seiten aus wahrnehmen (3.2.1 c). Voß führt so in seinen _____________
112 „Die Lieder sangen wir, jetzo dem Wiederhalle der Wälder, Jetzo den Trümmern der alten Burg, // Und tanzten fort, bald wie auf Flügeln des Nords / Den Strom hinunter gestürmt! / Bald wie gewehet von dem sanften Weste“ (Die Kunst Tialfs; KO I, 219). 113 Dazu Gronemeyer: Klopstocks Stellung in der Hamburger Gesellschaft, S. 293f. 114 Lichtenberg an Johann Andreas Schernhagen 1773 (zit. nach Dichter lesen. Von Gellert bis Liliencron, S. 43). 115 So Ernestine Voß in ihren Erinnerungen von 1832 (zit. nach: Dichter lesen. Von Gellert bis Liliencron, S. 36). 116 Notation, S. 15, 18f. Zur Entwicklung von neuen Notationstechniken im Zusammenhang mit der Hermeneutisierung des musikalischen Diskurses in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vgl. Scherer: Klavier-Spiele, S. 56ff. 117 McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis, S.71, 139ff., 157ff.; Giesecke: Der Buchdruck der frühen Neuzeit, S.602ff.
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Verhören Bürger durch die Umsetzung von dessen Argumenten in Notenwerte und Brüche vor, daß der Hexameter-Kritiker und JambenVerteidiger rechnerische Fehler begeht, und zwar im Bereich sehr kleiner, aber eben für ein ‚feines‘ Ohr nicht vernachlässigenswerter Einheiten von „Zweiunddreißigtel“-Noten.118 Auf diese Weise spiegelt oder medialisiert die Notation die ‚Verfeinerung‘ der Zeitmessung.119 Im Prinzip aber lösen auch musikalische Notierungen das Problem nicht, wie man von der allgemeinen Notation zur individuellen Aufführung kommt.120 Sie sind nur _____________ 118 Deutsches Museum (1781). Bd. 1, 3. St., S. 220. Voß bezieht sich auf folgende Passagen in Bürger an einen Freund über seine teutsche Ilias im Teutschen Merkur: Gut und gern soll also unsere Sprache, deren Takt sich meist mit ganzen und halben und nur sehr wenigen Viertelschlägen begnüget, der Griechischen, in ihrem viel teilbarern Takt, mit allen seinen Halben-, Viertel- Achtel- und Sechzehntelschlägen, nachtun, und die Mensur eines jeden Hexameters solchergestalt ausfüllen, daß es weder zu viel noch zu wenig ist? In dieser Mensur läßt die griechische Sprache nicht die kleinste Lücke, die sie nicht, ohne nur um ein Härchen überzufüllen, auf das genaueste ausfüllen könnte. Dies Geschick hat sie ihrem so sehr ins Kleine und Feine geteiltem Takt zu verdanken. Unsere Sprache hergegen wird meist dem Raume des Hexameters bald zu wenig bald zu viel, und eine überragende Füllung geben“ (Bürger: Sämtliche Werke, S. 648). 119 Auch weit vor Voß wurden sowohl klangliche als auch temporale Dimensionen versifizierter Sprache mit Hilfe von Noten angeschrieben, aber die Notenwerte waren nicht so klein. Bei Ennoch Hamann (1724) beispielsweise sind die kleinsten Notenwerte Viertelnoten (Anmerckungen In die Teutsche Prosodie, S. 142ff.) ebenso bei Harsdörffer (Poetischer Trichter. Erster Theil, S. 54ff.). 120 Justus Möser schreibt in Wie man u einem guten Vortrage seiner Empfindung gelange kritisch gegen die „toten [Worte] auf den Papier“ als „unvollkommene Zeichen unsrer Empfindungen und Vorstellungen“: „Allein, auch jene Zeichen haben ihre Begleitung für den empfindenden und denkenden Leser, und wer die Musik versteht, wird die Noten nicht sklavisch vortragen. Auch der Leser, wenn er anders die gehörige Fähigkeit hat, kann an den ihm vorgeschriebenen Worten sich zu dem Verfasser hinaufempfinden und aus dessen Seele alles herausholen, was darin zurückblieb“ (Patriotische Phantasien, S. 193). Mösers Vorschlag eines mehrstufigen Arbeitsganges, der sich in ein erstes assoziatives Schreiben und ein nachfolgendes überarbeitendes Schreiben gliedert (ebda., S. 194f.), wäre ein interessanter Vergleichsfall für Klopstocks Arbeitstechnik. Für die Verkürzung der Notenwerte seit dem 17. Jh., die Verfeinerung der musikalischen Temposprache und andere Notationsinnovationen, die einer neuartigen Wirkungsintention verpflichtet sind, vgl. Notation, S. 137ff. Vgl. zur prinzipiellen Polyinterpretabilität der deutschen Dichtung Albertsen: Die freien Rhythmen, S. 55f., 68: „Eindeutige Poesie wie die lateinische metrische gibt es auf deutsch nicht. Aber wer Formen innerhalb der verschiedenen Arten theoretisch kennt, kann sie mit größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit in Texte hineininterpretieren und somit diese als Poesie erkennen [...]. Das Wort Rhythmus ist auf deutsch ein positiv wertendes Klischee, mit dem die negative Tatsache getarnt ausgesprochen wird, daß es auf deutsch keinen absolut eindeutigen Konnext gibt zwischen dem Einzeltext und einem eventuellen Versschema. [...] Ob die Rhythmen steigen oder fallen, wogen, hüpfen oder verweilen, läßt sich von der Ausdrucksseite der deutschen Sprache her nicht feststellen, da die Verhältnisse zwischen Wortakzent und Satzakzentuation, zwischen Hebungsfähigkeit und Hebung, zwischen wichtigen und weniger wichtigen Hebungen im Deutschen der persönlichen Interpretation und somit der Diskussion unterliegen. Allenfalls möglich ist die Berechnung des [...] dahinterliegenden Versschemas, wenn auch schon hier die Motorik zur Polyinterpretabilität führt“ (vgl. auch Albertsen: Poetische Form bei Klopstock, S. 74, wo
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eine Möglichkeit, ‚etwas‘ zu einem ‚Gegenstand‘ zu machen. Für Klopstock ist dabei aufschlußreich, daß die Schrift die Voraussetzung für die typische Schriftkritik des ‚phonozentrischen‘ 18. Jahrhunderts bildet.121 Seine dynamisch-flexible Autorschaft, die Depotenzierung des Werks122 und die entsprechende Relativierung der metrischen Feststellbarkeit setzen ja nur die Beständigkeit der Schrift um, die über diese Beständigkeit Positionswechsel provoziert (2.5). Insofern also sind Klopstocks verstheoretische Schriften Teil kritischer und damit schriftlicher Kommunikation. Folgerichtig entfaltet Klopstock den phonetischen Schwerpunkt seiner Poetik als Theorie des visuell abwesenden und nur akustisch anwesenden Vortragenden: „Der eigentliche Umfang der Sprache ist das“, so heißt es in der Gelehrtenrepublik, „was man, ohne den Redenden zu sehen, höret“. Die Isolierung der Stimme korreliert der Schriftlichkeit, auch wenn sie aufs ‚Unlehrbare‘ und damit auf das nur in der Praxis Vermittelbare der Stimme zielt (KW 7/1, 72). Sie deutet auf den vergeblichen Wunsch des Autors, als Abwesender anwesend zu sein, oder in Abwandlung eines Wortes von Friedrich Kittler über Richard Wagner formuliert: Klopstock hätte ein Grammophon gut gebrauchen können.123 Möglichkeiten, dem Zusammenhang von Schrift und Stimme näher zu kommen, bestanden für Klopstock, und dies zumal in seiner Auseinandersetzung mit Johann Nicolaus Tetens. In einer Reihe von Briefen versucht der Messias-Autor den Kieler Philosophie- und Mathematik-Professor davon abzubringen, nach der Eigenlogik von Schrift zu suchen, statt die fixe Idee des phonologischen Prinzips zu verfolgen. Tetens macht umgekehrt auf Eigentümlichkeiten der schriftlichen Vermittlung aufmerksam, etwa auf die Möglichkeit, begriffliche Differenzen zu markieren, die in der gesprochenen Sprache untergehen, oder aber auch auf die Anforderungen, die durch das Fehlen stabiler Kontexte entstehen und die schriftliche Kommunikation dazu zwingen, „vollständiger“ und „deutlicher“ zu sein (KB 8, 58f.). Vor allem aber entwickelt Tetens eine These, wie das scheinbar Sekundäre das Primäre bestimmt, wie die Schriftsprache auf die gesprochene Sprache einwirkt: Erst die „cultivirte“ Sprache, die man „aus _____________
die in den Oden übergeschriebenen Silbenmaße als Indiz gewertet werden). Vgl. für die freien Rhythmen Kohl: Rhetoric, the Bible, and the Origins of Free Verse, insbes. S. 35, 72, 213f., 233, 252. 121 So der Grundgedanke bei Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, z. B. zu Bodmer S. 292ff. (prinzipieller: ebda., S. 323ff.); zu Bodmer vgl. auch Schlegel: Sich „von dem Gemüthe des Lesers Meister“ machen, S. 14ff. 122 So nach Hurlebusch in Klopstock, Hamann und Herder als Wegbereiter autorzentrischen Schreibens sowie durchgehend im Kommentar zu KW 7/2. 123 „Wagner [...] hätte digitale sound sampler gut gebrauchen können“ (Kittler: Fiktion und Simulation, S. 212).
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Büchern lernt“, tilge die „unschreibbare[n] Töne“ (KB 8, 55).124 Damit, so könnte man sagen, ebnet sie einer phonozentrischen Einstellung den Weg. Zudem läßt sich die Schrift, anders als die „Aussprache“, „zur allgemeinen Uebereinstimmung“ bringen (KB 8, 55).125 Sie arbeitet dem Programm selbstevidenter Übertragbarkeit poetischer ‚Erfahrung‘ zu – und führt zugleich deren Scheitern umso deutlicher vor Augen und Ohren.126 Klopstock kann sich mit Tetens so wenig einigen wie mit Voß. Am 8. November 1789 schreibt Klopstocks „große[r] Schüler“ (KB 7, 86) seinen Abschiedsbrief: Sie haben mitten in einer ruhigen Unterredung, die ich nur aufgefordert, und mich zurückziehend fortsezte, zuerst, durch ein Misverständniß geteuscht, die Worte, Partheilichkeit, mehr Erfahrung, unauflösbare Feinheiten, ausgesprochen. Sie haben darauf, als ich mich beschwerte, und zugleich einige meiner Erfahrungen enthüllte, zwar freundlich geantwortet; aber sobald ich für den freundlichen Ton dankte, Ihr Befremden über dies Wort geäusert und noch mehreres hinzugefügt, das nur die Ruhe der Untersuchung störte: statt künftiger Beantwortung ein Wort von bloß gramatischen Träumen, und eine Falle, die nicht fieng etc. Dies haben Sie gethan, ohne daß ich Sie durch irgend etwas zu dieser Behandlung Ihres Gegners reizte, wo es nicht die Unwiederleglichkeit meiner Gründe war. Meine Klage hierüber haben Sie hie und da unterstrichen [...]; und nun bin ich der Beleidiger, bin es, indem ich über jene Beleidigung klage, worüber Sie auch nicht einmal ein Wörtchen Entschuldigung beyzufügen würdigen. Ich habe vergessen sagen Sie mir, daß ich meinem Freunde, und – Ihnen schrieb. [...] Die Trennung selbst, und der Anlaß dazu, ist mir gleich schmerzhaft. Ich habe Homers Regel vorgetragen, und mich für widerlegt erklärt, sobald Sie andre als nach ihr getheilte, Hexameter in Homer oder irgend einen Alten aufwiesen. Dieß war der Anlaß zur Trennung der Freundschaft. Leben Sie wohl, und erinnern Sie sich daß ich Sie liebte und verehrte, und bis auf Ihre unverdienten Äuserungen aus Ehrfurcht sogar meine Gründe verschleierte. Ich wolte nicht streiten. Auch jezt werde ich den Mann der mich kränkte, von Klopstock der Liebe und Ehre verdient zu unterscheiden wissen. – (KB 8, 165)
_____________ 124 Zur Homogenisierung der Aussprache durch den Buchdruck McLuhan: Die GutenbergGalaxis, S. 288ff.; hier auch zur Problematisierbarkeit der Grammatik die zugespitzte These: „Niemand hat je in einer nicht-alphabetischen Gesellschaft einen grammatischen Fehler begangen“ (ebda., S. 296). Beispiele für das Prinzip ‚Schreibe, wie du sprichst!‘ und für die umgekehrte Parole ‚Sprich, wie du schreibst‘ im 18. Jahrhundert bei Müller: „Schreibe, wie du sprichst!“, S. 32ff. Zu den prinzipiellen Problemen: Krämer: ‚Schriftbildlichkeit’, S. 165. 125 Vgl. Klopstocks Programm einer allgemeingültigen Orthographie in Über die deutsche Rechtschreibung (Klopstock: Sämmtliche Werke. Bd. 9, S. 354f., 358). 126 Vgl. zu Klopstocks freien Rhythmen als „Optik“ Albertsen: Die freien Rhythmen, S. 86ff.; zur „Wiedergewinnung der situativen oder pragmatischen Dimension von Sprache unter Textbedingungen, d. h. unter den Bedingungen ihrer Desituierung“, durch das „Sagen als solches“ vgl. Weimar: Das Wandeln des Wortlosen in der Sprache des Gedichts (Zitate S. 34 u. 36).
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Dies ist nicht der letzte Brief, den Voß und Klopstock austauschen. Sie knüpfen ab 1799 wieder eine kontinuierliche Verbindung (KB 10, 335ff.). Die ungelösten Probleme stehen dabei jedoch nach wie vor im Raum. Immerhin kann Voß einen vierten Lösungsweg ausbauen. Nachdem die drei ersten Schlichtungsversuche durch die Selbstregulierung der Sprache, durch die Demokratisierung von Erfahrung und durch Phonozentrierung der Auseinandersetzung zum Abbruch der Kommunikation geführt haben, bietet sich ein Perspektivenwechsel an, den Voß schon in der ersten Diskussionrunde angedeutet hatte. Er schlägt vor, Klopstocks Hexameter eben als Klopstocks Hexameter, nicht aber als ‚deutschen‘ Hexameter zu verbuchen (KB 8, 159f., 161; KB 10, 27). Anders gesagt: Er individualisiert die Verskunst. Damit steht ihm ein Instrument zur Verfügung, das sich in der kritischen Kommunikation entwickelt hat und das vor dem Hintergrund etablierter Negativität eine prinzipiell positive bzw. interessierte Einstellung zu einem Autor und seinem Werk ermöglicht (3.3 c). Dieser Ansatz schlichtet zwar ebenfalls nicht den Streit zwischen Klopstock und Voß, führt aber von Voß direkt zu Cramer, der sein ‚Verhören‘ dem ‚Verstehen‘ unterordnet. Um diese Brücke zu schlagen, muß man ein zweites Argument hinzuziehen, das Voß, ohne die Konsequenzen zu bemerken, in unmittelbarem Zusammenhang mit der Individualisierung von Klopstocks Verskunst anführt. Es geht dabei einmal mehr um Zeitverbrauch, genauer: um die ‚Länge‘ der ‚Erfahrung‘ (KB 10, 27), die Klopstock im übrigen – ähnlich wie beim Messias (4.1.2) – mit Fragmentarität und Anspruchssteigerung kombiniert.127 Die Dauer, die man zur Ausbildung eines ‚feinen Ohrs‘ braucht128, dient in beiden Diskussionsrunden dazu, die Divergenz der ‚Erfahrung‘ zu zementieren, nur daß dies einmal im Zeichen eines liberalen Gewähren-Lassens, das andere Mal im Zeichen der ultimativen Verschärfung des Streits steht: Ich sehe nicht, wie eine den Sinnen so unterworfene Sache, als der homerische Versbau, solchen Misverständnissen ausgesezt sein kann. Ein Freund, dessen Wahrheitsliebe Ihnen bekannt sein muß, wie seine Liebe zu Ihnen, hat sich Jahre lang mit Homer beschäftigt, wie – ich muß es sagen – wie schwerlich einer in
_____________ 127 Vgl. dazu Gerstenbergs Einleitung zu Vom Sylbenmaasse im ersten Stück der Fortsetzung der Briefe über die Merkwürdigkeiten der Literatur: „Einige von Klopstocks Lesern haben gewünscht, daß die Ausgabe der Abhandlung vom Sylbenmaasse beschleunigt werden möchte, weil ihnen der Abschnitt vom deutschen Hexameter, der vor dem dritten Bande des Messias steht, noch Schwierigkeiten macht. Etwas beschleunigen, dessen Werth grössesten Theils von Enthaltung der Eile abhängt, ist so eine Sache. Das Einzige, wozu Klopstock sich itzt verstehen kann, ist, jenem Fragment hier noch Eins und Andres, tiefer von dem Grundstücke des Baues hergenommen, hinzuzufügen“ (S. 7). 128 Auch dies wäre vor dem temporalisierenden Sinnesdiskurs der Aufklärung zu lesen, der die Leistung der Sinne u. a. über deren allmähliche bzw. je nach Kontext unterschiedliche Ausbildung entwickelt – für das Gehör ist dabei Rousseaus Émile einschlägig (Utz: Das Auge und das Ohr im Text, S. 31f., zum Sehen ebda., S. 21f.).
Johann Heinrich Voß ‚verhört‘ Klopstock
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Deutschland, hat seinen Versbau Vers vor Vers in den kleinsten Fugen nicht Einmal, sondern zum Theil drei- viermal untersucht, und wo die deutsche Sprache nicht folgte, zugleich alle nächsten Rhythmen geprüft; eine seit zehn Jahren fast ununterbrochene Erfahrung hat ihn belehrt, daß je näher er an Homere blieb, desto besser sein Abbild ward, je entfernter, desto schlechter: dieser sagt nun, so und so habe ich Homers Vers ohne Ausnahme gefunden, so auch bei allen seinen Nachfolgern, griechischen u römischen. Und Sie verweisen ihn mit seinen unwiderlegten und unwiderlegbaren Erfahrungen zu den Grammatikern, ohne ihm etwas entgegen zu stellen, als Aussprüche und Beispiele, wie er sie selbst für seine Theorie angeführt, wie er sie Ihnen schon einigemale berichtigt zurückgeschoben hat. Ein ganz anderes ist es, wenn Sie Homers Vers dahingestellt sein lassen, und auch hier, wie überall, sich neue Bahnen ausforschen. Als einen solchen habe ich Sie in meiner Vorrede [zur Georgica-Übersetzung, S.M.] mit gedacht; und war ich je partheiisch, so war ichs für Sie. Was würden Sie dem Kritiker sagen, der den Plan ihres Gedichts darum tadelte, weil er dem Plane der Ilias u der Odyssee unähnlich ist; oder ihre Gedankenfolge, weil sie nicht griechischen Regeln gehorcht? So auch ihr Vers. (KB 8, 161)
Die Ratlosigkeit angesichts der Evidenzlosigkeit des Evidenten führt Voß dazu, Vertrauen zu reklamieren und dieses Vertrauen durch Zeitinvestition abzusichern. Was Voß zur Stärkung der Leserseite unternimmt, erstattet Cramer der Autorenseite zurück. Auch bei ihm wird die Zeitinvestition zum zentralen Argument, aber er verkehrt die Richtung des hierarchischen Gefälles, indem er nicht die Dauer auf die Leserseite und die Individualität auf die Autorenseite schiebt, sondern beides in Klopstock und dessen Werk verbindet. Dies hat freilich auch pragmatische Ursachen, die in der Quellenkenntnis liegen. In Menschliches Leben (1793) schreibt Cramer: Vossen halte ich, nächst mir, für Denjenigen, der in Deutschland am fähigsten, und einzig fähig gewesen wäre, als Commentator dieses Autors mirs gleichzuthun, oder mich zu übertreffen sogar. [...] Aber Biograph Klopstocks konnte nicht Er, konnte keiner in dem Maaße seyn, wie ich. Denn, weder Voß, noch sonst wer, besitzt die Data und Documente dazu, wie ich; – und niemand, selbst von Klopstocks ältesten Freunden, hat länger, forschender, sich durch ihn unterrichtender, vertrauter, sich Alle Beobachtungen aufzeichnender, und von Klopstocks Offenheit und Freundschaft selbst mit allem Nöthigen dazu begünstigter, mit ihm gelebt.129
_____________ 129 Zit. nach Schmidt: „es wird ewig mein Stolz bleiben, daß ich des Stolzes genoßen habe, Ihr Freund zu seyn“, S. 401.
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5.2 Kritische Lösungen: Carl Friedrich Cramer ‚versteht‘ Klopstock a) Die Wahrnehmbarkeit des Werks Daß es keine übersehenswerte ‚Kleinigkeit‘ gebe, kann man zwar behaupten, wie Klopstock das tut, aber dies bedeutet noch nicht, daß die Leser dem Autor darin folgen. Was man sieht oder übersieht, hört oder überhört, hängt ganz wesentlich auch mit der Ordnung des Werks zusammen. Oder genauer: Die Sorge, möglicherweise etwas zu übersehen, was wichtig sein könnte, wird durch ein Werk vermittelt. Dies bedeutet noch nicht, daß Leser das wahrnehmen, was Autoren gern wahrgenommen haben wollen. Aber die Wahrnehmungswahrscheinlichkeit steigt, auch wenn die Hierarchisierungen, die der Autor vielleicht für entscheidend halten mag, dabei möglicherweise auf der Strecke bleiben. Voß läßt Klopstocks Hexameter zwar als eine Versform eigener Provenienz gelten. Ob er sich mit Klopstock jedoch über die Fragen, die angesichts der Verskunst Homers zum Zerwürfnis geführt haben, einigen könnte, bleibt offen. Voß’ Versuch, seinen Streit mit Klopstock durch Temporalisierung zumindest zu beruhigen, läuft letztlich darauf hinaus, die Leitdifferenz richtig / falsch durch die Leitdifferenz interessant / uninteressant zu ersetzen. Der strittige Punkt ist dann nicht mehr, ob Klopstocks Hexameter nach Maßgabe antiker Vorbilder falsch, sondern ob er als spezifische Versform interessant ist. Voß berührt nur die Oberfläche dieser Zusammenhänge, und es dürfte ihm einige Kopfschmerzem bereitet haben, wenn er nicht zuletzt in Wieland den Wegbereiter für diese Umstellung innerhalb der kritischen Kommunikation gefunden hätte: Entscheidend war bei Wieland, daß die gleichsam selektionslose Interessiertheit auf die Historisierung des Gegenstandes hinausläuft. Kleinigkeiten werden dann als Teil der Geschichte bedeutsam (3.3 c). Klopstock bietet zwar viele Anknüpfungsmöglichkeiten für seine eigene Vergeschichtlichung, dennoch wird sie zu wesentlichen Teilen an ihn herangetragen. Nach der (vorläufigen) Fertigstellung seines Lebenswerks in Gestalt des Messias mußte ihm immer deutlicher werden, daß er, gleichsam als Überlebender seiner Generation,130 zu einer historischen Figur avanciert, und dies nicht mehr aus eigenem Antrieb, wie noch in der Gelehrtenrepublik, sondern durch einen unkontrollierbaren, durchaus depoten_____________ 130 Zum Vgl. für den 1724 geborenen Klopstock die Lebensdaten wichtiger Personen in seinem Umfeld: Kleist (1715-1759), Zachariä (1726-1777), Lessing (1729-1781), Lange (1711-1781), Schmid (1716-1789), Gärtner (1712-1791), Ebert (1723-1795), Uz (17201796), Ramler (1725-1798).
Carl Friedrich Cramer ‚versteht‘ Klopstock
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zierenden Zugriff von außen.131 Zum einen setzt die literarische Kultur um Weimar neue Akzente und erhebt neue Machtansprüche, die für Klopstock vor allem mit den Horen sichtbar werden132 – er selbst findet sich z. B. in Schillers philosophisch-ästhetischen Entwürfen behandelt, und mit Goethes Hermann und Dorothea werden ihm die Probleme der Ependichtung in bürgerlichen Zeiten vor Augen geführt.133 Zum anderen tritt die Kommentarbedürftigkeit seiner Werke, über die Klopstock sich schon früh klar ist (KB 2, 231), in vielfacher Hinsicht zutage. Diese Kommentarbedürftigkeit hängt zum Teil mit den sprachlichen Komplikationen zusammen, die Klopstocks Alterswerk prägen, den 20. Gesang des Messias beispielsweise oder die späten Oden.134 Wichtiger aber sind die Verständnisschwierigkeiten, die sich aus dem allmählichen Verblassen eines bestimmten Wissenshorizontes ergeben. Dies wird Klopstock vor allem in der Auseinandersetzung mit Göschen und Böttiger um die Anmerkungen zur Werkausgabe letzter Hand vorgeführt.135 Hier tritt _____________
131 Von hier aus läßt sich die Ode An Freund und Feind, die vermutlich 1781 im Anschluß an die Altonaer Messias-Ausgabe entstand, als Abwehrgeste lesen (KO II, 26). Vgl. zur sich steigernden Distanz zwischen Klopstock und seiner Gegenwartsliteratur KW 7/2, 301ff. 132 Vgl. hierzu vor allem die Epigrammdichtung, z. B. KW 2, 42, 61. 133 Vgl. dazu die entsprechenden Briefstellen in KB 9. Zum Verhältnis von Schiller und Klopstock vgl. KW 7/2, 237ff. 134 Elisabeth Schmidt schreibt an Klopstock am 2. Mai 1764: „Mit den Triumpfgesang geht mirs besonders [,] ich kann gar dies neue Teutsch, u die so besondre Construction nicht verstehn, ich studire mich bald dumm. Dosse hat mirs endlich etwas aufgeklärt, u das es ihm, Dosse, so erstaunlich gefällt, so ist es fast böse daß ichs noch nicht mit der Entzükkung lese wie Ihre andern Werke[.] Alberti u Basedow geben mir Beyfall daß es sehr dunkkel, oder besser sehr hoch. Ich sagte in der ersten Durchlesung, Klopst: hat vergessen daß er u wir noch nicht unter die Engel wären; doch bin ich gewiß es wird mir wohl schmecken wen Sie es mir aufklären[.] Dosse u Bode heißen mich schon gar eine Gottschedianerin [...]“ (KB 4, 232). Für die Schwierigkeiten mit den Oden vgl. Göschens Schreiben an Böttiger aus dem Jahr 1797: „Eben bin ich mit der andächtigen Lektüre der Klopstockschen Oden, Erster Band, fertig und überreiche Ihnen, meine geliebter herzlicher Freund, densleben. Die Folge des Manuskripts ist ebnso lyrisch als der Zusammenhang der Gedanken. – Der Stellen, die mir dunkel geblieben sind, sind sehr wenig, und ich sehe, es bedarf der Noten weniger als ich fürchtete. Ob aber alle Leser Klopstocken so gut verstehen werden als sein Verleger, daran zweifle ich. – Für solche Leser wäre es dann wohl gut, wenn Sie hie und da noch eine Stelle mehr, als ich Ihnen angegeben, in den Noten in einer natürlichen prosaischen Wortfolge auflöseten. Mich soll wundern, ob Sie die paar Stellen, welche mir ganz dunkel geblieben sind, mir enträtseln können. – Ich glaube, daß Sie kein kleines Verdienst um Welt und Nachwelt sich erwürben, wenn Sie bei den schweren Oden in den Anmerkungen die Folge der Ideen und den ganzen Inhalt, so kurz und deutlich als möglich, in Prosa gäben. Da Klopstock noch lebt, dies mit seiner Zustimmung gemacht würde, so wäre dieses ein dokumentartiger Kommentar, der nicht trügen könnte“ (Gerhardt: Karl August Böttiger und Georg Joachim Göschen im Briefwechsel, S. 31). 135 Zu dieser Werkausgabe vgl. Füssel: Studien zur Verlagsgeschichte und zur Verlegertypologie der Goethe-Zeit, S. 131ff., der Klopstocks Werke, in Anlehnung an eine Formulierung Göschens (ebda., S. 131), ein „Monumentum Typographicum“ nennt. Zum Streit um die Anmerkungen ebda., S. 134f.
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Klopstock, der die ‚Scholiasten‘ in der Gelehrtenrepublik bloßstellt (KB 7/1, 105, 117f., 170), als ‚Scholiast‘ seiner selbst auf, um Fremdkommentierung zu verhindern (KB 9, 314).136 Man macht ihn „zu einem Alten“ und erklärt ihn „dadurch [für] todt; denn bekanntlich sind die Alten gestorben“ (KB 9, 134). Ziel ist aber gerade nicht eine ‚gelehrte‘ Ausgabe, vielmehr sollen die gelehrten Verfahren der Textaufbereitung den ungelehrten Lesern, vertreten durch die „Frauen“ bzw. „Weiber“ (KB 9, 150), dienen. Daraus resultieren technische Probleme, z. B. die Frage, wie die Anmerkungen so mit dem Text koordiniert werden können, daß sie den Eindruck einer Leseerleichterung vermitteln (KB 9, 93).137 Inhaltlich wünscht sich dabei die Verlegerseite vom Autor neben Worterläuterungen auch Kommentare zur jeweiligen „Veranlaßung“ der Oden oder zu den „Zeitund Ortsverhältnisse[n]“, um „alle Anspielungen verstehen zu können“, kurzum: „Anmerckungen für Menschen die nicht genug litterarische Notizen aber viel Gefühl und Sinn haben Ihre Oden zu genießen“ (KB 9, 91, 151, 171). Daß Göschen sich, wie in der zitierten Briefstelle, zunächst um die Oden kümmert138, ist ein weiteres Indiz für eine historische Veränderung der Präferenzen (KB 9, 487; KW 4/3, 336; 5.4.2 c), die sich mit der OdenRezension in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen von 1772 ankündigt und Klopstocks Werkverständnis, das den Messias ins Zentrum bzw. auf die Spitzenstellung setzt, zuwiderläuft (5.4.2 c). Generell steht dabei einerseits die Frage im Hintergrund, wie das Gesamtwerk in einer Werkausgabe _____________ 136 Erneut steht Klopstocks Lakonismus einer Erläuterung im Weg: Göschen versucht über Böttiger vergeblich, Klopstock zur Vermehrung der Anmerkungen zu bringen, und plant sogar – Klopstock übergehend – einen Kommentarband, der nicht zustande gekommen ist (Gerhardt: Karl August Böttiger und Georg Joachim Göschen im Briefwechsel, S. 461f.). 137 Göschen setzt sich schließlich durch: Die Anmerkungen zu den Oden werden am Ende des Bandes zu den jeweiligen Gedichttiteln geordnet (KB 9, 432). 138 Göschen erwirbt zunächst das Verlagsrecht an den ‚Gesammelten Oden‘ und will seine Klopstock-Werkausgabe dann auch mit dem Oden-Band beginnen (Gerhardt: Karl August Böttiger und Georg Joachim Göschen im Briefwechsel, S. 10; Füssel: Studien zur Verlagsgeschichte und zur Verlegertypologie der Goethe-Zeit, S. 131ff.). Vgl. hier auch die Probleme Göschens mit den späten Oden Klopstocks: „Die Oden von 1782 sind schwer an Gestalt, aber auch schwer zu verstehen. Das muß ein dunkles Jahr gewesen sein und dem armen Klopstock viele Krämpfe gemacht haben. Die Ode ‚Delphi‘ soll freilich ein dunkles Orakel sein; aber was zu arg ist, ist doch zu arg. Die Singulare und Plurale liegen da so verwirrt durcheinander, es fehlen so viele Artikelverbindungen, daß man nicht weiß, woran man sich zu halten hat. Ich habe diese Ode abgeschrieben und Klopstock gefragt, was die Pythia wohl meint in drei oder vier Strophen“ (Gerhardt: Karl August Böttiger und Georg Joachim Göschen im Briefwechsel, S. 32; Füssel: Studien zur Verlagsgeschichte und zur Verlegertypologie der Goethe-Zeit, S. 136f.). Genauso wichtig aber ist, daß Göschen sich beim Lehrling der Griechen fragt, was wohl mit „Singer“ gemeint sein könnte, daß also die für Klopstocks Frühwerk wichtige und oft zitierte englische Autorin nicht mehr zum gängigen Inventar gehört, weswegen Göschen meint, „Sänger“ wäre doch passender – Herder klärt ihn dann auf (KB 9, 90).
Carl Friedrich Cramer ‚versteht‘ Klopstock
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geordnet werden soll. Dabei kommen konzeptionell und faktisch unterschiedliche, zum Teil gattungsspezifische Ordnungsmuster ins Spiel, etwa bei der Nachordnung der ‚theoretischen‘ oder ‚prosaischen‘ Schriften gegenüber den ‚poetischen‘ (z. B. KB 9, 106, 391)139 oder bei der eher konstellativen Ordnung der Epigramme im Unterschied zur chronologischen Ordnung der Oden.140 Andererseits müssen Verleger und Autor bestimmen, welchen Umfang ein Werk überhaupt hat, wobei die Integration der Hinterlaßnen Schriften von Margareta Klopstock in Klopstocks ‚Werke‘, die allerdings erst 1816 erfolgt (KB 10, 459), eine entschiedene Komplikation darstellt – Göschen wollte die Schriften Meta Mollers ursprünglich gemeinsam mit einer Klopstock-Biographie von Carl Simon von Morgenstern veröffentlichen.141 Der Wunsch nach ‚vollständigen‘ Ausgaben wird jedenfalls sowohl von verehrenden Klopstock-Lesern (KB 8, 13) als auch vom kalkulierenden Klopstock-Verleger an den Autor herangetragen. Denn je umfassender eine Ausgabe ist, desto weniger kann ein Nachdrukker durch Vermehrung der Schriften einen Vorteil herausschlagen (KB 9, 211; 5.4.2 a). Für Klopstock spielen wohl vor allem Gesichtspunkte literarischer Wertigkeit eine Rolle, aber vielleicht auch Aspekte literaturgeschichtlicher Einordnung, wenn er z. B. die Schriften zur Orthographiereform oder die Polemik gegen Bürger unter den Tisch fallen lassen will – Klopstock urteilt als „Kenner der gelehrten Geschichte“ über diese wenig publikumswirksamen Schriften (KB 9, 47f.).142 Eines jedenfalls ist für ihn klar: „als Anhang oder Suplement gebe ich nichts heraus“ (KB 9, 48). Klopstock reagiert damit auf den Vorschlag, die „grammatischen Schriften“, die „Gelehrtenrepublik u.s.w. als Supplementbände“ erscheinen zu lassen, und zwar in Analogie zu Wielands Werkausgabe (KB 9, 37; KW 7/2, 306). Wieland markiert damit ein bestimmtes Konzept von Werkförmigkeit, gegenüber dem Klopstock sich positionieren mußte (3.3 c). Ob es um die „ganze Sammlung“ von Klopstocks „Werken“ und deren Bezahlung geht (KB 9, 37), um die Beifügung von Varianten (KB 9, 116)143, um die Wahl der Lettern (KB 9, 59) oder um Formatierungsfragen _____________ 139 Vgl. zu Göschens Zweifeln bezüglich der von Klopstock geschätzten Gelehrtenrepublick auch Gerhardt: Karl August Böttiger und Georg Joachim Göschen im Briefwechsel, S. 57. 140 Vgl. dazu die Informationen zum siebten Band der Werkausgabe in KW 2, 129ff. 141 Füssel: Studien zur Verlagsgeschichte und zur Verlegertypologie der Goethe-Zeit, S. 138. 142 Vgl. dazu auch Göschens Anfagen, „ob Sie nicht für gut hielten eine Tabelle anzuhängen, worin in einer Rubrik die mit den Oden in Verbindung stehenden politischen in der zweyten die biographischen Denkwürdigkeiten des Dichters in der dritten das Jahr und datum der Oden aufgeführt würden“ (KB 9, 116). Zur chronologischen Ordnung der Oden vgl. KB 9, 180, 205; KW 2, 132. 143 Vgl. dazu auch Göschens Brief an Böttiger vom Anfang des Jahres 1798: „Ich denke wir geben die Varianten, ohne ihn zu fragen. – Doch nein; ich will lieber erst anfragen: denn ich möchte den ehrwürdigen Alten nicht kränken. / Das chronologische Register der Oden
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(KB 9, 63): Immer ist Wieland der entsprechende Vergleichsfall. Dies gilt schließlich auch für die Frage einer biographischen Aufbereitung des Werks, die die Wieland-Ausgabe ja gleichsam in sich aushandelt (KB 9, 48, 105). Anders als Wieland verhielt sich Klopstock bekanntlich programmatisch zurückhaltend gegenüber dem Projekt einer Autobiographie,144 wurde aber immer wieder damit konfrontiert (z. B. KB 7, 56; KB 8, 94). Immerhin zeigt er sich dazu bereit, einem Biographen Informationen zu übermitteln (KB 6, 38f.). Vor allem Ebert tritt mit dem Wunsch nach einer Lebensbeschreibung von der Hand des Messias-Dichters an ihn heran (z. B. KB 5, 147). Dies ist aus zweierlei Gründen aufschlußreich: zum einen, weil Wieland offensichtlich mit seiner Noah-Abhandlung auch der Sekundärliteratur ein Paradigma vorgegeben hat (KB 6, 92; KB 7, 86; 3.3 c); zum zweiten, weil der biographische Bezug das Interesse auch an poetisch vielleicht für minderwertig eingeschätzten Werken fördert (vgl. 5.4.2 – Exkurs).145 Von daher ist es verständlich, daß zur Werkausgabe eine Biographie in Auftrag gegeben wird,146 denn die Biographie macht das Gesamtwerk für das Verständnis des Autors wichtig (5.4.1). Diese Haltung setzt sich im Laufe des 19. Jahrhunderts nur allmählich durch, was noch einmal die enormen Schwierigkeiten markiert, die – wie schon bei Wieland zu sehen – die Umstellung der Werkordnung auf ein historisches Interesse und damit auf ein Lebenswerk begleiten. Für Klopstock wichtig ist dabei neben der Auswahl aus Klopstocks nachgelassenem Briefwechsel und übrigen Papieren (1821) von C. A. H. Clodius die Herausgabe von Klopstocks sämmtlichen sprachwissenschaftlichen und ästhetischen Schriften, nebst den übrigen bis jetzt noch ungesammelten Abhandlungen, Gedichten, Briefen etc. (1830) durch A. L. Back und A. R. C. Spindler. In einer ausführlichen Begrün_____________
ist ein vortrefflicher Einfall. Ich werde ihn Klopstock vorschlagen“ (Gerhardt: Karl August Böttiger und Georg Joachim Göschen im Briefwechsel, S. 50). Am 5. Aug. 1799 meldet Göschen dann: „Ich habe, wie billig, Klopstock machen lassen, was er für gut fand. Er hat die Varianten nicht gegeben, und ich habe nicht gefragt, warum?“ (ebda., S. 83). 144 Vgl. dazu KB 7, 55f., sowie die Textzusammenstellung aus dem Nachlaß Warum Klopstock sein Leben nicht geschrieben habe (Klopstock: Sämmtliche Werke. Bd. 10, S. 278ff.): Gegen das Verfassen der Autobiographie spricht der Eitelkeitsverdacht, dafür die notwendige Korrektur kursierender Gerüchte. Punkturelle biographische Informationen präsentiert Klopstock in der Edition der Schriften Meta Mollers und in der dazugehörigen ausführlichen Einleitung. 145 Vgl. den Brief von Ebert an Klopstock vom 3. April 1771: „Daß Sie mir ja keine von Ihren jüngern Oden, worinn Sie sich schon so sehr characterisiert haben, auslassen [...]. Sie dürfen ja nur das Jahr darüber setzen, wenn sie gemacht sind, wenn dieß zur Entschuldigung einiger jugendlich-enthusiastischen Stellen nöthig seyn sollte“ (KB 5, 267). 146 Göschen schreibt an Böttiger am 14. November 1803: „An Klopstocks Leben arbeitet Ebeling – dem Klopstock es aufgetragen hat“ (KW 2, 131 – Christoph Daniel Ebeling war Klopstocks Nachlaßverwalter, s. KW 2, 129f.).
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dung ihres Unternehmens machen Back und Spindler nämlich deutlich, wie die chronologische Ordnung, das Interesse am Autor und ganzheitliches Verstehen eines Werks mit einer entsprechenden Entsagungsbereitschaft in Qualitätsfragen zusammenhängen, und dies u. U. auch gegen die ausformulierte Intention des Urhebers: Als im Jahr 1823 bey Göschen in Leipzig Klopstocks sämmtliche Werke erschienen, erwartete das Publicum darin eine Sammlung aller von diesem Meister der deutschen Dichtkunst und Sprache früher im Druck erschienenen Schriften mit vollem Recht. Denn gesetzt auch, Klopstock hätte selbst einmal durch mündliche oder schriftliche Äußerungen zu erkennen gegeben, daß irgend eine seiner Schriften nicht auf die Nachwelt kommen möchte [...]; so ist uns doch, wie jedes der Tiefe seines frommen und kühnen Gemüths und seines hellsehenden Geistes entströmte Wort, so besonders jede vielseitig erwogene und mit scharfem Blick verfolgte Idee [...] selbst in ihren Veirrungen, ein zu wichtiges und heiliges Kleinod, als daß wir sie, so lange ihre Erhaltung noch in unsrer Macht steht, untergehen lassen sollten. [...] Und dies [das Verlangen nach Rettung von Klopstocks ‚sämtlichen‘ Werken, S.M.] nicht blos aus blinder Liebe zu dem Homer oder Alcäus des deutschen Volks, sondern weil es die Wichtigkeit auch dieser in die geheime Werkstatt des Dichters einführenden Abhandlungen, und zum Theil nicht poetischen Erzeugnisse gar wohl erkannte. [...] theils zeigen sie [die hier aufgenommenen verstheoretischen Abhandlungen, S.M.] deutlich, wie nach und nach der Dichter zu jenen umfassenderen Resultaten gelangt ist, und sind also geschichtlich schon merkwürdig und wichtig; theils enthalten sie manche nicht unbedeutende Bemerkung, die in der größeren Abhandlung unberührt bleiben mußten.147
In die gleiche Richtung deutet T. W. Danzels Stellungnahme zur Gelehrtenrepublik, die ja von vielen Seiten aus mit Ablehnung quittiert wurde. Im 19. Jahrhundert – so kann man Danzel reformulieren – stehe man „nachgerade vermöge der bloßen allgemeinen Zeitbildung schon auf dem Standpuncte [...], dergleichen Dinge rein historisch aufzufassen, und wenn wir sie auch nicht sogleich zu erklären wissen, sie wenigstens in der Überzeugung, daß sie sich erklären lassen, einstweilen ruhig an ihren Ort zu stellen“ – es sei eine „gar sehr gründliche Einsicht in den Gang der deutschen Literatur erforderlich [...], um ihr Entstehen nur nicht ganz unbegreiflich zu finden“.148 Wie genau der historisch interessierte Blickwinkel, bevor er ein Eigenrecht bekommt, zunächst auf die Aporien der kritischen Kommunikation reagiert, ohne sich daraus gänzlich ableiten zu lassen, demonstriert Gottfried Benedict Funk, als er in einem Schreiben vom 1. August 1762 Klop_____________ 147 Klopstock, Friedrich Gottlieb: Sämmtliche sprachwissenschaftliche und ästhetische Schriften. Bd. 1, S. Vf., VIII, XII – Back und Spindler verstehen ihre Ausgabe, die bei Friedrich Fleischer in Leipzig erscheint, als Fortsetzung der „Göschenschen Taschenausgabe“ (ebda., S. XIV). 148 Danzel: Gottsched und seine Zeit, S. 390 (zuerst 1848).
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stock über eine neuerliche Kritik in Gottscheds Zeitschrift Das neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit tröstet. Um nämlich den verehrten Dichter aus den Fängen der Literaturkritik zu befreien, entwirft Funk ein Szenario, wie die „Menschen oder vielmehr die Gelehrten“ mit Klopstock „im 30sten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung“ umgehen werden: Erst alsdann, wenn man aus Ihren Werken beweisen wird daß das Partic. von erschrecken heißt erschrocken u. von singen das Imperf. sang etc. Was der für ein großer Mann war der alles das wußte! Dann wird es ein Verdienst seyn zu wißen, daß Sie an einem Orte geboren sind, der Quedlinburg hieß, durch deßen fruchtbare Auen ehedem die Buda ihren Strom wälzte, von dem nunmehr, gleich dem Euphrat in der Gegend von Babylon, nichts mehr zu sehen ist, als ein kleiner nichtswürdiger Bach, der ungefähr in derselben Gegend fließt. [...] Da findet man vielleicht in einem Fragmente eines alten Scribenten, daß Ihr Grabmaal unweit dem Orte befindlich gewesen, wo ehemals Hamburg gelegen hat (wenn nicht etwa binnen der Zeit die See eine Eroberung macht, u. die ganze Gegend wegschwemmt.) Ein Gelehrter aus Astrachan, oder der Himmel weiß, wo sonst her, nachdem er aus allen Autoren alle Stellen, wodurch die dasige Geo- u. Topographie ein Licht bekommen kann, mit sauerer Mühe zusammen gesammelt hat, unternimmt eine Reise dahin, gräbt und findet ein altes Stück Stein u. schließt gar listig aus einigen Löchern, welche die Zeit u. der Regen hinein gemacht haben, daß hier ihr Name Klopstock gestanden hat, u. viele Dinge mehr, die er theils erräth, u. theils aus Gewißenhaftigkeit, nicht allzuviel zu erdenken, unerrathen läßt. Der Stein wird (mit einigen nöthigen Veränderungen) in Kupfer gestochen u. in die Acta eruditorum astrachanensium eingerückt; und nun fallen die Herren Gelehrten sämtl. darüber her u. füllen mit großem Fleiße die hiatus vollends aus, die der erstere gelaßen hatte. [...] Wer weiß, unternimmt nicht gar einer eine Reise nach Seeland, um in den Trümmern eines Landhauses nachzugraben, welches, wie der oder jener sehr gründl. in einer Dissertation erwiesen, dem berühmten Mäcen Bernstorff zugehört hat. Was er findet, kann ich nicht wißen; vielleicht [...] einen Bratspieß. [...] Es ist doch immer etwas, daraus sich wenigstens die res culinaria von Uns Alten erläutern läßt; wo man anders scharfsinnig genug ist, zu entdekken, daß es ein Bratspieß gewesen. Wie wird man vollends in alen möglichen Büchern nach Ihren Lebensumständen forschen. Da beweist man vielleicht aus einigen Oden, die Ihnen zugeschrieben werden, über deren Verfaßer die Gelehrten aber noch nicht einig sind, daß Sie zwey Gemahlinnen (den Gemahlinnen werden es seyn;) gehabt haben, davon die eine Fanny u. die andre Cidli hieß. Ewig Schade, daß man nicht das eigentliche Jahre Ihrer Verheyrathung weis! Was das für eine Lücke in dem menschlichen Verstande u. in den Gelehrtenlexicis u. Biographien macht! [...] ich muß gestehen, daß ich nur so gedankenreich bin, wenn ich meinen Kopf eben von Gottscheds Neustem voll habe. (KB 4, 156f.)149
Klopstock dürfte diese Perspektive durchaus vertraut gewesen sein, denn er ist ja selbst davon überzeugt, daß „unser Jahrhundert [...] gewiß die _____________ 149 Vgl. zu diesem altertumskundlichen Ansatz auch Klopstocks Beschäftigung mit den „Denkmalen der Deutschen“ und mit der „Geschichte unsrer Sprache“ in der Gelehrtenrepublik (KW 7/1, 129ff., KW 7/2, 76ff.).
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Aufmerksamkeit der künftigen beschäftigen“ wird (KB 5, 165). Wichtiger aber ist: Das Szenario des Kulturverfalls und der von nachfolgenden Kulturen gestarteten Erforschung der „Alten“, das auch Wieland für seinen Wechsel von der kritischen zur interessierten Kommunikation nutzt (3.3 c), mußte sich nicht oder zumindest nicht so dramatisch realisieren. Viel schneller, als Funk sich das vorstellen wollte oder konnte, beginnt die Dokumentierung von Klopstocks Leben und Werk und die Sicherung der Quellen.150 Der Autor wird ohne weiteren Zeitverlust erforschungswürdig bzw. interessant. An die Stelle von Funks Ausflug zu den Gelehrten aus Astrachan und seiner Imagination weit abgelegener Zeiten tritt die sich im Laufe des 18. Jahrhunderts rapide entwickelnde Kunst der kontraintuitiven Lektüre, die die Argumentationsbestände der sich selbst unterlaufenden Literaturkritik übernimmt. Diese Vision eines in allen Details interessanten Gegenstandes entspringt vermutlich nicht zufällig einem Kopf, der Jura, klassische Philologie und Philosophie studiert hat, dann zunächst als Hauslehrer und schließlich als Rektor der Magdeburger Domschule tätig war (KB 3, 280f.). Denn tatsächlich ist es – grob verallgemeinert – der juridische Diskurs, der Täterschaft problematisiert151, der philologische Diskurs, der Texte problematisiert, der philosophische Diskurs, der Sinn problematisiert, und der pädagogische Diskurs, der diese Probleme dann jungen ‚Menschen‘ stellt. Funks pädagogische Schriften, die teilweise im Nordischen Aufseher, an dem auch Klopstock mitarbeitet, erscheinen, sind in dieser Hinsicht aufschlußreich, weil sie die Etablierung von Negativität dokumentieren. Funk entwirft ein Erziehungsmodell, das auf der Akzeptanz kindlicher Unruhe und auf dem produktiven Umgang mit dieser „Lebhaftigkeit“ basiert, um den „Widerstand“ gegen Erziehung möglichst gering zu halten.152 Die Veränderung der Machtform von Erziehung prägt auch Funks Gedanken von dem Nutzen richtig getriebener Philologie in den Schulen: Einerseits schließt er darin an das traditionelle Modell vom Sprachenunterricht als Realienvermittlung an.153 Andererseits geht es ihm um ‚Bildung‘, d. h. um die Ausprägung von Wissensformen und einer entsprechenden Agilität. _____________ 150 Im Prinzip begleitet dieses Interesse an der Person Klopstocks und die Entsprechende Einholung von Information seine gesamte Autorschaft (Küster: Das Problem der „Dunkelheit“ von Klopstocks Dichtung, S. 67f.). 151 Zum philologischen und detektorischen Verhalten vgl. Verf.: Der Autor als Verbrecher. 152 Funk: Schriften. Erster Theil, z. B. S. 96f. (Von der Musik als einem Theile der guten Erziehung). Vgl. in diesem Kontext auch Hirsch: Klopstock und die Pädagogik des XVIII. und XIX. Jahrhunderts, S. 126ff., der die Beziehung der Halleschen und Dessauischen Schuleinrichtungen zu Klopstock beschreibt. 153 Z. B. Funk: Schriften. Erster Theil, S. 249f. Vgl. zu diesem alteuropäischen Modell von Gelehrsamkeit vgl. Stichweh: Der frühmoderne Staat, S. 43ff.
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„Schwierigkeiten“, die der altsprachliche Unterricht zu bieten hat, sind daher nur dann problematisch, wenn sie den „Urtrieb des Menschen“ zur Überwindung von Problemen methodisch unangemessen, nämlich nicht „der Natur der Sache“ gemäß, ins Spiel bringen. Wenn hingegen der Lehrer die „richtige[ ] Succession der Ideen“ und die richtige „pädagogische[ ] Fortschreitung bey‘m Unterrichte“ beachtet154, wird der Schüler durch Philologie aufs Leben vorbereitet. Denn: „Schwierigkeiten überwinden ist das beständige und wichtigste Geschäft unsers ganzen, so wohl moralischen als bürgerlichen Lebens [...]“.155 Aus diesem Grund ist auch die Beschäftigung mit den antiken Ursprüngen unserer Kultur so wichtig. Während nämlich z. B. aktuelle philosophische Schriften, wie Gottscheds Weltweisheit, den Schüler mit ‚wahren‘ und ‚vollständigen‘ Kenntnissen versorgen, läßt sich aus Platons oder Ciceros Werken das Philosophieren selbst erlernen. Unstreitig bildet man den Geist weit mehr durch den Umgang mit einem Autor, der gewisse Wahrheiten zuerst erfand und an den Tag brachte, als durch das Lesen Desjenigen, der solche bloß zum gemeinen und alltäglichen Gebrauche verarbeitet [...]. Denn jener führt uns den Weg, auf welchen er selbst zu ihrer Erkenntniß gelangte [...]. Von dem Letztern lernt man bloße Gedanken, aber der Erstere lehrt uns zugleich denken. Und eben hierin liegt Dasjenige, was den Hauptvorzug der wenigen sogenannten Originalwerke ausmacht [...].156
In Funks Pädagogik verbindet sich die Akzeptanz von Positionswechsel und Wandelbarkeit mit dem Faible für ‚Schwierigkeiten‘ – eine bessere Voraussetzung für die Beschäftigung mit Klopstock läßt sich kaum denken, und so ist es dann vielleicht auch kein Zufall, daß Funk in Kopenhagen der Hauslehrer Cramers war, eben des ersten Klopstockphilologen.157 _____________ 154 155 156 157
Funk: Schriften. Erster Theil, S. 245f. Funk: Schriften. Erster Theil, S. 241f. Funk: Schriften. Erster Theil, S. 280f. Zur Erziehung Carl Friedrich Cramers vgl. Funks Brief an dessen Eltern aus der ersten Kopenhagener Zeit: „Des Morgens ungefähr um 8 Uhr kömmt Carl [...] zu mir. Ich bereite ihn durch ein kleines Gespräch zum Gebete vor, welches ich gleich darauf mit ihm, und allemal in einer andern Formel verrichte, damit er mehr mit dem Verstande und Herzen, als mit dem Munde beten lerne. Darauf erkläre ich ihm eine kurze Sittenlehre, mehrentheils aus dem Salomo, und lasse sie ihn im Gedächtnisse behalten. Dieß währt ungefähr eine halbe Stunde, und nun lasse ich ihn eine Stunde von mir gehen. Wenn er wiederkömmt, beschäftigen wir uns mit dem Lesen, und zur Belohnung erzähle ich ihm eine biblische Geschichte, die ich ihm auf sein Bitten immer drey bis 6er Mal wiederholen muß. Hierüber verfließt wieder eine Stunde. Ich lasse ihn eine Stunde von mir, und wenn er wiederkömmt, frage ich ihn um die vorher erzählte biblische Geschichte; wo ich sehe, daß er etwas nicht recht gefaßt oder wieder vergessen hat, helfe ich ihm. Dieß nimmt ungefähr eine halbe Stunde weg, und hierbey lassen wir es den Vormittag bewenden. – – Um 3 Uhr kömmt mein Carl wieder. Ich erkläre ihm den orbem pictum lateinisch, und lasse ihn lateinisch lesen. – Nach 4 Uhr erzähle ich ihm wieder etwas aus der allgemeinen Geschichte oder ein paar Fabeln, und wiederhole das Vornehmste, was wir den Tag über gehabt haben, und so be-
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Von hier ausgehend möchte ich im folgenden darstellen, wie die kritische Kommunikation sich auch im Blick auf Klopstock zu einer philologischen wandelt und dabei erneut die Sichtbarkeit des ‚Werks‘ verändert. Die Vermittlung zwischen Literaturkritik, Philologie und Poesie habe ich oben am Beispiel von Wielands historisch interessierter und temporalisierter (Selbst-)Beobachtung von Literaturgeschichte, Autor und Werk entfaltet (3.3 c). Für Klopstock haben dies Cramers teils monumentale Klopstock-Bücher aus den 70er, 80er und 90er Jahren des 18. Jahrhunderts unternommen. In ihnen formieren sich typische Gegenstands- und Darstellungsformen, über die sich die Neuphilologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etabliert: der Kommentar, die Biographie, die Monographie sowie die Edition.158 b) Cramers Klopstock-Lektüren Cramer, Theologe mit Studium in Göttingen und Mitglied des ‚Göttinger Hains‘, ist von 1775 an Professor der griechischen und orientalischen Sprachen sowie der Homiletik an der Universität Kiel. 1794 wird er seiner Revolutionsbegeisterung wegen aus dem Amt entlassen und siedelt 1795 nach Paris um, wo er als Buchhändler, Buchdrucker, Verleger und Schriftsteller arbeitet.159 Auch Cramer bekommt, wie Voß, von Klopstock eine Ode gewidmet: Die Sprache. An Karl Friedrich Cramer (1782). Das Gedicht handelt, anders als das in der Voß-Ode der Fall war, in keiner Zeile direkt von Cramer, sondern beschäftigt sich in poetischer Form mit Klopstocks Prinzip, daß nur die gesprochene Dichtung das eigentliche Potential der Poesie befreie, verbunden mit der Warnung an den Dichter, das ‚Gedachte‘ auch völlig in Wortbewegung umzusetzen: _____________
schliessen wir den Tag“ (Funk: Schriften. Zweyter Theil, S. 308f.). Zur protophilologischen Beschäftigung mit neuerer deutscher Literatur im Umfeld Cramers vgl. Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, S. 347f. – Weimar setzt Cramer an den „Anfang“. Die wenigen Hinweise auf u. U. beispielgebende Kommentierungsverfahren könnte man ergänzen um die Kommentarpraxis bei Bodmer, Breitinger und in deren Umfeld, etwa in ihrer Opitz- oder Milton-Ausgabe oder in Einzelkommentaren wie im Fall der Critischen Betrachtungen über des Herrn von Hagedorn Ode auf den Weisen (SCPS 1743, 8. St., S.21-32). 158 Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, S.393ff., 448ff. 159 Vgl. für den hier interessierenden Zeitraum ausführlich: Krähe: Carl Friedrich Cramer (1907), inbes. S. 134ff., 162ff.; zu Cramers Verhältnis zu Klopstock im Überblick vgl. Schmidt: „es wird ewig mein Stolz bleiben, daß ich des Stolzes genoßen habe, Ihr Freund zu seyn“ – dort auch Hinweise auf Klopstock-Interpretationen, -Darstellungen und Kommentare von Cramer, insbesondere zu seinen Übersetzungen, die ich im folgenden nur streife.
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Des Gedankens Zwilling, das Wort scheint Hall nur, Der in die Luft hinfließt: heiliges Band Des Sterblichen ist es, erhebt Die Vernunft ihm, und das Herz ihm! (KO II, 37).
Aber auch der „Hörer“ kommt in der Ode vor, und tatsächlich bietet sich dieser Passus an, um einen Bezug zu Cramer herzustellen: Dem Erfinder, welcher durch dich des Hörers Seele bewegt, that die Schöpfung sich auf! Wie Düften entschwebt, was er sagt, Mit dem Reize der Erwartung, Mit der Menschenstimme Gewalt, mir ihrem Höheren Reiz, höchsten, wenn sie Gesang Hinströmet, und inniger so In die Seele sich ergießet. (KO II, 37)
Womit also hat Cramer sich als Vorzeigekandidat für den Typus des empfänglich-empfindlichen Hörers qualifiziert, der sich dem „Reize der Erwartung“ auf vorbildliche Weise hingibt? In seiner akademischen Zeit veröffentlicht Cramer zwei ebenso umfangreiche wie erfolglose160 Werke zu Klopstock: zunächst die zwei Teile von Klopstock. In Fragmenten aus Briefen von Tellow an Elisa in den Jahren 1777 und 1778, danach eine Folge von fünf monumentalen Bänden unter dem Titel Klopstock. Er; und über ihn zwischen 1780 und 1792 (KB 7, 302).161 Sein Unternehmen besteht, kurz gefaßt, darin, Klopstock „ganz bis aufs kleinste zu verstehen“.162 Der Autor scheint damit einverstanden gewesen zu sein, jedenfalls werden beide Werke von ihm unterstützt, indem er Manuskripte, biographische Hinweise, Deutungen und andere Handreichungen zur Verfügung stellt. Cramers erstes Klopstock-Buch bietet – wie der Untertitel ankündigt – eine Sammlung ungeordneter „Fragmente“ zu Klopstocks Leben in Form von Anekdoten und Elementen einer Charakteristik sowie Erläuterungen zu Klopstocks Werk. Die Werkerläuterungen in meist paraphrasierender Form gelten vornehmlich einigen Oden sowie einer beinahe durchgehenden Kommentierung des 20. Messias-Gesangs, wobei auch diese Bemerkungen keinem konsequenten Kommentierungsprinzip fol_____________ 160 Krähe: Carl Friedrich Cramer (1907), S. 184. 161 Auch in seinem Klopstock-Übersetzungen ins Französische und in anderen Werken ediert und kommentiert Cramer den Messias-Dichter und versieht in mit Anmerkungen zum Werkkontext (Bezüge zwischen verschiedenen Werken Klopstocks) sowie zum literaturgeschichtlichen Kontext (Bezüge zwischen Klopstocks Werken und den Werken antiker Dichter) (KB 10, 450). 162 So Cramer am 13. November 1782 (KB 7, 254).
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gen. Sachkommentare stehen neben Anweisungen zur Deklamation, Bibelstellenverweise neben Querverweisen in Klopstocks Gesamtwerk oder im behandelten Werkteil, biographistische Anmerkungen neben Aperçus zur metrischen Gestaltung, grammatische Erklärungen neben Hinweisen auf sprachliche Eigenheiten. Entsprechend unsicher ist Cramer sich hinsichtlich des möglichen Adressatenkreises: Er widmet die Fragmentensammlung Julie Sophie, Gräfin von Holk, die die Stelle aller empfindsamen Leser und vor allem Leserinnen vertritt; aber zugleich ist klar, daß ein Teil der Informationen an den Interessen dieses Publikums vorbeigeht: „Verschiednes wissenschaftliche dürfte in diesen Fragmenten eigentlich nur für Gelehrte seyn“ (TF 189).163 Der Adressierungsunsicherheit korrespondiert wiederum die Erwartung negativer Kritik, dies teils wegen des Sujets, weil also Klopstock und seine Bewunderer generell von bestimmten Parteiungen getadelt werden,164 teils aber rechnet Cramer auch der Konzeption wegen mit Ablehnung: „[...] so unerfahren bin ich auch nicht“, merkt er an einer Stelle an, „daß ich nicht voraussähe, wie mancher Lacher und Lächler drüber lachen und lächeln wird“ (TF 151), und gegen Ende des zweiten Teils der Sammlung heißt es, er wisse, „wie schnippisch lächelnd gewisse Leute diese Fragmente lesen werden“ (TF 453). Zwar gilt dieser Mokerieverdacht eher der gelehrten Leserabteilung, doch rechnet Cramer bei seinen empfindsamen Lesern ebenfalls mit Irritationen. In einer Zwischenbemerkung Tellows an seine Briefpartnerin Elisa in einem Fragment über die Kunst der Deklamation rechtfertigt er sein Vorgehen in vorauseilendem Bewußtsein der Adressatenenttäuschung: Brr! welche Spitzfindigkeiten und Mikrologien! wirst du sagen, Liebe, aber ich konnte dir nicht helfen; wir müssen die Schale abmachen, ehe wir den Kern essen können, und willst du Teonen [d.i. Klopstocks Ode Teone, S.M.] verstehen, so mußte ich dich durch solche Dornen durchführen. Glaube mir auch: eigentlich ist alles oder nichts auf der Welt Mikrologie. (TF 113)
Das Problem liegt tatsächlich darin, daß Cramer mit dem entsagungsvollen Studium der Gelehrten an Klopstock herangeht, „Scholiasten-Arbeit“ _____________
163 Vgl. zur Adressatenunsicherheit sowie zur Pluralität der Motivation der Auseinandersetzung mit ‚deutscher Literatur‘ im Kontext der gelehrten Tradition Kolk: Liebhaber, Gelehrte, Experten, S. 51. Die Literaturkritik als Argumentationskontext scheint mir hier insofern interessant zu sein, als sie – zumal bei Klopstock – eben nicht jene Wechselhaftigkeit aufweist, die sich bei der Orientierung an der fehlenden wissenschaftlichen Umgebung ergibt (ebda., S. 53). vielmehr stellt sie eine über Jahrzehnte hinweg kontinuierende, zitierbare und revidierbare Bezugsmöglichkeit dar, und zwar bis weit in den erst später institutionalisierten philologischen Betrieb. Vgl. aber auch zum typischen Phänomen, daß Klopstock für die ‚Ungelehrten‘ verständlich, für die ‚Gelehrten‘ hingegen unständlich ist Küster: Das Problem der „Dunkelheit“ von Klopstocks Dichtung, S. 69ff. 164 Darauf läßt beispielsweise die antizipatorische Wendung gegen die ‚Berliner‘ Kritik schließen (z. B. TF 189).
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erledigt, sich „wie ein ächt-ämsiger Professor“ verhält und daß er diesen „Lastthierfleis“ mit der empfindsamen Problemlosigkeit der Rezeption kombiniert.165 Beides verbindet ein mikrologisches Interesse. Steht auf der Seite des gelehrten Lektürehabitus die akribische Recherche beispielsweise nach den Regeln der Sprachgestaltung, so auf der Seite des empfindsamen Lektürehabitus das Interesse für die „Kleinigkeiten“, d. h. für das, was eigentlich nur für „Freunde“ von Belang ist.166 Durch diese freundschaftliche Haltung läßt sich aus der „Art wie er die Nachtmütze setzt“, Klopstocks Charakter erkennen; es werden einem „sogar die Sommersprossen wichtig, man will alles wissen, von dem Hute an, bis zur Schueschnalle“ (TF 79, 84). Das immer wieder proklamierte Ziel Cramers liegt folglich darin, einen Autor „ganz zu verstehen“ bzw. sich für ihn „ganz“ zu „interessiere[n]“ (TF 4, 8).167 Damit schließt sich die philologische Kommunikation an den erweiterten Aufmerksamkeitshorizont der Intimkommunikation an, in der sich ego aufgrund unbegründbarer Zuneigung der Individualität von alter zuwendet, an alter alles, was diesen einzigartig ausmacht, für relevant hält sowie alles, was alter für relevant hält, für relevant hält.168 Anders formuliert: Der Lesehaltung Cramers stehen kaum noch Selektionsmöglichkeiten zur Verfügung. Weder kann das von Cramer sogenannte ‚wissenschaftliche‘ Interesse für die großen Themen und sachlichfachlichen Details noch das bewundernde Interesse für die Alltäglichkeiten dazu dienen, Relevantes von Irrelevantem zu trennen. Cramer installiert eine weniger oder zumindest nach anderen Kriterien selektierende Aufmerksamkeit als die Literaturkritik. In den Worten Tellows an Elisa: „[...] wir beyde haben ja einmal den Grundsatz daß überhaupt an Klopstock nichts unwichtig ist“ (TF 84), und tatsächlich kann er „ein Chaos uninteressanter Sachen von interessanten nicht scheiden [...]“ (TF 226). Als Orientierungspunkt dient allenfalls noch die ‚Größe‘ eines Dichters: Auch ist nichts Kleinigkeit, was dem unbemerkenden Kopf im ersten Augenblick Kleinigkeit scheint. Nichts kann beym großen Schriftsteller so heißen, was irgend eine Stelle seiner Schriften zu erläutern, oder in besseres Licht zu setzen, oder zu vertheidigen dient. (TF 300f.)
Freilich bleibt offen, woran man die ‚Größe‘ eines Autors erkennt und was Cramers Erläuterungskonzept zufolge eigentlich nicht bei dessen Erläuterung helfen kann. _____________ 165 Zitate zum Professoren-Dasein aus KB 8, 204. 166 Dem korrespondiert im übrigen die Ungeordnetheit der Darstellung, weil diese das unstrategische Vorgehen markiert (Verf.: Friedrich von Hagedorn, S. 297ff.). 167 Eine Hermeneutik aus dem „Geist der Kleinigkeiten“ entwirft Cramer auch in der Bibelkritik, vgl. Krähe: Carl Friedrich Cramer (1907), S. 124f. 168 Luhmann: Liebe als Passion, z. B. S. 200.
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Wie begründet Cramer seine Zumutung, sich für alles an einem Autor und seinem Werk zu interessieren? Es scheint drei Plausibilisierungsstrategien zu geben: Erstens greift Cramer auf die Einordnung Klopstocks als desjenigen Dichters zurück, der das deutsche Epos endlich auf das europäische Niveau, d. h. vor allem auf das Niveau Homers, gebracht habe – in der zitierten Stelle war davon die Rede, daß an einem „großen Schriftsteller“ nichts vernachlässigt werden darf. Weil also an Homer alles interessiert, so die Suggestion, sollte auch an Klopstock alles interessieren. Entscheidend dabei ist freilich die implizierte Historisierung der Gegenwart: Stellt euch vor, wenn itzt in einem Thurme in Griechenland eine Schrift gefunden würde, worinn ihr lesen könntet, wo vierwochenlang der alte Homer gewesen, wie er gelebt, was er gesprochen hätte, wie ihr euch freuen würdet! Und dann denkt daß über fünf tausend Jahren Klopstock so alt seyn wird als er, und denn – – –. (TF 226)169
Wie sein Lehrer Funk entfaltet Cramer die uneingeschränkte Interessantheit des Gegenstandes durch die Inanspruchnahme von Zeit. „Nach seinem Tode“ wird die Welt Klopstock „Gerechtigkeit wiederfahren“ lassen, und dann werden auch Tellows Fragmente „der Nachwelt eben so wichtig seyn, als es jetzt so vielen frostigen Söhnen unsers Vaterlands gleichgültig wäre“ (TF 8). Wie sein Lehrer Funk offeriert Cramer dieses prospektiv-retrospektive Lektüreangebot als Entschädigung für die Gewalt, die die Kritik Klopstock angetan hat: Bester, größter Mann des Vaterlandes! Sie sind und werden unsterblich seyn; das braucht Ihnen niemand zu sagen, das wissen Sie selbst. Aber ich sehe es mit inniger Betrübniß, daß es izt größere Wunden Ihrer Seele seyn müßen, Wunden die das Herz trefen, welche Sie auf einen Augenblick für die Reitzungen des Schriftstellers empfindlich machen. – Ach, wen von Allem, was wir u Andre, für, und über, und wider Sie scribeln, kein Stäubchen mehr übrig seyn wird, seys von Erläuterungen oder Vertheidigungen oder Angriffen des Unverstands und Neides, so wird von Ihren Schriften allen kein Jota auf die Erde gefallen seyn. Doch nein! einige Stellen von mir über Sie, werden auch bleiben; weil sie historische Nachrichten über Sie sind – und es wird mein Stolz bleiben, daß ich des Stolzes genoßen habe Ihr Freund zu seyn! (KB 8, 150; Brief vom 20. September 1789)
Damit wird Cramer recht behalten: Nur seiner „historische[n] Nachrichten“ wegen hat er seine Lektürerelevanz bewahrt. Freilich deutet er in diesem ersten Begründungsversuch ein Argument für die Beschäftigung mit Klopstock nur an. Denn warum, so läßt diese erste Plausibilisierungsstrategie erneut offen, sollte die Historisierung eines Autors bei lebendigem Leibe die Beschäftigung mit ihm so intensivieren, _____________ 169 Vgl. auch TF 232 (recte 322) gegen die Prophezeiung gewendet, Klopstocks Messias fehle die Originalität und werde wie das theologischen Denken seiner Zeit veralten: „Interessiert Homer euch nicht, weil ihr seine Mythologie nicht glaubt?“
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daß nichts, was mit ihm oder seinem Werk in Verbindung steht, bedeutungslos ist? Die beiden anderen Argumentationslinien gehen von diesem Punkt aus. Zweitens nämlich rechtfertigt Cramer sich durch den Verweis auf Klopstocks literarische und sprachwissenschaftliche Leistungen. Es wird einmal eine Zeit kommen, dann, wenn wir selbst nichts mehr machen, sondern über das was da ist, schreiben werden, wo mans erkennen wird, was Klosptock um unsre Sprache für Verdienste hat. Dann werden Scholiasten aufstehen, Dionyse, Eustathiusse, Serviusse, und trockne fatale Commentarien über ihn schreiben, und Critiker ihn ad Usum Delphini ediren, und mit Notis Variorum, und so weiter. Aber es wäre doch Schade, wenn vorher niemand ein Wörtlein darüber sagte. Jemehr ich seine Schriften mit seinem Leben vergleiche, und den ganzen Zustand der vaterländischen Literatur, wie er vor dreysig Jahren war, und wie er jetzt ist überdenke, desto mehr staune ich. Desto größer wird er, desto kleiner werden mir die Scribenten des Tages. Fürwahr wir sind ungerecht. Nun der Wald so groß geworden ist, daß wir die Bäume nicht mehr sehen können; sprechen wir auch nicht mehr davon. Die Beyträger – Rabener, Gellert, Cramer, die Schlegel, Klopstock, Gärtner, Giseke, Ebert und andere, die anfingen ... mit welchen Schwierigkeiten hatten die zu kämpfen! Sie standen in der Finsterniß auf Deutschland zu erhellen, wir gehen im Licht. (TF 185)
Aufschlußreich daran ist die doppelte zeitliche Perspektive: Einerseits avancieren die aus Cramers zeitgenössischer Sicht zunächst unbedeutenden Autoren im Umkreis des jugendlichen Klopstock zu historischen Handlungsträgern. Sie gewinnen an Bedeutung durch eine Perspektive, die ihren Leistungen ‚Gerechtigkeit‘ widerfahren läßt. Andererseits wird Klopstock selbst Geschichte durch die Vorwegnahme seiner künftigen Historizität. Nach wie vor bleibt indes die Frage unbeantwortet, wie denn – angesichts einer ausufernden Kritik, die Klopstocks Werk von Beginn an begleitet – diese Leistungen behauptet werden können bzw. woran Cramer die Größe eines „großen Schriftsteller[s]“ erkennt. Darauf schließlich reagiert die dritte Begründung, die zudem gleichsam die Prämisse von Cramers Erörterung überhaupt bildet: „Klopstock ist dunkel, sagt man, und man hat Recht. [...] einige wenige, sehr wenige ausgenommen [...] habe ich keinen gefunden, der ihn ganz verstünde“ (TF 10f.). Den Test darauf macht Cramer nicht nur in seinen Auseinandersetzungen mit Klopstock-Kritikern, sondern auch und gerade mit Klopstock-Enthusiasten, so wenn er eben mit Voß eine Wette um das Verständnis einer Stelle abschließt und diese nach Klopstocks Entscheidung gewinnt (4.2 d). Die Argumente, die sich in den Tellow-Fragmenten auf das Problem der tatsächlichen oder eben nur vermeintlichen ‚Dunkelheit‘ Klopstocks beziehen, betreffen viele Facetten des Diskurses über Lesen und Verstehen im 18. Jahrhundert. In deren Zentrum konturiert sich eine relativ nachvollziehbare hermeneutische Position mit ebenso offensichtlichen
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Schwachstellen. Danach ist bei der Feststellung einer „Zweydeutigkeit“ zu sichern, „daß sie grammatisch möglich, daß sie logisch richtig, daß sie mit allen Nebenbestimmungen der Stelle übereinkommend seyn müßte. Ist sie das nicht, so thut der Ausleger sehr übel, wenn er, um sich zu entschuldigen, die Sünde seiner Vorbeysicht oder Übersicht auf den Schriftsteller schiebt“ (TF 465). Schließlich müssen die entsprechenden Kenntnisse, die lebens- und literaturgeschichtlichen Kontexte und Bezüge betreffend, gegeben sein, um mögliche ‚Anspielungen‘ verstehen zu können (z. B. TF 20).170 Bemerkenswert ist, daß Cramer das Problem der ‚Dunkelheit‘ ganz aus der Sicht des Lesers wahrnimmt171, wohingegen Klopstock, der sich in einigen Briefen an diesem Thema sehr interessiert zeigt, das Problem aus der Perspektive des Dichters wahrnimmt: Bei den ‚Alten‘, so Klopstock, stelle an scheinbar ‚dunklen‘ Stellen jedes zusätzliche Wort einen Makel dar; er hingegen könne durch Ausstreichungen leicht zeigen, daß den ‚Neueren‘ die angemessene Ökonomie der Mittel fehle (z. B. KB 8, 184f.). Um zu plausibilisieren, daß man es mit einem sinnvollen Gegenstand zu tun hat, bzw. um abzusichern, daß man nicht umsonst Zeit an einen unsinnigen Gegenstand verschwendet, weist Cramer darauf hin, daß auch Klopstocks Werk Produkt der Investition von Lebenszeit ist, und dies auf zweifache Weise: nämlich als extensive und als intensive Zeitinvestition. So gilt beispielsweise für die Oden: Sie betreffen Gegenstände, zum Theil, der allerspeciellsten Empfindung, des allerindividuellsten Nachdenkens. Sie spielen an auf kleine Umstände seines Lebens, enthalten gewisse Aussichten über Litteratur, über das Wesen der Dichtkunst, in die nur sehr wenige sich eingelassen haben und einlassen können. Sie sind voller Bilder, zu denen man gewisse Kenntnisse haben muß, um ihre Würde, ihre Schönheit und Größe zu fühlen. Sie sind alle das Resultat von vieljährigen, bewährten, geläuterten Gedanken, in der gedrungensten, bestimmtesten Sprache gesagt, in die kühnsten Bilder gehüllt, voll der lyrischsten Sprünge, daß es eben so wenig ein Wunder als ein Tadel ist, daß sie Studium erfordern. (TF 20; vgl. auch 284 [recte 384] oder 341)
Entsprechend skizziert Cramer ein enthusiasmiertes Bild vom genialen Dichter, der sich bedingungslos und gegen alle Widerstände hingibt: „Seiner Kunst opfert er sein Leben, seine Ruhe, seinen Schlaf, sein Brodt“ (TF 47). Dies gilt allerdings nur für einen bestimmten Dichtertypus: „[...] ich redte itzt nur von solchen Dichtern, die das darstellen, was man ein Werk von langem Athem nennt [...]. Zudem paßts alles auch nicht auf die, die nur in einem gewissen Zeitpuncte ihres Lebens Dichter waren [...]“ _____________ 170 Daraus resultiert der Vorteil von Zeitgenossen bei der Kommentierung (TF 310). 171 Aus diese Perspektive lassen sich die Klopstock-Paraphrasen Cramers als Beleg für die Trennung von Leser- und Autorrollen verstehen, denn die Aufgabe, die Worte des Dichters mit ‚eigenen‘ zu wiederholen, dient als Verständnistest des Rezipienten (Bosse: Dichter kann man nicht bilden, S. 123).
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(TF 47). Anders gesagt: Der Zeitinvestition in ein Einzelwerk korrespondiert die Zeitinvestition in ein Lebenswerk, weswegen erstens Querverweise innerhalb des Werks und zweitens die Klärung historischer Umstände notwendig sind (z. B. TF 170ff.). Diese spezifische Form von Aufmerksamkeit wiederum konstituiert ein Lebenswerk, indem sie alles miteinander zusammenhängen, sich wechselseitig erläutern und insgesamt auf eine Biographie verweisen läßt (4.1.1 u. 4.2 a). Cramer installiert die Investition von Zeit (bzw. von „Studium“172) auf seiten des Lesers als Spiegel des Zeitverbrauchs auf seiten des Autors. Der Detailismus und die Feinheit des Interpreten gelten dem Detailismus und der Feinheit des Gegenstands. Die Investition von Lebenszeit kann beim Autor einerseits der Durcharbeitung eines Werks, andererseits aber auch der Schöpfung eines Werks aus dem empfundenen, erlebten Augenblick heraus gelten. Cramers grammatische, literarische, theologische oder biographische Erläuterungen zielen daher auf den Nachweis, daß sich bei Klopstock (fast) alles auflösen läßt, wenn man erstens die entsprechenden Kenntnisse hat und sich zweitens bemüht. Diese Deutungssicherheit ist indes nur die eine Seite. Auf der anderen Seite ergibt sich aus der unbegrenzten Relevanz des Details die Unabschließbarkeit der Deutung. Cramer selbst ermahnt die Leser: „Lieben Leute, merkt euch, daß alles relativistisch ist“ (TF 17).173 Man kann sich immer täuschen, weil neue „Kleinigkeiten“ neue Erklärungen bringen. Alle Erklärungen Tellows stehen also unter dem Vorbehalt weiterer und besserer Erklärungen, die darauf folgen. Aus diesem Grund spaltet Cramer sich auch in die Figur Tellows und die Figur des Herausgebers auf, der die von ihm herausgegebenen Klopstock-Erklärungen in Anmerkungen korrigiert. Zu Tellows „kleine[n] Übereilungen“ bemerkt der Herausgeber: Sie sind klein! aber bey historischen Dingen ist Genauigkeit erstes Gesez. [...] Es ist nicht unwichtig zu sehen, wie jemand, dessen Bibel Klopstock fast war, ihn dennoch bisweilen misverstehen konnte – und wie er doch am Ende ganz allein Unrecht hatte, Klopstock misverstanden zu haben.174
Selbstkorrektur markiert also die Anforderungen an die Genauigkeit und stiftet dadurch eine andauernde Kommunikation über einen Gegenstand. _____________ 172 Neben der bereits zitierten Stelle vgl. auch TF, 58, 309, 317. 173 Vgl. auch zum Relationismus von „Kleinigkeit, interessant, Publikum“ TF 300. 174 Dann stellt der Herausgeber den Lesern noch ein Rätsel, um deren Selbstsicherheit zu untergraben: „Da ich aber voraussehe, wie viele weise Leute überhaupt Erklärungen von Klopstock überflüßig finden werden, wenn sie einmal erklärt sind, so laß ich diese stehen als ein Nuß für sie aufzuknakken. Ich fodre also ihren Scharfsinn auf, die Unrichtigkeit in Tellows Erklärung, und den wahren Verstand der Stelle zu finden“ (TF 190.; zur Auflösung TF 467f.).
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Die zeitgenössischen Anschlußstellen für Cramers Klopstockbuch im literaturkritischen Diskurs ergeben sich aus drei der zitierten Autoren, denn neben den nur erwähnten Referenzen ‚Plutarch‘ als Vertreter einer Alltagsgeschichte175 und ‚Rousseau‘ als Vertreter rückhaltloser biographischer Offenheit (TF 23f.)176 beschäftigt Cramer sich mit Goethe, Wieland und Herder verhältnismäßig ausführlich. Dabei behandelt er alle drei explizit äußerst kritisch, implizit aber personifizieren sie geradezu die Möglichkeiten des Textzugangs, die sich bei Cramer finden lassen: Am ausführlichsten und offensivsten setzt Cramer sich mit Herder auseinander177, dessen Rezension von Klopstocks Oden in der Allgemeinen deutschen Bibliothek zu Beginn des zweiten Teils der Tellow-Fragmente auf beinahe 50 Seiten zitiert und in Anmerkungen kritisiert wird. Hier dient Herders Kommentar zum Beweis dafür, „daß eben unsre berühmtesten Aristarchen, nicht einmal den buchstäblichen Sinn von Klopstock richtig interpretieren, geschweige denn daß sie in alle die feinern Nüancen seiner Darstellung eindrängen“ (TF 267f.). Genau für diesen Relativismus des Verstehens steht indes Herders historisierender Textzugang. Wenn Cramer den Leser auf den richtigen „Gesichtspunkt“ stellen (TF 317) und dadurch historische Gerechtigkeit, d. h. Verständnis anstelle von Verurteilung walten lassen will, dann wäre Herder bekanntlich eine gute Referenz für dieses Verfahren.178 Der kritische Perspektivismus, der im Laufe des 18. Jahrhunderts das Problem der Visibilität und Invisibilität von ‚Fehlern‘ und ‚Schönheiten‘ immer deutlicher zutage befördert, korrespondiert der Forderung nach Lektüregenauigkeit, für die der Name Wielands stehen kann.179 Wieland tritt bei Cramer erwartbarerweise zunächst einmal als der wollüstige Fran_____________ 175 Vgl. dazu Wieland im Agathon: „Wir haben von unserm Freunde Plutarch gelernt, daß sehr kleine Begebenheiten öfters durch große Folgen merkwürdig werden, und sehr kleine Handlungen uns nicht selten tiefere Blicke in das Inwendige der Menschen thun lassen […]“ (Sämmtliche Werke [1984]. Bd.1,1, S. 209). 176 Vgl. zu Cramers Rousseau-Übersetzungen Krähe: Carl Friedrich Cramer (1907), S. 185ff. 177 Zum Verhältnis zu Herder vgl. Krähe: Carl Friedrich Cramer (1907), S. 124ff. 178 In seinem Shakespeare-Essay will Herder beispielsweise seine Leser dazu bringen, daß „es niemand mehr in den Sinn komme, über, für und wider ihn [Shakespeare, S.M.] zu schreiben: ihn weder zu entschuldigen, noch zu verläumden; aber zu erklären, zu fühlen wie er ist, zu nützen, und - wo möglich! – uns Deutschen herzustellen“, oder anders: Er will den „Gesichtspunkt verändern“, das „Bild beßer [...] stellen“, den Punkt treffen, „darauf ich den Leser nun fest halte, ‚hier stehe! oder du siehest nichts als Karrikatur!‘“ (Herder: Shakespear, S. 65f.). Vgl. bei Herder auch die Fokussierung der „Jugend der Seele“ als Ausgangspunkt des Dichtertums: „da fühlt ein Klopstock in seiner Kindheit alle die Bilder, die er nachher singt, modellirt und so mannichfalt verarbeitet!“ (Herder: Journal meiner Reise im Jahr 1769, S. 149; dazu auch ebda., S. 32). Auf diese Weise stiftet Herder dann auch einen Werkzusammenhang zwischen den Oden Klopstocks und dem Messias (ebda., S. 150). 179 Vgl. zum Bruch Cramers mit Wieland aufgrund einer falsch zugeschriebenen Rezension Krähe: Carl Friedrich Cramer (1907), S. 141ff.
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zösling und entsprechend unfähige Kritiker auf, als der er für die Klopstock-Bewunderer in den 70er Jahren galt (TF 311, 313f., 453; 5.1). Dennoch zitiert Cramer Wielands Shakespeare-Biographie in methodologischer Hinsicht als Referenztext (TF 132).180 Wielands biographischer Lektüreoption korrespondiert wiederum die Sensibilität für die Feinheit lebensgeschichtlicher Verknüpfungen, die leicht zu falschen Bildern führt, weil man die Zusammenhänge nicht genau genug rekonstruiert hat. Das läuft auf den beschriebenen Irrtumsvorbehalt der Meinungsbildung hinaus sowie generell auf die Forderung, Menschen nicht in vorgeprägte Schablonen einzupassen, sondern nach je individuellen, der historischen Situation adäquaten Maßstäben zu messen (TF 79, 204f.).181 Für Wieland ist demnach Shakespeare „in seinen Schönheiten unvergleichlich[ ] und selbst in seinen Fehlern (in denen welche in der Tat sein eigen sind) bewundernswürdig[ ]“.182 Wieland verlangt wie Cramer eine selektionslose Darstellung, die den Dichter „nach allen Seiten“, auch in den „gemeinsten Lebensumstände[n]“, präsentiert. „Nichts für klein anzusehen“, „nicht den kleinsten Umstand zurückzulassen“, gehört zu einer Strategie, der es darum geht, Fehler eines Dichters durch die Frage danach ‚begreiflich‘ zu machen, „wo und in was für einer Zeit er gelebt hat [...]“.183 Umgekehrt muß die Fülle an Details dem Kritiker klar machen, „daß der scharfsinnigste, gelehrteste und kunstverständigste Mann, in gewissen gegebenen Umständen und Verhältnissen [...] dumm urteilen kann [...]“. Wieland empfiehlt daher „ein kleines Mißtrauen in sich selbst“ sowie „Bescheidenheit, welche die Kritik allein erträglich macht“.184 _____________ 180 Cramer bezieht sich hier vermutlich auf folgende Stelle bei Wieland: „[...] ein Autor, zumal ein Dichter, bildet sich selbst, auch ohne daran zu denken, und oft wider seinen Willen, in seinen Werken besser ab, als ihn ein Biograph jemals schildern wird. [...] Das Bildnis, welches der Verfasser in seinen Werken hinterläßt, ist getreuer [als das der „Freunde“ und der „Feinde“, S.M.], weil die Natur selbst die Urheberin davon ist; und es wird auch von unparteiischen Augen angesehen, wenn niemand mehr lebt, dem aus besondern Beziehungen auf seine eigne kleine Person, daran gelegen ist, es schön oder häßlich zu finden“ (Einige Nachrichten, S. 23f.). 181 Wenn Cramer eine „Geschichte für den Verstand“ projektiert (TF 204), dann könnte das auf Wielands History-Konzept zurückgehen, dem Lessing im 69. Stück der Hamburgischen Dramaturgie eben dies im Blick auf den Agathon konzediert: „Es ist der erste und einzige Roman für den denkenden Kopf, von klassischem Geschmacke“ (Lessing: Werke. Bd. IV, S. 555). Wieland benutzt den Geschichtsbegriff in der Shakespeare-Biographie, reflektiert ihn aber nicht ausdrücklich (Einige Nachrichten, S. 13). 182 Wieland: Einige Nachrichten, S. 11. 183 Wieland: Einige Nachrichten, S. 11f., 13. Vgl. auch: „So bald man ihn verschönern wollte, würde er aufhören Shakespear zu sein“ (ebda., S. 25). 184 Wieland: Einige Nachrichten, S. 28f. Vgl. dazu auch Wielands Einstellung gegenüber der Gelehrtenrepublik. An F.H. Jacobi schreibt er am 28. Mai 1774: „Wann hat jemals ein Mensch gedacht, gesprochen, gefaselt und gefabelt, wie dieser Mensch [Klopstock, S.M.]? Ist es möglich, mit mehr Genie und selbst mit mehr Vernunft zu rasen? Doch ich enthalte
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Goethe185 schließlich wird von Cramer als Sprachverderber und Vertreter einer unkontrolliert genialischen Schreibweise kritisiert (TF 92, 178, 291), als Kritiker Wielands jedoch wiederum – und dies geschieht ja eben aus Perspektive des ‚Kraftkerls‘ – ins Spiel gebracht (TF 313f.). Tatsächlich sind Tellows Briefe überdeutlich dem Werther-Paradigma verpflichtet,186 und Cramer zitiert ohne Referenz Goethes Götz von Berlichingen mit der Formulierung: „Ach! es ist eine Wollust, einen großen Mann zu sehen“ (TF 27, vgl. auch 303 zur „Geisteswollust“).187 In Goethes Drama stammt der Satz von Bruder Martin, der unter Alkoholeinfluß sein Faible für das Raubrittertum entdeckt. Der Mönch ist somit Vertreter einer bloßen Rezeptivität und markiert damit die Position, von der aus Cramer Klopstock betrachtet.188 Bezeichnend ist die auch stilistische Anlehnung an den Sturm-und-Drang-Stil der Kritik, wenn es um Fragen geht, die die literarischen Verfahren betreffen. Wie beispielsweise die Frankfurter Gelehrten Anzeigen in der Rezension von Klopstocks Oden bloß beteuern können: „Hier steht es“189, so reicht es bei Cramer in der ästhetischen Erörterung meist nur zu einem emphatischen Ausruf, der den Leser der künstlerischen Perfektion Klopstocks versichert (z. B. TF 242f., 238 [recte 328], vgl. aber auch 252). Die Orientierung an der Leserin als idealer Adressatin deutet in dieselbe Richtung wie der Einsatz eines Mönchs als Raubritter-Fan: Frauen fungieren im 18. Jahrhundert vornehmlich als empfängliche Leserinnen, nicht aber als produktive Autorinnen. Das Wissen der Frauen vertritt gewissermaßen den Erkenntnisverlust kommender Generationen, wenn als Test für die Kommentarbedürftigkeit einer Stelle gilt, daß drei „sehr gebildete[ ] und rein empfindende[ ] Frauen“ an „drey weit von einander _____________
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mich noch, ein Endurtheil zu sprechen. Ich habe das Ding noch nicht im Zusammenhange gelesen, und es muß gleichwohl mehr als einmal gelesen werden, ehe man mit Gewißtheit sagen kann, ob der Verfasser einen Eichenkranz oder einen Kranz von Hasenpappeln verdient“ (Briefwechsel. Bd. 5, S. 265). Vgl. zum voherigen und späteren Verhältnis zu Goethe Krähe: Carl Friedrich Cramer (1907), S. 115ff., 141ff. Vgl. z. B. die Stelle des mit den Kindern spielenden, Messias lesenden Tellow (TF 312). Vgl. die Kritik an der „wertherisch[en]“ Darstellungsweise in der Rezension in: Allgemeine deutsche Bibliothek. Anhang zum 25 bis 36 Bande (1780), S. 3361. Bei Goethe heißt es: „Es ist eine Wollust, einen großen Mann zu sehen“ (Der junge Goethe Bd. 3, S. 185). Vgl. auch zur Erziehung von Götz‘ Sohn als Gegenbild eines Stubenkindes (C I, 21f.). Zwar gibt es an einer Stelle bei Cramer noch einen marginalen Hinweis auf die Dichterausbildung (TF 438), aber das scheint mir auf 480 Seiten vernachlässigenswert zu sein. Zur Herstellung eines Objekts für bloße Leser im 18. Jahrhundert vgl. Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, S. 56ff. Frankfurter Gelehrte Anzeigen. 1772. Auswahl, S.37, vgl. auch S. 39. Ein gewisser Widerspruch findet sich darin, daß zunächst – wie zu erwarten – das Zergliedern abgelehnt, dann aber das Variantenstudium dem „angehende[n] Dichter“ empfohlen wird (ebda., S. 39).
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entlegenen Orten“ diese Stelle auch nach mehrfacher Lektüre nicht verstanden haben.190 Diese Trennung von Rezeptivität und Produktivität macht für Cramer dann auch den Unterschied zwischen sich und den etablierten Gelehrten aus: „Mein einziger Unterschied von den Scholiasten ist nur der, daß ich die Schuld nicht den Alten, sondern mir beymesse, und mich daher Rahts und Belehrung bey Ihnen [Klopstock, S.M.] erhole“ (KB 8, 171).191 Umgekehrt ist Klopstock, der oft die still geweinte Träne als einzig adäquates Rezeptionszeugnis akzeptiert192, nicht per se „ein Feind der Scholien, oder zu Deutsch, der Anmerkungen“ zu seinen Werken, sondern nur dann, wenn er sie „selbst machen muß“ (4.1.2).193 Cramers zweiter Klopstock-Kommentar, bei dem ich mich kürzer fassen kann, gleicht an präsentiertem Material in vielem seinem Vorgänger, den er mit seinen mehr als 2300 Seiten an Umfang allerdings beinahe fünfmal übertrifft. Wieder bietet Cramer Biographisches sowie Werkerläuterungen in inhaltlicher, grammatischer, metrischer oder intertextueller Hinsicht, und einige Passagen sind direkt aus den Tellow-Fragmenten übernommen.194 Auch die Forderung nach einer ordentlichen Darstellung wehrt Cramer erneut ab und erhebt nur den Anspruch, „wundersame[ ] rapsodische[ ] Nachrichten“ vorzulegen (CI 9). Damit aber verkauft er sich unter Wert, denn genau in der neuen Ordnung liegt die Leistung Cramers.195 Durchgehend folgt Cramer einem klar definierten Aufbau: Zunächst liefert er eine in je kleine Abschnitte (oftmals nur ein Jahr) unterteilte biographische Einleitung, an die dann die Werke mit Kommentar in chronologischer Reihenfolge anschließen, und zwar diesmal mit einem Variantenverzeichnis.196 Die Chronologie ist so strikt durchgehalten, daß die einzelnen Gesänge des Messias in ihrem jeweiligen Entstehungszeitraum untergebracht werden und der Zusammenhang des Einzelwerks durch den biographischen Zusammenhang bzw. den Zusammenhang des Lebenswerks abgelöst wird. Es geht Cramer, wie er in einer Selbstanzeige _____________ 190 So Böttigers Verfahren (Brief vom 27. Juli 1797; KB 9, 150f.). 191 Vgl. auch Cramers Abwehr des Verdachts, er wolle durch eine Paraphrase Klopstock einen Verbesserungsvorschlag unterbreiten (KB 8, 175). 192 Z. B. KB 1, 104. Auch Cramers weiß darum (TF 81). 193 So einem Brief an Böttiger vom 12. Dezember 1797 (KB 9, 157). 194 Vgl. z. B. C III 455ff. mit TF 11ff. 195 In der Ankündigung des zweiten Teils im Deutschen Museum (2 [1782], S. 182) schreibt Cramer dann auch, seine „Edition“ sei „gänzlich von den 1777 und 1778 herausgekommenen Fragmenten verschieden“. 196 Dazu schreibt er an Klopstock: „Besonders würden Sie vielleicht erwarten, daß ich noch mehr über die veränderten Stellen der neuen Ausgabe hätte sagen sollen u allein Sie wissen auch daß ich noch einen Ort mir aufbewahrt habe, der ganz eigentlich diesen Vergleichungen gewidmet seyn soll“ (KB 8, 17) – dieser ‚Ort‘ ist nicht wieder aufgetaucht.
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formuliert, darum, Klopstock und seine Werke „gleichsam genetisch im Entstehen“ zu zeigen.197 Die Akribie der Bearbeitung läßt sich daran bemessen, daß Cramer gerade einmal bis in Jahr 1757 kommt198 – die restlichen elf Bände bleiben in Planung.199 Jeden der fünf Bände schließt dann eine „Beylage“ ab, in der Cramer einerseits das unterbringt, was im Hauptteil keinen Platz findet (z. B. längere Polemiken gegen Klopstocks Kritiker). Andererseits reserviert er die „Beylage“ für Selbstkritik, u. a. durch nachgereichte Informationen Klopstocks, der das Werk erst nach der Drucklegung in die Hände bekommt und dann seine privilegierte Kenntnis einspeisen darf. Klopstock hat [...], wie sich von selbst versteht, weder an der Idee zu diesem Buche noch an der Ausführung, den mindesten Antheil. Unterdessen verwehrt er mir Nichts; und versagt, gütig wie er ist, seinem Freunde, Aufklärungen nicht, die er verlangt. [...] Gleichwol – den eigensinnigsten Foderungen des Anstandes [nach Bescheidenheit, S.M.] ein Genüge zu thun, sieht Klopstock meine Arbeit nicht, bevor ich sie ihm, zugleich mit seinen Lesern, vorlege. Zwar ein Schade für mich! ... denn nunmehr kans kommen: daß auch ich, mir selbst ganz überlassen, in Erklärungen und Beurtheilungen irre; daß ich in historischen Umständen die genaue Richtigkeit nicht ganz leiste, die ich mir so gern zum Gesetz gemacht hätte. Meine Fehler also die ich im Buche begehen dürfte, zu büssen: zu bessern, wo ich geirrt; und nachzuholen, wo ich versäumt habe; sind die Beylagen bestimmt, welche ich, so wies Noth thun wird, jedem Theile hinzuzufügen denke. (CI unpag./Widmung)
Cramer richtet eine feste Rubrik für Selbstkritik ein und provoziert gezielt Mißverständnisse, um Unparteilichkeit zu markieren200 und um einen nachgelagerten historischen Standpunkt zu prätendieren. Während er sich _____________ 197 Deutsches Museum 2 (1781), S. 183f: „Die schiklichste Form habe ich die zu sein geglaubt, wenn ich ihn gleichsam genetisch im Entstehen zeigte. Anfang und Fortschritt, manchmal auch Abnahme in der Volkommenheit, findet sich beim Schriftsteller sowol als beim Menschen. Überdem erläutert nichts mehr spätere Schriften eines Verfassers, als wenn man immer Rücksicht auf seine früheren nimt, sieht, wie sich eine seiner Ideen aus der anderen entsponnen, eine die andre gezeugt, bestimt, eingeschränkt, in Nebenäste verbreitet hat; wie nach Maasgabe verschiedener Alter, selbst verschiedne Seelenkräfte in veränderten Verhältnissen mit einander gerungen, [...] wie Lebensumstände, Umgang mit solchen oder solchen Menschen Einwirkungen gewisser Leidenschaften, Urtheile Anderer, Vertrautheit mit neuen Vorstellungsarten, unvermerkt auf das Werk selbst influiert haben. Demnach gehe ich bei diesem Strome hier bis zu seiner Quelle. Die Werke folgen je, nachdem sie dem Publiko aufgestelt worden sind, also nicht nach dem Inhalte nach, nicht einmal ihrem Ganzen nach. Ganze Werke, die theilweise entstanden, werden theilweise gegeben. Und alle werden gegeben, auch die, die der Verfasser selbst verworfen, nicht allemals aus der Ursache verworfen, weil er sie seiner unwerth hielt; gegeben werden sie, weil sie wichtig sind, verhältnisweise wichtig, in die Kette des Ganzen eingreifen, und oft zur näheren Bekantschaft mit dem Geiste desselben dienen“. 198 Der letzte Band trägt fälschlicherweise die Zeitraumbegrenzung „1755“ im Titel. 199 Schmidt: „es wird ewig mein Stolz bleiben“, S. 406. 200 Dies allerdings nur brieflich (KB 8, 203).
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in Gestalt Tellows bei aller Historisierung doch als Zeitgenosse Klopstocks präsentiert, der aus der unmittelbaren Begegnung mit dem bewunderten Autor heraus seine Briefe an Elisa schreibt, distanziert Cramer sich nun durch eine noch deutlichere Vergeschichtlichung von seinem Gegenstand – „es gefällt mir“, schreibt er bei der Selbstkritik im dritten Teil, „mich oft in die Situation zu versezen: wie seine Leser nach Jahrtausenden ihn verstehen würden?“ (CIII 479f.)201 Freilich bleibt der Autor so gut wie immer die letzte und höchste Instanz, zumal Cramer bei vielen Stellen bemerkt, daß ihm ohne Klopstocks Hilfe keine Entschlüsselung gelungen wäre.202 Dennoch ist bemerkenswert, welche pragmatische Einstellung die Vorüberlegungen zu Klopstocks antizipiertem Tod provoziert, wenn Cramer z. B. über den Wert des Manuskripts von Hermanns Tod „in hundert Jahren“ spekuliert oder sich überlegt, welcher Bibliothek Teile aus Klopstocks Nachlaß wohl zu überlassen seien (KB 8, 175f., 311f.). Die rezeptive Einstellung Cramers ließe sich wiederum an den exklamatorischen Bemerkungen zu Fragen des literarischen Verfahrens demonstrieren, die den künstlerischen Produktionsprozeß gleichsam unangetastet im Raum des Vorkommunikativen belassen (z. B. CII 29). Aber auch hier arbeitet Cramer die Tendenz der Tellow-Fragmente deutlicher heraus: Hatte er dort nämlich versifizierte Werke oftmals – aus Platzgründen – ohne die Zeilenabsätze des Originals oder wie er selbst sagt: in „Prosa“ abgedruckt (TF 237) und mit Erklärungen sowie Ergänzungen als Verständnishilfen untermischt203, so trennt er nun den primären und den sekundären Diskurs entweder durch Einordnung in unterschiedliche Rubriken oder durch die Trennung von Haupttext und Fußnotenteil. Die konzeptionelle Entwicklung der Tellow-Fragmente gilt ebenfalls für die Entfaltung historischer „Gerechtigkeit“, und zwar sowohl im Blick auf Klopstocks Werk als auch im Blick auf die literaturgeschichtlichen Zusammenhänge: In den Tellow-Fragmenten fand Cramer bereits Interesse an den bald vergessenen Leistungen der ‚Bremer Beyträger‘ als Wegbereiter der gegenwärtigen literarischen Liberalität, wobei Gottsched doch noch als bloße Antifigur galt.204 Dessen historische Rolle konzediert Cra_____________ 201 Das hindert Cramer im übrigen nicht, Rücksicht auf noch lebende Personen zu nehmen, z. B. auf Klopstock und Maria Sophia ‚Fanny‘ Schmidt (CII 6). Vgl. auch den Rückzug auf freundschaftliche mündliche Kommunikation, für die er weitere Nachrichten reserviert (CI 38f.). 202 Z. B. KB 7, 106 für die Tellow-Fragmente oder KB 8, 186f. Allerdings ist auch Klopstock nicht immer verläßlich, was nichts an Cramers Autororientierung ändert (vgl. KB 8, 204). 203 Letzteres im ausführlichen Kommentar zum 20. Messias-Gesang, teilweise markiert durch Klammern. 204 Die Fortsetzung der oben zitierten Passagen lautet: „Wir haben gut schreiben; überall ist uns die Bahn gebrochen [...]. Jeder Schulmeister schreibt jetzt einen erträglichen Brief, damals war Gottsched unser Cicero“ (TF 185f.).
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mer nun immerhin („Er hatte seine Verdienste“; CI 142). Zugleich weitet er seine literaturgeschichtliche Perspektive kursorisch bis auf Opitz aus (CI 140ff.; CII 340ff.). Auch Bodmer und Breitinger behandelt Cramer als Wegbereiter im Kontext einer bibliographischen Verzeichnung und kurzen Erläuterung der Schriften des ‚Dichterkriegs‘: „Der Geschichtsschreiber unserer Dichtkunst kan ihrer Schriften nicht entbehren“ (CII 342). Noch aufschlußreicher ist eine andere Bemerkung zu demselben Gegenstand: Das Wühlen in alten Denkmählern, – ich mag sie wohl alt nennen, – in diesen, längst der bestäubten Vergessenheit übergebenen Schriften, gewährt einem denkenden Litterator wenigstens noch eben das Vergnügen, das man selbst im reiferen Alter genießt, wenn man Aufsätze, Ausarbeitungen seiner Knabenzeit wiederfindet, und diese Windeln der Seele betrachtet. (CI 140)
Die Eingliederung der Juvenilia in das Interessenfeld und damit die Konstitution eines Lebenswerks ist eine Neuerung, wie ich bereits gezeigt habe (3.3 c, 4.1.1, 4.2 a), die sich allmählich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts neben und gegen den Normalfall des Autodafés des Jugendwerks etabliert.205 Erst von hier aus wird auch deutlich, daß die Entmächtigung der literaturkritischen Perspektive, die Einführung des selektionslosen Blicks der Interessantheit und damit ein komplexer Umbau der literarischen Kommunikation hinter der Ordnung von Klopstock. Er; und über ihn steht. Immerhin verdankt die Klopstock-Forschung Cramer beispielsweise den Erstdruck von Klopstocks Schulabschlußrede in lateinischem Original und deutscher Übersetzung, die heute aus den Werkbetrachtungen nicht mehr wegzudenken ist. So wie Nachrichten über die „Jahre[ ] der Keime [...] niemand gering schätzt, der eine Pflanze ganz kennen will“ (CI 39), so ist auch die Schulabschlußrede eine „Jugendarbeit; aber eine Jugendarbeit von Klopstock! Und solche pflegt denn auch wohl andere Männerarbeit aufzuwiegen“ (CI 54) – zumindest dann, wenn man sich für Klopstock interessiert.206 Dasselbe Problem stellt sich bei den Varianten: Man könnte mich etwa fragen, vielleicht Klopstock sogar mich fragen: warum ich diese Lesarten samle, und sorgfältig aufbewahre, da er sie selbst verworfen hat? Darum antworte ich, weil sie mir und mit mir allen genauen Lesern wichtig sind, wichtig seyn können. Sie werdens jedem seyn, darf ich sagen, der nicht blos als todtes unfruchtbares Capital, das was er liest, betrachtet, sondern es gern mit so
_____________ 205 Verf.: Die Entdeckung von Tiefsinn. 206 Auch dies könnte man auf die Pädagogisierung (nicht: Didaktisierung) des literarischen Diskurses beziehen; vgl. z. B. die Rede des Schulrektors von Pforta zur Klopstock-Feier im Jahr 1800 (KB 10, 591; vgl. auch das etwas kritischer ausfallende Urteil eines Mathematiklehrers, KB 10, 612) – die frühe Bildung als Grundlage von Autorschaft wird auch von außen registriert (so z. B. in der Hamburgischen Neuen Zeitung anläßlich des Umbaus von Pforta; KB 10, 593).
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viel Interesse verzinset, als der kann; der bey einem Meisterwerke nicht blos denkt, so ists, sondern beständig fragt: warum ists so? wie könnte es auch anders seyn? wie ists geworden? Der Naturkündiger mag gern nicht blos den Zweyfalter sondern auch die Raupe und die Larve untersuchen; und mir hat diese Vergleichung so viel Vergnügen gewährt; ich bin mirs so bewußt, daß sie mehr als irgend was meinen Geschmack geschärft und ausgebildet hat, daß ich glauben, und hoffen muß, es werden noch Zwey, Drey, (und das wär mir schon genug) so denken wie ich. Nichts davon zu sagen, was der eigentliche Dichter aus solchen Vergleichungen lernen kann! welch ein wichtiger Beytrag zur Kritik sie sind! (CI 221f.)
Cramers editorische Bemühungen zielen daher nicht auf die Perfektion der Ausgabe letzter Hand, sondern auf die Erstfassung: „[...] ich wollt diese Oden alle gern geben wie sie zuerst aus Klopstocks Hand gekommen sind [...]“ (CI 224). Damit trägt Cramer gewissermaßen die Zeit in die Werke hinein und ergänzt auf diese Weise die Historisierung durch den literaturgeschichtlichen und den biographischen Blick.207 Daß er damit zuvor Unsichtbares in den Raum der Beobachtbarkeit erhebt, macht eine Bemerkung in einem Brief an Klopstock deutlich: O, wie viel Gedanke und Empfindung liegt in Dem, was man nicht sezt, oder was man anders sezt, als mans vorher gethan! Welcher Tropf wärs, der die ersten Editionen, das Manuscript des Dichters mißte, dem die Curae posteriores nichts werth wären, der sich das Vergnügen der Vergleichung, in dem stillen Arbeiten der Seele des Schriftstellers raubte? Sie haben bisweilen wider die geeifert, die die Triumphgesänge in ihrer ersten Skizze divulgirten. Sehr mit Unrecht! Ich preise den Mann. Es war ein heiliger Diebstahl. Ich bin ein Naturforscher, und mag gar zu gern sehn, wie das Gold im Schacht wächst. (KB 8, 173f.)
Oder anders: Durch die Varianten dringt man in das „stille[ ] Arbeiten der Seele des Schriftstellers“ vor.208 _____________ 207 Vgl. z. B. auch Cramers Differenzierung zwischen den frühen und den späten MessiasGesängen, die das Epos nicht mehr als vollkommenes Werk, sondern als gewordenes Werk perspektivieren (CII 44). Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Vorbericht zu der unautorisierten Oden-Ausgabe Christian Friedrich Daniel Schubarts von 1771: „[...] Leser, welche sich nicht blos ergötzen, sondern auch belehren wollen, werden diese Ausgabe auch alsdann noch brauchen können, wann Klopstock eine eigene verbesserte Ausgabe veranstaltet. Denn man studieret gerne die Veränderungen, die die Meister der Kunst zu machen belieben“ (zit. nach Sickmann: Klopstock und seine Verleger Hemmerde und Bode, Sp. 1588); ähnlich auch Ankündigung der ‚Altonaer Ausgabe‘ im Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten: „Hin und wieder hat der Dichter in dieser neuen Auflage etwas geändert. Für Kenner wird es eine sehr angenehme Beschäfftigung seyn, den Ursachen nachzuspüren, die ihn zu diesen Aenderungen bewogen haben“ (zit. nach Pape: Klopstocks Autorenhonorare und Selbstverlagsgewinne, Sp. 159). 208 Daß Cramer kein Einzelfall ist, sieht man auch an Seumes Haltung, der als Korrektor von Klopstock scharf angegangen wurde und dennoch schreibt: „Es ist unendlich angenehm und lehrreich, dem Ideengange eines solchen Mannes in der Veränderung seiner Werke unter seiner eigenen Handschrift zu folgen, wo man mit einem Blicke mehr sieht, als man sonst durch Vergleichung der Ausgaben nur mit Mühe findet“ (KB 10, 331).
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Am Ende des fünften Teils beschreibt Cramer noch einmal sein Projekt einer Werkausgabe. Bei Ankündigung des nicht erschienenen sechsten Bandes wendet Cramer sich an die „Käufer dieses fünften Theiles der Werke Klopstocks, die mit meinem Commentare, und – so viel ich von seiner Lebensbeschreibung geben kann! – Lebensbeschreibung begleitet, nach chronologischer Folge ihrer ersten Herausgabe“ erscheinen (CV 435).209 Dies versteht sich nicht von selbst. Denn Cramer, der schon zuvor Teile seines Messias-Kommentars aus marketingtechnischen Gründen auch einzeln herausgegeben hat (KB 8, 265)210, stößt mit seinem Vorhaben, die Göschen-Ausgabe von Klopstocks Werken mit Erläuterungen zu begleiten, beim Verleger auf Ablehnung. Weder will Göschen „die Werke zweyer Schriftsteller in einer Sammlung geben [...]“, noch kann er sich „mit der Idee vertraut machen daß die Werke eines lebenden Schriftstellers den Zeitgenoßen durch Commentarien eines Anderen deutlich gemacht werden sollen“ (KB 9, 69f.).211 Freilich scheinen diese Bedenken weniger prinzipieller Natur zu sein als vielmehr Vorbehalten gegen Cramer zu entspringen. Jedenfalls bringt Göschen selbst Böttiger als Kommentator ins Spiel und entwickelt mit diesem – wie angedeutet (5.2 a) – das Konzept einer Oden-Ausgabe mit Varianten, einem Glossar und einer Tabelle mit politischen und biographischen Daten zur Entstehung der Gedichte (KB 9, 123, 461). Klopstock will Cramer jedoch nicht düpieren und übernimmt daher selbst die Erläuterung, dies allerdings fernab jeder Vorstellung seines Verlegers (KB 9, 120, 157, 461). Entscheidend ist auch in diesen Zuammenhängen die Kombination aus notwendigen „litterarische[n] Notitzen“ und „viel Gefühl und Sinn“ als Leitwert der editorischen Aufbereitung eines Werks (KB 9, 171). Auf Böttigers Kommentar mußten die Leser allerdings vergeblich warten. Erst die Odenkommentare von Ferdinand Delbrück212, C.F.R. Vetterlein213, J.G. Gruber214, Heinrich Düntzer215 oder die von L.A. _____________ 209 Bereits am 24. Juli 1779 schreibt Cramer an P.E. Reich von einer „vollständigen, authentischen und mit durchgehenden, erklärenden, untersuchenden und biographischen Anmerkungen begleiteten Edition“ von Klopstocks Werken (zit. nach Krähe: Carl Friedrich Cramer [1907], S. 163). 210 Cramer veröffentlicht den Kommentar zum neunten und zehnten Gesang als 9.St. seines Menschlichen Lebens unter dem Titel: Klopstock (Friedrich Gottlieb). Über ihn. Siebentes Stück. Altona / Leipzig 1792. 211 Göschen ist hier freilich keineswegs konsequent, denn er versucht durchweg Klopstocks Erlaubnis dafür zu erhalten, daß Böttiger die Anmerkungen übernimmt, und dies auch deswegen, weil Klopstock aus Göschens Perspektive die „ungelehrte[n] Leser“ als eigentliche Adressaten verfehlt (Gerhardt: Karl August Böttiger und Georg Joachim Göschen im Briefwechsel, S. 43, 54). 212 Delbrück (Hrg.): Lyrische Gedichte, mit erklärenden Anmerkungen. […] Erster Band: Oden von Klopstock (1800). 213 Klopstocks Oden und Elegien mit erkl. Anm. von C.F.R. Vetterlein (1827).
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Back kommentierte Oden-Edition216 bieten die für notwendig gehaltenen Informationen. Cramer jedenfalls kombiniert in Klopstock. Er; und über ihn die drei Genres, die der Deutschen Philologie zur Ausdifferenzierung des Fachs im 19. Jahrhundert dienen217: den Kommentar, die Biographie und die Edition. So kann es auch nicht mehr wirklich verwundern, wenn sich im vierten Band des Klopstock-Buchs eine der ersten Vorlesungen findet, die in Deutschland an einer Universität über einen Autor der Gegenwartsliteratur gehalten worden ist (CIV 421ff.).218 Zusammenfassend: Cramer Lesehaltung verknüpft die professionelle Lektüreaskese des Gelehrten mit der Liebhaberei des empfindsamen Lesers bzw. der empfindsamen Leserin.219 Daraus geht eine beinahe selektionslose Aufmerksamkeit hervor, die Cramer durch die vorweggenommene Historisierung des Gegenstandes, durch die Bedeutung eines Autors für seine Zeit sowie umgekehrt durch die extensive und intensive Verzeitlichung des Werks, also durch die Beobachtung von Zeitinvestition in ein Einzelwerk oder ins Gesamtwerk, begründet. Die dreifache Realisierung literaturkritischer Handlungsoptionen durch den Anschluß an Herders Historisierung und Perspektivierung, an Goethes Trennung von primärer und sekundärer Literaturkommunikation sowie an Wielands Konzept des genauen und sich selbst mißtrauenden Lesens wird im zweiten KlopstockBuch fortgeführt durch die strikt chronologische Ordnung des in der Darstellung konstituierten Lebenswerks, die Fiktion historischer Nachträglichkeit und damit möglichen Informationsverlusts, die klare räumliche _____________ 214 Klopstocks Oden. Mit erl. Anm. v. J.G. Gruber (1831). 215 Klopstocks Oden. Erläutert von Heinrich Düntzer (1878). 216 Klopstocks Werke: Mit einer Biographie Klopstock’s und zum Theil mit erklärenden Anmerkungen. Hrg. von A. L. Back (1876). 217 Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, S.393ff., 448ff. 218 Krähe: Carl Friedrich Cramer (1907), S. 153f. – hier zum zunächst relativen Mißerfolg der Vorlesung, wohingegen Cramer selbst über den Erfolg späterer Vorlesungen glücklich war. In Briefen berichtet Cramer, daß die Klopstock-Vorlesung zu den erfolgreichsten Veranstaltungen der Universität gehörten (KB 8, 151, 700). Er vermerkt aber auch schwankendes Interesse, so die stark abnehmenden Zuhörerzahlen bei der Lesung über Hermanns Tod im Vergleich zu Hermann und die Fürsten (KB 8, 171). Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß Cramer sich mit dem Vorwurf konfrontiert sieht, sich mit „Nebendinge[n]“ zu beschäftigen (KB 8, 151). 219 Das betrifft im übrigen auch die Medienempfindlichkeit: Das Vorlesen als empfindsame Vermittlung von Klopstocks Werk überspielt die „Schwierigkeiten“, die sich „beym bedächtigen Lesen“ ergeben können (KB 8, 73f.). Das widerspricht freilich Cramers Beweis für die Klarheit Klopstocks, die zu Tage trete, wenn man ihn richtig vorlese (z. B. TF 19f.). Cramers Vermutung, daß man sich beim „bedächtigen Lesen“ vielleicht „Schwierigkeiten“ nur „ergrübelt“ (KB 8, 74), könnte auf eine medientheoretische Beschreibung von Verständnisproblemen hinauslaufen. Allerdings unterscheidet Cramer an anderer Stelle das genaue Lesen auch nur vom „bloßen Lesen“ (KB 8, 175).
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Trennung von Objekt- und Gegenstandssprache sowie die Entfaltung historischer ‚Gerechtigkeit‘. Hatte Klopstock noch durch die Langsamkeit der Messias-Produktion faktisch die Literaturkritik mit den Problemen der Zeitlichkeit von Schreiben und Lesen konfrontiert, holt Cramer diese Perspektive nun nach der zumindest vorläufigen Vollendung des Epos in einen Gegenstand selbst hinein, der „ganz“ verstanden werden will. Der Philologe wird – mit einem treffenden Wort Wilhelm Körtes – zum „Werkinstrument“ des Autors.220 Die stets überholbare Bedeutung der Details schlägt sich in der Bereitschaft zur Korrektur nieder, und diese Korrekturbereitschaft markiert Genauigkeit und Anforderungshöhe. Dies stiftet eine potentiell andauernde und stets reversible Kommunikation über einen Gegenstand221: die Klopstock-‚Nationalphilologie‘222 kann beginnen, eine ‚Disziplin‘ hat einen Gegenstand und ‚Schulen‘ haben ein Objekt der Auseinandersetzung in einer Zeit, in der Leser – mit Cramers Worten – „selbst nichts mehr machen, sondern über das was da ist, schreiben werden [...]“ (TF 185).223 c) Ausblick: Von der kritischen zur philologischen Kommunikation Die Anschlußmöglichkeit von Cramers Lektüreverfahren an den Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie im 19. Jahrhundert ergibt sich bereits daraus, daß auch die Etablierung der Philologie programmatisch von einer Leseethik getragen wird, die sich vor allem über den Imperativ der genauen und entsagungsvollen Beobachtung bestimmt.224 Die Philologie ist Scherer zufolge „unparteiisch“ und grenzt sich damit von der „frühere[n] Poetik und Ästhetik“ ab.225 Der „unparteiisch[e]“ Blick des _____________ 220 So Körte in Abwehr seiner Handlangerfunktion für Gleim (KB 10, 761) – zu Körtes Konzept einer ‚vollständigen‘ Gleim-Ausgabe: KB 10, 741, 758. 221 Zur Oszillation zwischen „Vorläufigkeit und Wahrheitsanspruch“ vgl. Fohrmann: Einleitung, S. 10; vgl. auch Kolk: Liebhaber, Gelehrte, Experten, S. 65f. 222 Wie bei der Goethe-Philologie läßt sich so die Keimzelle der Klopstock-Philologie an der Schnittstelle von Literaturkritik, Literaturgeschichte und Textkritik verorten – zur GoethePhilologie in diesem Sinn vgl. Kruckis: Goethe-Philologie als Paradigma neuphilologischer Wissenschaft im 19. Jahrhundert, S. 451. 223 Vgl. hierzu auch die Vermutung eines Freunds von Cramer, dessen Edition von Hermanns Tod würden die „Scholiasten“ in jedem Fall mißtrauen: „O! hilft Alles nichts; [...] man wird immer noch glauben, Cramer hat vielleicht ein Comma übersehn; einen Buchstaben ausgelassen; einen Punct über ein i wo mangle“ (KB 8, 176). 224 Vgl. dazu vor allem Kolk: Liebhaber, Gelehrte, Experten, z. B. S. 55f., 73ff.; Fohrmann: Einleitung, z. B. S. 6f.; Wegmann: Was heißt einen ‚klassischen Text‘ lesen? S. 406ff.; Dainat: Von der Neueren deutschen Literaturgeschichte zur Literaturwissenschaft, S. 497ff. 225 Scherer: Poetik, S.47.
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Philologen behandelt „auch das Unscheinbarste mit einer regen Sorgfalt“.226 Aber wie erkennt man eigentlich das ‚Unscheinbare‘, das sich ja gerade durch seine Neigung auszeichnet, übersehen zu werden? Oder anders: Wie erscheint das ‚Unscheinbare‘, ohne seine Unscheinbarkeit zu verlieren? Für diese Operation nutzen Philologen u. a. auf dreifache Weise Zeit: Erstens verzeitlichen sie das Einzelwerk, machen es durch Varianten transparent auf seine Entstehungs- und Bearbeitungsgeschichte und rükken dadurch die „Kunst des Dichters im Kleinen und Kleinsten“ in den Blick;227 zweitens verzeitlichen sie das Gesamtwerk durch die genaue Aufarbeitung des ästhetisch defizienten Jugendwerks – der „relative[ ] Werth“ aller Werkelemente als „Entwicklungsmoment“ der Geistesgeschichte eines Autors erlaubt nicht mehr, wie Karl Goedecke erklärt, „zwischen Wichtigem und Minderwichtigem [...] [zu] unterscheiden“;228 drittens läßt sich ein Werk oder ein Werkteil durch seine Bedeutung für die „Entwicklung“ der Literatur-, Geistes- oder Kulturgeschichte interessant machen – „in ästhetischer Hinsicht mögen [...] Überschreitungen Tadel verdienen, historisch“ können sie dennoch „gerechtfertigt“ sein.229 Durch Temporalisierung erhält die Philologie einen ihrer Gegenstände: das in keinem Detail bedeutungslose Lebenswerk als Moment eines kulturellen Prozesses. Im Blick auf dieses Lebenswerk kann sie behaupten, sich mit wichtigen Dingen zu beschäftigen, die aber so gut wie alle Leser für unwichtig halten, so daß man Spezialisten dafür benötigt. Die Anschlußstellen an Cramer sind dann im 19. Jahrhundert so vielfältig wie die dort vertretenen Zugangsweisen zur Literatur: Kommentare „für Anfänger und ungelehrte Leser“ stellen sich in die Tradition von Cramers Erläuterungen230, Quelleneditionen für Liebhaber in die Tradition von Cramers Editionspolitik.231 Eine wissenschaftliche Monographie _____________ 226 Bernays: Die Urschriften der Briefe Schillers an Dalberg (1887), S.432; vgl. auch ders.: Über Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes, S.47, 89, auch S.82, Anm.62. 227 „Eine umfassende, methodisch angeordnete Sammlung der Varianten wird uns mannigfache Gelegenheit bieten, die Kunst des Dichters im Kleinen und Kleinsten zu studiren, und dies Kleine wird uns oft genug auf die Erwägung der bedeutendsten Fragen hinlenken, die eben so wohl den Autor als sein Werk betreffen“ (Bernays: Über Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes, S.85). 228 Schiller: Sämtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hrg. von Karl Goedeke. Bd.1. Jugendversuche, S.V. 229 Muncker: Lessings persönliches und literarisches Verhältnis zu Klopstock, S. 12. Vgl. auch: „Ohne Klopstocks Oden [...] wäre die gesamte spätere Entwicklung unsrer Lyrik bis auf den heutigen Tag unmöglich gewesen“ (KO 1, IV). 230 Ueber Klopstocks Messias. Erster Theil (1805), S. XIVf., XV. 231 Auswahl aus Klopstocks nachgelassenem Briefwechsel und übrigen Papieren. Erster Theil (1821), S. 46f., 71 – die Zusammenstellung wurde von C.A.H. Clodius veranstaltet und mit einer kruden Einleitung zu den „ächtdeutschen Zügen der christlich epischen Poesie“
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aus dem universitären Kontext wie Munckers Lessing/Klopstock-Buch232 bezieht sich ebenso umstandslos auf Klopstock. Er; und über ihn wie die Schulmänner-Philologie.233 Biographien knüpfen an Cramer an234, und dies gilt selbstverständlich auch für Darstellungen, die sich auf die Jugendbiographie Klopstocks konzentrieren, was Eduard Niemeyer, Realschulrektor in Neustadt-Dresden, zutreffend als Novum verbucht.235 Dabei steht über Cramer hinaus wie in David Friedrich Strauß‘ „Jugendgeschichte“ Klopstocks nun auch das Modell ‚Klopstock als Vorläufer und Wegbereiter der Weimarer Klassik‘ zur Verfügung.236 Heinrich Düntzer scheint allerdings ein wenig zu übertreiben, wenn er Klopstock einen „Ehrenplatz“ in der „Geschichte der Entwicklung der deutschen Dichtung“ zuweist237 – es hätte doch genügt, entweder von ‚Geschichte‘ oder von ‚Entwicklung‘ zu sprechen. Die Bezugnahmen auf Cramer sind freilich nicht immer positiv. Oftmals spielt die Disqualifizierung Cramers eine Rolle, die sich schon in den Besprechungen seiner Klopstock-Bücher in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek findet: Cramer erkläre zu wenig oder zu viel und stelle sich ungebühr_____________
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Klopstocks (ebda., S. 25) versehen. Interessant ist allenfalls der Versuch, Klopstock über die Einprägung einer historischen Perspektive gegenwartskompatibel zu machen (vgl. z. B. ebda., S. 65 sowie generell zu den Leistungen Klopstocks für die Emporführung des „deutschen ursprünglichen Volkscharakter[s] aus dem Dunkel des Alterthums“, ebda. S. 11). Muncker: Lessings persönliches und literarisches Verhältnis zu Klopstock, z. B. S. 93. Bosse: Klopstockische Studien (1864), S. 5 – hier allerdings mit einer Negativmeldung: Über das Verhältnis von Bodmer und Klopstock erfahre man bei Cramer nur wenig. Interessanter: Zu den im Jahre 1840 am Gymnasium zu Luckau zu veranstaltenden Oster=Feierlichkeiten ladet im Namen der Lehrer ergebenst ein Dr. Rudolf Lorentz, Director des Gymnasiums. Vorausgeschickt: Zur Erklärung Klopstockischer Oden. Erster Beitrag, von M. Weickert, Conrector und Oberlehrer. Luckau – hier wird der OdenKommentar von Vetterlein (s.o.) kritisiert, korrigiert und ergänzt. Dabei gehört auch Cramer zu den Referenzen (z. B. ebda., S. 9). Vgl. zur Omnipräsenz von Klopstocks Dichtung im Schulunterricht des 19. Jahrhunderts Hirsch: Klopstock und die Pädagogik des XVIII. und XIX. Jahrhunderts, S. 130ff. Als material- und entsprechend anmerkungsreiche Darstellung vgl. z. B. Doering: Klopstocks Leben (= Friedrich Gottlieb Klopstock: Sämmtliche Werke. Erster Supplementband) (1825), zu Cramer z. B. 24 – vgl. auch das immerhin 144 Titel umfassende Literaturverzeichnis (ebda., S. 338-348). Von Doering gibt es auch noch ein ‚populäre‘, ‚anmerkungslose‘ Klopstock-Biographie: Doering: Friedr. Gottl. Klopstock‘s Biographie. Complet in Einem Bändchen (= Biographien deutscher Classiker. Supplement zu der Göschen=Cottaischen Ausgabe „deutscher Classiker“. Bd.6) (1853). Niemeyer: Jugendleben Klopstocks, Lessings, Wielands und Herders (1864), S. V (als Quelle für Klopstock gibt er u. a. Cramer an, ebda., S. 170). Strauß: Klopstock‘s Jugendgeschichte (1858 / 1865); zum Vorläufermodell vgl. die Einleitung zu den Kleinen Schriften (S. IVf); zu Cramer vgl. ebda., z. B. S. 5. Klopstocks Oden. Erläutert von Heinrich Düntzer. Bd.1, S. 82 – zu Klopstock als „Vorläufer“ z. B. ebda., S. 5, 79, 81).
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lich selbst in den Vordergrund.238 Daneben tritt die Kritik an seiner Ungenauigkeit, insbesondere was die Textkritik betrifft, die Erich Schmidt zufolge „unkritisch genug“ sei.239 Freilich steht auch Schmidt – ob gewollt oder nicht – in der Tradition Cramers, wenn er Beiträge zur Kenntniß der Klopstockschen Jugendlyrik abliefert. Seine Beiträge sind dabei im Erläuterungsteil im übrigen nicht weniger rhapsodisch als die von spontanen Regungen geprägte Kommentarpraxis Cramers und profitieren von dessen Kommentar oft genug.240 Lag Cramer also richtig, wenn er die Überlebensfähigkeit seiner Klopstock-Bücher aus dem ‚Historischen‘ der gegebenen ‚Nachrichten‘ ableitete und darauf beschränkte, so hatte er eine andere Möglichkeit außer acht gelassen: daß er selbst zum Gegenstand der Philologie werden würde. Erste Ansätze zu einem wiederum ‚historisch gerechten‘ Urteil finden sich bezeichnenderweise bei den textkritischen Klopstock-Spezialisten. Jaro Pawel, der später mit Franz Muncker die kritische Edition der Oden Klopstocks veranstaltet, publiziert 1882 eine kritische und kommentierte Ausgabe von Klopstocks Wingolf. Darin schließt er sich an Erich Schmidts Verteidigung der „älteren Lyrik“ an, deren „gerecht[e]“ Würdigung „stets des historischen Urtheils“ bedürfe.241 Und zugleich bezieht er diese Gedankenfigur auf Cramer, dabei an Richard Hamels Urteil in dessen textkritischen Klopstock-Studien anknüpfend: „Cramers begeisterte Bewunderung war es, die ihn mit seinen maßlosen Grobheiten gegen Klopstocks Kritiker vollständig isolierte“, man sollte aber „den Kern seiner oft trefflichen Bemerkungen“ beachten. „Erst in neuester Zeit hat mit Recht Richard Hamel auf Cramers oft feines Urteil über Klopstocks Praxis und Theorie hingewiesen“.242 1904 liegt dann an der Friedrich WilhelmsUniversität zu Berlin bei Erich Schmidt und Gustav Roethe eine umfangreiche Dissertation zu Cramer von Ludwig Krähe vor.243 Auch hier, bei der Selbsthistorisierung der Philologie, zeichnet sich eine bemerkenswerte Beschleunigung ab: Im Rahmen der Selbstbegründung _____________ 238 Allgemeine deutsche Bibliothek 107 (1792), S. 417ff. Vgl. zur Cramer-Kritik Krähe: Carl Friedrich Cramer (1907), S. 179ff. 239 Schmidt: Beiträge zur Kenntniß der Klopstockschen Jugendlyrik, S. 7. Zu Cramers Textkritik vgl. Krähe: Carl Friedrich Cramer (1907), S. 169ff. 240 Z. B. Schmidt: Beiträge zur Kenntniß der Klopstockschen Jugendlyrik, S. 38f. 241 Schmidt: Beiträge zur Kenntniß der Klopstockschen Jugendlyrik, S. 38. Dazu: Friedrich Gottlieb Klopstock: Wingolf. Kritische Ausgabe nebst Commentar von Jaro Pawel (1882), S. Vf. 242 Klopstock: Wingolf, S. 107 – auch hier natürlich die Kritik an Cramers mangelnder textkritischer „Genauigkeit“ (ebda., S. 3). 243 Teilveröffentlichung: Krähe: Carl Friedrich Cramer bis zu seiner Amtsenthebung (17521794) (1904; komplett 1907) – Krähes Dissertation zeichnet sich durch eine durchlaufend polemische Haltung bei gleichzeitiger materialreicher Erschließung dieses Autors aus.
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und -legitimation greifen neugermanistische Philologen wie Erich Schmidt, Jacob Minor oder August Sauer auf Lessings Messias-Kritik im 19. der Briefe die neueste Literatur betreffend zurück – Oskar Walzel nennt sie „ein bedeutsames, unseren Forschungen voranleuchtendes Wort Lessings“.244 Gemeint ist damit folgende Stelle: Veränderungen und Verbesserungen aber, die ein Dichter, wie Klopstock, in seinen Werken macht, verdienen nicht allein angemerkt, sondern mit allem Fleiße studieret zu werden. Man studieret in ihnen die feinsten Regeln der Kunst; denn was die Meister der Kunst zu beobachten für gut befinden, das sind Regeln.245
Diese Forderung nach dem Variantenstudium bei Klopstock kann der Neuphilologie stets als legitimierender Anknüpfungspunkt dienen: „Das Werden der poetischen Sprache Klopstocks“ läßt sich nur mit einem „historisch kritische[n] Verfahren“ durchleuchten, wobei sich der richtige „Standpunkt“ nur durch eine „zeitraubend[e] und mühselig[e] [...] Wanderung durch ‚das quellenarme Wüstenland‘“ von Klopstocks „Vorgänger[n]“ und „Zeitgenossen“ gewinnen läßt.246 Oskar Walzel überträgt in seiner Rezension der 3. Auflage von Erich Schmidts Lessing-Biographie Lessings Forderung nach einer textkritischen Klopstock-Beobachtung auf die Literaturwissenschaft selbst. Bei Walzel heißt es jetzt: Veränderungen und Verbesserungen, die ein Forscher wie Erich Schmidt in seinen Werken macht, verdienen nicht allein angemerkt, sondern mit allem Fleisse studiert zu werden. Man studiert in ihnen die feinsten Regeln der Wissenschaft; denn was die Meister der Wissenschaft zu beobachten für gut finden, das sind Regeln.247
Walzel beschreibt damit sicherlich die „Dominanz der Tradition“ als Ersatz für die Reflexion normativer Voraussetzungen der Literaturwissenschaft.248 Wie aber Lessing zugleich eine Regelästhetik verabschiedet und an die frei gewordene Stelle individuelle Autorschaft setzt, die die oben beschriebene Virtuosität literaturkritischer Meinungsbildung und damit einen interessierten und potentiell historischen Blick provoziert, so markiert auch bei Walzel die zitierte und umgewidmete Stelle den Übergang in die Vergeschichtlichung der Wissenschaft und in die Verabschiedung von Tradition. _____________ 244 Schmidt: Beiträge zur Kenntniß der Klopstockschen Jugendlyrik, S. 7; Minor / Sauer: Studien zur Goethe-Philologie, S.7; vgl. auch Hamel: Zur Textgeschichte des Klopstock’schen Messias, Motto u. S.5f. Walzel: [Rez. von] Erich Schmidt: Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. 3. Aufl., Sp. 2658. 245 Lessing: Werke. 5. Bd., S.79. 246 Petri: Kritische Beiträge zur Geschichte der Dichtersprache Klopstock’s (1894), S. 2f. 247 Walzel: [Rez. von] Erich Schmidt: Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. 3. Aufl., Sp. 2658. 248 Dainat: Von der Neueren deutschen Literaturgeschichte zur Literaturwissenschaft, S. 500.
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Auf der einen Seite steht bei Walzel die Heroisierung Schmidts: Das Lessing-Buch bedeutet „ein Höchstausmaß der Leistung einer Wissenschaft“ und zeichnet sich durch die „Schärfe des Beobachterblicks“, durch „eiserne[ ] Selbstzucht“ und „unermüdliche[n] Fleiß“ aus.249 Auf der anderen Seite aber ist es gerade bei diesem Meisterstück „von vielseitigem Interesse, das allmähliche Werden und Reifen zu verfolgen“ – damit rückt Schmidt endgültig auf die Position Klopstocks, vor allem mit den Besprechungen Alexander von Weilens, der textkritisch das „Neue“ sowie den „methodischen und formalen Weitergang aufmerksamen Blickes verfolgt und in solcher Darstellung ein Stück Geschichte unserer Wissenschaft geschrieben“ hat:250 Tatsächlich verfolgen Weilens Schmidt-Rezensionen akribisch bis in die Details die Veränderungen (etwa bei der Ersetzung des Wortes „aber“ durch „jedoch“), suchen nach Gründen dafür, die teils im wissenschaftlichen Reifeprozeß Schmidts, teils in den Fortschritten der Forschung, die Schmidt dann einarbeitet, gefunden werden. Angelegt findet sich hier bereits Walzels künstlerische Betrachtung der LessingBiographie und entsprechend das Lob der Zurücknahme von Motivhäufungen, der zunehmenden „Concentrierung“, schärferen Umrißbildung u. ä. Die „Einheit des Tones“ und die „akademische[ ] Vollendung“ nähert Schmidt diesmal nicht Klopstock an, dafür aber Lessing. Im Blick auf die Vermeidung von Fremdwörtern heißt es: „[...] wie Lessing selbst ist sein Biograph zum vernünftigen Puristen geworden [...]“.251 Walzel unterzieht sich nun nicht mehr der Mühe, diese genetische Perspektive fortzuführen, sondern spielt dem „künftige[n] Biograph[en] Erich Schmidts“ zu, der uns „über Weilen hinaus“ leiten wird, indem er zeigt, wie in den verschiedenen Auflagen der Lessing-Biographie Schmidts Persönlichkeit „Ausdruck“ gefunden hat. Und auch dabei rückt bei aller zunehmenden Perfektion im Alter das Jugendwerk in den Blick. Die Darstellungs- und Methodenentwicklung gerät zum Abbild des Werdegangs. Während „die scharfe Berliner Luft [...] Schmidt bald veranlaßt [hat], den _____________ 249 Walzel: [Rez. von] Erich Schmidt: Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. 3. Aufl., Sp. 2657f. 250 Walzel: [Rez. von] Erich Schmidt: Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. 3. Aufl., Sp. 2658. 251 Alexander von Weilen: [Rez. von Erich Schmidt: Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. 2 Bdd. 2. veränd. Aufl. Berlin 1899], Zitate S. 137, 142; ders.: [Rez. von Erich Schmidt: Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. 2 Bdd. 3. durchges. Aufl. Berlin 1909], Zitat S. 433 – für die Ausrichtung der Rezension ist weiterhin der Hinweis auf die verstärkte Einarbeitung aktueller künstlerische Bezüge (z. B. Lenbach, Daudet, Heyse) wichtig (von Weilen: [Rez. von Erich Schmidt: Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. 2 Bdd. 2. veränd. Aufl. Berlin 1899], S. 139). In der zweiten Rezension folgt dann auch der Verweis darauf, daß sich „Diltheys Geist [...] in mancher Wendung“ Schmidts geltend mache (von Weilen: [Rez. von Erich Schmidt: Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. 2 Bdd. 3. durchges. Aufl. Berlin 1909], S. 435).
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Rock über dem Herzen fester zuzuknöpfen, als er es in Wien zu tun pflegte“, muß man „den jungen Erich gesehen und gehört haben, will man begreifen, warum für uns in ihm der junge Goethe zu neuem Leben wiedererwacht schien [...]“.252 Das wissenschaftlich-literarische Dioskurenpaar, das der ‚junge Erich‘ und der ‚junge Goethe‘ bilden, gehören in das Kapitel zu Goethe (5.4.3). Die Anschlüsse zwischen Klopstock und Goethe ergeben sich dabei wie von selbst, weil eine Stelle aus Goethes Horen-Aufsatz Literarischer Sansculottismus von 1795 dieselbe Funktion für die Neuphilologie im 19. Jahrhundert hat wie der Passus aus Lessings Messias-Kritik253 und sich zudem noch auf ‚Wieland‘ als Paradigma interessierter Kommunikation bezieht (5.4.1). Goethe setzt sich dabei mit der Bildung einer deutschen Nationalliteratur auseinander und legt den Bibliothekaren eine Sammlung aller Wielandschen Werkausgaben ans Herz: „[...] ein verständiger fleißiger Literator“, so Goethes Argument, würde „durch Vergleichung der sämmtlichen Ausgaben unsres Wielands [...] allein aus den stufenweisen Correkturen dieses unermüdet zum Bessern arbeitenden Schriftstellers die ganze Lehre des Geschmacks [...] entwickeln können“ (WA I, 40, 201). In den letzten beiden Kapiteln ging es jedenfalls darum, das Fünkchen Wahrheit in einem Diktum Novalis‘ herauszuarbeiten: „Klopstocks Wercke scheinen größestentheils freye Übersetzungen und Bearbeitungen eines unbekannten Dichters durch einen sehr talentvollen, aber unpoëtischen Philologen, zu seyn“.254
5.3 Die Poesie der Philologie I: Ludwig Tieck ‚Um 1800’ wird der strukturelle Umbau des Literatursystems für die Zeitgenossen insbesondere im Xenien-Streit deutlich sichtbar.255 An der Wende zum 19. Jahrhundert nutzten in diesem Zusammenhang eine Reihe von Autoren einen neu entfachten ‚Dichterkrieg‘256, um sich gegen die etablierte Riege von Schriftstellern zu profilieren und als neue, ‚romantische Schule‘ mit spezifischen Umgangsformen und ästhetischen Konzepten, mit spezifischen Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten, mit spezifischen _____________ 252 Walzel: [Rez. von] Erich Schmidt: Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. 3. Aufl., Sp. 2659f. 253 Bernays: Über Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes, S. 85; Minor / Sauer: Studien zur Goethe-Philologie, S. VII; Hamel: Zur Textgeschichte, S. 5f. 254 So im 57. Fragment der Poëticismen (Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe. Bd. 2, S. 326). 255 Eine erste Fassung des Folgenden habe ich in Romantische Aufmerksamkeit entworfen. 256 Schmitz: „Poetenblut düng‘ unsern Platten Grund“, S. 248ff.; Dahnke / Leistner: Von der „Gelehrtenrepublik“ zur „Guerre ouverte“, S. 31ff.
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Reizschwellen und Blockierungen eine zentrale Position zu sichern. Gerade in diesem Kontext sieht man, daß der Übergang von der literaturkritischen zur philologischen Kommunikation und der entsprechende Umgang mit dem Werk keine Episode ist, sondern auf strukturelle Zusammenhänge hinweist. Ein Beispiel, an dem viele Dimensionen der Werkpolitik verdeutlicht werden können, ist Ludwig Tieck, der seine Werkpolitik auch im Kontext (proto-)philologischer Einstellungen entwirft. Tiecks Modell von Werkpolitik und seine Reaktionen auf die Probleme, die sich beim Arbeiten unter Bedingungen kritischer Gewalt ergeben, sind weder singulär noch stellen sie im Prinzip eine Individualleistung dar. Anknüpfungspunkte z. B. zur ‚klassischen’ Werkpolitik gibt es viele, darunter nicht zuletzt die Ökonomie des Ästhetischen und im besonderen des Werks:257 Wie bei Goethe motiviert etwa auch bei Tieck die buchhändlerische Konkurrenz ein positives Verhältnis zu den eigenen Werken in ihrer ‚Vollständigkeit’, damit diverse Rekurse in das eigene Jugendwerk und die Konzeption eines Lebenswerks (5.4.2 a).258 Im Vorbericht zur dritten Lieferung seiner Schriften (1829) erläutert Tieck: Es ist schon erwähnt worden, daß die Umstände, welche die Herausgabe meiner Schriften veranlaßt haben, mich bestimmen, keine Auswahl zu treffen, und jene Versuche nicht zurück zu legen, die zu jugendlich, oder unbedeutend erscheinen könnten: sondern die Liebhaber dieser Produktionen haben gerade dadurch den wiederholten Nachdruck befördert, daß sie eine vollständige Sammlung alles dessen, was von mir je mit und ohne Namen ist gedruckt worden, verlangt haben. […] Lange habe ich gezaudert, weil ich den Entschluß nicht fassen konnte, alle Jugend-Versuche oder flüchtig entworfenen Aufsätze dem Publikum von neuem zu übergeben. Da ich und mein Freund, der Verleger meiner Werke, aber fürchten müssen, daß irgendwo ein Nachdrucker diesen scheinbaren Mangel von neuem benutzen möchte, um wiederum durch vorgespielte Vollständigkeit den Vorteil über uns davon zu tragen, so haben wir uns entschließen müssen, alles, bis auf wenig unbedeutende Ausnahmen, zu geben, was von mir im Druck erschienen ist. (S XI, VII u. XVf.)259
Erneut gründet die Legitimierungsstrategie in dem historischen Interesse, auf das Tieck im Rahmen der Veränderung der Aufmerksamkeitskultur setzen konnte.260 So ist Tieck auf der einen Seite der Überzeugung, die _____________ 257 Vgl. zu weiteren Perspektiven: Mix: Kunstreligion und Geld. 258 Verf.: Zwischen Dichtung und Wahrheit. 259 Vgl. dazu auch: S XI, XXXV. Zur Motivation durch den Nachdruck vgl. die Briefe an Cotta vom 7. April 1824 (Dichter über ihre Dichtungen. Bd. 9/1, S. 325) sowie an Raumer vom 19. November 1824 (ebda., S. 326). 260 Vgl. z. B. im Vertrag mit Reimer die Bestimmung, daß die Vorreden zu den Schriften „historische oder kritische Einleitung[en], die Entstehung der Inhalte umgreifend oder Umstände der Zeit u. Literatur andeutend“, bieten sollen (zit. nach Dichter über ihre Dich-
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eigentliche Poesie erlebe in Goethes Werk ihre Wiedergeburt; auf der anderen Seite aber sei es, „wenn man hievon überzeugt ist, nicht nothwendig, jene Früheren zu verwerfen [...]“ (5.4.1).261 Entsprechend dieser Ökonomie der Vollständigkeit und Selektionslosigkeit adressiert auch Tieck seine Schriften an das Publikum Goethes, also an die ‚Freunde’ und ‚Wohlwollenden’, die sich für „Kleinigkeiten“ interessieren (S XI, XLVII; 5.3.3 u. 5.4.2 c). Nachdem verschiedene inkorrekte und unvollständige Nachdrucke meiner sogenannten sämtlichen Schriften erschienen, wollten es mir schon seit manchem Jahr Freunde und Wohlwollende zur Pflicht machen, meine poetischen Arbeiten und früheren wie späteren Versuche selbst zu sammeln und eine vollständige, rechtmäßige Ausgabe derselben dem Publikum zu übergeben. (S I, V u. XLIV)
Tieck greift schon früh das Projekt auf, sich „den Leser“, das „unbekannte[ ] Wesen“, „zum Freunde“ zu machen262, und dieses Projekt einer Intimisierung der literarischen Kommunikation verbindet sich mit der Klarheit darüber, daß sie ins Leere läuft – „ich weiß durchaus nicht, woran ich mit meinem sogenannten geneigten Leser bin“, stellt Tieck in der gleichen Zeit fest.263 Und in einer vielleicht gar nicht allzu ironischen Wendung bekennt er: „Wenn ich an meine Leser denke, so gerate ich augenblicklich in eine solche Furcht, daß ich erst eine Weile die Feder niederlegen muß, mich zerstreuen und von der Vorstellung des Lesers erholen, bevor ich weiter schreiben kann“.264 Leser urteilen gemäß ihrer „Vorurteil[e]“, und um die Prägung dieser ‚Vorurteile’ geht es Tieck wie Goethe beim Kampf um die Werkherrschaft. Man muß, so bekommt Tieck erklärt, das „Publikum auf den richtigen Standpunkt stellen“, noch bevor es mit der Lektüre des Werks beginnt, dies ist „unendlich nützlicher und heilbringender, als die hintendreinkommenden Kritiken, die dennoch den ersten Eindruck nie zerstören“.265 Zwar Tieck sich in der Diagnose durchaus mit Goethe einig, aber dessen Verhalten im Rahmen der kritischen Kommunikation konnte kein Vorbild für ihn sein. Positive Kritiken, so sieht Tieck es an Goethes vergeblichen Lancierungsversuchen, überschreiten bei einem Publikum, das sich auf Negativität eingestellt hat, nicht mehr die Aufmerksamkeits_____________
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tungen. Bd. 9/1, S. 328). Bemerkungen zu einem entwicklungsgeschichtlichen Modell von Kritik und Philologie bei Tieck im Sinne einer um 1803 einsetzenden Historisierung der Perspektive bei Preisler: Gesellige Kritik, S. 191, 240, 308; Brinker-Gabler: Poetischwissenschaftliche Mittelalter-Rezeption, S. 141f. So im Vorbericht zu Der neue Hercules am Scheidewege bzw. Der Autor (1800) (S XI, LXI). Vorrede der Volksmährchen (zit. nach Dichter über ihre Dichtungen. Bd. 9/1, S. 155). Vorrede zu Fermer der Geniale (zit. nach Dichter über ihre Dichtungen. Bd. 9/1, S. 85). Vorrede zu Fermer der Geniale (zit. nach Dichter über ihre Dichtungen. Bd. 9/1, S. 84f.). So Robert Ludwig in einem Brief an Tieck vom 30. März 1816 über dessen Drameneditionsprojekt (Dichter über ihre Dichtungen. Bd. 9/2, S. 224).
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schwelle. „Lob und Tadel wird sich immer nur durch Kritik Bahn machen können“, heißt es im Programm seiner Bücherschau (1827). Tieck verschiebt dabei das günstige Vorurteil vom Autor zum Kritiker: Der Leser müsse „dem kritisirenden Autor mit einigem Vertrauen und Glauben entgegenkommen, um aus einer unbedingten Skepsis heraus nicht bei jeder Behauptung und Erörterung, wie an einen Fremden, anzurennen und wieder zuerst seine Bekanntschaft zu machen, weil auf diesem Wege (den manche zu kluge Leser für den richtigen halten) kein Verständniß möglich ist“ (KS II, 96). Das ‚Vertrauen’, auf dem die Glaubwürdigkeit, und das Mißtrauen, auf dem die Unglaubwürdigkeit von kritischen Urteilen basiert, sind kontingent. Eine Weise, ein positives Vorurteil zu provozieren, führt Tieck im zitierten Bücherschau-Programm an: die Verzeitlichung des Verständnishorizontes, die auch im Fall des (Primär-)Werks zur Intimisierung der literarischen Kommunikation beitragen sollte. Gegenüber Goethes Werk bringt er entsprechende Kompetenzen ins Spiel. Er bleibe „jung genug“, schreibt er am 24. Dezember 1823 nach Weimar, um Goethes „Werke mit dem Enthusiasmus meiner Jugend noch immmerdar geniessen zu können, indem meine wachsende Jahre dazu dienen, diese unwandelbare Treue und Liebe zu rechtfertigen“. Diese „Treue und Liebe“, die Affektdispositionen der Liebe zum Wort, also der ‚Philologie’ im Wortsinn, führen konsequent dazu, über Goethes Werke „im Zusammenhange etwas […] sagen“ zu wollen (5.4.1).266 Die Juvenilität im Verhältnis zum Autor hat dann allerdings auch die aus Goethes Perspektive bedenkliche Konsequenz, daß Tieck insbesondere den ‚jungen Goethe’ schätzt – an diesem Punkt können sich die Diskutanten in Goethe und seine Zeit, der Vorrede zu Tiecks Lenz-Ausgabe, ausnahmsweise in geheimer Abstimmung einigen (KS II, 222).267 Die Goethe-Schrift, die zwar nicht Goethe „im Zusammenhang“ behandelt, aber sehr wohl die Frage des „Zusammenhangs“ bei Goethe, hätte eine genaue Interpretation verdient (s. auch 5.4.1). Für Tieck sind daran zunächst drei Punkte wichtig: Zum einen entwirft Tieck hier ein Set von kritischen Haltungen, die in seinen Schriften in unterschiedlicher Gewichtung auftauchen und die in ihrer dialogischen Konfrontation vor allem die Unmöglichkeit monoperspektivischer Meinungsbildung demonstrieren: _____________ 266 Zit. nach Dichter über ihre Dichtungen. Bd. 9/2, S. 235; vgl. auch den Brief an Carl Gustav von Brinckmann vom 17. November 1835, in dem Tieck auf seine „noch jetzt […] ganz jugendliche“ Begeisterung für Goethe zu sprechen kommt (Dichter über ihre Dichtungen. Bd. 9/3, S. 221). 267 Einzig der ‚Rechtgläubige’, dessen Leseprämisse der Selbstzweifel des Lesers und das Vertrauen in den Autor bis zum Beweis des Gegenteils ist (KS II, 176), spricht sich für das Interesse an der Entwicklung Goethes aus (KS II, 223ff.).
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Der ‚Rechtgläubige’ verschiebt die Gewichte zugunsten des Autors, der ‚Paradoxe’ tendenziell zugunsten des Lesers und der ‚Historiker’ zugunsten des „geschichtlichen Zusammenhang[s]“, der auch dem „Kleinste[n] Bedeutung“ verleihe. Während der ‚Vermittelnde’ allen Streit nur in Mißverständnissen begründet sieht, läßt der ‚Fromme’ überhaupt keine Kritik an Goethe zu (KS II, 175ff.) – die beiden letztgenannten spielen keine größere Rolle. Zum zweiten ist bezeichnend, daß der ‚Paradoxe’ für die Kritik der Kritik eintritt, damit einen offensiven Umgang mit jenen Parametern ‚predigt’, die die Etablierung von Negativität setzt (5.3.2), und zugleich einer geschichtlich relativen Beobachtung das Wort redet (KS II, 200, 237). Umgekehrt plädiert der Historiker, der Tiecks philologische Lösung der strengen kritischen Aporien darlegt (5.3.3) und sich für den Wert des Mangelhaften einsetzt, für kritische Kriterien und klare Urteile (KS II, 180f., 219f.). Diese doppelte Orientierung an der Relativität und Radikalität der Urteilsbildung greift schließlich – drittens – jener Brief „aus der Zukunft“ auf, der am Ende des Goethe-Gesprächs steht. Das Schreiben geht von der unaufhebbaren Standpunktgebundenheit des Verstehens aus. Nur eines bleibt übrig: „[…] sich in Zeiten und Gedanken versetzen, stimmen kann man sich“ (KS II, 261). Bei Tieck rückt die historische ‚Stimmung’ ins Zentrum der Werkhermeneutik (5.3.4). Im folgenden will ich die genannten Aspekte von Tiecks Stellung im Prozeß der Etablierung von Negativität in ihre Kontexte stellen und die Verbindungslinien nachzeichnen, die sie als Perspektiven einer Problemlage erscheinen lassen. Damit soll deutlich werden, daß Tiecks Entwurf kritischer Kommunikation an den Prozeß der Etablierung von Negativität anschließt und ins 19. Jahrhundert weiterführt. Fokus wird erneut jene Verlaufslogik sein, die die kritische Kommunikation über sich hinaustreibt und gleichsam selbstläuferisch protophilologische Einstellungen provoziert. Ich gehe in fünf Schritten vor: Zunächst skizziere ich elementare Bestandteile der kritischen Kommunikation der Romantik (5.3.1). Die Kritik der Romantik schließt an die kritische Kommunikation der Aufklärung an und überbietet diese zugleich, indem sie sich im Medium der Ironie mehr Möglichkeiten eröffnet, die Aporien der kritischen Kommunikation auszustellen und Negativität als etwas Produktives zu konzipieren. In einem zweiten Schritt durchlaufe ich vor diesem Hintergrund Tiecks ‚Kritische Schriften’, um seinen Entwurf kritischer Kommunikation als eine Form romantischer Kritik zu entfalten (5.3.2). Tieck registriert den ‚anarchischen’ Zustand des Literaturbetriebs, und er akzeptiert diesen Zustand nicht nur, sondern unterstützt ihn offensiv. Er reflektiert Literalität als
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medienhistorische Basis der Eskalation kritischer Kommunikation, er entwirft sein Schreiben auf deren Reflexionsförmigkeit, Invisibilität und Perspektivismus, und er hebt sie auf in einem Modell philologischer Kommunikation, das die Virtualisierung von Mangelhaftigkeit, also die potentielle Verkehrung von Fehlern in etwas Positives und des Positiven in Fehler, zur Grundlage einer interessierten Aufmerksamkeit macht. Im dritten Schritt beschreibe und analysiere ich Tiecks Entwurf philologischer Kommunikation (5.3.3). Ausgehend von der bei Tieck durchaus nicht selbstverständlichen Verteidigung lebensgeschichtlicher Kontinuität, geht es dabei vor allem um ein Modell von ganzheitlichem Lesen, das stets vor der Gefahr steht, etwas zu übersehen, weder genau noch umfassend genug beobachtet zu haben. Wegen der Überholbarkeit des Wissens stellt sich dieses Lesen auf einen dauerhaften Kommunikationszusammenhang ein, denn auch die Überholung kann ein Irrtum sein. Anders gesagt: Philologische Kommunikation entfaltet sich im Wechselspiel von Innovation und (Selbst-)Historisierung, bei dem die Potentialität der Fehler dem Leser bestimmte Formen der Zurückhaltung, der Bescheidenheit und des Aushaltens einprägen, also Aspekte des sich im 19. Jahrhundert professionalisierenden Sozialhabitus des Philologen. Die beiden folgenden Kapitel zu Tiecks Werkpolitik legen den Akzent auf Momente, die das Besondere der romantischen Form von Schreiben und Lesen unter Bedingungen der Kritik herausarbeiten. Zunächst gehe ich dabei vom Begriff der „Stimmung“ aus, der zur ironischen Aufmerksamkeit gehört (5.3.4). Die Forderung nach einem stimmungsvollen Werk und einem ebenso gestimmten Leser dient der Komplizierung des Objektbereichs, indem sie Verständnisschwellen erhöht, die Wahrnehmung des Werks und seines Kontextes ‚verfeinert’. Dieser Ästhetik der Stimmung korrespondiert eine Mediologie der Stimmung, die auf eine diffuse Kommunikationssituation reagiert, eine Anthropologie der Stimmung, die den neuronal rekonzipierten Leib stimmbar macht, eine Psychologie der Stimmung, die spezifische Formen der Identitätsbildung umsetzt, sowie eine Politik der Stimmung, die hierarchische Modelle der Außensteuerung in ein vielstimmiges Miteinander selbstgesteuerter Einheiten transformiert. Diese Doppelbewegung der Abschottung und Verzahnung der stimmungsvollen Einheiten bestimmt dann auch die Werkästhetik und entsprechende Modelle von Werkpolitik. Abschließend geht es um den Zusammenhang von märchenhafter Stimmung und philologischem Lesehabitus (5.3.5). Vor dem Hintergrund der Rahmengespräche des Phantasus, die aus Perspektive der Verhaltenslehren das Konfliktpotential von Kritik in der Interaktion demonstrieren, kann man sehen, wie Tiecks Reflexionspoesie erzählte Märchen, Rahmenhandlungen und Publikumsadressierungen als Analogieverhältnisse ent-
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wickelt und die Fortsetzung dieser Reihe auch im Rahmen der philologischen Kommunikation provoziert. Die Produktion der Poesie aus der stimmungsvollen Lebenslage heraus wird von einer auf Zeit- und Werkstimmungen abonnierten philologischen Aufmerksamkeit mit Interesse bedacht. Die Darstellung erweist sich aber nicht nur in ihrer Gestimmtheit als Fortsetzung jener philologischen Kommunikation, die aus der kritischen hervorgegangen ist, sondern auch in der eigentümlichen Ironie, im Bewußtsein von Vorläufigkeit und Überholbarkeit. Die entsprechende Lesemoral führt zu einer wörtlich zu verstehenden Werkpolitik der autonomen Poesie. Tiecks Kritik an der Unterstellung der Poesie unter Belange der Moral und Nützlichkeit verbündet sich mit der Ästhetik, Anthropologie, Psychologie und Politik der Stimmung insofern, als es ihm auch hier darum geht, die Auffälligkeit und Exterritorialität von (Selbst)Bestimmung abzuweisen. So wie sich politische Vorschriften oder ökonomische Werte im Vollzug beglaubigen, so beglaubigen sich in ihrer Umsetzung auch die kritische und die werkpolitische Gewalt, die ihre Sicherheit im Prozeß der Etablierung von Negativität verloren haben und zugleich Visionen ihrer Mächtigkeit entfalten. 5.3.1 Kritik der Romantik Am 31. Oktober 1797 entwirft Friedrich Schlegel in einem Brief an seinen Bruder über das Athenäum ein langfristiges Projekt: „Ein [...] großer Vortheil dieses Unternehmens würde wohl hinreichend seyn, daß wir uns eine große Autorität in der Kritik machen, hinreichend, um nach 5-10 Jahren kritische Dictatoren Deutschlands zu seyn [...]“.268 Schlegel sieht richtig, daß das literarische Feld der Ort strategischen Agierens ist, und er sieht richtig, daß ein gewisses Maß an Ruppigkeit, an Skrupellosigkeit und Unverfrorenheit Aufmerksamkeit sichert; er täuscht sich indes, zumindest an dieser Stelle, über die dadurch erreichbare Monopolisierung von Deutungsmächtigkeit und die Möglichkeiten zur Homogenisierung der Einstellungen. Tatsächlich wird sich die Romantik eine feste literaturgeschichtliche Position sichern, sie wird dies aber eben auch und gerade über die Kritik der Romantik im Sinn des zweifachen Genitivs tun.269 In seiner Abhandlung Über die Unverständlichkeit, die die schlechten Erfahrungen mit dem Athenäum summiert, ist Schlegel etwas zurückhaltender mit seinen Zielentwürfen geworden. Hier stellt er über das „kritische[ ] Zeitalter“ fest, „daß nun bald alles kritisiert sein wird, außer das Zeitalter selbst, und _____________ 268 Zit. nach Schmitz: „Poetenblut düng‘ unsern Platten Grund“, S. 252. 269 Bohrer: Die Kritik der Romantik.
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daß immer alles kritischer und kritischer wird [...]“270, und er bemerkt, daß dies durchaus nicht zur Romantisierung der Welt beiträgt: Mit „rücksichtsloser Offenheit“ gesteht er den „oft schlechten Erfolg“ seiner „Versuche“ ein und sieht, daß man sich zwar auf „Mißverständnisse“ einrichten sollte, daß man sie aber nicht vorausberechnen kann.271 Damit wiederholen sich die Diagnosen und die Selbsttäuschungen der Aufklärung am Ende des 18. Jahrhunderts. Wieder sieht man, wie dies etwa Gottsched (3.1.1 a) und Bodmer (3.2.1 b) festgehalten hatten, daß der „Geist des Zeitalters, dessen Hauptcharakterzug das Auflehnen gegen jedes Herkommen und jede Autorität ist“, nichts mehr „ohne Prüfung für wahr und schön hält“; man sieht, wie „Unverständlichkeit“ die Chance hat, als „tiefes Denken“ wahrgenommen zu werden; und man sieht, daß „Lärm“ im Kontext der sich entfaltenden Massenmedien eine gute Marketingstrategie ist.272 Man hätte allerdings auch erkennen müssen, daß Kritik weniger für klare Verhältnisse, für Selektion der Optionen und für Fokussierung von Möglichkeiten sorgt, als vielmehr für Eskalationen, Pluralisierungen und Profilierungen von Unterschiedlichkeit.273 Auswege bieten in einer solchen Situation nur radikale Maßnahmen, etwa die Verabschiedung der gegnerischen Partei ins Jenseits der relevanten Meinungsräume, wie in Kotzebues antiromantischer Streitschrift Der hyperboreeische Esel, wo Karl (alias Friedrich Schlegel) ins Irrenhaus abgeführt wird. In der letzten Szene lautet dann die Antwort auf die Frage nach den Charakteristika „unserer heutige[n] Bildung“: „Impertinente Anmaßung, hochtrabender Unsinn, und gänzliche Nutzlosigkeit“.274 Dies trifft die Lage – ungewollt – sehr genau: Sie zeichnet sich aus durch die Etablierung von Negativität und die entsprechenden Verhaltensformen („impertinente Anmaßung“), durch die Individualisierung, Intimisierung und damit auch Enigmatisierung der literarischen Produktion und Rezeption („hochtrabender Unsinn“) und durch die Autonomisierung sowie die entsprechende Reflexionsförmigkeit einer sich selbst anregenden, in sich verkapselten Kommunikation („gänzliche Nutzlosigkeit“). Daß der Begriff der „Freimüthigkeit“, der sich im Laufe des 18. Jahrhunderts aus der Umklammerung einer auf Interaktion und damit auf Positivität abonnierten Verhaltenskultur befreit (2.3)‚ ‚um 1800‘ Karriere macht275, verwundert _____________ 270 Schlegel: Über die Unverständlichkeit, S. 364. 271 Schlegel: Über die Unverständlichkeit, S. 364, 366. 272 So Garlieb Helvig Merkel in seinen Briefen an ein Frauenzimmer über die neuesten Produkte der schönen Literatur in Teutschland (1800) (zit. nach: Schmitz: „Poetenblut“, S. 254f.). 273 Vgl. z. B. zum Streit um Schlegels Lucinde: Schmitz: „Poetenblut“, S. 257f. 274 Kotzebue: Der hyperboreeische Esel, S. 42. 275 Vgl. dazu z. B. den Streit um Kotzebues Zeitschrift „Der Freimüthige“ (Schmitz: „Poetenblut“, S. 305f.).
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daher nicht. Die Romantiker legen Wert auf die „freyeste Mittheilung“ und auf die rücksichtslose Äußerung dessen, was ihnen „für Wahrheit gilt“.276 Die Einschätzung der kritischen Kultur verändert sich entsprechend den Abwehrmaßnahmen der ‚Aufklärer‘ und den Selbstbeschreibungen der Akteure etwa im Athenäum (1798/1800), in Friedrich Schlegels Lucinde (1799) oder in August Wilhelm Schlegels Berliner Vorlesungen (1801/ 1804), um nur die im Zentrum des Dichterkriegs stehenden Äußerungen zu nennen. Die bisherige Kritikgeschichtsschreibung wird dabei von einem Erklärungsmodell dominiert, das die Situation um 1800 von der vorangegangenen Zeit durch den Zerfall der Einheit „literarischer Öffentlichkeit“, z. B. im Zuge des Dichotomisierungsprozesses von ‚hoher‘ und ‚niederer‘ Literatur und der Kapitalisierung des literarischen Systems, abhebt.277 So sehr diese Unterteilung wichtige literatur- und sozialgeschichtliche Prozesse in den Blick bekommt, unterschätzt sie m. E. doch die durchgängige Krisenhaftigkeit der kritischen Kommunikation im 18. Jahrhundert. Oder anders: Die Aufklärung läßt sich strukturell in kritikgeschichtlicher Hinsicht durchaus als Präromantik verstehen.278 Viele der Elemente, die die Zeit um 1800 und die folgenden Jahre kritikgeschichtlich charakterisieren, finden sich zumindest im Prinzip in der Aufklärung, auch wenn die Romantiker – in Wiederholung einer Gedankenfigur, die schon zwischen aufklärerischer und humanistischer bzw. gelehrter Kritikkultur zur Unterscheidung angewendet wurde (z. B. 3.1.1 b) – ihre eigenen Kritikverfahren z. B. in Form der „Charakteristik“ von einer zum Gegenbild stilisierten vorläufigen ‚atomistischen‘ Kritik unterschieden wissen wollten.279 „Konsens, Vorläufigkeit, Offenheit und Ergänzungsbedürftigkeit des kritischen Urteils“280 jedenfalls kann dies- und jenseits der Zeit ‚um 1800‘ _____________ 276 So in der Vorerinnerung zum Athenäum (Athenaeum. Bd. 1, 1. u. 2. St., unpag.). Vgl. dazu Urban: Kunst der Kritik, S. 64ff., sowie S. 71ff. (zu Fichtes „Apologie der Polemik“) u. 151ff. (zum Athenaeum), hier insbes. S. 168ff. (zum Stellenwert der Polemik). Zu den Vorbehalten Schlegels gegen Tieck im Blick auf dessen Mitarbeit am Athenaeum vgl. Kall: „Wir leben jetzt recht in Zeiten der Fehde“, S. 308; zum Programm der Zeitschrift insgesamt ebda., S. 317ff. (zur ‚Freimütigkeit’ ebda., S. 323). 277 Dazu insgesamt den Band: Aufklärung und literarische Öffentlichkeit (darin insbesondere die Beiträge von Schulte-Sasse: Das Konzept bürgerlich-literarischer Öffentlichkeit und die historischen Gründe seines Zerfalls; Christa Bürger: Literarischer Markt und Öffentlichkeit am Ausgang des 18. Jahrhunderts in Deutschland). Zur Kritik an diesem Konzept bei Beibehaltung der Zäsurierung vgl. Dahnke / Leistner: Von der „Gelehrtenrepublik“ zur „Guerre ouverte“, insbes. S. 25f., 28, 34. 278 Vgl. dazu am Beispiel der Allgemeinen Literatur-Zeitung Mattuschek: Epochenschwelle und prozessuale Verknüpfung, S. 13ff. 279 Fontius: Kritisch / Kritik, S. 469. 280 Preisler: Gesellige Kritik, S. 307.
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zu den Maßgaben kritischer Kommunikation gehören. Deutlich vor der Jahrhundertwende läßt sich jenes Problemhäufungspotential finden, das ein emergentes Nivau erreicht und damit die Folgezeit bis weit ins 19. Jahrhundert und vielleicht sogar darüber hinaus in ausreichendem Maß beschäftigt. Dies gilt für die zentrale Stellung der Kritik in der Romantik, für die Neigung zur Reflexionsförmigkeit und Potenzierung von Kritik, für die „Esoterisierung“ der Kunstproduktion wie -rezeption, für das Durchsetzungskalkül der romantischen Rezensionstaktiken, für die Spannweite der romantischen Kritik zwischen ‚Annihilierung‘ und ‚Charakteristik‘, für die Innovationsbehauptung eines ‚ganzen‘ Verstehens und schließlich auch für die Poetisierung der Kritik.281 Ich will dies kursorisch ausführen: Die zentrale Stellung der Kritik in der romantischen Programmatik282 setzt den Etablierungsprozeß von Negativität im literarischen Diskurs fort und reflektiert ihn auf exponierte Weise. Wie Wieland und Klopstock freuen sich die Romantiker, wenn man ihre Meinung nicht teilt (2.3; 4.1.1).283 Gegen ein willkürlich zugerichtetes „Zeitalter, wo man nächst der Mystik nichts so sehr scheut als Polemik [...]“, votieren die Romantiker für harte Worte und setzen damit faktisch jenen Streit um die ‚Freimütigkeit‘ der Kritik fort, der das ganze 18. Jahrhundert über geführt wurde – die Rede ist erneut von „notwendige[r] Freimütigkeit“, die man gegen die Kultur der Höflichkeit setzen will (z. B. 3.2.1 b).284 Die Akzeptanz des Tadels als eines Wertes an sich, der aus dem rhetorischen Kreislauf von Lesen, Urteilen und Schreiben entbunden wird, beruht auch darauf, daß Momente wie Eigensinnigkeit, Willkür oder Freiheit, wie einige Lieblingskategorien der Frühromantiker lauten, um- und aufgewertet und als Produktivitätsfaktoren offensiv anerkannt werden, daß also die normative Kraft der faktischen Etablierung von Negativität auch weiter programmatisch umgesetzt wird (2.4). Das vor allem frühromantische Faible für ein fluktuierendes, zwischen Selbstsetzung und Selbstaufhebung sich bewegendes schriftstellerisches Subjekt285 entspricht insofern den Anforderungen im Literaturbetrieb.286 _____________ 281 Im folgenden orientiere ich mich heuristisch an den von mir hier freilich nur stark verkürzt aufgegriffenen Bestimmungen romantischer Literaturkritik bei Schulte-Sasse: Der Begriff der Literaturkritik, sowie bei Uwe Hohendahl: Literaturkritik in der Epoche des Liberalismus (1820-1870). Zur Charakteristik im besonderen vgl. Urban: Kunst der Kritik, S. 187ff. 282 Vgl. als Extremposition die Dissertation von Walter Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik; dazu Menninghaus: Unendliche Verdopplung, S. 30ff., 230ff. 283 F. Schlegel: Über Lessing, S. 110. 284 F. Schlegel: Über Lessing, S. 106f., 110, 114. 285 Vgl. z. B. Oesterreich: Ironie, S.357f. 286 Vgl. dazu auch Dahnke / Leistner zu Lessings und Kants Anerkennung des Streits als Medium des Fortschritts: Von der „Gelehrtenrepublik“ zur „Guerre ouverte“, S. 17f.
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Die romantische Reflexionspoesie, die sich gleichermaßen als Poesie der Poesie wie als Kritik der Kritik entwirft, läßt sich als Konsequenz aus einer in sich multiplizierten Beobachtungsordnung deuten: Jeder Kritiker muß eben seinerseits damit rechnen, selbst kritisiert zu werden (2.5; 4.1.1). Wenn aber ein Urteil immer auch anders ausfallen kann, als es ausgefallen ist, dann bleibt die Behauptung feststehender Regeln nur Ornament. Was ein Kritiker übersieht, kann ein anderer sehen und umgekehrt (z. B. 3.3 a u. b). Das zuvor Unsichtbare wird erneut zum Offensichtlichen und die etablierte Meinung zum Signum einer bloß oberflächlichen Beobachtungsleistung, die „tiefer“ gelegt werden muß, um ein Werk auf seine „innigere Harmonie und tiefere Notwendigkeit“ zu überprüfen.287 Das, wofür eine Mehrheit der Leser votiert, erscheint einer solchen ‚Tiefsinnigkeit‘ verdächtig. Aber die Adressierung an den kleinen Kreis der Kompetenten, die vornehmlich als ‚Freunde‘ auftauchen, läßt sich in druckschriftlicher Kommunikation nur kontrafaktisch aufrecht erhalten. Dennoch gehört dieser Selektionsversuch ebenso wie die ‚Genialisierung‘ und die Akzentuierung der Rezeption zu den normalen Bewältigungsversuchen für eine Situation, in der Visibilität und Invisibilität mehr oder weniger willkürlich behauptet werden kann. Der Kunstrichter bleibt „immer von subjektiven Bedingungen abhängig“, so daß man ihm einen „individuell[en]“ Ausdruck zugestehen muß. Er äußert „Privatansichten“ in einer intimisierten literarischen Kommunikation, die aus programmatischen Gründen und nur kontrafaktisch den Charakter eines zwanglosen „Gespräch[s]“ annimmt (5.3.5).288 Kritik wird in diesem Zusammenhang auf der einen Seite zum Deutungs- und Urteilsangebot, zur „Einladung, daß jeder seinen eignen Eindruck ebenso rein zu fassen und streng zu bestimmen suche, und dann den mitgeteilten der Mühe wert achte, darüber zu reflektieren, ob er damit übereinstimmen könne“.289 Auf der anderen Seite sind Kritiken – wie im Fall des eingangs zitierten Athenäum-Projekts – Machtmittel. Daß Rezensionen dazu dienen, Autoren durchzusetzen, und daß hinter Literaturkritik ein strategisches Kalkül steht, machen die Kartelle des 18. Jahrhunderts von den Gottschedianern über die ‚Schweizer‘ bis zu den ‚Nicolaiten‘ oder den ‚Klotzianern‘ ebenso deutlich wie eine gewisse anarchische Willkür der Positionierung, die sich nur scheinbar entlang der Frontverläufe unterschiedlicher Gruppen ordnet (3.). Die (früh-)romantische Literaturkritik reagiert darauf auch mit der Gabelung der kritischen Wege nach den Zie_____________ 287 F. Schlegel: Über Lessing, S. 102, 117. Zur romantischen Sanktionierung der andernorts beklagten ‚Kritik der Kritik’ als Aufschwellung des Sekundären und zur daraus folgenden Aufwertung der ‚Philologie’ vgl. Schumacher: Die Ironie der Unverständlichkeit, S. 162ff. 288 A.W. Schlegel: Beyträge zur Kritik der neuesten Litteratur, S. 147f. 289 F. Schlegel: Gespräch über die Poesie, S. 349.
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len ‚Charakterisierung‘ oder ‚Annihilierung‘.290 Diese Differenzierung in Werke, die kritisiert werden können, und in Werke, die schlicht aus der literarischen Kommunikation getilgt werden sollen, setzt den Streit um den Vorrang der positiven oder negativen Kritik fort und damit auch den Streit um die Frage nach der Legitimität einer gewaltsamen Kritik bis hin zur Vernichtung des Getadelten (3.2.1 a). Die unterschiedlichen Optionen von ‚Charakterisierung‘ und ‚Annihilierung‘ lassen sich darüber hinaus als Ausdeutung des berechtigten Selbstbewußtseins der Kritiker verstehen: Bereits das bloße ‚Daß‘ des Kritisiert-Werdens zeichnet eine Schrift aus, und das Schlimmste, was passieren kann, ist, daß man von der kritischen Kommunikation überhaupt nicht wahrgenommen wird (3.2.1 b). Die Hinwendung zum ‚ganzen’ Verstehen eines Einzelwerks, eines Gesamtwerks oder der Literaturgeschichte und die letztliche Unabschließbarkeit der Kritik liegen in der Logik kritischer Kommunikation. Das erwähnte Faible für Tiefsinnigkeit und die dadurch ermöglichte Auseinandersetzung um das Sichtbare und Unsichtbare im Gegenstandsbereich sind ein Aspekt dieser spezifischen Ganzheitsästhetik. Ein anderer Aspekt besteht in der Zerstreuung der Aufmerksamkeit und in der Deprivilegierung von Urteilsfähigkeit. Für eine aufs ‚Ganze‘ abonnierte Beobachtungshaltung wird eben auch alles interessant. Daß etwas mangelhaft, fehlerhaft oder stümperhaft ist, bedeutet dann nicht per se, daß es deswegen aussortiert werden muß. Die romantische Aufmerksamkeit neigt zur „Digression“, weil ein „Buch“ als „Wirkung und wiederum wirkend in mannichfaltigen Beziehungen [steht]“, weswegen über das Einzelwerk hinaus „das Verhältnis des Schriftstellers zu seinen Vorgängern und Nebenbuhlern, die Laufbahn, die er schon durchmessen hat oder zu betreten anfängt, die Aufnahme, die er bey seinen Zeitgenossen findet“ als „aufklärende Gesichtspunkte“ an Bedeutung gewinnen.291 Nicht weniger als bei Wieland verbinden die Romantiker die Geschichte des Autors mit der Geschichte seiner Zeit (3.3. c). Zwar wird dieser von den Romantikern eingeklagte „historische Geist“ oder „historische Sinn“ der Kritik, der „viele[ ] mitwirkende[ ] Einflüsse und zusammentreffende[ ] Umstände“ in Betracht zieht,292 insofern plausibel, als die behauptete Selektionsleistung durch die vorgelagerte Differenzierung in charakterisierbare und damit kritisierbare und bloß annihilierbare Werke erhalten bleibt – nur die Werke mit „Leben“ dürfen beispielsweise mit dem weit gespannten Interesse von A. W. Schlegel _____________ 290 Vgl. dazu Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, S. 78ff.; zur buchmarktgeschichtlichen Differenzierung zwischen „der sogenannten Fabrikware und den für rezensionswürdig gehaltenen Werken“ vgl. Mix: Kunstreligion und Geld, S. 251. 291 A.W. Schlegel: Beyträge zur Kritik der neuesten Litteratur, S. 149. 292 F. Schlegel: Über Lessing, S. 101, 115, 398.
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rechnen.293 Dennoch stellt sich zunehmend die Frage nach den Kriterien für diese Unterscheidung in beachtliche und vernachlässigenswerte Objekte, die sich insbesondere für Tieck immer wieder als Problem ergeben und tendenziell durch eine selektionslose Aufmerksamkeit abgelöst werden wird. Aus Anlaß des Wiederabdrucks der frühen Rezensionen bestimmt A. W. Schlegel 1827 daher im Rückblick auf die Zeit der Jenaer Frühromantik drei zentrale Tätigkeitsfelder: „die immer erneute Betrachtung vollendeter Geisteswerke“, die Entdeckung der „verkannten und in Vergessenheit gerathenen Urkunden des Genius“ sowie die Anregung durch den „offen ausgesprochene[n] Widerstreit der Meinungen“.294 Im Hintergrund dieser Aufmerksamkeitserweiterung bzw. dieser Veränderung der Aufmerksamkeitsselektion steht bezeichnenderweise die Autonomisierung der Poesie, die die (früh-)romantische Selbstpositionierung hervorzutreiben versucht, weil die Abnahme von heteronomen Verpflichtungen der Poesie eine Zunahme der auch historischen Selbstbezüglichkeit ermöglicht.295 Die Poetisierung der Kritik schließlich296 bedeutet keine Rückkehr zur vormodernen Einheit des Dichter-Kritikers bzw. zur Positivität der Kritik (2.2), auch wenn die Romantiker zu entsprechenden Formulierungen greifen.297 Sie reagiert vielmehr auf die Genialisierung der Dichtung und antwortet einem enigmatischen, unendlich bedeutungsvollen Kunstwerk, das seine Kriterien selbst setzt. Der kompetente Kritiker gibt sich „dem Eindruck eines Gedichtes ganz hin[ ]“, wie Friedrich Schlegel erklärt, dann geht er ins „Einzelne[ ]“ und ins „Ganze“, um von hier aus „selbst dem Verborgensten nachzuforschen und das Entlegenste zu verbinden“.298 Dieser Detailsinn in Verbindung mit dem Sinn fürs Ganze führt zum Interesse auch an den Dingen, die andere Leser für vernachlässigenswert halten. Die Poetisierung der Kritik erweist sich somit als Kehrseite der Historisierung, Philologisierung und Verwissenschaftlichung der Kritik einer interessierten, genauen und weitgespannten Aufmerksamkeit. Wo auch immer man also das ‚Neue‘ der Zeit ‚um 1800‘ sucht: in der Verwirrung der Kriterien, in der Auflösung stabiler Wertungsmuster, im irritierten Vertrauen in die Entscheidungsfähigkeit der Autoren, Kritiker _____________ 293 294 295 296
A.W. Schlegel: Beyträge zur Kritik der neuesten Litteratur, S. 148. A.W. Schlegel: Sämmtliche Werke. Bd. 11, S. 144f. Scherer: Witzige Spielgemälde, S. 16f., 24ff., 158ff. (zu Tieck). Vgl. zu diesem Strang der Kritikgeschichte von der Romantik bis in die Gegenwart: Kerschbaumer: Romantische Literaturkritik bei Heine, Hofmannsthal, Kerr und einigen Kritikern der Gegenwart. 297 So z. B. Novalis in den Vorarbeiten zu Fragmentsammlungen von 1798 (Nr. 35): „Zur ächten Kritik gehört die Fähigkeit das zu kritisirende Produkt selbst hervorzubringen“ (Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Bd. 2, S. 323). 298 F. Schlegel: Über Goethes Meister, S. 130.
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und Leser – es ist nicht per se in der Gewaltförmigkeit, in der ostentativen Parteilichkeit und Willkürlichkeit der Selbstpositionierung, in den entsprechenden Angstformationen und Bedrohungsszenarien zu finden. Man wird vielmehr nach dem spezifischen Zuschnitt und der historisch besonderen Konstitution eben dieser spätestens ‚um 1750‘ etablierten Strukturen fragen müssen. Zwei Punkte sind hier wichtig: Zum einen gehört zu den Eigenheiten der Kritikkultur der Romantik, daß sie die Strukturen der kritischen Kultur ausstellt, offensiv reflektiert und mit den Mitteln der Ironie der mehr oder weniger ‚direkten‘ Thematisierung zugänglich macht. Romantische Ironie ‚hat‘ eine Rede dann, wenn sie – in einer Reformulierung Manfred Franks – „sich durchsichtig macht für ein anderes Sagen, das ebensogut an [ihre] Stelle hätten treten können“.299 Oder in meiner Terminologie: Die kritische Kommunikation der Romantik weiß, daß nicht nur Autoren, sondern auch Kritiker kritisiert werden können, daß diese Formulierungshäufungen normal sind und daß damit anstelle des Gesagten immer auch etwas anderes hätte gesagt werden können (z. B. 2. u. 4.1.1). Daß die Romantik dies in unterschiedlichen Facetten durchbuchstabiert und zum Wesen der Subjektivität erklärt300, bezeichnet ihren Stellenwert im Prozeß der Etablierung von Negativität. Zum anderen ist die Romantik auch deswegen eine aufschlußreiche Konstellation für die Geschichte der Werkpolitik, weil sie die beiden Extrempositionen der literarischen Kommunikation unter Bedingungen etablierter Negativität in besonders deutlicher Weise entfaltet: Zu ihren Einstellungen gehört eben nicht nur der möglicherweise bis zur ‚Annihilierung‘ reichende Feldzug gegen die negativen ‚Tendenzen des Zeitalters‘, sondern auch das „jahrzehntelange Engagement für unterdrückte Traditionen [...], für unbekannte oder mißverstandene Weltliteratur [...] oder für frühverstorbene Zeitgenossen [...]“.301 Die Romantik schenkt Texten in besonderem Maß Aufmerksamkeit, die in anderen Zusammenhängen weniger, nicht oder nicht mit dieser Emphase beachtet worden sind. Der Fundus mittelalterlicher Texte etwa oder frühneuzeitlicher Dichtung von den sogenannten Volksbüchern bis zur Barockliteratur war zuvor weder unbekannt noch blieb er unbeachtet.302 Aber um 1800 _____________ 299 Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik, S. 362. Hier auch zu den Folgen für die Literaturkritik und das Urteil über ästhetische Belange ebda., S. 362f. Daß der Singular ‚Ironie’ problematisch ist, führt Uwe Japp in seiner Theorie der Ironie vor (vgl. zur romantischen Ironie insbes. S. 181ff.). 300 Vgl. zu Schelling bei Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik, S. 372. 301 So Ernst Ribbat zu Tieck (Einleitung, S. VIIf.). 302 Zur „Rezeption altdeutscher Literatur vom Humanismus bis zur Romantik“ vgl. im Überblick Brinker-Gabler: Poetisch-wissenschaftliche Mittelalter-Rezeption, S. 5ff.; zur Rezeption der Barockliteratur: Paulin: Tieck‘s Deutsches Theater (1817) and its Significance (zur
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verstehen es die Romantiker, wie auch immer stilisiert303, aus dem Umgang mit diesem Material Provokationswert zu schöpfen und sich selbst von einer vorangegangenen und sie umgebenden Welt anders selektierender Leser abzuheben. Zusammenfassend: Die kritische Kommunikation der Romantik spielt die Verlaufslogik erneut durch, die den Prozeß der Etablierung von Negativität insgesamt bestimmt, dies allerdings auf eine bewußte, verhältnismäßig radikale und der normativen Kraft des Faktischen angemessene Weise. Die Kritik bildet eines der Zentren ihres polyzentral angelegten Begriffs von Reflexionspoesie, deren Überbietungsschleifen, Fluktuationskonzepte und quecksilbrige Theorieagilität die Bedingungen im Literaturbetrieb ebenso widerspiegeln wie jene ironische Subjektposition, auf der sich die Romantik angesichts von Unbeständigkeit, prinzipieller Revidierbarkeit und unkalkulierbarer Bedrohlichkeit einrichtet. Ganzheitliches Verstehen als Detaillierung und Kontextualisierung der romantischen Aufmerksamkeit sowie die Enigmatisierungsformen einer Tiefsinnigkeit von Poesie, die letztlich nur dem poetisch gestimmten Gemüt zugänglich sind, erweisen sich dabei als Konzepte literarischer Kommunikation mit zwei Seiten: Ihre Spezialisierung kann gleichermaßen auf genialische wie professionelle Leser hinauslaufen. Um es mit Novalis zu sagen: „Ist nicht jeder Leser ein Philolog?“ Und: „Soll nicht der Schriftsteller Philolog bis in die unendliche Potenz zugleich – oder gar nicht Philolog seyn?“304 Wie auch immer man mit diesen Fragen grundsätzlich umgehen will – für den Fall Ludwig Tiecks lautet die Antwort: ja. 5.3.2 Tiecks kritische Kommunikation Auch im Blick auf Tieck greift die etablierte, sich an den Selbstbeschreibungen der Akteure orientierende Zäsurierung der Kritikgeschichte in eine Zeit vor und nach der Romantik.305 Dies gilt selbst dann, wenn man Tieck aus der Höhenkammästhetik seiner Zeit und damit aus der Gruppe „der Schiller, Schelling, Schlegel und Solger“ ausgliedert und seine inkon_____________
positiven Barock-Rezeption im 18. Jahrhundert S. 569f.); Hölter: Ludwig Tieck, S. 50ff.; Martin: Barock um 1800. 303 Vgl. als Fallstudie zu den Abhängigkeitsverhältnissen Paulin: Johann Joachim Eschenburg und die europäische Gelehrtenrepublik am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert. Für die Shakespeare-Rezeption vgl. Hiltscher: Shakespeares Text in Deutschland, S. 57ff. 304 So in den Teplitzer Fragmenten (79): Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Bd. 2, S. 399. 305 Preisler: Gesellige Kritik.
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sistente und kasuistische „Autorenästhetik“ als den Versuch begreift, „mit den Denkmitteln der voridealistischen Epoche das Dilemma der zeitgenössischen Kunst und Literatur zu überwinden“.306 Für Tiecks Position in der Geschichte der kritischen Kommunikation ist allerdings zunächst bemerkenswert, wie präsent für ihn, aber auch für andere Romantiker307, noch weit nach 1800 der Name ist, der für sich die Gründung der kritischen Kommunikation reklamiert hat: Gottsched.308 Dieser Rückbezug scheint mir ein Indiz für eine fortdauernde Relevanz bzw. eine kontinuierliche Auseinandersetzung zu sein. Tatsächlich wiederholen sich ‚um 1800‘ die Argumente und wechselseitigen Vorwürfe aus dem synchronen Dichterkrieg zwischen Leipzig und Zürich sowie aus der diachronen Auseinandersetzung zwischen diesem Paradigma und der ‚Berliner‘ Generation der Kritiker. Zunächst teilt Tieck mit seinen kritischen Vorläufern den Eindruck, daß sich Machtformen, die – wie auch immer geordnet – Orientierung versprechen, auflösen: Das „sogenannte Publikum“ schätzt genau die Dinge, die der Autor selbst verwirft309; sogar unter „Gleichgesinntesten“ herrscht „Uneinigkeit;“310 „Anarchie und Pöbelherrschaft“ bestimmen die Szenerie;311 die Leser verlangen die Bestätigung ihrer vielfältigen Vorurteile, und die „neuen Lehrer“ ersetzen entsprechend die Tugenden der „Gründlichkeit“ und „Überzeugung“ durch den effektvollen Auftritt, durch „Aufsehn“, „Anregen“, „Erschrecken“ und sogar „Ärgern“.312 Kurz: „[...] dasjenige, was man mit Recht Kritik nennen kann, ist völlig untergegangen [...]“. An deren Stelle ist die schlechte Negation getreten, die „Anarchie“, ein „bittre[r] absprechende[r] Ton“ sowie die „Cliquen“_____________ 306 Ribbat: Ludwig Tieck, S. 73f. Zu Tiecks Schwellenposition auch Bong: Texttaumel, S. 32ff. – wobei hier eher die Radikalität der Tieckschen „Poetik des Schwindels“ akzentuiert wird, die auch über die letztlich nur auf einen ‚höheren‘ Sinn zielende frühromantische Poetik Novalis‘ oder F. Schlegels hinausgehe (ebda., S. 228ff.). 307 Vgl. A.W. Schlegels Kommentar zu Schillers Bürger-Kritik: „Mich wundert, daß er nicht noch den seligen Gottsched angeführt hat“ (Fambach: Der Aufstieg zur Klassik, S. 467). 308 Vgl. z. B. KS I, 78, 190, 331, 341; KS II, 130; S XI, LX. Vgl. in diesem Zusammenhang auch zur ausführlichen und stets kritischen Auseinandersetzung mit Klopstock und Cramer: Hölter: Ludwig Tiecks Klopstock-Bild und seine Kritik der Messiade (für die Kritik an Cramer z. B. S. 38, 43ff., 83f.). Tiecks Kritikpunkte verweisen erneut, wie oberflächlich auch immer, auf überraschende Kontinuitäten, so die Kritik an den generischen und metrischen Lizenzen, die Kritik an den reimfreien Versen, die Kritik an stilistischen Eigenheiten, die Kritik an den theologischen Freiheiten oder die Kritik an der mangelnden Erzähllogik des Ganzen (ebda., S. 73ff.). Vgl. zur mangelnden ‚Tiefsinnigkeit’, die Tieck Klopstock attestiert: Hölter: Religiosität und mystische Sprache, S. 179f. 309 So Tiecks Beobachtung in einem Brief an Johann Philipp Le Pique vom 21. November 1803 (Dichter über ihre Dichtungen. Bd.9/III, S. 159). 310 So im Fragment einer „Einleitung“ zum Shakespeare-Buch (NS II, 95). 311 Brief an J. D. Gries vom 28. April 1828 (Dichter über ihre Dichtungen. Bd. 9/2, S. 185). 312 Tieck: Gesammelte Novellen. Bd. I, S. VI.
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Bildung.313 Zumal im historischen Rückblick erweist sich, daß Negationen nur die Keimzellen anderer Negationen sind, die wiederum negiert werden können. Im Rückblick auf die Krisensituation ‚um 1800‘ und auf den Streit u. a. um Goethe faßt Tieck im Vorbericht zur dritten Lieferung der Schriften 1829 zusammen: Vieles, was jetzt von jedem Schulknaben als abgeschmackt abgewiesen wird, durfte sich damals noch eine vornehme Miene geben, und galt bei Vielen, die selbst Stimmführer waren, als gediegene Wahrheit. Nicht, als wenn jetzt die Bildung so viel sicherer und weiter in allen Verhältnissen vorgeschritten wäre, oder als wenn die Menge, und viele, die auch laut genug mitsprechen, eben nun klarere Einsichten verriethen: ein Irrtum lößt immer nur den andern ab, um wieder zu schildern und pedantisch auf und ab zu gehen; und darf jetzt Nicolai nicht mehr mitsprechen, oder hört man sogar auf Lessing nur selten mehr hin, so heben sich jetzt aus allen Gegenden neue Gottschede hervor, die in der Physiognomie jenem Urältervater völlig gleich sehn, nur daß sie dessen Gelehrsamkeit und Fleiß nicht besitzen. (S XI, LX)
Die Vervielfältigung des „Urältervaters“ gibt die Linie vor: Der Anspruch auf eine hegemoniale Ausbildung von Beurteilungskategorien und verfahren läßt sich allenfalls kontrafaktisch erheben. Wer sollte dafür sorgen, daß die aktuellen Wertungskriterien in naher Zukunft nicht verabschiedet werden? Dennoch vertraut Tieck in Adaption der idealistischen Geschichtsphilosophie darauf, daß die literarische Kommunikation als kritische Kommunikation im Lauf ihrer Eigenanregung zum „Bewußtsein“ ihrer selbst gelangt: So wie eine Literatur zum Bewußtsein ihres Strebens gelangt, so wie jene Zeit der unschuldigen Unbefangenheit vorüber ist, in der es dem Empfangenden so wie dem Gebenden daran genügt, zu producieren und zu genießen, müssen Schulen entstehen. Je bestimmter sich diese aussprechen, je deutlicher sie wissen, wohin sie wollen, um so besser für die Literatur. Dieser Kampf weckt und belebt die Kräfte, und die ächte Kritik, die an der Hand der Begeisterung und Kunstliebe geht, zeigt sich ermunternd, um eben so wohl zum Schaffen anzuregen, als sie dem Unedlen, Abgeschmackten entgegen wirkt. (S XI, LXf.)
Allerdings korrespondiert dieser Selbstsicherheit und diesem Vertrauen auf eine Wende zum Besseren keine eben so dezidierte Bestimmung der Kriterien, die entsprechende Urteilssicherheit erzeugen. Darüber hinaus ist nicht einmal für eine klare historische Linie gesorgt, denn den „Schulen“ stehen die „Faktionen“ gegenüber: „Treten Faktionen statt der Schulen ein, so wird Leidenschaft, Persönlichkeit und das Gemeine, Gehäßige, die Plätze einnehmen, wo sich die Weisheit und die schönsten Musentöne _____________ 313 Tieck an Solger am 1. Februar 1812 (Tieck and Solger, S. 94). Vgl. auch im Brief Tiecks vom 5. Mai 1818: „[...] ich glaube, daß die Anarchie und Verwilderung der Geister noch nie so hoch gestiegen ist, die geistige Unwissenheit sich noch nie so frech ausgesprochen hat, als in unsren Tagen“ (ebda., S. 434).
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sollten hören lassen“ (S XI, LXI). Daß Tieck damit eine Kritik aufnimmt, die zunächst an die Adresse des Athenäum-Kreises gerichtet war314, kann angesichts der Wirrnisse einer auf die Kritik der Kritik gerichteten Kommunikationskultur und ihrer Willkürlichkeiten nicht verwundern. Wieder ergibt sich ein Lösungsmodell als Konsequenz aus dieser Situation tiefgreifender Verunsicherung, in dem kritischer Perspektivismus, Historisierung und Intimisierung sich im Zeichen der Etablierung tendenziell selektionsloser Aufmerksamkeit verbünden: „Es giebt tausend Ansichten der Kunst und Poesie“, erklärt Tieck in einem bereits zitierten Brief an Solger, der sich kritisch der Kritikgeschichte zuwendet, und fügt dann hinzu: Alle haben Wahrheit, selbst die einseitigsten. [...] Je älter ich werde, je mehr löst sich bei mir alles in historischer Ansicht auf. Das Gute bleibt darum doch gut, so wie das Schlechte schlecht. Das Individuelle, das Eigne, Originale ist mir am Freunde, an jedem Menschen das interessanteste [...], das, wodurch er gerade dieser Geist und kein anderer ist.315
Aufschlußreich ist an dieser Stelle zunächst, daß und wie Tieck Haltungen und Programmpunkte entwickelt, die die anarchische Situation des Literatursystems in ein positives Licht rücken. Man kann dies beispielsweise an seinen nachgelassenen Bemerkungen über Parteilichkeit, Dummheit und Bosheit deutlich sehen316: Cliquenwirtschaft und „Anarchie“ bestimmen aus Sicht der Akteure den Literaturbetrieb (4.1.1). Dies beklagt Tieck jedoch nicht, sondern er akzeptiert es als Normalzustand. Zwar hält er einige Kritiker schlicht für nicht satisfaktionsfähig, von „Männern von Wissenschaft oder Talent“ aber will er sich gern, selbst ungerechtfertigterweise, kritisieren lassen – „so werde ich“, schreibt er, „auch stolz genug sein, zu sagen, ich habe Feinde“ (NS II, 62). Damit nimmt Tieck eine Haltung ein, die bei Klopstock oder Wieland noch einen gewissen Überraschungswert für deren Umgebung gehabt hat und zum festen Arsenal der auf Polemik abonnierten Frühromantiker wird. Wie gesagt: Der Messias-Dichter, sein Nachfolger in der Gunst Bodmer, die Schlegels und eben auch Tieck würden „sehr unzufrieden“ sein, „wenn [sie ihre] Hofnung, einem gewissen Theile von Lesern zu mißfallen, betriegen sollte“ (2.3; 4.1.1)317; sie verstehen es als „Ehre“, _____________ 314 In der Allgemeinen Literatur-Zeitung hatte Ludwig Ferdinand Huber dem Athenäum vorgeworfen, ein Organ des „literarischen Factionsgeistes“ zu sein (Schumacher: Die Ironie der Unverständlichkeit, S. 170f.). 315 Tieck and Solger, S. 95. 316 Vgl. zu den Hintergründen Schmitz: „Poetenblut düng‘ unsern Platten Grund“, S. 264ff.; als referierenden Überblick über Tiecks ‚kritische Schriften‘ vgl. Paulin: Ludwig Tiecks Essayistik. 317 Litterarische Pamphlete, S. 114
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„Neider und Feinde zu haben, und jene zu verdienen“318; oder – in den Worten Tiecks – sie geben sich als Dichter, die nicht „gleich böse werden, wenn man sie tadelt [...]“.319 Autoren demonstrieren mit dieser Einstellung, wie groß der Zwang geworden ist, Tadel als Normalität zu akzeptieren. Tieck geht als Kritiker davon aus, daß er „mit ziemlicher Gewißheit auf Widersacher und Beurteiler rechnen“ kann.320 Er dokumentiert mit dieser Fraglosigkeit der Infragestellung, daß das Paradigma der Repräsentativität, das auf Bestätigung gründet, historisch obsolet ist. An dessen Stelle tritt der „literarische[ ] Terrorismus“ in der Absicht, den „Krieg [...] auch einmal zur Sprache“ zu bringen und die „feindlichen Meinungen [...] noch greller gegeneinander“ zu stellen (KS I, 158). Das positive Verhältnis zur Etablierung von Negativität, das in die kolloquialen Formen von Tiecks kritischen Schriften eingeht, läßt sich bei ihm immer wieder finden. Er hält es für eine „Lust“, daß auch „im vollsten Einverständniß immer etwas nicht ganz in dem Sinn des Redenden aufgeht“ (KS I, XV). Auch er nutzt die geläufigen Bilder zur Konzeptionalisierung kritischer Kommunikation (2.4), den Krieg (KS I, 142) und die Gerichtsverhandlung. Und auch er arbeitet gerade am Beispiel der geregelten juridischen Urteilsbildung die Probleme heraus: „Zuweilen hat sich auch in entschiedenen Prozessen ein Irrthum versteckt [...]“, heißt es in Kritik und deutsches Bücherwesen (KS II, 137). Man kann also nie sicher sein, daß ein Prozeß nicht noch einmal neu aufgerollt werden muß. Diese Einstellung auf Negativität spitzt sich bei Tieck zu, weil er dem Streit in auffälliger Weise vertraut, weil er die Konfrontation an sich schätzt und weil er Negativität als Selbstwert für etwas Positives hält.321 Während Klopstock und Wieland eher den Eindruck vermitteln, sich auf Strukturimperative einzustellen und diese dann für sich produktiv zu verwenden wissen, also aus der Not eine Tugend machen, geht Tieck einen Schritt weiter. Wenn Tieck, wie oben zitiert, die falsche Negation als zeittypisches Negationsverhalten und die entsprechende massenmedial erzwungene Wende von der „Gründlichkeit“ zum Effekt feststellt, weil nur dieser Aufmerksamkeit an sich zu binden vermag, und wenn er die Anarchie in der literarischen und kritischen Kommunikation beobachtet, dann findet er Wege, sich dazu positiv zu verhalten: „Auch Mißverstand dient _____________ 318 So Friedrich von Hagedorn in einem Brief vom 24. September 1754 an Bodmer (Litterarische Pamphlete, S. 110). 319 So Tieck in einem Brief an Sophie Tieck vom 23. Dezember 1792 (Letters to and from Ludwig Tieck and his circle, S. 320). Vgl. ähnlich auch Brief an Wackenroder vom 28. Dezember 1792 (Dichter über ihre Dichtungen. Bd. 9/1, S. 52) sowie die Stellen im Briefwechsel mit Solger (Tieck and Solger, S. 105f., 288f. 311, 334f.). 320 So in Tiecks Vorrede zum Poetischen Journal (1 [1800], 1. St., S. 9). 321 Dies nimmt Jörg Bong zum Anlaß, eine Zäsur zwischen aufklärerischer Polemik und frühromantischer, „‚moderner‘ Gewalt“ zu behaupten (Texttaumel, S. 3).
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am Ende dem Verständnis [...]“.322 „Ringen und Widerstreit“, so heißt es an anderer Stelle, „ist nur Erzeugen und Schaffen“.323 Und für diese ungehemmte Produktivität auch des Schlechten hat Tieck ein bemerkenswertes Faible: Jetzt ist aber auch die Zeit, in welcher sich nothwendig die Widersprüche der verschiedenen Partheien und Meinungen am heftigsten und schneidendsten zeigen müssen, die neuere Welt wird unter Schmerzen und Beängstigung ihrer Mutter, der alten Zeit, an das Licht geboren. [...] In dieser Krisis ist es schwer, auf ein Publikum und allgemeine Theilnahme zu rechnen, aber dennoch ist es löblich, wenn jeder, der sich dazu berufen fühlt, seine Bemühungen nicht aufgiebt, denn eben in dieser Periode des Kampfes, ist es gut, wenn von allen Seiten Stimmen gehört werden [...].324
Eine Variante dieser Produktivität durch Zerstörung findet Tieck in der Chemie seiner Zeit (KS I, 158). Vor allem aber adaptiert Tieck damit theologische Gedankenfiguren, die – wie im Erlösungsgeschehen unvermeidbar – vor das Paradies Leiden und Untergang setzen.325 Seine Neigung zur Mystik und insbesondere zu Jakob Böhmes Kosmologie stellen ihm dabei ein Modell zur Verfügung.326 Hegel bemerkte zu Böhmes Versuch, die Philosophie aus dem „Kampf“ entgegengesetzter Prinzipien heraus zu entwickeln: „eine Frage der jetzigen Zeit“.327 Jedenfalls steht Tieck mit dieser auf das Prinzip des Widerstreits der Elemente basierenden Weltsicht nicht allein. In Schellings Loos der Erde etwa, das Tieck in dem gemeinsam mit A.W. Schlegel herausgegebenen Musen-Almanach für das Jahr 1802 publiziert, heißt es: Denn siehe die Erde, die gleichen Muthes am Himmel Zwischen Venus und Mars wandelt die stürmische Bahn. Schaffend der Erde gleich, du Erdgebohrner, bewege Unverdrossen dich denn zwischen Lieb‘ und dem Krieg.328
Daß es hierbei nicht einfach um eine ideengeschichtliche Wiederholung geht, verdeutlicht bereits die korrespondierende Bestimmung der „sokratische[n] Ironie“ als „Gefühl von dem unauflöslichen Widerstreit des Unbedingten und des Bedingten“ in Friedrich Schlegels Lyceum_____________ 322 323 324 325 326
Tieck: Gesammelte Novellen. Bd. I, S. VIII. Brief an F. Schlegel vom 16. Dez. 1803 (Ludwig Tieck und die Brüder Schlegel, S. 142). So in Tiecks Vorrede zum Poetischen Journal (1 [1800], 1. St., S. 7). Ribbat: Ludwig Tieck, S. 90ff. Im kritischen Rückblick auf die Böhme-Faszination seiner Jugend bekennt Tieck, wie er von dem Mystiker aus „das Christenthum vers[te]hn wollte, das lebendigste Wort im Abbild der ringenden und sich verklärenden Nat[ur]kräfte [...]“ (Brief an Solger vom 24. März 1817; Tieck and Solger, S. 361; Hervorhebung S. M.). 327 Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Bd. 3, S. 96. 328 Musen-Almanach für das Jahr 1802, S. 273. Zum (natur-)philosophischen Hintergrund vgl. Hofe: Nachwort, S. XXIVff.
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Fragmenten.329 Der Mystizismus der produktiven Zerstörung und der Gewalt als „Frage der jetzigen Zeit“ hat seinen historischen Hintergrund u. a. in der zeitspezifischen Ökonomie des Sozialen, auf die ich unten genauer eingehen werde (5.3.5). Diese beruht auf dem Prinzip eines reibungslosen Funktionierens im Wechselspiel der Kräfte, das sich durch seine Krisenhaftigkeit selbst anregt und am Laufen hält.330 Ihr Mystizismus liegt letztlich darin, daß sie auf gezielten Ausblendungen beruht, die ihr Funktionieren garantieren. Neben Goethe und seine Zeit beziehen vor allem die Briefe über Shakspeare aus dem Poetischen Journal Stellung für Uneinigkeit und Streit, wenn der Briefschreiber dem Briefadressaten gleich eingangs verkündet, er werde „niemals [s]einer Meinung werden“ (KS I, 136, auch 176), wenn er die ständige Infragestellung der gerade bezogenen Position für unproblematisch erklärt (KS I, 145) oder wenn er vehement gegen den Eindruck scheinbarer Meinungskonvergenz angeht (KS I, 157). Die Briefe, die – wie Tieck selbst bemerkt (KS I, 160) – mehr ein allgemeines Kritikprogramm als eine Abhandlung über Shakespeare darstellen, sind dabei auch deswegen ‚interessant‘, weil sie an die Diskussion um die medialen Voraussetzungen der Etablierung von Negativität anschließen. Die Akzeptanz der Etablierung von Negativität, also von Tadel, Positionswechsel und Veränderlichkeit, habe ich vor allem auf die Durchsetzung von Literalität als Kommunikationsbasis zurückgeführt, weil die Vermehrung von Schriftlichkeit das Kritikpotential steigert (2.5). Die Steigerung des Kritikpotentials ist freilich nur die eine Seite, weil sich im gleichen Zug die Möglichkeit erweitert, Verständnis aufzubringen, selbst ‚Fehler‘ noch als etwas nicht schlicht Tadelnswertes zu akzeptieren und selbst ‚Mißlungenes‘ als etwas nicht allein Vermeidenswertes zu verbuchen. Diese Form kritischer Kommunikation im Medium etablierter und konzeptioneller Schriftlichkeit betrifft erstens die Entschärfung direkter Betroffenheit in der Fernkommunikation und zweitens die veränderte Wahrnehmbarkeit: Während „Höflichkeit“ die Maßgabe für Nahkommunikation ist, kann sich „Heftigkeit im Reden und Richten“ in der Fernkommunikation entfalten,331 und dies auch deswegen, weil der kritischen Aufmerksamkeit mehr Zeit bleibt, um ‚Fehler‘ und ‚Schönheiten‘ zu entdecken (2.5).332 _____________ 329 Vgl. das Selbstzitat sowie die nachfolgenden Erläuterungen in Schlegel: Über die Unverständlichkeit, S. 368f. 330 Vogl: Kalkül und Leidenschaft, S. 254f. 331 Osterkamp: Johann Joachim Winckelmanns „Heftigkeit im Reden und Richten“, S. 6f. 332 Dies gilt auch für die Entfremdungsleistung, die der Übergang von der Hand- in die Druckschrift für die Selbstverbesserung erbringt. Vgl. dazu den Brief Tiecks an Josef Max vom 17. April 1840 zu Vittoria Accorombona: „Ich ersuche Sie [...], daß, sobald Sie zum zwei-
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Daß in beiden Kommunikationszusammenhängen, in der Nah- und in der Fernkommunikation, unterschiedliche Verhaltensmaßstäbe gelten, behauptet Tieck in der Verteidigung des Selbstlobs in den Bemerkungen über Parteilichkeit, Dummheit und Bosheit: Nur in „gemischter Gesellschaft“ sei ein Selbstlob „unanständig“, dies aber gelte nicht automatisch auch für die kritische Kommunikation (NS II, 43f.). Tieck reagiert auf diese Diskursbedingungen mit der Verabschiedung von „Höflichkeit“ als universaler Verhaltensmaxime des Repräsentativitätsparadigmas und mit der Reflexion auf die mediale Vermitteltheit kritischer Wahrnehmung: Sein Briefschreiber macht sich zunächst Sorgen, ob die Shakespeare-Briefe in den „Druck“ gehen können, wo man doch angesichts eines nicht genau adressierbaren, diffusen Publikums „säuberlich und mit aller Höflichkeit verfahren“ müsse, entschließt sich dann aber zum strikten Votum gegen „Höflichkeit“ und für Konfrontation (KS I, 142f.). Schriftliche Kommunikation ist dafür geeignet, „weil man doch, wenn man Geschriebenes liest, mehr gezwungen wird, die Meinung des anderen anzuhören, der sich auch durch voreilende Einwürfe des anderen nicht irre machen läßt, weil er sie nicht vernimmt“. Man hat mehr Zeit, seine Kritik zu entfalten, mehr Zeit aber auch, um verstanden zu werden. Der Briefschreiber hofft dadurch auf eine Annäherung der Positionen – an eine Schlichtung des Streits glaubt er indes nicht (KS I, 137). Daß Publikationen im Blick auf potentielle Kritik entworfen werden und daß Kritik ihrerseits mit Kritik rechnen muß, kann Tieck nicht mehr verwundern: In seiner wiederum in Briefform abgefaßten Besprechung der Neuesten Musenalmanache und Taschenbücher beispielsweise hat er es mit Gedichten zu tun, die in einer Art Präventivschlag imaginierte Kritik abwehren wollen (KS I, 98, 104f.); gegen Ende der Rezension zitiert er andere Rezensionen (KS I, 120, 122, 125); und er vermutet, wie bei den Briefen über Shakspeare, daß der Herausgeber des Archivs der Zeit, an den die kritischen Briefe adressiert sind, eine andere Meinung als er vertreten werde – „wenn ich also durch meinen Aufsatz vielleicht einen andern von Ihrer Hand veranlasse, so sind mir die Leser in jedem Falle Dank schuldig [...]“ (KS I, 99). Die Reflexionsförmigkeit, die der kritischen Kommunikation eingeschrieben ist, kann ihre Überbietungshaltung an der Stabilität schriftlicher Meinungsfixierung festmachen, die über längere Zeit hinweg einen mehr oder weniger gleichbleibenden physikalischen Bezugspunkt bietet und dennoch immer wieder anders gesehen wird. Zur Konzeptionalisierung _____________
ten Abdruck schreiten, Sie mir davon Meldung machen, damit ich hie und da kleine Verbesserungen anbringen kann. Denn wir mögen bei einer solchen Arbeit noch so aufmerksam sein, im Druck selbst offenbart sich erst Manches, was wir in der uns vertrauten Handschrift doch übersehn haben“ (Tieck: Letters, S. 395).
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dieses Phänomens von Gleichheit im Wandel eignet sich daher die Vorstellung vom Text als einem dreidimensionalen Körper, dessen perspektivische Wahrnehmung Zeit braucht, gegenüber dem man eine falsche und richtige Position einnehmen kann und der mit einer spezifischen Innerlichkeit ausgestattet ist, in die unterschiedliche Kritiker dann mehr oder weniger weit vorstoßen (3.2.1 b; 5.3.3) – um noch einmal an Gottscheds kritische „Gespenster“ zu erinnern, die durch ihre diffuse, virtuelle Bedrohung Angst bei den Autoren erzeugen: Sie „dringen bis aufs innerste Marck [...]; Sie durchforschen die verborgensten Schlupfwinckel einer Schrifft, sie sey von welcher Art sie wolle“ (CD II 396; 3.1.1 d). Diese Innerlichkeitskompetenz mit der entsprechenden Standpunktbindung prägt auch Tiecks kritische Schriften, die sich multiperspektivisch an ‚inneren‘ Gesetzen orientieren und dadurch zu einem ‚tieferen‘ oder ‚innigeren‘ Verständnis als andere gelangen.333 Es verwundert von daher nicht, daß Tieck immer wieder Gedankenfiguren von Schillers Idealisierungsästhetik aufgreift, insbesondere von dessen Bürger-Kritik334, die nicht nur als Kritik fünfter Stufe (3.3) und nicht nur wegen der von Tieck wiederholten Verteidigung von Anonymität im Rezensionsbetrieb (KS I, 91) paradigmatisch ist, sondern auch deswegen, weil Schiller mit eigentümlichen Innerlichkeiten wie dem „innern Wert“ oder einem „inner[n] Ideal[ ] von Vollkommenheit“ operiert335, auf die Bürger in seiner Replik nicht anders als ratlos reagieren kann: Bürger glaubt einen „Kunstgeist“ aus einer „Sfäre“ vor sich zu haben, „wo man nach ganz andern Gesetzen denkt“, und er fordert den ihm unbekannten Rezensenten zu ausführlicher Erläuterung auf, um „so eine Menge Widersprüche aufzulösen, mit denen wir andere durchaus nicht fertig werden können“ (5.3.5 b).336 _____________ 333 In der Kritik der Kupferstiche nach der Shakespeare-Galerie in London (1793) führt er z. B. vor, wie er sich von der blendenden Fassade der Stiche nicht irritieren läßt und durch die Fassade hindurch das Wesentliche sieht (KS I, 14); in der Musenalmanach-Rezension richtet er den Blick auf ein „inneres Gesetz“ (KS I, 110); in den Shakespeare-Briefen zeigt er sich überzeugt davon, „daß es noch andere Ansichten als die meinige [...] geben müsse, denn ich sehe zu gut, wie viel ich neues bei jeder wiederholten Lecture lerne [...]“ (KS I, 160); in der Vorrede zu den Altdeutschen Minneliedern und in Goethe und seine Zeit zielt er auf ein „innige[ ]s Verständniß“ (KS I, 188; KS II, 174); und in der Vorrede zum Altenglischen Theater (1828) gesteht er die generelle Irrtumsanfälligkeit einer Textanalyse ein, die deutlich wird, sobald man „tiefer ein[dringt]“ (KS I, 256). 334 Vgl. z. B. das Programm einer Erhebung des Publikums (KS I, 39), der Einheit von Bild und Empfindung (KS I, 83), der Affektkalmierung als Voraussetzung des Dichtens (KS I, 118) oder der Unterdrückung lokaler Bezüge zur Erzeugung allgemeiner Relevanz (KS I, 210). Vgl. zu Tiecks Kritik an Schiller, vornehmlich an dessen ‚Gedankenlyrik‘, im Zuge der ‚Romantisierung‘ des Idealisierungskonzepts Kluge: Idealisieren, z. B. S. 409ff. 335 Schiller: Sämtliche Werke. 5. Bd., S. 975, 979. 336 Zit. nach der Ausgabe in Fambach: Der Aufstieg zur Klassik in der Kritik der Zeit, S. 460, 462. Vgl. zu einer ähnlichen Reaktion im Streit zwischen ‚Aufklärung’ und ‚Romantik’ die Kritik Nicolais an F. Schlegel (Schumacher: Die Ironie der Unverständlichkeit, S. 173ff.).
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Wenn kritische Schriften somit virtuell gleichsam vor ihrer Niederschrift schon überholt sind: Wie legitimiert Tieck dann die Publikation seiner Kritischen Schriften, also die Veröffentlichung von Kritiken, die zum Teil mehr als ein halbes Jahrhundert alt sind? Tieck macht den Schritt von der kritischen zur philologischen Kommunikation. Es ist daher aufschlußreich, daß Wieland, dessen Werkpolitik exemplarische Bedeutung für die Zeit um 1800 hatte (3.3 c), von Tieck mehrfach als Begründer eines bestimmten Werkparadigmas zitiert wird (z. B. KS I, 123; S VI, XLVIIf.; NS II, 86) und daß Brockhaus brieflich die Reihe der Vorbildautoren für eine Tieck-Werkausgabe mit Wieland beginnen läßt, bevor dann Goethe, Schiller und Herder folgen.337 Wenn Friedrich Hebbel in seiner Besprechung von Tiecks Kritischen Schriften bemerkt, daß diese Ausgabe „jedem, dem er [Tieck, S. M.] selbst als dichterisches Individuum wichtig ist, interessant sein muß“, dann wendet Hebbel Tiecks philologisierte Kritik auf Tiecks Kritiken an, und vollzieht jene Schleife, die auch Wieland installieren wollte.338
5.3.3 Tiecks philologische Kommunikation Die „behutsame Aufmerksamkeit“, die Wieland einklagt (3.3 c), läßt sich als ‚philologische Aufmerksamkeit‘ insofern verbuchen, als sie zentrale Elemente jener Leseethik der detailgenauen Treue gegenüber dem Text aufgreift, über die sich die im 19. Jahrhundert etablierende Germanistik bzw. die entstehende deutsche Literaturwissenschaft selbst definiert und die als Lösung der Aporien kritischer Kommunikation ein offensichtlich lukratives Angebot darstellte (5.2). Hier wie dort spart man nicht an negativen Urteilen, aber in beiden Fällen zieht man deswegen nicht die Aufmerksamkeit von einem Gegenstand ab. Die Leitformel der germanistischen Werkpolitik im 19. Jahrhundert von der „Andacht zum Unbedeutenden“339 läuft auf eine tendenziell selektionslose Aufmerksamkeit hinaus, d. h. auf eine Kombination von ungerichteter „Achtsamkeit“ und fokussiertem „Achtgeben“.340 _____________ 337 Paulin: Ludwig Tieck, S. 202f. 338 Hebbel: Werke. Bd. 8, S. 333. Vgl. dazu auch Tiecks Autorenlogik, derzufolge seine Jugendversuche gefallen, „weil sie von mir herrühren“ (zit. nach: Dichter über ihre Dichtungen. Bd. 9/2, S. 208f.). 339 Vgl. dazu Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, S. 404. 340 Vgl. zu dieser Unterscheidung, die im Englischen die Begriffe „awareness“ und „attention“ machen, Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit, S. 28ff.
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Daß Ludwig Tieck die Philologie als relevante Beobachtungsinstanz auch für Gegenwartsliteratur versteht, sieht man paradoxerweise gerade an seinem unphilologischen Verhalten bei der Herausgabe von Maler Müllers Werken: Er ergänzt schlicht eine fehlende Stelle durch eine halbe Seite eigenen Textes, „die jetzt ein kritisches Auge herauslesen mag“ (S I, XXXV).341 Anders gesagt: Er rechnet mit der Überwachung durch den Blick des professionellen Editors. Diese Doppelorientierung an poetischen wie an philologischen Belangen entspricht Tiecks Stellenwert in der Wissenschaftsgeschichte der Philologie. Sein Verdienst, darin ist sich die Forschung einig, besteht in einer Art Scharnierfunktion, die er für den Übergang von der gelehrten zur disziplinären Gemeinschaft um 1800 übernommen hat.342 Ob man ihn nun mit Roger Paulin als „Vater der deutschen Germanistik“343, mit Henry Lüdeke als „Vater der Anglistik“344 oder mit Ulrich Hunger als „Grenzgänger zwischen Poesie und gelehrter Forschung“345 einordnet, er hat seinen festen Platz an der Seite der romantischen „Mittelalterbewegung“ von Wackenroder über Arnim und Brentano bis Görres und Uhland, deren Popularisierung altdeutscher Literatur sich der Philologie eines Friedrich Heinrich von der Hagen nähert346 – Tieck, der von der Hagen bekanntlich mit Archivmaterialien versorgt hat, bezeichnet den ‚Frühgermanisten‘ nicht umsonst im Vorbericht zur dritten Lieferung der Schriften als „Freund“ (S XI, LXXX, LXXVIIIff.).347 Ebenso bekannt sind im übrigen Tiecks Vorbehalte gegen eine akademische Tätigkeit, die bei den Verhandlungen _____________ 341 Beispiele eines aus philologischer Sicht spektakulär unmethodischen Verhaltens finden sich beispielsweise immer wieder in Tiecks Shakespeare-Kritik, vgl. dazu Hiltscher: Shakespeares Text in Deutschland, z. B. S. 68f. 342 Krohn: „... daß Alles Allen verständlich sey ...“, S. 277. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Klee: Zu Ludwig Tiecks germanistischen Studien, sowie den Überblick von Hölter (Ludwig Tieck, S. 15ff.) über Tiecks kritisch-philologische Ausbildung im Friedrichswerderschen Gymnasium u. a. bei Gedike sowie an den Universitäten in Halle (vgl. zu F. A. Wolf und dessen für Tieck wichtiges Verfahren der Verbindung von „Kultur, Gesamtliteratur und Autor“, zu dessen Autorfixierung und Autopsiegebot ebda., S. 18ff.) und Göttingen (hier vor allem zu Fiorillos „induktiv-quantitative[m] Verfahren“ sowie zu Heyne ebda., S. 30ff.); vgl. auch ebda., S. 133ff. zu den „Beziehungen zu Literaturhistorikern“. Zu Tiecks Ausbildung bei Wolf auch Hölter: Der Romantiker als Student. 343 Paulin: Ludwig Tieck. Eine literarische Biographie, S. 142 – Paulin formuliert dies in bezug auf Tiecks Verbindung von Nation, Sprache und Geschichte. 344 Zit. nach Paulin: Ludwig Tieck, S. 95. 345 Hunger: Die altdeutsche Literatur und das Verlangen nach Wissenschaft, S. 256. 346 Hunger: Romantische Germanistik und Textphilologie, S. 44ff. 347 Insbesondere Gisela Brinker-Gabler (Poetisch-wissenschaftliche Mittelalter-Rezeption, insbes. S. 154ff. zur „deutsche[n] Frühgermanistik“; vgl. hier auch einen Überblick über die wissenschaftsgeschichtliche Behandlung Tiecks S. 1ff.) und Achim Hölter haben in ihren materialreichen Studien die Bedeutung protophilologischer Elemente für das Gesamtwerk Tiecks gezeigt.
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um eine Professorenstelle in Heidelberg, Berlin und München deutlich werden.348 Wichtig ist für den hier interessierenden Zusammenhang, wie auch bei Tieck die philologische Kehre auf die Aporien der kritischen Kommunikation antwortet. An G. Waagen schreibt Tieck am 4. Februar 1812: Die Philologie ist überhaupt eine Wissenschaft, in der sich alles in einem herrlichen Zirkel vereinigt, und selbst das Unbedeutende wichtig wird, weil es erklärt, etwas Wichtiges erhellt, und so durch das ganze Studium Ein Leben geht.349
Daß es die Philologie ist, die „Ein Leben“ konstruiert, fügt sich ins Bild jener allmählichen Ausformung eines konzeptionellen Lebenswerks bzw. einer konzeptionellen Relevanz des Lebenswerks, die sich im Laufe des 18. Jahrhunderts kristallisiert (4.1.1).350 Tieck bezieht sich damit auf Techniken und Verfahren der Einheitsbildung und korrespondierende Aufmerksamkeitseinstellungen, die eine historische Wegscheide markieren.351 Wie im Fall der Kritik lassen sich im übrigen auch bei der Etablierung des Lebenswerks als Parallelunternehmen der Etablierung von Negativität im literarischen Diskurs Korrekturen an der geläufigen Zäsurierung anbringen. Man kann dies am Konzept der „Jugend“ verdeutlichen, das als Erfindung des 18. Jahrhunderts gilt, aber literaturgeschichtlich erst für die Generation des Sturm und Drang zur Geltung gebracht wird, bevor es dann einen zweiten Diskursivierungsschub ‚um 1800‘ als „romantisches Konzept“ erfährt.352 Erneut stellt sich – diesmal im Blick insbesondere auf Klopstock und die ihn umgebenden ‚Jünglinge‘ – die Zeit ‚um 1750‘ als historische Gelenkstelle heraus, um die sich die entscheidenden Motive versammeln (2.4, 4.1.1, 4.2). Die Ausdifferenzierung einer Jugendphase ist für die vorliegende Darstellung vielfach anschlußfähig: ‚Jugend‘ als lebensgeschichtlich eigenständiger Abschnitt markiert einen erhöhten Zeitbedarf für das ErwachsenWerden; dieser Zeitbedarf erklärt sich aus der Virtualisierung von Lebens_____________ 348 349 350 351
Brinker-Gabler: Tieck und die Wissenschaft; Hölter: Ludwig Tieck, S. 110ff. Zit. nach Hölter: Ludwig Tieck, S. 36. Verf.: Die Entstehung von Tiefsinn im 18. Jahrhundert. In Frage steht hier auch die Frage nach den Zäsuren, die Tiecks Werk durchziehen, insbesondere der Status jener Zeit ‚um‘ oder ‚vor‘ 1800, die vor allem Menninghaus (Lob des Unsinns) und Bong (Texttaumel) als Bruch mit den Konventionen exponieren. Im Blick auf Tiecks philologische Optionen scheint jedenfalls von den frühen psychologischen Interessen Tiecks zu seinen späteren philologischen Interessen eine Linie zu führen, wie groß auch immer der Bogen ist, den sie um die Poetik des „Unsinns“ oder „Schwindels“ schlagen muß. 352 Vgl. dazu die Beiträge in dem Sammelband Jugend – ein romantisches Konzept, vor allem die gleichnamigen Aufsätze von Günter Oesterle (dort z. B. S. 16; zu Tieck vgl. ebda., S. 17f.) und von Hans-Heino Ewers (dort z. B. S. 51f.; zu Tieck vgl. ebda., S. 54ff.). Zur Kindheit vgl. Ewers: Kindheit als poetische Daseinsform, zur Ausdifferenzierung der Kindheit, S. 10ff., zu literarischen Kindheitsentwürfen bei Tieck S. 203ff.
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läufen, aus dem Nicht-Festgelegten der Zukunft, für deren Vorbereitung nun nicht ein bestimmtes, gleichsam abzählbares Set von Wissensbausteinen, sondern eine Reihe von abstrakten und damit situationsflexiblen Orientierungen notwendig ist. Diese müssen verinnerlicht und in der Phantasie spielerisch vorgetestet werden – daher erklärt sich eine bestimmte Fiktions- bzw. Literaturkompetenz, die durchliterarisierte Gesellschaften kennzeichnet. Jugend als eine in diesem Sinn kritische Lebensphase paßt sich in die kritische Kommunikation und in den Prozeß der Etablierung von Negativität ein. Die Aufwertung der Jugend als eines für sich legitimen Zeitraums der „Erfahrungslosigkeit“, der „Unbeständigkeit“, der „Vagheit“ von „Hoffnungen“ und der entsprechenden „daraufgängerischen Kühnheit“353 ist ein Komplementärphänomen zur positiven Wertung von Unsicherheit, Wandelbarkeit, Irrtum oder Potentialität, die die Grundlage von Negativitätskompetenz bildet (2.4). Insofern ist Tiecks ausgeprägtes Interesse an der eigenen Jugend bemerkenswert. Er legt dies insbesondere im Alter an den Tag, wenn er etwa seine Gymnasialwerke aus dem Archiv holt und Freunden daraus vorliest, auch wenn diese nicht die gleiche Begeisterung dafür aufbringen können. Eduard von Bülow berichtet: „Tieck las uns spät Abends seinen Abraham Tonelli vor, der mich ungeheuer ermüdete. Er hat für manche Jugendarbeiten e.[ine] unbedingte Vorliebe u[nd] belustigte sich sehr daran“.354 Dieses Selbstinteresse geht soweit, daß Tieck mit seiner Umgebung in Streit gerät, wenn man ihm erklärt, daß man seine „Jugendzeit“ nicht „möge“ und nicht „verstehe“. Tieck reagiert darauf mit der radikalen Behauptung von Selbstgleichheit, die auch seine Verteidigung des Unzusammenhängenden tangiert355: „Er vertheidigte sich so sehr, daß er sagte: er könne heute noch in der Form der Genovefa weiter schreiben, denke und fühle immer gleich, es sei blos Zufall, daß er statt dessen Novellen habe“.356 An diesen und ähnlichen Stellen überführt Tieck die Akzeptanz des Jugendwerks als Teil des Gesamtwerks, die sich im Lauf des 18. Jahrhundert herausgebildet hat, in eine Form der Kopräsenz der Lebensalter, die dem ‚Lebenswerk’ eine noch innigere und dichtere Geschlossenheit _____________ 353 So die Liste bei Oesterle: Jugend – ein romantisches Konzept, S. 9. 354 Zit. Dichter über ihre Dichtungen. Bd. 9/1, S. 93, vgl. auch ebda., S. 29 sowie ebda., Bd. 9/3, S. 207. 355 Stellen z. B. in Tieck: Phantasus, S. 1236f., von Frank als Belege für „eine der tiefsten Überzeugungen der Tieckschen Dichtung präsentiert (vgl. auch ders.: Einführung in die frühromantische Ästhetik, S. 386f.) – es käme hier m. E. darauf an, die Stellen erstens in ihre Kontexte zu integrieren und zweitens auf ihre Funktion bei der Feldpositionierung hin zu befragen, weil die Ablehnung des einen Zusammenhangs immer auch bedeuten kann, einen anderen, komplexeren Zusammenhang an dessen Stelle zu setzen. Zur ‚Einheit’ des ‚romantischen Buchs’ vgl. Scherer: Witzige Spielgemälde, S. 7ff., 26ff., 152ff. (zu Tieck). 356 So wiederum Eduard von Bülow (zit. nach Dichter über ihre Dichtungen. Bd. 9/3, S. 231).
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verleiht, als dies bei jener Werkbildung der Fall war, die sich über das Interesse an der „Geschichte unsrer Litteratur“ (Wieland) entwickelt. Den konzeptionellen Kern der ‚Verteidigung der Kindheit‘ schält Tieck an anderer Stelle heraus. Denn ähnliche Selbsteinschätzungen, denen zufolge er ‚sich immer gleich‘ geblieben sei, finden sich mehrfach, ebenso wie das exponiert positive Verhältnis zur eigenen Frühphase. In der Phantasus-Widmung der Schriften an Schleichermacher beispielsweise bekennt Tieck: „Gern erinnere ich mich der Jugendzeit“ (S IV, unpag.). Und in der Widmung des zweiten Bands seiner Schriften an Friedrich Schlegel erklärt er: „Die Lieblinge meiner Jugend sind es noch, sogar mit erfrischter Zärtlichkeit“ (S II, unpag.). Dies mag auf der einen Seite gegen die Konversionsleidenschaft seiner frühromantischen Kompagnons geschrieben sein, wendet sich aber auf der anderen Seite vor allem an ein Modell mit besonderem Provokationswert: an Schlegel als Autor der Lucinde. Wie in umgekehrter Reihenfolge bei Wieland (3.3 c) stellt sich in diesem Fall mit besonderer Nachdrücklichkeit das Problem, auf welche Weise der frivole Teil des Werks mit dem alltagsmoralisch akzeptablen kombiniert werden kann. Tieck hält sich auch deswegen an Autoren wie Shakespeare, weil sie ihm Kontinuitätsmodelle vorgeben. „Hätte ich die Lucinde einmal zu schreiben anfangen können“, erklärt er Solger, „so hätte ich sie gewiß auch, wenn selbst im späten Alter, fertig gemacht“.357 Daß Tieck im übrigen, wie das für die Selbsthistorisierung von Autoren charakteristisch ist, sein Werk nur der Tendenz nach mit selektionsloser Aufmerksamkeit bedenkt, darf man freilich nicht übersehen. Zwar versteht er „überhaupt so manche Dichter nicht, daß bei reiferen Jahren sie so manche ihrer frühren Schriften zurück nehmen, oder wenigstens gantz anders schreiben möchten“, aber seine „ersten gantz unreifen Versuche“ klammert er bisweilen als „Buchhändler bestellungen“ von seinem Werk aus.358 Und schließlich: Tieck mag Schlegel die Fragmentarität von Lucinde zum Vorwurf machen, der Sternbald wird damit auch nicht abgeschlossen. Dennoch: Die philologische Aufmerksamkeit findet das Mangelhafte ‚interessant‘, weil es entweder für die ‚Geschichte‘ eines Autors oder für die ‚Geschichte‘ der Literatur relevant ist und zum Verständnis beiträgt. Auch die „schwachen Gedichte“ sind „wichtig“, so Tieck über Novalis, „weil sie Übungen, Scherze, Versuche in früher Jugend dieses Geistes waren“.359 Auf diese Weise virtualisiert die philologische Aufmerksamkeit Fehlerhaftigkeit bzw. erzeugt genau jenen Zustand, der in der kritischen Kommunikation noch ein Manko darstellte: Ein ‚Fehler‘, so Tieck, kann _____________ 357 Brief vom 16. Dezember 1816 (Tieck and Solger, S. 317) – Tieck geht dabei von den Selbstverurteilungen des Jugendwerks bei Calderon und Boccaccio aus. 358 Brief an Reimer vom 28. Februar 1817 (Tieck: Letters, S. 69). 359 Novalis: Schriften. Bd. 3, S. V.
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im Kontext einer bestimmten werk- oder literaturgeschichtlichen Situation ‚richtig‘ sein (z. B. NS II, 71).360 Der Literaturhistoriker empfiehlt Werke, vor denen der Kritiker warnt (z. B. KS I, 265). Tieck ordnet daher die beiden ersten Bände seiner Kritischen Schriften chronologisch an, nicht nach Sachgesichtspunkten; er umreißt in der Vorrede ein intellektuelles Feld von Förderern (KS I, VI), gibt Informationen zu den Entstehungsbedingungen einzelner Werke (KS I, IX, XII), markiert umgekehrt seinen Einfluß auf Zeitgenossen (KS I, VIIIf.) und entwirft Perspektiven der Anschlußfähigkeit für zukünftige Unternehmungen (KS I, XI). Er wendet damit jene Verfahren auf sich an, die er zuvor als Editor anderen Autoren angedeihen ließ.361 Dieses Projekt eines dauerhaften Kommunikationszusammenhangs provoziert die Reflexion auf die eigene Vorläufigkeit, weil jedes Element eben nur Teil eines übergreifenden Zusammenhangs und damit für sich gesehen defizient ist. Bereits einleitend gibt Tieck in den Kritischen Schriften die entscheidende Direktive aus: Da jeder Schriftsteller immer nur seine wohlwollenden Leser im Auge haben kann, und sich nur an diese wendet, so setze ich voraus, daß es den Freunden meiner Bemühungen interessant sein werde, auch im Fache der Kritik meine früheren Arbeiten kennen zu lernen, um sie vielleicht mit meinen spätern zu vergleichen und sich zu überzeugen, wie ich von Jugend auf einem und demselben Ziele zugestrebt habe und nie jene vielfachen und gewaltigen Umänderungen erfahren, die Andere von sich rühmen, oder sich über sie beklagen wollen. (KS I, VI)
Analog begründet Tieck die Wiederveröffentlichung des literarischen Jugendwerks in der Vorrede zur Ausgabe des William Lovell von 1813: Wieder adressiert er die Freunde, die sich „wohlwollend für seine Werke interessieren“. Für einen solchermaßen interessierten Leser ist es wichtig, Tiecks „Schriften in ihrem Zusammenhange zu kennen“. Gerade die „frühesten Bemühungen des Schriftstellers [...] werden ein historisches Interesse erhalten, wenn der Geist und die Stimmungen der Zeit, so wie der Kampf dagegen, in ihnen zur Sprache kommt“ (S VI, 3). _____________ 360 In den Bemerkungen über einige Charaktere im Hamlet schreibt Tieck: „[...] früh schon hat sich mein Geist gewöhnt, das Ganze in seinem nothwendigen Zusammenhange zu verstehen, und beim Shakespeare namentlich, der seit Jahren mein ununterbrochenes Studium war, fand ich mich so vom Strome seiner Werke mitgenommen, daß ich mich oft nur verwundern konnte, wenn man diese und jene Verse so vorzüglich heraushob, die mir als nothwendig und trefflich, aber nicht mehr als die übrigen, aufgefallen waren. Dafür aber fand ich auch da meistentheils große Schönheiten, wo man den Dichter kritisch tadeln, wo man ihn verbessern wollte, weil man eben, sich immer am Einzelnen haltend, die Bedeutung, den wahren Sinn dieser angefochtenen Stellen übersehen hatte“ (KS III, 275; vgl. dazu auch die Perspektive des Historikers in Goethe und seine Zeit, KS II, 177). 361 „Historische und kritische Einleitung[en]“ sollen nicht nur die Stücke in Shakespeares Vorschule bekommen (Tieck: Letters, S. 76), sondern auch die eigenen Werke (Dichter über ihre Dichtungen. Bd. 9/1, S. 328, s. auch 325).
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Tieck wendet sich an den „wohlwollenden Leser“, der Interesse an dem Werkganzen eines Autors entwickelt und für den im Kontext dieses Werkganzen alles von Bedeutung ist – in den Entwürfen zum Buch über Shakespeare nimmt er sich vor, „jene Ansicht anschaulich zu machen, aus der sich bei diesem großen Dichter alles, selbst das widersprechendste zu einem Ganzen vereinigt, und wie man ihm daher nichts nehmen könne, ohne das Gewebe seiner Kunstwerke zu zerstören“.362 Vor diesem Hintergrund versteht sich seine Bemerkung im Vorwort der Kritischen Schriften, in seine Shakespeare-Studien habe er „viel Zeit und unermüdliches Studium“ investiert, nicht nur als Beitrag zur philologischen Leseethik selektionsloser Aufmerksamkeit auch und gerade für die „kleinen Notizen, die Eigenheiten der Sprache, die historischen Umstände und Andeutungen“, die unablässiges Zweifeln, „Zeit und Geduld“ benötigen (KS I, XI); die Zeitinvestition bedeutet darüber hinaus eine Investition von Lebenszeit, die der Leser seinerseits in Aufmerksamkeit für das Unvollkommene umsetzt – Tieck bekennt offen, daß sein früherer Kenntnisstand inzwischen überholt ist (KS I, IX), daß also die in den Kritischen Schriften veröffentlichten Shakespeare-Aufzeichnungen zum Teil wenigstens nur noch wissenschaftsgeschichtlichen Wert beanspruchen können. Diese neue Schleife, die auf Kritik nicht Kritik, sondern auf Verständnis neues Verständnis häuft, hat Erfolg. Jedenfalls greift Rudolf Köpke genau diese Gedankenfigur auf, als er Tiecks Nachgelassene Schriften 1855 herausgibt und dabei deren Erscheinen mit dem Erscheinen seiner TieckBiographie synchronisiert363, so wie Tieck im übrigen bei Gelegenheit das Projekt des Buchs über Shakespeare mit dem Projekt einer Autobiographie verbunden hat.364 Köpke verläßt sich auf die verständniserregende Kraft des Veraltens, denn „[w]as der Gegenwart vielleicht noch zweifelhaft erscheinen mag, wird der Zukunft zu erkennen vorbehalten sein, wenn sie Leben und Werk des Dichters einst in klaren und sichern Umrissen überschaut“ (NS I, VI). Die Nachlaßveröffentlichung begründet sich gleichermaßen aus ethischen wie aus wissenschaftlichen Gesichtspunkten, sie wird „zur historischen Pflicht, und diese letzte Ehre zu einem Acte der Gerechtigkeit und des Zeugnisses für die Nachwelt“ (NS I, VII). Zwar veranstaltet Köpke eine Auswahl, und dies nach dem kritischen Gesichtspunkt der „künstlerisch[en]“ Bedeutung; der kritische Code aber kann immer durch den philologischen ersetzt werden, so daß „das historisch Wichtige“, „selbst wenn es künstlerisch wenig bedeutend war“, an Publikationswert gewinnt (NS I, X). Wieder selektiert sich das Material nach _____________ 362 So im dritten Entwurf des Shakespeare-Buchs (Tieck: Das Buch über Shakespeare, S. 395). 363 Hölter: Ludwig Tieck, S. 10. 364 Brief an Heinrich Brockhaus vom 9. Januar 1846 (Dichter und ihre Dichtungen. Bd. 9/2, S. 142).
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Maßgabe der Relevanz für die Geschichte der Literatur und der Wissenschaft oder für die Geschichte des Autors und seines Werks (z. B. NS I, XI, XX). Damit, so resümiert Köpke, redupliziert man Tiecks Lektüreverhalten: „Allein schon darum müßte auch ihm geschehen, was er an so Vielen gethan hat“ (NS I, XXIV). In diesem Zusammenhang rückt die Poetisierung der Kritik näher an die kritische Kommunikation der Aufklärung. Bekanntlich hat die romantische Reflexionspoesie die Kritik zu einer Fortsetzung des Kunstwerks erklärt und führt damit eine Linie fort, die von der Genialisierung der Kunstkommunikation im Sturm und Drang sowie von Karl Philipp Moritz’ autonomieästhetischem Projekt ausgeht.365 Tieck folgt dieser Linie, wenn es in den Shakespeare-Briefen heißt: „[...] über Dichter ist es dir nur erlaubt zu dichten [...]“. Vor diesem Hintergrund verstehen sich auch die „Erscheinungsweisen poetischer Literaturgeschichte bei Tieck“.366 Die erneute Annäherung von Dichter und Kritiker beruht paradoxerweise darauf, daß der Dichter dem Zugriff entzogen ist. Oder anders: Der vom Kritiker geforderte Enthusiasmus entrückt den Dichter dem Publikum, indem er für den angemessenen Zugang zum Kunstwerk Sonderkompetenzen markiert, die gegebenenfalls das schlechte Detail zugunsten des gelungenen Ganzen übersehen. Diese Visibilisierung in Form von Invisibilisierung verlangt vom Leser eine Zurückhaltung, wie sie insbesondere Klopstocks Messias-Projekt exponiert hat (4.1.2). Tieck versucht, sich diese Leserprägung zunutze zu machen: In der Vorrede zu Abdallah fordert er die Zurückstellung des Urteils, bis „man sie zu Ende gelesen hat“367; und in der Vorrede zu William Lovell wendet er sich „vorzüglich an alle die Leser, die irgend einen Beruf zum Recensiren fühlen, um sie zu ersuchen, dieser Geschichte, die in drey Theilen erscheinen wird, nicht bloß nach diesem ersten ein Verdammungsurtheil zu sprechen“.368 Insbesondere im Fall des Abdallah formuliert Tieck diese vorauseilende Selbstverteidigung – in einer strukturellen Reprise der Klopstockschen Problemlage – als Reaktion auf die Kritik am „Wunderbaren“ und an der Erweiterung der „Phantasie“, bei der er sich von der verbreiteten Erniedrigung des „Wunderbaren“ zu den „albernsten Ammenmährchen“ absetzen will.369 Der frühe Tieck tut dies unter Berufung auf die Ganzheitsästhetik, der spätere Tieck im Rückblick _____________ 365 Moritz: In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können?; zu den literaturgeschichtlichen Zusammenhängen vgl. Hubert: Karl Philipp Moritz und die Anfänge der Romantik. 366 Hölter: Ludwig Tieck, S. 303ff. 367 [Tieck]: Abdallah, unpag. [Vorrede]. 368 [Tieck]: William Lovell. Bd. 1, unpag. [Vorrede]. 369 [Tieck]: Abdallah, unpag. [Vorrede].
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auf sich selbst unter Berufung auf den „Tiefsinn“, der Abdallah von den gewöhnlichen „Gespenstergeschichten“ unterscheide (S VI, VIII). Die Unterstellung von „Tiefsinn“ versteht sich im Zusammenhang mit Vorstellungen, die das Werk im Rahmen der Ganzheitsästhetik zu einem Körper machen, der die Verunsicherung und zugleich die Selbsterhöhung der Kritik auf zwei Weisen spiegelt: Zum einen hat ein Werkkörper verschiedene Seiten, die die Frage nach dem richtigen Standpunkt provozieren – die Bemängelung eines Fehlers kann immer auch auf die unangemessene Beobachterhaltung zurückgeführt werden.370 Diesem Perspektivismus korrespondiert zum anderen die Vorstellung von einem mehr oder weniger ‚tiefen‘ Eintritt in die Welt des Kunstwerks (z. B. 3.2.1 b u. c; 4.1.2). Kritischer Perspektivismus und kritische Tiefsinnigkeit sind also zwei Modelle, die das Spiel von Visibilisierung und Invisibilisierung konzeptionalisieren, die es weniger verwunderlich und immer möglich machen, daß ein Leser mehr oder genauer bzw. weniger und ungenauer beobachtet als ein anderer. Die Funktion von Perspektivismus und Tiefsinnigkeit bei der Etablierung von Negativität erhellt die Auseinandersetzung zwischen Tieck und A.W. Schlegel um den von ihnen herausgegebenen Musen-Almanach für das Jahr 1802. Dabei kritisiert Tieck an Schlegels Fortunat, es fehle diesem an „Einheit“, es mangle ihm an „nothwendige[m] Zusammenhang[ ]“, und meint, daß sich am Fortunat vieles von dem finden lasse, was Schlegel an Bürger kritisiert habe. Wieder gilt: Den Kritiker ereilt dasselbe Schicksal wie den vom ihm Kritisierten. Tieck weiß um die Möglichkeit der Kritik der Kritik, und er weiß auch, daß Kritik selbst bei denen, die Kritik immer _____________ 370 Die von Jörg Bong exponierte Poetik und Poesie des „Schwindels“ läßt sich hier insofern anschließen, als zu Tiecks poetischem Programm die Verwirrung stabiler Ordnung auf der einen Seite, die Beunruhigung der Aufmerksamkeit auf der anderen Seite gehört – der „Schwindel“ wird bei Tieck und in der zeitgenössischen Anthropologie dadurch bestimmt, daß in diesem Zustand „ein verworrenes Ganzes“ (Marcus Hertz) herrscht bzw. eine Ganzheit ohne „Einheit“ (Texttaumel, S. 6ff.). Dem entspricht eine Lektüre, die literarische Verfahren dazu provozieren, sich „immer angestrengter“ zu engagieren, und zugleich „wieder enttäuscht“ wird (ebda., S. 15, 178ff., 202ff.). Im Blick auf den Blonden Eckbert schreibt Bong: „Unentwegt fordert der Text die Verstehensbemühungen heraus, die Anstrengung, in immer neuen Interpretationen eine die Totalität der so offenbar disparaten Momente einschließenden Kohärenz eines Sinns festzustellen. Diese Bemühungen sind Voraussetzung alles Schwindels, der dadurch historisch streng an den hermeneutischen Impetus gebunden bleibt, den er bekriegen will, der Reaktion ist. Penetrant stellt er die unauflösliche Frage, die den Leser sich weder im Sinn noch im Unsinn, Widersinn oder in der Sinnlosigkeit einrichten läßt: Gibt es einen subkutanen Sinn, einen Zusammenhang, in dem alles aufgeht? Damit bringt er die so eingestellte Lektüre zur automatischen Selbstverwirrung. Der Text selbst, Erzähler, Erzählweise und Figuren, formuliert eigene Interpretationen, die er dem Leser aufgibt. Keine der interpretativen Bemühungen aber kann sich und den Text beruhigen [...]“ – gleiches gelte für die „Anti-Hermeneutik, die als Selbstsubversion der Hermeneutik funktioniert“ (ebda., S. 226f.).
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einfordern, eine gefährliche Sache ist. Nicht zuletzt aus diesem Grund fügt er hinzu: „Ich mag mich irren, aber ich habe dir freimüthig darüber gesprochen“.371 Tatsächlich hat Schlegel Tiecks „Tadel des Fortunat [...] ganz falsch genommen“, wie im übrigen Schlegel immer etwas gereizt auf Tiecks Kritiken reagieren wird (5.3.4).372 Aber Tieck hält an seiner Position fest, räumt zwar wieder die Möglichkeit ein, sich zu „irren“, beharrt jedoch auf seiner Empfindungs- und Gefühlssicherheit und übersteigt durch Tiefsinnigkeit noch den Perspektivismus auf eine neue Ganzheit hin: Bei der von Schlegel verwendeten Gedichtgattung bedürfe es nicht der „genaue[n] Übersicht der Theile und ihres Verhältnisses“, um das Gefühl zu haben, das Tieck hat und das Schlegel nicht hat: [...] es liegt in diesen Romanzen und Sagen etwas Tieferes zum Grunde, welches alles tingiren muß, und welches ich fühlen muß, ehe ich noch das Warum und Wie verstehe; dieses Warum ist in der Lenore von Bürger äußerst schwach, aber der Grundton ist schön drin, dieser fehlt im Fortunat gänzlich, und das Warum ist für mich nur scheinbar, es fehlt ihm der innerste Zusammenhang, du sprichst so bestimmt über dies Gedicht, und verachtest die Bewunderung, die dieses Gedicht nicht versteht und etwas andres bewundert.373
Der Bezug auf Bürger ist stimmig, und zwar vor allem dann, wenn man die Kritik an ihm als Zeichen dafür nimmt, wie der Umgang mit dem Unsichtbaren ‚um 1800‘ die literarische Kommunikation verwirrt (5.4.2). Anders gesagt: Tieck adaptiert auch hier idealistische Visibilisierungsstrategien und wird gleichsam zum Schiller Schlegels. Er setzt sich durch Berufung auf geheimnisvolle ‚Tiefen‘ eines Gedichts auf eine privilegierte Beobachterposition und erzeugt damit offenbar inkommunikable Differenzen, die sich allenfalls noch konstatieren lassen. An dieser Stelle ist vor allem der Zusammenhang von Poetisierung und Philologisierung entscheidend. In dem zitierten Passus aus den Shakespeare-Briefen, demzufolge nur ein dichtender Zugang ein angemessener Zugang zum Dichter ist, fährt Tieck mit der Erläuterung fort: Das poetische Verhältnis zu Poeten bedeute, „sie im Ganzen zu verstehen, und dieß Verständniß in seiner Ganzheit zu eröffnen“ (KS I, 139).374 In einem Brief an Friedrich Fromann über die Einstellung des Poetischen Journals entfaltet Tieck, wie das ‚ganze‘ Verstehen sich im Scheitern selbst beglaubigt und auf die Poetisierung der Kritik zuläuft. Der Grund für die Beendigung des Zeitschriftenprojekts seien die „Briefe über Shakspear“: _____________ 371 Ludwig Tieck und die Brüder Schlegel: Briefe, S. 71 (Brief von Anfang Juni 1801). 372 Vgl. dazu auch die Auseinandersetzung um die Edition der Minnelieder (Brief vom 30. Mai 1803; Ludwig Tieck und die Brüder Schlegel: Briefe, S. 132ff.) und um die ShakespeareÜbersetzung (Brief vom 26. März 1825; ebda., S. 181ff.). 373 Brief vom Juni 1801; Ludwig Tieck und die Brüder Schlegel: Briefe, S. 74). 374 Diesen Anschluß läßt Bong aus (Texttaumel, S. 179).
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[...] könnte ich sie so ausführen, wie ich sie angefangen habe, so würden sie ein sehr gutes u. originales Buch werden, nur würden sie ein Buch von wenigstens 4 Bänden: auch ist es die beste Prosa, die ich vielleicht noch geschrieben habe, aber die Anlage und der Ton darinn führt so nothwendig auf einen Roman, daß, wenn sich dieser nicht aus ihnen entwickelt, das Ganze unharmonisch und unzusammenhängend ist, dies aber auszuführen ist ein Kunstwerk, welches sich nicht so fragmentarisch ausführen läßt.
Hier bezeichnet Tieck die systematische Stelle, an der sich die Poetisierung und die Philologisierung der Kritik als Kehrseiten einer Medaille erweisen. Denn drei Sätze nach diesem Abschied vom Projekt einer poetischen Kritik Shakespeares tritt der Entschluß, von der Poesie zur Wissenschaft zu wechseln: „Ich bin [...] dabei, mein Studium über den Shk. auf eine andere Art zu beachten, in einer mehr wissenschaftl. Form“375 – daß auch dieses Projekt nicht zu einem Ende kommen wird, verweist auf die romantische Prozessualisierung von Poesie und Wissen, die die Kritiker und Philologen in die ‚Verzweiflung’ treibt.376 Das ‚ganze‘ Verstehen, das Programm einer gleichmäßigen Aufmerksamkeit auf jede Kleinigkeit wie auf das Ganze, ergibt sich in der kritischen Kommunikation des 18. Jahrhunderts, einem unauflöslichen Zusammenhang von Kritik und Krise (z. B. 3.1.2 u. 3.2.2). Der Kritiker muß, wie Tieck das für den Übersetzer fordert, „in jeder Stelle den ganzen Dichter ahnden“ (KS I, 147). Wiederum stellt sich die Frage, woran man die Ganzheitskompetenz des Rezipienten, sei es des Lesers, des Übersetzers oder des Kritikers, erkennt. Zwei Kriterien bietet Tieck dafür an: zum einen den Zeitverbrauch, zum anderen die Visibilisierung des zuvor Invisiblen. In einem Brief Wackenroders an Erduin Julius Koch vom 20. Februar 1794 über Tiecks Shakespeare-Studien, dessen Argumente die Briefe über Shakspeare später wiederholen werden, gehören daher die lebenslange Beschäftigung mit einem literarischen Gegenstand, die hermeneutische Innovation und die Fokussierung des „Ganzen“ zusammen, auch wenn sich das bisweilen als bloße Behauptung herausstellt.377 _____________ 375 Zit. nach Dichter über ihre Dichtungen. Bd. 9/2, S. 124. 376 Vgl. Goethes Brief an Knebel vom 29. Dezember 1819 über Tiecks Shakespeare-Projekt: „Aus dem hier Mitgetheilten sieht man denn freylich daß es ein Meer auszutrinken ist, und daß man Shakespearen von seinem Jahrhundert niemals wird literarisch absondern können. Auch Tieck verzweifelt, hierüber jemals etwas Entscheidendes zur Sprache zu bringen, obgleich das Studium an und für sich schon höchst interessant ist, wie aus diesem Wenigen schon ersichtlich“ (WA IV, 32, 131). Vgl. auch KS I, VIIIf. u. Tieck and Solger, S. 380f. 377 „Er [Tieck, S. M.] studiert ihn [Shakespeare, S. M.] immer ununterbrochen fort; und entdeckt, (mag es doch prahlhaft klingen, – ich halte es für Wahrheit,) gar manche neue Züge, neue Schönheiten, die die erstaunliche Zahl der Kommentatoren, weil sie meist nur auf Worterklärungen usw. ihren Fleiß wendeten, ohne das Ganze des Kunstwerks, vollständig ästhetisch zu analysieren, ganz mit Stillschweigen übergehen“ (zit. nach Dichter über ihre
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Gerade indem das „Ganze“ anvisiert wird, öffnet sich der kritische Prozeß: Jede Meinung, die sich als Effekt ‚ganzen‘ Verstehens ausweisen will, profiliert sich in einem Kontext, dem gegenüber sie ihren Innovationsgrad erweist und mit dem gemeinsam sie einen dauerhaften Diskussionszusammenhang etabliert – sie selbst ist darin allerdings auch nur eine stets überholbare Position im Spiel zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit.378 Die Prozessualisierung des Wissens durch Innovationsfixierung hat aber nicht nur eine gleichsam sekundärliterarische Seite, sondern auch eine primärliterarische. Denn das ‚ganze‘ Verstehen bedeutet die zeitintensive Lektüre des eigentlichen Objektbereichs und zieht in diesen die Kontexte hinein. Der Versuch, mit einem Dichter „Bekanntschaft“ zu schließen, bedeutet, auch mit den „gleichzeitigen und früheren“ Dichtern bekannt zu werden, und dies unabhängig von deren literarischer Qualität.379 Der Aufmerksamkeitsradius des ‚ganzen‘ Verstehens erweitert sich im Verhältnis zum selektierenden kritischen Verstehen, weil es neben dem Eigenwert des Kunstwerks auch dessen Kommentarwert und dessen Quellenwert als ‚interessant’ akzeptiert.380 Zu dieser werkästhetischen Trias von Eigenwert, Kommentarwert und Quellenwert kommt dann noch das produktionsästhetische Interesse am Individualwert hinzu, also die sich aus dem historischen Interesse ergebende Anteilnahme an der Besonderheit und Einzigartigkeit eines Autors aufgrund seiner Besonderheit und Einzigartigkeit im Rahmen der Intimisierung der literarischen Kommunikation – dem Freund des Autors kommt es „armseelig vor, zu korrigiren, wenn man immer von der Schönheit des Ganzen ergriffen ist“.381 Das ‚ganze‘ Verstehen korrespondiert mithin einerseits der Konstruktion des ‚Werks‘ eines Dichters sowie andererseits dem Zusammenhang der Literaturgeschichte. Alle Werke eines Dichters „im Zusammenhange“ zu verstehen (KS I, 159), und das heißt für Tieck vornehmlich: die Werke Shakespeares, ist also nur die andere Seite einer umfassenden literaturgeschichtlichen Rekonstruktion, wie sie Tiecks Editionsprojekte anstre_____________ 378 379 380
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Dichtungen. Bd. 9/2, S. 120). Zur Ignorierung des Forschungsstands von seiten der Romantiker vgl. Hiltscher: Shakespeares Text in Deutschland, S. 61, 72. Zur Akzentuierung dieses Lesemodells vgl. Brecht: Die gefährliche Rede, S. 206. So Wackenroder an Koch (zit. nach Dichter über ihre Dichtungen. Bd. 9/2, S. 121). Vgl. auch hierzu Wackenroder, der die Lektüre mittelmäßiger englischer Dramatiker für wichtig hält, weil man über sie Stellen bei Shakespeare entschlüsseln kann oder über die zeitgenössischen Theaterverhältnisse etwas erfährt (zit. nach Dichter über ihre Dichtungen. Bd. 9/2, S. 122). Vgl. hier auch zum Unbehagen Tiecks anläßlich seiner Auswahleditionen von Novalis’ Werken den Brief an Reimer (Ende 1845): „[...] am Ende ist doch von Novalis alles merkwürdig“ (Tieck: Letters, S. 500). So Tieck in einem Brief an Friedrich Schlegel von Ende November 1801 anläßlich der Novalis-Edition (Ludwig Tieck und die Brüder Schlegel, S. 103).
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ben.382 Deswegen ist es auch konsequent, daß Tieck sein Altenglisches Theater als „Supplemente“ versteht (KS I, 226), also als jenen Ort, an den Wielands Sämmtliche Werke, die für das Paradigma der Werkganzheit stehen383, das defiziente Jugendwerk verbannt haben, weil es zwar künstlerisch unzulänglich, aber für das Verständnis der „Geschichte“ von Wielands „Geist“ von fundamentaler Bedeutung sei (3.3 c).384 Dem „Kenner“, so führt Tieck in der Vorrede zum Altenglischen Theater von 1823 entsprechend aus, können defiziente Werke auch „darum wichtig erscheinen, weil sie gerade von irgend einem bestimmten großen Künstler herrühren, welcher wol, selbst in nicht ganz gelungenen Versuchen, die nähere Erklärung seiner spätern Meisterwerke unbewußt niederlegt“. In diesem Falle aber werden ihm selbst Schwächen und Fehler wichtig und belehrend, denn kein Künstler tritt als ein vollendeter auf, kein Zeitalter hat plötzlich ohne Vorbereitung klassische Werke hervorgebracht. Den innerlichen geschichtlichen Zusammenhang, der allein alle Widersprüche erklärt, zu fassen, sich alle Werke eines großen Geistes als Ein Werk, und alle Geister, scheinen sie noch so widerstrebend, als den nothwendigen Zusammenhang Eines Gemüthes klar vorzustellen, ist die Aufgabe aller Kunstgeschichte. Kein Dichter wird in diesen Hinsichten so interessant und lehrreich, als Shakespeare, wenn man die Werke seiner Jugend mit denen seines Alters vergleicht [...]. (KS I, 232f.)
Auch hierbei zeigt sich Köpke als Schüler Tiecks und biegt dessen Perspektive auf Shakespeare auf den Shakespeare-Forscher zurück. Gerade das Unvollkommene, die „Entwürfe und Bruchstücke“, für die Tieck sich beispielsweise im Falle Lenz‘ in besonderem Maß ‚interessiert‘ hat385, gewähren den Zugang zur „Werkstatt des Künstlers“ und einen „Blick in das innerste Getriebe seiner Arbeit [...]; in seiner Werkstätte weht sein Geist, und aus dem Stückwerke ahnen wir das Ganze, das klar und glänzend vor seinem Auge stand“ (NS I, XXIII) – in ähnlicher Weise wird wenige Jahre später Michael Bernays die philologisch-kritische Edition der Werke des „jungen Goethe“ begründen (5.4.2 a).386 Das ‚Ahnen‘ des ‚Geistes‘, ein auf den ersten Blick recht romantisches Unternehmen, erscheint hier als Kehrseite der Kärrnerarbeit des Philologen.387 _____________ 382 Preisler: Gesellige Kritik, S. 30. 383 Daß Tieck die Supplementband-Strategie Wielands beobachtet hat, zeigt z. B. KS I, 123. 384 Zu Tiecks Werkbewußtsein, vgl. seine Selbstkanonisierung als Romantiker (Paulin: Ludwig Tieck, S. 266f.). 385 Vgl. Tiecks Brief an Dumpf vom 28. März 1821 (Jakob Michael Reinhold Lenz im Urteil dreier Jahrhunderte. Teil II, S. 50). 386 Bernays: Über Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes, S. 27. 387 Vgl. zu einem Modell, daß die Differenz von Dilettanten und Profis unterläuft und Tieck und Lachmann zusammenführt Wyss: Der doppelte Ursprung der Literaturwissenschaft nach 1800, S. 76ff.
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Um ein vorläufiges Resümee zu ziehen: Elementare Fragen und Problematisierungen der Aufmerksamkeitsverteilung bzw. typische Verfahren der Visibilisierung und Invisibilisierung, die sich aus den kritischen Schriften Ludwig Tiecks ergeben, verbindet die romantische Kritik mit intrinsischen Schwierigkeiten der (literatur-)kritischen Kommunikation im 18. Jahrhundert. In der frühromantischen Reflexionspoesie als Kritik der Kritik wird der Zustand der kritischen Kommunikation den Akteuren einsichtig; sie gestehen sich den Leerlauf, die Paradoxien und die Standpunktlosigkeit bzw. Multiperspektivität der kritischen Kommunikation ein. Diese Situation macht den Wechsel von der selektierenden kritischen Kommunikation zu Formen der selektionslosen philologischen Kommunikation attraktiv, weil zwischen dem Bedeutenden und dem Unbedeutenden nur willkürlich unterschieden werden kann. Diese Form der (proto-)philologischen Kommunikation enthält zentrale Elemente der philologischen Leseethik, die im 19. Jahrhundert die Institutionalisierung des Fachs Germanistik bzw. Literaturwissenschaft begleitet. Tieck ist sich schon früh über die Willkürlichkeit der Lob- und Tadelverteilung im klaren, er akzeptiert die Negativität der kritischen Kommunikation und nimmt Stellung für die Produktivität der Uneinigkeit. Die daraus resultierende unabsehbare Vielfalt von Beobachtungsmöglichkeiten macht die kritische Überbietung des Vorhandenen zum Normalfall. Diese Überbietungshaltung der Kritik der Kritik konzeptionalisiert Tieck – wie andere Kritiktheoretiker vor ihm – als Tiefsinn und als unterschiedliche Kompetenz für das zunächst Unsichtbare. Da Irrtümer sich nicht ausschließen lassen, geht auch er von der kritischen zur philologischen Kommunikation über. Das Interesse am möglicherweise Fehlerhaften legitimiert sich, weil ein Fehler vielleicht gar keiner ist oder weil auch das Fehlerhafte für das Verständnis des Perfekten seine Bedeutung behält. In den nachgelassenen Fragmenten zum Shakespeare-Buch entwirft Tieck ein entsprechendes Programm umfassender Aufmerksamkeit, die sich gleichermaßen von „Theorie“ und „Erfahrung“, vom Systemgeist wie vom Detailsinn affizieren läßt: Je mehr der Mensch verbindet, je mehr er Alles zu brauchen weiß, um so mehr ist er vollendet, um so mehr Energie hat sein Geist. Für einen solchen gibt es endlich nichts, was ganz uninteressant wäre, weil er bei jedem Begriff und bei jeder Vorstellung zusehen wird, wie dadurch eine vorhergehende erläutert und commentirt wird. (NS II, 137; Hervorhebung S. M.)
Diese Intention auf eine selektionslose Aufmerksamkeit läßt sich wohl am deutlichsten an der Fragmentarität oder Vorläufigkeit der Beiträge zur Literaturgeschichte ablesen, die Tieck eingestandenermaßen in bloß will-
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kürlich abgeschlossener Form veröffentlicht.388 Die Unabschließbarkeit der Deutung liegt in der Logik romantischen Textumgangs, zum einen, weil über einen Text nie alles gesagt sein kann389, zum anderen, weil das einzelne Element immer in ein Netz von Bezügen gestellt werden soll.390 Bei allem dekonstruktiven Potential, das man insbesondere der Frühromantik mit Recht konzediert391, ist dabei auffällig, daß die Abwehr der aufklärerischen Gedankenfiguren von Kontinuität, Kausalität, Ableitbarkeit und Zusammenhang im Rahmen eben dieser Gedankenfiguren stattfindet.392 Die retrospektive Verteidigung dieser Neigung zur ‚Willkür’ kann dann, die Linie weiterführend und verstärkend, den kontextbedingten historischen Zwang ins Feld führen, daß das als Exzeß der Phantasie angelegte Frühwerk „in jener [...] Stimmung und Ansicht der Poesie“ geradezu entstehen mußte (S VI, XXIV). Die „Buchhändlerbestellungen“, die Tieck – wie zitiert – bisweilen nicht zu seinem Werk gerechnet wissen will, erhalten so einen Ort im Werk. In der Vorrede zum elften Band der Schriften erläutert Tieck: „Ich verdarb nun mit dem Lesen dieser Erzählungen [den Vorlagen der „Straußfedern“, S. M.] manche Stunde, und folgte, wie so oft im Leben, dem Reitz, das Unbedeutende, Verkehrte und Nichtige mit Aufmerksamkeit zu betrachten“ (S XI, XXXIIf.) – diese romantische „Aufmerksamkeit“ setzt die aufklärerische „Aufmerksamkeit“ fort, die sie zugleich ironisiert, kritisiert, anderweitig überbietet und unterläuft. Selektionslos ist die von Tieck anvisierte Aufmerksamkeit freilich nur dem Prinzip nach, faktisch selektiert er in einem Maß, das ihn wissenschaftsgeschichtlich den sogenannten ‚Dilettanten‘ zuordnet.393 Dafür gibt _____________ 388 Vgl. dazu Hölter: Ludwig Tieck, S. 177f., 187, 194, 233, 246 – hier auch zur „Objektivität, die das Studium eines ganzen Umfeldes erfordert“ (S. 210). Zum Scheitern von altdeutschen Studien Brinker-Gabler: Poetisch-wissenschaftliche Mittelalter-Rezeption, S. 99f. 389 So Schlegel über Lessings ‚Unerschöpflichkeit‘ (Über Lessing, S. 100f.). 390 So F. Schlegels Votum für die Beachtung „vieler mitwirkender Einflüsse und zusammentreffende[r] Umstände“ (Über Lessing, S. 101) oder A.W. Schlegels Votum für die Beachtung des Werks als „Wirkung“ und als „wirkend in mannichfaltigen Beziehungen“ (Beyträge zur Kritik der neuesten Litteratur, S. 149). 391 Vgl. z. B. für Schlegel Menninghaus: Unendliche Verdopplung; oder Schumacher: Die Ironie der Unverständlichkeit, S. 159ff.; sowie für Tieck Menninghaus: Lob des Unsinns; und Bong: Texttaumel – es geht hier freilich oftmals um sehr feinsinnige Parzellierungen des Werks in mehr oder weniger dekonstruktive Teile, die in meiner Argumentation nicht zur Geltung kommen und von dieser nicht berührt werden. 392 Vgl. hierzu auch die Polemik gegen die aufklärerische Deutung Lessings bei F. Schlegel, die als ihr eigenes, neues Terrain das ‚ganze‘ Verstehen markiert, dann für ‚Freimütigkeit‘ und gegen ‚Höflichkeit‘ votiert und damit in der Tradition aufklärerischen Negativitätsverhaltens steht (Über Lessing, S. 108ff.). 393 Vgl. als durchlaufendes Motiv sowohl Tiecks Bestreben nach Werktreue als auch dessen Neigung zur Zurichtung von Werken bei Zybura: Ludwig Tieck als Übersetzer; als Fallstudie vgl. Päsler: „Nachrichten von altdeutschen Gedichten“, hier insbes. S. 74ff., 86ff.
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es unterschiedliche Gründe: Die Textbearbeitung der Minnelieder beispielsweise wird getragen von der vorprofessionellen Absicht der Popularisierung394; in die Novalis-Edition spielen persönliche Interessen und Profilierungsabsichten hinein, vor allem die verdeckte Auseinandersetzung mit Goethe sowie die Positionierung im Streit um mögliche Konversionspläne Hardenbergs;395 bei der Lenz-Ausgabe kommen Tieck pragmatische Probleme der Quellenbeschaffung in die Quere, auch wenn die Intention auf das ‚Ganze‘ gerichtet war;396 und bei seinen eigenen Werken spielt das Bestreben, einen gewissen Aktualitätsgehalt zu bewahren und künstlerisch zu bedenkliche Stellen auszumerzen (z. B. S I, VI, XIX), eine ebenso große Rolle bei der Selektion des Lebenswerks wie die Selbstbehauptung auf dem Literaturmarkt.397 Der selektionslosen Aufmerksamkeit hat Tieck sich vor allem bei Shakespeare genähert. In diesem Fall wird die philologische Haltung durch die kritische insofern gedeckt, als es sich für Tieck bei Shakespeare um eine fraglos geniale Dichterpersönlichkeit handelt.398 Die Aufmerksamkeitsselektion findet also im Vorfeld der Untersuchung statt. Tieck bemerkt zwar in dem bereits zitierten Brief an Solger vom 1. Febru_____________ 394 Vgl. neben Brinker-Gabler (Poetisch-wissenschaftliche Mittelalter-Rezeption, S. 101ff.) vor allem Meves: Zu Ludwig Tiecks poetologischem Konzept bei der Erneuerung mittelhochdeutscher Dichtung, insbes. S. 112ff.; vgl. auch zum Konzept des ‚großen Dichters‘, bei dem Tieck sowohl die historische Bedingtheit als auch die transhistorische Genialität herausstellt, Hölter: Ludwig Tieck, S. 211ff. 395 Zybura: Ludwig Tieck als Übersetzer und Herausgeber, S. 147ff.; Uerlings: Tiecks NovalisEdition; O’Brien: Herstellung eines Mythos. Vgl. zur Kritik am Prinzip der Auswahl auch die Kritik von Siegmund Engländer, der zu Tiecks Begründung der Kürzungen in Der Humorist unter dem Titel Tieck amputiert Heinrich von Kleist (1847) bemerkt: „Schmerzlich wie offene Narben starrten mich diese frevelhaft kalten Worte an[,] [...] Kleists Dichtungen würden vollständig mehr keinen Beifall finden“ (zit. nach Zybura: Ludwig Tieck als Übersetzer und Herausgeber, S. 180). 396 Markert: Wenn zwei sich streiten ...; vgl. zum Hintergrund der Auseinandersetzung mit Goethe: Genton: Ein Brief Ludwig Tiecks über die nachgelassenen Schriften von Lenz. Vgl. für Einblicke in die anlaufende Lenz-Forschung, die sich mit Tiecks Edition als Vorgabe auseinandersetzt, die Materialsammlung: Jakob Michael Reinhold Lenz im Urteil dreier Jahrhunderte, insbes. S. 164ff. (Jegor von Sivers: J.M.R. Lenz und eine Bitte um Materialien zu seiner Biographie [1866]). Vgl. auch J.M.R. Lenz und seine Schriften, S. 12ff. – DorerEgloff meint, die Lenz-Ausgabe von Tieck reiche, um „Lenzens Stellung und sein Eingreifen in seine Literaturperiode an das Licht zu stellen“, sei aber lückenhaft u. a. im Blick auf die „Kenntniß des Invididuums, seiner Stellung zu den Männern und Frauen seiner Zeit“ (ebda., S. 13). 397 Die Gedichte beispielsweise werden nicht in die große Werkausgabe der Schriften bei Reimer integriert, weil deren Rechte bei Hilscher liegen; bei den ‚kritischen Schriften‘ blockiert Reimer, weswegen Tieck sie an Brockhaus gibt (Paulin: Ludwig Tieck, S. 202f., 296f.). 398 Für ‚echte‘ Kunstwerke reklamiert Tieck zwar immer wieder Zeitlosigkeit, bemerkt aber auch, daß man sich dabei täuschen könne (Ribbat: Einleitung, S. XVIII). Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Bezüge von Tiecks Kritikprogramm zur Leitdifferenz von ‚Charakterisieren‘ und ‚Annihilieren‘ bei Preisler: Gesellige Kritik, S. 25f., 71 (zum Schwanken zwischen Historizität und überzeitlicher Normativität hier auch S. 191, 243).
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ar 1812: „Je älter ich werde, je mehr löst sich bei mir alles in historische Ansicht auf“, aber er fügt eben auch hinzu: „Der Gute bleibt darum doch gut, so wie das Schlechte schlecht“ (5.3.2).399 5.3.4 „Stimmung“ als literaturgeschichtliche Kategorie Bei aller Bezüglichkeit zwischen der kritischen Kommunikation der Aufklärung und der kritischen Kommunikation der Romantik, die aus den selbstevolutionären Mechanismen der Kritik unter literalen Bedingungen resultieren (5.3.1), dürfen die Unterschiede nicht verschwinden. Tieck selbst gibt dafür ein Muster vor. In der Vorrede zum sechsten Band seiner Schriften (1828) beschreibt er die „trunkene Stimmung“ (S VI, XIX), in der er sich gewissermaßen als Romantiker findet und sein Unbehagen an der Spätaufklärung endlich begreift: Hatte ich früher die Schilderung der Leidenschaft, Kenntniß des Herzens und aller menschlichen Verirrungen und Gebrechen in neugieriger Beobachtung vielleicht zu hoch angeschlagen, so begeisterte jetzt das Totale, die Anmuth und der Scherz, die tiefsinnige Weisheit der Erfindung und jener muthwillige Wahnsinn, der oft die selbst erfundenen Gesetze wieder vernichtet, meinen Sinn und meine Forschung [...]. Dasjenige, was meine Jugend bedrängte, die Widerwärtigen in der Zeit, die mich gestört hatten, die Bitterkeit und Verfolgung, die ich früher gern gegen Albernheit, Irrthum und Abgeschmacktheit in den Kampf geführt hätte, trat jetzt in der Gestalt parodirender aber nothwendiger Nebenpersonen in dem magischen Zaubergemälde der Poesie auf. Der heitre Scherz mußte sich dieser Gebilde mit milder Spaßhaftigkeit bemächtigen, und indem mir selbst ein Wohlwollen gegen Dinge, Lehren Bücher und Menschen, die meinem eigensten Wesen feindlich waren, möglich und nothwendig wurde, begriff ich erst, weshalb [...] die Absicht, durch scharfen Spott Laster des Tages zu geißeln, und dergleichen ähnliche Aussprüche und Anmaßungen mir unverständlich gewesen waren. (S VI, XXff.)400
Auch an anderen Stellen reklamiert Tieck für sich diese Haltung sanfter Scherzhaftigkeit, die „die ganze Zeit und Alles, was darin geschieht, für ein scherzhaftes Spiel“ ansieht und die „ganze Welt gleichsam mit einer neuen Sonne“ beleuchtet (NS II, 48). Er fordert das „poetische Auge, das durch Unbefangenheit geschärft“ ist (S VI, XXXV) und sich „dem Reitz“ hingibt, „das Unbedeutende, Verkehrte und Nichtige mit Aufmerksamkeit zu betrachten“ (S XI, XXXII). Nun war sein aufklärerisches Publikum nicht in derselben „trunkenen Stimmung“ und hat die Unpersönlichkeit und diffuse Gleichmäßigkeit von Tiecks satirischer „Laune“ auf Personen _____________ 399 Zit. nach Hölter: Ludwig Tieck, S. 273. 400 Zu Tiecks Konstruktion einer Epochenwende ‚um 1800‘ vgl. auch Meves: Zu Ludwig Tiecks poetologischem Konzept, S. 109ff.
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zurückgerechnet. Aus diesem Grund fügt Tieck in die Vorrede auch einen Stellenkommentar ein, um die intendierten Anspielungen im Zerbino aufzudecken (S VI, XXXIXff.). Er wird wiederum zum Philologen seiner selbst. Entscheidend dürfte aber doch der Hinweis sein, daß die romantische ‚Stimmung‘ Aufmerksamkeit auf eine spezifische Art verteilt, die sich durch „Wohlwollen“ und „Unbefangenheit“ auszeichnet. Tatsächlich gehört zur romantischen Ironie eine weit gespannte Aufmerksamkeit401, die sich auch mit qualitativ minderwertigen Gegenständen beschäftigen kann. Sie „schwebt“ gleichmäßig über allen Gegebenheiten.402 Tieck bringt dabei in Nachfolge Solgers die doppelte Dimension der ironischen Aufmerksamkeitsverteilung ein: Der „Äthergeist“ der Ironie durchdringt das „Werk bis in seine Tiefen hinab mit Liebe“ und „schwebt“ doch „befriedigt und unbefangen über dem Ganzen“. Detailund Beziehungssinn finden in einer Form der sowohl produktiven als auch rezeptiven ironischen Haltung zusammen, die „erschaffen und fassen kann“ (S VI, XXVIII). Friedrich Schlegel bezeichnet diese über den Dingen schwebende Haltung u. a. als „liberal“. Im 441. Athenäum-Fragment heißt es dazu: Liberal ist wer von allen Seiten und nach allen Richtungen wie von selbst frei ist und in seiner ganzen Menschheit wirkt; wer alles, was handelt, ist und wird, nach dem Maß seiner Kraft heilig hält, und an allem Leben Anteil nimmt, ohne sich durch beschränkte Ansichten zum Haß oder zur Geringschätzung desselben verführen zu lassen.403
Die Adresse von Schlegels Liberalitätskonzept geht aus einem Fragment der sogenannten Literarischen Notizbücher hervor: „Liebhaberei macht einseitig, Kennerei eigensinnig streng, Gelehrsamkeit kalt. Dagegen die Philos[ophie]. Sie soll nicht etwa ein wenig liberal machen in der Kunst, sondern absolute Liberalität bewirken“.404 Neben oder über den drei Zugangswegen zur Kunst, die das 18. Jahrhundert etabliert hat, dem bloß rezeptiven „Liebhaber“, dem begründungskompetenten „Kenner“ und dem kunstfernen „Gelehrten“, will Schlegel den „Philosophen“ ansiedeln. Dessen „absolute Liberalität“ scheint sich erstens dadurch auszuzeichnen, daß sie nicht „einseitig“, sondern multiperspektivisch vorgeht;405 zweitens muß „absolute Liberalität“ von sich selbst absehen können, also nicht _____________ 401 Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik, S. 373. 402 Zur „Reflexion als Leben, Schweben und Weben“ in der Frühromantik vgl. Menninghaus: Unendliche Verdopplung, S. 132ff.; zur ‚schwebenden‘ frühromantischen Ironie Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik, S. 344f. 403 F. Schlegel: Charakteristiken und Kritiken I, S. 253. 404 F. Schlegel: Literarische Notizen 1797-1801, S. 41. 405 Im zuvor zitierten Athenäum-Fragment wurde demjenigen Liberalität konzediert, der „von allen Seiten [...] frei ist“.
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„eigensinnig“ sein; drittens zeichnet sie bei aller Relativität und Distanziertheit doch ein gewisser Enthusiasmus für ihren Gegenstand aus – sich „liberal“ zu verhalten, bedeutet nicht, apathisch zu sein, denn „Moderantismus“, so verkündet Schlegel im 64. Athenäum-Fragment, „ist Geist der kastrierten Illiberalität“.406 Auch in diesem Fall scheint es durchaus ein Akt ungewollter historischer Gerechtigkeit zu sein, wenn Schlegel in Über das Studium der griechischen Poesie gerade Wieland mit dem Attribut „liberal“ bedenkt:407 Wielands Kritikprogramm und sein korrespondierendes Werkkonzept, das eine umfassende Beachtlichkeit des Lebenswerks installiert, läuft eben auf eine ‚liberale‘ Haltung hinaus, die ein Werk umkreist, bis sie den ‚Stand-‘ oder ‚Gesichtspunkt‘ gefunden hat, der diesem Werk gemäß ist. ‚Liberale‘ Kritik geht im Sinne des 18. Jahrhunderts ‚freundschaftlich‘ mit einem Werk um, interessiert sich also für ‚Kleinigkeiten‘, und kann dennoch von persönlichen Belangen absehen, um einem Werk diese genaue Aufmerksamkeit zu widmen. Bei aller Liberalität muß freilich zur Selbstlegitimation gesichert sein, daß Aufmerksamkeit nicht verschwendet wird. Der Objektbereich muß der Aufmerksamkeit wert sein, er muß eine Kompliziertheit haben, die der Aufmerksamkeitsinvestition angemessen ist. Eben hier, in der unterschiedlichen Komplizierung des Objektbereichs, trennen sich Romantiker und Aufklärer. Tieck hält dafür die Kategorie der „Stimmung“ bereit.408 _____________ 406 F. Schlegel: Charakteristiken und Kritiken I, S. 174; vgl. zu verwandten Differenzierungen bei Tieck in dessen Brief an Raumer vom 2. Mai 1825: „Enthusiasmus kann daher der Historiker, wie der Dichter, nicht genug haben, aber keine Leidenschaft, was auch immer verwechselt wird“ (Zeydel / Matenko: Unpublished Letters of Ludwig Tieck to Friedrich von Raumer, S. 23). Zur hermeneutischen Funktion des Enthusiasmus vgl. Hölter: Ludwig Tieck, S. 263f. 407 F. Schlegel: Studien des klassischen Altertums, S. 365. 408 Zum „Moment der Stimmung in Tiecks Lyrik“ vgl. Kluge: Idealisieren – Poetisieren, insbes. S. 426ff.; Kremer: Romantik, S. 288ff. Zur Wort- und Bedeutungsgeschichte von „Stimmung“ vgl. Spitzer: Classical and Christian Ideas of World Harmony: Spitzer bestimmt die Bedeutung von „Stimmung” über die beiden Elemente einer harmonischen Verbindung von Mensch und Umwelt auf der einen Seite (S. 5f.), der Vorstellungen von Musikalität auf der anderen Seite (S. 6f.). Aus diesem beiden Elementen ergibt sich der Bezug zu pythagoreischen Vorstellungen der Weltharmonie (S. 7f.) und daran verwandten antiken Vorstellungen einer durchmusikalisierten Welteinheit und allumfassender Sympathie (S. 9ff.), zu entsprechenden Vorstellungen sozialer Allianzen wie beispielsweise der Freundschaft als Seelenharmonie (S. 15f.) oder der Harmonie von Körper und Geist (S. 16f.). Daran schließt die christlichen Literatur an, allen voran die Bibel (S. 19ff.). Bis in die Barockzeit verfolgt Spitzer die Linien. Im ganzen scheint es so zu sein, daß es dem Modell der „Stimmung“ als Zentrum von Weltharmonie traditionell eher auf die Evidenz des Harmonischen, auf dessen Sinnfälligkeit ankommt, weniger auf die Komplizierung der Zusammenhänge. Es gehört in der von Spitzer verfolgten Variante, um es schlagwortartig mit Foucault zu sagen, zu einer Ordnung der Ähnlichkeit (vgl. hierzu z. B. Spitzers Ausführungen zum Zusammenklang der Elemente und der menschlichen Temperamente eb-
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‚Stimmung‘ ist nicht nur eine werkästhetische Kategorie, sondern fungiert zudem als historiographisches Instrument: In den Vorreden zu den Schriften vermittelt Tieck beispielsweise produktionsästhetisch die „Stimmung“, in der bestimmte Werke entstehen (z. B. S I, XVI, XXXI); er erläutert rezeptionsästhetisch die „Stimmung“, die die Aufnahme von Werken beim Publikum bestimmt (S I, XXIII); oder er entschlüsselt werkästhetisch die Teilnehmer an der Gesprächsrunde der Rahmenhandlung des Phantasus als „Stimmungen des Autors“ (S I, XLII). Psychische Zustände korrespondieren in der Stimmungsästhetik Kommunikationssituationen insofern, als stimmungsvolle Werke, die in ihrer Diffusität der Bezüglichkeit aus stimmungsvollen Zuständen des Autors hervorgehen, an ein nur vage, gewissermaßen stimmungsmäßig bestimmbares Publikum adressiert werden. Diesem Publikum wird umgekehrt eine Aufmerksamkeit für die Stimmungen eines Werks sowie die Stimmungen, aus denen ein Werk hervorgeht, abverlangt. Man könnte also vermuten, daß eine auf (historische) Stimmungslagen abonnierte Historiographie ihre Aufmerksamkeit auf der einen Seite weit ausspannt und daß sie zugleich Verfahren entwickeln muß, um den auf diese Weise erweiterten Raum vervielfältigter Beobachtungsobjekte als einheitlichen Raum zu konstruieren. In Kritik und deutsches Bücherwesen, der Vorrede zur Insel FelsenburgEdition (1828), entwirft Tieck ein entsprechendes Programm. „Großes“ geht demzufolge „in der Geschichte“ nie „aus einer einzigen Ursach“ hervor, im Gegenteil: Es hängt „an tausend sichtbaren und unsichtbaren Fäden“ (KS II, 137). Angesichts der Vielfalt, Unübersehbarkeit und Unsichtbarkeit der Bezüge kann es Tieck nicht mehr verwundern, daß die Meinungen über Werke kontingent sind. Er reagiert darauf weniger mit Entsetzen, Tadel oder Kritik als vielmehr mit Interesse: Lehrreich aber möchte es sein, jenen Wechsel von Stimmungen und sich verändernden geistigen Bedürfnissen von einem höhern Standpunkte aus zu betrachten; geschichtlich diesen Wandel und seine innere Nothwendigkeit zu erforschen, um zu erfahren, was der Geist gemeint oder gesucht habe, um auf diesem Wege die ächte Geschichte des Menschen und der Staaten, so gut wie die der Poesie zu vergegenwärtigen: statt daß wir seit langer Zeit Alles haben liegen lassen, was uns nicht unmittelbar interessirt oder beim ersten Anblick verständlich ist, und so selbst wieder in der Geschichtsansicht einem kleinlichen Zeitgeist, einer vorübergehenden Stimmung, einem wechselnden Bedürfniß, ja einer nichtigen Mode dienstbar sind, ohne diese traurige Knechtschaft in unserem Hochmuth auch nur im mindesten zu ahnen. (KS II, 144)
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da., S 65ff.). Entsprechend setzt Spitzer dann auch ein Zäsur im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert, wo die ‚Entzauberung’ der Welt auch die „Stimmung“ betrifft (S. 75ff.). Vgl. ergänzend für das emotionstheoretische und -geschichtliche Konzept der Stimmung: Meyer-Sickendiek: Affektpoetik, S. 19ff. Für die Stimmung als Kategorie insbesondere der philosophischen Ästhetik vgl. Wellbery: Stimmung.
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Das Interesse für Zeit-„Stimmungen“ bewahrt den Beobachter davor, selbst zur „Stimmung“ zu werden, und bringt ihn dazu, Zeit und Arbeit zu investieren. Von hier aus gesehen ist es bemerkenswert, daß Tieck seine erste Veröffentlichung, bei der er sich als Autor namentlich nennt, mit einem Signet versieht, das im folgenden zum Epochen- oder zumindest Gruppensignet werden wird: Romantische Dichtungen.409 Tatsächlich stellt die Publikation die Leser vor nicht geringe Probleme, wenn das einheitsbildende Prinzip dieser Sammlung benannt werden soll, wobei eben das Angebot Tiecks, neben Autorschaft noch ein übergreifendes Ordnungsprinzip zu verwenden, mehr Möglichkeiten offeriert als beispielsweise allein die namentliche Zuschreibung oder eine generische Fixierung. Insofern das im zweiten Band der Romantischen Dichtungen angekündigte Poetische Journal als eine Art Fortsetzung dieser Sammlung mit Manifestcharakter verstanden werden kann, zeigt sich, wie Autor- und Epochenorientierung, Zentrierung und Dezentrierung zwei Seiten der kritischen Kommunikation sind, die ein philologisches Potential in der Idee der ebenso genauen wie umfassenden Lektüre, der ebenso detailreichen wie selektionsarmen Aufmerksamkeit entbindet. Die beispielsweise in den Briefen über Shakspeare vorgestellte Stimmungs- und Ganzheitsästhetik (z. B. KS I, 137f.) ist der Hintergrund sowohl für das Votum zugunsten radikaler Negativität und unaufhebbaren Unverständnisses (5.3.2.) wie für den steten Versuch, doch noch Verständigung herbeizuführen, zumindest gegenüber Freunden; sie bietet den Hintergrund sowohl für die aufs höchste gesteigerte Autorfaszination durch Shakespeare wie für das Epocheninteresse am „Zeitalter“ bzw. für die „Periode der altenglischen Poesie“ (KS I, 148f.). Wichtig ist hier freilich auch, daß Tieck an dieser Stelle gegen die kausalgenetische Ableitung des Autors aus seiner Zeit das Modell einer transhistorischen Poesie des Genies stellt. Verständlich wird das im Kontext des Streits um die Visibilisierung neuer Formen von Einheitlichkeit. Aus diesem Grund enden die Briefe über Shakspeare auch in einem Brief über das romantische Drama und dessen Ganzheit, die sich nicht durch „Motiviren, Anlegen, Entwickeln, nothwendigen Zusammenhang“ einstelle (KS I, 184). Eine zentrale Rolle nimmt die „Stimmung“ in Shakespeare‘s Behandlung des Wunderbaren ein, denn die vornehmste Aufgabe des „Wunderbaren“ besteht darin, daß es den Zuschauer „in eine Stimmung versetzt, die das auf wenige Stunden bewirkt, was Don Quixote‘s Wahnsinn auf mehrere Jahre und in einem höheren Grade ist“ (KS I, 49). Der Traum bietet dafür _____________ 409 Vgl. dazu Hölter: Das produktive Manifest der Jahrhundertwende? zum folgenden insbes. S. 114f., 121f.; s. hierzu auch ders.: Der junge Tieck.
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den Vergleichsgegenstand (KS I, 43f., 57).410 Diese Illustration von ‚Stimmung‘ mithilfe des ‚Traums‘ fügt sich in den hier behandelten Zusammenhang, weil dem Träumenden Dinge plausibel und zusammenhängend erscheinen, die ‚normalerweise‘ als irreal und damit als irrelevant verbucht werden.411 Die Unbefragtheit dessen, was geschieht, die Relevanz, die alle Gegebenheiten aus ihrem bloßen So-Sein gewinnen, verbindet die traumartige Zerstreuung der Aufmerksamkeit durch das Wunderbare mit der von Tieck angestrebten selektionsarmen Aufmerksamkeit philologischer Kommunikation. Die Verbindung der ‚Stimmungslyrik‘ mit dem philologischen Programm erweiterter Wahrnehmbarkeit und erhöhter Aufmerksamkeit ergibt sich insbesondere aus der Kategorie der ‚Feinheit‘, die Klopstocks poetologische Schriften exponieren, und zwar als Markierung einer an die Grenzen der Wahrnehmbarkeit reichenden Qualität (die für die meisten Hörer daher eben über dieser Grenze liegt) (4.1.2). Das „feine Gefühl“ für die „Applicatur“ der Sprache, „ihres Takts, ihres musikalischen Geistes“412 wird von den Romantikern weiter verfeinert. Tieck steht in dieser Tradition, wenn er im Vorwort zu seiner Minnelieder-Ausgabe von einem „feinere[n] Sinn“ spricht, der in der vorgestellten Lyrik „die zartesten Laute der Sehnsucht“ vernehmen könne, wohingegen einem „ungeübten Ohre [...] das schönste dieser Art nur als kindische Spielerei erscheinen“ dürfte (KS I, 201). Tieck lag mit dieser Vermutung richtig, wie die Rezensionen zur Minnelieder-Edition belegen, etwa der „Künstelei“-Vorwurf im Freimüthigen oder die Kritik an der Einförmigkeit in der NADB.413 Ähnlich nutzt Tieck die Kategorie der „Stimmung“ in seiner Musenalmanach-Besprechung, als er sich gegen Deskriptionsliteratur wendet und _____________ 410 Ribbat: Ludwig Tieck, S. 77f.; Bong: Texttaumel, S. 126ff. 411 Die zeitgenössische Anthropologie zählt zu den wesentlichen Merkmalen des Traums zum einen die Aufhebung des Satzes vom zureichenden Grunde, zum zweiten die Lebendigkeit und Eindrücklichkeit der von den Sinnen befreiten Einbildungskraft, die den ruhiggestellten, von den Fiktionen gleichsam gefesselten Träumenden erst im Nachhinein die Befragung des Geträumten erlauben, sowie zum dritten die neuordnende Wiederholung von bereits Erlebtem (mitunter mit divinatorischen Potenzen). Dabei entspricht der Zweifel an der Möglichkeit einer allgemeingültigen Theorie des Traumdeutens dem Sich-Einlassen auf andernorts von vornherein als unnatürlich desavouierten Vorkommnissen. Man akzeptiert den Traum so, wie er ist, und fragt dann nach Erklärungsmodellen, die sich aus den individuellen Dispositionen des Träumenden ergeben. Traum und Poesie verhalten sich also affin zueinander: Die poetischen Nachtwandler bringen während des Schlafs akzeptable Dichtungen hervor, und die Zweckfreiheit des „Genies“ gleicht der des Träumenden. Vgl. dazu die Beiträge in: *1:4, 6$8721, Bd. 5, 2. St., S. 88-102, 3. St., S. 48-52; Bd. 6, 3. St., S. 76-89; Bd. 7, 1. St., S. 74-127, 2. St., S. 58-92; Bd. 8, 3. St., S. 17-31; Bd. 9, 2. St., S. 10-25, 3. St., S. 108-114; Bd. 10, 1. St., S. 98-127; speziell zu Poesie und Traum: ebd., Bd. 5, 1. St., S. 59f.; Bd. 7, 1. St., S. 117ff.; Bd. 9, 1. St., S. 80. 412 So Novalis, zit. nach Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik, S. 361. 413 Brinker-Gabler: Mittelalter-Rezeption, S. 146ff., insbes. S. 147f., 153
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für eine Poesie aus der „Stimmung“ der „geheimen Ahndungen“ und der „neue[n] und wunderbare[n] Beziehungen“ (KS I, 82) votiert, die er dann später am Beispiel der Gedichte A.W. Schlegels erläutert: Wieder ergibt sich eine Beziehung zwischen der stimmungsvollen Poesie und der kritischen Kommunikation insofern, als sich die Urteilsbildung darüber auf Innerliches und kaum Wahrnehmbares erstreckt, auf „Zartheit und Feinheit“, auf die „leise[ ] Regel“, auf einen poetischen „Zauber“, für den „der größte Theil der deutschen Leser [keinen] Sinn“ hat (KS I, 108f.). Entsprechend heißt es in der Vorrede zu Shakspeares dramatischen Werken (1825) über Schlegels unübertreffliche Übersetzungskunst: „[I]hm wurde von Natur jenes geistige feine Ohr verliehen, welches auch das leiseste vernimmt, so wie jener zarte Geschmack [...], um nie der Sprache, der Grazie, oder dem Wohllaut Gewalt anzutun“.414 Dies war allerdings auch eine Reaktion darauf, daß selbst Tieck bisweilen der Sinn für die Schlegelschen ‚Feinheiten‘ fehlt, daß er daraufhin ‚freimütig‘ seine Bedenken äußert und daß Schlegel gereizt und verstimmt reagiert (5.3.3) – die Romantiker mögen ihre Kommunikationsideale programmatisch auf fernkommunikative Parameter umstellen, haben aber doch Probleme damit in der Praxis. Wie auch immer: Der Rezipient muß in „Stimmung“ geraten, wenn der Objektbereich stimmungsvoll ist, wie es der Schreiber der Briefe über Shakspeare vorführt (KS I, 137) und dabei unter der Hand seine neuerliche Lektüre begründet. Bei aller anti-gelehrten Intention, die Tieck insbesondere in seinen frühen Schriften verfolgt, verbindet sich die stimmungsvolle Aufnahme stimmungsvoller Poesie mit Wiederholungslektüre, Zeitinvestition und Interpretationsarbeit. Das spielt selbst bei den Altdeutschen Minneliedern noch eine Rolle, tritt aber bei dieser auf erleichterte Rezipierbarkeit angelegten Edition naturgemäß in den Hintergrund (KS I, 201, 205). Deutlicher wird die hermeneutische Aufgabe, sich zu „stimmen“, also sich in „Zeiten und Gedanken [zu] versetzen“, wie es in Goethe und seine Zeit heißt (KS II, 261), in den späteren literaturgeschichtlichen Studien, die sich der „Stimmung der Zeit“ widmen (z. B. KS II, 323, 328, 377), mithin dem, was nur „dem feinern Auge des Geschichtsforschers“, nicht aber der „ächte[n] Kritik“ bedeutsam ist (KS II, 377). Dabei verbirgt sich in der poetischen wie in der historischphilologischen Gestimmtheit jene komplizierte Struktur der Intimisierung literarischer Kommunikation, die die fast symbiotische Verbindung von Autor und Werk auf der einen Seite mit dem Leser auf der anderen Seite verbindet und deren Einstimmung und Einstimmigkeit kombiniert mit einer ebenso radikalen Dissoziation dieser Konstellation. Der Leser kann _____________ 414 Zit. nach Dichter über ihre Dichtungen. Bd. 9/3, S. 72.
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eben anders als der Autor und sein Werk gestimmt sein, ohne daß dies voraussagbar und in jedem Fall vermeidbar wäre. Wenn er allerdings eingestimmt ist, dann schenkt er seine Aufmerksamkeit auch „unzusammenhängende[n] und fast unverständliche[n]“ Dingen.415 An Solger schreibt Tieck am 1. April 1816: Es ist ein ehrwürdiger Moment, die Blätter eines hohen Geistes in die Hand zu nehmen, um aus den stummen Zeichen durch das Auge meine Seele zu bewegen, und dieselben Schwingungen in mir loszuwickeln: bin ich nicht gestimmt, verschlossen, dumm, so ist es wahrhaft nur höchst lächerlich, die Augen drauf hinzuhalten und ein Blatt nach dem andern umzuwenden.416
Die romantische Aufmerksamkeit reagiert auf den Prozeß der Etablierung von Negativität, auf dessen Unsicherheiten, Vagheiten und Unbestimmtheiten, u. a. mit einer zerstreuten Haltung. Das Einstimmen auf ein Werk, das Tieck zur Voraussetzung angemessener Rezeption macht, geht weniger von einer repräsentationstheoretischen als vielmehr von einer korrespondenztheoretischen Vorstellung des Umweltzugangs aus. „Schwingungen“ ersetzen dabei Gegenstände. Die Diffusität des Interesses, das sich nicht nach den kritischen Leitoppositionen von gut und schlecht, schön und häßlich oder fehlerhaft sortiert, rechnet immer damit, etwas zu übersehen, was von Bedeutung ist. Damit bereitet die Zerstreuung und Diffusität des Interesses einer historisch spezifischen Genauigkeit den Weg. In der romantischen Aufmerksamkeit verschränken sich Unbestimmtheit und Wahrnehmungsschärfe im Zeichen einer neuen oder zumindest als neu vertretbaren Sichtbarkeit. Diese Kombination der Gegensätze gehört zur Intimisierung der Kommunikation: So wie der wohlwollende Leser sich allen Belangen des als Freund verstandenen Autors widmet und damit eben auch jede ‚Kleinigkeit‘ beachtet, so kann der romantische Leser zwar selbstverständlich zwischen schlechten und guten Gedichten (zumindest für sich) unterscheiden, aber er entzieht deswegen keinem der Gedichte seine Anteilnahme, und jedes Detail erhält seine Bedeutung im Licht des Ganzen. Von hier aus erweist sich die interne Struktur der literarischen Intimität als Spiegelbild der übergreifenden Oppositionen von Öffentlichkeit und Privatheit, von Gesellschaft und Individuum, von Allgemeinem und _____________ 415 In der Vorrede zu den Heymonskindern wendet Tieck sich beispielsweise in diesem Sinn an den Leser: „Ich weiß nicht, ob Dein Gemüth zuweilen so gestimmt ist, daß Du Dich gern und willig in die Zeit Deiner Kindheit zurück versetzest [...]. Du bist vielleicht irgend einmal krank gewesen, geliebter Leser, oder hast Dich einige Stunden hindurch in einer unvermutheten Einsamkeit befunden; von allen Zerstreuungen verlassen, kann man dann zuweilen an alten wunderlichen Zeichnungen oder Holzstichen ein Vergnügen finden und sich in ihnen verlieren; man betrachtet dann oft aufmerksam ein unzusammenhängendes und fast unverständiges Bild [...]“ (S XIII, 3f.). 416 Tieck and Solger, S. 210.
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Besonderem, von Unbeschränktem und Beschränktem etc. Denn auch hier treibt das zunehmend als unvorstellbar konzipierte, gesichtslose und unadressierbare Allgemeine die Phantasmen von Innigkeit und Nähe hervor. Mediengeschichte, Sozialgeschichte, Anthropologiegeschichte und Literaturgeschichte erweisen sich als komplementäre Sichtweisen auf diesen Prozeß.417 So wie sich im Innern die stabilen Einheiten etwa in Form personifizierter Seelenkräfte in der „modernen Erkenntnis eines dynamischen Seelenlebens mit einer Vielzahl von übergänglichen Gefühlen, Stimmungen und Strebungen“ auflösen,418 so kann die literarische Kommunikation ‚um 1800’ nicht auf ein wie auch immer konstruiertes personenhaftes Gegenüber rechnen, sondern verliert in der Unübersehbarkeit der Beziehungen und der Uneinsehbarkeit des Individuellen ihre Berechenbarkeit. Die Kommunikation wird so stimmungsvoll wie das Bewußtsein. Die exakt eingrenzende Vorstellung des eigenen wie des fremden Inneren zum Abgleich der Mittel und Wege (rhetorischer) Zielerreichung – eine utilitaristisch-funktionalistische Einstellung gegenüber den Affekten also419 – macht wenig Sinn. Die Interaktion als Orientierungsmodell420 wird durch medial erzeugte Diffusität abgelöst, an die sich auch das stimmungsvoll gewordene Innere des Menschen angleicht. Auf physiologischer Ebene werden im Zuge dieser Umstellung Vorstellungen der Humoraltheorien durch Modelle des nervösen Leibs abgelöst, in dem die „Stimmung“ auch körperlich lokalisiert wird.421 Während die naturwissenschaftliche Interpretation der Leidenschaften traditionell die visuelle Affektmetaphorik der Ausdünstung422 unterstützt, fördert die neurophysiologische Reformulierung der Anthropologie423 eine innere _____________ 417 418 419 420 421 422
Zum folgenden vgl. Koschorke in Körperströme und Schriftverkehr, S. 369ff. Rotermund: Der Affekt als literarischer Gegenstand, S. 245, 260. Müller: Rhetorik und bürgerliche Identität, S. 22. Luhmann: Interaktion in Oberschichten, z. B. S. 77, 126. Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 372. Vgl. z. B. bei [Unzer]: Neue Lehre von den Gemüthsbewegungen, S. 22, 40, 50f. Diese Visibilität der Affekte eröffnet einen weiten Raum der Analogien, wenn z. B. Verdampfungsprozesse in der Metereologie mit physiologischen verbunden und auf den theologischen Rahmen bezogen werden. Sünden werden hier zu „bösen Dünste[n]“, die aus dem Herzen aufsteigen wie etwa in M. Bapst von Rochlitz’ Wetterspiegel (1589): „Sondern die Sünde der Menschen sind die rechten bösen Dünste vnd schedlichen Dempffe / welche auß dem gifftigen bösen Brünnen vnsers Hertzens / vnnd auß der alten Adamischen Erden / vnsers Sündlichen Cörpers kommen / vnd von der Sonnen der Gerechtigkeit / hinauff in den Himmel gezogen [...] / vnnd folgens wider herunter auff vnsern Kopff gestürzet werden“ (zit. nach Kittsteiner: Die Entstehung des modernen Gewissens, S. 47). Vgl. für das 18. Jahrhundert z. B. Barthold Heinrich Brockes’ Die Luft (Auszug der vornehmsten Gedichte aus dem Irdischen Vergnügen in Gott, S.30ff., dazu S.342): „Den Geist beneb’le nicht der Dampf der Leidenschaft!“ 423 Z. B. Krüger: Naturlehre. Zweyter Theil, S. 568ff., 613; [Unzer]: Neue Lehre von den Gemüthsbewegungen, z. B. S. 6f.
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Lautlichkeit, weil sie die Nervenbahnen mit Saiten und den menschlichen Körper mit einem Instrument vergleicht, so daß die Leidenschaften als besonders starke Vibration dieser inneren Saiten vorstellbar sind.424 Diese inneren Stimmungen wiederum korrespondieren der Skepsis, mit der die Aufklärung der traditionellen Vorstellung innerer Stimmen begegnet.425 Diese Skepsis ergibt sich aus dem Projekt, einen mit sich selbst identischen Menschen zu formieren, der aus einem inneren Zentrum heraus handelt und dazu nicht von außen oder durch einen Nachhall des Außen (z. B. eine innere Stimme) angehalten werden muß. Die Sprache und ihre Zeichenhaftigkeit kommen, so könnte man sagen, immer schon zu spät, wenn es nicht mehr um vollführte Handlungen, sondern um Neigungen im Vorfeld der Tat geht (5.3.5 a).426 Anders gesagt: Das Innere des Menschen wird weniger aus der Interaktion begründet, wie etwa bei Thomasius aus dem Gespräch427, sondern eher als Selbstbewußtsein428 und schließlich als Selbstgefühl.429 Entsprechend verändert sich die politische Semantik der Seele und schafft im Innern jenen Kontext des auf sich selbst gestellten, auf komplexe und unüberschaubare Situationen ‚abgestimmten‘ Menschen, der in dessen Umwelt noch lange Zeit nicht realisiert sein wird: Bei Wolff machen die „Affecten“ gemeinsam mit der „Herrschafft der Sinnen“ und der „Einbildungs=Krafft“ die „Sclaverey des Menschen“ aus, so daß die „Herrschafft“ über diese Trias von Wolff zum Ziel gesetzt wird,430 und Georg Friedrich Meier dekretiert: „Die Gemüthsbewegungen sind als Sclaven _____________ 424 Allerdings spielen analogische Denkmuster für diese sich über die mathematische Methode und das Experiment definierende Wissenschaftsform keine Rolle mehr. Es ist daher nur konsequent, wenn Ernst Anton Nicolai unter Berufung auf Krüger Die Verbindung der Musik mit der Artzneygelahrtheit (1745) ausführlich behandelt, zugleich aber physikalisch so genau ist, daß den inneren Saiten das Tönen unmöglich wird: Da der Schall zur Ausbreitung Luft braucht, ist das Innere des Menschen Nicolai zufolge immer schon still (ebda., unpag. [Vorrede]). Vgl. ähnliche Belege bei Scherer: Klavier-Spiele, S. 105, der allerdings bei David Hartleys Observations on Man, his Frame, his Duty and his Expectations von 1749 einsetzt: Das erfolgreiche Konkurenzmodell zur Saiten-Vorstellung ist das Modell der Nervensäfte. 425 Hierzu und zum folgenden Martus / Stockinger: Die Beruhigung des Innern. 426 Insofern markiert das Verstummen redender Affekte jenen Umbruch in der Zeitstruktur, den Foucault für den juridischen Diskurs dargestellt hat: Nicht das Vergangene soll rückwirkend bearbeitet (Sühne), sondern das Künftige verhindert werden (Besserung) (Foucault: Überwachen und Strafen, S.14ff.). Zur ‚Einstimmung’ als Sozialisation vgl. Scherer: Klavier-Spiele, S. 97f. 427 Werner Schneiders spricht in diesem Zusammenhang von der „kommunikative[n] Vernunftnatur des Menschen“ (Naturrecht und Liebesethik, S. 153). Vgl. dazu Thomasius: Einleitung zur Sittenlehre, S. 89; ders.: Ausübung der Vernunftlehre, S. 131. 428 So bekanntlich Wolff: Vernünfftige Gedancken Von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, S. 1, 4. 429 Sauder: Empfindsamkeit. Bd. 1, S. 211-226. 430 Wolff: Vernünfftige Gedancken Von der Menschen Thun und Lassen, S. 112f., 248ff.
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anzusehen, über welche die Vernunft von Rechtswegen die Aufsicht und Herrschaft haben soll“.431 An die Stelle von Kausalketten und Rangordnungen treten aber zunehmend Formen der Rekursion, der Eigenständigkeit und der funktionellen Autonomie in der flachen Hierarchie organischer Zusammenarbeit. Die Übersetzung in politische Begriffe fällt nicht schwer: Das „republikanische[ ] Konzert der Stimmen“ löst die „Einlinigkeit der monarchischen Befehlsstruktur ab“.432 Im Menschen entsteht dadurch ein höheres Maß an Unberechenbarkeit, eine gleichsam psychologisch konzipierte Intimität und Privatheit, indem individuelle Assoziationen die Vorstellungswelten der Subjekte ausstatten. Die Vorstellungen der ‚Stimmigkeit‘ des Werks ‚um 1800‘, die sich auf sehr viel ältere Vorstellungen einer Werkharmonie in der Bibelhermeneutik rückbeziehen lassen433, scheinen ihr Unruhepotential darin zu haben, daß über diese Stimmigkeit und über den Einklang der Stimmung des Werks und des Lesers Unsicherheit herrscht. Man könnte sagen, daß sich Hierarchisierungen und entsprechende Domestizierungsversuche angesichts der Komplexität der neuen Anforderungen an Steuerung als ungeeignet erweisen und daß der Eindruck einer inneren Stimmung darauf reagiert. Die innere Stimmung, die ihr Paradigma in der Musik hat,434 stellt sich auf neue Formen der Unruhe um, auf ozeanisches Rauschen und die entsprechende Wellenförmigkeit von Schwingungen, an denen sich dann die Stimmung abmessen läßt.435 Wenn _____________ 431 Meier: Theoretische Lehre von den Gemütsbewegungen überhaupt, S. 6, 120, 134. 432 Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 370. 433 Danneberg: Die Anatomie des Text-Körpers und Natur-Körpers, S. 234f., 299f.; Spitzer: Classical and Christian Ideas of World Harmony, S. 46ff. 434 Vgl. Herders Übers Erkennen und Empfinden in der Menschlichen Seele (Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774-1787, S. 1094): „Könnten wir tiefer hin fühlen und uns aus dem tiefen Traume der sinnlichsten Kräfte wecken: so würden wir ohne Zweifel inne, wie die Seele sich genau in Allem fühle. Wie sie die Modulation des Geblütsumlaufs höre, und auch eben der Modulation ähnlich denke! Wie das Othemholen durch seinen Druck auf die Maschine zugleich der Takt sei, der die Modulation der Gedanken regiere!“ In der späteren Fassung der Schrift von 1777/78 (Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele) greift Herder dann noch weiter aus und evoziert nicht nur das „Saitenspiel unsrer Gedanken“, sondern auch das „Saitenspiel der Gottheit“ sowie jene „Saiten, die Ein gewisser Klang des Weltalls regt, auf denen der Weltgeist mit Einem seiner Finger spielet“. Und er stellt den Bezug zur Sprachursprungsschrift her, wenn er – im Anschluß an Leibniz – von der „Stimme eines Meers von Wellen“ spricht und die „Flammenschrift des Schöpfers“ nachvollzieht. Die Sprache ist ihm „Medium unsres Selbstgefühls und geistigen Bewußtseins“ (ebda., S. 335, 340, 345, 351f., 357). Zur Musikalisierung des Menschen in der Empfindsamkeit vgl. Lappe: Studien zum Wortschatz empfindsamer Prosa, S. 198-201. 435 In diesem Sinne reformuliert Herder in seiner Sprachursprungsschrift von 1770 die Bewußtseinstheorie: „Der Mensch beweiset Reflexion, wenn die Kraft seiner Seele so frei würket, daß sie in dem ganzen Ocean von Empfindungen, der sie durch alle Sinnen durchrauschet, Eine Welle, wenn ich so sagen darf, absondern, sie anhalten, die Aufmerksamkeit
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nun von der „menschliche[n] Seele“ als einer „Monarchin, die in uns denket und will“, die Rede ist, dann ist diese Herrschaft solchermaßen an die Untertanen gebunden („ohne die sie nicht das wäre, was sie ist“)436, daß die vormalige Segmentierung und Hierarchisierung gerade unmöglich wird. Das Mängelpotential eines eigensinnigen Verhältnisses zur Umwelt erhöht sich in dieser Anthropologie der Stimmung auf zwar unkontrollierbare, aber nachvollziehbare Weise: Es erhält eine „durch und durch biographische Färbung“437, oder anders: Das Individuum wird zum privilegierten Kontext seiner selbst, und zwar in der zeitlichen Dehnung seiner Lebensgeschichte. Zu ergänzen bleibt, daß der Opazität des Leibes, der physiologischen und psychologischen Abschottung des Subjekts dessen Verzahnung mit „viele[n] mitwirkenden Einflüsse[n] und zusammentreffenden Umstände[n]“ korrespondiert, wie Friedrich Schlegel es formuliert.438 Die ästhetikgeschichtliche Bevorzugung von horizontalen, syntagmatischen Verhältnissen und die Deprivilegierung von vertikalen, paradigmatischen Verhältnissen im Rahmen der kunstautonomistischen Vorstellungen entspricht der Vorstellung von „Stil“ als einer über die Spezifität der Konnotationen gebildeten Eigentümlichkeit, die denotative Bezüglichkeiten unterbricht.439 Der Konnotationsraum indes dient gleichermaßen der Formierung von Individual- wie von Systemreferenzen. Der durch besondere Ähnlichkeiten gestiftete Bezirk kann das Einzelwerk sein, das durch den Autor begrenzte Gesamtwerk sowie dessen weitere z. B. literatur- oder kulturgeschichtliche Umgebung. Die Assoziationen werden auf allen Ebenen schwer beherrschbar. Für die Frage nach der Werkpolitik bedeutet dies, daß die Infragestellung und die Bestätigung einer Einheit, die sich als Werk konstellieren läßt, zusammen gehören und daß die Fragwürdigkeit interner Bezüglichkeiten und Relevanzen die Fragwürdigkeit der Bezüglichkeiten und Relevanzen zwischen Innen und Außen, System und Umwelt, Werk und Kontext dupliziert. Je unschärfer die Ränder des Werks werden, umso genauer wird es profiliert; je ungenauer bestimmbar wird, was zum Werk gehört, desto integrativer wird seine Wirkung; je mehr es dezentriert wird, desto größer wird seine Gravitationskraft; je ‚feiner‘ die Beachtung des Werks wird, die sich aus einer ‚wohlwollenden‘ Haltung ergibt, desto mehr Anlaß _____________ 436 437 438 439
auf sie richten, und sich bewußt seyn kann, daß sie aufmerke“ (Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S.31f.). So Herder in Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele (Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774-1787, S. 353). Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 375. F. Schlegel: Über Lessing, S. 101. Stärker in diese Richtung Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 382. Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 379.
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gibt es zu Bewunderung, aber eben auch zur ‚Kritik‘. Gleiches ließe sich zur Autorfunktion sagen. Die Funktion der ‚Stimmung‘ als ästhetische und literaturgeschichtliche Beschreibungskategorie fängt diese widerstreitenden Elemente ein. Stimmungsvolle Werke zeugen ebenso von Intimität wie sie auf eine diffuse Adressatenmenge hin angelegt sind. Sie erwachsen aus historischen Stimmungslagen, und diese Art der Einbettung in Kontexte multipliziert die Abhängigkeiten, in denen das Einzigartige steht, und umgekehrt ist das Einzigartige jenes Phänomen, dem mit einiger Plausibilität eine erhöhte Aufmerksamkeit entgegengebracht wird, die sich den multiplizierten Abhängigkeiten widmet. Einfache Ableitungen hingegen, die auf klaren kausalen Verantwortungsketten beruhen, deuten auf einen Beobachter, der den Details, den komplizierten Zusammenhängen und komplexen Bedingungsverhältnissen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. Exemplarisch für diese Art der Aufmerksamkeit und ihres Streitwerts steht Tiecks Verteidigung gegen den Vorwurf, seine Genoveva sei eine Art Plagiat von Maler Müllers Golo und Genoveva:440 Die direkte Abhängigkeit wird von ihm widerlegt, indem er zeigt, wie von der abendlichen Lektüre von Müllers Stück, bei der ihn regelmäßig die Müdigkeit übermannt, nur eine diffuse Erinnerungsmasse übrig bleibt – in der „Zerstreuung und Ermüdung“ hinterlassen dann Nebensächlichkeiten den „tiefsten Eindruck“. Die zweite Stufe der Produktion macht die ‚absichtslose‘ Lektüre des „Volksbüchelchen[s]“ aus. Schließlich geht, tingiert von lebensgeschichtlichen Einflüssen, aus den Texten, die nur der situativ zufälligen Stimmung nach wahrgenommen wurden, das eigene Drama hervor: „allgemach verknüpften sich Erinnerungen, Vorsätze und poetische Stimmungen mit diesem Mährchen“ (S I, XXVIff.). Rezipienten können bei diesem Werk dann das für „Verstimmung“ halten, was der Autor für „Begeistrung“ hält, wenn die „Regungen, die [den Autor] damals begeisterten und antrieben“, nicht in genau derselben Weise bei ihnen entstehen wie bei demjenigen, aus dessen Stimmungen die Poesie hervorging.441 Die Verfeinerung der Möglichkeiten, sich auf den Autor einzulassen, ist immer auch potentiell der Grund dafür, daß kleinste Differenzen unvereinbare Unterschiede bewirken.
_____________ 440 Dazu Paulin: Ludwig Tieck. Eine literarische Biographie, S. 235. 441 So in der Engführung zweier Briefe von Tieck an Solger vom 16. Dezember 1816 und vom 30. Januar 1817 die Reaktion auf die kritischen Einwände seines Briefpartners (Tieck and Solger, S. 314 u. 334).
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5.3.5 Die „wunderbare“ Welt der Philologie „Stimmung“ wird für Tieck also nicht zuletzt deswegen zu einer literaturgeschichtlichen Kategorie, weil er einfache kausalgenetische Modelle historischer Zusammenhänge ablehnt und sich statt dessen einem Gespinst aus „tausend sichtbaren und unsichtbaren Fäden“ widmet (KS II, 137). Die romantische Aufmerksamkeit Tiecks erzeugt demzufolge eine veränderte Wahrnehmbarkeit im Bereich des Unsichtbaren, indem sie mögliche Beziehungen vermehrt. Mit ihrem Innerlichkeitsstreben läuft sie konform mit der Inflation von Projekten zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die eine ‚innere‘ Geschichte der Literatur schreiben wollen.442 Auch dabei steht die basale Aufteilung in die kleine Gruppe der großen Dichter und in die Masse des bloß Interessanten im Hintergrund. In der Vorrede zum elften Band der Schriften (1829) heißt es: Die Art und Weise, wie der Kritiker die innere Nothwendigkeit und poetische Weisheit in den Werken des Sophokles oder Shakspear erläutern kann, ist darum eine ganz andre, als die, die beim Ben. Jonson angewendet werden muß. Die Weisheit und Tiefe dieses kräftigen Geistes, seine Kunstabsicht und Vollendung lassen sich auch mit dem kritischen Verstande völlig ergründen, die Erkenntniß kann und soll die Vortrefflichkeit von seinen Produktionen erkennen und genügend aussprechen, da sich im Gegentheil ein ächtes Kunstwerk in seiner Unendlichkeit niemals erschöpfen läßt, sondern in seinem Geheimniß auch dem eifrigsten Forscher wieder neue Beziehungen, Verständnisse und ungeahndete Entdeckungen, indem Stimmung oder die Stellung des Auges wechseln, immerdar anbietet. (S XI, XXIf.; Hervorhebung S. M.)
Die Frage ist freilich, wie man sich angesichts der Irrtumsanfälligkeit des kritischen Urteils sicher sein kann, ein „ächtes Kunstwerk“ vor sich zu haben. Anders gesagt: Die selektionslose Aufmerksamkeit des Philologen, dessen ‚gestimmtes‘ Auge permanente Beweglichkeit auszeichnet, gerät in bedenkliche Nähe zu einer Haltung, die zum Wunderbaren ‚gestimmt’ ist und bei der der Zuschauer sich nie langweilt, weil das Wunderbare ihn in einen unablässig bewegten „Schwindel“ versetzt.443 Ob diese Aufmerksamkeit es mit wirklichen Personen und Problemkonstellationen zu tun hat oder mit Gespenstern, Zaubereien und Einbildungen, läßt sich aus der Perspektive des Rezipienten erster Ordnung nicht mehr entscheiden. Auch dies gehört also zur romantischen Poetisierung der Kritik, die Tieck andernorts in seinen Literaturkomödien auf der einen444, seinen Künstlernovellen auf der anderen Seite betrieben hat. _____________
442 Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, insbes. S. 35f., 43ff. – vgl. zur faktischen Ähnlichkeit zwischen dem ‚alten‘ und dem ‚neuen‘ Modell ebda., S. 59ff. 443 Zur Poesie und Poetik des „Schwindels“ vgl. Bong: Texttaumel. 444 Dazu z. B. Stockhammer: Der lustige Literaturkritiker auf der Bühne (und im Publikum).
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Wieder verhält es sich mit der Poetisierung zunächst unpoetischer Bereiche so wie im Fall der Poetisierung der Kritik: Sie verweist zwar auf eine Enthierarchisierung des Verhältnisses von Objektbereich und Untersuchungsposition, insofern der Kritik bzw. der Philologie kein übergeordneter Stellenwert zugewiesen wird. Aber sie verweist deswegen nicht auf eine erneute Verschmelzung der ausdifferenzierten Rollen von Autoren und Lesern – im Gegenteil: Auch hier reagiert die Poetisierung auf die Genialisierung und Enigmatisierung der Kunstkommunikation. Oder anders formuliert: Urteilsinstanzen werden entprivilegiert, ihnen wird eine lediglich perspektivisch beschränkte und stets überholbare Beobachterposition zugestanden. Daß Tiecks Näherung von Philologie und Poesie auf die Etablierung von Negativität reagiert, sieht man auch an seinem Entwurf der Kommunikationskultur, der sich in den Diskussionen des Phantasus, seiner „kommentierten Neuausgabe der Frühwerke“445, auf die Traditionen der Verhaltenslehre rückbezieht. a) Die Stimmung der Stimmung im Phantasus Zunächst irritiert die Neigung der Romantik zur dialogischen Form, wenn man davon ausgeht, daß die Etablierung von Negativität eng an das Medium der (Druck-)Schriftlichkeit gebunden ist. Entscheidend ist allerdings die Frage, ob die Mündlichkeit dieser Gesprächsformationen eigenständig oder nicht vielmehr aus der Perspektive konzeptioneller Schriftlichkeit entworfen wird (2.3). Ein gutes Beispiel dafür ist Friedrich Schlegels Gespräch über die Poesie (1800). Schlegel geht darin von der grundsätzlichen Überlegung aus, daß „alle Gemüter“ in der Harmonie der Poesie zusammen finden, dies allerdings so, daß auf der einen Seite jeder „seine eigne Poesie“ hat und „keine Kritik“ diese individuelle Sicht auf einen „allgemeinen“ Nenner zu bringen vermag. Auf der anderen Seite wird gleichwohl durch die „echte[ ] Kritik“ die Bildung eines jeden dergestalt befördert, daß er „auch jede andre selbständige Gestalt der Poesie in ihrer klassischen Kraft und Fülle zu fassen“ in der Lage ist.446 Dieser doppelte _____________ 445 Ribbat: Ludwig Tieck, S. 207. 446 Schlegel: Gespräch über die Poesie, S. 284. Am Schluß der ersten Fassung des Gesprächs wird der kritische Perspektivismus philologisch umgeleitet: „[...] es kann doch am Ende in jeder auch noch so künstlich zubereiteten Mitteilung eines Kunsturteils kein anderer Anspruch liegen, als die Einladung, daß jeder seinen eignen Eindruck ebenso rein zu fassen und streng zu bestimmen suche, und dann den mitgeteilten der Mühe wert achte, darüber zu reflektieren, ob er damit übereinstimmen könne, und ihn in diesem Falle frei- und bereitwillig anzuerkennen. [...] dennoch bleibt ein Wissen in Dingen der Kunst sehr möglich. Und ich denke, wenn jene historische Ansicht vollendeter ausgeführt würde, und wenn es gelänge, die Prinzipien der Poesie auf dem Wege, den unser philosophischer Freund ver-
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Ausgangspunkt prinzipieller Standortgebundenheit und eines unumgänglichen Perspektivismus sowie einer Bewegung hin zur Transzendierung dieser Beschränktheit führt zum „Gespräch“, das zwar auf wechselseitige Ergänzung angelegt ist, diese aber nie erreichen kann.447 Wichtig scheint mir dabei der Ausgangspunkt des Gesprächs über die Poesie zu sein: Die Gruppe der freundschaftlich verbundenen und literarisch interessierten Diskutanten ist mit der existenten Gesprächskultur unzufrieden. Der Mangel an „Verschiedenheit der Ansichten“ soll daher beseitigt werden, indem „jeder [...] einmal seine Gedanken über Poesie [...] von Grund des Herzens aussprechen, oder lieber, ausschreiben [solle], damit mans schwarz auf weiß besitze, wies jeder meine“. Wieder wird die Schriftlichkeit die Voraussetzung einer neuen Gesprächskultur, die dem Widerstreit in seiner Unausweichlichkeit eine produktive Wirkung zumißt: „Der Streit [...] würde dann erst recht arg werden; und das müsse er auch, denn eher sei keine Hoffnung zum ewigen Frieden“.448 Angesichts von Friedrich Schlegels Prämisse einer letztlich unaufhebbaren Differenz subjektiver Ansichten der Kunst überrascht die Einhelligkeit im Gespräch über die Poesie. Tatsächlich hat man daher die Diskussionsrunde auch als eine Art Selbstgespräch Schlegels entziffert.449 Die tatsächliche frühromantische Geselligkeit nämlich legt eher Zeugnis ab für die Stimmigkeit der frühneuzeitlichen Ausklammerung von Negativität, für die Notwendigkeit, die Geselligkeit vor Kritik und Eigensinnigkeit zu schützen, um ein funktionierendes, und das heißt zunächst: um ein fortdauerndes Miteinander zu gewährleisten. Friedrich Schlegel stößt jedenfalls sogar bei Schleiermacher auf Ablehnung, wenn er die seinen Schriften eigene Unverständlichkeit, die er zum Abschluß des Athenäums in seinem Essay Über die Unverständlichkeit eigens zum Programm macht, verteidigt und Unverständnis nicht als kommunikative Katastrophe verbuchen will.450 Anders als Friedrich Schlegels Gespräch über die Poesie spiegelt Tieck die romantische Geselligkeit ab. Wenn der Phantasus wirklich – wie Briefzeugnisse, die Widmung an A.W. Schlegel und Tiecks Äußerungen gegenüber Köpke – vermuten lassen, ein Dokument der ‚symphilosophischen‘ Jenaer Zeit sein sollte, dann vielleicht auch in dem Sinn, daß hierin nicht nur das zwanglose Neben- und Miteinander verschiedener Persönlichkeiten und Gedankenwelten Ausdruck gefunden hat, sondern auch die Gefahren, die _____________ 447 448 449 450
sucht hat, aufzustellen: so würde die Dichtkunst ein Fundament haben, dem es weder an Festigkeit noch an Umfang fehlte“ (Schlegel: Gespräch über die Poesie, S. 349). Schlegel: Gespräch über die Poesie, S. 285f. Schlegel: Gespräch über die Poesie, S. 287. So zumindest Hans Eichners Einschätzung (Einleitung, S. LXXXVIII). Eichner: Einleitung, S. XCIX; Schumacher: Die Ironie der Unverständlichkeit, S. 170.
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der Harmonie einer solchen Geselligkeit drohen, wenn nicht Zurückhaltung und Dezenz das Zusammensein regulieren. Tatsächlich hat Tieck „die leicht distanzierte Beobachterrolle dem Kreis gegenüber nie abgelegt“451, wozu die Intrigenwelt dieser Konstellationen genügend Grund geboten haben dürfte.452 Vielleicht nimmt Tieck auch aus diesem Grund die Geselligkeit verschiedener Individuen wieder in ein Individuum hinein und erklärt die Gesprächsteilnehmer – wie bereits zitiert – zu „Stimmungen des Autors“ (S I, XLII).453 Betrachtet man die Unterhaltungen mit dem bösen Blick der Verhaltenslehren, die – wenngleich mit unterschiedlicher Deutlichkeit und mit der zunehmenden Befürwortung von ‚Freimütigkeit‘ – fast immer vor einem offenen Wort warnen (2.3), dann tritt das Eskalationspotential der fiktiven Gesprächsrunde zu Tage: Die Ordnung der Geselligkeit nach Maximen der romantischen Ästhetik folgt selbstredend nicht mehr den auffälligen Regularien der Repräsentationskultur, dennoch versteht sich die Selbstregulierung der Beziehungen nicht von selbst. Die drohende „Anarchie“454 ungeordneten Erzählens muß durch eine vorab festgelegte Reihenfolge und Struktur gebändigt werden; den Hinweisen auf die ‚französische‘ Gartenkultur korrespondiert die Kritik an der ‚englischen‘ Landschaftsgestaltung.455 Es erinnert deutlich an den mehr oder weniger versteckten Problemgehalt der empfindsamen Freundschaft, wenn etwa Willibald zugibt, daß ihm seine entfernten Freunde am wertvollsten sind, wohingegen sie ihn anwesend doch erheblich störten.456 In der ausführlichen Kritik aller – zu diesem Zeitpunkt abwesender – Freunde muß Theodor ihn dann auch zur _____________ 451 So Manfred Frank im Nachwort zu seiner Phantasus-Ausgabe (S. 1163 – vgl. zuvor die Zeugnisse für die frühromantische Geselligkeit, ebda., S. 1147ff.). 452 Paulin: Ludwig Tieck. Eine literarische Biographie, S. 101ff. Zu einer harmonisierenden Sicht auf die Rahmengespräche vgl. Hasenpflug: Ludwig Tiecks Darstellung der Salongespräche im Phantasus (vgl. hier aber auch S. 69, 71ff. zu den Gefährdungen der Geselligkeit). 453 Dem folgt Ribbat: Ludwig Tieck, S. 209, der im übrigen die Rahmengespräche vor allem inhaltlich beschreibt. Dazu auch Kern: Ludwig Tieck, S. 81ff. Rath lehnt den direkten Bezug zwischen dem Phantasus und biographischen Episoden Tiecks ab, erkennt aber in der Sammlung „die historisch verbriefte Essenz des [...] Aufenthalts“ in Jena wieder und in den Figuren einzelne Frühromantiker sowie weitere Personen aus dem Umfeld Tiecks (Ludwig Tieck, S. 252, 254). Hier auch zur Selbstironie Tiecks (z. B. ebda., S. 253) sowie zu einer in die Tischgeselligkeit eingebauten „Lebensphilosophie“ des Geschmacks (ebda., S. 255ff.), die die Komposition der Sammlung als ein Menue präludiert (ebda., S. 260f.). 454 Tieck: Phantasus, S. 91. 455 Tieck: Phantasus, S. 52ff., 71ff., 108ff. 456 „In der Ferne sehn‘ ich mich nach euch allen und bin ungemut, und in der Nähe ärgre ich mich über alle eure mannigfaltigen Torheiten“ (Tieck: Phantasus, S. 45).
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Mäßigung und Billigkeit mahnen.457 Und als Theodor auf Willibald repliziert, scheint die immer wieder im Gesprächszirkel beschworene Bereitschaft zum Widerspruch458 nur die Minimalbedingung zu erfüllen: „Willibald zwang sich zu lachen und ging empfindlich fort [...]“.459 Auch Anton wird zwischenzeitlich „etwas empfindlich“ und muß daran erinnert werden, daß er zuvor der Möglichkeit von Mißverständnissen unter Freunden das Wort geredet hat.460 Im Freundschaftsdiskurs der Rahmenhandlung, der bekanntlich ein zentrales Thema der Märchen, vor allem des Blonden Eckbert, vorwegnimmt, läßt Tieck daher folgerichtig die Regeln der frühneuzeitlichen Klugheitslehre wiederholen: Es droht den Freund zu verletzen, wenn man auf unbedingtes Verstehen und Sich-Mitteilen drängt; es sei besser, Zurückhaltung zu üben und Geheimnisse für sich zu bewahren. Fast möchte man dahinter eine Replik auf Klopstocks Freundschaftsessay sehen, der ja mit einer auch für das 18. Jahrhundert ungewöhnlichen Deutlichkeit das Paradigma der ‚klugen‘ Freundschaft dem Paradigma der ‚empfindsamen‘ Freundschaft konfrontiert und dabei für eine uneingeschränkte Direktheit votiert hatte (4.1.1). Die Begründung für ‚kluges‘ Verhalten hat sich allerdings ‚um 1800’ in ihr genaues Gegenteil verkehrt. Zum Teil sorgt bei Tieck wie in den frühneuzeitlichen Klugheitslehren die Befürchtung einer ungewollten Offenheit bzw. die Angst vor den negativen Folgen gewollter Offenheit für eine reservatio mentis gegenüber der „gefährlichen Rede“.461 Andererseits aber basiert in der Frühromantik das Plädoyer für eine kontrollierte und reduzierte Selbstaussprache auf dem Wissen um die Unmöglichkeit unbeschränkter Offenheit. Verarge doch dem Freund nicht […], wenn du ahndest, daß er dir etwas verbirgt, denn dies ist ja nur der Beweis einer zärteren Liebe, einer Scheu, die sich ängstlich um die bewirbt, und sittsam an die schmiegt; o ihr Liebenden, vergeßt doch niemals, wie viel ihr wagt, wenn ihr ein Gefühl dem Worte anvertrauen wollt! was läßt sich denn überall in Worten sagen? Ist doch schon der Blick zu ungeistig und körperlich!462
Aufgrund dieses Offenheitsverhinderung, sind satirische und kritische Bemerkungen zum Gespräch zugelassen, aber das aptum gilt es gleichwohl zu bewahren, den angemessenen Zeitpunkt abzupassen463 – als es zu _____________ 457 458 459 460 461 462 463
Tieck: Phantasus, S. 47. Z. B. Tieck: Phantasus, S. 17. Tieck: Phantasus, S. 51. Tieck: Phantasus, S. 27. So Christoph Brechts Terminus (Die gefährliche Rede, S. 203ff.). Tieck: Phantasus, S. 26f. Tieck: Phantasus, S. 63, 66, 86.
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‚Gesundheiten‘ auf die vorbildlichen Dichter kommt, muß Manfred daher bei Goethe auch gleich ausrufen: „nein, Freunde, keine Kritiken jetzt, alle Freude unserer Jugend, alles, was wir ihm zu danken haben, vereinigen wir in unserer Erinnerung in diesem Augenblick!“464 Die andere Seite dieser situativ satirischen Einstellung markiert wiederum eine Heiterkeit, die ‚alles‘ gleichmäßig bescheint, „jenes leichte Berühren aller Gegenstände, jenes gemütliche Spiel mit allen Wesen und ihren Gedanken und Empfindungen“.465 Die ironische Haltung wird insofern als Verhaltensmaxime eingespielt, als die Gesprächsrunde die Existenz des Positiven wie Negativen im Leben und in den „Künsten“ anerkennt, den „moralischen und physischen Ekel“ in seiner Orientierungsfunktion bestätigt, aber zugleich beschränkt wissen will: An die Stelle einer „krankhaft[en]“ Ausbildung von Abwehrmechanismen tritt „liebenswürdige[ ] Billigkeit und Humanität“.466 In den Worten Ernsts: „[...] kein Mensch ist wohl seiner Überzeugung oder seines Glaubens versichert, wenn er nicht die gegenüber liegende Reihe von Gedanken und Empfindungen schon in sich erlebt hat [...]“.467 Mit „Billigkeit und Humanität“ begegnet die Phantasus-Gruppe dann sogar den per se ungeliebten literarischen Ausschweifungen, die sich als Reaktion auf die Entzauberung der Gegenwart deuten lassen: Daher die wilde Verzweiflung in der Lust mancher bacchantischer Dichter; es reißen sich wohl Laute in schmerzhaft üppiger Freude, in der Angst keine Scheu mehr achtend, aus dem Innersten hervor, und verraten, was der heiligere Wahnsinn verschweigt. so wollten wild schwärmende Korybanten und Priesterinnen ein Unbekanntes in Raserei entdecken, und alle Lust die über die Grenze schweift nippt von dem Kelch der Ambrosia, um Angst und Wut mit der Freude laut tobend zu verwirren. Auch der Dichter wird noch einmal erscheinen, der dem Grausen und der Wollust mehr die Zunge löst. Schon glaub‘ ich die Mänade zu hören, sagte Ernst, nur Paukenton und Zimbelnklang fehlt, um dreister die Worte tanzen zu lassen, und die Gedanken in wilderer Gebärde.468
Auch an anderen Stellen demonstriert der Gesprächskreis, wie man mit mittelmäßigen oder imperfekten Autoren auf eine nützliche Weise umgeht, indem man sie z. B. im Rahmen einer Lesetherapie verwendet.469 Am wichtigsten dürfte in diesem Zusammenhang die Bitte der männlichen Erzähler sein, die Frauen möchten in den Zwischengesprächen keine „zu strenge[n]“ „Rezensenten“ abgeben, es handle sich schließlich nur um _____________ 464 465 466 467 468 469
Tieck: Phantasus, S. 77f. Tieck: Phantasus, S. 87. Tieck: Phantasus, S. 60. Tieck: Phantasus, S. 59. Tieck: Phantasus, S. 68. So im Fall von LaFontaine, Spieß und Cramer (Tieck: Phantasus, S. 28ff.).
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überarbeitete „Jugendversuche“.470 Diese Bitte richtet sich nicht nur an die „Rezensenten“ innerhalb des Phantasus, sondern auch an die jenseits der Fiktionsgrenzen. In der Widmung an A. W. Schlegel jedenfalls, die durch die Evokation frühromantischer Geselligkeit bereits in den PhantasusZirkel hineinspielt, wird wieder, wie schon in den Vorreden zu den Schriften und zu den Kritischen Schriften, der ‚Freund‘ als Leser der vorliegenden „jugendliche[n] Versuche“ adressiert. Erneut nämlich geht es um Werke, die „eine frühere Periode meines Lebens charakterisieren [...]“, deren Andeutungen in folgenden Werken ausgeführt werden sollen und somit einen größeren Zusammenhang bilden und die literaturgeschichtlich und autor- bzw. werkgeschichtlich relevant sind: „Du wirst gütig diese Blätter aufnehmen, die das Bild voriger Zeit und Deines Freundes in Dir erneuern“.471 Freilich wird man überhaupt Interesse für die „Stimmung unsrer Zeit“472, die im Eingangsgespräch zwischen Theodor und Ernst umrissen wird, aufbringen müssen, um diese ‚gütige‘ Aufmerksamkeit zu entwikkeln. Dabei helfen nicht zuletzt die „jugendliche[n] Versuche“ des Phantasus selbst473, wenn sie stimmungsvolle Szenerien entwerfen, wenn in den Rahmengesprächen dann schlaglichtartig die Stimmung beleuchtet wird, aus der diese stimmungsvollen Dichtungen entstanden sind, und wenn man entdeckt, daß aus einer solchen Rekonstruktion wieder ein Märchen entstehen könnte. Nach der Erzählung vom Blonden Eckbert heißt es: Wollte man freilich, fuhr Anton fort, genau erzählen, aus welchen Erinnerungen der Kindheit, aus welchen Bildern, die man im Lesen, oder oft aus ganz unbedeutenden mündlichen Erzählungen aufgreift, dergleichen sogenannte Erfindungen zusammengesetzt werden, so könne man daraus wieder eine Art von seltsamer, märchenartiger Geschichte bilden.474
Nun gibt es dieses Märchen tatsächlich: Es ist Köpkes Tieck-Biographie, die – wie Rudolf Haym erkennt – auch dazu dienen soll, die Leser zu „stimmen“, und dies vor allem für die „Jugendperiode“ des Dichters.475 Bei Köpke lautet das Entstehungs-Märchen zu der Erzählung vom Blonden Eckbert folgendermaßen: _____________ 470 471 472 473
Tieck: Phantasus, S. 91. Tieck: Phantasus, S. 9f. Tieck: Phantasus, S. 19. Zur Korrespondenz zwischen der in der Novellistik ausgestellten Willkür der Hermeneutik und Tiecks Konstruktion kritischer Kommunikation: Brecht: Die gefährliche Rede, S. 201f. 474 Tieck: Phantasus, S. 146f. Zu einer Interpretation des Eckbert, die den Text als Explikation seiner selbst liest, die ‚Zerstreuung’ der Aufmerksamkeit ins Zentrum stellt und das Interesse für ‚Kleinigkeiten’ erwähnt vgl. Bong: Texttaumel, S. 286ff.; zur Aufmerksamkeit fürs Kleine vgl. insbes. S. 391ff. 475 Haym: Die romantische Schule, S. 19f.
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Sie verdankte ihre Entstehung einer augenblicklichen Inspiration. Der jüngere Nicolai wünschte nichts sehnlicher, als das Erscheinen der [Volks-]„Märchen“ zu beschleunigen. Häufig hatte er ungeduldig die Anfrage wiederholt, wie weit das Manuscript vorgerückt sei, oder was er unter der Feder habe. Um den Dränger zufriedenzustellen hatte Tieck einmal auf gut Glück geantwortet: „Der blonde Ekbert!“ Es war ein Name, der ihm in den Mund gekommen war. Später fiel ihm die Leichtfertigkeit auf die Seele, mit welcher er eine Dichtung angekündigt hatte, für die er bisjetzt weder Fabel noch Idee habe. Er setzte sich zum Schreiben nieder. Da fand sich zu dem Namen ein Mann. Aus der Erinnerung an die Erzählungen seiner Mutter tauchte das Bild jenes alten unheimlichen Weibes auf, das mit dem Hunde in menschenscheuer Abgeschiedenheit in der Hütte saß. Es verband sich mit Bildern der einsamen und schauerlichen Waldgründe, welche er oft durchstrichen hatte, und eine ergreifende Erzählung erwuchs, die der volksthümlichen Sage irgendeines Waldgebirges anzugehören schien.476
Wie ein Märchenheld maßt Tieck sich ein Zauberwort an und muß mit den daraus erwachsenden Kalamitäten zurechtkommen, bis ihm schließlich doch das Glück in den Schoß fällt. Aus der Assoziation des prima facie Unverbundenen, aus Namen, aus Erinnerungsfragmenten an Erzählungen und Erlebnisse entsteht analog zum Kompositionsprozeß der Genoveva (5.3.4) der Zusammenhang einer vergleichbar stimmungsvollen, assoziativen Erzählung. Der Autor der stimmungsvollen Prosa des Blonden Eckbert war schon früh selbst in jener märchenhaften „Stimmung“, die „Geschichte meiner Empfindungen und Ideen von meiner Kindheit an niederzuschreiben“477 – aus Wielands „Geschichte seines Geistes und seiner Schriften“ ist eine „Geschichte“ von „Empfindungen“ geworden, also eine Geschichte des Stoffs, aus dem „Stimmungen“ bestehen.478 Und diese Lebensgeschichte als Stimmungsgeschichte beginnt in der Kindheit und legt darauf einen besonderen Akzent479, weil hier ‚um 1800‘ der Schlüssel des Subjekts wie der stimmungslyrischen Modulation der Poesie verborgen liegt.480 Zu dieser Konstellation gehört die Wiederholungslektüre des eigenen Frühwerks wie dessen Archivierung. Der Rekurs auf sich selbst markiert gewissermaßen die sich als juristischer Sachverhalt durchsetzende Koppelung von Autor und Werk im Urheberrecht und demonstriert, daß der Autor seine Werke nie ganz veräußert und stets mit ihnen, wie locker auch immer, verbunden bleibt – Wielands, Goethes und Tiecks Autor- und _____________ 476 Köpke: Ludwig Tieck. Bd. 1, S. 210. 477 So Tieck in einem Brief an Wackenroder vom 12. Juni 1792 (zit. nach Dichter über ihre Dichtungen. Bd. 9/2, S. 79). 478 Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 372, 376, 479 So auch im späteren Konzept einer Autobiographie in einem Brief an Brockhaus vom 1. Februar 1838 (Dichter über ihre Dichtungen. Bd. 9/3, S. 131). 480 Hierzu und zum folgenden Kittler: Lullaby of Birdland.
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Werkmodelle und die korrespondierenden Aufmerksamkeiten entstehen im Streit um Autorschaft als Werkpolitik. Wenn Tieck in Das alte Buch und die Reise ins Blaue hinein die Novelle verfaßt, die ihn als Dichter hervorbringt481, und wenn dieser ironische Rekurs im Rahmen der Erzählung von literarischer Überlieferung als Fortschreibung der ‚alten Bücher‘ stattfindet, dann bildet Tieck in den entsprechenden Konfusionen der Abhängigkeiten, Bezüglichkeiten und Verantwortlichkeiten diese doppelte Ausrichtung von Autorschaft und Werkpolitik ab. Dies wird umso deutlicher, als Tieck in der Novelle vom ‚alten Buch‘ seine jugendlichen poetischen „Anklänge“ – den Gestiefelten Kater, den Zerbino, den Getreuen Eckart, den Blonden Eckbart und die Verkehrte Welt – ins Feld führt und darauf hinweist, daß nur diese Werke die vergleichbaren Werke eines Hoffmann oder Fouqué möglich gemacht haben.482 Das Plädoyer für eine auf sich selbst gestellte Poesie, die weder einem trockenen Philologismus noch einem lebensfernen Historismus, weder theologischen noch politischen Imperativen unterstellt wird483, lehnt allerdings ihrerseits die Ableitung der Dichtung aus dem „Geschichtliche[n], Politische[n], Historische[n]“ ab und erklärt sie zu einem irreduziblen Moment. Demjenigen „klingt das innerste Gemüt der Menschen entgegen“, der sich auf diesen „Standpunkt des Lebens“ versetzt habe. Aber diese Konstellation aus Perspektivismus („Standpunkt des Lebens“), aus Tiefsinnigkeit und Gestimmtheit („klingt das innerste Gemüt des Menschen entgegen“) bedeutet nicht, daß Tieck die Lust an Zusammenhängen verlieren würde. Vielmehr dürfte auch Tieck bei aller erzählerischen Ironie Athelstans poetisches Glaubensbekenntnis vertreten können: [...] was ich mir immer wünschte, war, das Innere der Welt, den Zusammenhang aller Begebenheiten zu verstehn und zu fühlen, selbst im Herzen zu erleben, was den Menschen nur als Historie oder Fabel vorübergeht, das Wunderbare wie ein Natürliches zu fassen, und im Gewöhnlichen [...] das Wunder zu sehn.484
Das echte Märchen mag sich zwar „nicht in das auflösen lassen, was wir vernünftig und folgerecht nennen“, aber es führt gleichwohl in jene biographische Urzelle, aus der sich dann ein ‚Leben‘ entwickelt.485 Damit setzt Tieck hier im übrigen auch den Wert der Schrift für die Verbreitung des momentan Unsinnigen in Szene: Die diversen Plädoyers _____________
481 Die Novelle schildert die Suche eines überraschenderweise poetisch begabten Philisters nach einem Märchenbuch, in dem die Geschichte der poetischen Inspirationsmächte geschildert wird. Von diesen Inspirationsmächten wird der Freund des Philisters – möglicherweise – berührt, woraufhin dieser Sternbald, Genoveva und Octavian schreibt. 482 Tieck: Werke in vier Bänden. Bd. 3, S. 1018. 483 So die Reihe der karikierten Leser, die sich zum ‚Alten Buch‘ verhalten (Tieck: Werke in vier Bänden. Bd. 3, S. 960ff.). 484 Tieck: Werke in vier Bänden. Bd. 3, S. 1021. 485 Tieck: Werke in vier Bänden. Bd. 3, S. 1017.
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für die Poesie führen in der Geschichte nämlich zu keinem Erfolg. Weder interessiert sich die über die Produktion von Butter zerstrittene Dorfgemeinschaft für das Wesen der wahren Dichtung, noch hält das Bündnis zwischen Menschen- und Feenwelt, das die Welt poetisiert, auf Ewigkeit. Aber das Verbreitungsmedium Schrift erhöht die Chancen, daß sich dennoch Leser finden, die den Sinn im Unsinn sehen oder die es interessant finden, sich mit Unsinn auseinanderzusetzen – und seien es nur TieckPhilologen, die, wie der altdeutsche Professor in der Novelle selbst, die Schriften von Tieck so lassen wollen, wie sie sind: mit allen Schreibfehlern, unbegreiflichen Stellen und Lücken.486 Die romantische Ironie als ein Effekt der Etablierung von Negativität paßt in diese Konstellation, weil sie wie die musikalisierte Stimmungspoesie auf der Temporalisierung des Kunstwerks gründet487 – im 42. LyceumFragment verortet Schlegel sie im „Innern“ in der „Stimmung, welche alles übersieht“.488 An dieser Stelle wird auch deutlich, daß die werkpolitische „Stimmung“ zwar viele Momente von Temporalisierung aufweist, daß zu ihr aber auch Intuition und damit die instantane Wahrnehmung gehört. Diese momentanistische Einstellung scheint indes eher einen Raum zu eröffnen, der dann in der Zeit ausgefüllt werden kann. Zumal für Tieck scheint dies wichtig zu sein, dann er überführt die Poesie in die Unvorhersehbarkeit und Unplanbarkeit von sich selbst regulierenden „Empfindungsreihen“,489 also wieder in den Stoff, aus dem die Stimmungen sind. b) Die Ironie der Philologie Für die ironische Aufmerksamkeit läßt sich mit Rudolf Hayms Romantischer Schule (1870) exemplarisch eine philologische Spiegelung der poetischen Gestimmtheit finden. Haym geht es darum, „das Wesen dieser Richtung durch eine rein geschichtliche Betrachtung ihrer Anfänge möglichst in‘s Klare zu bringen“, und dies vor dem Hintergrund des schlechten Leumunds der Romantik in einer auf Fortschrittlichkeit abonnierten Zeit.490 Gerade diese Zeit-„Stimmung“491 jedoch, so Haym, eigne sich zu seinem Unterfangen, denn auch „das gehört zu den Pflichten dieser fortschrittslustigen Zeit, sich volle Klarheit über die Vorbedingungen ihrer Entwick_____________ 486 487 488 489 490 491
Tieck: Werke in vier Bänden. Bd. 3, S. 960. Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik, S. 368f. F. Schlegel: Charakteristiken und Kritiken I, S. 152. Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik, S. 399. Haym: Die romantische Schule, S. 3. Haym: Die romantische Schule, S. 4.
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lung, über die aus früheren Tagen ihr überkommene geistige Erbschaft zu verschaffen“.492 Dabei kann er sich in einen größeren Forschungszusammenhang einordnen, der durch Gervinus, Hettner, J. Schmidt und Koberstein der „historischen Erklärung“ der Romantischen Schule noch in seiner Romantik-Kritik zugearbeitet hat.493 Kurz: Haym stellt sich in die Reihe derjenigen Selbstbestimmungen des 19. Jahrhunderts, die das Spezifikum ihrer Zeit in einer veränderten, historisch orientierten Aufmerksamkeitskultur sehen (5.4.2 a). Sein eigenes Projekt profiliert Haym dabei durch die Aufnahme romantischer und nach-hegelianischer Aufmerksamkeitsmotive, die nicht als solche kenntlich gemacht werden: Er zielt darauf, „tiefer“ als die Forscher vor ihm bei der Analyse der Romantischen Schule zu dringen, und dies bei einem „Gewebe“, das „inniger“ als in anderen Teilen der „Geschichte“ verflochten ist.494 Diese Innerlichkeit, die von der kritischen in die philologische Kommunikation übertragen wurde, soll ihm helfen, die literarischen Werke als nicht stillstellbaren Treffpunkt allgemeiner „Ideen“ mit der „Eigenart von Individuen“ zu bestimmen: Nur einzelne Kreuzungs- und Knotenpunkte gleichsam der durcheinanderschießenden Fäden sind die schriftstellerischen Werke. Nur scheinbar setzt sich in ihnen die zwiefache Bewegung des allgemeinen und inviduellen Geistes zu einem festen Niederschlag ab. Diese Werke nach rückwärts und vorwärts, nach ihrer Entstehung und ihren Wirkungen flüssig zu machen, ist die eigentliche Aufgabe der Geschichtsforschung. [...] Daß diese Aufgabe nur annährend gelöst werden kann, ist selbstverständlich. Denn dem Acte des Schaffens selbst können wir weitaus in den meisten Fällen nur durch Vermuthungsschlüsse nachkommen [...].495
Diese Beschreibung einer fluktuierenden Werkverfassung liest sich wie eine Reprise der Bestimmung des ironischen Werks in den Schriften Friedrich Schlegels oder Tiecks, und wie bei diesen so spiegelt sich auch die Beschäftigung mit einem ironischen Werk in der Ironie der Darstellung dieses Werks. So, wie der Kritiker weiß, daß er virtuell kritisiert werden wird, so schreibt auch der Literaturhistoriker, zumal im 19. Jahrhun_____________ 492 493 494 495
Haym: Die romantische Schule, S. 4f. Haym: Die romantische Schule, S. 5ff. Haym: Die romantische Schule, S. 8. Haym: Die romantische Schule, S. 9. Konkret heißt das, daß Haym die historische Aufgabe der Romantischen Schule bestimmt, und zwar als Durchführung, Verbreitung und Verlebendigung der von der Sturm und Drang-Generation zur Verfügung gestellten Optionen. Hier hätten die Romantiker den „Hebel für ihre Wirksamkeit“ ansetzen können. Dabei beginnt Haym mit Tieck, weil bei diesem „gewisse Grundzüge des Romantischen, wenn auch nicht am kräftigsten und schärfsten, so doch am frühesten, unmittelbarsten und mit der selbständigsten Triebkraft zum Vorschein“ kommen (Haym: Die romantische Schule, 13f.).
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dert, seine Monographien unter der Bedingung eines Überbietungsbetriebs. Die Philologie des 19. Jahrhunderts vermag eine Leitdisziplin des Wissenschaftssystems zu werden, weil sie sich die modernen Maßgaben von Prozessualisierung, Entautorisierung und Spezialisierung zu eigen macht.496 Haym dokumentiert diesen Zustand im Vorwort, wo er die Neuerscheinungen behandelt, die ihm bei Abschluß seines Werks in die Hände gefallen seien, und wo er als Lösung des Dilemmas prinzipieller Vorläufigkeit den angefügten Anhang vorstellt. Auch ein Bauherr jedoch, der sich plötzlich um das Doppelte reicher findet, wird nicht sogleich die schon aufgeführten Mauern wieder einreißen: er mag sich, wenn er nun seinen Plan erweitert, wenn er von Stund‘ an höher und stattlicher zu bauen anfängt, mit einem Anbau behelfen, der das alte und das Neue so leidlich in Übereinstimmung bringt – genug, wenn das Ganze nur vollständig und zweckentsprechend wird.497
Auch dieser Anhang löst freilich die Probleme nicht wirklich, denn: „[...] man fange nur einmal an, nachzutragen und zu verbessern, so findet man schwer ein Aufhören“498, und dies zumal dann, wenn man weiß, daß „Partien meiner Geschichte [...] lückenhaft und berichtigungsfähig erscheinen“, wenn weitere in Arbeit befindliche Editionen vorliegen werden. „Morgen oder über‘s Jahr mag wieder eine andre Publication erscheinen. Stückwerk ist und bleibt eben jede historische Darstellung, und wollte Gott die meinige wäre es aus keinem andern Grunde, als wegen solcher zufälligen und äußeren Lücken!“499 Anders gesagt: Haym verhandelt jene ironischen Strukturen, gegen die sich die Historiographie des 19. Jahrhunderts zunächst gewendet hatte und die gegen dessen Ende wiederkehren. Die Reaktion darauf war, so Hayden White über Benedetto Croce, der neuerliche Versuch, über die „Tiefenstruktur“ die Ironie zu bewältigen, was allerdings ihrerseits zu einer „höchst ironischen“ Haltung führte.500 Zur Ironie gehört indes nicht nur das Gestimmt-Sein der Aufmerksamkeit und die Bereitschaft zur per se möglichen Selbstüberholung, sondern dazu gehören gleichermaßen die Verfahren einer permanenten Desillusionierung. Auch sie lassen sich als Unternehmen ‚verstehen‘, die der philologischen Haltung korrespondieren. Um nur kurz auf Die sieben Weiber des Blaubart (1797), Winfried Menninghaus’ Exempel für die Unsinnspoesie Tiecks501, einzugehen: Das ‚Märchen‘ beginnt mit einer zweifellos _____________ 496 497 498 499 500 501
Dainat: Überbietung der Philologie, S. 233. Haym: Die romantische Schule, S. XVf. Haym: Die romantische Schule, S. XVI. Haym: Die romantische Schule, S. XVI. White: Metahistory, S. 60ff. Menninghaus: Lob des Unsinns, S. 92ff.
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ironischen, sich selbst aufhebenden Exordialsequenz zur „Moralität“. Darin behandelt es Probleme, die sich auch aus dem Multiperspektivismus der kritischen Kommunikation und der daraus folgenden Philologisierung und Historisierung der wertenden Perspektive ergeben, daß nämlich „einem raffinirenden Kopfe gerade das höchst moralisch vorkommen kann, was der gewöhnliche Dilettant der Moralität schändlich nennen würde“ – nicht umsonst fügt Tieck hinzu: „[...] wie es bei allen übrigen Künsten geht, daß man nur dadurch Kenner wird, in dem man den einseitigen Enthusiasmus verliert, so auch hier“ (S IX, 89). In Goethe und seine Zeit sorgt sich entsprechend der „Historiker“ um den Verlust der Urteilskompetenz durch eine auf möglichen Irrtum, Standpunktvariabilität und entsprechendes Autor-Verstehen abonnierte Haltung. Er bezieht die Probleme auf die Beurteilung des ‚Wahnsinnigen‘ und des ‚Verbrechers‘ und kommt zu dem Schluß, daß der Verlust der ästhetischen Unterscheidungsfähigkeit den „Tod“ bedeute (KS II, 219f.). Wenn Die sieben Weiber des Blaubart mit Menninghaus als Vermittlung von Lesemoral gedeutet werden können502, dann vielleicht auch in dem Sinn, daß die beständige Erwartungsenttäuschung durch das Spiel mit Gattungsvorgaben und entsprechenden spannungserregenden Verfahren ein Lesen provoziert, das von eigenen Interessen absieht und sich dazu bereit zeigt, eine ‚unsinnige‘ Erzählung von rund 160 Seiten durchzuhalten. Dieses Durchhalteprogramm ist zugleich Gegenstand der BlaubartGeschichte: Peter Berner, die Titelfigur des Märchens, erhält die Möglichkeit, über das „Glück“ und „Unglück“ seines Lebens frei zu entscheiden – er wünscht sich „Glück gegen [s]eine Feinde“ sowie das „Unglück mit den Weibern“ (S IX, 112f.). In die Abfolge der sieben Morde an Berners Frauen wiederum flicht Tieck einen Wettstreit von Erziehern, der ein Wettstreit um die Formung von Biographien und zugleich um die Formung von Geschichten ist: Um Berner kümmert sich Bernard, dem es nicht gelingt, sein Erziehungskonzept bei seinem Zögling umzusetzen und dem entsprechend auch das Erzählprogramm mißlingt. Ihm steht Almida gegenüber. Ihr Vorwurf an Bernard, in dem sie den „Vorläufer und Ankündiger aller schlechten Schriftsteller“ erkennt, lautet: Du bildest Dir ein, Mannigfaltigkeit und Einheit zugleich [in einen „Lebenslauf“] hineinzubringen und hast von beiden keinen deutlichen Begriff. Deine Mannigfaltigkeit ist zu einfach und in Deiner Einheit steckt immer noch eine willkührliche Mannigfaltigkeit; für den vernünftigen Beschauer ist ein besserer Zusammenhang in dem unzusammenhängendsten Lebenslaufe. (SW IX, 105)
_____________ 502 Menninghaus: Lob des Unsinns, S. 124, auch S. 160f.; zur Erziehung des Lesepublikums vgl. auch die Konzeption der Minnelieder-Ausgabe, die auf eine Erhellung der gegenwärtigen Stimmungspoesie durch eine in der Bearbeitung erzeugte mittelalterliche Stimmungspoesie zielt – Brinker-Gabler: Poetisch-wissenschaftliche Mittelalter-Rezeption, S. 107f.
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Bernards Angebot gegen Ende der Erzählung, daß sich „Beide zusammen thäten, um diese Lebensgeschichte fortzusetzen“, lehnt Almida ab (S IX, 236). Das Blaubart-Märchen vermittelt in seinem Verlauf genau diese Botschaft: Die Erzählung soll insofern eine Geschichte ohne „Zusammenhang“ sein, als sie die Schematismen der konventionellen Handlungsführung bloßstellt. Widersprüchlichkeiten, Leerstellen und Willkürlichkeiten sind also ‚gewollt’. Diese Lehre, die die Erzählung in ihrem Vollzug dem Leser vermittelt, reflektiert die Erzählung, die ohnehin ausufernd Gebrauch von ironischen Einmischungen des Erzählers macht, auch inhaltlich: Berner ist für seine eigene ‚Geschichte’ verantwortlich und setzt sich damit gegen Bernard durch, der gern Autor des ‚Lebens’ von Blaubart geworden wäre und dieses zu einem kontinuierlichen kausalgenetischen Zusammenhang geordnet hätte – der Eigensinn Berners verdirbt Bernard „das ganze Conzept“ und bringt ihn zur „Verzweiflung“ (S IX, 188; vgl. auch S IX, 105f., 112f., 236). In diesem werkpolitischen Streit der narrativen Konzepte und verschiedenen Autorschaften um die Herrschaft exemplifiziert der Erzählverlauf zugleich die Selbstlimitierung des Kunstwerks, das sich zwar von den von außen herangetragenen Maßgaben der Wahrscheinlichkeit und Folgerichtigkeit befreit, damit aber einen eigenen Zwang produziert.503 Das Blaubart-Märchen trägt in sich die Aporien der kritischen Kommunikation aus und fordert in der Performanz dieses Austrags ein philologisches Aufmerksamkeitsverhalten. Auf die Kritik kann die Erzählung daher verzichten, weil sie bereits von deren Problemen durchdrungen ist: Als sich ein koboldartiges „kleines Wesen“ Blaubart andient, lehnt dieser das Angebot ab. Es handelt sich bei dieser Figur „gewissermaßen“ um den „Teufel“: die Kritik, die über sich sagt: Ich hetze die Gelehrten an einander, ich erfinde die Lesarten und Conjecturen, um die sie nachher so laute Kriege führen, ich bin derjenige, der die Stellen in die alten Autoren hineinhext, in denen die größten Männer hängen bleiben, ich erfinde die Abhandlungen über Nichts, ich wäre mit einem Worte ein wahrer Teufelskerl, wenn ich nicht gewissermaßen der Teufel selber wäre. […] meine größte Freude […] aber ist eigentlich das Rumormachen, daß ein Spectakel um nichts entsteht, daß ich ein großes Lärmen mache, und man nicht weiß, was herauskommen soll, und am Ende auch wirklich gar nichts herauskommt, daß es weit in die Welt hineintöset, und doch gar nichts zu bedeuten hat. (S IX, 222f.).
Der Kobold versteht nicht, warum Blaubart ihn nicht gebrauchen kann: „Was verlangt ihr mehr, und was thut ihr Menschen denn mehr?“ Er habe _____________ 503 Das Werk folgt keiner ihm vorausliegenden „Skizze“, sondern „ein Wort giebt das andre, ein Held lockt den andren hervor“ und dadurch ‚steckt’ der Erzähler „in der Erzählung“ und „muß“ seinen Vorgaben gemäß fortfahren (S IX, 185ff.; vgl. auch S IX 148).
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dieses „dumme Wesen“ bei den Menschen gelernt, um sich bei ihnen „beliebt zu machen“ (S IX, 223). Immerhin läßt Berner eine zukünftige Anstellung offen. Die Kompetenzen eines Beobachters, der den Sinn des Unsinnigen erkennt, werden ebenfalls beiläufig entwickelt. Dafür ist es von Bedeutung, daß Berner seine Frauen durchweg aus demselben Motiv ermordet: Da er sich durch eine „gewisse Blödsinnigkeit“ auszeichnet (SW IX, 114) erhält er von einer Fee einen „bleiernen Kopf“, der ihm durch weise Ratschläge die richtige Lebensführung ermöglicht (S IX, 121). Regelmäßig vertraut Berner seinen Frauen den Schlüssel für den Aufbewahrungsort seines Ratgebers an mit der Auflage, diese nicht zu benutzen. Wie zu erwarten, reizt gerade dieses Verbot zu seiner Mißachtung und provoziert die Serie von Totschlägen. Daß heißt: Der zusammenhangslose Zusammenhang der Geschichte über biographische und künstlerische Selbstbestimmung, über Erziehung, Autorschaft und die Komplizierung der Ganzheitskompetenz ist zugleich ein freies Phantasiespiel über die Problematik einer externen Reflexionsinstanz. Die affektive, ungesteuerte Handlungsweise Berners und die Auslagerung einer inneren Richtinstanz behandelt bei allem Unsinn der Handlung doch sehr genau Irritationen der Subjektbildung ‚um 1800’. Das bereits erwähnte erste Kapitel der Blaubart-Geschichte ist daher eine doppelte ironische Volte gegen die „Moralität“, und zwar einerseits als externe Reflexionsinstanz, andererseits als systemfremde Vorgabe für die Poesie. Daß man „bei’m vielen Denken“ leicht „konfus“ werde und „plötzlich, ohne daß man wisse, wie es geschehe, unmoralisch“ handle (S IX, 89), weist ja zunächst nur darauf hin, daß moralisches Handeln unabhängig vom Denken funktionieren sollte. Insofern blendet Tieck hier jene Anthropologie der Stimmung ein, die auf eine ebenso unauffällige wie konstante Weise die Ordnung des Handelns sichert (5.3.4). Anders gesagt: Die Ästhetik, Anthropologie, Medialität oder Soziabilität der Stimmung etabliert sich an der Grenze von Visibilität und Invisibilität, auf der sich auch die Ausbildung des Subjekts bewegt.504 Das Subjekt wird sichtbar, indem es seinen Grund im Unsichtbaren und im Umgang mit Unsichtbarem findet. Gerade wenn Unordnung einkehrt, wenn also die Ordnung nicht mehr einfach sichtbar ist, wenn – um es mit Friedrich Schlegel zu sagen – „die Ironie wild wird, und sich gar nicht mehr regieren läßt“505, dann zeigt sich die Regierungskunst des Subjekts, seine ‚Gouvernementalität‘.506 _____________ 504 Vgl. dazu Hegels Musiktheorie und Goethes Farbenlehre: Kittler: Goethes Gabe, S. 164ff. 505 F. Schlegel: Über die Unverständlichkeit, S. 369. 506 Lemke / Krasmann / Bröckling: Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologien.
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Schlegel beschreibt diese Funktion der Invisibilisierung in seinem Essay Über die Unverständlichkeit: Aber ist denn die Unverständlichkeit etwas so durchaus Verwerfliches und Schlechtes? – Mich dünkt das Heil der Familien und der Nationen beruhet auf ihr [...]. Ja das Köstlichste was der Mensch hat, die innere Zufriedenheit selbst hängt, wie jeder leicht sehen kann, irgendwo zuletzt an einem solchen Punkte, der im Dunkeln gelassen werden muß, dafür aber auch das Ganze trägt und hält, und diese Kraft in demselben Augenblicke verlieren würde, wo man ihn in Verstand auflösen wollte.507
Es ist eben nicht nur Ironie, wenn Tieck, wie zitiert, behauptet, auf dem Feld der „Moralität“ gebe es so „wunderbare Seiten“ und „seltsame Ansichten, daß einem raffinirenden Kopfe gerade das höchst moralisch vorkommen kann, was der gewöhnliche Dilettant der Moralität schädlich nennen würde“ (S IX, 89),508 denn genau dies ist die Quintessenz vieler Geschichten von Gesetzesbrechern ‚um 1800‘: Die Befehlsverweigerer und Verbrecher, die Götz von Berlichingens, Christian Wolfs und Friedrich von Homburgs können gerade als Kriminelle funktionierende Moralität exemplifizieren, weil sie sich außerhalb des Gesetzes und der Verordnungen stellen. Sie demonstrieren, von der Möglichkeit eines Justizirrtums einmal ganz abgesehen (KS II, 137), daß Gesetze Verbrechen nicht verhindern, daß im Gegenteil gerade das Justizsystem Verbrechen provoziert und daß deshalb dem Menschen Moralität unabhängig von den Gesetzen und unabhängig von offensichtlicher Machtausübung und Beobachtung von seiten des Staates und seiner Instanzen implementiert werden muß.509 Das Gesetz setzt sich selbst voraus, kann diese Selbstvoraussetzung aber aus naheliegenden Gründen nicht begrifflich einholen.510 Es ist daher das _____________ 507 F. Schlegel: Über die Unverständlichkeit, S. 370. Vgl. dazu Kall: „Wir leben jetzt recht in Zeiten der Fehde“, S. 357ff, insbes. S. 361f. Schlegels Vorschlag, den Leser zu steuern, paßt in dieses Bild. Im 112. Lyceum-Fragment heißt es: „Der synthetische Schriftsteller konstruiert und schafft sich einen Leser, wie er sein soll; er denkt sich denselben nicht ruhend und tot, sondern lebendig und entgegenwirkend. Er läßt das, was er erfunden hat, vor seinen Augen stufenweise werden, oder er lockt ihn es selbst zu erfinden. Er will keine bestimmte Wirkung auf ihn machen, sondern er tritt mit ihm in das heiligste Verhältnis der innigsten Symphilosophie oder Sympoesie“ (F. Schlegel: Charakteristiken und Kritiken I, S. 161). Mit der Schlußwendung schließt Schlegel die Befreiung des Lesers, die gestimmte Kommunikationsordnung und die Tiefsinnigkeit an ein unmittelbar politisch lesbares Vergemeinschaftungsprojekt an, das als Werkpolitik im eigentlichen Sinn gelesen werden kann. 508 Vgl. dazu auch den Brief an Wilhelmine Hallwachs vom 5. August 1838: „[...] wie oft ist mein ganzes Herz über schroffe Unmoralität empört, wo andre bewundern und sich erbauen und bessern“ (zit. nach Dichter über ihre Dichtungen. Bd. 9/1, S. 280). 509 Verf.: Staatskunst; ders.: Verbrechen lohnt sich; zu ‚Gesetzen’ als „Funktionsweisen“, die „Gesetze […] überflüssig machen“ vgl. Vogl: Kalkül und Leidenschaft, S. 286. 510 Derrida: Gesetzeskraft, zum „mystischen Grund der Autorität“ insbes. S. 24. Zur Funktion der Poesie, den blinden Punkt der Autorität sichtbar zu machen, vgl. Frank u. a.: Des Kaisers neue Kleider, S. 80.
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Funktionieren des Gesetzes selbst, daß die Gesetzmäßigkeit des Gesetzes beglaubigt.511 „Moralität“ als externe Reflexionsinstanz verhindert damit das reibungslose Fluktuieren und die soziale Zirkulation wie die „Recensionen“. Dies gilt allerdings nur, wenn man Kritik als Selektions- und Letzturteilsinstanz versteht. Der größte Teil der bewohnten Welt hat nun auch eingesehn, daß die Moralität zwar an sich etwas Vortreffliches sey, daß sich jeder Mensch auch kennen lernen müsse, eben so, wie er Recensionen lesen muß, um im Stande zu seyn, ein Urtheil zu fällen, oder um sich wenigstens vor allem Moralischen zu hüten. Die Moralität ist nichts weiter, als das unbeholfene eiserne Geld der Spartaner, das allen Handel unmöglich machte [...]. (S IX, 91)
Aber wie die „aufgeklärte Welt“ ihren „Handel und Wandel“ auf „das gestempelte Gold, oder das Papiergeld der Klugheit“ umgestellt hat, so bedeutet in ihr auch die Kritik keine Blockade mehr; auch sie ist nicht mehr als „Papiergeld“, ein Wechsel, der an sich keinen Wert hat und dessen Bedeutung nur im Austausch liegt.512 Was im juridischen Diskurs Probleme bereitet, läßt sich im ökonomischen Diskurs eher thematisieren, daß nämlich die wirtschaftlichen Kreisläufe auf „Knappheit, Mangel und Schuld“ beruhen und daß die „Schuld“ des Subjekts seine Triebfeder bildet.513 So wie das Geld sich in der Verwendung beglaubigt, so beglaubigen sich die Kritiken in ihrem Vollzug, weil es hier wie dort keine externen, absoluten und stabilen Kriterien gibt, die Werte absichern könnten. Mit Schiller formuliert: Bei der Anarchie, welche noch immer in der poetischen Kritik herrscht, und bei dem gänzlichen Mangel objektiver Geschmacksgesetze befindet sich der Kunstrichter immer in großer Verlegenheit, wenn er seine Behauptung durch Gründe unterstützen will; denn kein Gesetzbuch ist da, worauf er sich berufen könnte. Will er ehrlich sein, so muß er entweder gar schweigen, oder er muß (was man auch nicht immer gerne hat) zugleich der Gesetzgeber und der Richter sein.514
_____________ 511 Derrida: Gesetzeskraft, S. 11f. 512 Zur romantischen Poetik der Ökonomie vgl. Vogl: Kalkül und Leidenschaft, S. 255ff, insbes. S. 264f.; zu Tieck vgl. Mix (Kunstreligion und Geld), der jedoch insbesondere die Unvereinbarkeit von Ökonomie und Ästhetik hervorhebt (z. B. S. 249). 513 Vogl: Kalkül und Leidenschaft, S. 281. Tiecks Fortunat, das eigens für den Phantasus verfaßte Drama, ist ein Drama der Monetarisierung der Welt ist (Scherer: Witzige Spielgemälde, S. 455ff.): Die generische, überindividuelle Ordnung der Vormoderne löst sich in der Diffusität der modernen Tauschbeziehungen auf; gleichzeitig ordnet Tieck das Drama dieser Ordnungsauflösung dem Werk zu, das seine autorschaftlichen Besitzansprüche am eigenen Frühwerk durch Selbstedition und Selbstbearbeitung in Szene setzt.. Zur Werkgeschichte im Phantasus vgl. ebda., S. 467f. 514 An Goethe am 7. Sept. 1794 (Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, S. 48).
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Wenn dann ein Kritiker des Kritikers nach der Legitimität der Gesetze fragt, die dieser Koppelung von Gesetzgebung und Gesetzessprechung zugrunde liegt, dann kann der kritisierte Kritiker nur mit machtvoller Geste entgegnen, daß es dem Kritiker des Kritikers lediglich um „die Anwendung der vom Rez. aufgestellten Grundsätze auf seine Gedichte“ gehe dürfe, nicht aber darum, „diese Grundsätze selbst zu bestreiten, die er im Ernst nicht wohl leugnen, nicht mißverstehen kann, ohne seine Begriffe von der Kunst verdächtig zu machen” (5.3.2 u. 5.3.3).515 Vor diesem Hintergrund versteht sich dann auch Tiecks Vermittlung von Lesemoralität im Gewand eines Plädoyers für Kunstautonomie. Die „Moralität“, so Tiecks Modell, verliere ihre gesellschaftliche Funktion und werde daher ins Reservat der Poesie verbracht, wo Dichter nun „Nutzen“ stiften können (S IX, 91f.). An dieser Stelle blendet Tieck den juridischen und den literarischen Diskurs ineinander: Außer der Moral muß auch noch die poetische Gerechtigkeit beobachtet werden, und hierin lassen sich oft sonst löbliche Schriftsteller zu Fehlern verleiten, weil sie nicht das Criminalgesetzbuch der Kunst genug im Kopfe haben. Es wundert mich um so mehr, da diese Gesetze so einfach sind; denn da es ohne Tod und Ermorden in den Büchern nicht hingeht, so muß der Schuldige seinen Tod verdienen, und der Unschuldige, der stirbt, muß wenigstens den Mörder so viel Gelegenheit zur Reue und Zerknirschung vor dem Gnadenstoß auf dem letzten Blatte geben, daß der Leser selbst die Hinrichtung beschleunigt wünscht. In allen diesen Sachen hat sich der sonst vortreffliche Peter Lebrecht in seinem Stücke: Ritter Blaubart, vergangen; denn weder die poetische Justizpflege, noch Moralität herrschen hinlänglich darin. Die Richter des heimlichen Gerichts, die Recensenten, die über Beides wachen, werde es ihm schon vorrücken [...]. (S IX, 93f.)
Tieck beklagt an dieser Stelle nicht allein die Zweckentfremdung der Poesie an sich, sondern die Inkonsequenz, mit der die sozial funktionslose Moralität der Poesie zugewiesen wird. Sobald nämlich die Zurichtungen klar werden, mit denen die Moral durch Poesie vermittelt werden soll, verliert diese Vermittlung ihre Unauffälligkeit, die die Ökonomie der Moral bestimmen muß.516 Politisch und – aufgrund der poetischen Vermittlung auch werkpolitisch – ist diese Ökonomie der Moral, weil sie auf der Nichtanwendung von Sanktionen, auf Gehorsam bzw. Selbstverpflichtung basiert.517 Daher ist die Blaubart-Geschichte ein „Opferfest“, „um den Leser zu bessern“. Der Erzähler wird „nicht unterlassen, ihn auf seine Laster aufmerksam zu machen“ (S IX, 94), und zwar als Leser. Tieck will performativ eine Moral _____________ 515 Schiller: Sämtliche Werke. 5. Bd., S. 988f. 516 Vogl: Kalkül und Leidenschaft, S. 268. 517 Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, S. 47f.
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des Lesens vermitteln, die der Handlungsmoral in der „aufgeklärten Welt“ auch tatsächlich angemessen ist. Aus diesem Grund beginnt dann auch das zweite Kapitel des Blaubart über den „Anfang der Geschichte“ gleich mit einer entsprechenden Lehre: „Nichts ist gewöhnlicher, als eine Geschichte auf eine recht wunderliche Weise anzufangen“ (S IX, 95). Der Leser, so Tiecks Beobachtung, unterlaufe indes die Verwirrungsabsicht des Autors, indem er die letzte Seite aufschlage und sich dadurch orientiere. Auf diese Weise sei er „im Stande, sich über alle Finten des Verfassers hinwegzusetzen“ (S IX, 96). Tieck faßt zusammen: „So sucht der Autor den Leser und der Leser den Autor zu überlisten, und der Letztere scheint nach meiner Meinung den Sieg davon zu tragen“. Im Fortgang des Passus bezieht Tieck sich inhaltlich auf den Leser – „der Dichter mag [...] den Leser mit noch so viel Kunst in medias res versetzen, der Leser weiß doch, daß Alles nur Spaß ist, und daß er schon aus dem Ganzen, aus Plan und Anlage klug werden wird“ (S IX, 96). Argumentativ also behält der Leser die Oberhand, syntaktisch aber bezieht sich der „Letztere“, der „den Sieg“ davon trägt, auf den „Autor“. Wer also gewinnt bei Tieck? Und: Gelingt es Tieck, dem Leser Aushaltestrukturen einzuprägen, die für den Erhalt der Spannung bis zur letzten Seite notwendig sind? Von hier aus gesehen geht es nicht einfach um die Subversion der Psychologie und Philosophie der Selbstidentität und Subjektbildung, die insbesondere am Faible für Motivationen und Kausalgenesen in der Spätaufklärung erkennbar wird.518 Performativ subvertiert Tieck seine Subversion wieder, indem diese der Ausbildung von Aushaltestrukturen dient, dem Umgang mit der Enttäuschung von stabilem Sinn oder sogar von Unsinn, mit der Desillusionierung von Finalitätshoffnungen, mit der Ernüchterung angesichts der stets möglichen Überholung der genauen und umfassenden Lektüre. Genau damit wird freilich eine „Frustration“ prolongiert, „die dem Diskurs des Subjekts eigen ist“ (2.1).519 Die Plötzlichkeit, das Unzusammenhängende und Diskontinuierliche des ‚Schwindels‘ ist nur eine Drehung mehr im Streit um die Visibilität des Invisiblen, nur eine andere Herausforderung der Aufmerksamkeit, auf die diese eben mit ‚andersartigen‘ Verfahren der Einheitsbildung reagiert.520 Daß die ‚Einheiten‘, deren Ausbildung durch ein solches Leserverhalten unterstützt wird, über das Ästhetische hinausgehen, hat Tieck m. E. überraschend deutlich gemacht. Die Erforschung der Zeit- und Nationalgeschichte bedeutet nicht allein thematisch, eine „Gesellschaft von ächten Patrioten“ zu „bil_____________ 518 Bong: Texttaumel, S. 16ff.; zur Kritik an Menninghaus, dem Bong die „willkürliche Sistierung der Kritik, die potenziert immer Kritik der Kritik sein muß“, anlastet, vgl. ebda., S. 71. 519 Lacan: Schriften I, S. 87. 520 Dies im Unterschied zu Bong: Texttaumel, S. 20f.
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den“. Diese Ausbildung erfolgt bereits durch die Aufmerksamkeitsinvestition in „Mühseliges und Kleinliches“, durch die Art und Weise der Aufmerksamkeitsverteilung (KS II, 252). Tiecks poetische Hinweise auf den Zufall, seine Inszenierung von Kehrungen, überraschenden Wendungen und unvorhersehbaren Umbrüchen, seine ironische Zurschaustellung der Konstruktionsleistung, die sich hinter der Visibilisierung zusammenhängender Lebensläufe verbirgt, dies alles desavouiert eine Form der Einheitsbildung, ohne eine andere Einheitsbildung per se auszuschließen, und dies schon deswegen, weil im Prozeß der Etablierung von Negativität immer unklarer wird, was als Einheit gelten darf. Im Kampf zwischen Leser und Autor um die Macht über den Plot, in dem der Leser bei einem gängigen Handlungsmodell durch Aufschlagen der letzten Seite den Finalzusammenhang des „Ganzen“ vorab entschlüsselt und dadurch „den Sieg“ davonträgt, gewinnt Tieck. Sollte also die Erziehung zum Unsinn durch den frühromantischen Tieck eine Vorschule der Philologie sein? Sehen konnte man bei Tieck – um kurz zu resümieren –, daß das Politische an der Werkpolitik sich gerade im Medium einer autonomisierten Poesie entfaltet, weil diese psychische Dispositionen, Handlungsmuster und Anschlußmöglichkeiten in einer paradigmatischen Weise erstens thematisiert, zweitens ihren Verfahren einbildet und drittens im Vollzug vermittelt. Damit wurde ebenfalls deutlich, wie komplex die Umstellungen in der Aufmerksamkeitskultur sind, die neben und über die kritische Kommunikation hinaus das bedingen, was ich unter philologischer Kommunikation führen möchte: die Textaufmerksamkeit für das Kleine wie für die großen, unübersichtlichen und diffusen Zusammenhänge sowie die Intimisierung der literarischen Kommunikation, die sich gerade aus der Abstraktion fernkommunikativer Zusammenhänge ergibt. Solche und andere Kombinationen zunächst widersprüchlicher Phänomene gehören zur Werkpolitik vor allem deswegen, weil das Werk in seiner autorschaftlichen Orientierung als Lebenswerk die Aufmerksamkeit gleichermaßen zentriert wie dezentriert. Noch einmal: Genau dann, als ein auf vielfältige Weise historisches Interesse die Grenzen des Werks immer unschärfer werden läßt, bildet sich ein emphatisches Werkkonzept heraus, das eine enorme Gravitationskraft entwickelt, das Zeit, Aufmerksamkeit und Gefühle verschlingt und dies unter der Hand mit einer immer weiter ansteigenden Unsicherheit entgilt. Wichtig ist also: Die philologische Kommunikation senkt nicht die Unsicherheiten der kritischen Kommunikation, die in der ‚romantischen Kritik’ ausgestellt werden. Sie bietet aber mehr Möglichkeiten, damit produktiv umzugehen, ohne auf die kontrafaktische Unterstellung stabiler
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Standpunkte zurückgreifen zu müssen. Die philologische Kommunikation findet ihren Entfaltungsraum in der Unsicherheit nicht zuletzt deswegen, weil sie Zurückhaltung und Enttäuschungsresistenz durch die Ausnutzung von Zeit produktiv machen kann. Was bei Cramers protophilologischer Arbeit am Werk Klopstocks bereits in der kritischen Kommunikation rudimentär sichtbar wurde (5.2), wird nun allmählich zum Projekt: die Ausbildung eines dauerhaften, auf stetige Reversibilität gegründeten Beobachtungszusammenhangs, der sich gleichermaßen in der Kombinatorik philologischer Mikrologie wie in den Überholungsfiguren literaturwissenschaftlicher Synthesen oder eines multiperspektivischen Methodenpluralismus ausprägen kann (6.4 c). Das Konzept der „Stimmung“, das an sich als wichtiger poetologischer Terminus nicht neu ist,521 erweist in diesem Zusammenhang seine konzeptionelle Tragweite und verdeutlicht die diskursiven Verschaltungen: Der Leser muß sich auf das stimmungsvolle Werk einlassen und wiederholte Lektürearbeit investieren; und gerade dadurch zeigt er die Trennungen zwischen Autor und Werk auf der einen und dem Rezipienten auf der anderen Seite. Ebenso gilt: Das stimmungsvolle Werk vertritt eigensinnig nichts weiter als sich selbst und wird gerade dadurch zum Attraktionspunkt für ein ausschweifendes Interesse, das sich den historischen Stimmungen hingibt. Dieses Widerspiel von Diffusität und Konzentration, von Dezentrierung und Zentrierung der Aufmerksamkeit spiegelt paradigmatisch die Strukturen unterschiedlicher Stimmungsbereiche wider, in denen Öffnungen und Schließungen intrinsisch zusammengehören, sei es in der Anthropologie der Stimmung, in der Psychologie der Stimmung, in der Politik der Stimmung oder in der Historiographie geschichtlicher Stimmungslagen. Das Individuum, das zum privilegierten Kontext seiner selbst in der Lebensgeschichte wird, spinnt sich zugleich in ein unübersehbares Netz von Abhängigkeiten ein. Die entsprechenden Problemfiguren korrespondieren einander ebenfalls: Je mehr das Individuum Selbstverantwortung übertragen bekommt, desto klarer wird, wie wenig es für seine Handlungen Verantwortung zu übernehmen vermag,522 oder anders: Tieck zeigt, daß in seiner Werkpolitik _____________ 521 Der dritte Teil von Harsdörffers Poetischem Trichter (unpag.) beginnt beispielsweise mit einem „Sinnbild“ zum Motto „Nicht ohne Stimmung“. Die Subscriptio lautet: „Wer will auf der Harffen spielen / muß durch strengen Saitenzwang / den Kunstrechten gleichen Klang / stimmen / proben und erzielen. / […] Also muß sich weisen lassen / Wer will schreiben ein Gedicht / Nach der Sprache Lehr Bericht / und die Red nicht Plumsweis fassen; / Wann er nicht mit Mißbehagen / wil die zarten Ohren plagen“. 522 Am deutlichsten macht dies die Diskussion um das Verbrechen und seine literarische Aufarbeitung, denn die Kriminalerzählungen exemplifizieren, „wie wenig irgend ein Mensch für die Unsträflichkeit seiner nächsten Stunde sichere Bürgschaft leisten könne“
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die Moral, das Recht, die Kritik oder die Poesie das voraussetzen müssen, was sie begründen und sichern wollen. Sie müssen im Vollzug selbst ihre Normen, Kriterien und Standpunkte setzen und diesen elementaren Vorgang der Moral-, Rechts- oder eben auch Werkpolitik unsichtbar machen. Auffällig wird diese Invisibilisierung auch für die Zeitgenossen an den Machtgesten der Werkpolitik wie beispielsweise in Schillers oben zitierter Bürger-Kritik, wo die „Anwendung der vom Rez. aufgestellten Grundsätze“ zur Kritik freigegeben wird, nicht aber die „Grundsätze“ selbst – daß beides sich nicht trennen läßt, verschweigt Schiller an dieser Stelle, auch wenn er es, wie zitiert, andernorts offen eingesteht. Nicht zuletzt aufgrund dieser machtförmigen Verschattung von Unselbständigkeit eignet sich Stefan Georges Werkpolitik, die sich in besonderem Maß durch solche verzweifelten Herrschaftssignale auszeichnet, für die Beobachtung von ‚moderner Werkpolitik’ unter Bedingungen nicht mehr allein einer institutionalisierten kritischen, sondern auch einer institutionalisierten philologischen Kommunikation. Daß jedoch Macht auch Freundschaften oder sogar Liebe anregt, sieht man am Beispiel von Goethes Werkpolitik.
5.4 Die Poesie der Philologie II: Johann Wolfgang Goethe Zwar testet Tieck gleichermaßen die kritische wie die philologische Kommunikation, buchstabiert ihre Schwierigkeiten aus und führt ihr Problemlösungsverhalten vor, aber – so ließe sich spekulieren – er war selbst vielleicht zu sehr Philologe, um den Philologen im 19. Jahrhundert ein Entfaltungspotential anzubieten. Faktisch jedenfalls hat sein Werk die Entstehung einer Tieck-Philologie nur zögerlich stimuliert. Ein anderer Autor war in gewissen Hinsichten zurückhaltender und damit wesentlich erfolgreicher: Johann Wolfgang Goethe.523 Beiden gemeinsam ist, daß sie (proto-)philologisches Leseverhalten adressieren. Cramers KlopstockProjekt beispielsweise hatte die generischen Perspektiven und Normen einer (neu-)germanistischen Leseethik gegen den Widerstand der kritischen Kommunikation und gleichsam ‚vor der Philologie’ ausgearbeitet (5.2 b). Tieck und Goethe können die Aufmerksamkeitsformen, die u. a. der Messias-Dichter provoziert und die seine Leser entfalten, offensiv für _____________
(so im Titel von August Gottlieb Meißners Der Mörder aus Bruderliebe, zit. nach Dainat: Der unglückliche Mörder, S. 532). 523 „Wohl kein anderer deutscher Dichter“, um nur eine von vielen vergleichbaren Stellen aus der Forschung zu skizzieren, „hat so nachhaltig auf die Rezeption seines Werks bestimmenden Einfluß genommen wie Goethe“ (Perels: Der Autor und sein Werk, S. 239). Allerdings hält die Erforschung der entsprechenden Strategien, Taktiken, Funktionen und Hintergründe dieser Einflußnahmen mit der Einsicht in deren Bedeutung nicht Schritt.
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sich nutzen, auch wenn die institutionellen Bedingungen für eine neugermanistische Philologie allenfalls rudimentär vorhanden sind und der Übergang von der gelehrten in die disziplinär geordnete Literaturbeobachtung noch am Anfang steht – bei George wird es dann um einen Autor gehen, der unter Bedingungen der institutionalisierten Germanistik seine Werkpolitik entwirft (6.). Auch Goethe treibt die kritischen Aporien an die Oberfläche,524 und man weiß, mit welcher Brutalität und Rücksichtslosigkeit er zeitweise gegen seine erklärten Feinde vorgegangen ist: In jungen Jahren schreckt er nicht davor zurück, mißliebige Bücher an einen Baum zu nageln;525 in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen wird unter Mitwirkung Goethes kurzer Prozeß mit Werken gemacht, die dem Geschmack des jungen Redaktionsteams nicht entsprechen (3.3 b; 5.4.1); und als die Allgemeine LiteraturZeitung Jena verläßt, macht Goethe sich augenblicklich daran, „an der verlassenen Stelle sein Geschütz aufzufahren, um für sich gleiche Vortheile daraus zu gewinnen“ (WA I, 35, 182). Im Streit um seine naturwissenschaftlichen Schriften schließlich, der im Rahmen der Werkpolitik ein eigenes ausführliches Kapitel verdient hätte, verfolgt er sogar das Projekt, die Verbreitung des Newtonianismus staatlich verbieten zu lassen.526 Kurz gefaßt und für die meisten Kritiker außer ihm geltend, fordert Goethe: „Schlagt ihn todt den Hund! Es ist ein Recensent“ (WA I, 2, 204) – wie Bodmer, Breitinger, Klopstock oder Wieland (2.3) zeichnet Goethe sich dadurch aus, daß er Negation nicht nur als Normalität, sondern auch als Produktivfaktor anerkennt.527 Zumal die Xenien, in deren Umfeld Goethe seinem Briefpartner Schiller vorschlug, die Kritiker „in Bündlein“ zu binden, damit sie besser brennen (28. Oktober 1795; MA 8.1, 121), waren für die Zeitgenossen das deutlich sichtbare Signal dafür, daß sich im Literaturbetrieb bei der Aushandlung von Konkurrenzen strukturell etwas geändert hatte (5.3).528 Vielleicht sieht man aber auch gerade hieran die Koinzidenz von Positivität und Negativität im literarischen Diskurs. Denn zur gleichen Zeit ent_____________ 524 Zu Goethes Kritik-Verständnis im Überblick sowie zur schmalen Forschung vgl. Berghahn: Kritik; erhellend sind Tiecks Ausführungen zu Goethe als Kritiker, auch weil sie auf Widersprüche zwischen Programm und Durchführung aufmerksam machen (KS II, 230ff.). Zu Goethe im Kontext einer Geschichte der Literaturkritik vgl. Koopmann: Dichter, Kritiker, Publikum, S. 100ff.; zu Goethes früher Einübung von Kritikfähigkeit Luserke: Der junge Goethe, S. 20. 525 Unklar ist, ob Merck oder Goethe Jacobis Woldemar durchlöchert hat (Boyle: Goethe. Bd. 1, S. 352). 526 Müller-Tamm: Farbe bekennen, S. 199f. 527 Vgl. zur „Pflege ‚würdiger’ Feindschaften“ speziell bei Goethe Wolf: Goethe als Gesetzgeber, S. 31; hier auch (S. 38f.) zum Häretikertum Goethes im naturwissenschaftlichen Feld. 528 Vgl. im Überblick über den Verlauf: Leistner: Der Xenien-Streit.
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wickelt Goethe immer deutlicher ein Lösungsraster für die kritischen Aporien, das auf Temporalisierung, Zeitinvestition und eine selektionsarme Aufmerksamkeit setzt, das man also – im bislang entwickelten Sinn – ‚philologisch’ nennen kann. Wo jedoch Tieck in ironischen Reflexionen schon immer an einer Überbietung der Philologie mit ihren eigenen Mitteln arbeitet, dort hinterläßt Goethe Unbestimmtheiten und Anreize.529 So berichtet Friedrich Förster, wie Goethe nach einer gemeinsamen Mahlzeit im Sommer des Jahres 1826 der Gesellschaft aus seinem Gedicht Weltseele die Verse zugerufen habe: „Vertheilet euch nach allen Regionen / Von diesem heil’gen Schmaus!“ Ottilie von Goethe nimmt dies zum Anlaß, von ihrem Schwiegervater Auskunft über die Identität des „Allgebietende[n]“ zu erbeten, weil sie sich bislang „über jenes geheimnißvolle Gedicht [...] vergeblich den Kopf zerbrochen“ habe. Nach einem andeutungsvollen Satz zieht sich Goethe daraufhin, wie es bei Förster heißt, „zum Mittagsschläfchen“ zurück und läßt die ratlose Gesellschaft mit der Bemerkung allein: „Am siebenten Tage ruhte er“ – für Riemer, der mit von der Partie war, ist die Sache danach klar: „Er erklärte uns für die weltschöpferischen Cherubim oder Aeone und hierdurch sich selbst für den gebietenden Allvater“.530 An der Anekdote zu Weltseele ist im Blick auf die Werkpolitik Goethes wichtig: Das Gedicht gehört zu einer ganzen Reihe von Werken, die zeitgenössische Leser ratlos machen, darunter im übrigen auch das Gedicht Die Geheimnisse, das der ersten Werkausgabe voranstand und dann in Zueignung einging, das Motto-Gedicht der folgenden Werkausgaben. Dieser Ratlosigkeit folgte aber nicht etwa frustriertes Desinteresse. Im Gegenteil: Je öfter ich, bemerkte Frau v. Goethe, dieß Gedicht lese oder vorlesen höre, desto rätselhafter erscheint es mir, ich finde es wunderbar schön und dennoch muß ich bekennen, den poetischen Aufbau in dieser Weltschöpfung nicht in seiner vollständigen Architektur verstanden zu haben.531
Um entgegen Goethes Strategie, entweder „ausweichende oder uns noch mehr in die Irre führende Antworten“ zu geben, Interpretationsvorgaben von ihm zu erhalten, will Ottilie in ihrer Zeitschrift Chaos eine „Besprechung des Gedichts“ veröffentlichen. Oder anders: Sie hofft darauf, Goethe, der „Unbekannten“ sowie „litterarischen Blättern“ sehr wohl Auskunft erteilt, durch die Simulation der dezentrierenden publizistischen Meinungsbildung dazu zu bewegen, sein Werk autorschaftlich zu rezentrieren. Die Besprechung blieb leider ungeschrieben. _____________ 529 Schärf: Goethes Ästhetik, z. B. S. 14f. 530 Gräf: Goethe über seine Dichtungen. Teil 3. Bd. 2, S. 368ff. Vgl. in diesem Zusammenhang zum „Urautor Goethe“ Kittler: Aufschreibesysteme 1800 1900, z. B. S. 164. 531 Gräf: Goethe über seine Dichtungen. Teil 3. Bd. 2, S. 369f.
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Man sieht daran, daß Goethe wie Wieland, für den die „Zeit“ das „Endurteil“ fällt (3.3 c), und wie Klopstock, der durch die Temporalisierung des Werks neue Aufmerksamkeitsformen unterstützt (4.), auf ‚Dauer’ als Faktor der literarischen Kommunikation setzt und damit auf seine Weise der Negativität kritischer Kommunikation begegnet. Er habe, so schreibt Goethe am 24. Oktober 1827 an Cotta, bei Differenzen zwischen „Freunden, nothwendig Verwandten und Verbundenen“ lieber „geschwiegen als erwiedert“: […] denn in solchen Fällen bleibt ein jeder doch einigermaßen auf seinem Sinn, und so entstehen aus gewechselten Äußerungen gewöhnlich neue Differenzen und die Mißverstände verwickeln sich anstatt sich aufzuklären. Dagegen, habe ich gefunden, die Zeit sey die eigentlichste Vermittlerin; in derselben entwickeln sich Handlungen, die einzige Sprache die zwischen Freunden giltig ist, um das wahre Verhältniß auszudrücken.532
Goethe also setzt auf „Zeit“ als die „eigentlichste Vermittlerin“ und damit auf „Geheimnisse“: Er bewahrt Leerstellen für Kommentare und Interpretationen; er arbeitet durch Berichte ‚aus seinem Leben’ der Monographie-Produktion zu; und er spielt sein Werk durch Selbstarchivierung in die Hände der Editoren. Der um eine Generation ältere Dichterfürst überholt den ‚König der Romantik’ und bietet der Germanistik jenes Werk als Medium, über das sich die neugermanistische Philologie als Goethe-Philologie ausdifferenzieren kann (5.4.3),533 und zwar mit den genannten Gattungen des Kommentars, der Monographie und der Edition, die Cramer in der Vorwegnahme der Klopstock-Philologie genutzt hatte (5.2). Die entsprechende Aufmerksamkeitseinstellung war schon zu Goethes Lebzeiten nicht mehr abwegig: 1823 erscheint in Palaeophron und Neoterpe eine Anzeige und Bitte, Goethe’s Werke betreffend. Ihr Ziel besteht darin, den Umgang mit Goethes Werk am Werkverhalten der „Philologen der älteren und neueren Litteratur“ zu orientieren. Die Zeitschrift, die von Karl Ernst Schubarth, dem Autor des ersten zusammenfassenden Buchs über Goethe534, herausgegeben wird, sieht sich dabei überraschenderweise vom Autor unterstützt.535 Diese Philologisierung Goethes meint im einzelnen: 1) Vollständige Sammlung sämmtlicher Ausgaben von Goethe’s Schriften, einschließlich aller kleinen hin und wieder zerstreuten Ausgaben und Bemerkungen; 2) Vergleichung der verschiedenen Ausgaben, Untersuchung und Feststellung der Authenticität der Abweichungen, in so fern sie zweifelhaft ist;
_____________ 532 Goethe / Cotta: Briefwechsel 1797-1832. Bd. 2, S. 220. 533 Kruckis: Goethe-Philologie. 534 Zur Beurtheilung Goethe’s (1818) – vgl. Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken. Bd. 2, S. 41. 535 Dies gilt für das Archiv des Dichters und Schriftstellers (1822) (WA I, 41.2, 25ff.).
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3) Untersuchungen über Veranlassung, Absicht und Ausbildung jedes Werkes, Sammlung und Zusammenstellung der zu einem Ganzen der Tendenz gehörigen Einzelnheiten. […] 4) die Feststellung und Nachweisung des eigenthümlichen Gewinnes […], welcher für jedes der von Goethe’s Geist berührten Fächer und dessen Schriften hervorgegangen ist; wobei fast der ganze Umfang unserer heutigen Litteratur in Betracht zu ziehen wäre.536
Unabhängig davon, wie deutlich Goethe diese Horizonte vor Augen gestanden haben mögen: Er wollte ‚wirken’, und ihm war klar, daß literarische Wirkung mit ‚Schrift’ und ‚Reflexion’ zu tun hat. Bereits in seiner Anzeige von Des Knaben Wunderhorn in der Jenaischen Allgemeinen LiteraturZeitung (1806) heißt es entsprechend, daß „in der neueren Zeit, besonders in Deutschland, nichts zu existiren und zu wirken scheint, wenn nicht darüber geschrieben und wieder geschrieben und geurtheilt und gestritten wird [...]“ (WA I, 40, 338). Und auch wenn er – sich im zeitgenössischen Philologenstreit gewissermaßen auf Seiten der ‚Liebhaber’ positionierend537 – eine textkritische Untersuchung der ‚Volkslieder’-Sammlung ablehnt und für das „seltsam Restaurirte, aus fremdartigen Theilen Verbundene, ja das Untergeschobene“ dankt: Am Ende steht die Bitte, Arnim und Brentano möchten ihr „poetisches Archiv rein, streng und ordentlich“ verwalten. Dann nämlich könnten sie daran „mitwirken, daß wir eine Geschichte unserer Poesie und poetischen Cultur, woraus es denn doch nunmehr nach und nach hinausgehen muß, gründlich, aufrichtig und geistreich erhalten“ (WA I, 40, 358f.). Goethes Werkpolitik dient im folgenden als ein weiteres Beispiel für die Werkpolitik insbesondere des 19. Jahrhundert und damit als Beleg dafür, daß die Werkpolitik der Autoren, die ich bisher behandelt habe, weder außergewöhnlich noch randständig, sondern symptomatisch ist für die wechselseitige Anregung der literarischen, kritischen und philologischen Kommunikation. Im Fall Goethes ist die Liste der Elemente seiner Werkpolitik, die ich nicht behandle, noch länger als bei den anderen untersuchten Autoren: Es wird nur am Rand um den Stellenwert der naturwissenschaftlichen Schriften gehen;538 Goethes Überlegungen zur bildenden Kunst539 oder zur Musik bleiben ausgeblendet; und auch die im eigentli_____________ 536 Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken. Bd. 2, S. 59f. 537 Kolk: Liebhaber, Gelehrte, Experten, insbes. S. 59ff. 538 Zur „autobiographische[n] Übertragung“ der naturwissenschaftlichen Konzepte vgl. Schärf: Goethes Ästhetik, S. 110ff.; Müller: Autobiographie und Roman, S. 246ff. 539 Vgl. als Fallstudie Osterkamp: Gesamtbildung und freier Genuß, S. 146ff. – hier ließen sich Querbezüge zwischen der Ordnung literarischer Werke und der Ordnung von Werken der bildenden Kunst herstellen (dazu ebda., S. 151ff. – zum Berliner Alten Museum).
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chen Sinn politische Tätigkeit Goethes sowie die entsprechenden amtlichen Schriften spielen ebensowenig eine Rolle wie die Werkfunktion, die fremde Schriften im Rahmen der eigenen Werke übernehmen wie im Fall der Briefwechsel mit Schiller oder Zelter.540 Ich werde in drei Schritten ein Raster entwerfen: Zunächst stelle ich die Beziehungen zu den Werkpolitikern Klopstock, Wieland und Tieck her und zeige am Beispiel des Wechselverhältnisses zwischen ihnen und Goethe, wie dieser die Vorgaben temporalisierter Werk- und Autorbetrachtung aufgreift und damit auf Situationen der Verunsicherung reagiert (5.4.1). In einem zweiten Schritt geht es um das Konzept des Gesamtwerks, das Goethe in besonders erfolgreicher und virtuoser Weise vertreten hat (5.4.2): Dies betrifft die Beförderung der Tendenz zur selektionslosen Aufmerksamkeit durch die Werkhaftigkeit des Werks auf einem von Konkurrenzen bestimmten Buchmarkt (5.4.2 a); dies betrifft die Probleme, die die Vervollständigung der Werke jenen Lesern bereitet, die Werkhaftigkeit mit bestimmten Formen des Zusammenhangs und der Einheitlichkeit assoziieren (5.4.2 b); und dies betrifft Verfahren der Einstimmung des Lesers auf solche verborgenen Bezüge über den Vollzug des Werkumgangs, bei der der Lyrik eine besondere Bedeutung zukommt (5.4.2 c). Als Leser, die in herausragender Weise auf den Umgang mit dem Werk eingestimmt sind, haben sich dabei die Philologen erwiesen. Ihnen und ihrer Werkpolitik, die die gesellschaftlichen und erzieherischen Bezüge des Werkverhaltens herausstellen, gilt das abschließende Kapitel zur GoethePhilologie (5.4.3). 5.4.1 Zwischen kritischer und philologischer Kommunikation Goethe hat sich intensiv mit Autoren auseinandergesetzt, die für eine innovative Werkpolitik einstehen. Wie eng beispielsweise seine ImageBildung als Autor auf Klopstock bezogen ist,541 zeigt schon früh die bekannte Gewitter-Szene aus dem Werther, in der die Liebenden beim Gewitter nicht mehr den Schöpfer tatsächlicher, sondern den Schöpfer poetischer Welten erinnern.542 Zwar kann auch Goethe mit den grammatischen Schriften des „göttlichen Mann[es]“ nicht viel anfangen und findet, daß der „erste[ ] Dichter“ der „Deutschen“ darin die Sprache „klopstockt“.543 Aber die bekannten Passagen in Dichtung und Wahrheit zeigen doch auch, _____________ 540 Zu Zelter als idealem Leser von Goethes Werk vgl. Richter: Die Dialoge über Literatur im Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter, S. 36ff. 541 Vgl. insgesamt Hurlebusch: Klopstock und Goethe. 542 Vgl. zu anderen Implikationen Alewyn: „Klopstock!“ 543 So in Er und sein Name von 1781 (WA I, 5.1, 37).
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für wie zentral Goethe die Position hält, die Klopstock besetzt hatte. Klopstock wird im zehnten Buch der Autobiographie zu dem Autor, der den Schriftsteller aus der schlechten Lage der Gelegenheitsdichter befreit – und dies nicht zuletzt durch den kalkulierten Umgang mit Zeit: Nun sollte aber die Zeit kommen, wo das Dichtergenie sich selbst gewahr würde, sich seine eignen Verhältnisse selbst schüfe und den Grund zu einer unabhängigen Würde zu legen verstünde. Alles traf in Klopstock zusammen, um eine solche Epoche zu begründen. [...] Ernst und gründlich erzogen legt er, von Jugend an, einen großen Wert auf sich selbst und auf alles was er tut, und indem er die Schritte seines Lebens bedächtig vorausmißt, wendet er sich im Vorgefühl der ganzen Kraft seines Innern, gegen den höchsten denkbaren Gegenstand. [...] Die Würde des Gegenstands erhöhte dem Dichter das Gefühl eigner Persönlichkeit. (MA 16, 430)
Wie bei der Umformung von Autorschaft so schreibt Goethe auch in der Entwicklung des Buchhandels Klopstock und dem Subskriptionsprojekt der Gelehrtenrepublik eine entscheidende Rolle zu. In Analogie zum zehnten Buch heißt es: „Nun trat Klopstock hervor […]“ (MA 16, 552). Die Pointe des Unternehmens liegt für Goethe darin, daß das Publikum „nicht sowohl das Buch […], als den Verfasser“ bezahlte.544 Freilich sei damit das Verfahren der „Subskription“ und „Pränumeration“ zugleich desavouiert worden, da das breite Publikum auf die Gelehrtenrepublik mit „Bestürzung“ reagiert habe (MA 16, 553). An beiden Stellen geht es Goethe letztlich darum, Klopstock durch eine Strategie des hoch angesetzten Lobs als eine Autorfigur zu präsentieren, die nicht mehr ernst genommen zu werden braucht: Wie in der literarischen Rezeption545 erweist sich die Darstellung in Dichtung und Wahrheit als eine von aemulativen Absichten geprägte Rhetorik der historisierenden Verdrängung: Klopstock wird von Goethe zum Typus des „Vorgängers“ erklärt, und die Literaturgeschichtsschreibung folgt ihm darin weitgehend.546 Goethe hat sich in Dichtung und Wahrheit immerhin abwägend kritisch gegenüber der Gelehrtenrepublik verhalten. Er unterscheidet dort zwischen der Rezeption unter „Schriftsteller[n] und Literatoren“, für die „das Buch unschätzbar“ sei, und der Lektüre durch den „Liebhaber“ bzw. den „Leser“, dem „das Buch versiegelt“ bleibe (MA 16, 553). 1774 hingegen, als er das Buch zum ersten Mal in die Hände bekommt, zeigt er sich rückhaltlos _____________ 544 Zu diesem „Dominanzwechsel“ vgl. Hurlebusch: Klopstock und Goethe, S. 14f. 545 Lee: Displacing Authority; Hurlebusch: Klopstock und Goethe, S. 25ff.; zur Überbietungsstrategie vgl. auch Wolf: Streitbare Ästhetik, S. 195ff. 546 Hurlebusch: Klopstock und Goethe, S. 17; Kohl: Friedrich Gottlieb Klopstock, 1f. Daß Goethe hier einen größeren Akzent auf den Autor als auf das Werk legt, mag zu den subversiven Strategien der Klopstock-Rezeption in Dichtung und Wahrheit gehören (ebda., S. 2). Faktisch war es genau diese Verlagerung, die dann zu einer umfassenden Aufmerksamkeit für das Werk führen sollte, wie Goethe es im Umfeld der Autobiographie plante (5.4.2 a).
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begeistert. An Gottlob Friedrich Ernst Schönborn schreibt er am 10. Juni 1774: „Klopstocks herrliches Werck hat mir neues Leben in die Adern gegossen. Die Einzige Poetick aller Zeiten und Völcker. Die einzigen Regeln, die möglich sind!“ (WA IV, 2, 174) Wichtig sind dabei zwei Schlüsse: Zum einen greift Goethe die Vorgaben temporalisierter Werkund Autorbetrachtung auf, wie sie von Lessing im Blick auf Klopstock (5.2 c; s. u.) und von diesem selbst formuliert wurden (z. B. KW 7/1, 10f.) – die Rede ist bei Goethe von der „Geschichte des Gefühls wie es sich nach und nach festiget und läutert […]“ (WA IV, 2, 174f.).547 Die zweite Ableitung ist daher nur konsequent: Sie zielt auf die Abkehr von der selektierenden kritischen Kommunikation und auf die zeitintensive Hinwendung zum Werk: Der unter den Jünglingen den das Unglück unter die Rezensentenschaar geführt hat, und nun wenn er das Werck las nicht seine Federn wegwirft, alle Kritick und Kriteley verschwört, sich nicht gradezu wie ein Quietist zur Contemplation seiner selbst niedersezt, aus dem wird nichts. (WA IV, 2, 175)
Dies entspricht in doppeltem Sinn dem, was der ‚junge Goethe‘ als Rezensent des 72er-Jahrgangs der Frankfurter Gelehrten Anzeigen praktiziert: Dort beklagt er an literarischen Werken die mangelhafte Entfaltung von Subjektivität548 sowie an theoretischen Werken die mangelhafte Orientierung an Subjektivität549 und stößt damit auf Unverständnis, wie die Nachrede statt der versprochenen Vorrede bemerkt. Diese Reaktion bewegt ihn dann dazu, die kritische Feder aus der Hand zu legen. ‚Unverständnis‘ läßt sich als eine historische Reaktionsmöglichkeit auf Probleme bei der Etablierung von Negativität begreifen. Es legt die Ausbildung von Expertenkulturen für das (Miß-)Verstehen nahe, seien dies geniale Autoren oder gewissenhafte Philologen (3.3 b). Letztere erklären das, was anderen Lesern mit guten Gründen als apodiktisch herrisches _____________ 547 So auch schon im Brief an Oeser vom 9. November 1768 im Blick auf die bildende Kunst (WA IV, 1, 178); vgl. dazu Wolf: Streitbare Ästhetik, S. 146. 548 Vgl. dazu die Besprechung z. B. der Gedichte eines polnischen Juden (Frankfurter Gelehrte Anzeigen vom Jahr 1772, S. 555ff.). 549 Vgl. dazu die Besprechung von J.G. Sulzers Die schönen Künste in ihrem Ursprung, ihrer wahren Natur und besten Anwendung. Dort fordert Goethe eine ‚lebendige Theorie’, die in der Betrachtung des Künstlers verankert ist: „Gott erhalt unsre Sinnen, und bewahr uns vor der Theorie der Sinnlichkeit, und gebe jedem Anfänge einen rechten Meister!“, weil das aber nicht geht: „so gebe uns Künstler und Liebhaber eine Selbstbetrachtung [im Original griechisch, S. M.] seiner Bemühungen, der Schwürigkeiten, die ihn am meisten aufgehalten, der Kräfte, mit denen er überwunden, des Zufalls, der ihm geholfen, des Geists, der in gewissen Augenblicken über ihn gekommen, und in auf sein Leben erleuchtet, bis er zuletzt immer zunehmend sich zum mächtigen Besitz hinauf geschwungen, und als König und Überwinder, die benachbarten Künste, ja die ganze Natur zum Tribute genöthigt“ (Frankfurter Gelehrte Anzeigen vom Jahr 1772, S. 807). Vgl. zu Klopstocks Sulzer-Kritik Hurlebusch: Klopstock und Goethe, S. 41f.
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Urteil erscheinen könnte, zu „Symptome[n] mancher Entwicklungskrankheit“, wie Goethe selbst es 1826 im Rückblick auf seine frühen Rezensionen formuliert. Sie beobachten, was den Autor „in’s Leben weiter förderte“ und folgen dabei „psychologischen Absichten“ (WA I, 41.2, 199). Goethe entwickelt also am Beispiel Klopstocks zumindest rudimentär die kritischen Aporien und ihre philologischen Lösungen. Umgekehrt hat auch Klopstock bereits den jungen Dichter genau beobachtet und ihn für einen Autor gehalten, der das Bild des Schriftstellers in der Öffentlichkeit mitbestimmen wird. Wie bei Goethes Blick auf den Messias- und Gelehrtenrepublik-Dichter geht es um die Markierung von Machtpositionen: 1776 ermahnt Klopstock Goethe, den „Herzog von Weimar“, der sich notorisch „bis zum Krankwerden betrinkt“, pädagogisch auf die richtigen Gleise zu setzen, weil „andre Fürsten“ daraus Folgen für das Verhältnis von „Fürsten“ und „Gelehrten“ ziehen könnten (KB VII, 22). Klopstock, der im übrigen Abschriften seines Briefwechsels mit Goethe zirkulieren läßt und dadurch weitere Abschriften sowie einen Druck der Korrespondenz (1799) ermöglicht (KB VII, 368ff.), erhält jedoch eine unversöhnliche Reaktion: „Verschonen Sie uns“, heißt es im Antwortschreiben Goethes vom 21. Mai 1776, „mit solchen Briefen, liebster Klopstock“ (KB VII, 27). Klopstock erklärt daraufhin, noch knapper, Goethe sei den „Beweis meiner Freundschaft“ schlicht „nicht werth“ gewesen (KB VII, 31). Zwar meint Stolberg, daß Goethe „im Herzen“ Klopstock „ehrt u: liebt“ (KB VII, 34). Dieser aber fordert – jenseits aller empfindsamen Freundschaftsrhetorik – eindeutige Zeichen dieser Gefühle: „Es giebt gewisse Situationen im Leben, wo man zeigt, oder nicht zeigt; u eine solche Situation ist für G. dagewesen“ (KB 7, 36). Aufschlußreicher als diese Passagen sind für die Frage der Werkpolitik zwei andere Stellen, die sich beide nicht mit dem Messias und der Gelehrtenrepublik, sondern, zum Teil vermittelt, mit den Oden Klopstocks beschäftigen. In dieser Gattung sah die Generation Goethes Klopstock bleibenden Verdienst.550 Daher ergab sich für Goethe u. a. aus dem Stilvorbild von Klopstocks Oden die Chance, „aus der wäßrigen, weitschweifenden, nullen Epoche sich herauszuretten […]“.551 Ebenso wichtig wie wegen seiner Oden war Klopstock – der Literaturgeschichte von Dichtung und Wahrheit zufolge – wegen der Reimkritik _____________ 550 Entsprechend stellt Johann Heinrich Merck im 72er Jahrgang der Frankfurter Gelehrten Anzeigen bei der Rezension von Klopstocks Oden die „Ueberlegung“ an, „ob nicht eine Zeit bey der Nachwelt möglich ist, daß das Rad der Dinge da stehen bleibt, wo es heißt: Klopstock, der gröste lyrische Dichter der Neuern, schrieb auch den Messias“ (Frankfurter Gelehrte Anzeigen vom Jahr 1772, S. 61). 551 Auch hier freilich fügt er den kritischen Topos hinzu, daß Klopstocks Spätwerk von einer Tendenz ins Unverständliche gezeichnet sei (MA 16, 293).
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und den metrischen Innovationen, deren Einwirkung „in den ganzen Verlauf unserer Dichtkunst bis zum heutigen Tag gedauert hat und auch in der Zukunft sich nicht verlieren kann“. Wieder durchbricht Klopstock die Schranken: „Klopstock ging voran […]. Jedermann fühlte die Unsicherheit der Sache […]“ (MA 16, 758). Die Annäherung an die Prosa führte zu einer nur unbefriedigenden Lösung für die anstehenden Probleme. Fragen der Versgestaltung blieben weiterhin unlösbar. […] unsicher […] blieb die Ausübung auf jeden Fall und es war keiner, auch der Besten, der nicht augenblicklich irre geworden wäre. Daher entstand das Unglück daß die eigentliche geniale Epoche unsrer Poesie weniges hervorbrachte was man in seiner korrekt nennen könnte [...]. (MA 16, 759; 5.1)
In dieser Situation radikaler Verunsicherung, an der sich Klopstock federführend beteiligt und die in die Entscheidungsprobleme des kritischen Perspektivismus führt, schlägt Goethe wiederum zwei paradigmatische Wege für philologische Lösungen der kritischen Aporien ein: Zum einen historisiert er die vergangene Epoche und verwandelt dadurch erneut Fehler in Dokumente von „Ursprung und Absicht“, mithin in Objekte, die für „tiefer Eindringende“ und für „denkende[ ] Männer[ ]“ interessant sind. Diese nämlich „bemerken daß allen solchen Exzentrizitäten ein redliches Bestreben zu Grund lag“ und sie erkennen – „genau besehen“ –, daß „der Kampf in diesen funfzig Jahren noch nicht ausgekämpft“ ist. Auf diese Weise verbindet die Historisierung Vergangenheit und Zukunft, weil die tiefsinnige Aufmerksamkeit ein feines geschichtliches Fadengeflecht in den Blick bekommt und die Einheit des Unterschiedenen als Resonanzen eines historischen Stimmungszusammenhangs rekonstruiert (5.3.5 b): Der Streit, so Goethe weiter, „setzt sich noch immer fort, nur in einer höhern Region“ (MA 16, 760). Der zweite Lösungsweg führt in eine ähnliche Richtung, allerdings weg vom direkten Bezug auf Klopstock. Dabei geht es um die Markierung von Interpretierbarkeit, die, wie die Historisierung, vorschnelle Kritik in behutsame Lesesorgfalt verwandelt. Bei der Bearbeitung seiner Gedichte für die Ausgabe des siebten Bandes der Neuen Schriften versetzt Goethe sich in „Stimmungen“, die den Fortgang der vor allem metrischen Verbesserung stimulieren. Es bleibt allerdings bei einer vorläufigen Stufe der Überarbeitung, denn, so Goethe brieflich an Schiller, „wenn man solche Verbesserungen auch nur Teilweise zu Stande bringt, so zeigt man doch immer seine Perfektibilität, so wie auch Respekt für die Fortschritte in der Prosodie, welche man Voßen und seiner Schule nicht absprechen kann“ (7. August 1799: MA 8.1, 734f.). Schiller indes überlegt sich, ob Goethe nicht besser „in einer Vorrede oder wo es schicklich ist, [seine] Grundsätze darüber ausspräche[ ], daß man das für keine bloße Lizenz oder Übertretung halte, was aus Prinzipien geschieht“ (9. Aug. 1799; MA 8.1, 736).
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Goethe verzichtet jedoch auf Vorreden zu seinen Gedichten, und dies m. E. aus zwei Gründen: Zum einen übernehmen in den Werkausgaben die Gedichte selbst die Funktion, die Aufmerksamkeit der Leser in der von Schiller skizzierten Weise auszurichten (5.4.2 c). Zum anderen gibt es eine Fülle von eigenständigen Beiträgen Goethes, die der Individualisierung von Regelhaftigkeit dienen, die also vom Code schön / häßlich zum Code interessant / uninteressant wechseln (3.3 c). Goethe setzt diesen Codewechsel als ein prinzipielles, für das Gesamtwerk, nicht allein für die Gedichte geltendes Programm ein. Daher hebt Goethe in der Vorstellung der Lyrischen Gedichte von Johann Heinrich Voss in der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung (1804) hervor, daß „jeder Schriftsteller […] sich einigermaßen in seinen Werken, auch wider Willen, selbst“ schildere (WA I, 40, 264). Die Aufgabe des Lesers bestehe darin, diese Selbstpräsentation zu „vollenden“, den „Dichter aus dem Gedicht, das Gedicht aus dem Dichter zu entwickeln […]“ (WA I, 40, 280). Diese Form der positiven Kritik führt auf der einen Seite zum Ausdruck des subjektiven Eindrucks, zur Reflexion der Wirkung, die ein Werk auf den Leser hat.552 Auf der anderen Seite hat die positive Kritik einen objektivierenden Effekt. Weil nämlich Kunstwerk und Autor so eng aufeinander bezogen sind, kann die Beurteilung auch von aller Rezeptionssubjektivität abzusehen versuchen. An anderer Stelle unterscheidet Goethe in diesem Sinn die „zerstörende Kritik“, die ein beliebiges Vorbild aufstellt, ein Kunstwerk daran mißt und sich dann über das Mißverhältnis beklagt, von der „productiven Kritik“. Kritische Positivität basiert demzufolge auf der Erfahrung kritischer Willkür und auf der Einsicht in die kritische Selbstbezüglichkeit – die Kritik informiert faktisch das Publikum nicht und wird dennoch immer fortgeschrieben. Wenig überraschend also, daß Goethe seine kleine Theorie der Kritik, die im übrigen vom Gegenstand der Kritik vorgegeben wird, als eine Kritik der Kritik formuliert und dabei auf die Antizipationsleistung von Autoren eingeht:553 Die productive Kritik ist um ein gutes Theil schwerer; sie fragt: Was hat sich der Autor vorgesetzt? ist dieser Vorsatz vernünftig und verständig? und in wie fern ist es gelungen, ihn auszuführen? Werden diese Fragen einsichtig und liebevoll
_____________ 552 So in der Anzeige Für Freunde der Tonkunst von Friedrich Rochlitz in Über Kunst u. Altertum (1824): „Wohlwollende Leser geben mir schon lange zu, daß ich, anstatt über Bücher zu urtheilen, den Einfluß ausspreche, den sie auf mich haben mochten. Und im Grund ist dieß doch das Urtheil aller Lesenden, wenn sie auch ihre Meinung und Gesinnung dem Publicum nicht mittheilen“ (WA I, 41.2, 114). 553 Goethe wendet sich 1821 in Über Kunst und Altertum gegen eine Besprechung von Alessandro Manzonis Il conte die Carmagnola in der Quarterly review. Er hatte zuvor das Stück positiv besprochen und dabei auf Manzonis Vorrede verwiesen, die eben die genannten Grundsätze der Kritik formuliert (WA I, 41.1, 195).
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beantwortet, so helfen wir dem Verfasser nach, welcher bei seinen ersten Arbeiten gewiß schon Vorschritte gethan und sich unserer Kritik entgegen gehoben hat. Machen wir aufmerksam auf noch einen Punct, den man nicht genug beobachtet, daß man mehr um des Autors als des Publicums willen urtheilen müsse. Tagtäglich sehen wir, daß ein Theaterstück, ein Roman ohne die mindeste Rücksicht auf Recensionen von Lesern und Leserinnen nach individuell eigenster Art aufgenommen, gelobt, gescholten, an’s Herz geschlossen oder vom Herzen ausgeschlossen werden, je nachdem das Kunstwerk mit irgend einer Persönlichkeit zufällig zusammentreffen mag. (WA I, 41.1, 345f.).
Freilich bietet auch die Orientierung am Autor keinen wirklichen Ausweg. Das Problem besteht erneut darin, daß Goethe es mit Kritikern zu tun hat, „denen wir Sachkenntniß keineswegs absprechen, oft ihre Prämissen zugestehen und dennoch andere Folgerungen daraus ziehen“ (WA I, 41.1, 341; Hervorhebung S. M.). Bereits am 11. Mai 1767 gibt es für Goethe nur eine Alternative: „[…] habe ich Genie; so werde ich Poete werden, und wenn mich kein Mensch verbessert, habe ich keins; so helfen alle Critikken nichts“ (WA IV, 1, 89). Im Briefwechsel mit Schiller stellt Goethe dann fest, „wie die schätzbarste Teilnahme uns nichts lehren und keine Art von Tadel uns was helfen kann“ (MA 8.1, 488; 6. Januar 1798). Anders gesagt: Der Rückzug auf eine Position, die die Normalität des Dissenses anerkennt und die die Produktivität auch der negativen Kritik verzeichnet, liegt um so näher, je weniger plausibel die Kritik die Probleme, die sie stellt, auch zu lösen imstande ist. Eine Möglichkeit besteht darin, ein historisches Bewußtsein der literarischen Kommunikation zu entwickeln, das auch die eigene Position bereits als eine geschichtlich gewordene und geschichtlich wirksame beobachtet. Wenngleich für Goethe diese Option immer attraktiver wird: Den Vorschlag, auf den Band Goethe in den wohlwollenden Zeugnissen der Mitlebenden einen weiteren folgen zu lassen, der „Goethe in den mißwollenden Zeugnissen der Mitlebenden“ präsentiert, behält der Weimaraner für sich. Die zugrundeliegende Intuition ist gleichwohl plausibel: Zu diesem Vorschlag bewegt mich die Betrachtung, daß, da man mich aus der allgemeinen Literatur und der besondern deutschen jetzt und künftig, wie es scheint, nicht los werden wird, es jedem Geschichtsfreunde gewiß nicht unangenehm sein muß, auf eine bequeme Weise zu erfahren, wie es in unsern Tagen ausgesehen und welche Geister darin gewaltet. Mir selbst würde es beim Rückblick auf mein eigenes Leben höchst interessant sein […]. (WA I, 42.2, 5)
Einige der wichtigsten Vorgaben für eine Aufmerksamkeit, die sich für das Interessante interessiert, beziehen sich nicht zufällig auf Wieland. Ich habe die entsprechende Stelle aus dem Aufsatz Literarischer Sansculottismus
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von 1795 bereits angeführt554 und dabei gezeigt, welche Funktion sie gemeinsam mit Lessings Aufforderung zum Variantenstudium bei Klopstock555 für die Philologie des 19. Jahrhunderts hat. Bei ihrer früh einsetzenden Selbsthistorisierung übernimmt die Philologie die Perspektiven des literarischen Diskurses als wissenschaftsgeschichtliche Perspektiven (5.2 c). Während ich auf die wissenschaftshistorische Funktion Goethes später eingehen werde (5.4.3), ist an dieser Stelle entscheidend, daß sowohl Lessings als auch Goethes Votum für eine temporalisierte Textbeobachtung aus der Reflexionsförmigkeit von kritischer Kommunikation folgt. Die argumentativen Bezüge sind dabei komplex und durchaus unterschiedlich: Bei Lessing spielt beispielsweise die Verteidigung eines poetischen Eigensinns gegen Kritik an der ‚genialischen‘ Form poetologischer Aussagen oder gegen die Interessen der Theologie eine Rolle, bei Goethe die Konstitution von spezifischen Autorschaftsformen im historischen Kontext. Beide erheben den Anspruch, ‚mehr‘ als andere Leser an einem Autor und dessen Werk wahrzunehmen. Ob Lessing darlegt, daß ein Vers, den Nicolai als ‚dunkle‘ Stelle verbucht, gar nicht kompliziert zu verstehen ist, und der mangelnden textkritischen Perspektive anlastet, daß „diese Rezension des Messias bei weitem so unterrichtend nicht geworden ist, als sie wohl hätte werden können“;556 oder ob Goethe in Literarischer Sansculottismus dem Berlinischen Archiv der Zeit und ihres Geschmacks vorrechnet, daß dessen Urteilskriterien unangemessen sind: In beiden Fällen geht es auch um eine Kritik der Kritik. Die Potenzierung vorliegender Lektüren zielt darauf, den Beobachter in doppeltem Sinn zu justieren: Einerseits soll der Blick auf eine bestimmte Perspektive festgelegt werden, andererseits beansprucht diese Perspektive, ‚gerechter‘ als die bislang etablierten Perspektiven zu sein. Nach der Kritik der Kritik soll der Leser ‚klar sehen‘ und ‚billig denken‘ (WA I, 40, 198). „Und so ist der ungerechteste Tadel derjenige, der den Gesichtspunct verrückt“, erklärt Goethe und wendet sich einem Programm einfacher Sichtbarkeit zu: „Man sehe unsere Lage wie sie war und ist; man betrachte die individuellen Verhältnisse, in denen sich deutsche Schrift_____________ 554 „So ist es zum Beispiel nicht zu viel gesagt, wenn wir behaupten, daß ein verständiger fleißiger Literator durch Vergleichung der sämmtlichen Ausgaben unsres Wielands [...] allein aus den stufenweisen Correkturen dieses unermüdet zum Bessern arbeitenden Schriftstellers die ganze Lehre des Geschmacks würde entwickeln können“ (WA I, 40, 201). 555 „Veränderungen und Verbesserungen aber, die ein Dichter, wie Klopstock, in seinen Werken macht, verdienen nicht allein angemerkt, sondern mit allem Fleiße studieret zu werden. Man studieret in ihnen die feinsten Regeln der Kunst; denn was die Meister der Kunst zu beobachten für gut befinden, das sind Regeln“ (Lessing: Werke. 5. Bd., S.79). 556 Lessing: Werke. Bd. 5, S. 78. Vgl. Muncker: Lessings persönliches und literarisches Verhältnis zu Klopstock, S. 124ff.
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steller bildeten, so wird man auch den Standpunct, aus dem sie zu beurtheilen sind, leicht finden“ (WA I, 40, 199) – man wundert sich nur, woher dann eigentlich die Probleme kommen. Das Verhältnis von Vorgängern und Nachfolgern schließlich konzipiert Goethe in Literarischer Sansculottismus einerseits als „eine Art von unsichtbarer Schule“; andererseits faßt er die literaturgeschichtlichen Bezüge ins Bild eines im gleichen historischen ‚Licht‘ stehenden Traditionszusammenhangs – „der junge Mann, der jetzt hineintritt, kommt in einen viel größeren und lichteren Kreis als der frühere Schriftsteller […]“ (WA I, 40, 202). Diese Auratisierung literarischer Kommunikation erfüllt dieselbe Funktion wie die Einführung historischer Stimmungslagen (5.3.4): Die Bezüge werden gleichermaßen fester wie unfaßbarer. Um im Bild zu bleiben: Keiner kann sich dem Licht entziehen; aber das Licht als Medium der Sichtbarkeit läßt sich auch schwer greifen. Von hier aus erschließt sich das Verhältnis Tiecks zu Goethe.557 Denn die temporalisierte Werkbeobachtung, die Autoren wie Klopstock und Wieland ganz wesentlich befördert haben, installiert die Möglichkeit eines Gesamtwerks und einer korrespondierenden kontinuierlichen Autorenbiographie. Diese Form der Werkkontinuität hat nicht zuletzt zwei Neuheiten zu bieten: das Frühwerk und das Alterswerk (3.3 c; 4.1.1; 4.2 a; 5.2 b). Insofern ist es bemerkenswert, daß Goethe in Literarischer Sansculottismus auch die historische Konstitution des Frühwerks beobachtet. „Junge Männer von Talent“, so meint er, können sich jetzt auf der Grundlage der bahnbrechenden Tätigkeiten ihrer Vorgänger „früher ausbilden“, sie können „eher zu einem reinen, dem Gegenstande angemessenen Stil gelangen […]“ (WA I, 40, 202). Dieser Ansatz zu einer Geschichte des Frühwerks ist als Symptom für einen historischen Reflexionsstand an sich bemerkenswert. Aber er ist deswegen nicht plausibel, weil er an eine Wertung gebunden ist, die die Diskursivierung des Frühwerks gerade untergräbt. Der Einbezug der Juvenilia läuft – auch bei Goethe selbst – nicht über das abstrakte Niveau poetischer Produktion, sondern gerade umgekehrt über die Individualisierung des Gesamtwerks und seiner spezifischen Wertmaßstäbe (was dann natürlich wiederum einen allgemeinen Maßstab des Besonderen bildet) (3.3 c). Die Probleme für die Autor- und Werkbeobachtung, die sich aus dieser Beobachtungslage ergeben, sind vielfältig. Eines besteht darin, daß innerhalb des Werks Akzente gesetzt werden können, z. B. auf das Frühwerk. Goethe selbst gelingt es zwar auf lange Sicht, das Spätwerk zur Gel_____________ 557 Vgl. umgekehrt die Sammlung von Goethe-Zitaten zu Tieck bei Wilpert: Goethe-Lexikon, S. 1069f.
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tung zu bringen; aber unter den Zeitgenossen haben einige dieses Interesse nicht aufgebracht.558 Zu ihnen gehörte Klopstock, der den Werther für Goethes bestes Buch hielt,559 und zu ihnen gehörte Tieck, der wie Goethe im Fall Klopstocks das Frühwerk bevorzugte und der in diesem Frühwerk, wiederum analog zu Goethes Einschätzung Klopstocks, den wichtigsten literaturgeschichtlichen Wendepunkt entdeckte560 – mit Goethe beginne die „Epoche, in welcher die eigentliche Schule wahrer deutscher Dichtkunst entsteht“. Symptomatischerweise fügte Tieck dem hinzu: „Es ist, wenn man hievon überzeugt ist, nicht nothwendig, jene Früheren zu verwerfen [...]“ (S XI, LXI; 5.3). Für Goethes oben skizzierten Ausweg aus den Entscheidungsschwierigkeiten der Verssprache, also für die Individualisierung und Empirisierung der Poetik, hätte Tieck mutmaßlich Verständnis aufgebracht.561 Am ausführlichsten äußert sich Tieck zu Goethe in der Einleitung zu den Gesammelten Schriften von Lenz (1828) (5.3). Die Kritischen Schriften drucken den Aufsatz unter der Überschrift Goethe und seine Zeit. Dieser ungemein komplexe, trick- und fintenreiche Text interessiert hier im Blick auf Goethe wegen fünf Momenten: (1) Er verbindet Zentrierung und Dezentrierung und (2) entmächtigt dabei die Wertungsmacht der kritischen Kommunikation; (3) er verhandelt anonymisierte Meinungsbildung und (4) unauflösbare Uneinigkeit; (5) und er demonstriert in seinem Vollzug die Deutungskraft, die vom Modell des Gesamtwerks ausgeht. Erstens tendiert das konzentrierte Interesse für einzelne, herausragende Autoren dazu, das Interesse zu dezentrieren und auf weniger bedeutende Autoren zu lenken, die dazu dienen, die „Zeit und Umgebung“ z. B. Goethes „vollständiger kennen zu lernen“ (z. B. KS II, 173). Zweitens ist es bei diesem liebevollen Interesse unwichtig, ob man sich über Fragen der künstlerischen Wertigkeit einigt – verschiedene Wertungen können bei gleichem Interesse nebeneinander bestehen, markieren die Standpunktgebundenheit und beleuchten wechselseitig die blinden Flecken der je anderen Positionen (z. B. KS II, 175). Tieck hat sich folglich keinen Illusionen über die literarische Kommunikation hingegeben. An Goethe schreibt er am 23. Oktober 1823: „Bei der jetzigen Anarchie ist es kaum möglich, in der Menge ein ruhiges Gehör zu finden“.562 Immerhin mit dieser Diagnose konnte er bei seinem _____________ 558 Zu Goethes Opposition zum Zeitgeschmack im Alter vgl. das Nachwort von Norbert Miller zur Italienischen Reise (MA 15, 692ff.). 559 Hurlebusch: Klopstock und Goethe, S. 23. 560 So in Die neue Volkspoesie von 1827 (KS II, 130). 561 So in unmittelbarer Nähe zu den zitierten Briefen von Goethe und Schiller in der Besprechung Der Neuesten Musenalmanache und Taschenbücher im Archiv der Zeit (1796ff.; KS I, 111f.). 562 Zit. nach Dichter über ihre Dichtungen. Bd. 9/3, S. 203.
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Adressaten mit Einverständnis rechnen. Falk notiert über sein Gespräch mit Goethe vom Ostermontag 1808: Kürzlich hat eine Gelehrtenzeitung […] Friedrich Schlegel als den ersten deutschen Dichter und Imperator in der Gelehrtenrepublik förmlich ausgerufen. Gott erhalte Se. Majestät auf Ihrem neuen Throne und schenke denenselben eine lange und glückliche Regierung! Bei alledem möchte man es nicht bergen, daß das Reich dermalen noch von sehr rebellischen Untertanen umlagert ist, deren wir einige, indem er einen Seitenblick auf mich warf, sogar in unserer eigenen Nähe haben. Übrigens geht es in der deutschen Gelehrtenrepublik jetzt völlig so bunt zu wie beim Verfall des römischen Reiches, wo zuletzt jeder herrschen wollte, und keiner mehr wußte, wer eigentlich Kaiser war. [...] Wie lange mir mein alter Imperatorenmantel noch auf den Schultern sitzen wird, läßt sich nicht vorausbestimmen; ich weiß es selbst nicht. Doch bin ich entschlossen, wenn es je dahin kommen sollte, der Welt zu zeigen, daß Reich und Zepter mir nicht ans Herz gewachsen sind, und meine Absetzung mit Geduld zu ertragen [...]. Ja, wovon sprachen wir doch gleich? Ha, von Imperatoren! […] Ich [..] bin damit zufrieden, daß man bei meinen Lebzeiten alles nur erdenkliche Böse von mir sagt; nach meinem Tode aber sollen sie mich schon in Ruhe lassen, weil der Stoff schon früh erschöpft ist, so daß ihnen wenig oder nichts übrig bleiben wird. Tieck war auch eine Zeitlang Imperator; aber es währte nicht lange, so verlor er Zepter und Krone. Man sagt, es sei etwas zu Titusartiges in seiner Natur, er sei zu gütig, zu milde gewesen, das Reich aber fodere in seinem jetzigen Zustande Strenge, [...] eine fast barbarische Größe. Nun kamen die Schlegel ans Regiment; da ging’s besser! [...] Es verging kein Tag, wo nicht irgend jemand ins Exil geschickt oder ein paar Exekutionen gehalten wurden. So ist’s recht.563
Selbst wenn Goethe tatsächlich der Auffassung gewesen sein sollte, mit den Brüdern Schlegel sei „nichts anzufangen; die müßte man prügeln“: Aus kritischer Perspektive saß er mit ihnen in einem Boot.564 Wie im Fall der Dichotomisierung der aufklärerischen Literaturlandschaft in ‚Zürich‘ und ‚Leipzig‘ würde man die Verhältnisse unangemessen vereinfachen, wenn man etwa die Situation ‚um 1800‘ im Dreieck ‚Weimar‘ – ‚Jena‘ – ‚Berlin‘ ordnen wollte. ‚Weimar‘ war ebensowenig ein monolithischer Block wie die anderen ‚Orte‘. Auch hier entsteht eine Situation der chaotischen Frontverläufe und der der Eindruck einer entsprechend undurchsichtigen Bedrohungssituation, der Partisanen- und Spionagetaktiken, der Doppelspiele und Verstellungen.565 Ein Kräftediagramm, das diese Machtverhältnisse aufzeichnen wollte, müßte entweder auf klare räumliche Zu_____________ 563 Goethe: Gespräche. Bd. 1, S. 522f. 564 Schmitz: „Poetenblut düng‘ unsern Platten Grund“, z. B. S. 273ff., 300ff. – die zitierte Stelle stammt aus einem Brief von Johann Daniel Sander an Carl August Böttiger vom 4. Oktober 1800 (ebda., S. 275). Im Überlick zum Thema vgl. Hoffmeister: Goethe und die europäische Romantik; zu Tieck ebda., S. 37f. Zur kritischen Zurückhaltung in Rücksicht auf Goethe vgl. Behler: Athenaeum, S. 17f., auch S. 49f. 565 Vgl. zum ‚Lavieren‘ Wielands zwischen den Fronten: Schmitz: „Poetenblut“, S. 276ff.
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ordnungen verzichten oder eine wesentlich detailliertere Landkarte konstruieren. Schiller jedenfalls schreibt an Wilhelm von Humboldt am 17. Februar 1803 über die Lage: „An ein Zusammenhalten zu einem guten Zweck ist nicht zu denken, jeder steht für sich und muß sich seiner Haut wie im Naturstande erwehren“ (NA 32, 12). Auch wenn die Ausführungen Tiecks zu Goethe und seiner Zeit angesichts dieser alten Unübersichtlichkeit den Streit über die literarische Qualität von Goethes Produktion nicht schlichtet, so einigen sich – drittens – alle Beobachter im Gespräch über Goethe bei einer geheimen Wahl doch darauf, daß sich das Werk allenfalls bis hin zur Italienischen Reise auf höchstem künstlerischem Niveau bewegt (KS II, 222). Auch diese Pointe bleibt allerdings nicht unwidersprochen (KS II, 223). Am Ende vermittelt der Text also – viertens – performativ ein Fazit: Die Uneinigkeit über ein Werk bietet vor allem die Möglichkeit, Beobachtungen des Werks zu stimulieren und dem Autor und seinem Werk Unerschöpflichkeit zu attestieren (KS II, 217). Wie gesagt: Die Philologie findet nicht umsonst einen geeigneten Gegenstand im Werk Goethes, das alle Wege zu ihrer Selbstentfaltung anbietet. Wahrscheinlich wäre Goethe mit Tiecks Beitrag nicht einverstanden gewesen, weil er in dieser Zeit an der Ausgabe letzter Hand arbeitet und dabei unentwegt auf seine andauernde Produktivität Wert legt – aus ästhetischen und aus buchhändlerischen Gründen (5.4.2 a). Zudem hat sich Goethe schon früh gegen die Aufwertung des Frühwerks verwahrt, gewissermaßen entgegen der gängigen, von ihm selbst auf Klopstock angewandten Skepsis gegenüber dem Spätwerk. Das Vorwort zu den Propyläen stellt daher ebenso wie seine Hackert- und seine Cellini-Biographie ein Einspruch gegen die romantische Theorie vom Frühvollendeten und ein Votum für den Wert lebensgeschichtlicher Reife dar.566 Goethe gelingt, was Wieland nur projektiert und was Klopstock erfolglos produziert: ein Gesamtwerk zu schaffen, das die kritische Kommunikation transzendiert und eine selektionslose Aufmerksamkeit provoziert, wie sie insbesondere die Philologie entfaltet. Und eben in dieser Hinsicht – dies ist der fünfte und letzte Punkt, den ich an Goethe und seine Zeit festhalten will – bestätigt Tieck Goethes Werkpolitik: Denn das Faible für das Jugendwerk Goethes soll vor allem auch demonstrieren, daß Tieck sich noch im Alter in seine eigene Leser- und Autorenjugend einfühlen kann, daß er eine kontinuierliche Biographie zu bieten hat und somit ‚gesamtwerkfähig‘ ist, daß er selbst bis hin ins Spätwerk künstlerische Vitalität bewahrt und daß er daher beobachtungswürdig und buchmarkttauglich bleibt.567 _____________
566 Paulin: Künstlerbiographie, S. 335; vgl. zum Thema Küpper: Das inszenierte Alter, S. 71ff. 567 Tieck schreibt am 24. Dezember 1823 an Goethe: „Worinn ich mich am meisten beruhige, ist, daß ich jung genug bleibe, um Ihre Werke mit dem Enthusiasmus meiner Jugend noch
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5.4.2 Goethe als Virtuose des Gesamtwerks Goethe, so war zu sehen, nutzt die Verschiebungen der Temporalsemantik, die Autoren wie Klopstock oder Wieland in auffälliger Weise vorangetrieben haben, und diese spezifische Temporalität seines Werks wird von Beobachtern bemerkt. Diese richten sich auf einen Werkumgang ein, der multiperspektivisch organisiert ist und eine Fülle von Akzentuierungen, Nivellierungen, Bezügen und Grenzziehungen ermöglicht. Und selbst wenn die Leser, wie Tieck, gegen Goethes Lebenswerk votieren, dann bestätigen sie doch unter der Hand in der Art ihrer Beschäftigung mit dem Werk dessen Kommunikationswert. ‚Werk‘ meint bei Goethe dabei in besonderem Maß ‚Gesamtwerk‘, und es gehört zu den Eigentümlichkeiten dieses Autors, das gerade seine so disparaten Einzelwerke und die so divergenten Richtungen seiner Produktivität das Einheitsverlangen der Leser auf eine außerordentliche Art und Weise stimuliert haben. Goethe also war, mit einem Wort, ein Virtuose des Gesamtwerks, und die Verfahren der entsprechenden Werkpolitik lassen sich an seinem Beispiel mit besonderer Deutlichkeit herausarbeiten. Fünf autorisierte Ausgaben von Goethes Werken wurden zu seinen Lebzeiten veranstaltet, wobei bereits zehn mehrbändige ‚Gesamtausgaben‘ auf dem Mark waren, bevor er selbst sich an die Arbeit machte:568 Die Reihe beginnt mit den Schriften bei Göschen (1787-90), dann folgen die Neuen Schriften bei Unger (1792-1800), und schließlich erscheinen drei Werkausgaben bei Cotta (1806-10, 1815-19, 1827-30). Die letzte der Cotta-Editionen stand „unter des durchlauchtigsten deutschen Bundes schützenden Privilegien“ und war damit erstmals vor Nachdruck im Sinne der Ideen des Urheberrechts geschützt. An der Konzeption dieser Werkausgaben will ich drei Momente der Werkpolitik entwickeln: zum einen die stimulierende Wirkung, die das Werk als Reflexionshorizont und als Operationsraum der dichterischen Arbeit für die fortlaufende Produktion von Werken entfaltet (a); zum zweiten die Bewältigung der sich daraus ergebenden Probleme der Einheit des Gesamtwerks sowie die Provokation einer Lektürehaltung durch Werkhaftigkeit als Publikationsmodus, die auf eine selektionslose Form der Aufmerksamkeit zuläuft (b); zum dritten die Werkfunktion der Lyrik, die an die Stelle direkter und expliziter Programmierungen tritt (c). Von dort aus erschließen sich die Transformationen _____________
immmerdar geniessen zu können, indem meine wachsende Jahre dazu dienen, diese unwandelbare Treue und Liebe zu rechtfertigen“ (Dichter über Dichtungen 9/2, S. 235). Vgl. auch S VI, VI sowie 5.3.5 a. 568 Vgl. dazu Füssel: Studien zur Verlagsgeschichte und zur Verlegertypologie der GoetheZeit, S. 105; ausführliche Darlegung der Materialien in verlagsgeschichtlicher Hinsicht bei Unseld: Goethe und seine Verleger.
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zwischen Goethes Werkpolitik und der Goethe-Philologie, die Ausblicke bis zum Ende des 19. Jahrhunderts und damit bis in die Zeit Stefan Georges eröffnen (5.4.3). a) Die Selbstanregung des Werks Goethe konnte sich zwar als Autor einige Freiheiten herausnehmen, aber er war nicht nur der souveräne Akteur auf dem Parkett des Buchhandels.569 Im Gegenteil: Die dichterische Produktion steht bei ihm zu einem beträchtlichen Teil unter Marktzwängen. Dies gilt beispielsweise für die lyrische Almanach-Produktion,570 dies gilt aber auch für Sammlungen zu angekündigten Bänden von Werkausgaben, die einen bestimmten Umfang erreichen müssen.571 Man sieht daran zumindest ansatzweise, wie sich medienhistorisch ‚Buch‘ und ‚Werk‘ verbinden und wie die Buchförmigkeit der Werkkonzeption eine nicht zu unterschlagende Vorgabe für die Produktion von Texten ist und Intentionen von Autoren (mit)erzeugt.572 Goethe hatte eine genaue Vorstellung vom Buchcharakter eines Werks. Während der Arbeit an den Schriften, die bei Göschen zwischen 1787 und 1790 erscheinen,573 beschwert er sich in diesem Sinn bei seinem Verleger über deren mangelhafte äußere Aufmachung und unterscheidet über Format, Papier- und Druckqualität eine „Zeitschrift“ von einem „Buche […], das doch einige Zeit dauren sollte“ (WA IV, 8, 277; 27. Oktober 1787). Bereits für den ‚jungen Goethe‘ ist jedoch die Buchförmigkeit _____________ 569 Einen ersten Ansatz folgender Darstellung habe ich entwickelt in: Zwischen Dichtung und Wahrheit. – Für eine feldtheoretische Beschreibung insbesondere des ‚jungen Goethe’ vgl. Wolf: Streitbare Ästhetik. 570 Goethe selbst schreibt an Christoph Ludwig Friedrich Schultz am 10. Januar 1829: „Hätt es ihm [Schiller, S.M.] nicht an Manuscript zu den Horen und Musenalmanachen gefehlt, ich hätte [...] die sämmtlichen Balladen und Lieder, wie sie die Musenalmanache geben, nicht verfaßt, die Elegien wären, wenigstens damals, nicht gedruckt worden, die ‚Xenien‘ hätten nicht gesummt [...]“ (WA IV, 45, 118). 571 An Schiller schreibt Goethe am 3. August 1799: „Meine Einsamkeit im Garten wende ich vor allen Dingen dazu an, daß ich meine kleinen Gedichte, die Unger nunmehr zum siebenten Band [der Neuen Schriften, S.M.] verlangt hat, noch näher zusammenstelle und abschreiben lasse. [...] Wenn ich noch ein paar Dutzend neue Gedichte dazu tun könnte, um gewisse Lücken auszufüllen und gewisse Rubriken, die sehr mager ausfallen, zu bereichern so könnte es ein recht interessantes Ganze geben“ (MA 8.1, 732f.). 572 In diese Richtung geht Schärf: Goethes Ästhetik, S. 62. Vgl. dazu auch seine Überlegungen zum Zusammenhang von „Autopoiesis und dichterische[r] Produktion“ (ebda., S. 40ff.). Der Unterschied zwischen Schärf und meinem Ansatz besteht darin, daß ich nicht allein die Schrift, sondern ebenso Einheiten wie ‚Werk’ oder ‚Buch’, die von der Fokussierung auf ‚Schrift’ unterlaufen werden sollen, für wichtig halte. 573 Vgl. dazu Füssel: Studien zur Verlagsgeschichte und zur Verlegertypologie der GoetheZeit, S. 106ff.
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vor jeder Werkhaftigkeit seiner Texte als Perspektive wichtig. So schreibt er an seine Schwester im August 1767: Apropos ma soeur de mes vers: Si tu poursuis de tant me louer, je ne parlerai de rien autre: Behrish en donne une nouvelle edition au jour, qui surpassera tout ce qu’on a vu de tel. Tu scais que tous les ans au Mois d’Aout j’ai compilé un Volume de mes oeuvre annuaires de 500 pages in quarto magiore. Pour ne pas desister toutafait de ce bon institut, le grand conseil poetique s’assembla, ou furent lues toutte les poesies qui sortirent de ma plume depuis que je rode autour de la douce Pleise. (WA IV, 1, 97)574
Ein Gegenbeispiel dazu, wie die Orientierung aufs Buchformat die Produktion stimuliert, gibt in gewisser Hinsicht die Konzeption des autobiographischen Werks in der Werkausgabe letzter Hand: Auf der einen Seite wird hier schlicht durch falsche Berechnungen der Platz knapp, weil andere Werke mehr Bände als geplant einnehmen; auf der anderen Seite stellt Goethe die Arbeit an Dichtung und Wahrheit immer wieder zurück zugunsten von Werken, die, wie Faust II, im Plan der Werkausgabe gar nicht vorgesehen waren.575 Im letzteren Fall verhindert das Lebenswerk das autobiographische Werk. Um zumindest ein Beispiel für den Zusammenhang von Buchformat und Werkproduktion anzuführen: Bei der Überarbeitung der Wanderjahre hatte Goethe eine Ausgabe in drei Bänden geplant. Im Druck stellte sich allerdings heraus, daß „besonders die beyden letzten Bände zu klein ausfielen“ – Goethe war von der „weitläufige[n] Hand des Abschreibers getäuscht“ worden (an Reichel, 4. März 1829; WA IV, 45, 191). Er findet einen Ausweg aus dieser „Verlegenheit“, indem er Eckermann zwei „starke Manuscript-Bündel“ in die Hand drückt mit dem Auftrag, „sechs bis acht gedruckte Bogen“ aus dieser Sammlung von „bisher ungedruckten Schriften [...] zusammen[zu]redigiren, um damit vorläufig die Lücken der Wanderjahre zu füllen“. Daraufhin entsteht der Werkteil „Aus Makariens Archiv“, dem dann auch noch die Gedichte auf Schillers Totenschädel und Vermächtnis anhängen, weil Goethe den „Wunsch“ hegt, „diese Gedichte sogleich in die Welt zu bringen“. Die Leser reagieren verwirrt, das Publikum erkennt keinen Zusammenhang zwischen Roman und Anhang, und auch „die beyden Gedichte“ wurden „so wenig verstanden, als es geahnt werden konnte, wie sie nur möchten an solche Stelle gekommen seyn“. Der Autor aber ist amüsiert: „Goethe lachte dazu“, berichtet Eckermann. Der Adlatus erhält den Fol_____________ 574 Behrisch hat die Juvenilia jahrweise und zu voluminösen Bänden zusammengefaßt (Nordheim: Goethes Buch ‚Annette‘ – nach 200 Jahren, S. 57). 575 Hagen: Goethes autobiographische Schriften in der Inhaltsplanung der Ausgabe letzter Hand, S. 182f.
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geauftrag, bei der Nachlaßausgabe die „Sachen“ dorthin zu verteilen, „wohin sie gehören“.576 Ein zweites Moment, durch das der Markt neben der Orientierung an der ‚Buchförmigkeit‘ der Werke zur Triebfeder der Produktion des Werks wird, ist die Konkurrenz zwischen Verlegern sowie zwischen Verlegern und Nachdruckern.577 Die Nachdrucke seiner Schriften bei Himburg motivierten Goethe, sich mit Konsequenz an eine Werkausgabe zu machen. Am 5. Juni 1786 schreibt Bertuch an Göschen: Ich erfuhr von Himburg in der Meße, daß er eine neue Auflage von Göthens Schriften vorhabe, machte ihm die Hölle darüber ein bißgen heiß, so daß er mir sagte, er wolle Göthe, der, wie ich wußte, schon seit etlichen Jahren an der ersten eigenhändigen Ausgabe seiner Wercke arbeitet, und dazu noch wenigstens 3 Bände ungedruckte liegen hat; und er ärgerte sich so darüber, daß er schwur, Himburg solle sie nicht haben, und er wolle seine Ausgabe jetzt ohne Zeitverlust veranstalten.578
Entgegen dieser Darstellung erklärt Goethe später in Dichtung und Wahrheit Himburg zum einzig Verantwortlichen für die gedruckten Werke, weil er sich in seiner Selbstdarstellung auf das Konzept vom jugendlich-„unwillkürlichen“ Dichten festlegt (MA 16, 716f.). Die Werkausgabe wird also auch über die Konkurrenz auf dem Buchmarkt zum Reflexionshorizont der eigenen Produktion, und daraus ergibt sich dann ein Problem, das zum Mythos der Italienischen Reise gehört, wie nämlich die vorliegenden Werke vollendet und überarbeitet werden sollten. In der Allgemeinen Litteratur-Zeitung war entsprechend am 31. Mai 1786 zu lesen, Goethe arbeite an einer „neuen Ausgabe seiner sämmtlichen Werke, welche nicht allein seine schon bekannten, obgleich ohne sein Wissen und seinen Willen gesammleten und zusammengedruckten Arbeiten, sondern auch seine noch ungedruckten enthalten, und wahrscheinlich bald erscheinen wird“.579 Göschen legt dabei nachdrücklich Wert darauf, daß Goethe öffentlich die bisherigen Ausgaben seiner Werke „nicht für Ausgaben seiner Hand“ anerkenne und daß er jetzt „die Göthenschen Werke theils in ganz anderer Gestalt theils vermehrt um _____________ 576 So nach dem Gespräch mit Eckermann am 15. Mai 1831 (Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken. Bd. 2, S. 708f.). 577 Zu Goethes Marktstrategien vgl. Werber: Der Markt der Musen. – Mit Werber gehe ich davon aus, daß mit der Ausdifferenzierung des Literatursystems der Code interessant / uninteressant leitend wird. Werber kommentiert diese Poetik der Konsumenten: „Das Wahre bleibt wahr, das Schöne schön, während das Neue nach der Lektüre alt ist und das Interessante langweilig“ (ebda., S. 200). Dagegen gehe ich davon aus, daß das Interessante länger als nur beim ersten Blick interessant sein kann, weil es durch Zeit- und Aufmerksamkeitsinvestition immer interessanter wird und weil mögliche Mängel die Interessantheit und damit die Aufmerksamkeit nicht schmälern. 578 Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken. Bd. 1, S. 4. 579 Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken. Bd. 1, S. 3.
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viele noch ungedruckte Sachen erhalte“580 – im Avertissement zur Ausgabe der Schriften, das in verschiedenen Zeitschriften erscheint, wird das dann auch so ausformuliert.581 Die Werkhaftigkeit der eigenen Arbeit stimuliert indes nicht allein die Überarbeitung, Vollendung oder Neuproduktion von Texten, sondern auch den Einbezug bereits vorliegender Werke in den Kontext des Gesamtwerks. Die Werkausgaben nehmen im Lauf der Zeit an Umfang immer weiter zu. Die Gründe dafür sind vielfältig: Es spielen individualpsychologische Momente hinein wie das Bewußtsein der eigenen Historizität nach dem Tod Schillers oder wie die Erfahrungen der Plünderung Weimars nach der Schlacht bei Jena (1806), die Goethe verdeutlichte, wie gefährdet die Überlieferung seiner Manuskripte war.582 Zugleich aber gilt schlicht die Komplettierung und Erweiterung einer Neuausgabe als entscheidender Kaufanreiz gegenüber anderen Ausgaben auf dem Markt. Goethe wird bei der Erstellung eines konzeptionellen Lebenswerks, wie schon Wieland, von den Konkurrenzverhältnisse auf dem Buchmarkt getrieben, und dies schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt.583 Der Mechanismus ist einfach: Konnte ein Nachdrucker eine größere Anzahl an Einzelwerken liefern als der Autor, dann hatte dieser in der Konkurrenz um den Kunden das Nachsehen. An Cotta schreibt Goethe am 16. November 1810 beispielsweise im Blick auf einen Wiener Nachdruck (1806-1810): Hauptsächlich wünschte ich zu sehen, was sie noch abgedruckt haben, das in unserer Ausgabe nicht steht; und ich hätte große Lust, einen Supplementband, besonders Gedichte, an den Tag treten zu lassen. Es ist manches darunter aus meinen ersten Zeiten, das wegen verschiedener Ursachen bisher zurückblieb, jetzt aber wohl das Tageslicht wird anblicken dürfen.584
_____________ 580 Brief von Göschen an Bertuch vom 30. Juni 1786 (Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken. Bd. 1, S. 13; vgl. dazu auch Füssel: Studien zur Verlagsgeschichte und zur Verlegertypologie der Goethe-Zeit, S. 109). Konzeptionell orientiert sich Goethe dabei an Herder (Otto: Die Gedichtsammlungen in den autorisierten Ausgaben von Goethes Werken 1789-1827, S. 19), der in den Zerstreuten Blättern Juvenilia veröffentlicht und dazu schreibt: „Das erste Stück dieser Sammlung heißt Bilder und Träume; und ich hätte ihm gern einen noch bescheidenern Namen geben mögen, wenn ich einen solchen gewußte hätte. Es sind Jugendbilder und Jugendträume, die, so wenig sie Gedichte seyn mögen, ihrem Verfasser den Namen eines Dichters zu erwerben auch ganz und gar nicht im Sinne haben. Sie wurden nicht zum Druck geschrieben, sind zum Theil zwanzig Jahre alt, dazu sehr nach der alten Weise, d.i. äußerst simpel. [...] Ich bitte also auch diese Kleinigkeiten nicht als Kunstwerke höherer Art, sondern als alte Verse oder gar als Prose zu lesen“ (Herder: Zerstreute Blätter. Dritte Sammlung, S. VIIIf.). 581 Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken. Bd. 1, S. 22ff. 582 Müller: Autobiographie und Roman, S. 249f. 583 Vgl. beispielsweise das Gedicht Der vierte Theil meiner Schriften (1779), in dem es heißt: „Was man andern nach dem Tode thut, / That man mir bei meinem Leben“ (W I, 5.1, 161). 584 Goethe / Cotta: Briefwechsel 1797-1832. Bd. 1, S. 215f.
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Ungefähr einen Monat später, am 17. Dezember, legt Cotta nach: „[...] die Idee eines Suplembandes der Gedichte, wozu ich den Wiener Nachdruck sogleich beschriben habe, wird nothwendig und erhält fürs Publikum ein erhöhetes Interesse“.585 Die entscheidenden Stichworte tauchen auf: zum einen der Einbezug des bisher offensichtlich nicht für publikationswert gehaltenen Frühwerks, zum anderen die Orientierung am „Interesse“ des Publikums. Daß die Arbeit an dieser Werkausgabe zugleich die Zeit des Arbeitsbeginns an Dichtung und Wahrheit ist, paßt ins Bild. Die Autobiographie sollte ja die den Lesern verweigerte chronologische Ordnung der Werke ersetzen (MA 16, 10f.),586 und sie übernahm die Aufgabe, das werkpolitische Ideal der Werkganzheit zu simulieren: Seine Gedichte seien „Bruchstücke einer großen Confession“, heißt es in einer berühmten Sequenz, „welche vollständig zu machen dieses Büchlein [Dichtung und Wahrheit, S.M.] ein gewagter Versuch ist“ (MA 16, 306) – die „Confession“ erscheint mir dabei weniger ‚bedeutsam‘ zu sein als das Telos der Selektionslosigkeit. Während also im Kampf gegen den Nachdruck die Vervollständigung der Werke ein probates Mittel war,587 übernimmt Dichtung und Wahrheit die Funktion, diese Erweiterung zu plausibilisieren: „Sollte es nicht besser, wircksamer und vortheilhafter seyn“, schreibt Goethe am 28. September 1811 an Cotta, „gleich jetzt zu einer correckten, und completen Auflage zu schreiten, die um so vollständiger seyn könnte, als meine Confessionen den Weg bahnen, manches was für sich nicht bestünde als einen Theil des Ganzen aufzustellen“?588 Und drei Monate später kann er seinem Verleger melden: Meine biographischen Eröffnungen haben die Wirkung gethan die ich hoffte, indem, außer dem Antheil, den man meinen Arbeiten im ethischen und ästhetischen Sinne schenkt, man auch nunmehr darinn die Stufen meiner Bildung aufsucht, die man umsomehr zu eignen Vortheil zu erkennen strebt, als so manche jüngere, sich an mir gebildet zu haben mit Offenheit und Vergnügen gestehen.589
Die genannten Leitorientierungen der selektionslosen Aufmerksamkeit wie ‚Vollständigkeit‘ oder ‚Ganzheit‘ gelten nicht nur für historisch weit zurückliegende Werke, sondern sie werden zum Reflexionshorizont von Autoren selbst, sie werden zum Teil eines Werkkalküls, das sich auf die _____________ 585 Goethe / Cotta: Briefwechsel 1797-1832. Bd. 1, S. 220. 586 Müller: Autobiographie und Roman, S. 249ff. Wichtig sind hier vor allem auch die Hinweise auf die Erfahrung des Scheiterns und auf die Sorge um ein Mißverstanden-Werden, das im Hintergrund des autobiographischen Projekts bei Goethe steht (ebda., z. B. S. 258). 587 Vgl. dazu auch Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken. Bd. 1, S. 451, 454f., 491. 588 Goethe / Cotta: Briefwechsel 1797-1832. Bd. 1, S. 229. 589 Goethe / Cotta: Briefwechsel 1797-1832. Bd. 1, S. 265.
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Bedingungen von literarischer Produktion und Rezeption zeitgemäß einrichtet. Als Goethe 1826 seine „sämmtlichen Werke“ in einer „vollständige[n] Ausgabe letzter Hand“ anzeigt, vermerkt er bei der Ankündigung der Ausgabe über seine „Werke“ im Morgenblatt für gebildete Stände eine historische Transformation der Aufmerksamkeitsformen: Vollständig nennen wir sie in dem Sinne, daß wir dabey den Wünschen der neuesten Zeit entgegen zu kommen getrachtet haben. Die deutsche Cultur steht bereits auf einem sehr hohen Punkte, wo man fast mehr als auf den Genuß eines Werkes, auf die Art, wie es entstanden, begierig scheint und die eigentlichen Anlässe, woraus ich jenes entwickelt, zu erfahren wünscht; so ward dieser Zweck besonders in’s Auge gefaßt, und die Bezeichnung vollständig will sagen, daß theils in der Auswahl der noch unbekannten Arbeiten, theils in Stellung und Anordnung überhaupt vorzüglich darauf gesehen worden, des Verfassers Naturell, Bildung, Fortschreiten und vielfaches Versuchen nach allen Seiten hin klar vor’s Auge zu bringen, weil außerdem der Betrachter nur in unbequeme Verwirrung gerathen würde.590
Goethe Diagnose einer Aufmerksamkeitsverschiebung des Publikums und einer entsprechenden Legitimierung des Gesamtwerks weisen philologischen Aufmerksamkeitsmustern einen Ort in einer nicht disziplinär fixierten und nicht wissenschaftlich enklavierten Lesekultur zu, und dies in einer Zeit, in der bereits für Goethes Konzeption der „Nachwelt“ die erwartbare philologische Behandlung seines Werks einen Horizont des Selbstentwurfs im Werk gewesen sein mußte (5.4 u. 5.4.3). Die Ausdifferenzierung der Philologie als eines exklusiven Leseverhaltens mit einer bestimmten Ökonomie der Aufmerksamkeit gehört damit zu einer größeren Verschiebung des Ausschließungsverhaltens, die im 18. Jahrhundert beginnt und im 19. Jahrhundert zu einem dominierenden Selbstdeutungsmuster führt.591 Ich will dies zumindest kursorisch an einer Reihe von Beispielen aus der Editionsgeschichte belegen. Exkurs: Selektionslose Aufmerksamkeit im 19. Jahrhundert Daß Goethe perspektivisch und für einen bestimmten Bereich des Buchmarkts mit seiner Diagnose eines Trends zur selektionslosen Aufmerksamkeit richtig lag, läßt sich an einer Reihe von Werkausgaben zeigen, die _____________ 590 Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken. Bd. 2, S. 361. 591 Der Streit zwischen Heinrich Düntzer und seinem Kritiker, der 1851 die Textrevision der von Düntzer überwachten Ausgabe von Goethes sämtlichen Werken in 30 Bänden bei Cotta im Literarischen Centralblatt für Deutschland einer akribischen Kritik unterzogen hatte, zeigt exemplarisch, welches Interesse philologischen Problemen damals entgegengebracht wurden (Sippell-Amon: Die Auswirkung der Beendigung des sogenannten ewigen Verlagsrechts am 9. 11. 1867 auf die Edition deutscher „Klassiker“, Sp. 364).
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zu wichtigen größeren Editionsprojekten gehören wie den „Neudrucken deutscher Litteraturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts“, den „Deutschen Literaturdenkmalen des 18. und 19. Jahrhunderts“, den „Deutschen Dichtern des 17. Jahrhunderts“ oder der „Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart“. In diesen Zusammenhängen werden Werke ediert im Blick auf eine ‚vollständige‘, ‚ganze‘, ‚völlige‘ oder ‚möglichst erschöpfende‘ Erfassung des Werks. Wie unwahrscheinlich diese selektionslose Aufmerksamkeit war, sieht man an den Selbstbeschreibungen. In der Ausgabe von Paul Flemings lateinischen Gedichten, die J.M. Lappenberg 1863 vorlegt, heißt es beispielsweise in Abgrenzung von älteren Auswahlausgaben lapidar: „Unser Standpunkt ist ein anderer“.592 In Hermann Österleys Simon Dach-Edition von 1876 erklärt der Herausgeber: „[...] erst heute liegt die möglichkeit vor, einen dichter wirklich kennen, beurtheilen und seinem vollen werthe nach schätzen zu lernen [...]“. Man habe bislang versäumt, „ein auf ernster wissenschaftlicher forschung beruhendes gesammtbild unseres dichters und seiner werke zu liefern“, und die Voraussetzung für ein solches „gesammtbild“ sei, so Österley weiter, eine „möglichst vollständige[ ] sammlung aller erhaltenen und erreichbaren gedichte Dachs [...]“.593 Freilich wird man sehen müssen, daß sich Programm und Praxis der selektionslosen Aufmerksamkeit durchaus nicht immer decken, sondern oftmals lediglich überschneiden. Auch hierfür bietet die Dach-Ausgabe von Österley ein gutes Beispiel. Denn selbst wenn Österley für die „Vollständigkeit“ eines Werks plädiert, so präsentiert er gleichwohl nicht alle Gedichte Dachs. Eine „ausscheidung des völlig bedeutunglosen und selbst des weniger bedeutenden“ hält er aus „äußeren gründen“ sowie „um der sache selbst willen“ für unumgehbar.594 Es besteht offensichtlich ein Wertekonflikt zwischen der ‚vollständigen‘ Darstellung eines Werks und dem legitimen Interesse der Gegenwart. Letzteres darf Österley zufolge auf zwei Weisen selektieren: nach Maßgabe der poetischen und nach Maßgabe der literaturgeschichtlichen ‚Bedeutung‘ der Gedichte. Österley vermittelt zwischen diesen beiden Werten, indem er eine Auswahl an Gedichten ediert, aber ein komplettes Verzeichnis aller bekannten Gedichte Dachs hinzufügt, so daß man „wirklich ein vollständiges gesammtbild des dichters und seiner werke“ erhält.595 Interessant an Österleys Ausschließungverhalten und der entsprechenden Legitimationsstrategie ist wiederum, daß die deutlich konfliktär organisierten Ansprüche der Orientierung an der lyrischen Gesamtausga_____________ 592 593 594 595
Fleming: Lateinische Gedichte (1863), S. 480. Simon Dach (1876), S. 1f. Simon Dach, S. 14. Simon Dach, S. 15.
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be und an der lyrischen Auswahlausgabe auf die Unwahrscheinlichkeit des Werkkriteriums ‚Vollständigkeit‘ hinweist. Darüber hinaus zeigt Österleys Entgegensetzung von ‚vollständiger Ausgabe‘ auf der einen Seite und von ‚literaturgeschichtlicher‘ sowie ‚poetischer‘ Bedeutung für die Gegenwart auf der anderen Seite, daß er die Möglichkeiten, die sich der Werkästhetik im 19. Jahrhundert bieten, nicht wirklich erkannt oder zumindest nicht – wie andere – ausgeschöpft hat. Es ist nämlich gerade die geschichtliche Bedeutung in einem mehrfachen Sinn, die die poetische Bedeutung eines Werks entweder unterläuft oder ausmacht, und es ist die Orientierung an der geschichtlichen Bedeutung, die eine selektionslose Aufmerksamkeit etabliert. Die Vergeschichtlichung des Werks, die das Ausschließungsverhalten auf eine fundamentale Weise ändert, hat eine literatur- und eine lebensgeschichtliche Dimension. Wenn Hermann Palm 1884 Andreas Gryphius’ „Lyrische Gedichte“ herausgibt, dann geht es wiederum um eine „völlige[ ] würdigung des dichters“596, und weil es zunächst um den Dichter und erst in zweiter Linie um die Gedichte geht, sollen eben auch alle Gedichte dieses Dichters vorgestellt werden. Das Prinzip der chronologischen Anordnung von Gedichten spielt daher eine große Rolle.597 Die Synchronisierung von lyrischem Werk und Leben soll, wie es in der kritischen Gesamtausgabe von Klopstocks Oden von Franz Muncker und Jaro Pawel aus dem Jahr 1889 heißt, ein „getreues Bild von dem geistigen Werden und Wachsen eines Dichters“ vermitteln.598 An die Stelle der poetischen Qualität als eines primären Selektionskriteriums tritt die Zeit, und die Zeit dient eben der Komplexitätssteigerung durch Nachordnung, also durch die Abnahme von Selektionsbedarf. Carl Schüddekopf legt beispielsweise 1893 großen Wert darauf, die Gedichte von Johann Nicolaus Götz im Unterschied zu älteren Editionen „mit allen irdischen Gebrechen und Zufälligkeiten“ vorzulegen.599 _____________ 596 Gryphius: Lyrische Gedichte (1884), S. 1. 597 Die Probleme, die eine chronologische Ordnung verhindern, sind signifikant: Zum einen fehlt oftmals die materiale Grundlage, um eine Chronologie festlegen zu können (z. B. Uz: Sämtliche poetische Werke [1890], S. LXXXIX), was bereits die Frage nach dem ‚Sinn‘ des chronologisch fixierten Textes aufwirft. Zum anderen fallen den Editoren die Gattungsdifferenzen ins Auge, die sich offensichtlich nicht mit der Bindung von Leben und Werk vereinen lassen. Über Gryphius’ „lyrische Gedichte“ schreibt Palm 1884: „Was nun den inhalt dieses bandes betrifft, so besteht dessen grösster teil aus religiösen und nur der kleinste aus weltlichen dichtungen; jene sind der treue ausdruck des ganzen geisteslebens, des denkens und empfindens des dichters, wie es in jener zeit kaum anders gedacht werden konnte“ – daß „diese“ auch der „treue ausdruck“ sein könnten, scheint ‚undenkbar‘ zu sein (Gryphius: Lyrische Gedichte, S. 6f.). 598 Klopstock: Oden (1889), S. V. 599 Götz: Gedichte aus den Jahren 1745-1765 in ursprünglicher Gestalt (1893), S. XIIf. Ein aufschlußreiches Beispiel für die Aufmerksamkeitserweiterung durch biographische Orien-
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Zu den erwähnten Paradoxien der Werkästhetik gesellt sich in diesem Zusammenhang auch diese, daß das Interesse am Autor als selektionsminderndes Verfahren und als Ausweis der „Treue“ gegenüber dem Werk dazu führen kann, den Autorwillen zu unterlaufen, wie er sich in den autorisierten Ausgaben dokumentiert. Ein besonders radikales Beispiel dafür ist Ernst Elsters Ausgabe von Heinrich Heines Buch der Lieder, die im übrigen durchaus vorbildhaft gewirkt hat, etwa auf die Ausgabe der Gedichte von Johann Peter Uz, die August Sauer 1890 veranstaltet.600 Elsters Heine-Ausgabe erscheint 1887 in der von Bernd Seuffert herausgegebenen Reihe der „Deutschen Literaturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts in Neudrucken“. Hier bringt der Herausgeber das Buch der Lieder in einer „Gestalt, in welcher der Dichter es niemals veröffentlicht hat“. Mit dem Ziel einer „ästhetisch-psychologischen Analyse“ legt er die „Heineschen Jugendgedichte in der erreichbar ältesten Gestalt“ vor, also nach Möglichkeit in der Fassung der Handschriften oder der Erstausgaben vor deren Zusammenfassung zum Buch der Lieder. Hier nämlich, vor der Bündelung der Gedichte zum autorisierten lyrischen Werk, habe Heine die eigentliche Revision vorgenommen, von der die späteren Verbesserungen und Veränderungen nur noch ein schwaches Bild vermittelten.601 Neben dem Konzept „Lebens-“ bzw. „Werkgeschichte“ dient in diesem Sinn das Konzept „Literaturgeschichte“ als zweite Schiene, um das Ausschließungsverhalten auf Selektionslosigkeit, also auf die Aufmerksamkeit auch für das Unvollkommene, umzustellen. Hermann Palm legitimiert seine kritische Gryphius-Ausgabe neben dem Interesse an der Dichterpersönlichkeit durch den „einfluß“, den Gryphius ausgeübt habe.602 Beim kritischen Neudruck von Gryphius‘ Sonn- und Feiertags-Sonetten durch Heinrich Welti von 1883 rubriziert der Herausgeber zwar einleitend die „religiöse Kunstdichtung“ des 17. Jahrhunderts als „geschmacklose, leere Formspielerei“, hält aber Gryphius’ geistliche Dichtung für edierenswert, weil sie die „Germanisierung des Sonetts“ und die Annäherung an „nationale[s] Empfinden“ dokumentiere.603 Ebenso besteht im Fall von _____________
600 601 602 603
tierung bietet Christoph Theodor Schwabs Hölderlin-Ausgabe: Schwab läßt Hölderlins poetisches Werk mit dem Gedicht Das Schicksal beginnen, weil sich hier Hölderlins „Eigenthümlichkeit“ erstmals gezeigt habe. Die „Jugendgedichte“ hingegen nimmt er zwar auf, aber eben nur als Lebensdokumente im Briefband, und auch „aus der Periode der Geistesverwirrung“ rechnet Schwab nur diejenigen Gedichte zur Werkausgabe, bei denen es „das biographische Interesse unumgänglich nothwendig erscheinen läßt“ (Hölderlin: Sämmtliche Werke. Bd. 1 [1846], S. IXf.). Uz: Sämtliche poetische Werke, S. LXXXIX. Heine: Buch der Lieder nebst einer Nachlese nach den ersten Drucken oder Handschriften (1887), S. IIIf. Gryphius: Lyrische Gedichte, S. 1. Gryphius: Sonn- und Feiertags-Sonette (1883), S. IV, IXf.
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Angelus Silesius’ (alias Johann Schefflers) Cherubinischem Wandersmann bei Georg Ellinger 1895 kein Zweifel, daß man den „geistreiche[n] Sinn- und Schlussreime[n] [...] nicht gerecht wird, wenn man sie ausschliesslich unter dem Gesichtspunkte ihres poetischen Wertes betrachtet“, sondern daß sie „in ihrer ganzen Bedeutung erst dann erkannt werden können, wenn man sie im Zusammenhange mit der grossen Geistesrichtung prüft, als deren Niederschlag sie anzusehen sind“: Sie seien „das poetische Denkmal für jene Epoche des deutschen Geisteslebens, in der zahlreiche der edelsten und tiefsten Geister Deutschlands sich von dem erstarrten Luthertum abwandten und aus anderen religiösen Lebensquellen Trost und Erbauung zu gewinnen suchten“.604 Dieses Modell funktioniert im übrigen auch bei einem nicht autorzentrierten Werkbegriff: Wilhelm Braune etwa bekennt 1879 offen, daß die von Julius Wilhelm Zinkgref 1624 veröffentlichten Auserlesenen Gedichte Deutscher Poeten noch nicht einmal das Niveau ihrer Zeit hielten, befindet sie aber dennoch für publikationswürdig, weil sie für die „Geschichte der deutschen Dichtung wichtig[ ]“ waren.605 Und der Herausgeber der Carmina Burana legt 1847 im Unterschied zur älteren Auswahlausgabe von Bernhard Joseph Docen in den Jahren 1806 und 1807 die „ganze Sammlung“ auf, weil sich mittlerweile ein neues Bild der literaturgeschichtlichen Bedeutung dieser Gedichte ergeben habe – „so scheint denn diese [Ausgabe, S.M.] nicht mehr das unverstandene Unternehmen zu sein, für welches sie vor vierzig Jahren durfte gehalten werden“.606 Zumindest teilweise also steuert die Werkpolitik des 19. Jahrhunderts auf eine selektionslose Aufmerksamkeit zu, die auch das Mangelhafte interessant finden kann, weil es historisch ‚bedeutsam‘ ist. Die Unwahrscheinlichkeit dieses Ausschließungsverhaltens, in dem sich das Konzept des ästhetischen Werks mit der Dezentrierung des Werkkonzepts verbindet, sieht man an den Divergenzen zwischen der Theorie und der Praxis des Gesamtwerks; dessen Normalität hingegen suggerieren die Selbstbeschreibungen, die die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Beginn einer neuen Aufmerksamkeitskultur erklären. Dies gilt selbstverständlich auch für das Werk Goethes (5.4.3). Um dies nur kurz am Beispiel der Ausgabe Der junge Goethe (1875) zu demonstrieren: In der ausführlichen Einleitung legitimiert Michael Bernays das Unternehmen, nicht mehr die Fassungen der Ausgabe letzter Hand, sondern die frühesten Fassungen heranzuziehen und sie in chronologischer Reihenfolge gemeinsam mit anderen Dokumenten zu publizieren. Zum _____________ 604 Angelus Silesius: Cherubinischer Wandersmann (1895), S. I. 605 Auserlesene Gedichte Deutscher Poeten gesammelt von […] Zinkgref (1879), S. V. 606 Carmina Burana (1847), S. VIIIf.
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einen betont er nachdrücklich, daß die Kontexte und eine historische Einstellung zum Verstehen von Goethes Werken nicht notwendig seien – „ein Werk wahrer Kunst gleicht einer in sich fertigen Welt, die aus ihrem eigenen lebendigen Mittelpuncte heraus ergriffen und begriffen sein will“.607 Dennoch temporalisiert er das Werk durch die Anbindung an das Leben und synthetisiert dadurch das Unterschiedene zu einem „Ganzen“, spricht den „anscheinend geringfügigen Untersuchungen über Einzelheiten seines Lebens […] ihren Werth und eine Art von Weihe“ zu und fordert: „Auch auf die abgelegensten Puncte im Goetheschen Geistes= und Lebensreiche müssen wir den beobachtenden Blick lenken [...]“.608 Schließlich spielt er das literaturgeschichtliche Legitimationsmuster ein: So steigt uns ein geschichtliches Verständniß der Werke Goethes nur aus dem Innersten der Zeitverhältnisse herauf, unter denen sie ins Daseyn berufen worden; und wiederum stehen diese Werke da als aufklärende Urkunden und sprechende Denkmale jener wichtigen Epochen des deutschen Lebens [...].609
Auf diese Weise werden die unvollkommenen Werke interessant, weil sie zu historischen Dokumenten avancieren.610 Die ‚Vollständigkeit‘ des Werks erweist sich bei Goethe auch als Effekt der Dezentrierung des Werks: Der Buchmarkt erzeugt konzeptionell das Lebenswerk; dabei kommt es dem Publikum mehr auf die Kontexte und Entstehungsbedingungen als auf die Perfektion des Werks an. Zugleich bezieht sich diese Dezentrierung auf ein Zentrum, auf „des Verfassers Naturell, Bildung, Fortschreiten und vielfaches Versuchen nach allen Seiten hin“, wie Goethe es in der zitierten Ankündigung seiner Ausgabe letzter Hand formuliert hatte. Diese Dezentrierung durch Zentrierung vermag dann auch Kontexte in das Werk einzubeziehen, die dem Autor des Werks nicht mehr als Urheber zugesprochen werden können. So überlegt Goethe beispielsweise, eine Rubrik „Auf mich und meine Werke Bezügliches“ in die Ausgabe letzter Hand einzubauen.611 Insofern liegt Heinrich Düntzers Vermutung nahe, daß für den Leser im 19. Jahrhundert die „Kenntniß Goethes, und zunächst seiner Lyrik, durch Eröffnung neuer Quellen, Mittheilung unbekannter Gedichte oder früherer Fassungen derselben, Entdeckung zu Grunde liegender Darstel_____________ 607 608 609 610 611
Der junge Goethe, S. XIIIf. Der junge Goethe, S. XIII, XIX, XXII. Der junge Goethe, S. XXXVI. Der junge Goethe, S. LXXIIf., auch LXXV. Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken. Bd. 2, S. 34f.; vgl. zur zentrierenden Macht des Autornamens auch die Fallstudie von Holger Dainat zu Die Natur, einem Fragment, das nachweislich nicht von Goethe stammt, aber bis heute seinem Werk beigeordnet wird (Dainat: Goethes Natur).
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lungen, kritische, sachliche und ästhetische Betrachtung wesentlich“ gewinnt.612 Düntzers berühmte ausführliche Einführung in die Lyrik Goethes (1875) zeigt dabei, daß es zwei Arten gab, Werk und Autor zu verbinden: die Biographie und die Charakteristik. So durchläuft Düntzer die Lyrik zuerst chronologisch und summiert dann abschließend seine Überlegungen noch einmal unter systematisch gefaßten Aspekten. Während die Biographie eine chronologische Werkordnung provoziert, kann die Charakteristik ‚Dichtung‘ und ‚Persönlichkeit‘ auch über ein nach Rubriken oder Gattungen geordnetes Werk zusammenführen. Für die nichtchronologische Werkordnung Goethes (5.4.2 c) ist dies ein wichtiges Darstellungsverfahren. Tatsächlich war Goethe stets sehr unsicher, wie weit seine Werke reichen sollten, und insbesondere, inwiefern seine „Jugendarbeiten“ bis auf jede „Kleinigkeit[ ]“ zum „Ganzen“ des Werks dazugehören.613 Als Ekkermann die Rezensionen aus den Frankfurter Gelehrten Anzeigen als „Nachklänge seiner [Goethes, S.M.] academischen Jahre“ verbucht, ist Goethe zufrieden, weil dies „den Stand-Punct bezeichne, aus welchem man jene jugendlichen Arbeiten zu betrachten habe“.614 In Sicherung meines literarischen Nachlasses und Vorbereitung zu einer echten vollständigen Ausgabe meiner Werke will Goethe die Rezensionen dann auch nicht als Rezensionen, sondern als Dokumente für seine „jugendliche Gesinnungs- und Denkweise“ verstanden wissen „für alle diejenigen, die mir und meinen Leistungen einen näheren Antheil schenken […]“.615 Festhalten kann man in jedem Fall die Tendenz, den Bereich des Edierenswerten zu erweitern. Diese Tendenz steht im Gegensatz zum Perfektionsmodell des frühen 18. Jahrhunderts, das eher auf „Feilen“ und Aussortieren angelegt ist. Auch hier läßt sich sehr gut sehen, wie sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Aufmerksamkeitsraster verschieben. So leiten etwa die genannten poetologischen Leitkriterien des Verbesserns und Selektierens das Auswahlverhalten bei den Schriften Lessings von 1753,616 und auch in der zweiten Werkedition, die Lessings Bruder herausgibt und die Goethe zwischenzeitlich für das Exempel einer gelungenen Gesamtausgabe hält,617 definiert der Herausgeber dichterische Qua_____________ 612 Goethes lyrische Gedichte, S. III. 613 So im Gespräch mit Eckermann am 11. Juni 1823 (Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken. Bd. 2, S. 71). 614 Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken. Bd. 2, S. 72. Zur Akzeptanz des „Werkcharakters“ von Rezensionen ‚um 1800’ vgl. Urban: Kunst der Kritik, S. 215ff. (zu Goethe vgl. ebda., S. 229ff.). 615 Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken. Bd. 2, S. 83. 616 Lessing: Schriften. Bd. 1. Berlin 1753, unpag. (Vorrede, 3 v). 617 Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken. Bd. 2, S. 31.
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lität über Selektionsvermögen.618 Gleichwohl hat sich dessen Position so verschoben, daß er dem Paradigma der selektionslosen Aufmerksamkeit zuarbeitet: Ja wo großes Licht, ist gemeiniglich großer Schatten. Die unvollendeten Schriften dienen gleichsam den vollendeten Werken zur Folie. Der Kenner beurtheilt seinen Werth nicht nach den erstern, sondern zieht nur daraus psychologische Aufschlüsse, die oft von größerm Nutzen sind, als das geschmackvolle und allgemein gepriesene Stück seiner Muse.619
Später heißt es dann: „Hat man nicht aber auch unvollendete Handzeichnungen eines großen Mahlers gern? Sein Unvollständiges ist nicht zur Nachahmung, sondern zum Unterricht“.620 Der zitierte Passus aus Goethes Ankündigung seiner Werkausgabe letzter Hand verdeutlicht aber auch, daß hier zwei Werkkonzepte tendenziell konfligieren: das des interessanten Werks, das auf die Einsortierung aller zurechenbaren Werke zielt, und das des bedeutenden Werks, das eine Auswahl bereitstellt. Diese Unsicherheit belegt, wie sehr die Werkhaftigkeit des Werks poetische Produktion anreizt, in welcher Weise sich der Autor durch sein Werk selbst verpflichtet, und dies entgegen grundlegenden Intuitionen, die die literarische Wertung bestimmen. Der Autor hat den Eindruck, als erhebe ein „Buch“ gegen ihn „Ansprüche“ (an Schiller, 25. Juni 1796; MA 8.1, 181). Diese selbst verantwortete Fremdverpflichtung wird von Goethe immer wieder als Bürde rekonstruiert, der er nur durch drastische Maßnahmen gerecht wird (z. B. durch die Flucht nach Italien) oder der er sich durch radikale Handlungen zu entziehen versucht – am 25. Juni 1786 schreibt er an Charlotte von Stein: „Ich korrigiere am Werther und finde immer daß der Verfasser übel gethan hat sich nicht nach geendigter Schrifft zu erschiessen“ (WA IV, 7, 231). Das Werk vermag daher als Werk der gezielten Selbststimulation zu dienen, wenn Goethe darin leere Stellen einbaut, damit „das Fertige anlocket und reizet, um das zu vollenden was noch zu thun ist“.621 Dies verdeutlicht zumindest ansatzweise, daß das Werk einen Reflexionshorizont von Autoren bildet, auf den hin sie ihre Arbeit entwerfen und der als kommunikative Schnittstelle zu diversen Publikumskreisen gedacht wird (Alltagslesern, Kritikern, Philologen etc.). Erkennbar wird aber auch, daß das Werk ein operativer Raum für die Entfaltung von Autorschaft umgrenzt,622 daß es also materialiter Schreibhandlungen bestimmt. Dies gilt _____________ 618 619 620 621
Lessing: Sämmtliche Schriften. Bd. 2, S. IV, XIIf., XV. Lessing: Sämmtliche Schriften. Bd. 2, S. XIXf. Lessing: Sämmtliche Schriften. Bd. 2, S. XXXII. So Goethe im Gespräch mit Eckermann am 13. Februar 1831 (Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken. Bd. 2, S. 696; vgl. auch ebda., S. 562). 622 Ansätze zur Analyse dieser Dimension von Schriftlichkeit bei Krämer: ‚Schriftbildlichkeit’.
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für die verschiedenen Bestandteile des Werks: Denn nicht nur der angenommene Umfang eines Buchs treibt die Produktivität an, sondern auch Lücken, die als Lücken nur in einem Werk erkennbar werden, das der Autor als Buch konzipiert. Zumal das Papier und das (Doppel-)Blatt kommen dabei als Operationsraum des Werks in den Blick: Ihre Beschaffenheit hemmt oder befördert den Schreibprozeß, ihre Größe regt die Kreativität an oder setzt ihr Grenzen. So erinnert sich Sulpiz Boisserée in seinem Tagebuch an eine Äußerung Goethes auf der Reise: „Ja, einen Anlaß muß man doch zu Allem haben, und so wollen wir von Heidelberg gleich zwei Buch Baseler Papier mitnehmen, darauf schreibe ich so gerne, die lassen wir in einzelne Blätter schneiden“.623 Die von der Papierqualität abhängige Geläufigkeit des Schreibens und die dadurch vermittelte Lust am Text gilt ebenso für den Seitenraum. Auch er ist „Anlaß“ von Textverfertigung im Horizont des potentiellen Werks. So soll Goethe bei einem Schulbesuch von den Schülern gebeten worden sein, einige Verse zur Feier eines Lehrers zu aufzusetzen: Darauf erwiederte Goethe zuerst mit einem gelinden Verweise, daß wir ihm ein zu kleines Stück Papier gebracht hätten; man müsse, fügt er hinzu, stets auf einem großen Stück Papier beginnen, der kleine Raum beenge auch die Gedanken. Nachdem wir hierauf ein größeres Blatt herbeigebracht, schrieb Goethe, während wir ihm staunend zuschauten, in kurzer Zeit auf dasselbe einige Strophen [...].624
Einzelwerk und Gesamtwerk korrelieren einander in analogischer Stufung: Die „Forderungen gegen [s]ich selbst“625 erheben sich im Blick auf die künstlerische Qualität und im Blick auf den gleichmäßig starken Umfang der Sequenzen oder Bände. Sie reichen vom Verhältnis einzelner Blätter zueinander über das Verhältnis einzelner Werke in Bänden der Gesamtausgabe bis hin zum Verhältnis einzelner Bände der Gesamtausgabe zueinander.626 So kann z. B. ein Werk für ein anderes Werk dann den Standard vorgeben, wenn beide in einem Band der Gesamtausgabe veröffentlicht werden sollen. Dies führt – etwa im Verhältnis des Egmont zu Erwin und Elmire und zu Claudine von Villa bella – nicht allein zu der Frage, wie die einzelnen Werke auf einem abstrakten Niveau poetischer Perfektion eine Einheit bilden, sondern auch zu der Frage, wie sich unterschiedliche Gattungen unter der gegenläufigen Perspektive eines gemeinsamen Werks verknüpfen lassen.627 _____________ 623 624 625 626
Eintrag vom 3. Okt. 1815; zit. nach: Gräf: Goethe über seine Dichtungen. Bd. 3/2, S. 62 Zit. nach: Gräf: Goethe über seine Dichtungen. Bd. 3/2, S. 43. So die Formulierung in der Italienischen Reise (MA 15, 520) MA 15, 482; Unger an Goethe, 14. Februar 1795 (Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken. Bd. 1, S. 261). 627 MA 15, 520, 565; s. auch Goethe an Göschen am 9. Februar 1788 (WA IV, 8, 342ff.).
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Schließlich ist der Zusammenhang des Werks zugleich Vorbild für den Zusammenhang autorschaftlicher Handlungen. Bereits während der Entstehung der ersten Werkausgabe, die Goethe in seiner Selbstbeschreibung ja in zunehmendem Maß auf Einflüsse von außen zurückführt, versteht er die Korrektur dieser Ausgabe als „gute Vorarbeit zu einer künftigen Ausgabe“ (an Göschen, 9. Februar 1788; WA IV, 8, 342) und hält sich „bereit“, „wenn eine neue Ausgabe für nöthig oder räthlich gehalten würde“ (an Göschen, 4. Juli 1791; WA IV, 9, 277). b) Werkeinheit und Lektüreverhalten Die Produktion des Lebenswerks durch den Buchmarkt und die darüber stimulierte Werkhaftigkeit des Werks führt dazu, daß die Nachdrucker sich ihr eigenes Grab schaufeln. Der Buchmarkt renoviert sich selbst, indem der Nachdruck die Erfindung des Lebenswerks und damit die eigentumsrechtliche Bindung von Autor und Werk unterstützt. Für Goethe nämlich ergab sich aufgrund seiner Neigung zur Archivierung, der Sammelleidenschaft seiner Freunde sowie der unablässigen Produktion die Möglichkeit, von Ausgabe zu Ausgabe ein umfangreicheres Werk vorzulegen. Dadurch aber stellte sich zugleich immer dringlicher die fundamentale Frage nach der Einheit eines Werks, das auf ihn bereits 1799 – wie er in einem Brief an Schiller vermerkt – wie ein „wunderlicher Kodex“ wirkte (MA 8.1, 712; 26. Juni 1799), unter den ihm später „allerley wunderliches Zeug“ zu geraten schien (an Zelter, 20. Oktober 1815; WA IV, 26, 124). Auch in diesem Fall ergibt sich die Einheit des Werks je nach der Virtuosität der einheitsbildenden Perspektiven und Strategien. Goethe hält entsprechend die Forderung nach einem verfeinerten Sinn für Zusammenhänge für diejenige Beobachterhaltung, die dem Werk aufgrund seiner Werkhaftigkeit angemessen ist. Oder anders: Auch für den Leser, für seine Kreativität der Beobachtung und für seine Aufmerksamkeitsleistungen bemißt das Werk einen spezifischen Operationsraum. Die Zusammenhänge dieses Raums werden insbesondere dann von einem geistigen Band gebildet und führen dann ins Unaussprechbare, wenn die Einheitlichkeit ausreichend unplausibel erscheint. Goethe plaziert, um es mit Eckermann zu formulieren, seine Werke als „Manifestationen eines reichen Geistes“, dessen „Tiefe“ sich nicht „erschöpfen“ lasse, so daß auch und gerade das Unvollkommene und Fehlerhafte „für uns im hohen Grade belehrend“
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wirke.628 Im viel zitierten Brief Goethes an Iken vom 27. September 1827 heißt es korrespondierend: Auch wegen anderer dunkler Stellen in früheren und späteren Gedichten möchte ich Folgendes zu bedenken geben: Da sich gar manches unserer Erfahrungen nicht rund aussprechen und direct mittheilen läßt, so habe ich seit langem das Mittel gewählt, durch einander gegenüber gestellte und sich gleichsam in einander abspiegelnde Gebilde den geheimeren Sinn dem Aufmerkenden zu offenbaren. (WA IV, 43, 83)
Dieser Beziehungssinn, der das Unaussprechliche registriert, bildet die Grundlage des Urheberrechts, die ja nicht in der materialen Gestalt des Buches oder der Schrift liegt, sondern in der Eigentümlichkeit der Gedankenfolge.629 Die Anordnung des Werks stimuliert damit die Unterstellung jener Form von Geistigkeit, die die phonozentrische Schriftkonzeption der ‚Goethe-Zeit‘ der Materialität der Kommunikation zuspricht. Die Werkordnung wird zu einem Text. Für das Einzelwerk gilt, was Goethe für die Lyrik, die eine besondere Werkfunktion hat (5.4.2 c), in den Xenien entwickelt. Es übt in die Syntax des Werks und damit in die Bedeutung von Unbedeutendem ein. Das Xenion Distinctionszeichen erklärt: „Unbedeutend sind doch auch manche von euren Gedichtchen!“ Freilich, zu jeglicher Schrift braucht man auch Komma und Punct. (WA I, 5.1, 228)
Daß das lyrische Werk also gegliedert ist („Komma“) und eine gewisse Abgeschlossenheit aufweist („Punct“), gehört zu den Voraussetzungen dafür, das ‚Unbedeutende‘ als Beitrag zur Bedeutung des Zusammenhangs zu lesen und jedem „Gedichtchen“ zumindest einen funktionalen Wert beizumessen. Das lyrische Einzelwerk wird zum Teil eines lyrischen Ge_____________ 628 So in der nicht veröffentlichten Vorrede Eckermanns zur Nachlaßausgabe von 1832 (Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken. Bd. 3, S. 106f.). Freilich waren die Fehler Goethes nicht so belehrend, daß Eckermann den Nachlaß ohne teils umfassende Eingriffe dem Publikum vorzulegen können glaubte, wenngleich er mehr an Goethes Werk für publikationswürdig hielt als beispielsweise von Müller oder Riemer (Nahler: Johann Peter Eckermann und Friedrich Wilhelm Riemer als Herausgeber von Goethes literarischem Nachlaß, insbes. S. 81ff.). 629 Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft, insbes. S. 50ff. Von daher gehört Goethes Werkkonzept in die Geschichte des Beziehungssinns, der die eigentliche Bedeutung nicht mehr in, sondern zwischen den Worten und Versen sucht. Wichtig sind für die Umschaltung der Ästhetik von Substantialität auf Differentialität Klopstock (Menninghaus: Klopstocks Poetik der schnellen „Bewegung“, S. 315ff.) sowie die Romantik (Menninghaus: Unendliche Verdopplung). Pointierte formuliert F.Th. Vischer in seiner Ästhetik (1846-57): „Der lyrische Dichter sagt, was sich dem Worte, indem es darein gefaßt wird, entzieht, er sagt es daher so, daß er im Sagen verstummt und durch sein Verstummen auf einen unerschöpften unendlichen Grund hineinzeigt. Es zittert ein Unaussprechliches zwischen seinen Zeilen: das reine, wortlose Schwingungsleben des Gefühls“ (Lyriktheorie, S. 230, vgl. dazu Plumpe: Ausdifferenzierung der Lyrik – ästhetische Reflexion, S. 99f.). Zum naturwissenschaftlichen Kontext vgl. Richter: Wiederholte Spiegelungen, S. 124ff.
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samtwerks, das durch einen geistigen Zusammenhang ein Ganzes bildet. Anders gesagt: Indem die Nachdrucker die Erweiterung des Werks zu den ‚sämtlichen Werken‘ provozieren, in denen vielleicht auch an sich ‚Unbedeutendes‘ auftaucht, befördern sie die Entfaltung genau jenes Diskurses, der den Nachdruck als Vergehen gegen das geistige Eigentum und damit gegen die entstehende Urhebergesetzgebung abschaffen wird. Das Werk wird auf diese Weise zu einer individuierten, stimmungsvollen Einheit von Korrespondenzen, Einklängen und Spiegelungen (5.3.4). Gleichermaßen stimmungsvoll wird die Arbeit des Autors, der in der richtigen „Stimmung“ sein muß, um sich über seine Einzelwerke zu beugen und diese zum Gesamtwerk zu fassen, der mit „Sinnen und Ahnden“ in die eigene Vergangenheit zurückkehrt, um Anschlüsse herzustellen.630 Auch in diesem Fall signalisiert die ‚Italienische Reise’ die zumindest prätendierten Anforderungen an den Autor. Bei der Bearbeitung der Iphigenie beispielsweise stehen Ideale der Werkhaftigkeit wie Harmonie und Gleichmaß im Hintergrund, und diese Harmonie ist eben – laut Goethes Selbstpräsentation – nur in einer harmonischen Stimmung zu erzielen; nur in dieser Atmosphäre tingiert das „mittägige Klima“ der Lebens- und Produktionssituation das Werk.631 Dabei sollten – wie immer – die produktiven Phantasmen der Werkherstellung von deren Faktizität unterschieden werden, will man das Bedingungsverhältnis von Liberalität und Disziplinierung beschreiben.632 Die klimatischen Verhältnisse in Goethes Heimat nämlich sind der Verschriftlichung zuträglicher als der weite Himmel unter Italiens Sonne: „Es hat heute geregnet und ich habe die Zeit gleich angewendet an der Iph. zu schreiben“ (MA 3.1, 103). Wichtiger noch und komplizierter als die Stimulation von Werken durch Werke wird für den Autor die Anstiftung zu einem bestimmten Leserverhalten, das sich angesichts der Anforderungen beim Sehen der Werkeinheit nicht von selbst versteht. Anders gesagt: Eine der zentralen Funktionen der Werkpolitik liegt darin, über die Werkhaftigkeit des Werks den Leser zu ‚stimmen’, sein Anschlußverhalten zu organisieren und auf Dauer zu stellen, ihn in den Operationsraum des Werks zu führen und seine Aufmerksamkeit an diesen Ort zu binden. Dies gilt zunächst für das _____________ 630 So in der Beschreibung der Arbeit am Faust in der Italienischen Reise (MA 15, 619). Die Rede von der „Stimmung“ als Produktionsmodus findet sich durchgängig von den frühen Selbstzeugnissen bis zu den Dokumenten der Arbeit an der Ausgabe letzter Hand (hier z. B. Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken. Bd. 2, S. 544). Im Blick auf das Verhältnis des „alten“ zum „jungen Goethe“ vgl. Birus: Im Gegenwärtigen Vergangenes. 631 So im Tagebuch der italienischen Reise für Frau von Stein (MA 3.1, 96). 632 Verf.: Staatskunst.
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Publikum einer Werkausgabe, deren Erscheinungsfrequenz zwar bei Goethe nicht Klopstocksche Ausmaße annimmt, die sich aber doch stets über mehrere Jahre hinweg erstreckt. Um die Leser bei der Stange zu halten gibt es drei immer wieder genannte Anreize: Neben der bereits erwähnten Leserwerbung über das Versprechen von neuen Werken633 und neben der Ankündigung neu einsortierter Werke führen Goethe und sein Verleger den Grad der Vervollkommnung an. In der Anzeige der Schriften durch Göschen heißt es beispielsweise: „Die Sorgfalt und Mühe des Herrn Verfassers bey der Vollendung und Umarbeitung dieser sämtlichen Schriften wird das Publikum für die spätere Erscheinung schadlos halten“.634 Nur: Woran erkennt man diese „Sorgfalt“? Woran läßt sich die „Mühe des Herrn Verfassers“ ablesen? Offensichtlich setzt dieses Argument einen Leser voraus, der Ausgaben vergleicht und sich über die Entwicklung eines Autors auf dem Laufenden hält, der also eine temporalisierte Aufmerksamkeit entwickelt hat. Wie wird dieser Typus des ‚sehnsuchtsvollen’ oder gar ‚begierigen’ Lesers, den die Briefe zwischen Goethe und seinen Verlegern phantasieren,635 erreicht und akquiriert? Neben lancierten Rezensionen636 spielt zunächst die Sorgfalt bei der Gestaltung der Werkmaterialität eine Rolle: Dieser „Ausdruck der Aufmerksamkeit ist es, welcher den Beschauer und Leser besticht und ihn zum Besitz eines Buches anreizt“ (an Lebret, 24. Mai 1826; WA IV, 41, 42). Die Werkförmigkeit der Werkausgabe provoziert dabei eine bestimmte Form der Aufmerksamkeit, die auf Einheitlichkeiten achtet, und sie bereitet entsprechende Probleme, wenn diese Einheitlichkeit nicht ausreichend visibel ist. In dem Brief, mit dem Goethe Dichtung und Wahrheit einleitet, heißt es im Blick auf die erste Werkausgabe bei Cotta: „Man kann sich nicht enthalten, diese zwölf Bände, welche in Einem Format vor uns stehen, als ein Ganzes zu betrachten, und man möchte sich daraus gern ein Bild des Autors und seines Talents entwerfen“ (MA 16, 9). Die Erwartungserwartung des Autors versteht das Format der Werkausgabe als eine Instanz, die den Leser auf die Beobachtung von Bezügen festlegt. Ästhetisch hält die literarische Qualität das Vertrauen auf eine vergleichbar niveauvolle Anschlußhandlung des Autors aufrecht – diese (antizipierte und imaginierte) Fremdverpflichtung weist in die gleiche Rich_____________ 633 Auch dies gilt bis hin zur Ausgabe letzter Hand, vgl. z. B. Goethe an Cotta, 17. Dezember 1827 (Goethe / Cotta: Briefwechsel 1797-1832. Bd. 2, S. 223). 634 Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken. Bd. 1, S. 133. 635 Vgl. z. B. Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken. Bd. 1, S. 260f., 274, 277, 279. 636 Vgl. dazu Füssel: Studien zur Verlagsgeschichte und zur Verlegertypologie der GoetheZeit, S. 116f., auch S. 237ff., insbes. S. 242f.
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tung wie die Selbstverpflichtung des Autors (z. B. an Schiller, 29. November 1795, MA 8.1, 132). Nicht immer gelingt es allerdings, die „sehr gespannten Leser zu befriedigen“,637 wobei diese bisweilen sogar auf das Scheitern des Autors gespannt zu sein scheinen: „[…] mehrere Personen“, berichtet Goethe an Unger im März 1796, „und sogar genaue Freunde und Bekannte, schwören und wetten, daß ich das Werk [Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. M.] nach seiner Anlage in Einem Bande nicht endigen könne“ (WA IV, 11, 42). Interessant an dieser Strukturbeobachtung ist, daß Goethe die Erwartungen provoziert, denen er dann gerecht werden muß. Immer wieder kommen gerade Goethe und Schiller in ihrem Briefwechsel anläßlich der Arbeit an Wilhelms Meisters Lehrjahren für die Neuen Schriften auf Taktiken zu sprechen, mit denen die Strategie der Erwartungserzeugung und damit der Stimulierung von Sehnsucht nach dem Werk umgesetzt werden kann. Wenn Goethe „[…] durch die Organisation des übrigen Ganzen den Leser selbst verwöhnt“ hat, dann ist dieser „zu strengeren Forderungen berechtigt“ (2. Juli 1796; MA 8.1., 190, vgl. auch ebda., 63).638 Der angestrebte dauerhafte und zeitintensive Kontakt von Werk und Leser wird folglich über die Fortsetzung und die entsprechende Erwartungserregung organisiert: Der Autor überlegt, „was rückwärts notwendig ist“, „wie man vorwärts deuten muß“ und welche „Verzahnungen stehen bleiben [müssen], die, so gut wie der Plan selbst, auf eine weitere Fortsetzung deuten […]“ (12. Juli 1796; MA 8.1, 217). Freilich eröffnet das stimmungsvolle Werk hier neue Möglichkeiten, weil es mehr noch als bei der kausalgenetischen Analyse und deren Visibilisierungspotential (3.3 c) den Umgang mit dem Unsichtbaren oder kaum noch Wahrnehmbaren verlangt. Wie weit und unterschiedlich der Rezeptionshorizont war und wie groß die Bereitschaft, auch abwegige Lektürewege zu beschreiten, zeigen exemplarisch die Zeugnisse zum Entstehungsprozeß und zur Rezeption von Wilhelm Meister: Goethe hielt die Publikation für riskant und setzte daher Schiller als Testleser ein, damit dieser ihm sagt, „was man wünscht und erwartet“ (6. Dezember 1794; MA 8.1, 45). Das Publikum reagierte auf die Versendung der Freiexemplare entsprechend skeptisch. _____________ 637 So die Formulierung in einem Brief von Unger an Goethe vom 16. Februar 1796 (Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken. Bd. 1, S. 287). 638 Zur Funktion von Roman und Autobiographie bei der Modernisierung des Literaturbetriebs vgl. Stüssel: Poetische Ausbildung und dichterisches Handeln, z. B. S. 179ff.; zu Goethe und zu Dichtung und Wahrheit als Reaktion auf veränderte Kommunikationsbedingungen im Literatursystem ebda., S. 243f.; zur Werkfunktion der Autobiographie (mit der Pointe, daß die Autobiographie eigentlich genauso viele Probleme bereitet wie die Werkeinheit) ebda., S. 250ff.
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Bei aller Kritik jedoch profitiert Goethe wie Klopstock639 von der mittlerweile normalisierten ‚Behutsamkeit’ einiger Leser, die Zeit in Anspruch nehmen und ein Urteil erst nach mehrmaligem Lesen fällen oder dafür auf die Fortsetzung warten wollen.640 Er kann auf Leser zählen, die sich für die Verschlingungen der komplexen Handlung und für die sich daraus ergebenden Spannungsmomente interessieren, auf Leser, die dazu bereit sind, ihre extensive Erfüllungserwartung in intensive Leseenergie umzuwandeln.641 Der Kritik am Mosaikhaften des Romans und am Proteischen des Autors steht so die Ausweitung und Virtualisierung der Kunst gegenüber, Einheiten zu bilden, wahrzunehmen oder zu statuieren und – wie Fichte in dem als Horen-Beitrag geplanten Aufsatz Über Geist und Buchstab in der Philosophie – die „Einheit der geistigen Stimmung“ zu visibilisieren.642 Auf dieser Ebene bewegen sich dann auch die ersten Gesamtwürdigungen, die im Meister-Roman Unendlichkeiten und entsprechend Unaussprechliches entdecken, die sich für den „Rhythmus“ der Komposition und deren Kräfteverteilung interessieren, für Spannungen und Entspannungen, für Konsonanzen und Dissonanzen.643 Anders gesagt: Friedrich Schlegel ist mit seiner „Charakteristik“ Wilhelm Meisters in bester Gesellschaft. Goethe und Schiller reflektieren diese Form der Aufmerksamkeit als Rezeptionshorizont, wenn sie Strategien entwerfen, wie Leser und Werk auf Dauer durch wiederholte Lektüre aneinander gekoppelt werden können. Um diese neue ‚intensive Lektüre’ anzuregen, eignet sich beispielsweise eine „erstaunliche und unerhörte Mannigfaltigkeit, die darin, im eigentlichen Sinne, versteckt ist […]“ (2. Juli 1796; MA 8.1, 186). Daß die Komplexität des Werks „versteckt“ ist, zählt für den hermeneutisch inspirierten Leser ebenso viel, wie der Verzicht auf einen „geheimen Einfluß“, also auf eine zu opake Bezüglichkeit, die sich nicht aus der ‚Ökonomie des Ganzen’ erklärt. Andernfalls vermittelt das Werk den Eindruck eines strategisch agierenden Autors (MA 8.1, 204). Markiertes strategisches Verhalten verhindert die Ausbildung einer Beziehung von Leser und Autor, die auf Sehnsucht und Begierde basiert und die über das Werk katalysiert werden soll. Indes: Wo liegt der Maßstab für das verträgliche Maß an Opazität? _____________ 639 Krolop: Geteiltes Publikum, geteilte Publizität, S. 284ff., 297ff. 640 So etwa Thümmels und Schlossers Reaktionen (vgl. Krolop: Geteiltes Publikum, geteilte Publizität, S. 274ff.). 641 So Voß (vgl. Krolop: Geteiltes Publikum, geteilte Publizität, S. 280ff.). 642 Krolop: Geteiltes Publikum, geteilte Publizität, S. 303, 305f., 308f. Vgl. zur Konkurrenz und zur Koalition von Dichtung und Philosophie in diesem Punkt Kittler: Aufschreibesysteme 1800 1900, S. 199f. 643 Krolop: Geteiltes Publikum, geteilte Publizität, S. 321ff., insbes. S. 322, 325, 333f., 335.
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Zwar wünscht sich der philosophisch gestimmte Schiller, daß Goethe die Bequemlichkeit des Lesers akzeptiert und „selbst die Momente, worauf es ankommt, blank und bar zuzählte[ ]“ (man sieht, wie gerechtfertigt die Rede von einer „Ökonomie des Ganzen“ auch in der klassischen Werkpolitik ist). Schiller bemerkt indes auch, daß die Kreditwürdigkeit des Autors von größerer Bedeutung ist als dessen Liquidität: […] sicherlich aber hält es ihn [den Leser, S. M.] bei dem Buche fester, wenn er sich selber helfen muß. Haben Sie also nur dafür gesorgt, daß er gewiß findet, wenn er mit gutem Willen und hellen Augen sucht, so ersparen Sie ihm ja das Suchen nicht. Das Resultat eines solchen Ganzen muß immer die eigene, freie, nur nicht willkürliche Produktion des Lesers sein, es muß eine Art von Belohnung bleiben, die nur dem würdigen zu Teil wird, indem sie dem unwürdigen sich entziehet. (2. Juli 1796; MA 8.1, 211)644
Goethe erwirbt sich demzufolge in der Werkpolitik einen Kredit bei den Lesern, indem er Sehnsucht und Erwartungssicherheit mit Enttäuschung kombiniert und darüber einen fortwährenden Kontakt sichert. Für die Ökonomie des Werks ist dies auch deswegen interessant, weil in dieser Gedankenfigur der Produzent zum säumigen Kreditnehmer wird. Seine Aufgabe besteht u. a. darin, die Rollen so zu verkehren, daß der Leser seinerseits dem Autor Aufmerksamkeit (und damit auch Geld) schuldet. Dies ist nichts anderes als eine Formulierung für die literarische Karriere im allgemeinen und für jenen Prozeß im besonderen, der Autoren zu Klassikern macht, mithin zu solchen Objekten, denen man seine Aufmerksamkeit nur dann entziehen kann, wenn man sozial in Mißkredit geraten will. Die Entwicklung des Werks und die Entwicklung des Lesers mit den entsprechenden (Selbst-)Verpflichtungen des Autors durch das Werk und durch den Leser bilden einen Zusammenhang, und von daher ist es nicht weiter verwunderlich, wenn bei der Werkpolitik neben performativen und strukturellen Momenten des Werks auch inhaltliche Momente ins Gewicht fallen: Schiller beobachtet, daß sich „Wilhelm […] sowohl als der Leser“ entwickelt (MA 8.1, 212). Und damit nicht genug: Auch der Kritiker als Vermittlungsinstanz wird in das werkpolitische Spiel eingebunden, denn er gibt dem Autor „Winke“, so wie er für den Leser „Winke“ von Seiten des Autors fordert (MA 8.1, 205, 207). _____________ 644 Vgl. dazu auch Goethe an Riemer am 29. Dezember 1827 zu Faust II: „Ich unterließ, wie Sie sehen, in prosaischer Parenthese das, was geschieht und vorgeht, auszusprechen und ließ vielmehr alles in dem dichterischen Flusse hinlaufen, anzeigen und andeuten, soviel mir Klarheit und Faßlichkeit nöthig schien; da aber unsre lieben deutschen Leser sich nicht leicht bemühen, irgend etwas zu suppliren, wenn es auch noch so nah liegt, so schreiben Sie doch ein, wo Sie irgend glauben, daß eine solche Nachhülfe nöthig sey. Das Werk ist seinem Inhalt nach rätselhaft genug, so möge es denn der Ausführung an Deutlichkeit nicht fehlen“ (WA IV, 43, 219; Hervorhebung S. M.).
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Der Rezeptionsprogrammierung dienen also nicht allein die „Aufmerksamkeit“ für die Materialität des Werks, die Forderung nach ästhetischer Sensibilität für das gleich bleibende künstlerische Niveau sowie die strukturelle Erregung von Erwartungen, deren partielle Befriedigung und systematischer Enttäuschung. Auch die Lektürebilder und die Allegorien des Lesens in den Werken geben dem Leser bestimmte Anweisungen an die Hand. Dies beginnt bei den Initiationsgedichten z. B. für die Einleitung der gesammelten Lyrik durch das bereits erwähnte Gedicht Die Geheimnisse bzw. durch die Zueignung (5.4) und endet bei den Anweisungen für Formen der Aufmerksamkeit, die komplexen Gegenständen angemessen sind. In Wilhelm Meisters theatralischer Sendung ordnet so etwa der Titelheld seine „Papiere in chronologischer Reihe hintereinander“, warnt seinen Freund Werner davor, diese „nicht in Unordnung“ zu bringen, und erklärt ihm: „Das ist wohl gethan, man kann besser sehen, wie man zunimmt“ (WA I, 51, 117). Bemerkenswert ist diese Selbstarchivierung nicht zuletzt deswegen, weil nach Ansicht des Autors in Wilhelms Frühwerk, das fast nur aus Fragmenten besteht, „nichts drinne [ist], was einen Werth hätte“ (WA IV, 51, 126). Am Ende bewahrt dann auch nur die „ausdauernde Freundschaft“ die Juvenilia vor dem Feuer – damit verkörpert Werner einen Lesertypus, der für die Werkpolitik von größter Bedeutung ist (5.4.2 c). Von hier aus gesehen leuchtet es beispielsweise werkpolitisch ein, warum Goethe in der zweiten Fassung des Werther die Episode mit dem „Bauerburschen“ ausbaut. Diese Fassung entsteht nicht nur unter Bedingungen der Literaturkritik, der Einsprüche betroffener Personen (z. B. Kestners) oder des sich ankündigenden neuen Weimarer Kunstprogramms, sondern auch im Blick auf die Zusammenstellung der ersten Werkausgabe. In einer Verdoppelung und Zuspitzung der Argumente, die Goethe bereits im Gespräch zwischen Albert und Werther über den Selbstmord entfaltet hatte, zeigt die Episode mit dem Bauernburschen erneut, daß ein angemessenes Urteil über einen Menschen aufwendige kognitive und emotive Prozeduren verlangt. Die Erzählsequenz verdeutlicht damit, daß eine verstehende Haltung, die sich Zeit nimmt und ein Leben im Zusammenhang beobachtet, angemessener ist.645 Goethe schreibt die Divinatorik, die zum Werther als empfindsamem Briefroman gehört und auch explizit von ihm gefordert wird, als eine Art universalen Deutungsverdacht zumal der immer wieder behaupteten biographischen Beziehbarkeit des Werks ein.646 So erscheint es nur konsequent, wenn Goethe den Werther-Anfang im Tagebuch der Italienischen
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645 Vgl. dazu im direkten Fassungsvergleich: Goethe: Die Leiden des jungen Werthers, S. 31ff., 163ff., 209ff. Vgl. dazu Verf.: Der Autor als Verbrecher; sowie: Verbrechen lohnt sich. 646 Dotzler: Leerstellen, z. B. S. 217.
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Reise kopiert.647 Wie im Fall von Klopstocks ‚Messias’ (4.2 c) kann der Umgang mit ‚dem Werther’ das Buch oder die Titelfigur meinen; die systematische Vermischung dieser Ebenen gehört zum empfindsamen Lektüreverhalten. Allerdings trägt diese Konfusion Goethe nicht nur seinen größten Verkaufserfolg, sondern auch eine Reihe unangenehmer Vorwürfe ein, weil die Leser ‚Werthers’ nicht nur so schreiben wie ihr Romanheld, sich nicht nur so kleiden und nicht nur so fühlen, sondern sich auch so erschießen wie Werther. Im Rückblick auf diese Zusammenhänge in Dichtung und Wahrheit spielt die Ökonomie der Werkpolitik eine bemerkenswerte Rolle bei der Abwehr zudringlicher Leser, die direkte Entsprechungen zwischen Fiktion und Wirklichkeit suchen. Zumal die rezensierenden Leser charakterisiert demnach eine Art finanzwirtschaftlicher Mentalität: Sie leben nämlich in dem Wahn, man werde, indem man etwas leistet, ihr Schuldner, und bleibe jederzeit noch weit zurück hinter dem was sie eigentlich wollten und wünschten, ob sie gleich kurz vorher, ehe sie unsere Arbeit gesehn, noch gar keinen Begriff hatten, daß so etwas vorhanden oder nur möglich sein könnte. (MA 16, 627)
Bereits an dieser Werkstelle sei Goethe klar geworden, daß „Autoren und Publikum durch eine ungeheure Kluft getrennt sind“ und daß „ein Autor bevorworten“ mag, „so viel er will“: „das Publikum wird immer fortfahren, die Forderungen an ihn zu machen, die er schon abzulehnen suchte“ (MA 16, 627). Damit, so scheint es, antwortet Goethe noch einmal abschließend auf Schillers Wunsch, die Autorintention deutlich zu explizieren. c) Die Initiation des freundschaftlichen Lesers Die Werkpolitik muß angesichts der Vergeblichkeit „aller Vorreden“ Strategien der Leserlenkung entwickeln. Aus diesem Grund kommt einer letzten Form der Erregung und Verwaltung von Lesersehnsüchten eine zentrale Stellung für die Politik des Gesamtwerks zu: die Werkfunktion der Lyrik.648 Sie ‚stimmt’ den Leser auf ein ‚stimmungsvolles’ Werk und die entsprechenden Aufmerksamkeitsformen ein. Um kurz den Kontext zu skizzieren: Als einer der wichtigsten Wegweiser, der die Plazierung von Lyrik in der literarischen Kommunikation markiert, dient die bereits erwähnte Rezension von Klopstocks Oden in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen und damit die „Ueberlegung, ob nicht eine Zeit bey der Nachwelt _____________ 647 Erhart: Beziehungsexperimente, S. 348. 648 Vgl. dazu ausführlich die erste Fassung der folgenden Überlegungen in: Zwischen Dichtung und Wahrheit.
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möglich ist, daß das Rad der Dinge da stehen bleibt, wo es heißt: Klopstock, der gröste lyrische Dichter der Neuern, schrieb auch den Messias“.649 Tatsächlich laufen die Oden in der Ordnung des Gesamtwerks dem Messias den Rang ab, mithin dem Werk, das Klopstock stets für sein Hauptwerk gehalten hat und das als Epos auch nach der traditionellen Hierarchie der Gattungen an oberster Stelle stehen würde. In der Ausgabe von Klopstocks Sämmtlichen Werken, die zwischen 1798 und 1817 in zwölf Bänden bei Göschen erscheinen, nehmen die Oden die ersten beiden Bände ein.650 Danach erst folgt die vierbändige Ausgabe des Messias. Die Spitzenstellung der Gedichte am Anfang einer Werkausgabe dient bis heute zwar selbstverständlich nicht als einziges Modell des Werkaufbaus, aber, wenn ich richtig sehe, doch als ein dominierendes Ordnungsverfahren.651 Zumal vor dem Hintergrund von Klopstocks Ordnung der Sämmtlichen Werke erkennt man den paradigmatischen Stellenwert von Goethes Werkordnung für die Funktion von Lyrik auf der Schwelle zum 19. Jahrhundert: In seiner ersten autorisierten Werkausgabe von 1789 stehen die Gedichte noch an letzter Stelle im achten Band, und in den Neuen Schriften bringt Goethe sie 1800 im siebten Band. Danach dreht sich die Ordnung um. In der Werkausgabe von 1806 bei Cotta befinden sich Gedichte im ersten Band. Von diesem Zeitpunkt an gibt Goethe die Spitzenstellung der Gedichte nicht mehr auf. In der Werkausgabe ab 1815 belegen die Gedichte die ersten beiden Bände, in der Ausgabe letzter Hand ab 1827 die ersten sechs (einschließlich des West-östlichen Divan und der dazugehörigen Noten und Abhandlungen). Zumindest nach Maßgabe der Werkpolitik Goethes trennt eine deutliche Linie das 18. vom 19. Jahrhundert, betrachtet man die Position der Lyrik in der Ordnung des Werks.652 Goethe und Klopstock sind nicht die einzigen, die an der Schwelle zum 19. Jahrhundert in auffälliger Weise die Lyrik an den Anfang des Gesamtwerks stellen. Daß die Gesammelten Werke eines Autors wie Emanuel Geibel mit dessen Lyrik beginnen, kann kaum überraschen, wiewohl der Einsatz mit den „Jugendgedichten“ sich nicht von selbst versteht.653 Auch im Falle Eichendorffs könnte allenfalls die Fraglosigkeit irritieren, mit der eine längere Zeit vom Autor editorisch eher stiefmütterlich be_____________ 649 Frankfurter Gelehrte Anzeigen vom Jahr 1772, S. 61. 650 Vgl. dazu Füssel: Studien zur Verlagsgeschichte und zur Verlegertypologie der GoetheZeit, S. 131ff.; zu Göschens Wertschätzung der Lyrik Goethes vgl. auch ebda., S. 124. 651 Ebenfalls soll nicht behauptet werden, erst im 19. Jahrhundert würden Werkausgabe mit der Lyrik beginnen. Lessings Werkausgaben im 18. Jahrhundert (die Schriften von 1753 bis 1755 sowie die Sämmtlichen Schriften von 1771 bis 1790) wären ein gutes Gegenbeispiel. 652 Zeller hält dies für eine Ordnung nach Maßgabe der „klassischen Gattungsästhetik“, erläutert diesen ‚Befund’ jedoch nicht weiter (Befund und Deutung, S. 48). 653 Geibel: Gesammelte Werke in acht Bänden. Erster Band (1883). Geibel selbst hatte in Gedichte und Gedenkblätter (1864) bereits „Zwölf Jugendlieder“ abgedruckt (ebd., S. 205ff.).
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handelte Gattung an den Beginn der Werke rückt.654 Dies gilt ebenso für den kommentarlosen Einstieg in Wilhelm Hauffs Sämmtliche Schriften mit „W. Hauff‘s Leben“ von Gustav Schwab und den „Gedichte[n]“.655 Von daher sind die Sämmtlichen Werke Achim von Arnims, die Wilhelm Grimm 1839 herauszugeben beginnt, ein wichtiges Gegenbeispiel. Hier tauchen die Gedichte erst 1856 im zweiundzwanzigsten und damit letzten Band der Werkausgabe bzw. im sechsten Teil der Nachlaßbände auf656 – offenbar gab und gibt es klare Alternativen zur Exordialstellung der Lyrik, deren Ort in der Ordnung des Werks erst aufgrund konzeptioneller Entscheidungen bestimmt werden konnte. Darin liegt die Bedeutung etwa von Theodor Storms Sämmtliche Schriften, die ab 1868 erscheinen und mit den Gedichten beginnen, weil Storm hierin seine größte poetische Leistung gesehen hat.657 Die Ausgaben der Brüder Schlegel lassen vermuten, daß Werkordnungen auch Autortypen konnotieren: Während August Wilhelm Schlegels Sämmtliche Werke von 1846 mit der Lyrik beginnen658, stehen bei den gleichzeitig erscheinenden Sämmtlichen Werken Friedrich Schlegels die Wiener Vorlesungen zur Geschichte der alten und neuen Literatur am Beginn.659 Ein prominentes Beispiel für die ‚auffällige‘ Einleitung der Werke durch die Lyrik bietet Franz Grillparzer, dessen Gedichte erstmals 1872, also in seinem Todesjahr, gesammelt erscheinen und zugleich den Auftakt der im selben Jahr herausgegebenen Sämmtlichen Werke bilden. Der Prospect zur Werkausgabe arbeitet dabei noch mit dem Überraschungseffekt: „Grillparzer gilt, wo man seinen Namen kennt, vorzugsweise als dramatischer Dichter: gleich der erste Band der Gesammtausgabe wird ihn von einer ganz neuen Seite erscheinen lassen – als einen durchaus eigenartigen Lyriker [...]“.660 Josef Weilen, der Editor der Gedichte, legitimiert hingegen _____________ 654 Eichendorff: Werke. Erster Theil (1841). Auf das Telos der ‚Vollständigkeit‘ zielen dann die posthum veröffentlichten Sämmtlichen Werke (1864), und zwar in Kombination von „Biographische[r] Einleitung und Gedichte[n]“ im ersten Band (ebd., S. 229f. zum Ziel einer erstmalig „vollständige[n] Sammlung aller Schriften Eichendorff‘s“). An dieses Projekt schließen dann an: Eichendorff: Gedichte aus dem Nachlasse (1888); Joseph und Wilhelm von Eichendorff: Jugendgedichte (1903). 655 Hauff: Sämmtliche Schriften (1830). 656 Arnim: Gedichte. Erster Band (1856). 657 Storm: Sämmtliche Schriften. Bd. 1 (1868). ‚Vollständigkeit‘ ist hier im übrigen kein zentrales Anliegen. Im Vorwort erklärt Storm, er habe „von dem einmal Veröffentlichten [...] nur einige ältere Gedichte ausgeschieden, welche mir auch durch die Pietät gegen die eigene Vergangenheit nicht mehr gerechtfertigt schienen“ (ebd., unpag.). Vgl. hierzu auch den Kommentar in: Storm: Gedichte, S. 738, 744f. 658 August Wilhelm Schlegel: Sämmtliche Werke. Bd. 1 (1846). 659 Friedrich Schlegel: Sämmtliche Werke. Bd. 1 (1846). Diese Ordnung gilt auch schon für die Vorläuferausgabe von 1822ff. 660 Prospect. Franz Grillparzers sämmtliche Werke (1872), S. 1.
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seine Sammlung durch das Vorhaben, ein „übersichtliches Gesamtbild des reichen Gemüths- und Geisteslebens des verewigten Dichters“ zu präsentieren.661 Heinrich Laubes Herausgebervorwort zu den Sämmtlichen Werken macht dieses Vorhaben allerdings in zweifacher Weise fragwürdig. Zum einen betont er immer wieder die Randständigkeit Grillparzers nicht als Dichterpersönlichkeit, sondern als gelesener Autor; zum anderen erklärt er: Grillparzer war „Dramatiker [...] ganz und gar; Lyriker nur insoweit als ein lyrischer Bestandteil auch für das Drama nothwendig ist“.662 Wozu also eine Gesamtausgabe zu einem Autor, der nicht gelesen wird? Und warum beginnt diese Ausgabe dann zudem mit der Gattung, die diesen Autor eigentlich gar nicht charakterisiert? Konzeptionell muß auch hier von der Unwahrscheinlichkeit des Gesamtwerks und der Spitzenstellung der Lyrik ausgegangen werden. Die Wahrscheinlichkeit dieser Unwahrscheinlichkeit demonstriert wiederum eine Werkausgabe, die auf den ersten Blick ein Gegenbeispiel abgibt. Als Heinrich Heines Sämmtliche Werke 1861 endlich in der ersten „rechtmäßige[n] Original-Ausgabe“ herauskommen, beginnt der erste Band zwar mit der Lyrik, dies aber nur im Rahmen der Reisebilder, an deren Anfang die Harzreise mit einem einleitenden Gedicht steht („Schwarze Röcke, seidne Strümpfe“). Die Gedichtbände im engeren Sinn (Das Buch der Lieder etc.) sollten erst ab dem 13. Band erscheinen, also zu einem relativ späten Zeitpunkt, nach dem Vorbild der von Heine selbst konzipierten französischen Werkausgabe (1855-1859). Adolf Strodtmann, der Herausgeber, schreibt zu dieser Frage: Nur aus einem äußeren Grunde hat der Herausgeber darauf verzichtet, die vorliegende Gesammtausgabe mit dem Abdruck der Gedichte zu eröffnen. Dieser Grund lag in der Hoffnung, während des Erscheinens der übrigen Bände nicht allein mancherlei Aufsätze und Briefe, sondern namentlich auch den poetischen Nachlaß Heinrich Heine‘s und eine größere Zahl ungedruckter oder in Zeitschriften verstreuter Gedichte aus früherer Zeit durch Vermittlung der Geschwister und Freunde des Verstorbenen zu erhalten.663
Die erwartbare Ordnung des Werks mit der Lyrik an der Spitze und die werkästhetische Vorgabe der ‚Vollständigkeit‘ geraten demnach miteinander in Konflikt. Schließlich möchte ich noch auf Ludwig Tieck hinweisen. In seinen Schriften, von 1828 bis 1854 nach dem Vorbild u. a. Goethes publiziert, taucht das lyrische Werk überhaupt nicht auf, und dies aus dem schlichten Grund: Die Werkausgabe erscheint bei Brockhaus, die Gedichte aber _____________ 661 Grillparzer: Gedichte (1872), S. III (gleichlautend im ersten Band der Sämmtlichen Werke). 662 Grillparzer: Sämmtliche Werke. Bd. 1 (1872), S. XXXVII. 663 Heine: Sämmtliche Werke (1861), S. XIV.
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hatte Tieck bereits an Hilscher verkauft und damit die Rechte vergeben.664 Die Analyse der Geschichte des Werks darf folglich nicht monokausal angelegt werden, weil allein die faktische Ordnung des Werks an sich noch keine ausreichende Grundlage der Werkanalyse bietet. Leserinteressen, der konzeptionelle Wille des Autors, verlegerische Ab- und Rücksichten greifen auf eine komplizierte Art und Weise ineinander und bilden dann Bedingungen und Möglichkeiten von Anschlußfähigkeit literarischer Kommunikation im Zusammenspiel von Pragmatik und Ästhetik aus. Dennoch sind m. E. die buchmarktgeschichtlichen Vorgaben für den Verkehrswert des Werks von besonderem Wert. Daß die Verlegerinteressen eine treibende Kraft hinter der Verlagerung der generischen Präferenzen im Gesamtwerk zugunsten der Lyrik sein könnten, darauf weist bereits das Engagement Göschens bei Klopstocks Werkausgabe hin: Göschen erwirbt zunächst das Verlagsrecht an den ‚Gesammelten Oden‘ und will seine Klopstock-Werkausgabe dann auch mit dem Oden-Band beginnen.665 In dieses Bild paßt beispielsweise, daß Goethe 1802 mit Cotta in Verhandlungen über einen Lied-Almanach tritt, um dadurch Winkelmann und sein Jahrhundert und Johann Heinrich Meyers Kunstgeschichte an den Verleger zu bringen, deren Verkaufswert gering geschätzt wurde. Schiller prophezeit Cotta, daß diese Bücher wohl das „Schicksal der Propyläen“ erleiden werden, und warnt zugleich vor Goethes Cellini-Projekt, „da selbst die Horen, zum Theil dieser Cellinischen Aufsätze wegen, von ihrem Absatz verloren haben“. Abschließend fügt er hinzu: Sie würden also den Verlust, welchen Sie bei diesem Werke erleiden können, in den LiederAlmanach einrechnen müssen, und sich folglich wohl fragen, ob jener Almanach unter besagten Umständen eine gute Speculation ist. [...] Es ist, um es gerade heraus zu sagen, kein guter Handel mit G. zu treffen, weil er seinen Werth ganz genau kennt und sich selbst hoch taxiert, und auf das Glück des Buchhandels, davon er überhaupt nur ein vage Idee hat, keine Rücksicht nimmt.666
Auf der Basis der buchmarkgeschichtlichen Bedeutung von Lyrik lassen sich weitere Gründe für deren Spitzenstellung im Werk anführen. An anderer Stelle habe ich in diesem Zusammenhang vier Funktionen beschrieben, die die Lyrik bei der Einleitung des Gesamtwerks übernimmt:667 eine Temporalfunktion, indem Lyrik auf die Einheit des Lebenswerks anspielt; eine Memorialfunktion, indem sie sich mit dem Leben _____________ 664 665 666 667
Paulin: Ludwig Tieck. Eine literarische Biographie, S. 202f. Gerhardt: Karl August Böttiger und Georg Joachim Göschen im Briefwechsel, S. 10. Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken. Bd. 4, S. 92f. Verf.: Zwischen Dichtung und Wahrheit, S. 80ff. Zu unterschiedlichen Möglichkeiten der Verbindung von ‚Leben’ und ‚Werk’ in Goethes Lyrik vgl. Neumann: „Die höchste Lyrik ist entschieden historisch“.
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des Lesers und des Autors in einer der Gattung eigenen ‚stimmungsvollen’ Weise aufs engste verbindet; eine Ordnungsfunktion, indem sie den Glauben an die Ordnung in der Unordnung, an einen ‚beau désordre’ des Werks ausbildet; und eine Lektürefunktion, indem sie die Entsagungsbereitschaft des Lesers trainiert, der sich durch Unverständlichkeiten, Nebensächlichkeiten, Belanglosigkeiten nicht abhalten läßt, Verständlichkeit zu unterstellen, Hauptsächlichkeit zu behaupten und Bedeutsamkeit zu empfinden. Nur auf diesen letzten Punkt will ich mich im folgenden konzentrieren. Die Lyrik sichert für Goethe die Werkeinheit über die Grenzen der im weitesten Sinn ästhetischen Schriften und der naturwissenschaftlichen Schriften hinweg – im Archiv des Dichters und Schriftstellers ordnet Goethe 1822 die naturwissenschaftlichen Schriften unter dasjenige, was „gewissermaßen im Widerspruch mit dem poetischen Wirken“ entstanden sei und was ihn u. a. den „Vorwurf zerstreuter und zerstückelter Thätigkeit befürchten“ läßt.668 Naturgedichte bzw. Gedichte zur ‚Naturlehre‘ stellen dagegen Verbindungsmöglichkeiten zwischen diese beiden Werkgruppen her. Schiller ist daher angesichts von Goethes Umorientierung von der literarischen Produktion auf die naturwissenschaftlichen Studien die „Idee zu einem didaktischen Gedichte sehr willkommen gewesen; eine solche Beschäftigung knüpft die wissenschaftliche Arbeiten an die poetischen Kräfte an und wird Ihnen den Übergang erleichtern, an dem es jetzt allein zu fehlen scheint“.669 Zudem kann Goethe die ‚Naturlehre‘ zur Erläuterung der Lyrik heranziehen und damit die Kombinierbarkeit der beiden Werkteile in umgekehrter Richtung belegen, wenn er beispielsweise in der umfangreichen Erläuterung der Harzreise im Winter auf die Farbenlehre verweist (WA IV, 41.1, 337). Daß Goethe später auf Anregung Riemers seine „Natur-Gedichte“ sammelt670, ist deswegen keine Nebensächlichkeit, weil er dadurch ein beispielhaftes Werkverhalten exemplifizieren kann. In den Tag- und Jahresheften notiert Goethe im Juli 1823: „Auf Anregung eines theilnehmenden Freundes suchte ich meine in Druck und Manuscript zerstreuten naturwissenschaftlichen Gedichte zusammen, und ordnete sie nach Bezug und Folge“.671 ‚Teilnahme‘ und ‚Freundschaftlichkeit‘ markieren eine Haltung _____________ 668 Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken. Bd. 2, S. 48. 669 Brief vom 5. März 1799 an Goethe (MA 8.1, 679). Die Überlegungen Goethes zur Verbindung von Lyrik und „Naturlehre“ beginnen ungefähr ein Jahr zuvor (WA IV, 2, 212). Vgl. hierzu auch das Zusammenspiel von ausbleibender ‚singbarer‘ Lyrik und intensiven optischen Untersuchungen im Brief an Reichardt vom 29. Juli 1792 (WA IV, 9, 324). 670 Riemer an Goethe, 26. Oktober 1821 (Gräf: Goethe über seine Dichtungen. Bd. 2, S. 406, Anm. 2). 671 Eintrag vom 5. bis 11. Juli 1823 (WA I, 36, 187).
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gegenüber dem Gesamtwerk eines Dichters. Sie werden zu Zentralbegriffen von Goethes Werkpolitik. Das Rubrum Goethes für seine Lyrik in privaten Äußerungen mag angesichts der zentralen Funktion dieser Gattung für das Werk zunächst überraschen: Sie firmiert dort unter „kleine Gedichte“ oder „Kleinigkeiten“ (z. B. WA IV, 7, 230, 232). Daß damit keine verniedlichende Abwertung verbunden sein muß, versteht sich aus der historischen Semantik der Begriffe. „Kleinigkeiten“ werden nämlich im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einem privilegierten Beobachtungsgegenstand in verschiedenen Bereichen: Gerade in den Naturwissenschaften gewinnen sie an Bedeutung im Rahmen der Verschiebung des Interesses vom Ungewöhnlichen zum Gewöhnlichen, vom Staunenswerten zum Unscheinbaren, wie es sich beispielsweise in der florierenden Insektenforschung der Aufklärung zeigt.672 Wichtig ist dabei die Umkehrung der älteren Reihenfolge von lustvollem „Staunen“, „Aufmerksamkeit“ und Neugierde“ zu einer Folge von arbeitsförmiger „Aufmerksamkeit“, „Neugierde“ und „Staunen“.673 Damit bildet sich aber nicht nur eine „wissenschaftliche Persona“ neuen Typs aus, die obsessive Aufmerksamkeit gerade auf jene Objekte verwendet, die normalerweise als langweilig, banal oder unverständlich gelten.674 Der Typus des ‚aufmerksamen‘ Menschen wird auch zu einem Idealtyp der Geselligkeitstheorie der Aufklärung, genauer: der Freundschaftstheorie. Auch hierbei spielt der Begriff der „Kleinigkeit“ eine große Rolle. Freunde sind nämlich diejenigen, die sich für alles, was den anderen betrifft, interessieren. Die „Kleinigkeiten“, also die Dinge, in die mit Sicherheit kein anderer als ein Freund Aufmerksamkeit investiert, sind dann gleichsam der Testfall von Freundschaft. An ihnen kann man überprüfen, wie fein und weit zugleich das Aufmerksamkeitsraster eines Beobachters ist und ob dieser Beobachter aufgrund seines Feinsinns als Freund gelten kann. Gerade in der Brieflehre des 18. Jahrhunderts tauchen solche Motive auf, und sie verbinden sich praktischerweise mit einem lyriktheoretischen Motiv: Briefe, die für Freunde geschrieben sind, handeln nicht allein von ‚Kleinigkeiten‘, die nur den Freund interessieren, sie gehorchen zudem, wie man dies traditionell der Lyrik zuschreibt, einer Ordnung der ‚schönen Unordnung‘, und auch dies vermag nur ein Freund zu akzeptieren, weil er in dieser Unordnung wiederum den Freund in seiner Individualität und Besonderheit zu entdecken vermag.675 Vor diesem Hintergrund erschließt sich, warum Goethe sein Gesamtwerk nicht nur mit „Kleinigkeiten“ einleitet, sondern dieses Gesamtwerk _____________ 672 673 674 675
Daston: Eine kurze Geschichte der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit, S. 27ff. Daston: Eine kurze Geschichte der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit, S. 37, 39, 41f. Daston: Eine kurze Geschichte der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit, S. 43ff. Verf.: Friedrich von Hagedorn, S. 298ff.
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auch und gerade an die „Freunde“ oder an den „freundschaftlich“ gesinnten bzw. eben „teilnehmenden“ Leser adressiert.676 Über seine frühe Lyrik schreibt Goethe in Dichtung und Wahrheit, er habe sich in Liedern oder Epigrammen, also in den Prototypen von ‚Kleinigkeiten‘, seine Probleme von der Seele zu schreiben versucht, in Formen, „die, weil sie sich auf die eigensten Gefühle und auf die besondersten Umstände bezogen, kaum Jemand anderes interessiren konnten als mich selbst“ (MA 16, 311) – und, so bleibt eben hinzuzufügen, einen ‚Freund‘.677 Ferdinand Delbrücks Besprechung des ersten Bandes der Werkausgabe von 1806, mit dem die Gedichtsammlung an den Anfang des Gesamtwerks rücken, mußte Goethe daher „viel Vergnügen“ bereiten: Ich erkenne darin den Mann, der von jeher mit Wohlwollen meinen Arbeiten seine Aufmerksamkeit schenkte und der ein Interesse fand, sich meine Art und Weise zu vergegenwärtigen. Er hat Gedichte und Stellen, auf die ich selbst einen besondern Werth lege und die lange unbemerkt geblieben sind, hervorgezogen und sich überhaupt, wie mich dünkt, mit Offenheit und Redlichkeit betragen. (an Eichstädt, 8. Dezember 1808; WA IV, 20, 249)
Bereits die ersten lyrischen Produktionen will Goethe nach Möglichkeit nur „Freunden“ zugänglich machen678; und bereits die erste Werkausgabe, die Schriften, die bei Göschen von 1787 bis 1790 erscheinen, werden dem Publikum als ein Freundschaftsdienst präsentiert – in der Ankündigung der Ausgabe im Journal von und für Deutschland formuliert Goethe sein Werkprogramm in einem „Briefe an einen Freund“, von dem Göschen mit Erlaubnis des Autors „öffentlichen Gebrauch“ machen darf.679 Es scheint daher signifikant für die literarische Kommunikation zu sein, daß Goethe Teile seines Frühwerks zunächst Charlotte von Stein vorlegt680, und dies eben nicht nur als einem Menschen, dem er zufälligerweise emotional zugetan gewesen sein mag, sondern als einem bestimmten Lesertypus – das Gedicht „Geheimnisse“, also die ursprüngliche und in veränderter Fassung beibehaltene lyrische Einleitung aller Werkausgaben, soll Charlotte von Stein sagen, „wie lieb ich dich habe“ (an C. v. Stein, 11. August 1784; WA IV, 6, 335). _____________ 676 Zum Begriff der „Teilnahme“ bei Goethe vgl. den bereits zitierten Beitrag zu Goethe‘s Teilnahme an Manzoni (1827) (WA I, 42.1, S. 161; 5.4.1). 677 Diese Kombination dann in einem späteren Brief vom 8. September 1823 an C.L.F. Schultz: „Nebenbey sind auch einige Gedichte gelungen, die für mich Werth haben und für Freunde hoffentlich nicht werthlos bleiben sollen“ (WA IV, 37, 208). 678 Vgl. z. B. den Brief an seine Schwester vom 5./11. Mai 1767, in dem er seine Kritikerscheu bekennt (WA IV, 1, 88f.). 679 Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken. Bd. 1, S. 23. 680 Am 1. Juni 1777 schreibt Goethe an Charlotte von Stein: „In beikommendem versiegelten Packete [...] sind allerlei Schreibereien meiner ersten Jahre, die Sie zum Theil unterhalten werden“ (WA IV, 3, 158).
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In den Noten und Abhandlungen zum West-östlichen Divan heißt es dann unter der Überschrift Künftiger ‚Divan‘: Man hat in Deutschland zu einer gewissen Zeit manche Druckschriften vertheilt, als Manuscript für Freunde. Wem dieses befremdlich sein könnte, der bedenke, daß doch am Ende jedes Buch nur für Teilnehmer, für Freunde, für Liebhaber des Verfassers geschrieben sei. (WA I, 7, 132)
Die Noten und Abhandlungen knüpfen damit an die Widmung der ‚Kleinigkeiten‘ An die Günstigen an, mit der in der Gedichtsammlung der Neuen Schriften von 1800 und in den Werken 1806 die Zusammenstellung der Lyrik beginnt: „Und das Alter wie die Jugend, / Und der Fehler wie die Tugend / Nimmt sich gut in Liedern aus“.681 Der teilnehmende, freundschaftliche Leser sortiert nicht nach der Leitdichotomie ‚fehlerhaft / vollkommen‘; seine Aufmerksamkeit verteilt sich gleichmäßig. Das Gegenbild dieser Werkhermeneutik zeichnet sich durch eine partialisierte Aufmerksamkeit aus. Als Goethe zu einer Art von Testlauf für die Publikumstauglichkeit die Idylle Alexis und Dora in „Umlauf“ bringen läßt, bemerkt er „aufs neue“, daß es unsern Hörern und Lesern eigentlich an der Aufmerksamkeit fehlt, die ein so obligates Werk verlangt. Was ihnen gleich einleuchtet das nehmen sie wohl willig auf, über alles, woran sie sich nach ihrer Art stoßen, urteilen sie auch schnell ab, ohne vor noch rückwärts, ohne auf den Sinn und Zusammenhang zu sehen, ohne zu bedenken daß sie eigentlich den Dichter zu fragen haben, warum er dieses und jenes so und nicht anders machte? [...] Von der andern Seite betrachtet sollte man vielleicht die Menschen, sobald sie nur einen guten Willen gegen etwas zeigen, auch mit gutem Willen mit seinen ästhetischen Gründen bekannt machen. – Nun sieht man aber daß man nie ins Ganze wirken kann und daß die Leser immer am einzelnen hängen, da vergeht einem denn Lust und Mut und man überläßt sie in Gottes Namen sich selbst. (an Schiller, 7. Juli 1796; MA 8.1, 202)
Mit der Werkfunktion der Lyrik verbindet sich die Hoffnung, auf die gegenläufige Anregung einer „Aufmerksamkeit“, die „vor“ und „rückwärts“ beobachtet und auf „Sinn und Zusammenhang“ sieht. Wer sich für die lyrischen „Kleinigkeiten“ am Anfang des Werks interessiert, der wird sich, zumindest was sein Kaufverhalten angeht, auch für den Rest des Werks interessieren, und er wird in der scheinbaren „Unordnung“ sämtlicher Werke eine „schöne“ oder eben ordentliche „Unordnung“ des Gesamtwerks entdecken. Und falls er diese Ordnung in der Unordnung nicht zu _____________
681 Gräf: Goethe über seine Dichtungen. Bd. III/1, S. 335. 1815 rückt An die Günstigen auf Platz drei der Lyriksammlung; auf Platz zwei kommt Vorklage als Einleitung der Lieder und gibt eine nicht minder komplizierte Lesart vor:: „Was eine lange weite Strecke / Im Leben von einander stand, / Das kommt nun unter Einer Decke / Dem guten Leser in die Hand. / [...] Die Welt ist voller Widerspruch, / Und sollte sich’s nicht widersprechen?“ (WA I, 1, S. 11). Vgl. dazu auch Goethes Vermutung, die Poesie habe eine andere Darstellungskompetenz als die Prosa, weil die Poesie sich in Widersprüchen bewegen könne (an Riemer am 28. Oktober 1821; WA IV, 35, 158).
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entdecken vermag, dann wird er dies nicht dem Autor anlasten, sondern er wird die Schwachstelle bei sich suchen, bei seiner unzulänglichen Genauigkeit, bei seinem Ausschließungsverhalten, bei seinem mangelhaften Feinsinn, kurzum: bei seiner selektierenden Aufmerksamkeit. In dieser Hinsicht unterscheiden sich im Normalfall Freunde und Rezensenten – die einen sehen den Zusammenhang des Werks, die anderen übersehen ihn. An Zelter schreibt Goethe am 22. Juni 1808 über die unterschiedlichen Formen der Visibilität und Invisibilität: Die Fragmente eines ganzen Lebens nehmen sich freylich wunderlich und incohärent genug neben einander aus; deswegen die Recensenten in einer gar eigenen Verlegenheit sind, wenn sie mit gutem oder bösem Willen das Zusammengedruckte als ein Zusammengehöriges betrachten wollen. Der freundschaftliche Sinn weiß diese Bruchstücke am besten zu beleben. (WA IV, 20, 85).
‚Incohärent‘ waren die Werke insofern, als die poetischen Werke der unterschiedlichen Schaffensphasen einerseits und andererseits ‚ästhetische‘ und naturwissenschaftliche Schriften für viele Leser keine Bezüge erkennen ließen. Autobiographische Informationen und chronologische Werkregister sollten hier Orientierung schaffen. Gegen eine chronologische Werkordnung sprach für Goethe jedoch, daß vieles unvollendet war, daß viele Werke eine lange Entstehungszeit hatten, daß sich deren historischer Ort daher kaum bestimmen ließ und daß die Werke der unterschiedlichen ‚Fächer‘ in einer chronologischen Ordnung eben unordentlich wirken würden.682 Die Werkfunktion der Lyrik besteht damit in einer umfassenden Leserlenkung bzw. Leserbildung oder vielleicht auch Lesersortierung, und dies angesichts eines Werks, das mit guten Gründen als disparat bezeichnet werden könnte und dessen Wahrnehmung sich durch explizite Leserprogrammierung nicht steuern läßt. Die Lyrik gibt dem Leser daher keine expliziten Leseanweisungen, aber sie erzieht ihn performativ, im Vollzug des Lesens, zu einem bestimmten Leseverhalten, das sich durch selektionslose Aufmerksamkeit und eine damit korrespondierende dauerhaft interessierte Gefühlsbindung auszeichnet. An den Autor von Dichtung und Wahrheit schreiben seine „Freunde“: Ihre Freunde haben indessen die Nachforschung nicht aufgegeben und suchen, als näher bekannt mit Ihrer Lebens- und Denkweise, manches Rätsel zu erraten, manches Problem aufzulösen; ja sie finden, da eine alte Neigung und ein verjährtes Verhältnis ihnen beisteht, selbst in den vorkommenden Schwierigkeiten einigen Reiz. Doch würde uns hie und da eine Nachhülfe nicht unangenehm sein [...]. (MA 16, 9)
Und diese „Nachhülfe“ ist vor allem deswegen notwendig, weil die „Produktionen“ Goethes „im Ganzen“ für die Leser „unzusammenhängend“ _____________ 682 Vgl. dazu Summarische Jahresfolge Goethescher Schriften (WA I, 42.1, 77ff.).
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erscheinen, und zwar in einem Maß, daß „man kaum glauben [sollte], daß sie von demselben Schriftsteller entsprungen seien“ (MA 16, 9). Die von den ‚Freunden’ geforderte chronologische Werkordnung und das von Goethe gelieferte Bruchstück einer Autobiographie sollen die literarische Kommunikation intimisieren und jenen Grad an Vertrautheit herstellen, der fernkommunikative Verhältnisse faktisch nicht auszeichnet, dessen Ausbildung aber Distanzbeziehungen konzeptionell stimulieren. Chronologie und Biographie dienen dem Autor dazu, wie es im Vorwort von Dichtung und Wahrheit heißt, „sich mit denen die eine Neigung zu ihm gefaßt, auch in die Ferne zu unterhalten“ (MA 16, 10). Chronologische Register und autobiographische Informationen sollen im Rahmen der Fernkommunikation nahkommunikative Verhältnisse und Einstellungen herbeiführen. Diese Intimisierung der literarischen Kommunikation (also die Adressierung an ‚Freunde‘ und ‚teilnehmende Leser‘) legt den ‚Gesichtspunkt‘ für die Beobachtung des Werks fest. Der ‚teilnehmende Leser‘ läßt sich durch keine Schwierigkeiten abschrecken, er findet auch gegen den Augenschein Bezüge und Beziehungen, und er interessiert sich auch und gerade für Fehler, wenn sie sich mit der Entwicklung des Autors verbinden lassen. Die Entmächtigung einer kritischen Beobachtung des Werks durch Temporalisierung, bei der das Werk unabhängig von seiner ästhetischen Qualität als Zeugnis der Literaturoder Autorgeschichte interessant wird, gerät dabei immer wieder in Konflikt mit literarischen, politischen oder gesellschaftlichen Bedenken, so daß die Unwahrscheinlichkeit der selektionslosen Aufmerksamkeit und die Widerstände, die bei ihrer Installierung zu überwinden waren, deutlich werden. Man sieht weiterhin: Die Aufmerksamkeit, die das Werk sich auf Kredit des Autors und unter Einstimmung durch die Lyrik erworben hat, kann auch in Zudringlichkeit umschlagen. Dann werden Genauigkeit, das Ideal der Vollständigkeit oder das umfassende Interesse zu einer Bedrohung des Autors, der die Leser, die er auf sein Werk verpflichtet hat, nun nicht mehr bändigt.683 So bringt eine „geistreiche geliebte Freundin“ den Autor 1795 nach Versendung der ersten Exemplare von Wilhelm Meisters Lehrjahren „ganz besonders in Verzweiflung“, weil sie sich „durch Ahnung manches Geheimnisses, Bestreben nach Enthüllung und ängstliche Deutelei“ dem Werk nähert, „anstatt daß ich gewünscht hätte, man möchte die Sache nehmen wie sie lag und sich den faßlichen Sinn zueignen“ (WA I, 35, 46).684 Daß sie sich damit freilich gegen die „geheime Gewalt des Wer_____________ 683 Zu dieser Paradoxie von Werkherrschaft und Fremdkontrolle paßt Cornelia Vismanns beamtengeschichtliche Ableitung der Subjektfunktion aus der Selbstverwaltung: Akten, S. 235ff.; in diese Richtung bereits Kittler: Lullaby of Birdland, S. 104, 117. 684 Gemeint ist Marianne Meyer (Krolop: Geteiltes Publikum, geteilte Publizität, S. 280).
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kes in Positur setz[t]“ (WA I, 35, 46), deutet an, in welchem Wechselverhältnis Aufmerksamkeit und Zudringlichkeit stehen. Am 26. März 1830 schreibt Goethe an Zelter: Dem altgegründeten Musiker, wie dem wohlfundirten Poeten geht es denn doch in der neuern Zeit wie dem Zauberlehrling: „Die ich rief, die Geister, Werd‘ ich nun nicht los.“ Ich habe nun noch eine besondere Qual daß gute, wohlwollende und verständige Menschen meine Gedichte auslegen wollen und dazu die Specialissima, wobey und woran sie entstanden seyen, zu eigentlichster Einsicht unentbehrlich halten, anstatt daß sie zufrieden seyn sollten daß ihnen irgend Einer das Speciale so in‘s Allgemeine emporgehoben, damit sie es wieder in ihre eigene Specialität ohne Weiteres aufnehmen können.
Goethe zeigt sich indes nicht unversöhnlich, denn er fügt hinzu: „Doch fällt mir ein daß auch manchmal etwas Anmuthiges aus solchem Bestreben nach Particularitäten entspringen kann“ (WA IV, 46, 286f.). Diese Anmut haben in besonderem Maß die Philologen erreicht, die sich als freundschaftliche Leser Goethes herausgestellt haben. Uneinheitlichkeit eines Werks führt bei ihnen nicht dazu, dem Autor Unfähigkeit zur Einheitsbildung zu attestieren, sondern sie dient dazu, „Interesse [zu] erregen und zu den mannichfaltigsten Gedanken Anlaß [zu] geben, die denn doch zuletzt an einem Ziele anzulangen die Hoffnung haben“.685 Gerade das „fragmentarische“, „welches man sich mit dem übrigen in Zusammenhang zu setzen sucht“, wirkt „doppelt anziehend“ auf einen Leser, der Anfangs orientierungslos in einem Text herumirrt, der sich durch diese Verwirrung nicht von einer weiteren Lektüre abhalten läßt, die dann die „Räthsel […] auf das Befriedigendste [ ]löst […]“, und sich eine „Fortsetzung“ wünscht.686 Dem Philologen geht es mit Goethe wie mit den „Schriften der ‚Alten: ich kann sie noch so oft lesen, sie ziehen mich mit ungeschwächter Kraft an und regen mich stets von neuen, früher mir unbewußten Seiten an“.687 Damit handelt der Philologe genau so, wie Goethe sich dies als Autor gewünscht hatte: Er läßt „die Bemühung“, mit der er sich den „alten Schriftstellern zugewandt“ hatte, auch Goethe „zu Gute kommen“ (an Göttling, 10. Januar 1824; WA IV, 39, 77). _____________ 685 So Goethe an Karl Wilhelm Göttling am 3. Dezember 1828 im Blick auf die Wanderjahre, die der Jenaer Professor für klassische Philologe lektoriert an den Autor zurückgeschickt hatte (WA IV, 45, 71f.). 686 So Göttling an Goethe am 3. Februar 1829 (Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken. Bd. 2, S. 585). 687 So Göttling an Goethe am 6. März 1829 (Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken. Bd. 2, S. 595).
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5.4.3 Goethe-Philologie Die germanistische Philologie hat in ihren unterschiedlichen Ausprägungen von den ‚Dilettanten’, über die Schulmänner-Philologie bis hin zur universitär organisierten Erforschung von neuerer deutscher Literatur in Goethe einen herausragenden Gegenstand gefunden. Man kann sagen: Die Wissenschaft von der neueren deutschen Literatur etabliere sich als Goethe-Philologie.688 Dies liegt an der idealen Quellenlage, die Goethe in Form autobiographischer Schriften, der Werkausgabe letzter Hand, seines Archivs und seiner Selbstkommentare hinterlassen hat;689 und dies liegt an den Lücken, Leerstellen und offenen Fragen sowie an der ästhetischen Faktur seiner Texte. „Durch Goethe“, so summiert Richard Hamel in seiner Studie Zur Textgeschichte des Klopstock’schen Messias (1879), „erhielt sie [die deutsche Dichtung, S.M.] jene Grazie, die mehr sagt, als sie auszusprechen für gut findet, oder die nicht nur sprechend, sondern auch schweigend zu reden versteht“.690 Die korrespondierenden Gedankenfiguren konzentrierten sich auf den Autor als Produzenten eines unendlich sinnreichen Werks, das in Verbindung mit dem Leben steht und eine Bildungsfunktion für die Leser erfüllt.691 Die fließenden Grenzen zwischen Literatur, Literaturkritik und Philologie sind für die Frage nach der Werkpolitik nicht allein deswegen interessant, weil dadurch die Doppeladressierung von Literatur an die kritische und an die philologische Kommunikation sowie der Zusammenhang dieser Diskurse kenntlich werden. Darüber hinaus verdeutlichen die interdiskursiven Bezüge erneut, daß und in welcher Weise man Literatur weniger als Gegenstand denn als Pendant von Kritik und Philologie verstehen kann. Die Verquickung von Gegenstand und Beobachterposition sind weitgehend und teils skurril, so etwa im Fall von Erich Schmidts Überzeugung, er ähnle Goethe auch physiognomisch: Bei seinen Vorträgen führte diese Intuition zu eigentümlichen Kopfbewegungen, weil Schmidt sein besonders Goethe-affines Profil der Zuhörerschaft darbieten wollte.692 Gleichwohl bildet sich eine Disziplin im Wissenschaftssystem über Grenzziehungen, und auch der wissenschaftliche Zugang zur neueren deutschen Literatur mußte sich von den Bemühungen der nichtinstitutionalisierten Goethe-Forschung unterscheiden, wie plausibel und _____________ 688 Kruckis: Goethe-Philologie; Nutz: Das Beispiel Goethe, S. 633ff.; 689 Nutz: Das Beispiel Goethe, S. 614f., 634f.; Kruckis: Goethe-Philologie als Paradigma neuphilologischer Wissenschaft im 19. Jahrhundert, S. 477. 690 Hamel: Zur Textgeschichte des Klopstock’schen Messias, S. 59. 691 Nutz: Das Beispiel Goethe, S. 608f. 692 Ufertinger: Der Germanist Erich Schmidt, S. 50f.
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glaubhaft das bei genauerer Hinsicht auch immer sein mochte. Dafür standen verschiedene Wege offen: Man konnte beispielsweise auf wissenschaftlicher Seite größere Akribie und Entsagungsbereitschaft verbuchen, oder man konnte eine größere Kompetenz zur Analyse von Tiefenstrukturen behaupten.693 Dennoch war die Verbreitung des ‚Goethe-Kultes’ etwa in der allgemeinen Zeitschriftenkultur jenes Faktum, an das man die von Goethe selbst behauptete nationale Bedeutsamkeit der ‚Goethe-Philologie’ anband und den Wert der Germanistik steigerte.694 Diese politische Bedeutung Goethes, die Ausbildung eines wissenschaftsgeschichtlich relevanten Grades von Selbstreflexivität in der Beschäftigung mit Goethe und seinem Werk in den 1830er Jahren695 sowie die „monumentale Philologisierung Goethes“ nach der Reichsgründung696 bilden den Hintergrund für zwei Beiträge zur Goethe-Philologie von Wilhelm Scherer, auf die ich mich im folgenden konzentrieren werde: Goethe-Philologie (1877) und Über die Anordnung Goethescher Schriften (1882-84). Wilhelm Scherer ist an dieser Stelle aus drei Gründen ein geeignetes Beispiel: Zum ersten verwaltet Scherer nach der Nachlaßöffnung die Goethe-Philologie und erobert damit der sogenannten ‚Scherer-Schule’ eine weit ausgebaute institutionelle Machtposition innerhalb der Germanistik – die Angriffe von seiten der geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft, die Scherer überhaupt erst zum Prototyp des ‚Positivisten’ gemacht haben, erklären sich auch daraus.697 Zum zweiten stellt Scherer die Philologie in den Dienst der Ausbildung einer Nation und akzentuiert entsprechend den politischen Aspekt beim Umgang mit dem Werk.698 Zum dritten verbindet Scherer das Interesse an einer Neufundierung der Philologie mit dem Projekt, der philologischen Tätigkeiten eine neue Form der Popularität zu gewinnen und ihr dadurch eine Einflußnahme auf die aktuellen Geschehnisse zu sichern699 – in beiden Fällen war Goethe für ihn erklärtes Vorbild.700 Hinzuzufügen bleibt noch, daß an der Person Scherers deutlich wird, wie die Philologie als Rezeptionshorizont in das Selbstverständnis _____________ 693 694 695 696 697
Kruckis: Goethe-Philologie, S. 454, 458, 473. Kruckis: Goethe-Philologie, S. 463ff., 466, 472. Kruckis: Goethe-Philologie, S. 451f. Mandelkow: Einleitung, S. XVII. Gille: Goethe Forschung (19. Jh.), S. 418; Kruckis: Goethe-Philologie, S. 484f.; Barner: Zwischen Gravitation und Opposition, S. 204f. 698 Vgl. dazu im Überblick die Kurzcharakteristik von Fohrmann: Scherer, Wilhelm; Höppner: Das „Ererbte, Erlebte und Erlernte“ im Werk Wilhelm Scherers, S. 211ff.; Sternsdorff: Wissenschaftskonstitution und Reichsgründung, insbes. S. 262ff. 699 Höppner: Das „Ererbte, Erlebte und Erlernte“ im Werk Wilhelm Scherers, S. 149ff. 700 Zu ersterem vgl. unten; zu letzterem vgl. Scherer: Der junge Goethe als Journalist, insbes. S. 70f.; dazu: Höppner: Das „Ererbte, Erlebte und Erlernte“ im Werk Wilhelm Scherers, S. 159ff.; Kitzbichler: Literaturhistoriker als Journalisten, S. 58f.
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der Autoren eindringt.701 Auf diese Weise behauptet Scherer die Relevanz der Philologie gleichermaßen auf dem wissenschaftlichen wie auf dem politischen, auf dem allgemein kulturellen wie auf dem spezifisch literarischen Feld. Ausgangspunkt von Scherers Überlegungen zur Goethe-Philologie, die bezeichnenderweise im Neuen Reich, also in einer auf Popularität setzenden Zeitschrift erscheinen,702 ist der allgemeine Zustand der Philologie, mithin aus Scherers Perspektive der Zerfall einer Kommunikationsgemeinschaft in konkurrierende Enklaven: Für jenes Verständnis geistiger Erscheinungen giebt es keine exacte Methode; es giebt keine Möglichkeit unwidersprechliche Beweise zu führen; es hilft keine Statistik, es hilft keine Deduction a priori, es hilft kein Experiment. Der Philolog hat kein Mikroskop und kein Scalpell; er kann nicht anatomiren, er kann nur analysiren. Und er kann nur analysiren, indem er sich assimilirt. Aber die Assimilationsfähigkeit der Menschen hat tausenderlei Abstufungen, und so kann ein Poet auf eben so viele Arten verstanden werden, als er Menschen um sich versammelt. Ein jeder findet in ihm etwas anderes […]; und vielleicht wird jeder von ihm unwissentlich belogen: wie sollen sich diese dann untereinander einigen, wenn sie ihre wirklichen oder vermeintlichen Kenntnisse austauschen? Alle Anhänger eines Propheten spalten sich in Secten; die Secten bekämpfen sich; und im Kampfe werden die Unterscheidungslehren das wichtigste, während das Andenken des Propheten selbst verblaßt. Nun denn: jeder Philolog ist eine Secte für sich. Und dadurch wird die durchschnittliche Charakterform des Philologen bestimmt.703
Die Individualisierung der philologischen Kommunikation ist dabei gleichermaßen Krisenphänomen wie Ausdruck von besonderer Wahrnehmungskompetenz. Der Begriff der „Feinheit“, den ich im Kontext der Untersuchung von Klopstocks Werkpolitik als poetologischen Begriff eingeführt habe (4.1.2), taucht in diesem Zusammenhang wieder auf: Die Philologie ist die schmiegsamste aller Wissenschaften. Sie ist ganz auf das feinste Verständnis gegründet. Die Gedanken und Träume vergangener Menschen und Zeiten denkt sie nach, träumt sie nach. [...] Aber alles Verstehen ist ein Nachschaffen: wir verwandeln uns in das, was wir begreifen; der Ton, der an unser Ohr schlägt, muß einen verwandten in uns wecken, sonst sind wir taub; und die partielle Taubheit ist leider gemeines Menschenloos. Die Philologie ist allumfassend, allverstehend, allbeleuchtend: die Philologen stehen unter den Gesetzen endlicher Beschränkung.704
Diese Form der Intimisierung von literarischer Kommunikation disharmoniert mit den universitären Strukturen: Einerseits gleicht das Supersub_____________ 701 Vgl. Höppner: Das „Ererbte, Erlebte und Erlernte“, z. B. S. 187. 702 Vgl. dazu Obenaus: Literarische und politische Zeitschriften 1848-1880, S. 65ff. 703 Scherer: Goethe-Philologie, S. 4; entsprechende Parallelstellen zur Verwandtschaft von Interpret und Künstler bei Scherer vgl. bei Sternsdorff: Wissenschaftskonstitution und Reichsgründung, insbes. S. 199ff. 704 Scherer: Goethe-Philologie, S. 3.
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jekt ‚Philologie’ die Defizite der auf die ‚feine’ Beobachtung abonnierten ‚Philologen’ und ihrer „partielle[n] Taubheit“ aus. Andererseits bietet die ‚Philologie’ den institutionellen Rahmen, in dem sich Kampf, Streit und andere Formen kritischer Negativität ausbreiten können: Man behauptet: die Philologen liebten nicht so sehr jene großen Kunstwerke ihrer Wahl als ihre eigenen Meinungen darüber; sie seien nicht anschmiegsam und fein, sondern gewaltsam und schroff; man vermisse an ihnen die Humanität und die Toleranz. [...] ich möchte die Nachsicht der Richtenden in Anspruch nehmen für unseren Stand, und mildernde Umstände plaidiren.705
Vor dem Hintergrund der Etablierung von Negativität im literarischen Diskurs (2.2-5) liegt die Vermutung nahe, daß gerade die Abstraktheit der Kommunikationsverhältnisse im Wissenschaftssystem die Prämierung und Lizenzierung von Negativität erwirkt und daß die Intimisierung des Verhältnisses von philologischer Beobachterposition und Gegenstandsbereich ein Effekt dieser Abstraktheit ist: Die Konkurrenzverhältnisse unterstützen die Suggestion einer ‚feinen’ Aufmerksamkeit, aufgrund derer die Aktanten alternative Beobachtungen für unzulänglich erklären. Die Goethe-Philologie wiederum ist deswegen ein so gutes Beispiel für den Zustand der Philologie im allgemeinen, weil sich an der Person des Olympiers und dessen Werk der Perspektivismus in besonderem Maß ausprägt: Nie hat ein Schriftsteller eine so bunte Jüngerschaar gehabt wie Goethe. [...] Kein Wunder, daß die Meinungen dann weit auseinandergehen, daß jeder seinen eigenen Goethe hat und daß diese mehreren Goethes die allerverschiedensten Gesichter zeigen und die allerverschiedensten, manchmal wunderbarsten Dinge verrichten.706
Die Intimisierung der literarischen Kommunikation, die sich aus individuellen Anklängen von Objekt und Subjekt der Forschung ergibt, und die entsprechende Pluralisierung der Hinsichten und Perspektiven machen Goethes Publikum zum prototypischen Beispiel für die Uneinheitlichkeit des Publikums in der Moderne. Dagegen setzt Scherer eine neue Einheit, sowohl des Werks als auch der Nation, die durch Goethe als Lehrer und durch die erzieherische Leistung der Philologie ausgebildet wird. Auch aus diesem Grund dürfte Scherer so nachdrücklich betonen, daß er keine Personalkritik an Goetheforschern üben will:707 Im Hintergrund steht letztlich das Vertrauen, daß sich die Einheit der Goethe-Philologie durch den Rückzug auf einen nun _____________ 705 Scherer: Goethe-Philologie, S. 3f. 706 Scherer: Goethe-Philologie, S. 4f. 707 Scherer: Goethe-Philologie, S. 6, 27 – an dieser Stelle taucht das alte Argument der kritischen Kommunikation wieder auf, daß „lebende“ Personen keinesfalls kritisiert werden sollten (3.2.1).
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philologischen ‚Tiefsinn’708 gegen die Vielheit der Goethe-Philologen durchsetzen werde.709 Voraussetzung dieser neuen Einheitsbildung ist Scherers Beobachtung, daß die Erforschung der neueren deutschen Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht allein zweifellos wissenschaftsfähig geworden ist, sondern daß die Textumgangsformen der institutionalisierten Philologie zugleich in neuen Formen des Dilettantismus gesellschaftlich diffundieren.710 Auf diese Weise können die Homogenisierungshoffnungen, die Scherer mit der Institution ‚Philologie’ verbindet, auch für die gleichmäßige Adressierung eines homogenisierten Publikums und schließlich einer zur Einheit gewordenen Nation gelten. Insofern skizziert Scherer hier aus dem Geist des Nationalliberalismus die wissenschaftstheoretische Rückseite seiner Popularisierungsbemühungen, die ihm den Vorwurf des Feuilletonismus eingetragen haben: „Ich schreibe höchstens in zehnter Linie für die Fachleute“, erklärt er in einem Brief an Ludwig Speidel vom 1. April 1880 über seine Geschichte der deutschen Literatur und fügt hinzu: „Mein Ehrgeiz war […], ein Kunstwerk zu schaffen“.711 Noch klarere Worte, die in die Richtung einer Kunst der Wissenschaft führen und die die Frage nach den werkpolitischen Gemeinsamkeiten im Kunst- und Wissenschaftssystem aufwerfen, fand Scherer wenige Jahre zuvor: Der deutsche Gelehrte ist eine zu wunderbare Pflanze: Jeder französische oder englische Gelehrte hat den Ehrgeiz auch Schriftsteller zu sein, Anteil zu nehmen, activen Anteil an der Entwickelung der nationalen Litteratur, einzuwirken auf die nationale Bildung. Die unsrigen haben den Ehrgeiz als unbekannte Olympier über den Wolken zu thronen u[nd] das Publicum wie ein herrenloses Schaf auf der grünen Weide sogenannter populärer Litteratur umherirren zu lassen. Auf diese Art muß unsere nationale Bildung herunterkommen.712
Dies ist der Hintergrund für die beiden zentralen Gründe, die den „Betrieb der neuen Literaturgeschichte“ Scherer zufolge rechtfertigen: Der _____________ 708 Vgl. dazu den Einsatz Scherers in seiner Rezension der Kleineren Schriften Lachmanns 1876 in den Preußische Jahrbüchern (1876). Dort stellt er im Blick auf den sogenannten ‚Nibelungenstreit‘ fest: „[...] ich kann mir nicht denken, daß alles in Ordnung ist, wenn über einen Gelehrten wie Lachmann, die Ansichten so weit auseinandergehen […]. Wenn ein solcher Streit unentschieden schwebt, so muß die Entscheidung wohl auf einem Gebiete liegen, das man noch nicht betreten hat, und das auch mit der gewöhnlichen Routine gar nicht zu erreichen ist“ (zit. nach Kolk: Liebhaber, Gelehrte, Experten, S. 100). Zu Scherers Synthese-Bemühungen vgl. Höppner: Das „Ererbte, Erlebte und Erlernte“, S. 14ff. 709 Scherer: Goethe-Philologie, S. 6. 710 Scherer: Goethe-Philologie, S. 6f. 711 Zit. nach. Höppner: Das „Ererbte, Erlebte und Erlernte“ im Werk Wilhelm Scherers, S. 71; zum Thema ebda., S. 69ff.; Sternsdorff: Wissenschaftskonstitution und Reichsgründung, insbes. S. 204ff. (Journalismus), 238ff. (Scherer als Wissenschaftskünstler). 712 Brief an Herrmann Uhde, 29. Okt. 1876 (zit. nach Sternsdorff: Wissenschaftskonstitution und Reichsgründung, S. 206).
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„Patriotismus“ und die „nationale[ ] Einheit“ können durch eine ästhetisch sensible Philologie gefördert werden, wenn die politische und die kulturelle Entwicklung bei den „Deutschen“ sich wechselseitig stimulieren.713 Die Arbeitsförmigkeit der Werkproduktion, wie sie bei Klopstock aufgetaucht ist (4.1.3 a), wie man sie bei Goethe finden kann714 und wie George sie in seiner auf Überwindung von Widerständen setzenden Ästhetik konzipiert (6.1 b), wird daher von Scherer in seiner Poetik zu einer regelrechten Arbeitstheorie des dichterischen Schaffensprozesses ausgebaut.715 In Goethe-Philologie verankert er die kulturelle Arbeit in einem kulturellen Kapitalismus: Wir sprechen nicht umsonst von Schätzen der Cultur. Cultur ist geistiger Reichthum. Reichthum wird durch Arbeit und Sparsamkeit erworben. […] Schande über die Verschwender, die es [das „geistige Gut“, S. M.] nicht zu erhalten wissen!716
Kurzum: Die Werkpolitik der Philologie als Textumgangsverfahren prägt, zumindest nach Selbsteinschätzung der Disziplinenvertreter, dem Bürgersinn die Neigung zu „Arbeit und Sparsamkeit“ ein, und dies durch „Zucht und Strenge“, durch den „Zwang und die überlegene Herrschaft der Vernunft“.717 Sie erzieht zwar keine Autoren – von diesen übernimmt die Philologie ja vielmehr das Politische des Werks. Aber sie bildet Leser aus und vermittelt dem „Volke“ eine „gleichmäßige Ausbildung der Geisteskräfte durch pädagogische Arbeit“.718 Daß es der philologischen Werkpolitik dabei um die Einschleifung von Gewohnheiten geht, um eine Art Philologentraining für Bürger, das die selbstläuferische „peinliche[ ] Gewissenhaftigkeit“ für „Einzelheiten“ „bis in die kleinsten Veränderungen“ ausbildet, wird spätestens dann klar, als Scherer die sportive Note seiner Wissenschaft entdeckt: „[…] jedem Philologen wird das Streben nach der Wahrheit an sich, nach dem Echten, Ursprünglichen, Authentischen, eine Art von Sport, dem wir uns mit einem gewissen humoristischen Behagen hingeben“.719 Was die ‚Nation’ von Dichtern, Philologen und deren Politik lernen kann, ist der Umgang mit diffusen Einheiten in Form von Nationen oder Werken. Und in beiden Fällen, im Fall der Werkpolitik und im Fall der Nationalpolitik, vermittelt sich dieser Einheits- und Beziehungssinn performativ, im Vollzug des Umgangs mit Zusammenhängen, in der aktiven _____________ 713 714 715 716 717 718 719
Scherer: Goethe-Philologie, S. 8. Z. B. Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken, S. 3. Scherer: Poetik, S. 101 (vgl. auch dazu 6.1 b). Scherer: Goethe-Philologie, S. 9. Vgl. dazu Kolk: Liebhaber, Gelehrte, Experten, S. 78f. Scherer: Goethe-Philologie, S. 9f. Scherer: Goethe-Philologie, S. 21.
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Entfaltung von Aufmerksamkeitsformen, in der Habitualisierung einer Sensibilität für die ‚feinen’ Relationen und im Bewußtsein der eigenen Unzulänglichkeiten, das weitere ‚Arbeit’ stimuliert. Noch einmal: „Die Philologie ist allumfassend, allverstehend, allbeleuchtend: die Philologen stehen unter den Gesetzen endlicher Beschränkung“ – könnte Scherer nicht dasselbe über die Nation und ihre Bürger gesagt haben? Entscheidend ist: Diese Analogisierung von politisch-kultureller, philologischer und ästhetischer Einheitsbildung läßt sich auch im methodischen Programm von Scherers Goethe-Philologie nachvollziehen. Scherer beschreibt zwei Seiten der philologischen Tätigkeit: das „Herausgeben und Erklären“ sowie die Konstituierung einer „Philosophie der Geschichte“, die zu einer „Theorie der Genialität“ führt. Diesem synthetisierenden Aspekt habe Goethe mit seinen autobiographischen Schriften zugearbeitet: Während er nämlich den Zeitgenossen unerklärlich gewesen sei, habe er sich selbst in ‚kausale Zusammenhänge‘ eingeordnet. „Er strebt nach Generalisationen. Er legt den Einfluß der Staatsformen auf die Charaktere der Menschen dar. Er sieht in dem Einzelnen nicht bloß das Individuum, sondern auch den Typus“, er betreibt nicht nur die „Feststellung der Thatsachen“, sondern auch die „Auffassung und Erklärung der Thatsachen“.720 Und weiter heißt es: Seine Absicht ist nicht: sich darzustellen, sondern: sich zu erklären. Er löst seine Existenz in ihre einzelnen Theile auf und sucht jeden Theil in den richtigen Zusammenhang zu rücken. [...] Wir erblicken die Zeitrichtungen, die mehr ihn ergreifen als er sie. Er legt dieses Verhältnis im Großen dar und hat uns dadurch selbst die Wege gebahnt, die wir jetzt im kleinen zu verfolgen streben, wenn wir untersuchen, welche poetischen Motive gegeben waren, welche Compositionsformen, welche Stilformen, welche Motive, welche poetischen Wendungen und Wörter er fertig vorfand und nur anwendete, wie viel er neu hinzugewann und wie er dazu kam; wenn wir durch genaue Analyse die in ihm vorhandenen Kräfte zu sondern, jede einzelne in ihrer sonstigen Erscheinung nachzuweisen, das Ererbte von dem Erlernten und Erlebten zu scheiden, die allmälige Differenzirung einfacher Grundanlagen und die Art, wie sie sich vollzieht, unter welchen Hilfen, unter welchen Hemmungen, bloßzulegen und das Gesetzliche darin zu erkennen suchen.721
Goethe wird damit zum Vorbild für die Konzeption des Individuums als Staatsbürger, der sich ‚typisch‘ verhält und der den ‚Zusammenhängen‘ mehr Gewicht zumißt als den Teilen.722 Der Einzelne wird zum Durchgangsfeld allgemeiner kultureller Kräfte, die ihn konstituieren und die er _____________ 720 Scherer: Goethe-Philologie, S. 14. 721 Scherer: Goethe-Philologie, S. 14f. 722 Zum Zusammenhang von Sinnsuche, Beamtenmentalität und Dichtung vgl. Kittler: Aufschreibesysteme 1800 1900, S. 30ff.
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weiterbildend tradiert. Hierdurch wird das „Gesetzliche“723 der Poesie extrapoliert. Schließlich paßt in diese Reihe von werkpolitischen Bildungsverfahren, daß Scherer, wie Goethe vor ihm, ein neuartiges Verhältnis der Leser zur Literatur diagnostiziert: Im Blick auf die Edition Der junge Goethe bemerkt er, daß „das große gebildete deutsche Publicum neben dem ästhetischen, sittlichen, persönlichen Interesse an Goethes Dichtungen noch einen Überschuß von historischem Interesse“ besitzt.724 Dazu gehören der Einblick in die „Composition“ und die Beobachtungen dessen, was Goethe als Werk manifest vorlegt, und dazu gehört gleichermaßen die Beobachtung dessen, was als Latenz des Werks diesem vorausgeht. „Composition“, so Scherer, besteht in der Formung des Materials wie in der „Auswahl“ und im „Weglassen“. Die Erklärung müßte eigentlich stets zu errathen suchen, was ein Dichter oder Schriftsteller in die Behandlung hätte hereinziehen können, was er aber verschmähte. Dergestalt nähert sich die Exegese der Lösung zweier Aufgaben: sie will an Goethes Erzählung [Dichtung und Wahrheit, S. M.] historische Kritik üben und sie will den Entstehungsprozeß des Werkes in der Seele des Autors erforschen: die höchste Aufgabe einer jeder kunstmäßigen Interpretation.725
An dieser Stelle formuliert Scherer ein Modell selektionsloser Aufmerksamkeit, das für die Zeit ‚um 1900’ ebenso charakteristisch wie problematisch ist. Zwar sind die zeitgenössischen Aufmerksamkeitstheorien fest davon überzeugt, daß der Mensch ein „Unterschiedswesen“ ist, wie Georg Simmel es formuliert.726 Dennoch wird in verschiedensten Bereichen daran gearbeitet, diese für die Wahrnehmung konstitutive Selektivität zu überwinden (6.) – das gilt auch für Stefan George, der „Auswahl“ zum Produktionsprinzip erklärt und eine entsprechende Aufmerksamkeit fordert, die diese „Auswahl“ beobachtet (6.1 b; 6.2 a u. b). Auf der einen Seite also beschreibt Scherer in Goethe-Philologie die Intimisierung der literarischen und philologischen Kommunikation, bei der sich die Literatur ebenso philologisch wie die Philologie literarisch erweist, und er beschreibt eine entsprechende Pluralisierung der Beobachtungspositionen und Perspektiven. Auf der anderen Seite treibt er gerade aus dieser Pluralisierung der Perspektiven eine neue Einheitsphantasie hervor, und zwar einer Einheit, die aus einer unübersehbaren, unkonkreten und diffusen Menge hergestellt wird und deren Bezüge von größter ‚Feinheit’ sind. In dieser ‚Werkpolitik‘ verbinden sich ästhetische, philologische und _____________ 723 724 725 726
Scherer: Goethe-Philologie, S. 15. Scherer: Goethe-Philologie, S. 15. Scherer: Goethe-Philologie, S. 17. Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 116.
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politische Dimensionen zu einem Amalgam, das Scherers Beiträgen zur Goethe-Philologie ihre spezifische Doppelsinnigkeit vermittelt.727 Es erscheint daher als konsequent, wenn Scherer an Grimms GoetheBiographie den Blick für die „Großmachtstellung von Autoren ersten Ranges“ bzw. für die „geistige Machtsphäre Goethes“ mit besonderem Nachdruck lobt.728 Vor dem Hintergrund einer explizierten Politik des Werkverhaltens lassen sich mehrere Stellen in Goethe-Philologie, aber auch und vor allem in Scherers Studie Über die Anordnung Goethescher Schriften, als Elemente einer Sozialsemantik entziffern. Ausgangspunkt von Scherers hier angestellten Überlegungen zum Werkarrangement ist die Behauptung, Goethe sei „auch in der Anordnung seiner Werke immer Künstler“.729 Dies bedeutet, daß man mit einer ‚feinen’ Beobachtungsgabe ausgestattet sein muß, um die Bezüge zu sehen, und daß man ‚Tiefsinn’ ausprägen muß, eine Aufmerksamkeit für die „tiefe“ oder sogar „tiefere Absicht“ des Autors.730 Mit dem Rekurs auf ‚Tiefen’ des Werks überführt Scherer einen weiteres Konzept aus der kritischen Kommunikation in sein Werkmodell (3.2.1 b). Diese tiefsinnige Beobachtungskompetenz entdeckt das ganze Raster gesellschaftlicher Beziehungen im Werk. Über Goethes künstlerische Ausgabenordnung heißt es: Er lässt nicht pedantischen Zwang, sondern künstlerische Freiheit walten. Verwandtschaft des Motives, der Form, des Stiles hält benachbarte Stücke zusammen. Allmähliche Übergänge vom Nahen zum Fernen, vom Bekannten zum Geheimnisvollen führen bedeutende Gedanken mit sich. Zuweilen aber merkt man, dass äusserliche, fast geschäftliche Rücksichten ihr Recht verlangten [...].731
Scherer skizziert hier ein Raster von Beziehungsverhältnissen, das von einem zentralen Ordnungsmodell für Nahbeziehungen, der „Verwandtschaft“, über die Komplizierung der Verhältnisse („vom Nahen zum Fernen, vom Bekannten zum Geheimnisvollen“) bis hin zu den versachlichten Beziehungen einer primär ökonomisch integrierten modernen Gesellschaft reicht („geschäftliche Rücksichten“). Auf einer zeitlichen Linie angeordnet, fände man hier den Übergang von der Allianzordnung, die auf Familiarität und Nachbarschaft setzt, zur Moderne, die die soziale Einordnung über Herkunft durch das Ordnungsmuster ‚Karriere’ ersetzt.732 _____________ 727 Vgl. zum Konzept der Nationalliteratur Pornschlegel: Der literarische Souverän, S. 51ff.; zur spezifischen ‚Reichspolitik’ der Dichtung ebda., S. 77f.; zu Goethe ebda., S. 101ff. 728 Scherer: Goethe-Philologie, S. 26. 729 Scherer: Über die Anordnung Goethescher Schriften (3/1882), S. 159. 730 Scherer: Über die Anordnung Goethescher Schriften (3/1882), S. 160, 165. 731 Scherer: Über die Anordnung Goethescher Schriften (3/1882), S. 159. 732 Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft, S. 70.
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Man könnte von hier aus erneut nach der spezifischen werkpolitischen Funktion des Bildungskonzeptes der Wilhelm-Meister-Romane fragen (5.4.2 b). Der Roman würde sich dann in der Tradition von Wielands Agathon (3.3 c) als eine verdeckte Anweisung für die Lektüre des Werks entziffern lassen. Dies trägt auch zur Deutung der konzeptuellen Metaphern in Scherers Aufsatz bei: Denn Scherer personalisiert die Werke, gibt ihnen ein „Schicksal“733 oder fühlt sich durch ein Werk an ein anderes „erinner[t]“.734 Weiterhin integriert der Roman die beiden Ordnungsmodelle, die Goethes Werk und seine Beobachtung bestimmen: Er läßt sich, wie bereits Friedrich Schlegel gezeigt hat, einerseits als ein auf Reflexionen und Spiegelungen setzender Zusammenhang von Anklängen lesen;735 und er läßt sich als ein Bildungsroman verstehen, der die Komplexität von Individualität auf einer narrativen Schiene entrollt. Strukturell vergleichbar beharrt Scherer darauf, daß Goethes Werk nicht primär chronologisch geordnet werden darf – dies wäre zwar wissenschaftlich nützlich, aber gleichermaßen ein „Luxus, den wir nicht bezahlen können“, und zudem läge ein Ausweis mangelhafter „Treue“ gegenüber dem Autor vor. Eben diese „Pflicht der Treue“ will Scherer mit seinen Beobachtungen zur Anordnung Goethescher Schriften „ein[ ]schärfen“.736 Aber in der Aufarbeitung der Werke temporalisiert Scherer die Anordnung und formt sie zu einem narrativen Zusammenhang um, indem er den einzelnen Bänden folgt, ihnen dabei einen Ort in der Publikationslogik zuweist, den Werken biographische Bezüge zuschreibt und in ihrer Folge einen „Roman“ entdeckt.737 Folgerichtig beschreibt Scherer die Ordnung der Lyrik als pars pro toto der Ordnung des Gesamtwerks zugleich als Variante der „Gestalten“-Darstellung: […] auch hier wiederholt sich, was sich bei der Anordnung von Goethes Schriften im Ganzen bewährte: er bleibt immer Künstler, er lässt nicht pedantischen Zwang, sondern ästhetische Freiheit walten. Die Gruppen, die er bildet, wie alle Gestalten, die er schafft, können nicht mit Begriffen rein umschrieben, sie können nicht verstandesmässig aufgelöst werden: sie behalten stets etwas lebendig Fliessendes, etwas Zufälliges im Kleinen, bei der höchsten Nothwendigkeit und Gesetzmässigkeit im Grossen.738
Das Werk steht im Zeichen des Prinzips der „Schönheit als Dämmerung“, das – wie Scherer zu Recht bemerkt – zum Bestand von Goethes „Jüng_____________ 733 734 735 736 737
Scherer: Über die Anordnung Goethescher Schriften (5/1884), S. 277. Scherer: Über die Anordnung Goethescher Schriften (5/1884), S. 269. Zu Schlegels Interpretation vgl. Menninghaus: Unendliche Verdopplung, z. B. S. 174ff. Scherer: Über die Anordnung Goethescher Schriften (5/1884), S. 286f. Scherer: Über die Anordnung Goethescher Schriften (3/1882), S. 164ff.; ebda. (4/1883), S. 64; ebda. (5/1884), S. 264f. 738 Scherer: Über die Anordnung Goethescher Schriften (4/1883), S. 52.
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lingserkenntnis“ gehört739 und in besonderem Maß das Künstlerkonzept der Leiden des jungen Werthers bestimmt. Hier nämlich wird es zum Signal für die Selbstverkennung des Protagonisten, der eben nicht nur nicht dann am besten malt, wenn er nicht malt, sondern generell eher Dichter denn bildender Künstler ist: Daher verschwimmt ihm auch die Natur in der berühmten Landschaftsbeschreibung im Brief vom 10. Mai 1771 vor Augen und versinkt in der Dämmerung.740 In diesem Augenblick tritt die Poesie an die Stelle der Malerei, und die Imagination tritt an die Stelle der Naturnachahmung. Der Dämmerungseffekt setzt den Totaleindruck dominant gegenüber dem Detail, er löst die Grenze von Innen und Außen auf, überführt wahrgenommene Natur in Stimmung: Die Landschaft wird zur „Seelenlandschaft“, „Natur wird Gefühl“.741 Dieser Beziehungssinn erzeugt den Eindruck von intimer Verbundenheit bezeichnenderweise aus der größten Entfernung und erbringt damit eine Imaginations- und Visibilisierungsleistung, auf die Leser von Gesamtausgaben, Goethe-Philologen oder Bürger von Nationen angewiesen sind. Hier geht es um vermittelte Korrespondenzen, um das Austarieren von „Stimmung[en]“ und um den Sinn für „neue Wirkungen“, die durch die Unterbrechung allzu schlichter Einheitserwartungen hervorgebracht werden;742 es geht um Vorgriffe, Vergleiche, Übergänge und um multiple Motivationslagen,743 um die „innere Beziehung“, die sich nicht aus dem „Zusammenhang […] der Entstehung“ ergibt, sondern auf sekundäre Verhältnisse zielt (5.3.5 a u. b).744 Wenn Scherer von der „Gesellschaft“ schreibt, „in welcher einzelne Gedichte hier auftreten“, und wenn er darauf hinweist, daß nach Goethes Arrangement die „Ordnung“, in der sich die Gedichte „an einander anschliessen, nirgends einen biographischen oder chronologische Schluss gestattet“, dann bedeutet dies zwar, daß „jedes einzelne Lied für sich ist“, aber es bedeutet nicht, daß es keine Beziehung mehr zwischen den Gedichten gibt. Vielmehr verändert sich die Art der Beziehungen, die die Einzelwerke zum Gesamtwerk verbinden: „das Licht, das durch die neue Verbindung auf dasselbe [das „einzelne Lied“, S. M.] fällt, ist nicht mehr Wahrheit, sondern Dichtung“.745 Entmächtigt wird ein Zusammenhang, der bloß individuell ist (biographisch-chronologisch); dagegen gesetzt wird eine Ordnung eigenen Rechts, die rein ‚dichterisch‘ funktioniert und eine _____________ 739 Scherer: Über die Anordnung Goethescher Schriften (3/1882), S. 162 740 Goethe: Die Leiden des jungen Werthers, S. 10ff.; zum Thema allgemein vgl. Herrmann: Landschaft in Goethes ‚Werther‘. 741 Osterkamp: Dämmerung, S. 148. 742 Scherer: Über die Anordnung Goethescher Schriften (5/1884), S. 274. 743 Scherer: Über die Anordnung Goethescher Schriften (3/1882), S. 171. 744 Scherer: Über die Anordnung Goethescher Schriften (4/1883), S. 58. 745 Scherer: Über die Anordnung Goethescher Schriften (4/1883), S. 68.
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größere (ästhetische) Freiheit der Einheitsbildung annonciert, die eine Einheit des Diffusen zu statuieren erlaubt. Aber diese Entgegensetzung zielt nicht ‚tief’ genug. Scherer hätte dies eigentlich sehen müssen, denn er hat immerhin neben der Weimarer Ausgabe eine Goethe-Monographie in drei Teilen zu den Themen Biographie, Dichtung und Wissenschaft geplant.746 Die an der Linearität orientierte Biographie und die stimmungsvolle Welt der Bezüge in einem Werk, dessen Ganzheit ‚dichterisch’ konfiguriert sein soll, sind als Modelle der sozialen Bindung aufeinander angewiesen: Die Kontinuität eines Lebenslaufs, bei dem ein Element aus dem Vorliegen anderer Elemente heraus entwickelt werden kann, ist die Voraussetzung dafür, daß auch in diffusen Einheiten jenes Mindestmaß an Verläßlichkeit imaginiert werden kann, ohne daß selbst das Phantasma gesellschaftlicher oder nationaler Einheit sich nicht aufrecht erhalten ließe. Auch hierin ist die Philologe im Schererschen Sinn vorbildlich, denn sie verhält sich, wie zitiert, gegenüber dem Autor und seinem Werk ‚treu‘. Diese Tugend will der Nachvollzug ‚möglicher’ Ordnungsprinzipien „Goethescher Schriften“ vermitteln. Treue wiederum läßt sich allianzpolitisch lesen, also im Kontext einer Gesellschaftssemantik, die auf Ehre basierende Nahbeziehungen privilegiert; sie kann aber auch zur Verhaltensnorm unter Bedingungen der Abwesenheit und Distanz werden und erhält dann einen anderen Stellenwert: Treue wird in diesem Fall zum Signal gelungener Einprägung von Aushaltestrukturen und zum Ausweis für die Fähigkeit, sich das Abwesende als Anwesendes vorzustellen – nicht umsonst imaginiert Werther die in der Dämmerung versinkende Natur und vergleicht diese mit der „Gestalt einer Geliebten“.747 Von hier aus zeigt sich ein weiter Bogen der Politik des Ästhetischen, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beginnt:748 Programmatisch entfaltet Goethe die werkästhetischen Implikationen seiner Ästhetik der Dämmerung am Beispiel des Straßburger Münsters in Von deutscher Baukunst (1772).749 Er zielt – kurz gefaßt – darauf, die Ansprüche zu steigern, indem er die Kunstkommunikation sensualisiert. Im Fokus der Argumentation liegt eine zeitintensive Rezeptionsleistung bzw. – wie Wieland es formuliert (3.3 c) – eine ‚bescheidene‘ und ‚behutsame‘ Herangehensweise: _____________ 746 Müller: Wilhelm Scherer, S. 92. 747 Goethe: Die Leiden des jungen Werthers, S. 12; vgl. zum Wechsel vom „Gesetz“ zur „Norm“ Kittler: Autorschaft und Liebe, insbes. S. 146, 158. 748 Vgl. zum folgenden Verf.: Staatskunst (dort auch vor allem zur behaupteten Entgegensetzung der kulturellen Paradigmen ‚Deutschland’ und ‚Frankreich’ und zur faktischen Verspiegelung der beiden). 749 Zu den ideengeschichtlichen Zusammenhängen und intertextuellen Bezügen vgl. Wolf: Streitbare Ästhetik, S. 121ff.
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Der Betrachter bzw. Leser muß für die angemessene Wahrnehmung eines Kunstwerks Muße mitbringen. So wie der sich im „karackteristische[n]“ Werk selbst ausdrückende Künstler Lebenszeit investiert, muß auch der Rezipient Lebenszeit investieren, um dieses Werk verstehen zu können.750 Der Kunstverständige entwickelt ein emotives Einheitsempfinden, das den inneren Zusammenhang des oberflächlich Getrennten erkennt. Bei aller sinnlichen Reizbarkeit beruhigt und domestiziert er sich so weit, daß ihn der erste Eindruck nicht täuscht. Man muß dieses Ineinander von Liberalisierung und Selbstkontrolle sehen, um die eigentümliche Disziplinierungsleistung dieser Form der Kunstbeobachtung nicht aus den Augen zu verlieren. Die Politik dieser Ästhetik der Dämmerung ergibt sich zumindest oberflächlich aus den gallophoben Implikationen.751 Die altdeutschen Tugenden, wie sie im Rahmen der Gallophobie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelt werden, also „Genie“, „Wahrheit“, „Stärke“, „Tugend“ oder das „innre Gefühl“752, zeichnen den kompetenten Leser aus, und dieser kompetente Leser bildet in der Kunstbeobachtung zugleich sein Nationalgefühl an der ästhetischen Faktur des Werks.753 So schreibt Herder in der 8. Sammlung der Briefe zu Beförderung der Humanität (1796) über Goethes Götz von Berlichingen, das dramatische Pendant zum Straßburger Münster, es sei ein „deutsches Stück, groß und unregelmäßig, wie das deutsche Reich […], aber voll Charaktere, voll Kraft und Bewegung“.754 Diese Assoziation von Staatsform und ästhetischer Form755 ist durchaus keine nachgeholte Erklärung, sondern greift nur eine bereits vorhandene Lektüre auf, die schon früh Götz von Berlichingen als ‚Staats_____________ 750 „Ein, ganzer, großer Eindruck füllte meine Seele, den, weil er aus tausend harmonirenden Einzelnheiten bestand, ich wohl schmecken und genießen, keineswegs aber erkennen und erklären konnte. [...] wie oft bin ich zurückgekehrt, diese himmlisch-irdische Freude zu genießen [...]. Wie oft bin ich zurückgekehrt, von allen Seiten, aus allen Entfernungen in jedem Lichte des Tags, zu schauen seine Würde und Herrlichkeit. [...] Macht es dir einen widrigen Eindruck, oder keinen, so gehab dich wohl, laß einspannen, und so weiter nach Paris. / Aber zu dir, theurer Jüngling, gesell ich mich, der du bewegt dastehst, und die Widersprüche nicht vereinigen kannst, die sich in deiner Seele kreuzen, bald die unwiderstehliche Macht des großen Ganzen fühlst, bald mich einen Träumer schiltst, daß ich da Schönheit sehe, wo du nur Stärke und Rauheit siehst“ (Der junge Goethe. Bd. 3, S. 104ff.). 751 In Von deutscher Baukunst (1772) schreibt Goethe bekanntlich gegen die französische Kunsttheorie bzw. gegen die deutsche Kunsttheorie Sulzers an, der er ja in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen die Übersetzbarkeit ins Französische als wesentliches Charakteristikum zugesprochen hatte (Frankfurter Gelehrte Anzeigen vom Jahr 1772, S. 801). 752 So die oben bereits zitierte Liste Herders im Journal meiner Reise im Jahr 1769 (S. 115). 753 Die Franzosen zeichnet nach einhelliger Meinung von Goethe oder Herder ein Hang zur Oberflächlichkeit und „Flüchtigkeit“ aus (vgl. Herder: Journal meiner Reise, S. 115). 754 Herder: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 2, S. 125. 755 Beispiele für die Reflexion staatspolitischer Fragen als ästhetische Fragen im Rahmen der Debatte um künstlerische Ganzheit bei Gamper: „Die Verfassung sei republikanisch“.
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kunst‘ deutete und seine Politik der Form entdeckte.756 Zumindest vor diesem Hintergrund weist Scherers Extrapolation der Politik des Werks auf längerfristige Bezüge zwischen Kunst und Wissenschaft und auf die Wechselwirkung beider Felder. Wie bei Tieck beruht das Politische gerade auf der Autonomisierung des Ästhetischen, auf der Selbstabschließung des Werks, die neue Formen der Einheitsbildung setzt und entsprechend neue Formen der Beobachtung reklamiert. Will man den angeführten Rezeptionszeugnissen glauben, war die Werkpolitik durchaus erfolgreich. Sie zielt auf den Ausbau der Fähigkeiten, mit dem Abwesenden umzugehen, das nur schwer Wahrnehmbare zu visibilisieren, bestimmte Ausdauerstrukturen und Erwartungshoffnungen zu entfalten. Werkpolitiken dieser Art wollen Selbstkontrollmechanismen aufbauen, die durch Disziplinierung mehr oder zumindest andere Formen von Freiheiten ermöglichen. Strukturell verhält es sich mit der von Scherer angestrebten Öffnung der Disziplin ähnlich: Gerade die ausdifferenzierte Wissenschaft von der (neueren) deutschen Literatur zeigt sich den Leistungsanforderungen der Gesellschaft und deren Subsystemen gegenüber aufgeschlossen. Dabei verwechselt sie nicht Funktion und Leistung, sondern sie erfüllt ihre _____________ 756 Die Ankündigung des Dramas im Teutschen Merkur beispielsweise ordnet die müßige Frage nach dem Vorzug einer offenen oder geschlossenen Dramenform mit den „gelehrten Untersuchungen über die beste Regierungsform in eine Klasse“ (Henning: „Götz von Berlichingen“, S. 248f.). Noch unmittelbarer schließt der Wandsbecker Bote Kunst und Politik kurz, wenn er Goethes Kampf gegen die klassizistischen Regeln mit dem Kampf Götz‘ gegen seine Feinde vergleicht: „Der Verfaßer [...] bricht grade durch alle Schranken und Regeln durch, wie sein edler tapferer Götz durch die blanken Esquadrons feindlicher Re[u]ter [...]“ (ebda., S. 208. ) – dieses Interpretationsmodell entwirft Goethe im übrigen selbst im Schäkespear-Essay, wo er den „Herrn der Regeln“, also den ‚Franzosen‘, die „Fehde“ ankündigt (Der junge Goethe. Bd. 2, S. 84). Als ideale Spiegelfläche für die Reflexion der unterschiedlichen, deutsch und französisch codierten Formen künstlerischer und politischer Einheit bieten sich – etwa für Möser – der französische Garten und der englische Park bzw. der deutsche Eichenwald an (vgl. dazu Möser: Patriotische Phantasien, S. 297, 303f.). Weil Möser die ‚deutsche Mannigfaltigkeit‘ (z. B. in Form lokaler Rechtstraditionen) gegen das ‚französisch‘ codierte Allgemeine des absolutistischen Staates verteidigen will, kann er sein ästhetisches Modell direkt ins Politische übertragen. Am ausführlichsten kommentiert Möser die Verknüpfung von Gallophobie, ästhetischer Einheit und politischer Form aus dieser Perspektive in seinem Aufsatz Der jetzige Hang zu allgemeinen Gesetzen und Verordnungen ist der gemeinen Freiheit gefährlich (1775): „Man spricht täglich davon, wie nachteilig dem Genie alle allgemeine Regel und Gesetze sein und wie sehr die Neuern durch einige wenige Idealen gehindert werden, sich über das Mittelmäßige zu erheben; und dennoch soll das edelste Kunstwerk unter allen, die Staatsverfassung, sich auf einige allgemeine Gesetze zurückbringen lassen; sie soll die unmannigfaltige Schönheit eines französischen Schauspiels annehmen und sich wenigstens im Prospekt, im Grundriß und im Durchschnitt auf einen Bogen Papier vollkommen abzeichnen lassen, damit die Herrn beim Departement mit Hülfe eines kleinen Maßstabs alle Größen und Höhen sofort berechnen können. [...] je einfacher die Gesetze und je allgemeiner die Regeln werden, desto despotischer, trockner und armseliger wird ein Staat“ (Möser: Patriotische Phantasien S. 98f.).
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Funktion, realisiert den philologischen Eigensinn und erbringt damit, zumindest ihrem Selbstverständnis nach, soziale Leistungen. Diese Bewegung erweist Philologie und Poesie als wechselseitig relevante Umwelten. In ihrem Zusammenspiel entmächtigen sie die kritische Kommunikation, indem die Philologen die kritischen Aporien und ungelösten Fragen ausagieren und indem die Philologie dieses Aufkommen an subtilen und unwahrscheinlichen Kommunikationen ins Positive wendet. Das mag kontraintuitiv und unrealistisch sein, aber genau für solche Fälle ist die Philologie da. Freilich: Für diese wie für die anderen Implikationen des Werkumgangs, die man im engeren Sinn ‚politisch’ nennen kann, gilt, was Scherer selbst für seine Analyse von Goethes Werkordnung eingesteht und erhofft: Es kann nicht fehlen, dass Betrachtungen wie die vorstehenden zuweilen über das Ziel hinausschiessen, d. h. dass sie Absichten vermuthen, welche Goethe nicht wirklich gehabt hat. Aber man darf behaupten, dass sie schwerlich etwas enthalten, was sich nicht Goethe gerne gefallen lassen würde. In der Kunst werden mit den Hauptzwecken oft Nebenzwecke erreicht, an welche der Künstler selbst von vornherein nicht dachte, die ihm nachträglich zum Theil auffallen, zum Theil aber auch nicht zum Bewusstsein kommen mögen. Die Betrachtung des späteren Liebhabers wird dann immer im Sinne des Künstlers handeln, wenn sie alle Vortheile seines Verfahrens aufdeckt; aber sie kann sich nicht anmassen, Haupt- und Nebenzwecke, bewusstes Streben und zufälliges Erreichen überall zu scheiden. Die Mannigfaltigkeit möglicher Beziehungen schmückt alle Kunstwerke. Auch in der Poesie folgt man der Führung der Linien mit Entzücken; sie laufen hinüber und herüber; sie durchkreuzen sich; und wer will sagen, welche Schönheiten, die wir entdecken, der Künstler selbst gesehen und gewollt hat. Wir dürfen ihm darin jedoch eher mehr, als weniger zutrauen.757
Zusammenfassend: Goethe schließt an die Werkpolitiken seiner Vorgänger an und entfaltet vergleichbare Strategien, Taktiken, Perspektiven und Reflexionshorizonte wie seine Zeitgenossen; er hat aber auch bemerkenswerte Eigenheiten. Diese Eigenheiten erklären sich nicht zuletzt aus der Visibilisierung zunächst invisibler Einheitlichkeit, die stets zur Werkpolitik gehören, bei Goethe jedoch in besonderem Maß auftreten und offensiv ausagiert werden. Daß dabei ein Bündel von Interessen und Zwängen im Spiel ist, sieht man beispielsweise am Stellenwert der Materialität des Werks, die das Werk zum Operationsraum autorschaftlichen Handelns und verschiedener Textumgangsformen macht. Seitenformate und Papierqualitäten, Buchformate und Ausstattungen – sie stimulieren gleichermaßen die Aktivitäten der Produzenten wie der Rezipienten. Sie regen den Schreibprozeß an, fördern die Kreativität, bestimmen Aufmerksam-
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757 Scherer: Über die Anordnung Goethescher Schriften (4/1883), S. 172f.
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keitshaltungen und Beobachterpositionen, und sie können all dies blockieren, irritieren und verhindern. Ein weiterer Einflußfaktor auf die Werkpolitik ist die Konkurrenz auf dem Buchmarkt, die die Ausbildung einer selektionslosen Aufmerksamkeit schon allein deswegen befördert, weil die ‚vollständigere’ Ausgabe als die attraktivere Ausgabe gilt. Warum aber sollten Leser sich ‚mehr’ Werk(e) von einem Autor aneignen wollen? Im 19. Jahrhundert jedenfalls konnten sich Verleger, Dichter und Editoren begründete Hoffnung auf ein verändertes Selektionsverhalten machen, das aus Teilnehmerperspektive durch die Werkhaftigkeit des Werks gemindert wird: Die Aufmerksamkeit auf Seiten der Buchmacher, so deren Erwartung, überträgt sich auf die Aufmerksamkeit der Buchkäufer; und die Einheitlichkeit des Formats regt die Suche nach weiteren Einheitlichkeiten an. Auf diese und andere Weisen entsteht ein freundschaftliches Verhältnis, das im Umgang mit dem Werk spezifische Kompetenzen ausbildet. Das Werk stimmt den Leser darauf ein, vermittelte, diffuse, nur schwer und unter Investition von Zeit visible Zusammenhänge und Bezüge, kurz: Stimmungen in einem Werk zu vermuten. Rezipienten werden vom Autor durch unterschiedliche Verfahren dazu angereizt, ihn und sein Werk im ‚Ganzen’ kennen lernen zu wollen. Er erwirbt sich jenen Kredit, jenen Vertrauensvorschuß, der sich mit der Zeit – wenn die Werkpolitik erfolgreich sein sollte – in die Schuldigkeit des Lesers zur Aufmerksamkeitsinvestition verwandelt. Nach diesem Umschuldungsprozeß lassen sich weiterhin Fehler und Mängel an einem Werk entdecken, aber zum einen kann man sich dabei stets irren, und zum anderen sind Fehler und Mängel interessant und beobachtenswert, selbst wenn sie als Defizite verbucht werden sollten. Als Experten für die zeitintensive und unwahrscheinliche Form der selektionslosen Beobachtung von Werken werden im Verlauf des 19. Jahrhunderts Neuphilologen abgestellt. Als deren Position institutionell gesichert ist, beginnen sie, mit weiten Bewegungen über die disziplinären Grenzen auszugreifen und gesellschaftliche Relevanz zu reklamieren. In diesem Zusammenhang arbeiten sie das Politische des Werks mit besonderer Schärfe heraus und weisen dabei auf die Ebenbürtigkeit von Wissenschaft und Kunst bzw. auf deren wechselseitige Abhängigkeit hin: Die Einheit des Werks wird – zumal bei Scherer – zu einer politischen Einheit; dessen interne Bezüge lassen sich als Gesellschaftsbezüge entziffern; die Virtuosität im Umgang mit dem Werk wird zum Training für den Umgang mit diffusen Beziehungen und unklaren Verhältnissen, die aber gerade aufgrund ihrer Diffusität und Unklarheit eine um so stärkere Bindungskraft entfalten. Die philologische Werkpolitik kann große Varietät zulassen; aber in dieser Varietät sind die Elemente des Werks gleich; und sie
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kann Streitigkeiten und Agonalität im einzelnen unaufgeregt beobachten, weil diese Auseinandersetzungen unter der Einheit der Philologie stattfinden und dort produktiv werden. Autoren, die den akademischen Berufslesern Beobachtungsinkompetenz vorwerfen, irritieren die Philologie nicht wirklich. Im Gegenteil: So hat gerade Stefan George bei aller Wissenschaftsfeindlichkeit doch nur die Ausbildung der Philologie befördert. Auch deswegen gilt ihm das abschließende Kapitel. Sein Statement zum Goethe-Tag im Siebenten Ring variiert die Werkpolitik als Aufmerksamkeitspolitik: Ihr nennt ihn euer und ihr dankt und jauchzt Ihr freilich voll von allen seinen trieben Nur in den untren lagen wie des tiers Und heute bellt allein des volkes räude ... Doch ahnt ihr nicht dass er der staub geworden Seit solcher frist noch viel für euch verschliesst Und dass an ihm dem strahlenden schon viel Verblichen ist was ihr noch ewig nennt. (GW 6/7, 11)
Wie an anderen Stellen des Siebenten Rings, klagt George hier die mangelhafte Visibilisierungs- und Invisibilisierungsfähigkeit seiner Zeitgenossen an. Diese Klage versteht sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund des spezifischen Problems, aus prima facie lose zusammenhängenden Teilen ein Gesamtwerk zu bilden (6.3 d). Schon früh hat George sich dabei der Philologie als Agentin seiner Werkpolitik bedient. Wie Klopstock fügt er seinem Werk bei Gelegenheit eine positive Besprechung hinzu,758 die eine selektionslose Aufmerksamkeit reklamiert und sich – Goethes Instruktion der Korrektoren für die Ausgabe letzter Hand vergleichbar (5.4.2 c) – auf die philologische Beobachtungshaltung bezieht. Richard M. Meyer schreibt in dieser Rezension: Wir hoffen aber, für die Modernen auf die gleiche, voreiligen Geschmacksurtheilen abgeneigte Gesinnung rechnen zu dürfen, die Mittheilungen aus altgriechischer oder neuspanischer, deutschlateinischer oder russischer Litteratur zu Theil ward. […] Auch wollen wir selbst weder Lobredner sein noch auch nur übereifrig zur eigenen Kenntnißnahme empfehlen […]. Wir geben ein litterarhistorisches Referat, wie über ein Stück zeitlich und örtlich entfernter Litteratur und nicht zum Lobpreisen oder Verdammen wollen wir anleiten, sondern zum Verstehen. Solcher Anleitung aber bedarf es wohl bei einer Dichterreihe, die Wenige auch nur dem Namen nach, unter diesen Wenigen aber die Wenigsten nach ihrer eigentlichen Natur kennen.759
_____________ 758 Dem ersten Auswahl-Band der Blätter für die Kunst wird der Essay von Richard Moritz Meyer Ein neuer Dichterkreis beigelegt, der zuerst 1897 in den Preußischen Jahrbüchern erschienen ist (Fechner: Einleitender Essay, S. 9). 759 Meyer: Ein neuer Dichterkreis (zit. nach „L’âpre gloire du silence“…, S. 283).
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Zugleich führt Meyer allerdings den „Kampf gegen die Vollständigkeit“, dem er 1907 im Euphorion einen Aufsatz widmet und der Georges ästhetischer Maxime der „Auswahl“ in gewisser Weise entspricht (6.1 b). Aber weder verwirft Meyer das (unerreichbare) Ideal der „Vollständigkeit“ ganz, noch ist klar, in welchen Fällen er „Vollständigkeit“ für geboten und in welchen Fällen er diese für schädlich hält. Über eine Sammlung von Beispielen gelangt er nicht hinaus. Zudem wird deutlich, daß gerade die „Auswahl“ als ästhetische und wissenschaftliche Maxime eine neue Form der selektionslosen Aufmerksamkeit ansteuert. Denn sie fordert dazu auf, „Auswahl“ als „Auswahl“ zu erkennen, mithin das Ausgeschlossene mit zu beobachten. Die kompetente Selektion findet „auf Grund der Durcharbeitung des ganzen Materials“ statt.760 „Oberflächlichkeit“ und „Arbeitsunlust“ will Meyer dann doch nicht befördern.761 Entscheidend sind an dieser Stelle zwei Punkte: Zum einen wirft George Meyers Literaturgeschichte mangelnde Selektivität vor (6.), wohingegen es anderen Beobachtern so erscheinen will, als sei Meyer gerade wegen seines darin praktizierten Selektionsverhaltens der Kandidat, um „den Fetisch der Vollständigkeit ganz von seinem Altare“ zu stoßen.762 Man sieht, daß der „Sinn für das Wesentliche“ sich in dieselben Argumentationsschleifen verstrickt wie der kritische Tiefsinn. Zum anderen stellt die Goethe-Philologie zwar eine Ausnahme wegen der Vorarbeiten dar, die Goethe für seine wissenschaftliche Erschließung geleistet hat. Sie weist aber gerade als Exzeption auf den prinzipiellen Zusammenhang von kritischer, philologischer und literarischer Kommunikation hin: […] gerade hierein eben besteht […] nicht zum wenigsten die allgemeine methodologische Bedeutung der Goethe-Philologie: die Massenhaftigkeit des Materials ermöglicht uns hier, eine ganze Anzahl von Fragen annähernd erschöpfend zu bearbeiten, für die wir bei fast allen übrigen Dichtern von dem Material im Stich gelassen werden.763
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Meyer: Vollständigkeit, S. 16. Meyer: Vollständigkeit, S. 16. Meyer: Vollständigkeit, S. 16. Meyer: Vollständigkeit, S. 6.
6. Werkpolitik in der Moderne: Stefan George Das emphatisch verstandene dichterische Werk entsteht im Rahmen einer Aufmerksamkeitskultur, die ein dauerhaftes Interesse, eine intellektuelle und emotionale Bindung sowie ein Leseverhalten installiert, das gegen Enttäuschungen resistent bleibt. Die Beobachtung von Literatur als virtuose Handhabe von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit erweist sich als erstaunlich belastungsfähig. Diese und andere Versatzstücke der Werkpolitik, die sich im 18. Jahrhundert in dauernder und wechselseitiger Bestimmung von Autorschaft, Werkpolitik und kritischer Beobachtung herausbilden, sind zugleich elementare kulturelle Voraussetzungen für Formen der philologischen Literaturbeobachtung, die sich im 19. Jahrhundert allmählich institutionalisiert und die ersichtlich an die werkpolitischen Strategien, an die Aporien der kritischen Kommunikation und an die entsprechenden Reaktionen anzuschließen vermag. In der philologischen und in der literaturwissenschaftlichen Kommunikation bekommen Eigenschaften wissenschaftspolitische Relevanz wie Detailsinn, das Ideal einer selektionslosen Aufmerksamkeit sowie höchst unwahrscheinliche Beobachtungsleistungen, die sich durch das Interesse auch am Uninteressanten, durch die Zeitinvestition auch in das Kleinste und durch die emotionale Bindung auch an das Nebensächlichste auszeichnen.1 George führt diese Werkpolitik als Form der poetischen Lesepädagogik fort, die im Nachvollzug des Werks die Voraussetzungen dafür schafft, das Werk als Werk behandeln zu können. Und auch hier zeigt die Arbeit an der Autonomie der Dichtung ihre zutiefst politische Seite. George wird sich in der folgenden Darstellung als grenzgängerische Figur erweisen, die in der stets neuen Bestimmung der Liminalität ihres Werks die Leser gezielt und immerfort irritiert und den Beobachtern erklärt: „Ihr wisst nicht wer ich bin“ (GW 8, 10). Er ergänzt dabei die werkpolitischen Strategien vor allem um den Sinn für Mediengerechtigkeit und um ein entsprechendes Stellenwertbewußtsein.2 Hinzu kommt die Einsicht, daß Lesen ein _____________ 1 2
Für institutionell zunächst nicht relevante Ansätze früher literatursoziologischer Untersuchungsmethoden vgl. Magerski: Die Konstituierung des literarischen Feldes in Deutschland nach 1871 (für George vgl, insbes. ebda., S. 72ff., 91ff.) Zu dieser Verwendung des Begriffs „Stellenwert“ vgl. Krämer: ‚Schriftbildlichkeit’, S. 164.
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Vorgang ist, der bis in die feinsten Regungen der Körperlichkeit hinein reicht und somit auch bis dorthin geprägt werden muß, wenn die Werkpolitik erfolgreich sein will. Fokus der Ausführungen ist die Gesamt-Ausgabe Georges, also seine Ausgabe „letzter Hand“, der sich allerdings, um eine Klopstocksche Wendung aufzugreifen (4.1.3 a), Ausgaben des „letzten Fingers“ anschließen. Man sieht: Die Enden des Werks sind offen, und zwar wiederum vor allem deswegen, weil eine genauere Beobachtung des Werks und der Versuch einer umfassenden Kontrolle darüber immer neue Lücken und Leerstellen aufdeckt. Wichtig sind daher auch die sekundierenden Texte, das ‚Begleitprogramm‘ zur Gesamt-Ausgabe, also Kommentare, Biographien, Briefeditionen und andere mehr oder weniger philologische und literaturwissenschaftliche Textsorten. Erst im Zusammenspiel von Autor, Werk, Kritik und Philologie werden die Anforderungen der umfassenden und anhaltenden Prägung von Aufmerksamkeit ersichtlich. George steht hier nicht als Exempel der modernen Werkpolitik, sondern einer Form von Werkpolitik unter Bedingungen der Moderne. Bezüge etwa zu Georg Simmel (6.1 c), Richard Wagner oder Friedrich Nietzsche (6.2) zeigen immerhin, daß es sich nicht um einen Einzelfall handelt.3 George bietet sich dabei als werkpolitisches Exempel auch deswegen an, weil er zu der Reihe ‚starker’ Autoren gehört, die bislang im Zentrum der Untersuchung standen: Als der Goethe-Preis der Stadt Frankfurt erstmals vergeben werden sollte, kursierten in der Findungskommission viele Namen: Arno Holz kam in Frage, Ricarda Huch, Harnack, Einstein, Spengler, Max Liebermann oder Richard Strauß.4 Franz Schultz warf in dieses Vorschlagsgewirr den Namen Georges ein, denn: „Wer viel mit jungen Leuten zusammenkommt, weiß, daß die Verse Stefan Georges in diesen Leuten leben. Der ganze Geist der Jugendbewegung ist stark nach George gerichtet, der die Dinge vom Geistigen aus lösen will“. Eduard Stucken, der von der Sektion Dichtung der Preußischen Akademie der Künste entsandt worden war, entgegnete darauf: „Ich halte Stefan George für eine Persönlichkeit wie Klopstock. Wer liest Klopstock, und wer hat zu Lessings Zeiten Klopstock gelesen?“ Der Streit wurde publik, und Wilhelm Schäfer meinte in der Frankfurter Zeitung: George sei „auf einer höheren Ebene Platen, nicht Kleist, nicht Hölderlin, und ganz sicher nicht Goethe“. Den Ausschlag gab schließlich der preußische Kultusminister C.H. Becker. Becker klärte dabei zugleich, auf welche Seite, auf diejenige Klop_____________ 3
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Als in vielfacher Hinischt antipodische Figur könnte man George Thomas Mann an die Seite stellen – eben deswegen bleiben die werkpolitischen Gemeinsamkeiten, zumal in bezug auf die Ausrichtung an der philologischen Kommunikation, bemerkenswert: Verf.: Die Geistesgeschichte der Gegenwartsliteratur. Hierzu und zum folgenden Palm: Spuren in Frankfurt, S. 73.
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stocks oder diejenige Goethes, George zu rechnen sei: „Wir würden in der ganzen deutschen Literatur eine Goethesche Persönlichkeit wie Stefan George nicht finden können“. Tatsächlich bestehen zwischen George, Klopstock und Goethe einige konzeptionelle Gemeinsamkeiten, auch wenn die Verwechslungsgefahr nur gering ist: Vom Messias-Dichter etwa hätte George etwas über Materialästhetik oder Ausgabenpolitik, über das Faible für die Sprachcoups des ‚körnigten‘ Stils, die Sakralisierung von Dichter und Werk und über Dichtung als Medium der Gemeinschaftsbildung lernen können, kurz: über die Ritualität der Poesie5 und über die Schroffheiten, die sich ein Dichter im Prozeß der Etablierung von Negativität herausnehmen darf.6 George stellt die Frage nach der Konstituierung und Wahrnehmbarkeit des Werks, die sich zumal für die Klopstock-Leser gestellt hatte (5.1-2), auf eine neue Art und Weise. Und wie Klopstock fügt er seinem Werk bei Gelegenheit die bereits erwähnte positive Kritik hinzu (5.4.3).7 Darin deutet Richard Moritz Meyer Georges Exklusivitätsstrategie als Äquivalent historischer Distanz und macht diese damit zur Voraussetzung einer ‚verstehenden‘, auf Selektionslosigkeit umgestellten literaturgeschichtlichen Aufmerksamkeit. Goethe wiederum steht gleichsam symbolisch für die kulturelle Prägekraft der Poesie schlechthin: „Der name Goethe beherrscht ein ganzes dichterisches jahrhundert“, heißt es in der Einleitung zu der von George und Wolfskehl herausgegebenen Anthologie Deutsche Dichtung.8 Viele direkte Bezugnahmen, Zitationen und Kontrafakturen Goethes finden sich dann auch in Georges Werk, und wenn „Georges Einfluß auf den Kulturbetrieb der ersten Hälfte dieses [also des letzten, S.M.] Jahrhunderts von einer Mächtigkeit war, der nichts Vergleichbares an die Seite gestellt werden kann“,9 dann hätte er tatsächlich zumindest in dieser Hinsicht die Nachfolge des Weimaraners angetreten. Dazu gehört auch, daß Aufmerksamkeitsentzug für George eines der Mittel ist, mit denen er Macht ausübt und diejenigen bestraft, die nicht ausreichend Aufmerksamkeit in ihn und _____________ 5 6
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Braungart: Ritual und Literatur, S. 53, 201f., 205. Vor diesem Hintergrund lohnte auch ein Vergleich der Prosa der Gelehrtenrepublik mit den Ausführungen der Blätter für die Kunst, insbesondere mit den „Merksprüchen“. Zur Klopstock-Rezeption vgl. Metzger-Hirt: Das Klopstockbild Stefan Georges und seines Kreises. Dem ersten Auswahl-Band der Blätter für die Kunst wird der Essay von Richard Moritz Meyer Ein neuer Dichterkreis beigelegt, der zuerst 1897 in den Preußischen Jahrbüchern erschienen ist (Fechner: Einleitender Essay, S. 9). Deutsche Dichtung. Bd. 3, S. 6. Vgl. zu den Selektionskriterien Böschenstein: Die Prinzipien von Georges und Wolfskehls Kanonisierung Goethescher Gedichte – danach sollte George eigentlich wenig Zuversicht in die stabile Überlieferung haben, denn er selbst ordnet mit großer Rigidität Goethes Gedichte seinem Programm unter. Vgl. weiterhin: David: Stefan George und Goethe; Durzak: Stefan George und Goethe. Frank: Gott im Exil, S. 257.
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sein Werk investieren.10 Das ist freilich eine riskante Strategie. Hin und wieder aber gelingt es George, die Mittel, die eigentlich nur dem Leser zur Verfügung stehen, gegen diesen zu wenden. Bei beiden, bei Goethe und bei George, entdeckt Hofmannsthal jedenfalls die Fähigkeit, zu „töten, ohne zu berühren“.11 George fügt sich also in eine werkpolitische Reihe ein, die von Klopstock zu Goethe führt, und selbst mit Tieck, dem George keine besondere Wertschätzung entgegenbracht hat, verbinden ihn die Funktionen und – wenigstens anfänglich – die literarischen Verfahren der Stimmungsästhetik.12 Gerade der Abstand und die Unterschiede zwischen diesen beiden Autoren zeigen die strukturellen Übereinstimmungen. Bei Tieck wie bei George finden sich jene Motive von permanenter Unruhe und liminaler Beweglichkeit, die der regen Aufmerksamkeit eines Beobachters entsprechen, der immer fürchten muß, etwas zu übersehen (5.3.4-5; 6.1 b).13 Bei beiden läuft diese Bedrohung durch das, was nicht wahrgenommen werden könnte, insofern auf eine Poesie ‚jenseits von Gut und Böse‘ hinaus, als diese literarisch die Konstitutionsbedingungen der kulturellen Orientierungsleistung von Selektionen und Entscheidungen reflektieren (6.2 a). Wie Tieck setzt George auf den ‚gestimmten‘ Leser, der alle Aufmerksamkeitsenergie in seine Werke investiert; wie Tieck erbringt er dabei Vorleistungen für philologische Lesehaltungen; und wie Tieck findet man gerade bei dem für seine herrischen Gesten bekannten George das Bewußtsein von Vorläufigkeit und Überholbarkeit, zumindest was die Außenwahrnehmung seines Werks betrifft.14 Was George indes von Tieck wesentlich unterscheidet, ist sein Sinn für Mediengerechtigkeit und für den ‚Stellenwert‘ seiner Werke, also für den Publikationsort in einem elementaren Sinn (6.2). Bei der Wahl zwischen den Optionen kritischer und philologischer Beobachtung schließlich entscheidet sich auch George gegen die kritische Kommunikation und orientiert sein Werk auf philologische Aufmerksamkeitsmuster.15 Das Projekt einer selektionslosen Aufmerksamkeit allerdings scheint gerade nicht zu einem Autor zu führen, der im Anschluß an Friedrich Nietzsches Programm einer monumentalistischen Historie und _____________ 10 11 12 13 14
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Plumpe: Mythische Identität und modernes Gedicht, S. 116. So in Der Prophet (für George) und in Über Charaktere im Roman und im Drama (für Goethe) (George / Hofmannsthal: Briefwechsel, S. 239f.). Zum Verhältnis Georges zur Romantik vgl. Petrow: Der Dichter als Führer?, S. 199ff. Für Tieck vgl. hier Bormann: Der Töne Licht, S. 199ff. Vgl. in diesem Zusammenhang auch zu Georges Wahrheitsbegriff Zöfel: Die Wirkung des Dichters, S. 13ff. – programmatisch geht es George selbstredend nicht um eine relativistische Position; vielmehr verteidigt er den Kairos und damit die Unverfügbarkeit der Wahrheit. Zöfel: Die Wirkung des Dichters, z. B. S. 2, 63 in thesenhafter Verknappung.
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im Anschluß an die Exklusivitätsprogramme insbesondere der französischen literarischen Moderne „auswahl“ als oberstes Gebot auf seine Fahnen geschrieben hat – als sich im November 1899 eine Diskussion über R.M. Meyers „soeben erschienene Literaturgeschichte“ ergab, ereiferte sich George entsprechend über „Meyer wegen der Vielen, die er erwähnt und die nicht in die Literatur gehören“ (5.4.3).16 Auch wenn George die quantitative Ausweitung des Aufmerksamkeitsradius‘ nicht völlig fern liegt17, zeichnet er sich durch seine Kritik an mangelnder Selektionsbereitschaft aus. Gerade deswegen eignet er sich, um eine Variante moderner Werkpolitik zu analysieren. Georges Werk wird zum Prüfstein für die entwickelten Kriterien der Werkpolitik. Dies liegt nicht zuletzt deswegen nahe, weil das 19. Jahrhundert dem Problem der Aufmerksamkeit seine volle Aufmerksamkeit geschenkt hat.18 Eine industrialisierte und kapitalisierte Moderne traktierte das Individuum mit einer Überfülle äußerer Eindrücke und machte Aufmerksamkeit zum dringenden Anliegen, dem sich die psychologischen Modellbildungen mit hoher Intensität zuwandten. Die „epistemologische[ ] Unsicherheit“19, die sich in den Schriften von Hermann von Helmholtz, Gustav Theodor Fechner und anderen findet, führte dabei zu einer Doppelbewegung: Indem sich die Vermutung zur Sicherheit verdichtete, daß das Sehen sich weniger äußeren Reizen als vielmehr internen Verarbeitungsmechanismen verdanke, rückten einerseits Projekte der Wahrnehmungskontrolle auf die Agenda. Dieselbe Abdichtung der Wahrnehmung sorgte andererseits dafür, daß die Sorge oder Hoffnung nicht verschwand, das Sehen entziehe sich gerade dem operativen Zugriff und den Verfahren der Normalisierung. Jedenfalls wird ‚Aufmerksamkeit‘ ‚um 1900‘ als das Vermögen gehandelt, das die flottierende Fülle der Eindrücke fixiert, um – wie die décadence-Theoretiker ausführten – das Bewußtsein vor der zersetzenden Wirkung der freien Assoziationen zu schützen und vor der hemmungslosen Träumerei zu bewahren. Sie gilt als diejenige Fähigkeit in der Ökonomie des Seelenlebens, die einen Teil des Wahrnehmungsfeldes auf Kosten anderer Bereiche hervorhebt, isoliert, ihm klare und feste Konturen verleiht, kurz: Aufmerksamkeit ist das zentrale Vermögen zur Selektion. _____________ 16 17
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Breysig / George: Gespräche, Dokumente, S. 10. Vgl. z. B. das Vorwort zur Jean-Paul-Anthologie, wo die Selbstlegitimation zwar stark zur Seite radikaler Selektivität ausschlägt, dies aber immer wieder mit Argumenten der Wiederentdeckung und der Einholung des von der literaturgeschichtlichen Aufmerksamkeit Ausgegrenzten (Deutsche Dichtung. Erster Bd.: Jean Paul, S. 5ff.). Zum folgenden vgl. Crary: Aufmerksamkeit, S. 21ff.; vgl. hier auch eine Auswahl aus zeitgenössischen Beiträgen ebda., S. 295f., Anm. 27. Für die Zeit nach 1900 vgl. Kimmich: Kleine Dinge in Großaufnahme, insbes. S. 182f. Zur historisch wachsenden „Knappheit“ der Ressource ‚Aufmerksamkeit’ vgl. Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit, S. 49ff. Crary: Aufmerksamkeit, S. 21.
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Vor dem Hintergrund dieser Theorien des unumgänglichen Selektionszwangs und im Wechselspiel mit dem Eindruck, daß „Hemmung und Betäubung“ gängige Konstituenten der Wahrnehmung sind,20 heben sich in verschiedenen Bereichen Phänomene der tendenziell selektionslosen Aufmerksamkeit ab. Beobachter verbuchen diese mangelhafte Selbstbeschränkung als Pathologien einer historischen Entwicklung, bei der „Vollständigkeit“ zu den zentralen „methodologischen Forderung“ geworden ist.21 Zu diesen Pathologien gehören so unterschiedliche Bereiche wie die Historismus-Kritik, die Kritik an der philologischen Mikrologie,22 die Kritik an der „photographisch gleichmäßigen Behandlung des ganzen Sehfeldes“ in der Malerei,23 die Kritik an der literarischen „Erweiterung des Stoffgebietes“ bzw. an der Übertragung des „wissenschaftlichen Trieb[s] zur Vollständigkeit auch in allen Nebendingen“24 oder die Konstruktion psychischer Defekte, etwa der Schizophrenie: „Die Auslese, die die normale Aufmerksamkeit unter den Sinnesdaten trifft, kann bis auf Null herabgesetzt sein, so daß fast alles registriert wird, was den Sinnen zugeht“.25 Noch in der positiven Formulierung Freuds, der das Modell einer „gleichschwebenden Aufmerksamkeit“ entwirft, bedeutet die Entfaltung dieser Form sensiblen Wahrnehmens, daß sich Analytiker und Analysierter, Arzt und Kranker angleichen, denn der Zustand einer unlimitierten Empfänglichkeit korrespondiert der Lizenz, unzensiert ‚alles‘ zu äußern.26 _____________ 20 21 22 23
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Crary: Aufmerksamkeit, S. 39, 138. Meyer: Vollständigkeit, S. 1. Kolk: Liebhaber, Gelehrte, Experten, S. 111. So Max Nordau im Blick auf die Präraffaeliten, und zwar im Zusammenhang mit seiner Anti-Wagner-Polemik (Entartung. Bd. 1, S. 309f.): „Mit der ‚unendlichen Melodie’, dem zweiten Lehrbegriffe, den Wagner erfunden, verhält es sich ähnlich wie mit dem Leitmotiv. Sie ist die Ausgeburt des Entartungs-Denkens. Sie ist musikalische Mystik. Sie ist die Form, in welcher die Unfähigkeit zur Aufmerksamkeit sich in der Musik äußert. In der Malerei führt Aufmerksamkeit zur Komposition, ihr Fehlen zur photographisch gleichmäßigen Behandlung des ganzen Sehfeldes wie bei den Präraphaeliten; in der Dichtung ergibt Aufmerksamkeit Klarheit der Gedanken, Folgerichtigkeit des Vortrages, Unterdrückung des Unwichtigen und Hervorhebung des Wesentlichen, ihr Fehlen Faselei wie bei den Graphomanen und eine peinliche Breite wegen wahllosen Eintragens aller Wahrnehmungen wie bei Tolstoi […]“. Zur Aufmerksamkeit der Präraffaeliten, die – so John Ruskin – dem Grundsatz folgen: „rejecting nothing, selecting nothing, and scorning nothing“, vgl. Herbst: John Ruskin, S. 18, 23; zu Georges Kenntnis der Präraffaeliten vgl. Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 85, auch 145. Dies war eine der zentralen wissenschaftlichen Verfehlungen aus Sicht des George-Kreises, vgl. z. B. Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 55, 131. So bei Eugen Bleuler: Dementia praecox (1911), zit. nach Crary: Aufmerksamkeit, S. 38. Vgl. insbes. Freud: Bruchstücke einer Hysterie-Analyse, S. 148; ders.: Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung [1912], S. 171f., 175; dazu Crary: Aufmerksamkeit, S. 289, sowie Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 154ff.
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Selektionslosigkeit und Kritiklosigkeit werden zur Voraussetzung eines adäquaten Verhaltens gegenüber den Zusammenhängen des prima facie Unzusammenhängenden. Die wissenschafts- und eben auch literaturpolitische Funktion dieser Form der Aufmerksamkeit besteht darin, daß neu definierte Krankheiten ebenso wie die Literatur der décadence die Möglichkeit bieten, sich den Wahrnehmungsleistungen der Vorläufer gegenüber überlegen zu zeigen: Man läßt das Unzusammenhängende zu, um dann seine genialische Form der Zusammenhangsbildung zu praktizieren. Immerhin: George diagnostizierte bei sich eine „nervenschwäche“, wie er Hofmannsthal brieflich mitteilt, und meint, daß daran „jeder von uns ein wenig leidet“.27 Dabei fällt vor allem auf, daß George Negativität habitualisiert, auch wenn er dies bisweilen durch Drogen wieder wett macht. Clemens von Franckenstein berichtet im Juni 1897 an Hofmannsthal: Er [George, S.M.] hat eine Menge sehr schöner Bücher u. Bilder u. gibt einem ganz famosen Wein zu trinken. Wenn man sich an seine verschiedenen faxen gewöhnt hat bekommt man ihn sehr gern u. meine Engländer schwärmen alle von Steven George. Wenn er unter den Burschen von Bingen herumsteigt sieht es colossal merkwürdig aus. Die Leute haben dort einen großen Respect vor ihm so ungefähr wie die Indianer vor einem ganz besonderen Medizinmann.28
Anders gesagt: George begegnet den Unwägbarkeiten, den Diffusitäten und Bedrohungen der literarischen und kritischen Kommunikation zunächst mit Strategien der Exklusivität – als sein Jugendfreund Carl Rouge, gleichsam der Vertreter des „kunstrichtende[n] gehobene[n] Publikums“, ihn zu wenig lobt, erklärt er ihn schlicht für tot.29 Der Versuch, ein überschaubares und damit kontrollierbares Feld der Publizität zu begrenzen, gilt dabei nicht allein den Werken als solchen. George rückt darüber hinaus „das wie, mit wem, die hantierung“ ins Blickfeld.30 Damit zieht er auf der einen Seite eine klare Linie um den Bereich, in den Aufmerksamkeit investiert werden soll; auf der anderen Seite ergeben sich gerade aus diesem forcierten Kontrollverhalten größere Angriffsflächen und mehr Perspektiven. Zugleich steigt die Gefahr, etwas ‚Wesentliches‘ zu übersehen. Der Aufmerksamkeitsradius wird durch die Aufmerksamkeitsbeschränkung erweitert, wenn man, wie George dies für sich reklamiert hat, „grade so untrüglich“ am „gesicht“ wie am „gedicht“ die Qualitäten eines „dichters“ abzulesen versteht.31 So erfahren wir über George auch Details, die _____________ 27 28 29 30 31
George / Hofmannsthal: Briefwechsel, S. 46. Zit. nach Stefan George. 1868-1968, S. 39. Oelmann: Das Gedicht als „Gebilde“, S. 324f.; zur Diskussion unter den Freunden und zur Kritikabwehr vgl. Norton: Secret Germany, S. 70ff. George / Hofmannsthal: Briefwechsel, S. 31. Entwurf eines Briefs an Hofmannsthal vom 29. März 1895 (George / Hofmannsthal: Briefwechsel, S. 251f.); vgl. auch GW 4, 12. Zum ‚Bild’ Georges vgl. Mattenklott: Bilderdienst, S. 184ff. Zur Bekanntschaft entweder mit George oder mit einem ihm nahe stehen-
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wir vielleicht gar nicht wissen wollen, etwa über die Wohlgestalt seines Ohrs oder die Schwingungen seiner Nase32 – ins Literaturmuseum der Moderne haben es immerhin „Stefan Georges Haare“ geschafft.33 Beinahe von Anfang an spielt dabei die Beobachtung durch die nunmehr fest institutionalisierte Philologie eine wichtige Rolle. Hofmannsthal bezeichnet die Philologen gemeinsam mit den Kritikern und den schlechten Dichtern als negativ prägende Instanzen der literarischen Kommunikation.34 Philologen gehören zu den ersten öffentlichen Fürsprechern Georges in Deutschland, sie gehören zur Gruppe um die Blätter für die Kunst und später auch zum George-Kreis. George, der die Kritiken zu seinem Werk genau verzeichnet und gesammelt hat,35 wird über die Entwicklungen auf dem Feld der George-Forschung von den KreisMitgliedern informiert.36 Auch wenn man nicht gleich so weit gehen muß wie Wolters, der den „Sprachkenner“ George zum „Philologen“ macht,37 sieht man, wie für diesen die Philologie zu einer relevanten Umwelt für das Kunstsystem wird. Entsprechend umstandslos führen er oder seine Mitstreiter die Philologie als Instanz ins Feld und bringen ihre Wertmaßstäbe zur Geltung. Karl August Klein etwa prophezeit bei Erscheinen der Hymnen, diese würden „einmal so epochal wie das Büchlein von der teutschen Poëterey“;38 Carl Rouge meint ironisch, eine annotierte Fassung der Gedichte, mit „Erläuterungen an den Rand“ gedruckt, würde das Problem ihrer Unverständlichkeit lösen;39 und als Hofmannsthal auf Drängen Georges eine Gedichtauswahl zur Publikation vorbereitet und diese chronologisch ordnet, verteidigt George (vergeblich) gegen den Autor die „peinliche quasi-philologische Aufdringlichkeit“ der groß gesetzten Jahreszahlen zu den einzelnen Gedichten.40 Umgekehrt projektiert Hofmannsthal eine „Auseinanderlegung Ihrer sämmtlichen Bücher, in der zeitlichen Folge, _____________
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den Kreismitglied als Voraussetzung für die Aufnahme in die Publikationskontexte um George vgl. z. B. Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 61; Mettler: Stefan Georges Publikationspolitik, S. 32; Groppe: Die Macht der Bildung, S. 446ff. So in der physiognomischen Studie von Karl Bauer (Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 64). Lewitscharoff: Die Art, wie er die Mähne baute. So in Poesie und Leben von 1896 („L’âpre gloire du silence“…, S. 248). Zu Hofmannsthals Platz ‚unter Philologen’ vgl. König: Hofmannsthal. Vgl. z. B. Fechner: Einleitender Essay, S. 9. So z. B. George / Wolters: Briefwechsel, S. 107, 135, 234, 302; Vallentin: Gespräche mit Stefan George, S. 23, 33. Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 489. Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 29. Brief an George vom 27. August 1890 (zitiert nach Oelmann: Das Gedicht als „Gebilde“, S. 320, Anm. 17). George / Hofmannsthal: Briefwechsel, S. 197ff.
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die zugleich geistiger Aufbau ist“,41 und legt damit an Georges Werk ein philologisches Aufmerksamkeitsraster an. Wenig verwunderlich, daß die hermeneutische ‚Feinheit‘ für George eine herausragende Lektüremaxime darstellt (6.2 a).42 Am Briefwechsel mit Hofmannsthal läßt sich exemplarisch sehen, wie George Strategien entwickelt, um unter Bedingungen etablierter Negativität und einer entsprechenden Aufmerksamkeitskultur seine Werkpolitik zu betreiben.43 Die erhöhten Anforderungen an die Aufmerksamkeit belasten die Beziehungen auch innerhalb des eingezirkelten Bereichs. So eskaliert der anfängliche Streit mit Hofmannsthal fast bis zur Duellforderung.44 Eine Möglichkeit, solchen Risiken der erweiterten Aufmerksamkeit und erhöhten Sensibilität für die ‚feinen‘ Abweichungen zu begegnen, besteht in der Blockade von Aufmerksamkeit (4.1.1). Hofmannsthal beschwört daher George, stets an seine „aufrichtige Geneigtheit der Sache und vor allem ihrer Person gegenüber“ zu „glauben“; und George fordert „das wahrheitvolle rückhaltlose vertrauen des Einen Menschen in den andren“ ein, und zwar unter Bedingungen selektionsloser Aufmerksamkeit: „Jede meiner bewegungen und äusserungen“, so George, solle Hofmannsthal bei aller geäußerten Kritik die Wertschätzung seiner Person versichern.45 Immer wieder setzen er und seine Stellvertreter darauf, daß eine „frei[e] rede[ ]“, daß die „grösste offenheit und rückhaltlosigkeit“ und ein „verhältnis des vertrauens“ die Störung durch das, „was noch etwas trübend zwischen uns liegen könnte“, beseitigen würde.46 Zudem versucht George, dem Streit positive Seiten abzugewinnen, oder er beharrt auf der Austragung der Unstimmigkeiten, will sie nicht durch einen Brief „voller freundlichkeiten“ überdecken. George hält sich für „nicht weltweise genug _____________ 41 42
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44 45 46
George / Hofmannsthal: Briefwechsel, S. 194. George / Hofmannsthal: Briefwechsel, S. 89. Neben der ‚Feinheit’ geht es an dieser Stelle auch um die ‚Treue’ als Element des philologischen Habitus; vgl. dazu Kolk: Liebhaber, Gelehrte, Experten, S. 74ff. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Beschreibung von Georges „erhabene[r], unbarmherzige[r] und hingebende[r] Sachlichkeit“, seinem „Überschauen und nimmermüde[n] Ergründen der Details“, seiner „Akribie“, seinem „Fleiss, und seiner „Ehrfurcht vor jedem positiv Geleisteten, auch dem kleinsten Philologenstückchen“ (Gundolf an Wolfskehl über die gemeinsame Arbeit an der ShakespeareÜbertragung; George / Gundolf: Briefwechsel, S. 16; 8.4 c). Zum Verlauf der Beziehung insgesamt vgl. Rieckmann: Hugo von Hofmannsthal und Stefan George. Nach wie vor die brillanteste Analyse und Beschreibung liefert Adorno: George und Hofmannsthal; zur Beziehung im Kontext der Publikationspolitik vgl. Alt: Hofmannsthal und die „Blätter für die Kunst“. George / Hofmannsthal: Briefwechsel, S. 15f.; vgl. in diesem Zusammenhang auch die Auseinandersetzung mit Carl Rouge: Oelmann: Das Gedicht als „Gebilde“. George / Hofmannsthal: Briefwechsel, S. 68, 257, 151. George / Hofmannsthal: Briefwechsel, S. 14f., 21, 28, 48, 116 – George war dieser Passus offenbar so wichtig, daß er auch in Wolters ‚Blättergeschichte’ wörtlich auftaucht (Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 42).
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Ihnen [Hofmannsthal, S. M.] zu verschweigen was ich gegen Sie auf dem herzen habe“, dies gebe ihm die „aufrichtigkeit“ ein.47 Wie auch immer das hof- und privatpolitische Verhaltensprogramm im Durchgang durch die Aufklärung und damit im Prozeß der Etablierung von Negativität unter Druck geraten ist: Im 19. Jahrhundert taugt der ‚galant homme‘ weiterhin als Gegenbild (2.3).48 Freilich hält auch George es von Zeit zu Zeit für geboten, eher zu schweigen, als eine negative Kritik abzuliefern.49 Der Kommunikationsabbruch wird zu einem symptomatischen Verhalten von George, wenn das Verschweigen auf der Reserve gegen die Stabilität von Schriftlichkeit gründet. Denn dieses Medienmerkmal provozierte die Eskalationen der kritischen Kommunikation und führt dazu, daß die Sozialsemantik auf fernkommunikative Verhältnisse auch in der Nahkommunikation umgestellt wurde (2.3-5). Die zum privatpolitischen Prinzip erklärte Sorge, Äußerungen könnten in die falschen Hände geraten, besteht bei George fort.50 Er vermeidet in Briefen gezielt persönliche Äußerungen und verkündet gesprächsweise, es werde „überhaupt wenige Briefe geben, aus denen irgendetwas Belangreiches über ihn zu lesen sei“.51 Diese Entäußerungsfurcht bildet die Schattenseite der andauernden Bemühungen um vertraute Kommunikation in überschaubaren Verhältnissen. Die Möglichkeit ungewollter Entäußerung ist in der schriftlichen Stabilität bedrohlicher als im Gespräch. Daher fordert George mehrfach Briefe von Hofmannsthal zurück oder reserviert bestimmte Themen für den mündlichen Austausch: „In jeder sache“, so Georges Grundsatz, „tritt einmal ein zeitpunkt ein wo schriftliche behandlung nicht mehr hilft“.52 Wie bei Klopstock (5.1) macht das Gespräch auf George den Eindruck geringerer Selektivität bzw. erhöhter Ausdrucks- und Informationsmöglichkeit. _____________ 47 48
49 50 51 52
George / Hofmannsthal: Briefwechsel, S. 124, 149f. Vgl. dazu auch Georges Brief an Arthur Stahl vom 1. Januar 1889 aus Montreux, der die honnêtte-homme-Ausbildung nachschreibt: „Um die praktischen sachen zu erlernen um in verschiedenen lebenslagen sich schlagfertig und gewachsen zu zeigen braucht man nicht zum militär zu gehen. Das will ich Dir einfach sagen gehe auf reisen wie ich gehe nach England nach Frankreich und nach der Schweiz etc und ich garantiere Dir, dass Du da in allen lebensumständen gewitzigt wirst […]“ (zit. nach Stefan George. 1868-1968, S. 47). Zur ‚weltmännischen’ Erscheinung Georges vgl. S. 11 (hier auch noch einmal die Briefstelle: ebda., S. 29). George / Hofmannsthal: Briefwechsel, S. 161 (so auch bei Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 289) – später behauptet George allerdings, Hofmannsthal habe sich einfach keine Zeit gelassen (ebda., S. 207). George / Hofmannsthal: Briefwechsel, z. B. S. 111. Vallentin: Gespräche mit Stefan George, S. 81, vgl. auch 17. George / Hofmannsthal: Briefwechsel, S. 13, 243f., Zitat S. 67; vgl. auch S. 131, 162, 224, 257. Vgl. bereits in den Jugendbriefen bei Boehringer: Mein Bild von Stefan George, S. 28.
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Die Diskrepanz zwischen der Aufmerksamkeitssteigerung auf der einen, der Aufmerksamkeitsblockade im Gewand des „Glaubens“ und „Vertrauens“ auf der anderen Seite ist zu auffällig, um darauf stabile Beziehungen aufzubauen. Die Beteiligten benötigen andere Modelle, zumal wenn ihnen nicht – wie später innerhalb des ‚Staates‘ – das Konfliktmanagement durch klare Hierarchisierungen zur Verfügung steht, wenn sich also der Verdacht nicht durch Bewunderung ersetzen läßt. ‚Dienst‘ als Haltung der Kreismitglieder setzt eine prinzipiell positive Haltung voraus, ohne dadurch notwendig die Aufmerksamkeitsspanne zu reduzieren. George reagiert daher auch im Zwischenmenschlichen mit Härte, versucht Ablehnung als etwas Produktives zu akzeptieren und sich somit an die Etablierung von Negativität anzupassen. Er votiert für das offen ausgesprochene Wort und schreibt so beispielsweise an Hofmannsthal, dem er immer wieder strategisches Verhalten und verdeckte Motive unterstellen wird: „thuen Sie nicht so verbunden und verpflichtet · das würde mich nur ärgern“.53 Hofmannsthal freilich hat eine noch bessere Handlungsoption zur Verfügung: „Ich kann auch das lieben, was mich ängstet“.54 Die Fertigkeit, sich in Verhältnissen etablierter Negativität zu bewegen, ist für George auch deswegen von Bedeutung, weil er sich zwar von der Normalform der literarischen und kritischen Kommunikation abgrenzt, dies aber nicht bedeutet, daß er auf deren Infrastruktur verzichtete. Vielmehr versucht George, diese in seine Dienste zu nehmen, er versucht, Kontakte zu knüpfen, kontrolliert zu publizieren und zu kritisieren, die Beobachtungsverhältnisse also auch dadurch zu überwachen, daß er sich behutsam und über Jahre hinweg der Normalformen des Betriebs, etwa in allgemein zugänglichen und käuflichen Gedichtbänden, assimiliert. Die bekannten partisanenhaften Aktionen von lancierten Besprechungen, beauftragten Lobrednern und verdeckten Werbefeldzügen, die den Prozeß der Etablierung von Negativität und die Entfaltung der Werkpolitik begleiten (z. B. 2.), tauchen bei George von Beginn an nicht allein erneut auf, sondern werden von ihm eben wegen der extremen Sensibilisierung für das „wie“ des Auftretens perfektioniert. George wird, wie erwähnt, über Besprechungen auf dem Laufenden gehalten, und er registriert selbst sehr genau, wie sein Werk in den öffentlichen Medien verhandelt wird. Er war sich dabei über den Reklamewert der Negation im klaren. Im Gespräch mit Edith Landmann erklärt er anläßlich eines Anti-George-Pamphlets: „Besseres ist als Propaganda gar nicht denkbar. Das würde ich bezahlen, wenn’s die Leute nicht umsonst täten“.55 _____________ 53 54 55
George / Hofmannsthal: Briefwechsel, S. 11. George / Hofmannsthal: Briefwechsel, S. 14. Landmann: Gespräche mit Stefan George, S. 94.
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Ich muß an dieser Stelle nicht mehr die bekannten und mehrfach dargestellten Publikations- und Marketingstrategien Georges sowie die Details seiner fotografischen und buchkünstlerischen Selbstdarstellung wiederholen und setze die Ergebnisse dieser Forschungsrichtung, die die Werbung der Werbungsverweigerung analysiert hat, im folgenden vielmehr voraus – die Abwendung vom Markt muß als erfolgreiche „Marktstrategie“ gelten.56 Entscheidend ist, daß George noch einmal den Traum der Gottscheds, Bodmers, Goethes, Schillers und Schlegels geträumt hat, die anarchischen Verhältnisse der kritischen Kommunikation monarchisch oder sogar diktatorisch zu handhaben: „Ich war des festen glaubens“, schreibt er an Hofmannsthal, „dass wir · Sie und ich · durch jahre in unsrem schrifttum eine sehr heilsame diktatur hätten üben können“. Immerhin findet George einen Schuldigen für das Scheitern seiner Zentralisierungsphantasien und verliert sich nicht an die anonymen Mächte des literarischen Feldes: „dass es dazu nicht kam dafür mach ich Sie allein verantwortlich“.57 Am Ende bleibt Georges Lebensproblem für ihn selbst ungelöst, wie sich an den strukturell narzißtischen Zügen, Motiven und Szenen seiner Gedichte (und seines Verhaltens) ablesen läßt (6.1 b): „Schon lange im leben sehnte ich mich nach jenem wesen von einer verachtenden durchdringenden und überfeinen verstandeskraft die alles verzeiht begreift würdigt und die mit mir über die dinge und die erscheinungen hinflöge […]“ – diesen „zwillingsbruder“, der zugleich der ideale Leser gewesen wäre, hat George nicht gefunden.58 Mehr noch: Er hat alles getan, um sein Spiegelbild nicht zu entdecken. Immer wieder brüskiert er gerade diejenigen, die ihm am nächsten stehen (6.3 d).59 Die folgenden Ausführungen setzen aus pragmatischen Gründen bestimmte Akzente. Die im engeren Sinn politische Dimension von Georges Werk etwa,60 die Werkfunktion der Übersetzungen61 oder die religiösen und kultischen Dimensionen seiner Selbstpräsentation62 treten in den Hintergrund. Auch muß es bei George nicht um den bereits mehrfach geführten Nachweis gehen, daß er ein geschickter Stratege und ein raffinierter Literaturpolitiker gewesen ist. Vielmehr möchte ich die _____________ 56 57 58 59 60 61 62
Landfried: Stefan George, S. 17; vgl. dazu insbesondere Mettler: Stefan Georges Publikationspolitik; Roos: Stefan Georges Rhetorik der Selbstinszenierung. George / Hofmannsthal: Briefwechsel, S. 150. George / Hofmannsthal: Briefwechsel, S. 12f. Vgl. zum Ende der Beziehung zu Verwey: Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 468. Vgl. dazu Landfried: Stefan George. Vgl. dazu Nutt-Kofoth: Autor oder Übersetzer oder Autor als Übersetzer? Vgl. dazu vor allem Braungart: Ästhetischer Katholizismus.
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nierter Literaturpolitiker gewesen ist. Vielmehr möchte ich die Spaltungen der George-Forschung in die Analyse der Kontexte,63 der Publikationsstrategien64 und der Werkanalyse65 überwinden. Daran erst bemißt sich, wie brauchbar die Beobachtung kritischer Kommunikation für interpretatorische Fragen ist. Im ersten Abschnitt werde ich mich auf das Initialgedicht des Werks konzentrieren, auf Weihe, das auch im folgenden immer wieder den Bezugspunkt bilden wird, um die interpretatorische Relevanz der Untersuchung von Werkpolitik exemplarisch zu demonstrieren. Das WeiheGedicht spielt mit Initialität und annonciert in diesem Spiel, in den Kippbewegungen, in den Begrenzungen und in der Überwindung von Grenzen, die es dem Beobachter abverlangt, eine spezifische Form umfassender Aufmerksamkeit (6.1 a). Die historische Position dieser Wahrnehmungsleistung zeigt sich, wenn man Dichtung als ‚Arbeit‘ rekonstruiert, die ihren Wert gegen selbst erzeugte Widerstände definiert und an die Anthropologie der Stimmung anknüpft (6.1 b). Georg Simmels Stadt- und Kunstsoziologie zeigt die vielfältigen Anschlußstellen dieses Zusammenhangs von Attraktion und Aversionen im ‚Zeitalter der Nervosität‘ auf (6.1.c). Die Energieleistungen von Georges dichterischer Arbeit lassen sich dabei versuchsweise auch im Rahmen der Semantik einer elektrifizierten Gesellschaft verstehen (6.1. d). In einem zweiten Abschnitt arbeite ich Aspekte von Georges Werkpolitik auf der Folie von Richard Wagners und Friedrich Nietzsches Musikund Sprachästhetik heraus. Es geht dabei nicht um Einflußverhältnisse. Ich will vielmehr Problemlagen erhellen, die die Zeit ‚um 1900‘ allgemeiner charakterisieren. Ausgehend von konzeptionellen, szenischen und motivischen Gemeinsamkeiten zwischen Georges Weihe, Wagners Theorie des Musiktheaters und Nietzsches Geburt der Tragödie stehen dabei die Aufmerksamkeitshaltungen im Zentrum der Überlegungen (6.2 a). Nietzsches Philosophie des ‚Jenseits von Gut und Böse‘ zielt dabei auf jenen Ort, der gleichsam als Ursprung basaler kultureller Ordnungs- und damit auch Aufmerksamkeitsmuster erscheint. Vor dem Hintergrund der ‚nervösen‘ Kunst Wagners wiederum zeigen sich die Effekte einer Werkpolitik, die auf diese intensive, nicht quantitative Erweiterung der Aufmerksamkeit zielt (6.2 b) und sich als Medienkunst im engeren Sinn interpretieren läßt. Eben daraus erklärt sich, warum Georges Werk mit demjenigen Wag_____________ 63 64 65
Vor allem Groppe: Die Macht der Bildung; und Kolk: Literarische Gruppenbildung. Hierzu v. a. Mettler: Form und Haltung bei Stefan George, ders.: Stefan Georges Publikationspolitik, Roos: Stefan Georges Rhetorik der Selbstinszenierung. Hierbei wäre Simons Eindruck zu berücksichtigen, daß Georges Texte bislang noch „keinem genauen Lesen unterzogen“ worden seien (Hymne und Erhabenheit im 19. Jahrhundert, S. 357, Anm. 2).
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ners gerade aufgrund ihrer gemeinsamen Bestimmung von Aufmerksamkeit nichts zu tun hat. Der dritte Abschnitt widmet sich der immanenten Poetik von Georges Gedichten, die dem Leser Anweisungen für adäquate Beobachtungshaltungen im Vollzug vermittelt. In fünf ‚Werkschritten‘ zeichne ich die Entwicklung Georges vom Jahr der Seele über den Teppich des Lebens bis zum Siebenten Ring nach und gebe abschließend einen kurzen Ausblick auf den Stern des Bundes. Immer wieder geht es dabei um die Verfahren der Selbstkontextualisierung, die George von den subtilen Hinweisen des Frühwerks bis hin zur Maximin-Dichtung zunehmend aufdringlicher gestaltet (6.3). Freilich scheint auch dies nicht ausgereicht zu haben. Deswegen setzt George noch einmal neu an, konzipiert seine Gesamt-Ausgabe und läßt sie von einem reichhaltigen Begleitprogramm unterstützen und absichern. Damit gibt er keine eindeutigen Interpretationen vor, sondern – wie das im Zeitalter des Methodenpluralismus allenfalls noch geht – unterschiedliche Perspektiven auf sein Werk, die in ihrer Multiperspektivität auf die Probleme der Einheit des Unterschiedenen aufmerksam machen. Bis in die Mikrologie der poetischen Bewegungen hinein sieht man von hier aus, daß und wie George sein Werk der Geistesgeschichte anbietet. Georges Gesamt-Ausgabe wird dann auch von vielen Beobachtern als Offerte zur Historisierung des Autors und seines Werks verstanden. Hier ist der Punkt in der Geschichte der Werkpolitik erreicht, wo ein Autor sich erfolgreich der literaturkritischen Beobachtung entzieht und sich der philologischen und literaturwissenschaftlichen Beobachtung aussetzt (6.4).
6.1 Die Initiation des Werks: Georges Weihe Mit den Hymnen, die im Dezember 1890 in einer Auflage von 100 Exemplaren in Berlin erscheinen, beginnt das Werk, das in Wolters’ ‚Blättergeschichte‘ nicht umsonst als „das erste Werk“ figuriert66 und mit dem George sich einer begrenzten Öffentlichkeit präsentiert.67 Hier tritt „sein name zum erstenmal hervor[ ]“ (GA 2, 126), und zwar in seiner Gedichtsammlung, deren Initialgedicht verkündet: „Der zeiten flug verliert die alten namen“ (GW 2, 10). Wie wichtig für George der Umgang mit dem „namen“ war, mußte Hugo von Hofmannsthal erfahren. Dieser brachte _____________ 66 67
Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 23. Morwitz: Kommentar zu dem Werk Stefan Georges, S. 7. Carl August Klein hat entsprechend Georges Hymnen mit der Innovationsleistung von Opitz’ Buch von der deutschen Poeterey verglichen (David: Stefan George, S. 32).
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Werkpolitik in der Moderne: Stefan George
das „vertrauen“ von George mehrfach allein dadurch erheblich ins „wanken“, daß er seinen „Namen“ an solche „Namen“ geknüpft hat, „die wir doch unmöglich mit in unser unternehmen ein führen könnten“.68 Die Hymnen „führen“ also, gemeinsam mit den Pilgerfahrten und Algabal, „die reihe seiner veröffentlichungen“ (GW 2, 5), und erhalten dadurch eine herausragende Bedeutung. Erst später wird George in den so begründeten Werkzusammenhang mit der Fibel (1901) auch das Jugendwerk hineinholen, das er zuvor in den Blättern für die Kunst bereits präsentiert hatte. Der Einsatz mit den Hymnen ist von George dabei auch tatsächlich als Beginn konzipiert.69 Am 22. November 1890 schreibt er an Arthur Stahl, daß von der Lyrik „in erster Linie das NEUE“ ausgehe (GW 2, 88).70 Auf dieses Modell wird er später immer wieder zurückgreifen71: Die Vorrede zur öffentlichen Ausgabe der Hymnen (1898, datiert auf 1899) betont, daß der „erste[ ] druck seiner dichtungen“ von George unter den „schutz der abgeschlossenheit“ gestellt werden mußte, weil von der „lesende[n] menge“ kein adäquates Rezeptionsverhalten erwartet werden konnte (GW 2, 5); die Auszüge aus „der frühesten schaffenszeit unsrer mitarbeiter“ unter dem Titel der Schülerzeitung Rosen und Disteln im fünften Band der ersten Blätter-Folge (1893) sollen entsprechend den „unterschied älterer und heutiger dicht-weise klarer“ machen (BfK I/5, 147; GA I, 128); und die zehnte Folge der Blätter für die Kunst (1914) beginnt mit einem „überblick über die dichtung der jüngsten vergangenheit“ und setzt wie die Hymnen-Vorrede die Zäsur um 1890 – „das gedicht vor und nach 90“ sei „sofort zu erkennen“ (BfK X, 1f.). George folgt damit einem durchaus zeittypischen Muster. In Julius Harts Die Lyrik der Zukunft, veröffentlicht als Einleitung zu dem „Gedichtbuch“ Homo sum! (1890), notiert George: „Um neue sensationen auszudrücken bedarf es einer neuen sprache“.72 Die Hymnen sind damit gewissermaßen die lyrische Vorbereitung jener Innovation, die die Blätter für die Kunst zwei Jahre nach deren Erscheinen proklamieren. George wendet sich mit der kleinen Auflage seiner Gedichte an das nur wenig erweiterte Publikum der klassischen und romantischen Werkpolitik (5.3; 5.4.2 c): Es besteht aus den „freunde[n]“ sowie aus „entfernten bekannten und ganz besonderen interessenten“, in _____________ 68 69 70 71 72
George / Hofmannsthal: Briefwechsel, S. 26, 73, 150; vgl. dazu Mettler: Stefan Georges Publikationspolitik, S. 27. Zu den entsprechenden Habitus-Änderungen vgl. Norton: Secret Germany, S. 70ff. Vgl. die Stelle im Kontext bei Boehringer: Mein Bild von Stefan George, S. 40; vgl. zu sekundierenden Äußerungen Oelmann: Das Gedicht als „Gebilde“, S. 318. Der George-Kreis (Durzak: Zwischen Symbolismus und Expressionismus, S. 44f.) und die Forschung folgen diesem Pfad von Anfang an (Simons: Die zyklische Kunst). Zit. nach Sohnle: Stefan George und der Symbolismus, S. 47.
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deren Kreis der Gedichtband exklusiv vertrieben werden soll (GW 2, 88). Entsprechend widmet George die Hymnen Karl Wolfskehl in den frühen 1890er Jahren mit den Worten: „Meinem treuen freunde / der zuerst mich warm empfunden / und tief gerichtet hat. / Etienne George“73 – Freundschaftlichkeit, Tiefsinn und Kritik bilden ein Ensemble im Prozeß der Etablierung von Negativität (3.2.1 a). Die Implikation dieser Adressierungen erläutert George im Streit mit Carl Rouge um die Kritik der Hymnen. Dort schreibt er in einem Brief vom 1. September 1890: „[…] die forderung heisst: hinnahme und abnahme zuallererst, den meisterer wird der Meister immer finden“.74 Wieder also geht es um die Bestimmung von Empfänglichkeit, wieder geht es um die Bestimmung spezifischer Aufmerksamkeitsmuster, um eine neue Verteilung der Karten im Spiel von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit und um eine Anhebung von Wahrnehmungsschwellen. Daß sich George mit der Wahrnehmbarkeit des Werks auf unterschiedlichen Ebenen auseinandersetzt, kann man bereits an den Äußerlichkeiten ablesen: Dazu gehört die genannte Publikationspolitik, die es einem breiteren Publikum faktisch unmöglich macht, das Werk überhaupt zu bemerken; dazu gehören die Kleinschreibung und der weitgehende Verzicht auf Satzzeichen, die die Selektions-, Ordnungs- und Hierarchieroutinen der Werkwahrnehmung als Schriftwahrnehmung unterbrechen und „die Aufmerksamkeit des Lesers“ erregen sollen75; und dazu gehört Georges Bemühen um ein angemessenes Titelblatt für die Hymnen 76, das die Grenze zwischen dem Werk und seiner Umgebung bildet und dessen Wahrnehmung steuert – noch in der Gesamt-Ausgabe war George das Titelblatt so wichtig, daß er den „Umschlag und Titel des Erstdrucks etwas verkleinert“ abdruckt (GA 2, 3). Die Verwunderung darüber, daß Georges erste Gedichtbände zunächst nicht in Deutschland, sondern in Belgien oder Frankreich registriert werden,77 bestätigt insofern nur, daß George Aufmerksamkeitskonventionen irritiert und mit den Zugängen zu seinem Werk experimentiert. _____________ 73 74 75 76
77
Abgedruckt bei Fechner: Einleitender Essay, S. 21. Boehringer: Mein Bild von Stefan George. Textband, S. 39. So im Blick auf die Blätter für die Kunst die erste deutschsprachige Bezugnahme in Stern’s Literarisches Bulletin der Schweiz vom 1. Dez. 1892 („L’âpre gloire du silence“…, S. 55). In den handschriftlichen Fassungen werden die Hymnen längere Zeit unter dem Titel „Gedichte“ geführt, unter anderem auch mit folgender Titulatur: „Etienne George: Gedichte. Berlin 1890“. In der druckschriftlichen Fassung kommt neben der Gattungsbezeichnung und dem deutschen Vornamen ein Pergamentumschlag mit Titelaufdruck in schmuckloser Antiqua hinzu. Dieser Umschlag war George so wichtig, daß er ihn „trotz Widerspruch der Freunde“ in der Gesamt-Ausgabe faksimilieren ließ (GA 2, 89). Vgl. dazu insgesamt die Sammlung „L’âpre gloire du silence“… ; sowie Fechner: Einleitender Essay, S. 9f.
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Die Äußerlichkeiten des Werks sollten für George bekanntlich keine Äußerlichkeiten sein.78 Hofmannsthal hielt es im Rückblick für möglich, daß George ihm bei ihren ersten Begegnungen in Wien nicht „den Druck der ‚Hymnen‘ und ‚Pilgerfahrten‘ zeigte“, sondern „nur das Papier, welches er erworben hatte, und eine Druckprobe: von diesem scheinbar Äusserlichen, auch von der Schrift, sprach er mit einem imponierenden Ernst, den ich sogleich verstand“.79 Hinzu kommt, daß die Hymnen nicht nur in der Materialität der Werkerscheinung, sondern auch inhaltlich Szenen der Schwellenüberschreitung und der Grenzziehung versammeln: Einsame und Geselligkeitsflüchtlinge bevölkern die Szenerien (GW 2, 11, 12, 14), Strandgänger und Uferläufer (GW 2, 10, 19, 21), Blicksuchende und Beziehungslose tauchen in den Gedichten auf (GW 2, 15, 20). Am Ende schließen „die Gärten“ der Hymnen und deuten zugleich den Weg zum folgenden Gedichtband der Pilgerfahrten mit der offenen Frage an: „Ward dein hoffen deine habe? / Baust du immer noch auf ihre worte / Pilger mit der hand am stabe?“ (GW 2, 28). Auch die Zusammenstellung aus den Hymnen in den Blättern für die Kunst (1892; BfK I/1, 3ff.) und in der Auswahl (1899) bieten u. a. jeweils das erste und das letzte Gedicht als erstes und letztes Gedicht. Insofern stehen die Hymnen in bezug auf die zyklischen Formprinzipien des Werks an einer Schwelle, die seit Algabal die Sammlungslogik des lyrischen Werks von George bestimmt80: Sie ordnen wie die Pilgerfahrten die einzelnen Gedichte im wesentlichen chronologisch (GW 2, 92) und isolieren sie im Druck. Die Verteilung der Gedichte auf einer Doppelseite erzwingt das Umblättern, um von einem Gedicht zu einem neuen Gedicht zu gelangen.81 Bereits hier halten sich Grenzziehung und Grenzüberschreitung die Waage, denn zur ganzheitlichen Sichtbarkeit des auf ein Doppelblatt begrenzten Gedichts und zur entsprechenden Ausschließung der anderen Stücke eines Gedichtbandes aus dem Blickfeld kommt der Falz hinzu, den Mallarmé der Leseaufmerksamkeit erschlossen hat82; diese Papiergrenze muß das Auge beim Lesen überqueren. Die Hymnen lassen aber die vereinzelten Gedichte nicht in ihrer Isolierung stehen, sondern variieren in auffälliger Weise eine Gruppe von Motiven und Figuren und markieren _____________ 78 79 80 81 82
Vgl. über „das doch nicht äusserliche“ C. A. Klein: Unterhaltungen im grünen Salon III. (BfK I/5, 144f.). George / Hofmannsthal: Briefwechsel, S. 235. Simons: Die zyklische Kunst im Jugendwerk Stefan Georges, S. 290ff., insbes. S. 330ff. Simons: Die zyklische Kunst im Jugendwerk Stefan Georges, S. 266f. – Ausnahmen bilden die Doppelgedichte der Neuländischen Liebesmahle und Bilder. Zur gemeinsamen „Machart“ und „Haltung“ vgl. ebda., S. 271. Z. B. Mallarmé: Kritische Schriften, S. 254f. – vgl. zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden im Werk Georges und Mallarmes Wais: Stefan George und Stéphane Mallarmé, der allerdings auf die Materialität der Kommunikation nicht eingeht.
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durch die Rahmung des Anfangs- und Endgedichts ein Beziehungsgefüge und einen inneren Zusammenhang.83 Der Initiationsband des lyrischen und damit des ‚neuen‘ und eigenen Werks vereinigt auf diese Weise die Prinzipien von Kontinuität als Eigenschaft des Gesamtwerks und von Zyklizität als Merkmal des einzelnen Sammelwerks, in dem sich dann wiederum die relative Autonomie des Einzeltextes und dessen Abhängigkeit vom Ganzen wechselseitig bestimmen.84 Später wird dieses Verfahren durch die Stefan-George-Schrift, die ein „Gleichgewicht[s] von Vereinzelung und Verbindung“ herstellt, auf das Verhältnis der Zeilen in der Strophe, der Wörter in der Zeile und der Buchstaben innerhalb der Wörter übertragen.85 Um es im Blick auf die Aufmerksamkeitslenkung als These zu formulieren: Zyklische Strukturen machen das (in sich gestufte) Gesamtwerk zum privilegierten Kontext des Einzelwerks und umgekehrt. Es absorbiert und verbraucht gleichsam die Energien einer Beobachtung zweiter Ordnung, die andernfalls für literaturkritische Behandlungen des Werks oder für literatur- oder gar kulturgeschichtliche Kontextualisierungen zur Verfügung stehen würde – der Erfolg dieser Werkanlage läßt sich am Beispiel der George-Forschung überprüfen, die sich in zwei deutlich unterschiedene Stränge teilt: in Analysen, die sich den Texten, und in Rekonstruktionen, die sich den Kontexten zuwenden. a) Die Grenzen des Werks Vor diesem Hintergrund, also vor der Frage nach der Aufmerksamkeitslenkung in der Werkinitiation, gewinnt der Eingang der Hymnen seine spezifische Bedeutung. Wolters bezeichnet sie treffend als „Geburt des Werkes“:86 Weihe Hinaus zum strom! wo stolz die hohen rohre Im linden winde ihre fahnen schwingen Verbietend junger wellen schmeichelchore Zum ufermoose kosend vorzudringen.
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86
Vgl. dazu Simon: Hymne und Erhabenheit im 19. Jahrhundert, S. 357f. Zu weiter reichenden Deutungen des zyklischen Prinzips vgl. Braungart: Ästhetischer Katholizismus, S. 265ff.; zu den Hymnen ebda., S. 277f. So zumindest in Wolters’ Auslegung der Schrift: Das Ziel der StG-Schrift habe darin bestanden, „daß die enge Zurichtung der Buchstaben zum Wortbild, der enge Anschluß zur Bildung einer dichten Zeile und die feste Fügung der Zeilen zum geschlossenen Block“ ermöglicht wurde (Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 147). Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 26.
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Im rasen rastend sollst du dich betäuben An starkem urduft ohne denkerstörung · So dass die fremden hauche all zerstäuben. Das auge schauend harre der erhörung: Siehst du im takt des strauches laub schon zittern Und auf der glatten fluten dunkelglanz Die dünne nebelmauer sich zersplittern? Hörst du das elfenlied zum elfentanz? Schon scheinen durch der zweige zackenrahmen Mit sternenstädten selige gefilde Der zeiten flug verliert die alten namen Und raum und dasein bleiben nur im bilde Nun bist du reif nun schwebt die herrin nieder · Mondfarbne gazeschleier sie umschlingen Halboffen ihre traumesschweren lider Zu dir geneigt die segnung zu vollbringen Und als ihr mund auf deinem antlitz bebte So rein und so geheiligt sie dich sah Dass sie im kuss nicht auszuweichen strebte Dem finger stützend deiner lippe nah87
Weihe entwirft als Initialgedicht eine Topo(i)graphie des Dichtungsbeginns, und dies nicht nur, weil es den Eröffnungszug von Baudelaires Fleur du Mal wiederholt, die nach Au Lecteur mit der Bénédiction fortfahren.88 Weihe ruft darüber hinaus antike89 und christliche90 Inspirationsvorstellungen auf mit dem Musenkuß und mit der Vorstellung der „segnung“; das Gedicht spielt mit Motiven der romantischen Flucht in die Natur als Dichtungsraum;91 es schließt an die Tradition der genialen Melancholie an, die durch die zumindest angedeutete Geste des in die Hand geschmiegten Kopfes eingespielt wird;92 es zitiert die empfindsame Inspirationsszene, die Klopstock in Die Stunden der Weihe gestaltet hat;93 und es evoziert die allegorische Darstellung der Nacht in einem Schleiergewand, geschmückt _____________ 87 88 89 90 91 92 93
George: Hymnen, S. 2f. Arbogast: Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache, S. 86. Kolk: Literarische Gruppenbildung, S. 16f. David: Stefan George, S. 45. Dazu gehört auch die Vision des Elfentanzes (Böschenstein: „Weihe“, S. 12). Kolk: Literarische Gruppenbildung, S. 17ff. Arbogast (Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache in den Frühwerken Stefan Georges, S. 99) vermutet, daß George von Erich Schmidt, der über Klopstocks „Jugendlyrik“ gearbeitet hatte und bei dem George im Wintersemester 1889/90 studiert, auf die historisch-kritische Klopstock-Ausgabe, die 1889 erschienen war, aufmerksam gemacht worden ist.
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mit Attributen des Mondes.94 Schließlich ist das Gedicht mit den Elementen ausstaffiert, die den Topos des locus amoenus auszeichnen: mit Baum, Wasser und Lufthauch.95 Die Weihe greift damit auch auf eine der Ursprungsgeschichten der abendländischen Literatur zurück, auf die bukolische Erfindung der Poesie aus dem Geist des Müßiggangs und der Mimesis naturhafter Laute, die sich als Entstehungsort der Poesie seit den Vergil-Kommentaren ins Bildgedächtnis der poetologischen Selbstverständigung eingeprägt hat.96 Anders gesagt: Die Weihe ist ein literatur- und motivgeschichtliches Sammelbecken, und es kann von hier aus gesehen kaum mehr verwundern, daß die Hymnen nicht auf Georges Reisen zu den Orten der europäischen Avantgarde in den Jahren nach seiner Schulzeit entstehen, sondern während seines Philologiestudiums in Berlin.97 Als Initiationsgedicht ist die Weihe freilich nicht nur ein Beginn, sondern auch ein Abschieds-, ein Abwehr- und Fluchtgedicht; es ist ein Gedicht über das Überqueren und Ziehen von Grenzen, das nicht nur motivisch oder thematisch, sondern auch strukturell die für George charakteristische Arbeit an „Liminalitätspositionen“98 präfiguriert. Bereits in der ersten Strophe markiert der Eingang des Gedichts den Eintritt in einen Raum, der sich von einem außerhalb des Gedichts liegenden Gebiet abgrenzt. Gleichzeitig werden neue Grenzen errichtet, und zwar zum einen, indem das Gedicht einen Konflikt durchspielt („hohe[ ] rohre“ vs. „junger wellen schmeichelchore“), zum anderen, indem der kultivierte, zivilisierte und gesellschaftliche Raum metaphorisch wieder eingeholt wird: Die „stolzen“ und „hohen rohre“ tragen der Naturszene soziale Hierarchien ein; die schwingenden „fahnen“ evozieren wie die „nebelmauer“ und die „sternenstädte[ ]“ architektonische Vorstellungen – wenn diese Verse tatsächlich auf das Berliner Schloß Bellevue anspielen sollten, wie Morwitz unter Berufung auf George und die „Aufschrift“ annimmt99, würde dies ebenso ‚ins Bild‘ passen wie die Assoziation der „alten Bauten und Mauern“ am Rhein.100 Der Agon innerhalb der Natur schließlich ver_____________ 94 95 96
Borchmeyer: Das Theater Richard Wagners, S. 265. Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 202ff. Vgl. dazu auch die Bemerkungen zu Manuel im Schlussband der Gesamt-Ausgabe, wo die ‚Kindlichkeit’ des Ausdrucks und die ‚Urmenschlichkeit’ kombiniert werden (GA 18, 6). 97 Boehringer: Mein Bild von Stefan George, S. 40; Seekamp u. a.: Stefan George, S. 14f. 98 Groppe: Widerstand oder Anpassung? S. 70. Vgl. zur primär negatorischen Selbstpositionierung des frühen George Müller: Ästhetischer Absolutismus I: Stefan George, S. 185f.; hier auch zum ‚Park’ als privilegiertem ‚abgegrenztem’ und mit absolutistischer Geste regierbarem Naturraum (ebda., S. 190; s. auch 6.3 a). 99 Morwitz: Kommentar zum dem Werk Stefan Georges, S. 8; ebenso: Böschenstein: „Weihe“, S. 11. Zum Geburtsort Georges als Ursprung der Dichtung vgl. Mommsen: Der Rhein und das Rheinland in der Dichtung Stefan Georges, S. 29. 100 Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 8; zu Bellevue vgl. ebda., S. 25.
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leiht den Vorgängen politische, pädagogische oder moralische Dimensionen. Die Varianten des dritten Verses verstärken diesen Eindruck:101 In den Handschriften und im Erstdruck „verbieten[ ]“ es die „hohen rohre“ dem „schmeichelchor[ ]“, vorzudringen, in den Blättern für die Kunst „neinen“ sie den Übertritt der Schwelle zwischen Land und Wasser (GW 2, 101), später „wehren“ sie die Verführungsmächte ab (GW 2, 10).102 Die Weihe gibt damit eine Art Vorblick auf die Strategien der Abgrenzung, die die Einleitung der Blätter für die Kunst 1892 in Form eines l’artpour-l’art-Programms praktiziert (BfK I/1, 1f.): Der name dieser veröffentlichung sagt schon zum teil was sie soll: der kunst besonders der dichtung und dem schrifttum dienen, alles staatliche und gesellschaftliche ausscheidend. Sie will die GEISTIGE KUNST auf grund der neuen fühlweise und mache eine kunst für die kunst – und steht deshalb im gegensatz zu jener verbrauchten und minderwertigen schule die einer falschen auffassung der wirklichkeit entsprang. sie kann sich auch nicht beschäftigen mit weltverbesserungen und allbeglückungsträumen in denen man gegenwärtig bei uns den keim zu allem neuen sieht, die ja sehr schön sein mögen aber in ein andres gebiet gehören als das der dichtung. Wir halten es für einen vorteil dass wir nicht mit lehrsätzen beginnen sondern mit werken die unser wollen behellen und an denen man später die regeln ableite. Zwar werden wir auch belehrend und urteilend die neuen strömungen der literatur im in- und ausland einführen, uns dabei aber so sehr wie möglich aller schlagworte begeben1 die auch bei uns schon auftauchten und dazu angetan sind die köpfe zu verwirren. Es sei hervorgehoben dass wir jeder fehde abgeneigt sind: wenn wir diese blätter verbreiten so geschieht es um zerstreute noch unbekannte ähnlichgesinnte zu entdecken und anzuwerben. Welche gestalt das unternehmen (ob einfacher ob vergrössert) gewinnt wird unsern lesern mitgeteilt. Enthalte man sich auch allen streites und spottes über das leben wobei - wie Goethe meint - nicht viel herauskommt. In der kunst glauben wir an eine glänzende wiedergeburt. 1
Symbolismus Dekadentismus Okkultismus usw.
_____________ 101 Freilich lassen sich auch diese politischen (bzw. militärischen) und sozialen (bzw. aristokratischen) Abgrenzungsbewegungen als Teile einer spezifischen Kunstsemantik ausweisen, etwa mit Mallarmés Hérésies artistique. L’art pour tous (1862). Sie empfehlen der Kunst, sich wie die Religion hinter Geheimnissen zu verschanzen, hinter „fomules hiératiques“: „L’homme peut être démocrate, l’artiste se dédouble et doit rester aristocrate“ (Mallarmé: Kritische Schriften, S. 20, 26). Die Heiligkeit der Kunst als Gemisch aus Erwähltheit und Offenbarung, die Konzeption des Kunstkriegs, die Verteidigung des Eigensinns der Kunst gegen die Okkupationsversuche von Wissenschaft und Pädagogik sowie eine aristokratische Sozialsemantik der Kunst verbünden sich zu einem komplexen Kunstkonzept. 102 Vgl. hingegen Durzak, der an dieser Stelle „eine paradigmatische Wendung von der zivilisatorischen Realität der Moderne zurück in die erwünschte Ursprünglichkeit der Natur“ findet, allenfalls versehen mit Elementen der ‚Verfremdung’ (Zwischen Symbolismus, S. 24).
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Die Grenzziehungen sind so unsicher wie der letzte Satz des Programms, der offen läßt, was ‚wiedergeboren‘ werden soll: Das „staatliche“ und „gesellschaftliche“ soll ausgeschieden werden, und dennoch integrieren die Blätter für die Kunst die staatsbürgerliche Haltung, das „dienen“, in ihr Projekt; „schlagworte“ sollen keine Rolle spielen, und dennoch werden Schlagworte angeführt, die dadurch erst gesetzt werden („Symbolismus Dekadentismus Okkultismus usw.“). Die Kunst soll zwar für sich allein stehen, aber aus der Logik der Ökonomie heraus und völlig zutreffend wird die Verkündigung dieses solitären Status als ‚Anwerbung‘ deklariert. Bei allem Willen zur Begrenzung tendiert George immer schon zur Überschreitung der selbst gesetzten Limitationen. Die für die Hymnen typische Inszenierungen von Liminalität und transgressiven Bewegungen, jene Kippfiguren, die Grenzen ziehen, um Grenzen zu überwinden, betreffen dabei in Weihe neben der Natur, die heraufzitiert und dann durchgestrichen wird103, vor allem zwei Koordinatensysteme: die Sprache und das Denken, mithin jene anthropologischen Fundamentalkategorien, die für die Erfindung einer „geistigen Kunst“, wie sie die Blätter für die Kunst annoncieren, zentral sind. Die Aufforderung „Hinaus zum strom!“ setzt durch den Anschluß „wo stolz die hohen rohre“ um, was sie als poetologische Aussage proklamiert, und dies mit und zugleich gegen die Sprache. Der assonantische „strom“ beginnt vor der Zäsur, den das Satzzeichen markiert. Er überspielt klanglich die Zäsur nach der zweiten Senkung, die noch in den ersten Fassungen, die weitgehend ohne Satzzeichen auskommen, durch ein Ausrufezeichen markiert wird, durch ein Zeichen mithin, daß man im ersten Vers des als Anfang inszenierten Gedichts eines Lyrikers, der die syntaktischen Gliederungsmittel der gängigen Schriftsprache aus seinen Werken verbannt, kaum sensationeller hätte einsetzen können. Selbst in der Mikrologie der Sprachgestaltung also verhandelt die Weihe Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen. Die Sprache beginnt tatsächlich zu strömen, allerdings mit und gegen ihre Selbstblockierung.104 Sie wird zu einem „melodienstrom“, den fünf Gedichte später Neuländische Liebesmahle I nennt (GW 2, 16) und den Georges Leser als Interpretationsmodell aufgreifen. Anfang 1892 schreibt Fritz George an Ida Coblenz: „Fräulein Ida, ich möchte Ihnen was anvertrauen. Mein Bruder Schtefan – ja, unser Schtefan dicht’t! Und denken Sie, jetzt sind seine _____________ 103 Mit Simon kann man dies als Reaktion Georges auf den „Prozeß der Vernichtung des Naturerhabenen“ lesen (Hymne und Erhabenheit im 19. Jahrhundert, S. 371). 104 Vgl. hierzu Arbogasts zentrale These, daß das Georgesche Frühwerk als fortwährend verdichtete Kombination des „Lieds“ mit den Charakteristika der „harten Fügung“ zu verstehen ist (Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache in den Frühwerken Stefan Georges, S. 132). In diesem Sinne auch Jacob: Stefan Georges ‚Hymnen’, S. 30ff., 42.
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ersten Gedichte gedruckt worden, und wir können sie nicht verstehen, keiner von uns, und ich meine bestimmt, Sie würden sie verstehen“.105 Fritz täuscht sich in gewisser Hinsicht: Auch Ida Coblenz hat große Deutungsschwierigkeiten. Aber er behält insofern recht, als sie mit dem Unverständlichen verständnisvoll umgeht. Sie antwortet im Blick auf die Hymnen von „Schtefan“: Sie haben etwas ganz Eigenartiges: der Klang der einzelnen Strophen hat sich mir eingeprägt nachdem ich sie einmal gelesen, ehe ich die einzelnen Worte behalten hatte. Das Ganze ist wirklich ein ‚Melodienstrom‘. Ich stelle die Klangschönheit der Gedichte über ihren Inhalt – vielleicht weil ich die Ideen des Dichters nicht immer ganz zu erfassen vermag [...].106
Der „melodienstrom“ der Sprache, den George in Weihe ansteuert, überschreitet demnach die auf Kommunikation, Verständnis und Benennung angelegte Sprache107, um die Ideenkunst108 zu realisieren, auf die die symbolistische Variante des l’art pour l’art zielt. Mallarmé hat dann ja die Hymnen auch mit mehr als freundlichen Worten bedacht109, und Albert Saint-Paul erklärt bündig: „Vous voilà désormais le poète symboliste de l’Allemagne“ (GW 2, 90). Wie die symbolistische Evokationsästhetik entfaltet Georges Werk eine geradezu hypnotische Wirkung. In ihren Memoiren (1935) erinnert sich Coblenz: „Es geschah das Wunder, daß ich [...], nachdem ich die ersten Gedichte gelesen hatte, wußte, nicht nur fühlte, was ich da in Händen hielt. Ich gab mich dem nie gehörten Klang ganz und gar hin; ich war Georgianerin geworden; die erste, die es gab“.110 Diese Bewußtlosigkeit wird im Rückblick festgestellt und daher imprägniert durch die Möglichkeit, überhaupt „Georgianerin“ werden zu _____________ 105 George / Coblenz: Briefwechsel, S. 77. 106 George / Coblenz: Briefwechsel, S. 29. 107 Vgl. dazu z. B. Simons (Die zyklische Kunst im Jugendwerk Stefan Georges, S. 260), der für die Hymnen und ihre schriftliche Gestaltung Taktiken der Verunklärung summiert: „die Verschleierung der Substantive durch die Minuskelschrift“, „der sparsame Gebrauch von Artikel[,] Konjunktionen und Partikel, die häufigen Inversionen und die seltsamen, oft sinnsperrigen Wortverbindungen“, die „Undurchsichtigkeit der lyrischen Personen und das Auftreten des redenden Ichs in mehreren verbalen Persönlichkeitsformen“, die es erschweren „festzustellen, um wen es sich in den Gedichten überhaupt handelt“. 108 Die Formel „im bilde“ kann sich direkt darauf beziehen, denn George übersetzt „Idee“ mit „denkbild“ (Groppe: Die Macht der Bildung, S. 436). 109 Am 28. Februar 1891 schreibt Mallarmé an George: „Mon cher poëte[,] Votre adresse qui me manqua d’abord, voilà pourquoi mon silence: car aussitôt reçu votre livre était lu, traduit autour de moi. J’ai été ravi pa le jet ingénu et fier, en de l’eclat et la rêverie, de ces Hymnes (nul titre qui soit plus beau); mais aussi, mon cher exilé (je dirai presque, oui) que vous soyez par votre main d’œuvre, si fine et rare, un des nôtres et d’aujourd’hui. Croyez enfin à mon meilleur souvenir. Stéphane Mallarmé“ (zit. nach Boehringer: Mein Bild von Stefan George. Textband, S. 202). Zur nur oberflächlichen literarischen Affinität zwischen Mallarmés und Georges Werk vgl. Osterkamp : Nachwort, S. 235. 110 George / Coblenz: Briefwechsel, S. 78.
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können. Entsprechend transzendiert Weihe programmatisch eine rationalistische Ordnung und redet der „betäubung“ das Wort: „[O]hne denkerstörung“ soll man sich dem „urduft“ hingeben. Damit verkündet das Gedicht eine weitere Überschreitung, die aus dem Sekundären und Abgeleiteten zu einem wie auch immer gearteten Ursprünglichen führt („urduft“). Dieses Wendung ins Ursprüngliche wiederum soll die „fremden hauche all zerstäuben“, ein Projekt, an dem George in den folgenden Gedichtausgabe arbeiten wird, etwa im Buch der hängenden Gärten, wo „das eigne hauchen“ eines der Sehnsuchtsziele markiert.111 Die „fremden hauche“ sind nach einer plausiblen Deutung von Hubert Arbogast als ‚fremde Dichtung‘ zu decodieren. Sie übersetzen das französische „souffle“, eine bei den Parnassiens im Sinn von dichterischem Einfluß, Eingebung oder Dichtungsweise verwendete Vokabel.112 Zugleich verweist die Verdrängung des ‚Hauchs‘ als Übersetzung des griechischen und lateinischen „aura“ auf das generelle Ziel, von Fremdreferenz auf Selbstreferenz umzuschalten, da die „aura“ traditionell keine Zuschreibung, sondern eine objektive Eigenschaft bezeichnet.113 Dies wiederum führt auf den französischen Begriff „auréole“, der sowohl den Heiligenschein als auch die Dichterkrone bezeichnet. Baudelaire hat dem Verlust dieser Auszeichnung im „chaos“ des modernen Verkehrs in Perte d’auréole ein Gedicht gewidmet.114 Daß bereits die Übersetzungsleistung („hauch“ als „souffle“, „aura“ oder „auréole“) dementiert, was sie behauptet, daß sie die „fremden hauche“ nicht zerstäubt, sondern gewissermaßen von ihnen durchweht wird, sollte indes ebenso irritieren, wie die eigentümliche Kombination der Ursprünglichkeitsprogrammatik mit der Zitationspraxis eines Gedichts, das – wie gezeigt – eine Zusammenschau der abendländischen Inspirationssemantik anbietet.115 George selbst bestätigt _____________ 111 „Als wir hinter dem beblümten tore / Endlich nur das eigne hauchen spürten / Warden uns erdachte seligkeiten? / Ich erinnere dass wie schwache rohre / Beide stumm zu beben wir begannen / Wenn wir leis nur an uns rührten / Und dass unsre augen rannen – / So verbliebest du mir lang zu seiten“ (GW 3, 88). 112 Arbogast: Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache in den Frühwerken Stefan Georges, S. 91, 156 – ein Beispiel bei Mallarmé findet sich beispielsweise in Anfangssequenz von L`après midi d’un faun, was wiederum für die Weihe wegen der ‚Rohre’ als Anspielung auf die Panflöte ‚von Bedeutung’ ist. Dazu würde Arbogasts Interpretation passen, die bei George das Eindringen der harten Fügung in den fließenden Stil der Lieddichtung demonstrieren will und in diesem Zusammenhang Wert legt auf die Häufung der vers-commun-Zäsur nach der dritten Senkung in Weihe (hiernach in V 1, 2, 4, 5, 8, 9, 14, 15, 17, 20, 21-24) (Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache, S. 89f., 125). 113 Spangenberg: Aura, S. 401. 114 Baudelaire: Sämtliche Werke / Briefe. Bd. 8, S. 284. 115 Auch Wolters merkt diese Doppelorientierung an, schlägt sich aber erwartungsgemäß auf die Seite des „geheimnisvolle[n] Zauber[s] der Neubeseelung unserer Sprache“ (Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 27).
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ja bei aller Kritik an der Kritik Rouges Zweifel an seiner Innovationsbehauptung: „haftet nicht an jeder umwälzung ein makel des alten standes [...]“.116 Nur: Hätte dieser „makel“ so deutlich sein müssen? Die ersten sieben Verse der Weihe erweisen sich aus dieser Perspektive als ein ständiges Durchkreuzen von Programm und Praxis und als Realisierung des Programms gegen seine Sprache mit der Sprache: Die Flucht in die Natur führt in einen sozialisierten Naturraum; und auf die Geste der Befreiung („hinaus“) folgt eine Szene der Disziplinierung („wehren“ bzw. „verbieten[ ]“ oder „neinen“). Die Befreiung des Sprach-„Stroms“ setzt sich sprachlich gerade gegen die in der Emphase der Befreiung gesetzte Zäsur durch. Und die Überschreitung der Ordnung einer auf Kommunikation angelegten Sprache hin zu einer Sprache der Evokation, von der „denkerstörung“ hin zum „betäuben / An starkem urduft“ entspricht zwar der regressiven Negierung von Tradition (die „fremden hauche […] zerstäuben“), aber diese antitraditionalistische Haltung wird formuliert in Übersetzungen und Zitaten. Daß schließlich in der zweiten Strophe ein kompliziertes syntaktisches, lautliches und semantisches In- und Gegeneinander realisiert wird, sei zumindest erwähnt: Die Folge des SprachStroms wird dreifach unterbrochen, zum einen durch die in Parenthese eingefügte „denkerstörung“, die somit syntaktisch das tut, was semantisch vermieden werden soll – in der Erstausgabe fehlen die Zeichen vor und nach „ohne denkerstörung“, was allerdings durch das Versende auf der einen Seite und durch einen leicht erweiterten Zwischenraum zwischen „urduft“ und „ohne“ ausgewogen wird.117 Zum anderen unterbricht George den Sprach-Strom durch das Satzende im dritten Vers, das den Zusammenhang der Strophe auflöst. Der dadurch abgespaltene letzte Vers ist wiederum zweigeteilt, weil er in der Lautstruktur in seiner ersten Hälfte den „melodienstrom“ der Sprache der ‚Betäubung‘ weiterspielt (z. B. „hauche“ – „auge“ – „schauend“), dann aber im Endreim („erhörung“ – „denkerstörung“) das Auszuschließende einschließt. In diese Struktur paßt sich schließlich auch die genaue Negation der gattungsgeschichtlichen Vorgaben der Hymnik ein (dialogische Struktur, Enthusiasmus, Fremdinspiration u. a.), die allenfalls im Verlauf der gesamten Hymnen-Sammlung wieder eingeholt werden.118 Die Grenzen, die das Gedicht behandelt und die es in seinem Vollzug setzt, werden also immer wieder gebrochen, überquert, verschoben, die Limitationen verunklären sich. Diese Taktiken der Verunklärung bestimmen auch den weiteren Gedichtverlauf. Sie setzen sich beispielsweise in _____________ 116 Boehringer: Mein Bild von Stefan George. Textband, S. 39. 117 George: Hymnen, S. 2. 118 Simon: Hymne und Erhabenheit im 19. Jahrhundert, S. 360ff.
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den synästhetischen Strukturen fort, die das Visuelle und das Auditive verknüpfen (das „auge […] harr[t] der erhörung“) und die nach zeitgenössischer Vorstellung damit gleichermaßen Anschaulichkeit wie Hörbarkeit irritieren;119 sie bestimmen die in sich widersprüchliche Metaphorik und Bildlichkeit (wenn beispielsweise eine „nebelmauer sich zersplitter[t]“), so daß die Beschaffenheit des Gegenstandes gegen seine metaphorische Benennung ausgespielt und damit zugleich die Natur erneut – im Rückgriff auf das Festungsbild der ersten Strophe – kulturalisiert wird; sie prägen die Ästhetisierung und Geometrisierung des Naturraums („der zweige zakkenrahmen“ machen „raum und dasein“ zum „bilde“), die dem Programm der Regression auf der einen, der Inszenierung irrisierender Beweglichkeit („schwingen“, „zerstäuben“, „zittern“) auf der anderen Seite zuwider laufen; sie korrodieren die Rahmung und Begrenzung eines Natur-„bilde[s]“, das eben dadurch in Tiefendimensionen („sternenstädte[ ]“, „selige gefilde“) und in die Anonymität entgrenzt wird („Der zeiten flug verliert die alten namen“); sie durchziehen eine bis ins einzelne Wort hineinreichende Kombination von Gegensätzen wie ‚hell‘ / ‚dunkel‘ („dunkelglanz“) und Überblendung von Unterschieden wie ‚männlich‘ / ‚weiblich‘ („herrin“); und schließlich betrifft jenes Ineinander des Gegeneinander verschiedener Ebenen auch die Temporalstruktur der Einleitungshymne: Die letzte Strophe wechselt vom Präsens ins Präteritum und verkehrt auf diese Weise den zeitlichen Ablauf, so daß man dies als Inversion der linearen Wortfolge lesen kann. Sind die Worte der ersten fünf Strophen unter Bedingung der Inspirationsszene der letzten Strophe formuliert? Oder ist die Selbstbearbeitung („sollst du dich betäuben“) das Initialmoment der Inspirationsbereitschaft („nun bis du reif“), die somit als Verfahren der Auto(r)suggestion erscheint?120 Die letzte Strophe der Weihe bündelt die Schwierigkeiten der Deutung: Sie schließt unmittelbar an die vorangehende Strophe an, auf die sie sich grammatikalisch bezieht und mit der sie sich durch einen Doppelpunkt, der sich ab der 2. Ausgabe der Hymmen findet (1899), verbindet. _____________ 119 Paetzold weist auf den in den jeweiligen Theorien stets unsicheren Status der Synästhesie zwischen Normalität und „Abnormität“ hin (Synästhesie, S. 843). 120 So Kaufmann: Loblied, Gemeindegesang und Wechselrede, S. 37 – allerdings stimmt die Behauptung, „in dem Moment“ des Erscheinens der „herrin“ wechsle George das Tempus, nicht, denn es heißt explizit: „nun schwebt die herrin nieder“. Aus einer klinischen Perspektive würde man die Weihe im 19. Jahrhundert wohl im übrigen schlicht als autohypnotischen Zustand verbucht haben, der sich durch die „gespannte Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand“ ergibt – so die Definition von „Autohypnose“ im Artikel „Hypnose“ in: Brockhaus’ Kleines Konversations-Lexikon, Bd. 1, S. 844. Zur Bedeutung der Hypnose als eines der zentralen Felder für die Diskussion von Aufmerksamkeitsproblemen vgl. Crary: Aufmerksamkeit, S. 59ff., 185ff. Immerhin hätte demnach George, der sich zu dieser Zeit vermutlich in Paris aufhielt, den Ersten internationalen Hypnose-Kongreß miterleben können, der vom 8. bis 12. August 1889 in der französischen Metropole stattfand.
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Zugleich unterbricht, wie erwähnt, gerade an dieser Stelle der Zeitsprung den Bedeutungsanschluß und isoliert ein syntaktisches Gefüge, das dadurch seinen Hauptsatz verliert. Wieder also blockiert der „strom“ der Sprache, den die Übergängigkeit zwischen den Strophen erzeugt, sich selbst, und dieser Selbstblockierung korrespondiert eine gesteigerte Deutungsunsicherheit. Ralf Simon hat die entsprechenden Möglichkeiten für die Deutung der Schlußstrophe ausformuliert: Wie ist zu lesen? Führt das lyrische Ich die Muse, die nur die Stirne küßte, mit dem Finger an die Lippe, so daß sie nicht ausweichen konnte? Wird also die Inspiration durch eine Geste der Gewalt erzwungen? Oder ist von einem das Antlitz treffenden Windhauch, der sich zur Muse personalisiert, die Rede? Eine andere und plausiblere Lesart könnte das letzte Wort als Substantiv verstehen: das Nahe. Dann würde der Kuß dem Finger, der das Nahe der Lippe stütze, gelten. Die Muse würde dann nicht nur den Finger als Metonymie des Schreibstiftes küssen und damit das Geschriebene nachträglich legitimieren, sie würde zudem die Melancholiegeste des Dichters, der seinen Kopf so stützt, daß sich seine Finger in der Nähe der Lippe befinden, gutheißen.121
An dieser Stelle ist einerseits wichtig, daß die Entscheidung für eine Deutungsmöglichkeit sich vor erhebliche Schwierigkeiten gestellt sieht, und andererseits, daß Georges Unklarheiten die synästhetischen Überblendungen der vorangegangenen Strophen aufgreifen und sie ins Poetische und Poetologische eintragen. Visuelle und auditive Wahrnehmung verschachteln sich in einer undurchsichtigen Inspirationsszene, in der „mund“ und „antlitz“ in Kontakt kommen und in der „finger“ und „lippe“ gleichermaßen zum Telos der inspiratorischen Zuwendung zu werden scheinen. Dies geschieht mit aller Konsequenz: Nur in einer der ersten handschriftlichen Fassungen ‚bebt‘ der „mund“ nicht auf „deinem antlitz“, sondern auf „deiner lippe“ (GW 2, 101). Das folgende Gedicht Im Park präzisiert diese ‚Doppeldeutigkeit‘. Es führt von der freien Natur in die gestaltete, präsentiert wiederum eine Verführungs- und eine Disziplinierungssituation und stellt erneut eine Szene am Rand dichterischer Produktivität dar: Der dichter auch der töne lockung lauscht Doch heut darf ihre weise nicht ihn rühren Mit seiner geisterwelt er rede tauscht Er hat den griffel der sich sträubt zu führen (GW 2, 11, 101)
_____________ 121 Simon: Hymne und Erhabenheit, S. 358f. Vgl. hingegen einsinnige Auflösungen bei Morwitz, der meint, der Dichter versuche, „mit seinem Finger“ den „Kopf und Mund“ der Muse „dem seinen nahe“ zu bringen (Kommentar zu dem Werk Stefan Georges, S. 9), oder bei Durzak, der sieht, „wie der Dichter mit der Hand nach dem Kopf der Muse greift, um ihre Lippen den seinen nahezubringen“ (Zwischen Symbolismus, S. 27).
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Im Zusammenhang mit Weihe gelesen, setzt Im Park die Demontage der musischen Inspiration insofern fort, als das Gedicht die Unentschiedenheit zwischen Fremd- und Selbstinspiration in Eingangsgedicht zugunsten der Eigenbezüglichkeit des Dichters auflöst und an die Stelle der hymnischen Begeisterung, die traditionell auf den Musenkuß zu folgen hätte, die Techniken der Spracharbeit treten läßt (6.1 b).122 Daß George im Anhang des entsprechenden Bandes der Ausgabe letzter Hand gerade die „frühere Fassung“ von Im Park abdruckt (GA 2, 128), holt editorisch die Ästhetik der Werkarbeit ein. Wenn man Weihe, wie hier vorgeschlagen, als eine Szene der Liminalität deutet, die sich im Medium literarischer Kippfiguren abspielt, dann beschreibt der Schlußpassus von Im Park erneut jenen Versuch der Überwindung einer sich selbst blockierenden dichterischen Produktivität. Diese Wendung der Sprache gegen sich selbst und die Überwindung und Transgression sprachlicher Routinen mittels der Sprache bildet George seiner dichterischen Initiation bis in die Mikrostrukturen des sprachlichen Ausdrucks ein. Daß die „rede“ dabei mit dem in humanistischer Tradition stehenden ‚Geistergespräch‘123 assoziiert wird und daß diese logozentrische Auslegung der Mündlichkeit in Im Park die Voraussetzung für die Spracharbeit ist, die gegen den Widerstand des Materials ihre Produktivität entfaltet, verkehrt indes andeutungsweise die Logik der Medialität, wie sie das Ende der Weihe vorstellt: Dort war es – zumindest einer Deutungsvariante zufolge – der „finger“ als Allegorie des „griffel[s]“124, der die „lippe“ stützte. Wird der „finger“ damit zur Voraussetzung und eigentlichen Grundlage oder übernimmt er lediglich eine Hilfsfunktion? Letzteres fügte sich in jene disziplinierende Geste am Gedichtanfang der Weihe, wo Hörbares als „schmeichelchor[ ]“ der „junge[n] wellen“ abgewehrt wird. Daß in Von einer Begegnung, dem fünften Gedicht der Hymnen, von der „lippen kühler welle“ die Rede ist, und daß sich darauf das Kreuzen der „schwelle“ reimt125, paßt zu den vielen Korrespondenzen, die die Hymnen durchziehen. Gleichwohl gehört auch das erwartungsvolle Lauschen zur Inspirationshoffnung von Weihe („Hörst du das elfenlied zum elfentanz?“). Entscheidend dürfte im Verhältnis von Weihe und Im Park daher vor allem sein, daß „mund“ und „antlitz“, „finger“ und „lippe“, „rede“ und _____________ 122 Simon: Hymne und Erhabenheit im 19. Jahrhundert, S. 359f. 123 Brogsitter: Das hohe Geistergespräch. 124 Simon: Hymne und Erhabenheit im 19. Jahrhundert, S. 359; vgl. hier auch zur ‚Gestik’ in und von Georges Gedichten: Mattenklott: Bilderdienst, S. 287ff. 125 Die Verse lauten: „Nun rufen lange schatten mildre gluten / Und wallen nach den lippen kühler welle / Die glieder die im mittag müde ruhten – / Da kreuzest unter säulen Du die schwelle“ (GW 2, 15).
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„griffel“, Geist und Materie, Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Hörbarkeit und Sichtbarkeit nicht in ein Ausschließungs- oder Hierarchieverhältnis gebracht werden, sondern daß auch hier Umschläge, Einschlüsse und Kippfiguren das Werk und seine Wahrnehmung bestimmen. Dies deutet zunächst darauf hin, daß für George Schriftlichkeit und Mündlichkeit, die Materialität der Zeichen und die Logozentrik der Verlautbarung wichtig sind, daß er gleichermaßen Wert legt auf die optische Gestaltung seiner Bücher wie auf deren auditive Realisierung.126 Das Werk wird einer umfassenden Aufmerksamkeit ausgesetzt, einer umfassenden Aufmerksamkeit freilich, die gerade dadurch Zonen der Diffusität und Unklarheit erzeugt: Lautes Lesen und stilles Lesen, die primär auditive wie die primär optische Realisierung des Werks akzentuieren unterschiedliche und durchaus widersprüchliche Werkeigenschaften wie Situationsabhängigkeit und raumzeitliche Konstanz, emotive Texterfahrung und kognitiven Nachvollzug, Tradierung und Innovation, bestätigendes und kritisches Leseverhalten, Öffentlichkeit und Privatheit, Körperlichkeit und Geistigkeit.127 Die genannten Taktiken der Verunklärung lassen sich als Elemente werkpolitischer Strategien128 verstehen, weil sie Wahrnehmbarkeit und Aufmerksamkeitsmuster justieren. Die Bildlichkeit der Weihe stiftet daher auch Bezüge zur Aufmerksamkeitstheorie des späten 19. Jahrhunderts, die das Herumschweifen der Aufmerksamkeit als Normalzustand bestimmt – nur das „Neue“, das George ja lyrisch in Szene setzen wollte (6.1), vermag, die Aufmerksamkeit zu fesseln.129 Diese Beweglichkeit und nur zeitweilig funktionierende Sortierungsleistung der Aufmerksamkeit wird als Fluidität des Bewußtseins konzipiert, als „kontinuierliche[r] Fluß“ wie bei Dilthey oder als „Gedankenstrom“, als „fortdauerndes Kommen und Gehen innerer Ereignisse“, als „Defilieren von Empfindungen, Gefühlen, Vorstellungen der geistigen Erinnerungs-Bilder“, als „periodische Schwankungen“ oder als wellenartige Rhythmen der Aufmerksamkeit. Die Limitationen der ‚Weihe‘, der Gang zum „strom“ und die Eindämmung der „wellen“ gehört somit zu einem größeren Ensemble von Projekten, die sich mit der Justierung des Beobachters beschäftigen. Diese Übergänglichkeit annoncieren auch die Synästhesien des Gedichts sowie die Momente von Intermedialität. Der abrupte Wechsel von _____________ 126 Ausführlich zum konfliktären Verhältnis von leisem und lautem Lesen bei George: Schäfer: Die Intensität der Form, S. 115ff. 127 Entsprechende Tabellen finden sich in den einschlägigen Untersuchungen zu Mündlichkeit und Schriftlichkeit, vgl. im Überblick z. B. Kloock / Spahr: Medientheorien, S. 237ff. 128 Dies im Sinne der Unterscheidung von Clausewitz, wonach die Strategie der „Gebrauch des Gefechts“, das von der Taktik bestimmt wird, „zum Zweck des Krieges“ ist (Clausewitz: Vom Kriege, S. 157, vgl. auch ebda., S. 92). 129 Hierzu und zum folgenden Crary: Aufmerksamkeit, S. 33, 54, 58, 308f.; vgl. auch Laak: Literarisches Wahrnehmen – ästhetisches Handeln, S. 193.
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Hören und Sehen, von Mündlichkeit und Schriftlichkeit subvertiert zwar eine klare sinnliche Orientierung, arbeitet aber zugleich einer umfassenden Aufmerksamkeit zu, die alle Vorkommnisse für gleichermaßen relevant hält und sie als Spiegelungen in einer Ordnung der Analogien auffaßt. Die „handbewegung“, die „stimme“, die „haarlocke“, der „endhaken der schrift“, die „höflichkeit“, die „arten“ des Verhaltens und noch das, was man nicht sieht, das „rückhalten“, sind Elemente einer neuen ‚selektionslosen Aufmerksamkeit‘, die George in seiner Lobrede auf Mallarmé als Exempel der Wahrnehmbarkeit des Werks entwirft.130 Gleichermaßen wahrnehmbar wie verborgen „scheinen“ jene Eigenschaften des Werks, die alternative Attraktionen der Aufmerksamkeit sind – nicht umsonst „schwebt“ die Inspirationsmacht mit „halboffen[en]“ Augen in einem transparenten Gewand („gazeschleier“), verdeckt und offenbart zugleich, „nieder“: Gleichermaßen wahrnehmbar wie verborgen „scheinen“ die Traditionen der Dichterweihe wie das singuläre Gedicht, das diese Traditionen in sich „zerstäubt“; wahrnehmbar wie verborgen „scheinen“ die Hörbarkeit der Schrift wie die Sichtbarkeit der Laute; und ebenso wahrnehmbar wie verborgen „scheinen“ im Spiel zwischen Selbstblockierung und Verflüssigung die Elemente der Sprache wie deren Beziehungen. Georges Werkpolitik wird von widersprüchlichen Bewegungen bestimmt: Er zentriert und dezentriert gleichzeitig die Aufmerksamkeit; er umzirkelt einen abgeschlossenen Bereich und lenkt die Aufmerksamkeit auf Kontexte und externe Abhängigkeiten; er zieht und überwindet permanent Grenzen. Dies gilt, wie gezeigt, für die sprachlichen Mikrostrukturen wie für das Verhältnis von Lauten und Versen oder Strophen; dies gilt für Makrostrukturen wie für das Verhältnis von Einzelgedicht und literarischer Tradition; und dies gilt für das Verhältnis von Einzelgedicht und Gedichtsammlung: Das Prinzip der Variation, das Georges Werk charakterisiert, verspricht eine Antwort, eine nähere Bestimmung der offenen Fragen, die sich durch seine Taktiken der Verunklärung ergeben. Wenn also die Sprache auf der einen Seite von ihren kommunikativen Funktionen entlastet wird, wird sie doch zugleich in neue Raster eingespannt. Die Befreiung der Worte und ihre Indienstnahme korrespondieren einander. Das Initialgedicht Weihe lenkt so den Blick auf die folgenden Werke. Zugleich biegen spätere Gedichte den Blick regelmäßig zurück auf den Beginn des ‚eigentlichen‘ Werks: Stets spielt George, und zwar vom Früh_____________ 130 So zumindest der Mallarmé-Lobrede zufolge: „Den jähen aufstrich in handbewegung stimme und (lächeln wir!) selbst in der bezeichnenden haarlocke und den endhaken der schrift · beinah schüchternes rückhalten und andrerseits bezaubernde höflichkeit die die neigungen und dauerndes verehren erobert · gewisse leicht britannische arten mit dennoch dem eifer eines gläubigen für seine sache: der mann Stéphane Mallarmé“ (GW 17, 46).
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werk131 bis zum Spätwerk,132 in einzelnen Gedichten auf seinen literarischen Werdegang an und ruft dem Leser das Gesamtwerk in Erinnerung. Dabei verändert sich im Laufe der Zeit durch die Publikation von Werken aus der Zeit vor den Hymnen in den Blättern für die Kunst, in der Fibel und im „Schlussband“ der Gesamt-Ausgabe das, was Georges ‚Früh-werk‘ ausmacht: Wie in Weihe gibt es auch im Gesamtwerk eine Art von nachgeholtem Anfang (6.4 c). An dieser Stelle ist entscheidend, daß George durch die Kippfiguren seiner Werkästhetik Aufmerksamkeit absorbiert und sie anderen Zwecken, wie etwa der Kritik, entzieht. b) Die Arbeit der Aufmerksamkeit Von hier aus lassen sich die bisherigen Beobachtungen zu den literarischen Verfahren und poetischen Taktiken Georges reformulieren und rekonzipieren: Georges Werk setzt ein mit dem Versuch, eine eigene Sprache zu finden, die nur eine begrenzte Gruppe versteht. Es geht ihm darum, „die fremden hauche all [zu] zerstäuben“ (GW 2, 10), wie es in Weihe heißt, um „das NEUE“, das für ihn in der „Lyrik“ lag, zu realisieren. Neu war dies freilich in Georges Werkentwicklung nur insofern, als er sich für Lyrik als Zentralgattung entschied und für die deutsche Sprache. Konzeptionell schließt er mit dem literarischen Programm einer radikalen Innovation an die bekannten Versuche aus seiner Jugend an, Geheimsprachen zu erfinden.133 In der Mallarmé-Lobrede, die um 1890 entsteht, ruft er diese Vorgeschichte auf: Jeden wahren künstler hat einmal die sehnsucht befallen in einer sprache sich auszudrücken deren die unheilige menge sich nie bedienen würde oder seine worte so zu stellen dass nur der eingeweihte ihre hehre bestimmung erkenne .. klangvolle dunkelheiten sind bei Pindar Dante und manche bei dem klaren Goethe. (GW 17, 47)
Diese „sehnsucht“ nach einer eigenen Sprache verunsichert den Sprecher, denn der Gedanke, sich kommunikativ zu isolieren, ist zumindest irritierend, zumal für einen publizierenden Künstler in Zeiten der Massenmedien. Auch aus diesem Grund, so könnte man vermuten, durchziehen Georges Frühwerk Situationen der Vergeblichkeit und des Scheiterns – die Melancholiker-Geste am Ende der Weihe präludiert eines der Motive, die für den Beginn des Werks prägend sind,134 und eine der Posen, in denen George sich selbst gefallen hat wie beispielsweise auf dem Porträt für _____________ 131 132 133 134
Vgl. z. B. am Ende von Algabal die Vogelschau (GW 2, 85). Vgl. z. B. im Stern des Bundes „All die jugend floss dir wie ein tanz“ (GW 8, 19). Wolters: Stefan George, S. 9, 23f.; Durzak: Der junge Stefan George, S. 33ff. Kolk: Literarische Gruppenbildung, S. 14ff.
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Das Jahr der Seele in der Ausgabe letzter Hand (GW 4, 3). Daß George zumindest retrospektiv seine Dichtung auch im Zeichen des Scheiterns gesehen haben wollte, wird insbesondere deutlich in der Aufschrift der Pilgerfahrten: Also brach ich auf Und ein Fremdling ward ich Und ich suchte einen Der mit mir trauerte Und keiner war. (GW 2, 30)
Von Im Park aus betrachtet, scheinen die Bemühungen, den Widerstand der Sprache und ihrer Medien zu überwinden, mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zu scheitern: Der „griffel der sich sträubt“, läßt sich von George offensichtlich nicht so führen, daß sich Zufriedenheit mit der eigenen Leistung einstellt. Die Arbeit gegen die Sprache und gegen die Sprachwerkzeuge findet mit der Sprache und mit den Sprachwerkzeugen statt. Die Überschreitung der kommunikativen Mittel mittels kommunikativer Mittel ist so auf der einen Seite eine paradoxale Bewegung und ein zum Scheitern verurteiltes Unternehmen. Aber gerade diese Paradoxien und uneinlösbaren Zumutungen stimulieren – andererseits – eine permanente liminale Beweglichkeit und eine Fortsetzung der Frustration, die sich selbst zum Antrieb wird. Insofern ist der Begriff der „Arbeit“ ein historisch durchaus treffender Begriff für diese Art des Umgangs mit dem Sprach- und Schreibmaterial,135 denn als „Arbeit“, so bestimmt ein zeitgenössisches Lexikon, gilt „im weitern Sinne jede Äußerung einer Kraft zur Überwindung eines Widerstandes, kann durch Naturkräfte, Maschinen, Menschen, Tiere geleistet werden; im engern Sinne die bewußte, menschliche, auf Wertschaffung gerichtete Tätigkeit“.136 Oder um es mit Georg Simmel zu sagen: Arbeit bedeutet, „äußerlich angesehen, das Ueberwinden von Hemmnissen […], die Formung einer Materie, die dieser Formung nicht ohne weiteres gehorcht, sondern ihr zunächst Widerstand entgegensetzt […]“. In der Arbeit gegen den Widerstand des Materials wird damit zugleich der persönliche Einsatz als „fortwährende[ ] Ueberwindung der Impulse zu Trägheit, Genuß, Erleichterung des Lebens“ ersichtlich: Was an Arbeit eigentlich vergolten wird, der Rechtstitel, auf den hin man eine Vergeltung für sie fordert, ist der psychische Kraftaufwand, dessen es zum Aufsichnehmen und Ueberwinden der inneren Hemmungs- und Unlustgefühle bedarf.
_____________ 135 Vgl. in diesem Zusammenhang auch zur auf Dauer gestellten ‚Überwindung’ als Definiens der ‚Moderne’ im engeren Sinn, Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne, S. 30, 32. 136 Brockhaus’ Kleines Konversations-Lexikon. Bd. 1, S. 90.
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Die Grundlage von Arbeit bildet folglich der „Willensaufwand“, die Anstrengung einer „Geistigkeit“, die „keine intellektuelle“ ist, sondern in „Gefühl und Willen“ besteht.137 In diese Richtung deutet im übrigen auch der Großteil der Aufmerksamkeitstheorien des 19. Jahrhunderts, die die Fokussierungsleistungen bei der Erfahrung und Beobachtung als physische Anstrengung rekonstruieren.138 Bei aller „ostentative[n] Arbeitslosigkeit“139 bleibt der handwerkliche Aspekt, der George und dem George-Kreis immer wieder zugeschrieben wird140, nur ein Oberflächenphänomen bzw. nur eine Geste der Stilisierung, die ihren Unterscheidungswert aus dem Bewußtsein des Unzeitgemäßen und damit Kontrafaktischen gewinnt.141 Die inszenierte Unregelmäßigkeit (z. B. des Blattrandes der Einzelausgaben), die nur vorgetäuschte Aufhebung arbeitsteiliger Strukturen (z. B. der BlätterRedaktion) oder die Möglichkeit, einfache Materialien (wie z. B. getönten Karton als Einband) kostbar erscheinen zu lassen, weil sie sich gerade in ihrer Einfachheit aus der Masse der Produkte herausheben, all dies gehört zu einer Geste der gezielten „Wertschaffung“ durch Widerständigkeit, kurz: zur Arbeit, nicht zum Handwerk der Poesie. Von dieser Struktur des Selbstantriebs durch Enttäuschung her versteht man dann auch besser, inwiefern sich das „zerstäuben“ der „fremden hauche“ als Übersetzung (von „souffle“) und Zitat (von antiken bis zu symbolistischen Vorlagen) vollziehen soll. Die Weihe ist ein Sammelbecken der Inspirationstopoi, und daher geht der Inspirationsbedürftige auch nicht an die Quelle, sondern an den „strom“, also nicht an den Ursprung, sondern an einen nachgelagerten Ort, und genau dort soll eine Betäubung durch den „urduft“ stattfinden. Daß die Eingangsstrophe auf die bukolische Szenerie und damit auf den Mythos vom Ursprung der Literatur aus der Langeweile der Hirten anspielt, ist vor dem Hintergrund von Georges Konzeption dichterischer ‚Arbeit‘ bemerkenswert und gehört zur Selbstdemontage, die das ganze Gedicht permanent betreibt. Oder anders: In der Tat „zerstäuben“ die Verse und Strophen der Weihe jene Traditionsbezüge, auf deren Folie sie sich artikulieren.142 Wenig wunderlich also, daß Ursprungstheorien der _____________ 137 138 139 140 141 142
Simmel: Zur Philosophie der Arbeit, S. 438ff. Crary: Aufmerksamkeit, S. 42. Mattenklott: Bilderdienst, S. 192. Z. B. Kluncker: Blätter für die Kunst, S. 186. Hierzu und zum folgenden Mettler: Stefan Georges Publikationspolitik, S. 47ff. Die Einzitation der empfindsamen Inspirationssemantik beispielsweise (8.1) wird konterkariert, weil George „ohne denkerstörung“ auskommen will, wohingegen die Nacht in der Empfindsamkeit gerade Ort der Meditation ist und der Mond als „Gedankenfreund“ (Klopstock) figuriert. Umgekehrt folgt George aber auch nicht der Verabschiedung der Sterne als Überbleibsel des Tages aus der romantischen (Novalis) oder symbolistischen
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Dichtung im 19. Jahrhundert sich wandeln. Hatte die Bukolik als Motor für die Erfindung der Poesie die Ähnlichkeit von Mensch und Tier beim Sprechen und Singen und damit den Nachahmungstrieb festgeschrieben, so behält Darwins The expression of the Emotions in Man and Animals (1872) zwar den Vergleich von Mensch und Tier bei, erklärt die Dichtung jedoch aus der werbenden Funktion der Artikulation einerseits sowie andererseits aus der Notwendigkeit, das Revier gegen männliche Konkurrenten zu verteidigen – George konnte diese „Hypothese“ in Scherers Poetik (EA 1888) lesen.143 An der letzten Strophe von Georges Weihe, die das Bild des Musenkusses zitiert, wird jedenfalls überdeutlich, wie das Initiationsgedicht Bezüge aufruft und den Leser zugleich in eine solche Deutungsunsicherheit versetzt, daß zwar eine Vielzahl historischer Schlüssel zur Verfügung steht, daß aber keiner dieser Schlüssel die Initiationshymne letztlich öffnet. Die Fülle an Deutungsangeboten erzeugt Stimmungen und Beziehungseindrücke, und dies im diffusen Appell an das Bildungswissen der Leser,144 deren Lektürearbeit zum Spiegel des produktiven Scheiterns auf Seiten des Autors wird. Die kombinatorische Motorik von Georges Weihe entspricht einem Anfang, der sich später mit dem in der Fibel, im Schlussband der GesamtAusgabe 145 und an anderer Stelle publizierten Frühwerk als Initiation dementieren wird: George inszeniert die Hymnen als Ursprung des Werks und verunklärt nachfolgend die Geste des Neueinsatzes – bereits im ‚Buch‘ der Hängenden Gärten spielt er auf biographische Zusammenhänge an, die vor den Hymnen liegen (z. B. GW 3, 71, 76). Wo George später retrospektiv sein vorangegangenes Werk als Bezugspunkt des darauf folgenden Werks einsetzen kann, muß er am ‚Anfang‘ seines Werks noch die Tradition als Reflexionsmedium verwenden, setzt aber mit Weihe eine Reihe von Motiven und Gedankenfiguren, die das Initiationsgedicht als Präludium des Gesamtwerks erscheinen läßt. George also trägt sich in die Textur der traditionellen Erzählungen vom Dichtungsanfang ein, zerstört aber deren Fadengeflecht. Die Bestandteile der ‚Weihe‘ sind willkürlich _____________
Nacht (Baudelaire). Zu diesen Nachtmotiven vgl. Borchmeyer: Das Theater Richard Wagners, S. 265f. 143 Scherer: Poetik, S. 58f.; zu Darwin: Meyer-Kalkus: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, S. 336. 144 Am Beispiel von Hofmannsthals D’Annunzio-Essay expliziert Niefanger dieses Verfahren: Produktiver Historismus, insbes. S. 165ff. 145 Vgl. hier z. B. in Prinz Indra das Gedicht Der Retter, wo es in den Anfangsstrophen heißt: „Zu des heiligen stromes wassern / Zog es oft den prinzen hin / Um mit ihrem wellenrauschen / Seine seufzer auszutauschen // Um der quälenden gedanken / Schreckgebilden zu entfliehn. / Wenn die abendlichen schatten / Ein erkennen schwer gestatten // Schlüpft aus dem palaste heimlich / Er in unscheinbarer tracht. […]“ (GB 2, 575).
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zusammenstellbare Versatzstücke. Oder anders: Die ‚Lexeme‘ der Initiationstopik sind autonomisiert.146 Auch dies fügt sich ins Konzept dichterischer Arbeit, zumindest dann, wenn man sie mit Georg Simmels Beitrag Zur Philosophie der Arbeit (1899) verbindet. Simmel versucht darin Arbeit über das einheitliche Prinzip der Quantität investierter Arbeitskraft zu bestimmen. Problematisch ist das vor allem deswegen, weil er auf Konzepte wie ‚geistige Arbeit‘ oder auf den Unterschied von ‚höherer‘ und ‚niederer‘ Arbeit, die scheinbar qualitativen Arbeitsvorstellungen zu entspringen scheinen, nicht verzichten will. Auch wenn Simmel letztlich die körperlich-materielle Bestimmung von Arbeit umkehrt und diese auf den „psychischen Kraftaufwand“ gründet, löst er das Problem zunächst dadurch, daß er die Voraussetzungen und die Vorgeschichte der aktuell geleisteten Arbeit in die Berechnung der Energieleistung einbezieht. Im Blick auf George wird von hier aus gesehen verständlich, welchen Wert die Publikation des Früh- und Jugendwerks für ihn gehabt hat: Er demonstriert damit, welche Widerstände im Lauf der Zeit zu überwinden waren; er demonstriert, daß die „Mühen der langen Vorbereitungsjahre als Bedingung der unmittelbaren Leistung dem Arbeitsquantum derselben hinzu[ge]rechnet“ werden müssen147; und er macht darauf aufmerksam, wie groß folglich der Arbeitsaufwand gewesen, wie hoch der Wert seiner dichterischen Arbeit zu veranschlagen ist. Auch das Spiel mit den Versatzstücken und Lexemen der Tradition läßt sich vor diesem Hintergrund als Markierung von dichterischer Arbeitsleistung verstehen ebenso wie das „zerstäuben“ dieser Bezüge im stimmungsreichen Werk. Welche Aufmerksamkeitshaltung ist dieser ‚dichterischen Arbeit‘ gegenüber angemessen? George deutet dies in der zweiten Folge der Blätter für die Kunst an, wenn er die „erfindung von geschichten“ gegen die „wiedergabe von stimmungen“ ausspielt (BfK II/2, 1894, 33f.). Er bewegt sich damit im Rahmen ebenso diffuser wie gängiger Konzepte. „Stimmung“ als „Merkwort der Epoche“, das insbesondere bei der Definition des ‚Lyrischen‘ eine Rolle spielt,148 kombiniert dabei mit dem Merkmal der „Unbestimmtheit“ eine hochsensible Empfänglichkeit für Schattierungen und Traumbilder und ein gereiztes Sensorium für die „Feinheit der Nuance“, wie Julius Pap es 1894 in dem Essay Unsere Jugend formuliert.149 Der „Sinn für die besondere und für die blasse Nuance“ gehört zu einer Kunst der „Stimmung“, der „Hauptsache“ beim „lyri_____________ 146 Hierzu Wunberg: Unverständlichkeit. 147 Simmel: Zur Philosophie der Arbeit, S. 427. 148 Pott: Poetologische Reflexion, S. 39, Anm. 30; speziell zu George vgl. Winko: Kodierte Gefühle, S. 235ff. 149 Hierzu und zum folgenden vgl. Niefanger: Produktiver Historismus, S. 172ff.
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schen Dichter“, die feine „Nervenanreizungen“ bietet.150 Im Konzept der Stimmung verbindet sich ‚um 1900‘ das Bewußtsein einer verlorenen einheitlichen Welterfahrung mit der Ahnung eben jener vermißten Einheit. Klänge, Andeutungen und Anspielungen ersetzen stabile und definierte Verhältnisse. Konzepte wie die Schwingungen zwischen den Worten oder das ‚Wehen‘, das einen Text durchzieht, korrespondieren der Ästhetik des ‚Dufts‘ und ‚Hauchs‘ in Georges Weihe. Die Stimmungsästhetik formuliert also weniger eine Aufmerksamkeit für ‚Dinge‘ als vielmehr für Zwischenräume, Beziehungen und Differenzen. Sie gehört zu einer Kommunikations-, Gesellschafts-, Natur- und Kunstsemantik, die von Substantialität auf die Übertragung von Kräften umschaltet, die eine Welt aus Wellen und Ströme sieht und dabei der Produktivität des arbeitenden Menschen, seiner Energieleistung, besonderen Wert beimißt.151 Es ist daher konsequent, wenn die Blätter für die Kunst in der bereits zitierten Proklamation der Stimmungsästhetik die Aufmerksamkeit auf „auswahl klang mass und reim“ lenken (BfK II/2, 1894, 34), also zur einen Hälfte auf das, was man gerade nicht wahrnimmt, oder auf das, was das Wahrnehmen ermöglicht. Insbesondere die Aufmerksamkeit für die „auswahl“ bedeutet, daß man sehen muß, was nicht dasteht, um das, was dasteht, adäquat einschätzen oder auf sich wirken lassen zu können; man muß mitsehen, was man nicht sieht und was das Sehen überhaupt erst durch Selektion bedingt. Dies gehört generell zum kennerischen Umgang mit Literatur.152 Aber George scheint in einer besonders intensiven Art auf diese fachmännische Haltung gegenüber Literatur zu verweisen, die auf das einzelne Produkt im Unterschied zu anderen Produkten sieht und daher immer Kontexte und somit Leseerfahrung parat haben muß. Zu fragen bleibt, wie sich Georges Taktiken der Verunklärung als Teil seiner Stimmungsästhetik zu jener Anthropologie der Stimmung verhält, die die Werkpolitik des 19. Jahrhunderts bereits vor ihm bestimmt hat (5.3.4 u. 5.3.5). Georges Taktiken der Verunklärung nutzen jedenfalls die Möglichkeiten aus, die das historistische 19. Jahrhundert angehäuft und in die freie Verwaltung der ‚Epigonen‘, die nicht mehr an der Quelle, sondern am „strom“ sitzen, gegeben hatte. Wichtig sind dabei die Veränderungen in _____________ 150 So Baumgarten: Stefan George, S. 435, 438 – diese Seiten habe ich nur exemplarisch zitiert; der ganze Aufsatz ist von solchen Begriffen und Konzepten durchzogen. Vgl. auch Meyer zur „Stimmung“ als „höchste[m] Ziel“ („L’âpre gloire du silence“, S. 287). 151 Nitschke: Energieübertragung, Ströme, Felder und Wellen. 152 Vgl. z. B. Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, z. B. S. 632; Fuchs: Vom schweigenden Aufflug ins Abstrakte, S. 161f.; aufschlußreich als Phänomenologie des ‚kippenden’ Leserblicks: Iser: Der Akt des Lesens, S. 321ff.; generell zum Einbezug des Abwesenden im Leseakt die Ausführungen zum „Textrepertoire“ (ebda., S. 87ff.) sowie zu den „Textstrategien“ (ebda., S. 5ff.).
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der Aufmerksamkeitskultur: Die spezifische Unverständlichkeit, die sich aus dem Zusammenhang von ‚Historismus und Moderne‘ ergibt, blockiert auf der einen Seite den sinnvollen Nachvollzug einer ‚Textur‘ und lenkt die Aufmerksamkeit vom ‚Was‘ aufs ‚Wie‘, also – mit George gesagt – auf die „mache“.153 Zugleich übernimmt George das im Historismus erarbeitete Potential der Problemhäufung und der entsprechenden „Sensibilisierung des Lesers“154 für versteckte Unklarheiten und steigert dieses Potential: Die Vermutung, daß im „Melodienstrom“ der inhaltlich unverständlichen Gedichte „Ideen des Dichters“ verborgen seien, die der Leser „nicht immer ganz zu erfassen vermag“, wie Ida Coblenz es formuliert155, daß noch in den Satzzeichen und Auslassungen gesteigerte Bedeutsamkeit liege, gehört zur „erhöhten Aufmerksamkeit“ derjenigen Leser, denen die Vielschichtigkeit der annotierten Texturen des Historismus das „Bewußtsein der Erklärungsbedürftigkeit“ vermittelt hat.156 George entfaltet also sein Projekt einer radikalen Innovation, einer eigenen und exklusiven Sprache nicht durch Ursprünglichkeitsbehauptungen oder umfassende Negation, sondern gerade im Medium von Traditionen und etablierten Konzepten, die er im Vollzug ihrer Zitation subvertiert. Auch dies fügt sich zu seinen Geheimsprachenprojekten, zumindest zum Projekt der von ihm so genannten „lingua romana“, die er aus verschiedenen Sprachen komponierte, deren Elemente sich wiedererkennen lassen.157 Am 2. Januar 1890 schreibt er an den Schulfreund Arthur Stahl: Amico de meo cor! El tono elegico con que parlas en tua letra de nostra corespondencia longamente interrompida me ha magio commovido que el vituperio fortisimo. Um gottes willen wirst du ausrufen in welcher sprache schreibt denn der mensch hier, die hauptsache ist dass Du die verstehst - vom anderen später. […] Jetzt noch ein geständnis das mir schwer wird niederzuschreiben: Der gedanke, der mich von jugend auf geplagt und heimgesucht hat, der in gewissen perioden sich wieder und wieder aufdrängte hat mich seit kurzem wieder erpackt: Ich meine der gedanke aus klarem romanischem material eine eben so klingende wie leicht verständliche literatur sprache für meinen eigenen bedarf selbst zu verfassen. Die gründe weshalb ich [in] meiner deutschen sprache nicht gern schreiben will kann ich dir auf diesem gemessenen raum nicht auseinandersetzen. (Im anfang des briefs hast Du eine probe). Darin liegt auch der grund weshalb ich seit
_____________ 153 Wunberg: Unverständlichkeit, S. 311 – daß dies nur eine Facette der reich facettierten Historismusformen ist, zeigt Schlotts Unterscheidung von zehn Historismus-Begriffen: Mythen, S. 170ff.; zur Kritik an Wunbergs Konzept vgl. ebda., S. 195ff. 154 Wunberg: Unverständlichkeit, S. 324. 155 George / Coblenz: Briefwechsel, S. 29. 156 Wunberg: Unverständlichkeit, S. 324. 157 Durzak: Der junge Stefan George, S. 33ff. Zur ‚modernen’ Sprachauffassung zwischen Eigenheitsanspruch und Heteronomie Kleinschmidt: Gleitende Sprache, S. 18ff.
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monden nichts mehr verfasse, weil [ich] ganz einfach nicht weiss in welcher sprache ich schreiben soll. Ich ahne, diese idee wird entweder bei mir verschwinden oder mich zum märtyrer machen. Lebe wohl, Deine Hand? Dein Etienne158
George war davon überzeugt, daß eine „bildungswelt (kultur) einmal erkannt […] sich nicht wieder vergessen“ läßt und daß der Versuch, sich seine Traditionsbezüge „aus dem sinn [zu] schlagen“, einer „künstliche[n] rückzüchtung“ gleich käme.159 Entscheidend ist freilich, daß dieses Traditionsverhalten unabhängig von späteren oder nachgeholten programmatischen Erklärungen die literarischen Verfahren bestimmt und daß George auf diese Weise seinen Gedichten jene Strukturen einbildet, die diese als Wirkungs- und Rezeptionsformen wieder nach außen abstrahlen: Er exerziert poetisch „Abhängigkeits- und Freiheitsempfindungen“ durch, die auch die gesellschaftlichen Strukturen vermitteln,160 und er überträgt diese ‚Empfindungen‘ in der Sekundärsozialisation der George-Leser. George wird als Dichter zum neuen Vater oder zur neuen Mutter.161 Zumal die zyklische Anordnung der Gedichte reflektiert diese Stellung zwischen Autonomie und Heteronomie und gibt sie den Lesern als Aufgabe zum Nachvollzug auf, dies allerdings in einem Werk, das sich dann insgesamt durch die Abschließung autonomisiert, die die zyklische Selbstbezüglichkeit erzeugt. Die oben beschriebenen Taktiken der Verunklärung sind insofern Versuche, unter Verzicht auf die Illusion eines unvordenklichen Neuansatzes dennoch das „NEUE“ in die Welt zu setzen, und zwar in gezielter Arbeit gegen die vorgegebene „kultur“, die sich eben dieses Widerstands bedient. Anders formuliert: George entfaltet in der dichterischen Initiation eine Arbeitsethik, die sich, kulturell formatiert, gegen die Widerstände der „kul_____________ 158 Boehringer: Mein Bild von Stefan George. Textbd., S. 37. 159 Brief vom Februar 1896 an Ludwig Klages (zit. nach Schonauer: Stefan George, S. 79). Entsprechend variieren die Merksprüche der Blätter für die Kunst 1900/01 Georges Bewußtsein von kultureller Abhängigkeit (8.1 a), wenn sie behaupten, daß das „sprunghafte[ ] trümmerhafte[ ]“ der „deutsche[n] litteratur“ sich aus einem „falschen originalitätsstolz einem oft kindischen wirtschaftenwollen auf eigne faust einer scheu vor der einordnung aus dem gefühl der unsicherheit“ ableite (BfK V, 3). 160 Kleinschmidt: Gleitende Sprache, S. 34. 161 Zu George als ‚Mutter’ vgl. Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus, S. 60; zur Eingliederung in den George-Kreis als Übernahme von Familienfunktionen Groppe: Die Macht der Bildung, S. 446ff.; in diesen Zusammenhang gehören auch die Neubenennungen von Kreismitgliedern. Vgl. als poetische Handreichung aus dem Stern des Bundes: „Dies ist reich des Geistes: abglanz / Meines reiches · hof und hain. / Neugestaltet umgeboren / Wird hier jeder: ort der wiege / Heimat bleibt ein märchenklang. / Durch die sendung durch den segen / Tauscht ihr sippe stand und namen / Väter mütter sind nicht mehr .. / Aus der sohnschaft · der erlosten · / Kür ich meine herrn der welt“ (GW 8, 83).
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tur“ durchsetzen muß und sich in der ostentativen Konfrontation, im Umgang mit der markierten Widerständigkeit des sich ‚sträubenden‘ Materials, legitimiert. Auch insofern ist der ‚Hauch‘, den George „zerstäuben“ will, die Übersetzung des griechischen ‚aura‘, die – der bekannten Auslegung Walter Benjamins zufolge – im Lauf der Modernisierung durch das schockhafte Reizerlebnis ersetzt wird.162 Die Flucht in die Natur und die neuerliche Enkulturation vollziehen sich in einer Bewegung: Die Natur wird nicht allein ästhetisiert, sie wird darüber hinaus sozialisiert, politisiert und moralisiert. Gleichzeitig spielt George mit der Wahrnehmung auf eine solche Weise, daß diese entsinnlicht wird, daß Eindrücke zu Evokationen und Äußerlichkeiten zu Innerlichkeiten werden. Dieser umfassenden Kulturalisierung von Natur und der Verinnerlichung der Wahrnehmung zur Evokation von Stimmungen entspricht die Selbstabschließung des lyrischen Ich: Es betäubt sich, es befreit sich von literarischen Traditionen, es inszeniert eine Szene der Selbstinspiration, und dies in dem klaren Bewußtsein, Selbstbezüglichkeit nur mit und gegen die Tradition zu erlangen. Die Weihe gehört damit zu jenen Ausfaltungen der für George charakteristischen „Kernszene“ des Selbstbezugs, zu jener Form des biographisch verortbaren strukturellen „Narzißmus“, der Georges Werk insgesamt prägt.163 Der Rückzug an das „schilfbestandene Ufer des nahen Flusses“, der den szenischen Hintergrund der Selbstkrönung beispielsweise in Kindliches Königtum abgibt (GW 3, 77), setzt sich im Geheimsprachenprojekt wie im Projekt einer eigenen, neuen dichterischen Sprache fort. Entscheidend ist dabei, daß die Regression in die kindliche Eigenheit sich reflexiv vollzieht, als Bezug auf eine bereits gespielte, inszenierte, nachgeholte und stets am Rande des Scheiterns situierte Form der in sich verkapselten Mächtigkeit und Ermächtigung. Die Weihe spiegelt diese Situation der Nachträglichkeit zum einen in der – auch von Freud sanktionierten – „regulären“ narzißtischen Regression des Schlafs, der in der „betäubung“ anklingt. Zum anderen erweist sich die Weihe als Szene der Nachträglichkeit, weil sich das befremdliche Projekt, in den „urduft“ durch die Versprengung der „fremden hauche“ einzudringen, sich genau jener „fremden hauche“ in Form von Zitaten und Allusionen bedient. Weihe bietet daher auch eine Szene der Enkulturierung, der Verinnerlichung und der Selbstabschließung dar, die die Inspiration technisiert, ohne sie wirklich handhaben zu können: Im Rahmen einer geometrisier_____________ 162 Tiedemann: Aura, Sp. 653. 163 Hierzu Matt: Der geliebte Doppelgänger. Zur narzißtischen Bildlichkeit vgl. Klussmann: Stefan George, S. 59ff.; vgl. auch Landfried: Stefan George, S. 37f. Für Klussmann sind dann die Photographien und selbst die Wahl der Freunde mit physiognomischen Ähnlichkeiten zu George Zeichen dafür, daß George sich „die Welt nach seinem Bilde“ gestalten wollte (ebda., S. 62). Vgl. allerdings bereits Wolters: Stefan George, S. 9f.
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ten Natur („nebelmauer sich zersplittern“, „der zweige zackenrahmen“) erscheint die Muse, die traditionell mit Begeisterung, Affektivität und Exaltation verbunden war. Die Zurücknahme an hymnischer Begeisterung spiegelt sich im Vers-‚Bild‘ beispielsweise in der geregelten Strophensprache und in der Zurücknahme von Affektrhetorik. Die Sprache Georges zeichnet sich weniger durch Bewegungen aus, die sich in großen Amplituden vollziehen, als vielmehr durch eine in Permanenz versetzte Agilität, die sich im Natur-‚Bild‘ spiegelt („schwingen“, „kosend“, „zerstäuben“, „zittern“, „zersplittern“, „schwebt“, „bebte“). Diese Unruhe wiederum arbeitet einer umfassenden Aufmerksamkeit zu, insbesondere in der letzten Strophe, wo der etwas orientierungslose „mund“ der „herrin“ sich auf „finger“ und „lippe“ gleichermaßen zu bewegt (6.1 a).164 Die Verschachtelung von visueller und auditiver Wahrnehmung und Wahrnehmbarkeit jedenfalls zeigt, daß die Körperlichkeit der Schrift nicht weniger wichtig ist als der Klang, die Geistigkeit des gesprochenen Wortes. Daß Weihe ein Gedicht über Räume und Limitationen, über die Einholung des Ausgegrenzten bzw. über die grenzüberwindende Grenzziehung ist, gewinnt in diesem Kontext auch deswegen an Bedeutung, weil damit die bereits erwähnten Probleme der zyklischen Ästhetik in den Blick kommen (6.1 a): Zyklische Strukturen provozieren eine Raumvorstellung vom Werk. Die Beobachtung eines Werks in seiner Beziehung zu anderen Werken suggeriert eine bestimmte Koexistenz der Teile und erzeugt damit eine „raumhafte[ ] Wirkung“. In dem durch den Zyklus gestifteten Beziehungsraum können „sichere Lokalisationen, genaue Distanzen und kartographische Kontakte festgelegt werden“.165 Es werden Grenzen gezogen und überwunden, indem der Zyklus das Gedicht in eine seltsame Zwischenstellung bringt, in eine Position zwischen Autonomie und Abhängigkeit.166 Die zyklische Ordnung ist damit eine Form der Werkbildung, die stufenweise vom einzelnen Gedicht über die einzelne Gedichtsammlung zum Gesamtwerk führt. Sie ist ein Verfahren, den Sinn für Zusammenhänge zu schärfen oder auszubilden, und prägt eine Form der relationalen Aufmerksamkeit, die den „Stellenwert“ des Gedichts in dessen Beobachtung einbezieht.167 Insofern ist die auffällige Häufung von Lyrikzyklen im 19. Jahrhundert, die am Fin de Siècle noch einmal zunimmt,168 historisch signifikant. Sie markiert den angesprochenen Wechsel in der Aufmerksamkeitskultur _____________ 164 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Baumgarten: Stefan George, S. 443: „Irgendeine Unruhe ist der Anlaß jeder dichterischen Leistung“. 165 Simons: Die zyklische Kunst im Jugendwerk Stefan Georges, S. 95f. 166 Ort: Zyklus, S. 899. 167 Aler: Symbol und Verkündung, S. 214f., 229. 168 Simons: Die zyklische Kunst im Jugendwerk Stefan Georges, S. 105ff.
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und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten und Probleme der Werkpolitik, indem sie auf die verkomplizierte Herstellung von Zusammenhängen des prima facie Zusammenhanglosen und auf die Kombination von Offenheit und Geschlossenheit verweist (5.4.2 b) – selbst George publiziert, etwa in den Blättern für die Kunst und in den entsprechenden Auswahlbänden, Einzeltexte aus Zyklen, und dies bei aller Abneigung gegen Anthologien. Das zyklische Arrangement kann ebenso eine zersplitterte und ausdifferenzierte Wirklichkeit abbilden, wie es ein Versprechen auf die höhere Einheit des Isolierten gibt.169 Aber die zyklische Ordnung als ästhetisches Verfahren stimuliert nicht nur eine regsame, stets um die Überschreitung des Limitierten bemühte Haltung, die, indem sie Bezüge stiftet, das ‚eine‘ immer im Blick auf das ‚andere‘ beobachtet, Grenzen zieht und gleichzeitig zu deren Überschreitung auffordert. Um überhaupt in die Sinne zu fallen, setzt diese Kunst der Herstellung von Zusammenhängen im Unzusammenhängenden bereits eine bestimmte Aufmerksamkeit voraus: George markiert Zyklizität als Prinzip durch die Sorgfalt für das ‚Äußere‘ des Buchs, durch das, was man übersieht, wenn es um das ‚Innere‘ des Buchs geht. Bei George betrifft dies die gezielte typographische Anordnung des Satzspiegels, die Aufteilung der Gedichte auf den Seiten, die Zwischenschaltung leerer Blätter, „das auffällige Streben nach Homogenität des Ganzen einschließlich des Einbandes und des Papiers“, die Vermeidung der Majuskel innerhalb des Verses, später auch die Akzentuierung der „poetischen Form von Vers und Strophe“ durch das hochgestellte Komma, die Kürzung der Ober- und Unterlängen bei den Kleinbuchstaben, die Rundtypen der besonders hergerichteten Antiqua, die das Verhältnis vom Schwarz der Buchstaben und vom Weiß der Seite in ein ausgeglichenes Verhältnis setzen soll.170 All dies läuft darauf hinaus, daß – systemtheoretisch formuliert – Form und Medium gleichzeitig im Wahrnehmungsfeld auftauchen, wo Wahrnehmbarkeit doch gerade durch deren Differenz überhaupt erst ermöglicht wird.171 Um es noch einmal zu betonen: Die Theorien der _____________ 169 Jürgens: „Im unbefriedeten Ganzen“, S. 14f. 170 Simons: Die zyklische Kunst im Jugendwerk Stefan Georges, S. 7f. 171 Luhmann: Einführung in die Systemtheorie, S. 227f.: „Es gibt eine Fülle von Wörtern, und es gibt gewisse kombinatorische Regeln. Man kann Sätze bilden, und die Sätze sind Formen im Medium von Sprache, während Wörter wiederum Formen im Medium von möglichen Geräuschen oder möglichen optischen Designs sind. Es gibt Licht und Luft als Wahrnehmungsmedien, in denen man Wörter bilden kann, schriftlich oder mündlich. Die Wörter sind wiederum ein Medium, mit dem man Sätze bilden, also sinnhafte Aussagen machen kann. Es geht immer darum, einen Bereich der losen Koppelung, der seinerseits auf der Ebene der basalen Elemente Formen voraussetzt, für Kombinationsmöglichkeiten zu öffnen […]“.
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Aufmerksamkeit ‚um 1900‘ verstehen diese stets als Verfahren der Selektion: „Der Mensch ist ein Unterschiedswesen […]“.172 Die markierte Aufmerksamkeitsinvestition, die in einer sorgfältigen Beachtung aller sichtbaren und unsichtbaren Bestandteile des Werks besteht, ist nicht die einzige Form des dichterischen Kapitalismus bei George. Zwar gewinnt dieser seine Mittel durch den Rückgriff auf nichtarbeitsteilige Verhaltensformen, indem er gleichermaßen den ‚geistigen‘ wie den ‚materiellen‘ Teil des Werks in den Händen zu halten versucht. Aber genau dies entspricht, zumindest in Wilhelm Scherers Theorie dichterischer „Production“, die unmittelbar vor Georges Hymnen erscheint, der historisch „höchste[n] Stufe der Poesie“ als „Vereinheitlichung der Arbeit“.173 Scherer zerlegt den auch von Simmel (s. o.) analysierten Prozeß geistiger Arbeit in die „Factoren der Production“: Den Stoff für die Dichtung im allgemeinen und für die Weihe im besonderen stellt die „Natur“ dar; ihr „Kapital“ „sind schon angesammelte Producte […], Tradition, traditionelle Stoffe, traditionelle Behandlungsarten der Formen, die der Dichter vorfindet“, die des Dichters „Auge schärfen“ und seine „Technik bereichern; und die „Art, wie er diese Tradition sich aneignet, das Kapital fortpflanzt und vermehrt“, ist seine „Arbeit“.174 Der Zyklus als Form der dichterischen Arbeit und als historisch auffälliges Verfahren zur Ausbildung von Stellenwertbewußtsein und -aufmerksamkeit im 19. Jahrhundert trägt dabei eine mediengeschichtliche Signatur:175 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wird die Materialität und Eigengesetzlichkeit der Medien auf eine Weise forciert, daß sinnfixierte Lektüren nicht mehr als Normalform erscheinen (6.2). Philosophen, Schriftsteller und vor allem Experimentalpsychologen fokussieren den Akt des Schreibens, die Kommunikationskanäle als solche und deren ungefiltertes Rauschen. Daß unterschiedliche Medien sich nicht ineinander übersetzen lassen und daß die Sprache von Differentialität bestimmt wird, erscheint einer Zeit, die den Beobachter als „Unterschiedswesen“176 konstruiert, einleuchtend. Der Kontinuität, Geläufigkeit und Übertragbarkeit einer Ausdruckssprache, die im Fluß des Handschriftlichen gerinnt und nur auf ihre Erweckung durch den Wellengang der gesprochen Sprache und auf ihre _____________
172 Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 116. Luhmann übernimmt die Differenz von „Form“ und „Medium“ von Fritz Heider (Ding und Medium, 1926), so daß die Beschreibung mittels einer systemtheoretischen Differenztheorie durchaus als historisch angemessen erscheint. 173 Scherer: Poetik, S. 101. 174 Scherer: Poetik. S. 101. 175 Zum Einsatz eines Stellenwertbewußtseins in der Mediengeschichte des 19. Jahrhunderts und zum folgenden vgl. Kittler: Aufschreibesysteme 1800 1900, S. 224, 228ff., 234ff. 176 Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 116.
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Überführung in Gefühle wartet, tritt eine Sprache entgegen, die durch Strukturiertheit und Diskretion ihre Effekte erzeugt. Insgesamt ergibt sich auf diese Weise eine Konstellation, in der Primärverführungen abgewiesen werden (der „junge[n] wellen schmeichelchore“), um Sekundärverführungen zu installieren („im rasen rastend sollst du dich betäuben“). Selbstbefreiung und Selbstdisziplinierung gehen Hand in Hand. Von außen kommende Reize werden zugunsten selbst gesetzter Reize unterdrückt. Die entsprechende Selbstabschließung versetzt die Wahrnehmung in einen Zustand flirrender Erregung, der auf eine selektionslose Aufmerksamkeit insofern hinausläuft, als Begrenzungen, die für Beobachtungsleistungen konstitutiv sind, immer wieder, aber nie endgültig aufgehoben werden. Georges Gedichte ziehen die Register, die einem Beobachter zweiter Ordnung zur Verfügung stehen: Sie zeigen, daß blinde Flecken beim Beobachten entstehen, und sie Überführen den Eindruck von Voraussetzungslosigkeit in das Bewußtsein, in (historische) Kontexte verstrickt und von (historischen) Standpunkten abhängig zu sein. Zugleich laufen die literarischen Verfahren, die Anlage der Szenen, die Gesten, die Sprachbewegungen und poetischen Selbstblockierungen auf die Position eines Beobachters dritter Ordnung zu, von der aus eine grenzen- und damit tatsächlich selektionslose Aufmerksamkeit entfaltet werden kann. Daß dieses Unterfangen sich mit erheblichen Problemen konfrontiert sieht und daher mit hoher Wahrscheinlichkeit mißlingen wird, zeigen die Situationen des Scheiterns, die das Frühwerk Georges dominieren. Bezüge zwischen Weihe und einem zeitgenössisch verbreiteten Bildbereich radikalisieren diese Deutung: Hermann von Helmholtz hatte in seinem Handbuch der physiologischen Optik auf entoptische Phänomene hingewiesen, also auf Phänomene der Selbstwahrnehmung des Auges. Zu diesen Erscheinungen gehört auch die Möglichkeit, unter bestimmten Lichtbedingungen die Blutgefäße der eigenen Netzhaut als eine Art „Gefäßbaum“ zu sehen, als ein zackenförmiges Gebilde, das wie eine Blitzformation erscheint. Die Baummetaphorik war in den 1880er Jahren in der Optik verbreitet.177 Der Vers „Das auge schauend harre der erhörung“ wird auf diese Weise lesbar als Aufforderung, das hier metonymisch isolierte „auge“ selbst zu „schauen“. Der „elfentanz“ erscheint als ‚Reflex‘ der entoptischen Lichterscheinungen, die ‚zersplitternde Nebelmauer‘ und der ‚Zackenrahmen der Zweige‘ als ‚Gefäßbaum‘ des eigenen Auges, der sich vor dem diffus unscharfen Wahrnehmungshintergrund bei bestimmten Lichtverhältnissen abhebt. Die Trennung von Umwelt und Beobachter, der als produktives verarbeitendes System gedacht wird, verweist auf _____________ 177 Crary: Aufmerksamkeit, S. 174f.
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die „physische Dichte des Auges“178, die den ‚Strom‘ der äußeren Reize, den ‚Chor der (Licht-)Wellen‘, abwehrt. Zugleich verspiegelt die Doppeldeutigkeit der Szene als Selbstwahrnehmung und Naturwahrnehmung, als Fremd- und Selbstinspiration das Außen und das Innen, hebt durch die sprachlichen Kippmöglichkeiten die Trennungen auf, und dies nicht im Sinne einer brachialen Identitätsbehauptung, sondern im ‚Schweben‘ der poetischen Vielsinnigkeit. Und selbst wenn diese Auslegung zu weit hergeholt sein mag: Ob „der zweige zackenrahmen“ einen Rahmen meint, der aus Zweigen besteht, oder einen Rahmen, der die Zweige rahmt, ist offen. Rahmen und Bild, Innen und Außen, Medium und Form wechseln ihren Status wie in Kippbildern.179 Für wie immer zwingend sich der Eindruck von Vergeblichkeit bei George vermittelt: Die krisenhafte Produktivität läuft darauf hinaus, daß Georges Projekt, das sich selbst vor unlösbare Schwierigkeiten stellt, genau dadurch zur Fortsetzung animiert wird. Das Werk zeugt von einer Subjektivität, die zur Unterdrückung der Begierden bereit ist und sich der Frustration einer Arbeit aussetzt, die im Vollzug dasjenige hervorbringt, was durch die Arbeit bewältigt werden soll. Arbeit, um noch einmal die zeitgenössische Definition anzuführen, als eine „auf Wertschaffung gerichtete Tätigkeit“, die sich durch die „Überwindung eines Widerstandes“ auszeichnet, stimuliert sich selbst, und dies nicht zuletzt deswegen, weil sie die Komplizierungen, die sie dann zu bewältigen hat, selbst hervorbringt und weiter vorantreibt.180 Von hier aus läßt sich erschließen, worin die Erziehungsleistung bestanden haben mag, die George in der „Vorrede zur zweiten Ausgabe“ der Hymnen als Bedingung der Möglichkeit für die öffentliche Ausgabe anführt (GW 2, 5): Ein „neues schönheitverlangen“ zeigt ihm, daß der ‚Wille‘ und die ‚Fähigkeit‘, „ein dichtwerk als gebilde zu begrüssen und zu geniessen“, in der „lesende[n] menge“ jetzt vorausgesetzt werden kann. Offensichtlich kann das Werk dadurch eine Grenze überschreiten und auf den „schutz seiner abgeschlossenheit verzichten“, weil sich die Aufmerksamkeitskultur verändert hat. Im „aufschwunge von malerei und verzierung“, mithin in den neuen Formen einer Wahrnehmung, die Bilder und Rahmungen sieht, die im aus der „Naht“ abgeleiteten Ornament das „de-
_____________ 178 Crary: Aufmerksamkeit, S. 176. 179 Zur Bild-Werdung in Weihe vgl. auch Schäfer: Die Intensität der Form, S. 176ff., der nur auf die einfache Rahmung eingeht. 180 Vgl. Simmels zu Formen ‚höherer’ Arbeit in einer komplexer werden Gesellschaft bzw. zur „Arbeitsleistung höherer Kulturen“: Zur Philosophie der Arbeit, S. 428ff.
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corum des Übergangs“ bemerkt181, erkennt George die Zeichen der Zeit (6.3 c).182 Die unruhige Empfänglichkeit, die die liminalen Bewegungen in Georges Weihe signalisieren, schließt an die klassische und vor allem romantische Stimmungspoesie an (5.3.4 u. 5.3.5) und damit an den Prozeß der Etablierung von Negativität. Die diffuse Stimmungslage korrespondiert der Achtsamkeit, die insbesondere die Fragen stimulieren („Siehst du […] schon […]? / Hörst du […]?“) und die auf neue Formen der Sichtbarkeit, auf eine irritierende Art der Bestimmung von Wahrnehmungsgrenzen zielt. Die Weihe ist auch ein Wahrnehmungsexperiment, das sich – so Fechners Formulierung – dem „eben noch merkliche[n] Unterschied“ widmet, wie etwa in den Sehtests zur Wahrnehmbarkeit von elektrischen Funken, die die Aufmerksamkeitsleistung von Beobachtern in einer elektrifizierten Gesellschaft untersuchen (6.1 d).183 Anzeichen der Inspiration sind gerade kleine Gesten und Bewegungen, das Schwingen und Zittern des Naturraums. Und auch damit werden die eingangs gezogenen Grenzen wieder überschritten, denn die Beschaffenheit des Naturraums gleicht sich dem Gesellschaftsraum an. Im Prozeß der Etablierung von Negativität verliert sich das Vertrauen auf die Adressierbarkeit eines personalen Gegenübers. Zumal die literarische Kommunikation wird so stimmungsvoll wie das Bewußtsein oder die Werke und deren Ganzheiten. Das Individuum, dessen Psyche im Laufe des 18. Jahrhunderts an einen nervösen Leib gebunden wird, avanciert innerhalb dieses Prozesses zum privilegierten Kontext seiner selbst und wird mit einem von unberechenbaren Assoziationen ausgestatteten Innenleben versehen. Die Selbstbezüglichkeiten des Einzel- wie des Gesamtwerks bei George zeigt diese Selbstkontextualisierung an. Dies ist aber nur eine Seite. Auf der anderen Seite verzahnt sich jenes in sich verkapselte Individuum auf eine neue, immer weiter verfeinerte Weise mit den historischen Stimmungslagen – Rudolf Haym entwirft seine historische Rekonstruktion nicht zufällig im Rahmen dreier Bildbereiche (5.3.5 b), die jeweils für George bedeutsam sind: des Bildes der historischen Stimmung, des historischen Gewebes sowie der historischen Strömungslehre, die die „Werke nach rückwärts _____________ 181 Arbogast: Stefan Georges „Buch der Hängenden Gärten“, S. 505 – Arbogast zitiert Gottfried Sempers Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten (1860/63). 182 Dabei verweist im übrigen „Verzierung“ lexikalisch primär nicht auf die Malerei, sondern auf die Musik und meint dort „kleine Tonfiguren und Hilfsnoten zur Belebung und Ausfüllung der Melodie“. So zumindest der entsprechende Eintrag im Brockhaus von 1906: „Verzierung, s. Ornament. – In der Musik sind V. (in früherer Zeit Manieren, auch Agréments genannt) kleine Tonfiguren und Hilfsnoten zur Belebung und Ausfüllung der Melodie; die wichtigsten sind: Vor- und Nachschlag, Doppelschlag, Triller und Pralltriller, Mordent und Arpeggio“ (Brockhaus’ Kleines Konversations-Lexikon. Bd. 2, S. 918). 183 Crary: Aufmerksamkeit, S. 30, 33, 233, 241ff.
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und vorwärts, nach ihrer Entstehung und ihren Wirkungen flüssig zu machen“ versucht (6.1 d).184 Da George die Fluidität der ‚Wellen‘ abwehren will, beschränkt er sich nicht darauf, mit Selbstbezüglichkeit umzugehen, sondern ‚investiert‘ viel ‚Energie‘ in den Aufbau einer eigenen Tradition bzw. läßt sich von jenen „hauchen“ umwehen, die er dann „zerstäubt“ (6.4 b). In diesem Zusammenhang gewinnt Georges Bewegung der Grenzziehung und Grenzüberschreitung, der liminalen Beweglichkeit als Taktik der Werkpolitik ihr historisches Profil: Wie die Werkpolitiker vor ihm profitiert er von den Paradoxien des Werks, dessen Ränder mit zunehmender Unschärfe immer genauer bestimmt werden, dessen Dezentrierung seine Zentrierungen nur verstärkt. Bei George gesellt sich zu diesen Paradoxien des Werks noch jene hinzu, daß sein Werk die Leser brüskiert und genau damit anzieht. Was Klopstock oder Tieck sich gewünscht haben, nämlich einen Leser, der aushält und der gegen Enttäuschungen resistent ist, der also die Ernüchterung über die stets mögliche Fehlbarkeit der Lektüre gern erträgt, diesen Leser erzieht sich George und setzt ihm in der dichterischen Arbeit ein Vorbild für den Umgang mit Widerständigkeit und Scheitern. Er weist die Beobachter an, wie sie eine „Triebstruktur, der Beweglichkeit zum obersten Prinzip geworden ist“, auszubilden haben.185 c) Aversion und Attraktion – Simmel und George Auf die Frage, was George unter einem „gebilde“ versteht und worin die entsprechende Aufmerksamkeitsleistung besteht, komme ich später zurück (6.3 c). An dieser Stelle ist mir zunächst wichtig, daß George sich für das „verlangen“ nach „schönheit“ interessiert, also für einen Zustand mangelnder Befriedigung – seine öffentlichen Ausgaben reagieren auf die „wachsenden wünsche[ ]“ des Publikums; diesem Verlangen kann er nun, wie ein erfolgreicher Erzieher nach erlangter Reife seines Zöglings, „nachgeben“ (GW 2, 5). Man kann auch sagen, daß sich die markierte Aufmerksamkeitsinvestition durch eine sorgfältige Beachtung aller sichtbaren und unsichtbaren Bestandteile des Werks gelohnt hat, daß sie eine erfolgreiche Investition in die Zukunft war. _____________
184 Haym: Die romantische Schule, S. 9. Konkret heißt das, daß Haym die historische Aufgabe der Romantischen Schule bestimmt, und zwar als Durchführung, Verbreitung und Verlebendigung der von der Sturm und Drang-Generation zur Verfügung gestellten Optionen. Hier hätten die Romantiker den „Hebel für ihre Wirksamkeit“ ansetzen können. Dabei beginnt Haym mit Tieck, weil bei diesem „gewisse Grundzüge des Romantischen, wenn auch nicht am kräftigsten und schärfsten, so doch am frühesten, unmittelbarsten und mit der selbständigsten Triebkraft zum Vorschein“ kommen (ebda., S. 13f.). 185 Asendorf: Batterien der Lebenskraft, S. 44.
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Die verzinste Rückerstattung der Investition des Autors leistet die Aufmerksamkeitsinvestition der Leser. Die Anhäufung von symbolischem Kapital in der dichterischen Arbeit bildet einen Kranz libidinöser Energien um Georges Werk, erzeugt ein spezifisches Verlangen, eine spezifische Liebe zum Wort, und es wäre schon von hier aus zu fragen, warum sich unter den ersten begeisterten Lesern Georges auffällig viele Akademiker und insbesondere Philologen, also Liebhaber des Worts im wörtlichen Sinn, befanden. In jedem Fall aber bestätigt sich dabei die eigentümliche Umkehrleistung narzißtischer Selbstbezüglichkeit, die „paradoxer-weise nicht zur gesellschaftlichen Isolation der Person führt“, sondern die Umgebung dazu zwingt, die „narzißtische Person in gesteigertem Maße zum Gegenstand werbender Liebe zu machen“.186 Die Initiation als Flucht- und Abgrenzungsszene in Weihe gehört damit zur charakteristischen Distinktionen gegen Ende des 19. Jahrhunderts, das den mentalitätsgeschichtlichen Hintergrund für so unterschiedliche Erscheinungen wie die misogyne Geschlechterdistinktion, die unterschichtenfeindliche Sozialdistinktion oder die chauvinistische Nationaldistinktion bildet.187 Reinheit und Gemeinschaftsbildung gehören ‚um 1900‘ zusammen. Von daher verwundert es nicht, daß die mit Herrschaftszeichen versehenen „hohen rohre“ die erotischen Verführungskünste der „wellen“ zurückweisen und daß die „fremden hauche“, die „souffles“ der französischen Symbolisten, „zerstäub[t]“ werden sollen.188 Georges Abwehrgeste gegen den „strom“ arbeitet damit am Kollektivsymbol „Flut“ mit, das zur Konzeptionalisierung von Modernisierungserscheinungen wie der Urbanisierung und ihren Verkehrsströmen oder der Verflüssigung von Gesellschafts- und Geschlechterhierarchien dient. Der Blick auf die Sterne in Weihe entspricht damit auch dem Blick jener gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend ersehnten Führergestalten, die das Ruder fest in der Hand halten und sich an unverrückbaren Zeichen orientieren.189 Insbesondere für die Produktion von Lyrik ist diese Eindämmung wichtig, wenn man es – wie das 19. Jahrhundert feststellt – mit einer „Überschwemmung“ des Buchmarkts mit Gedichten, mit einer lyrischen „Sündflut“ zu tun hat.190 _____________ 186 Matt: Der geliebte Doppelgänger, S. 263. 187 Matt: Der geliebte Doppelgänger, S. 269ff. 188 Vgl. hierzu auch Kleins Abwehr der Vereinnahmung Georges durch die „ausländer“ und seinen Hinweis auf eine ‚ursprünglich’ deutsche Tradition bzw. auf die „ursprünglichkeit“ Georges im Dezember 1892 (BfK I/2, 46f.). 189 Zum Kollektivsymbol „Flut“ und seinen Implikationen Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870 – 1900, S. 44ff. 190 Ruprecht: Untersuchungen zum Lyrikverständnis in Kunsttheorie, Literarhistorie und Literaturkritik zwischen 1830 und 1860, S. 199.
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Der für den frühen George charakteristische Internationalismus, wie er sich beispielsweise in den Erscheinungsorten der drei ersten Gedichtbände (Berlin – Wien – Paris) sowie in den unablässigen Reisen und Kooperationsbemühungen auf europäischer Ebene niederschlägt, widerspricht nicht den Implikationen dieses Bedeutungsnetzes, die unter anderem eine gleichsam nationalnarzißtische Orientierung andeuten. Die Anlehnung insbesondere an die französische Literaturkultur ist auch national codiert, weil sie den deutschen Literaturbetrieb provinzialisiert und damit zum Kampf gegen den ‚Naturalismus‘ gehört (der seinerseits wenig mehr als eine Spielmarke bedeutet).191 Mittels Internationalität positioniert George sich auf dem Feld der deutschsprachigen Literatur, das er dadurch in seinen bisherigen Erscheinungsformen als randständige Veranstaltung herabsetzt.192 Die narzißtische Geste ist eine Geste der Selbstverteidigung, eine Weise, „sich in einem bestimmten lebens- und sozialgeschichtlichen Kontext seiner Haut zu wehren“. Die „Metaphysik der Reinheit“ erweist sich als Teil des „Ekel[s] des Bürgertums vor seiner eigenen Welt“,193 als Begleitphänomen jener Melancholie, die als Geste in Weihe kenntlich gemacht wird.194 Auch dies fügt sich ins Zeitalter des Historismus und zur verzweifelten Anleihe an allem, was nicht der eigenen Zeit zu gehören scheint. Anders gesagt: Gerade die Zeichen der Abwehr und Selbstbezüglichkeit, der Konstitution geschlossener Kreise und der Abscheu vor einer unlimitierten Zugänglichkeit macht die Attraktivität der Gedichte im Zeichen der ‚Weihe‘ aus. Schließlich wird man auch sehen müssen: Die Hermetik der Georgeschen Dichtung bietet günstige Voraussetzungen zur Selbstauszeichnung der Leser, die ihre Aushaltefähigkeit demonstrieren; zugleich stellen die Bildungsversatzstücke der Lyrik Anschlußmöglichkeiten sicher, machen die Hermetik der ‚geistigen Kunst‘ mit der Lesesozialisation in Schule und Gymnasium kompatibel.195 Im Publikum setzt sich damit jene poetische Struktur fort, die Georges Gedichte von Beginn ihres Initiationsrituals in der Weihe an bestimmt. So erscheint es Hofmannsthal, nachdem er ein Exemplar der Hymnen bekommen hat, als sei George „für die saiten der seele / der nächtige flüsternde wind“.196 Umgekehrt fühlt George sich von einem _____________ 191 Mettler: Form und Haltung, S. 2; vgl. als Korrektiv die materialreiche Darstellung der Rezeption im französischsprachigen Ausland bei Fechner: Einleitender Essay. 192 Groppe: Die Macht der Bildung, S. 101. 193 Matt: Der geliebte Doppelgänger, S. 269f. 194 Vgl. im Blick auf George zur soziologischen Melancholieforschung, die Melancholie als Flucht vor dem Übermaß an Sanktionen und der Instabilität gesellschaftlicher Verhältnisse begreift, Kolk: Literarische Gruppenbildung, S. 19 (zu narzißtischen Zügen ebda., S. 24). 195 Groppe: Die Macht der Bildung, S. 101, 104. 196 George / Hofmannsthal: Briefwechsel, S. 7, 238.
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„hauch müder betrübnis“ in einem Brief Hofmannsthals „selber angesteckt“, und Hofmannsthals Gedichte erzeugen bei ihm einen „schauer“.197 Der Dichterkreis der Blätter für die Kunst sucht nach Autoren, die stilistisch etwas „unseren Tönen Homogenes aufweisen“.198 Georges Gedichte steigern in diesem Kontext durch Selbstbezug Bedeutsamkeit und damit ihre Strahl- und Anziehungskraft. Dies gilt für das einzelne Gedicht, wie Bruno Baumgarten in einer „stilistische[n] Untersuchung“ von 1907 darlegt,199 für das zyklische Arrangement und für das Gesamtwerk. Das Werk markiert sich als privilegierten Kontext seiner selbst und entfaltet in dieser Verkapselung eine eigentümliche Attraktivität. Seine Abschließungen entsprechen den Abschließungen des wahrnehmenden Subjekts, wie sie die Anthropologie der Neurophysiologie als naturwissenschaftliches Pendant der Stimmungskunst entwirft (5.3.4, 5.3.5 u. 6.1 b). Die entsprechende Form der Aufmerksamkeit, die unumgängliche Ausschließungen durch Regsamkeit auszugleichen versucht und die dadurch in einen Zustand auf Dauer gestellter Enttäuschung getrieben wird, hat Georg Simmel, einer der ersten George-Interpreten, als „Nervosität“ beschrieben. Auch sie trägt im „Zeitalter der Nervosität“200 eine epochentypische Signatur. Oder anders: Was Tieck in seinem Beitrag zu Shakespeare’s Behandlung des Wunderbaren noch als dramatisches Verfahren der Illusionierung behandelt, ist nun zur Normalität der Städte geworden. Ging es Tieck um die Zerstreuung der Zuschaueraufmerksamkeit, um diese zu okkupieren (KS I, 55), so ergibt sich jetzt aus dem „raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke“ eine „Steigerung des Nervenlebens“, die die Aufmerksamkeit des Großstädters in Beschlag nimmt und lähmt.201 Selbst wenn George vor der „Versimmelung“ gewarnt hat202 und von den Schriften des Philosophen nicht einmal die über ihn selbst verstanden haben soll203, war Simmel für die Etablierung Georges auf dem literarischen Feld gemeinsam mit den anderen Berliner Hochschullehrern Max Dessoir, Richard Moritz Meyer, Kurt Breysig und Karl Joël wichtig und wird nicht umsonst in besonderer Weise in der ‚Blättergeschichte‘ herausgehoben:204 ‚Um 1900‘ veröffentlichen diese Akademiker in auflagenstar_____________ 197 George / Hofmannsthal: Briefwechsel, S. 48, 85. 198 So Hofmannsthal über Dauthendey – auch hierin sollte er sich täuschen (George / Hofmannsthal: Briefwechsel, S. 25, 63). 199 Baumgarten: Stefan George, S. 451ff., insbes. S. 454f., 461ff. 200 So Radkau über die Zeit zwischen ‚Bismarck’ und ‚Hitler’. Auch Asendorf: Ströme, S. 57ff. 201 Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 116. 202 Kolk: Literarische Gruppenbildung, S. 143. 203 Breysig: Aus meinen Tagen und Träumen, S. 36. 204 Wolters: Stefan George, S. 115ff., 157ff., 346f., 483f.; auch Boehringer: Mein Bild, S. 85f.
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ken Zeitschriften Artikel über George und seine lyrische Innovation, bieten ihm ein Forum und erschließen im Publikumskreise.205 Und so wie Simmel, mit dem George auch in persönlichem Kontakt stand,206 dem Dichter Aufmerksamkeit requirierte, so bot George seinerseits dem Kultursoziologen die Möglichkeit, sich mit der Aura von Besonderheit und sensibler Intellektualität zu versorgen.207 Bei allen Unterschieden also, die von Simmels Seite gerade angesichts der Überschreitung der ästhetischen Sphäre durch Georges Siebenten Ring und der Wissenschaftspolitik des Jahrbuchs für die geistige Bewegung deutlich markiert wurden, gab es eine Art Karrierebündnis. Diese gemeinsame Interessenpolitik basierte nicht nur auf strategischem Kalkül: Simmels Soziologie der modernen Nervosität bietet Interpretationsvorgaben für George.208 Simmels Analyse der modernen Nervosität diagnostiziert beim Großstädter einen „intellektualistische[n] Charakter“. Er begründet diese Form der Intellektualität damit, daß das Bewußtsein des Menschen, der als „Unterschiedswesen“ auf seine Umwelt reagiert, durch die „rasche Zusammendrängung wechselnder Bilder“ in höherem Maß in Beschlag genommen wird als dies in der „Kleinstadt“ oder beim „Landleben“ der Fall ist. Der Verstand verwaltet die Reize der Außenwelt gleichsam an der Oberfläche des Seelenhaushalts; er fungiert als „Schutzorgan gegen die Entwurzelung, mit der die Strömungen und Diskrepanzen seines äußeren Milieus ihn bedrohen“.209 Simmel formuliert damit ein Menschenbild aus, das die Abgrenzungen und die interne Agilität des Weihe-Gedichts trägt. Es ist kein Zufall, daß es bei ihm um die Reaktion auf bedrohliche „Strömungen“ geht, gegen die die „seelischen Strömungen“ abgeschottet werden müssen, daß der anonyme Fluß des „Geldstroms“, in dem alle unterschiedslos „schwimmen“, eine besonders charakteristische Ausdrucksform der „Vergewaltigung der Großstadt“ ist, oder daß der Kosmopolitismus der Großstädte deren „Innenleben“ „in Wellenzügen über einen weiten nationalen oder internationalen Bezirk“ hin verbreitet.210 Diese spezifische Situation des von den Strömungen und Fluten des modernen Lebens umhergetriebenen und bedrohten Großstädters führt _____________ 205 206 207 208
Groppe: Die Macht der Bildung, S. 137. Kube: Stefan George und die Berliner Universität, S. 644. Groppe: Die Macht der Bildung, S. 156ff. Im Vergleich damit gilt dies weniger für seine Aufsätze, die sich direkt mit Georges Werk beschäftigten und dabei von der Sonderrolle der Kunst als dem apriori der Kunstphilosophie ausgehen. Dies betont Simmel vor allem in seinem zweiten Beitrag: Stefan George. Eine kunstphilosophische Studie, S. 31. 209 Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 117. 210 Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 118f., 122, 126f.
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dazu, daß das Leben eine historisch neue Leichtigkeit gewinnt, weil die „Persönlichkeit“, deren Ausbildung die arbeitsteilige Welt in punkto „Geistigkeit, Zartheit, Idealismus“ ohnehin vernachlässigt, „wie in einem Strome“ getragen wird, „in dem es kaum noch eigener Schwimmbewegungen bedarf“.211 Die Überfülle der Reize stumpft die Sinne ab; der blasierte Großstädter entfaltet eine nivellierende Form der Aufmerksamkeit, der alles „in einer gleichmäßig matten und grauen Tönung“ erscheint – man könnte sagen: Dies ist die Welt Algabals (6.2 c), denn der übersättigte, auch durch die größten Reize nicht mehr faszinierbare Städter nimmt sich zugleich das „Recht auf Mißtrauen“ heraus.212 Er reagiert eben nicht nur gleichgültig, sondern mit Aversion auf seine Umwelt. Es liegt daher nahe, die Flucht in einen zivilisierten und kulturalisierten Naturraum nicht als Flucht des Bingener Dichters in die Idylle seiner Kindheit zu verbuchen. Der Ort der ‚Weihe‘ erhält seine Grenzen vielmehr aus einer Perspektive, die von den ‚Strömen‘ des urbanisierten, modernen Lebens bewegt wird. Anders formuliert: Die Aversionen, Abschottungen und Limitationen eines Lebens, das sich in „Strömungen“ aufzulösen droht, schließt an den Prozeß der Etablierung von Negativität an. Der Großstädter und der geweihte Dichter als sein Derivat etablieren Ablehnung, die Verweigerung von Positivität und die Absage an Bestätigung als Katalysatoren des geselligen wie gesellschaftlichen Verhaltens (2.3). George hat dies selbst erlebt. Am 20. März 1893 schreibt er an Ida Coblenz: „Hier in Berlin [...] verstehen die Leute nicht. Ich halte diese ganze börsen und zeitungsgesellschaft für unfähig wahr einen kunsteindruck aufzunehmen“.213 Aber sein Leben lang bleibt er Berlin dennoch, oder eben: deswegen verpflichtet. Simmel schwankt in diesem Punkt auf symptomatische Weise. Auf der einen Seite sieht er, wie sich der urbane Stumpfsinn ausbreitet. Auf der anderen Seite betont er, daß die „Gleichgültigkeit“ nur eine scheinbare ist, daß „die Aktivität unserer Seele […] doch fast auf jeden Eindruck seitens eines anderen Menschen mit einer irgendwie bestimmten Empfindung“ antwortet, „deren Unbewußtheit, Flüchtigkeit und Wechsel sie nur in eine Indifferenz aufzuheben scheint“. Antipathie avanciert zur Gefühlsform, mittels derer der Städter das Leben rhythmisiert. Für die Subjektform von Weihe wie für Georges Figur Algabal ist dabei die Folgerung für die „großstädtische Lebensgestaltung“ wichtig: „was in dieser unmittelbar als Dissoziierung erscheint, ist so in Wirklichkeit nur eine ihrer elementaren Sozialisationsformen“.214 _____________ 211 212 213 214
Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 129f. Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 123. George / Coblenz: Briefwechsel, S. 42. Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 123.
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Die Pointe von Simmels Essay besteht darin, daß er die Gegensätze zusammendenkt und die Steigerung von Aufmerksamkeit mit der Abwehr äußerer Eindrucksfülle kombiniert. Gerade die Abschottung des Innenlebens gegen die Reizüberflutung der urbanen Betriebsamkeit steigert die Sensibilität des Städters als Beobachter. Denn in der Moderne übernehmen zwar die versachlichten Strukturen das Regiment, aber andererseits gilt: Indem das Allgemeine die Besonderheit überschreibt, bietet die solchermaßen sich als bedroht konstituierende Individualität alle Energien auf, um ihre Besonderheit zu bewahren.215 Die lockeren Sozialisationsformen der Großstadt bieten ihr dabei die notwendigen Freiräume, um Eigenheiten und Unvergleichbarkeiten auszustellen216, und die Großstadt ist zugleich der Grund dafür, Formen der Inkommensurabilität auszubilden. Der „Anbietende“ ruft durch seine Distinktionsbemühungen „in dem Umworbenen immer neue und eigenartige Bedürfnisse hervor[ ]“; dies führt zu einer „Differenzierung, Verfeinerung, Bereicherung der Bedürfnisse“ sowie zur Ausdifferenzierung des Publikums. In dieser Spirale von Bedürfniserregung und Bedürfnisbefriedigung hilft ab einem bestimmten Punkt eine bloß quantitative Steigerung nicht mehr weiter. Vielmehr bedarf es dafür der „qualitativen Besonderung, um so, durch Erregung der Unterschiedsempfindlichkeit, das Bewußtsein des sozialen Kreises irgendwie für sich zu gewinnen“. Genau dieser Aufgabe, der „Erregung von Unterschiedsempfindlichkeit“, dient Georges Werk, das im Zeichen der ‚Weihe‘ steht. Der „Sinn“ für die entsprechenden „Wunderlichkeiten“ und „Extravaganzen des Apartseins, der Kaprice, des Pretiösentums“, den die Hymnen annoncieren und die Algabal in Reinform ausbildet (6.2 c), liegt „nicht mehr in den Inhalten solchen Benehmens, sondern nur in seiner Form des Andersseins […]“.217 Daraus leitet Simmel im übrigen genau jene Struktur ab, die man als Dialektik des Narzißmus bezeichnen könnte, nämlich jenes eigentümliche Phänomen der Selbstverliebtheit und der Abneigung gegen die Umwelt, die die Umwelt zu um so größerer Zuneigung bewegt: Gerade die Städter, so Simmel, sind von den Stadthassern wie Ruskin oder Nietzsche begeistert.218 Entsprechend bedient der George-Kreis den Selbsthaß der Bürger.219 Für die Ausbildung des George-Kreises im engeren Sinn wird der Zusammenhang von Aversion und Attraktion vor allem interessant, wenn er sich mit Generationenproblemen verbindet. So berichtet beispielsweise Friedrich Wolters, der ein besonderes Augenmerk auf die feindliche Ein_____________ 215 216 217 218 219
Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 130. Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 124f., 127. Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 128. Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 120, 130. Matt: Der geliebte Doppelgänger, S. 270f.
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stellung der Umwelt zum George-Kreis hat, zwei „professorensöhne“ hätten ihm erzählt, „wie die elterliche angst und wut vor dem ‚kreis‘ sie geradezu zu diesem phänomen hinführten“.220 Zusammengefaßt bedeutet dies: Die Großstädte bilden Einzigartigkeit und zugleich den Typus des allgemeinen Menschen aus; sie bieten den Austragungsort für den Konflikt dieser beiden Subjektpositionen und stellen „eines jener großen historischen Gebilde“ dar, „in denen sich die entgegengesetzten, das Leben umfassenden Strömungen wie zu gleichen Rechten zusammenfinden und entfalten“.221 In ihnen formiert sich eine Kreisstruktur von Produzenten und Rezipienten, die sich wechselseitig zur Steigerung von Aufmerksamkeitsleistungen anregen, wobei die Wahrnehmungssensibilität sich verbindet mit einer aufs äußerste gesteigerten Form der Selbstbezüglichkeit und Grenzziehung hin zur Umwelt. Für den Prozeß der Etablierung von Negativität ist das Umschalten von der Konzentration auf gesellschaftliche Harmonie hin zur Produktivität der Antagonismen signifikant, oder anders: die Konzeption von Harmonie über Heteronomie. Für die inneren Spannungen, den Umgang mit selbst erzeugter Widerständigkeit und damit für die Arbeit der Poesie, wie sie Georges Weihe vorführt, für diese Faktur des Werks als Kunst der Grenzziehung und Vermittlung von „Unterschiedsempfindlichkeit“ bietet Simmels Aufsatz Soziologische Aesthetik, der 1806 in Maximilian Hardens Die Zukunft erscheint, weitere Deutungsperspektiven. Die ästhetizistische Wendung – „Paris“ und „Wien“ werden von Simmel als Metropolen der modernen Kunst genannt – läuft demnach auf eine Kunst der weitestgehenden Distanzierung hinaus. Soziologische Aesthetik berührt sich an dieser Stelle mit Simmels Analyse des modernen ‚Geisteslebens‘, das sich ja das „Recht auf Mißtrauen“ herausgenommen und die „Aversion“ als Sozialisierungsfaktor anerkannt hat: Es ist die pathologische Erscheinung der ‚Berührungsangst‘ von der hiermit ein niederer Grad endemisch geworden ist: die Furcht, in allzu nahe Berührung mit den Objekten zu kommen, ein Resultat der Hyperästhesie, der jede unmittelbare und energische Berührung ein Schmerz ist. Daher äußert sich auch die Feinsinnigkeit, Geistigkeit, differenzierte Empfindlichkeit so überwiegend vieler moderner Menschen im negativen Geschmack, das heißt, in der leichten Verletzbarkeit durch Nicht-Zusagendes, in dem bestimmten Ausschließen des Unsympathischen, in der Repulsion durch Vieles, ja oft durch das Meiste des gebotenen Kreises von Reizen, während der positive Geschmack, das energische Ja-Sagen, das freudige und rückhaltlose Ergreifen des Gefallenden, kurz, die aktiv aneignenden Energien große Fehlbeträge aufweisen.222
_____________ 220 Brief vom 10. Juli 1927 (George / Wolters: Briefwechsel, S. 221). 221 Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 131. 222 Simmel: Soziologische Aesthetik, S. 211.
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Man sieht hier sehr gut, wohin die Etablierung von Negativität als Verhaltenscode geführt hat und wie „Unterschiedsempfindlichkeit“ in „Berührungsangst“ umkippt. Man sieht auch, wie der Leser, der in der Geschichte der Werkpolitik auf die Feinheit der Wahrnehmung verpflichtet worden ist, seine Sympathiefähigkeit wiederum mit der Fähigkeit zu um so größerer Kritisierbarkeit entgilt. Auch hier also kombiniert Simmel die Gegensätze: Das „Geistesleben“ der Moderne zeichnet sich auf der einen Seite durch die Steigerung von Reizbarkeit wie von Reizabwehr, von Visibilität wie von Invisibilität aus.223 Innerhalb der Aushandlung von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit zeigt sich dann – wie in der Inversion der hymnischen Erhabenheit ins Kleine und Unscheinbare in Georges Weihe – eine unscheinbare und dauerhafte Beweglichkeit. Hier ist das „Minimale […] das eigentlich Große“; hier verstecken sich die irritierenden, inkommensurablen Momente, die zuvor den erhabenen Überschreitungen zugewiesen wurden:224 An den liminalen Regungen der Natur, nicht an Gewitter, Blitz und Donner, liest das lyrische Ich in Weihe eine anstehende Erscheinung der „herrin“ und damit den Einbruch des Außergewöhnlichen in den Dichtungs- und Kulturraum der Umgebung ab. Dem korrespondiert der Entwurf einer „geistigen Kunst“, wie ihn die Blätter für die Kunst verkünden und die Anschauungslosigkeit und Musikalisierungen von Georges Weihe vor- und durchführen.225 Das Grenzgängerische der Weihe in Metrik, Syntax, Motivik, Topik und Tropik erscheint insofern als „absichtliche Durchbrechung eines aisthetischen Kontinuums im Dienste der Intelligibilität“.226 Von hier aus erst erschließt sich die interpretatorische Brauchbarkeit von Simmels „kunstphilosophische[r] Betrachtung“ Stefan George, die 1898 wie die Soziologische Aesthetik in Die Zukunft erscheint. Denn Simmel entfaltet darin als Kernthese in Verlängerung der Bürger-Kritik Schillers, Georges Lyrik sei ein Ausdruck der überpersönlichen „Form des Fühlens“, auf der „alle Kunst höheren Sinnes“ basiert. Die Kunst wird auf diese Weise zur Kunst der Grenzziehung, die sich „von der Vergewaltigung durch den primitiven Impuls erlöst[ ]“, die das „unmittelbare[ ] An_____________ 223 Dies ist die abschließende, argumentativ recht unvermittelte Volte von Simmels Soziologischer Aesthetik: „ermatteten, zwischen Hypersensibilität und Unempfindlichkeit schwankenden Nerven können nur noch die abgeklärteste Form und die derbste Nähe, die allerzartesten und die allergröbsten Reize neue Anregungen bringen“ (Simmel: Soziologische Aesthetik, S. 214). 224 Simon: Hymne und Erhabenheit im 19. Jahrhundert, S. 373; vgl. hierzu auch Jacobs: Stefan Georges ‚Hymnen’, S. 38f., der weniger von der Erhabenheits- als von einer fortgesetzten Schönheitsdiskussion ausgeht. Zur „Feinnervigkeit des Künstlers“ auch Adorno: George und Hofmannsthal, S. 198. 225 Simon: Hymne und Erhabenheit im 19. Jahrhundert, S. 379ff. 226 Simon: Hymne und Erhabenheit im 19. Jahrhundert, S. 380.
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stürmen“ abwehrt und damit die „Grenzlinie“ einer eigenen „Gefühlsprovinz“ errichtet.227 Auch hier bemerkt Simmel eine aversive Haltung, deutet allerdings den „Zug von Grausamkeit“, der vor allem in Algabal bemerkbar ist, als „Alleinherrschaft des Kunstgefühls“ und subsumiert damit die Gesten des Widerstands und Gewalt dem Willen zur schönen Form.228 Simmel bemerkt dabei zu recht, daß seine „Deutung des Lebensprinzips der Lyrik Georges durch das Anführen von Einzelheiten [nicht] zu belegen“ ist – „die Kraft vielmehr, die das Ganze trägt, kann auch nur aus dem Ganzen unzweideutig hervorleuchten“.229 An dieser Stelle ‚leuchtet‘ jedenfalls aus Simmels Ausführungen ‚hervor‘, welche Bedeutung das flirrende, seltsam diffuse Licht hat, das die Szenerien von Georges Gedichten überstrahlt: Es bedeutet den Evokationswert, die performative Qualität von Georges Medienkunst, die die Aufmerksamkeit im oben beschriebenen Sinn ausweitet und sie aufs Unverständliche verweist, zumindest dann, wenn man annimmt, Medien seien dasjenige, was Verstehen ermöglicht und aus diesem Grund selbst wiederum nicht verständlich.230 Die medial gewendete Ganzheitsästhetik als wichtiges Instrument der Werkpolitik und als Katalysator der Etablierung von Negativität stellt auf diese Weise neue Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten her (6.2 b u. c). Die Ganzheit des Kunstwerks ergibt sich aus der liminalen Bewegung von Grenzziehung und Grenzüberschreitung, aus dem, was das Werk als Summe der Differenzen möglich macht.231 Dies läßt sich aus der Sicht Simmels, wie er in der folgenden Besprechung zu George bemerkt, durch „keine Analyse feststellen“.232 Man könnte sagen: Simmel entfaltet das Werk Georges so, daß es nur im Zustand der Beweglichkeit ‚erscheint‘. Diese Beweglichkeit der Zeichen ist selbst stumm: Sie erzeugt Gegenwärtigkeit durch Bezüglichkeit, also durch den Verweis auf Abwesendes, wie es Georges Vergegenwärtigung der Inspirationsmacht im „zerstäuben“ der „hauche“ vorführt, das von eben diesen „hauchen“ durchweht wird; sie deutet als Geste auf eine Ordnung jenseits der Sinnlichkeit bzw. jenseits der Opposition von Sensiblem und Intelligiblem, die in den Unsicherheiten der synästhetischen Strukturen von Weihe ‚aufscheint‘; und ihr stellt sich in besonderem Maß das Problem des Anfangs, das in Georges Gesamtwerk permanent verhandelt wird. _____________ 227 228 229 230 231
Simmel: Stefan George. Eine kunstphilosophische Betrachtung, z. B. S. 290. Simmel: Stefan George. Eine kunstphilosophische Betrachtung, S. 291. Simmel: Stefan George. Eine kunstphilosophische Betrachtung, S. 294. So die strenge Behauptung von Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, S. 5 Aus dieser Perspektive wird Derridas „différance“-Konzept als historisches Modell einsetzbar (vgl. Derrida: Die différance, zum folgenden S. 33ff.). 232 Simmel: Stefan George. Eine kunstphilosophische Studie, S. 29.
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d) Der Strom der Poesie Die kulturellen Hintergründe, die Anschlußmöglichkeiten und damit die Semantik dieses Zusammenhangs von Aversion und Attraktion, der Georges poetische Arbeit bestimmt und der im Initiationsgedicht ausgestellt wird, erschließt sich über die Bildlichkeit der Weihe. Simmel arbeitet bei seiner Analyse der modernen Nervosität nicht zufällig mit einer Metaphorik des Flutens und Strömens. Diese Metaphorik konnotiert die Mobilität des modernen Menschen und vor allem der Menschenmassen. Immerhin bemerkenswert ist, daß George, der keinen festen Wohnsitz hatte, der sich stets nur als „besucher“ gesehen hat233 und der das Kursbuch, sein „Fahrbuch für die körperliche Bewegung“, stets griffbereit hatte234, daß also George einer der mobilsten Dichter überhaupt gewesen sein dürfte.235 Von seinen europäischen Exkursionen zu Beginn der Karriere bis hin zu seiner irrlichternden Existenz zwischen den verschiedenen Anlaufstellen des George-Kreises in der späteren Zeit scheint es fast so, als befinde er sich auf ‚Pilgerfahrten‘ ohne Ziel. Er vollzieht nach, was die anonymen Ströme des Geld-, Waren- und Nachrichtenverkehrs sowie die korrespondierend modellierten Nervenströme ihm vormachen.236 Aber indem er die abstrakten Kommunikationen der modernen Gesellschaft körperlich wiederholt, unterläuft er sie zugleich. Der Eindruck einer flutenden und strömenden Zeit markiert weiterhin einen zivilisationsgeschichtlichen Einschnitt insofern, als die Einkettung des Individuums in unpersönliche Zusammenhänge nicht zuletzt an der verlorenen Autarkie bei der Versorgung durch Wasser, Licht und Feuer augenscheinlich wird:237 Die Vernetzungen der Haushalte mit den zentralisierten Strom-, Gas- und Wasserwerken im Laufe des 19. Jahrhunderts deuten auf den Zusammenhang von Komfort und Abhängigkeit. Wenn Georges Weihe als Flucht an den „strom“ einsetzt, dann bedeutet dies um 1890 einen radikaleren Rückzug aus den gesellschaftlichen Zusammenhängen als je zuvor. Um so wichtiger, daß auch dieser Ausreisversuch mit den kulturellen Formatierungen (Politik, Pädagogik, Moral) belastet bleibt (6.1 a) und daß auf diese Weise die Radikalität der Verflechtung deutlich wird. Schließlich ist diese Metaphorik des Flutens und Strömens auch deswegen symptomatisch, weil die Ströme der Zeit ‚um 1900‘ – zumal für _____________ 233 George / Hofmannsthal: Briefwechsel, S. 171. 234 Boehringer: Mein Bild von Stefan George, S. 145. 235 Vgl. im Überblick Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 16ff., 85ff.; vgl. auch Boehringer: Mein Bild von Stefan George, S. 25, 58. 236 Vgl. dazu Asendorf: Batterien der Lebenskraft, S. 123f. 237 Asendorf: Ströme und Strahlen, S. 58ff.
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Großstädter – weniger Flüsse als vielmehr elektrische Ströme sind:238 Neben Bildern der Taktung und Rhythmisierung sowie einer Ökonomie des Sozialen, bei der es um Investitionen und Verausgabungen geht, ist für Simmel die Frage nach dem Energiehaushalt des Großstädters im „sozialen Kreis[ ]“ zentral.239 Zumindest versuchsweise läßt sich diese historische Energetik des Sozialen als Kontext des Weihe-Gedichts durchspielen, dessen Eingang dann eine neue Bedeutungsebene hinzu gewinnt. Nicht nur bei Simmel erhalten „strom“ und „wellen“ um 1900 eine neue Kernbedeutung. Für die Frage nach der Technisierung der Inspirationsvorstellung spielt die Elektrifizierung der Poetik generell eine aufschlußreiche Rolle.240 Dies gilt auch für den „strom“ des Weihe-Gedichts. Während 1886 noch zwei Brockhaus-Artikel den „Strom“ behandeln und ihn in die Bedeutung „Fluß“ und „elektrischer Strom“ zerlegen241, verweist die Komprimierung des Wissens in Brockhaus´ Kleinem Konversations-Lexikon von 1906 nur ein entsprechendes Lemma auf: „Strom, galvanischer, s. Galvanismus“.242 Das Phänomen der Berührungselektrizität war für die Zeit ‚um 1900‘ faszinierend, weil sich damit mehrere Konzepte verbanden, die für die Semantik der Zeit paradigmatisch waren. Der Galvanismus behandelt die Energieerzeugung durch Gegensätze, durch die Verbindung heteronomer Kräfte. Er arbeitet dabei mit dem Problem der „Zersetzung“, das sich bei der Energieerzeugung ergibt, und versucht diese „Zersetzung“ produktiv zu machen, indem sie über Vermittlungen in Kreisläufe umgelenkt wird. Die Kreisläufe wiederum erzeugen erst durch ihre Abschließung Strom und als weitere Effekte Anziehungskräfte (Magnetismus) oder gleichförmige Zustände in benachbarten Elementen (Induktion). Die Kreisläufe können durch verschiedene Formen der (Nach- oder Parallel-)Schaltung erweitert werden, also durch die Kombination gleichförmiger Elemente in Batterien, deren Zahl je nach „Leitungswiderstand“ gesteigert werden muß. Und selbst der „Widerstand“ hat seine produktive Funktion, insbesondere in Form von „Wärmewirkungen“, die zur Glühlichterzeugung benutzt werden können.243 _____________ 238 Asendorf: Ströme und Strahlen; ders.: Batterien der Lebenskraft. 239 Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, z. B. S. 128. 240 Metaphorisch ist diese Bedeutungsebene der George-Forschung intuitiv vertraut, wenn beispielsweise Jan Aler über die Georgeschen Zyklen schreibt, in ihnen erzeugten die Gedichte „so etwas wie einen Kräftestrom“, und wenn er die „geistigen Energien“ verfolgt, die sie sich durch ihre spezifischen Verfahren zuleiteten (Symbol, S. 214, 229). 241 Brockhaus´ Conversations-Lexikon. Bd. 15, S. 309. 242 Brockhaus’ Kleines Konversations-Lexikon. Bd. 2, S. 779. 243 In aller Ausführlichkeit finden sich die genannten Theorie- und Beschreibungselemente in den entsprechenden Artikeln „Galvanisch“, „Galvanische oder Voltasche Batterie“, „Galvanischer oder Voltascher Strom“, „Galvanismus oder Voltaismus“ in: Brockhaus’ Conversations-Lexikon. Bd. 7 (1884), S. 499-508. Daran schließen sich weitere Artikel zu Be-
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Die Vermutung liegt daher nahe, daß sich die Faszination für den Galvanismus auch aus seinen konzeptionellen Angeboten für die Selbstbeschreibung einer Gesellschaft erklärt, die sich selbst als eine dekadente Epoche aufgefaßt hat und die von sich selbst den Eindruck gewinnt, sie atomisiere sich und löse sich in Antagonismen auf. Die Pointe besteht darin, daß – wie im Falle der Simmelschen Umkehrung zwischenmenschlicher Aversion in eine Sozialisierungsform – die Theorie und Praxis der Elektrizität mit den Problemen der Heteronomie und Zersetzung, der Abschließung und Widerständigkeit produktiv umgeht und sie als Teile eines Prozesses versteht, aus dem sich Energie oder Licht gewinnen läßt. Die Beschreibungsmodelle des „Galvanismus“ ließen sich als Allegorie auf Georges ästhetische Verfahren lesen. Vor allem aber ermöglichen sie, einige der Bilder in Weihe aufzulösen – immerhin gehört zu den „physiologischen Wirkungen“ des Stroms, daß „galvanische Ströme“, die man „durch die geschlossenen Augen“ leitet, „durch die Reizung des Sehnerven Lichtempfindungen“ erzeugt.244 Abgesehen von solchen eher vermittelt brauchbaren Bezügen, tauchen elektrische Licht- und Klangeffekte245 bei George explizit auf, wenn es um den „elfentanz“ und das „elfenlied“ geht („Hörst du das elfenlied zum elfentanz?“): Als „elfentanz“ wird traditionell das Phänomen des Irrlichts gedeutet, von „angeblich hüpfende[n] Flammenerscheinungen, die bes. in sumpfigen Gegenden vorkommen sollen“. Während 1884 nur die unplau_____________
reichen an, die als galvanische Kopiertechniken direkte Bezüge zu George haben, etwa „Galvanoglyphie“ und „Galvanographie“, „Galvanokaustik“ und „Galvanoplastik“. Der entsprechende Artikel lautet in der pointierten Fassung von 1906: „Galvanismus, Voltaismus, Berührungs- oder Kontaktelektrizität, die durch Berührung chemisch ungleichartiger Leiter erregte Elektrizität, deren Wirkung zuerst Galvani (1789) beobachtet hat. […] Volta erkannte, daß […] die Elektrizität nur durch Berührung zweier verschiedener Metalle erregt wurde und wies dies mit dem Elektroskop […] nach; er stellte die Elektrische Spannungsreihe (s.d.) auf und verstärkte die Elektrizitätserregung durch Vervielfachung der Berührungsstellen zwischen Metallen (Kupfer und Zink) und Flüssigkeiten (verdünnte Schwefelsäure) in der von ihm konstruierten, aus diesen Stoffen aufgeschichteten Voltaschen Säule; mit einer bequemen Anordnung, durch Eintauchen der Metallplattenpaare, die er Leiter erster Ordnung nannte, in nebeneinandergestellte, mit den erregenden Flüssigkeiten (Leitern zweiter Ordnung) gefüllte Gefäße, schuf er an Stelle der Säule die Form der galvanischen Batterie. Sind alle heterogenen Plattenpaare (Elemente) paarweise in der Batterie durch Drähte leitend verbunden und ist so die galvanische Kette geschlossen, so zirkuliert in derselben, da die elektromotorische Kraft fortwährend tätig ist, ein galvanischer Strom. Diese strömende Elektrizität wirkt auf die festen Leiter (Metalldrähte) erwärmend, erzeugt an Unterbrechungsstellen Schließungs- und Öffnungsfunken und bei größerer Stromstärke einen dauernden Lichtbogen (s. Elektrische Lichterscheinungen), in den flüssigen Leitern chem. Zersetzungen (s. Elektrolyse) und außerhalb der Leiter magnetische (s. Elektromagnetismus) und Induktionswirkungen (s. Induktion, elektrische)“ (Brockhaus’ Kleines Konversations-Lexikon. Bd. 1, S. 641). 244 Brockhaus’ Conversations-Lexikon. Bd. 7, S. 504. 245 S. den Artikel „Galvanisches Tönen“ in: Brockhaus’ Conversations-Lexikon. Bd. 7, S. 504.
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sible Hypothese sich entzündender „Wasserstoffgase“ zur Verfügung stand246, wandelt sich auch hier das Erklärungsmodell. 1908 heißt es dazu: „noch nicht genügend aufgeklärt, vielleicht eine Erscheinung der Luftelektrizität“.247 Schließlich kann man sich das „zersplittern“ einer „nebelmauer“ von hier aus besser vorstellen („Siehst du […] / Die dünne nebelmauer sich zersplittern?“): Es sind blitzartige „elektrische Lichterscheinungen“, die experimentell auf verschiedene Arten erzeugt sowie fotografisch festgehalten wurden und das Bildgedächtnis mit neuem Stoff versorgten.248 Und weiter: Man könnte sagen, daß der Blitz, die epiphanische Figur der Erscheinung unsichtbarer Energie, die gerade wegen ihrer Omnipotenz, Allgegenwärtigkeit und Körperlosigkeit fasziniert, zum Paradigma für die renovierte Musen-Erscheinung wird – Elektrizität und Licht werden gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder allegorisch als herabschwebende Frauengestalten mit Aureole, also mit dem „hauch“ der Göttlichkeit versehen, dargestellt.249 Konsequenterweise verbildlicht der „Blitz“, die terroristische Variante der ‚Aufklärung‘, den Anspruch auf eine „Revolution“ in Philosophie und Literatur250, wie sie der lyrische Anarchist George herbeiführen wollte.251 Die märchenhafte Verzauberung der Betrachter durch Irrlichter jedenfalls wird analogisch erklärt durch die „magnetische[n]“ Bezüge und die „Induktionswirkungen“, kurzum: durch die Kraft einer anziehenden Energiequelle, die über Distanz Parallelphänomene erzeugt. Wieder also erweist sich die Weihe als Einschluß dessen, was ausgeschlossen wird: Die Verführungskraft der ‚Wellen‘ wird zwar blockiert („Verbietend junger wellen schmeichelchore / Zum ufermoose kosend vorzudringen“), die Blockade aber vollzieht sich eben genau in Form jener wellenförmigen Attraktivität, die das Gedicht zurückweist („Hörst du das elfenlied zum elfentanz?“).
_____________ 246 Brockhaus’ Conversations-Lexikon. Bd. 9, S. 674. 247 Brockhaus’ Kleines Konversations-Lexikon. Bd. 1, S. 873. 248 Vgl. den entsprechenden Artikel und die entsprechende Bildtafel in: Brockhaus’ Kleines Konversations-Lexikon. Bd. 1, S. 500f. 249 Vgl. Beispiele bei Schivelbusch: Lichtblicke, S. 80; Asendorf: Ströme und Strahlen, S. 151. 250 Vgl. zur Blitz-Metapher bei Nietzsche: Asendorf: Ströme und Strahlen, S. 149. Hier ist der Umschlag von Carl Bleibtreus Revolution der Literatur abgedruckt (in der 3. Aufl. von 1887), auf dem Blitze die Titelschrift durchzucken (ebda.). Zur Gegnerschaft Georges zur Literatur-„Revolution“ des Naturalismus vgl. Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 56; zu den „schreienden Buchumschlägen der Naturalisten“ ebda., S. 145. 251 Zu Georges Faible für den Anarchismus vgl. Zöfel: Die Wirkung des Dichters, S. 30, 309.
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Um von hier aus zusammenzufassen: George, so war zu sehen, setzt sich mit dem Problem der Werkkonstitution auseinander. Er konzipiert die Hymnen und insbesondere die Weihe als das „NEUE“, dies aber immer nur unter Einbeziehung und im Durchkreuzen des ‚Alten‘. Diese Liminalität definiert auf verschiedenen Ebenen Empfänglichkeit, konturiert eine bestimmte Form von Aufmerksamkeit und reflektiert das Spiel von Visibilität und Invisibilität. Es geht George an der Grenze zum Werk in einem Werk, das das Problem der Grenze thematisiert und sprachlich inszeniert, darum, Wahrnehmungsschwellen zu bestimmen. Von der Aufmerksamkeitsirritation durch die wesentlichen ‚Äußerlichkeiten‘ des Werks über die zyklische Ordnung als Medium, die Lektüreleistung eines kritischen Beobachters zweiter Ordnung zu absorbieren, bis zur Mikrologie der sich selbst blockierenden Spracharbeit versetzt George die Aufmerksamkeit in eine liminale Beweglichkeit, die das Werk als privilegierten Kontext seiner selbst nachvollzieht. Georges Taktiken der Verunklärung gehören dabei zu einem größeren Ensemble von Versuchen, die Aufmerksamkeit als zeitgemäßes Problem aufzufassen, sie zu handhaben und zu manipulieren. Wie immer steigern jedoch auch in diesem Fall die Rigidität und Verfeinerung des Zugriffs die Möglichkeiten der Subversion, die Möglichkeiten der Abweichung und somit den Eindruck der Überforderung der Steuerungsgewalten. Nicht nur aus diesem Grund wird verständlich, warum Georges Dichtung im Zeichen des Scheiterns steht. George trägt die Möglichkeiten des Werks offensiv aus. Die uneinlösbaren Zumutungen der Werkpolitik stimulieren eine permanente Beweglichkeit, eine Frustration, die sich selbst zum Antrieb wird. Der historisch korrekte Begriff für diese Handlungsund Psychostruktur ist ‚Arbeit‘, weil diese „das Ueberwinden von Hemmnissen“ (Simmel) zum Prinzip macht. Georges Reflexionsschleifen, die den Leser ständig auf die Vorleistungen aktueller Produktionen im vorangegangenen Werk verweisen, demonstrieren den Aufwand an willentlicher, geistiger, emotionaler und körperlicher Anstrengung. Zur Anthropologiegeschichte der Stimmung gehört diese dichterische Arbeit, weil sie auf Latenzen und Beziehungen setzt. Ihre adäquate Wertschätzung bedeutet, daß man das, was nicht dasteht, mitsieht, oder anders: daß man ‚Form‘ und ‚Medium‘ zugleich in den Blick nimmt. Dies freilich kann nicht funktionieren. Aber dadurch wird Stellenwertbewußtsein und Stellenwertaufmerksamkeit sowie Enttäuschungsresistenz ausgebildet. Man sieht, daß damit philologische Blickwinkel von Georges Werkpolitik privilegiert werden. Zu deren konventionellem Repertoire gehört nämlich die Beobachtung von Stellenwerten, wenn sie beispielsweise literaturgeschichtliche Kontexte anführen oder die Relevanz von Erscheinungsorten und -zeitpunkten der Quellen bestimmen. Gerade das Werk als Chrono-
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topos ist für die Beschäftigung mit George von besonderer Bedeutung (oder eben: wird von ihm mit besonderer Bedeutung ausgestattet). Georges Werkpolitik laviert permanent an Grenzen entlang, seien es die Grenzen des Gesamtwerks, des Einzelwerks oder des Subjekts als Autor und Leser. Der kulturhistorische ‚Stellenwert‘ dieser Werkpolitik kann als dichterische ‚Arbeit‘ entfaltet werden sowie im Blick auf typische politische, soziale oder geschlechtliche Distinktionen und Dichotomisierungen der Zeit ‚um 1900‘. Weil diese Dualismen so auffällig werden, schlägt das Pendel auch auf die andere Seite der Frage nach dem Zusammenhang des Getrennten um. Eine gleichsam nervöse Beobachtung des ‚Zeitalters der Nervosität‘ versucht durch Agilität die zeittypischen Ausschließungen einerseits, die prinzipielle Selektivität der Wahrnehmung andererseits auszugleichen. Wenn Positionsflexibilität zu den Reaktionsformen gehört, die dem Prozeß der Etablierung von Negativität angemessen sind (2.4 u. 2.5), dann gehört Georges Werkpolitik in diesen Prozeß. Seine auffällige Schroffheit gegenüber gesellschaftlichen Verständigungskonventionen, seine auch zum ästhetischen Prinzip gemachte Unhöflichkeit wird als Effekt kritischer Kommunikation beschreibbar, und dies nicht zuletzt, weil die Absage an Positivität als Katalysator des reibungslosen sozialen Ablaufs eine eigentümliche Attraktivität entfaltet. Die prinzipiell aversive Haltung gegenüber seiner Zeit schließt George eben nicht aus der literarischen Kommunikation aus, sondern wird als Beitrag akzeptiert. Wenn man versuchsweise die ‚Energie‘, die von Georgs Werk ausstrahlt, wörtlich nimmt, zeigt sich zumindest, wie tief die Problemfelder, die Georges Werkpolitik korrespondieren, unterschiedliche Bildbereiche und auf diese Weise die Semantik insgesamt bestimmen. Der „melodienstrom“ von Georges Gedichten, den er selbst in den Hymnen ins Spiel bringt und den seine Leser, wie Ida Coblenz, wiederfinden und als Deutungsmodell verwenden (6.1 a), hat also nicht nur den metaphorischen Sinn einer fließenden Übergänglichkeit und Bezüglichkeit der Lautmelodie, sondern auch den der Entfaltung von Sprachenergie. Friedrich Nietzsche beschreibt ein solches Konzept der Sprachenergie am Beispiel von Horaz und formuliert damit zugleich eine kurz gefaßte Poetik des Symbolismus. In Götzen-Dämmerung heißt es über den römischen Dichter: Bis heute habe ich an keinem Dichter dasselbe artistische Entzücken gehabt, das mir von Anfang an eine Horazische Ode gab. In gewissen Sprachen ist Das, was hier erreicht ist, nicht einmal zu wollen. Dies Mosaik von Worten, wo jedes Wort als Klang, als Ort, als Begriff, nach rechts und links und über das Ganze hin seine Kraft ausströmt, dies minimum in Umfang und Zahl der Zeichen, dies damit erzielte maximum in der Energie der Zeichen – das Alles ist römisch und, wenn
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man mir glauben will, vornehm par excellence. Der ganze Rest von Poesie wird dagegen etwas zu Populäres, – eine bloße Gefühls-Geschwätzigkeit ...252
Auch hier geht es um den Zusammenhang von Isolation und Beziehungsstiftung: Das für sich gedachte Wort wird in seiner räumlichen Fixierung beachtet. Das Strömen der Wortenergie führt dann zu einer Aufmerksamkeit, die nicht auf die Linearität der gewöhnlichen Lesebewegung fixiert bleibt, sondern eine irisierende Aktivität des ‚Vor‘ und ‚Zurück‘ entwikkelt. Auf diese Weise stellt die Aufmerksamkeit für den „melodienstrom“ das „Ganze“ gegen das „Populäre[ ]“ und attestiert ihm zugleich eine über alle andere Poesie hinausweisende Anziehungskraft. Nur nebenbei sei bemerkt, daß Nietzsche in einem Nachlaßfragment sein Konzept der künstlerischen Extase auch als „induction psycho-motrice“ entwickelt und damit in den Kontext des Elektromagnetismus rückt.253 Diesen Zusammenhang von Sprachmusikalität, Sprachenergie und Aufmerksamkeit sowie von Abstoßung und Attraktion will ich – wiederum im Blick vor allem auf Weihe – am Beispiel Wagners und Nietzsches als den Paten von Georges Werkpolitik entfalten.
6.2 Die Materialgerechtigkeit des Werks: Wagner, Nietzsche und George Zu den zentralen Verführungsgewalten des 19. Jahrhunderts, dessen „schmeichelchore“ sich ebenso viele Zuschauer willig ausgeliefert wie (zum Teil vergeblich) zu entziehen versucht haben, gehört Wagners Musikdramatik. Wagner, dessen Ring für Thomas Mann der „Inbegriff des Werkes“254 bzw. „das Prototyp des ‚Werkes‘“255 war, erhellt Georges Werkpolitik, weil er seine künstlerische Entwicklung auf der einen Seite mit einer programmatischen Reflexion des Eigensinns begleitet, der die verschiedenen Kunstformen je für sich bestimmt, und auf der anderen Seite nicht minder programmatisch die Funktion von „Institutionen“ analysiert, insbesondere die eingeschliffenen Konventionen des Theaters _____________ 252 Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Bd. 6, S. 154f. 253 Vgl. dazu Kittler, der den Passus allerdings so behandelt, als sei er Teil der TragödienSchrift: Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaften, S. 171. Vgl. in diesem Zusammenhang auch das Konzept der „Entladung“, das Nietzsche von der medizinischen Deutung der Katharsis bei Jacob Bernays übernimmt (Ugolini: Tragödie, S. 338), sowie generell zur Rezeption der Naturwissenschaften bei Nietzsche Zittel: Naturwissenschaft. Zu Nietzsche im Kontext der Physiologie der Aufmerksamkeit vgl. Crary: Aufmerksamkeit, S. 143ff. 254 Mann: Wagner und unsere Zeit, S. 60. 255 Thomas Mann an Ernst Bertram, S. 92.
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und seiner Verhinderungs- und Ermöglichungsbedingungen. Wagners Ästhetik ist zum großen Teil der Versuch, die Aufmerksamkeit des Publikums auf eine neue, zuvor nie dagewesene Art zu lenken und eine hypnotische Gewalt über den Zuschauer zu erringen.256 Zudem operiert er werkpolitisch stets offensiv unter Bedingungen kritischer Kommunikation und macht sich an die Akquirierung von „Aufmerksamkeit“.257 Nicht zufällig also ordnet Wolters Georges Physiognomie, die ja für ihn den letzten Geheimnissen des Dichters Ausdruck verleiht, in eine Reihe mit derjenigen Wagners ein.258 Zusammengefaßt bedeutet dies, daß Wagner eine hohe Sensibilität für Fragen der Materialgerechtigkeit aufbringt. Daraus erwächst ihm der Eindruck, allein in völliger Isolation seiner Kunst von der betrieblichen Normalität der etablierten Institutionen könne diese ihre heilsame Wirkung auf eine verderbte Zeit entfalten; nur in dieser Isolation schien es ihm möglich, das „Sehen“ neu zu bestimmen und den Zuschauer in einem umfassenden Sinn neu zu positionieren; nur auf diese Weise meinte er die Grenzen der Bühnenkunst „durch architektonische Vermittlung“ transzendieren zu können.259 Dabei beschränkt Wagner sich schon aus Geldmangel auf das „rein Zweckmäßige“260, und auch das verbindet ihn mit Georges Werken, zumal in der Zeit vor den Prachtausgaben. Ein Bezug zwischen Georges Weihe und Wagners Gesamtkunstwerk liegt bei aller offensichtlichen Divergenz der Größenverhältnisse auf vielfache Weise nahe: thematisch durch die „Weihe“ als künstlerischem Effekt, inhaltlich durch die Verführungskraft des Wassers am Anfang des Werks, formal durch die geradezu aufdringlich genutzte alliterierende und assonierende Kombination des Wortmaterials, durch Elemente von Sprachmusikalität also, um derentwillen auch Mallarmé Wagner positive Seiten abgewinnen konnte, sowie durch die Synästhesien, die Baudelaire an Wagner fasziniert haben.261 Daß der Bezug zwischen Wagner und _____________ 256 Crary: Aufmerksamkeit, S. 197ff., zu letzterem ebda., insbes. S. 201f. Vgl. hierzu auch die gemeinsame Nennung Wagners sowie der Blätter für die Kunst und der BaudelaireÜbertragung in einer Stellungnahme Mallarmés (Boehringer: Mein Bild S. 203). 257 Vgl. hierzu und zum folgenden die unter Bayreuth zusammengefaßten Beiträge, in denen Wagner die Entwicklung seiner Ambitionen resümiert (Sämtliche Schriften und Dichtungen. Bd. 9, S. 311ff.). 258 Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 576. 259 Vgl. z. B. Wagners Erläuterung zum Prinzip des unsichtbaren Orchesters als Keimzelle seiner Festspielpläne (Sämtliche Schriften und Dichtungen. Bd. 9, S. 336ff.). 260 Wagner: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Bd. 9, S. 340. 261 Zur Wagner-Rezeption im Überblick vgl. Müller: Richard Wagner in der Literatur und im Film. Zu Mallarmés Faible für Alliterationen, die dieser indes nicht als Restitution ursprünglicher, natürlicher Sprachformen verstanden hat, vgl. Zimmermann: „Träumerei eines französischen Dichters“, S. 162f. Zu den zentralen Motiven und Themen des Wagnerismus vgl. Koppen: Dekadenter Wagnerismus, s. 85ff. – diese bestehen demnach in einem
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George legitim ist, hat die George-Forschung immer wieder zu zeigen versucht: Man weiß, daß George als Besucher des Darmstadter Hoftheaters bereits früh mit der Musik Wagners in Kontakt gekommen ist262; man vermutet, bei seinen Paris-Aufenthalten sei er von der Wagner-Begeisterung der Ästhetizisten und Symbolisten infiziert worden263; man wertet die spärlichen Bemerkungen zu Wagner aus und sammelt die motivischen und thematischen Parallelstellen sowie Zitate.264 Der frühe George, der bei Gelegenheit seine persönlichen Beziehungen im Lichte Wagnerscher Figuren präsentiere265, hatte demnach ein ungebrochen positives Verhältnis zur Musik, und dies nicht zuletzt im Zeichen der Wagner-Begeisterung seiner französischen Förderer.266 Als George sein Werk allmählich im Maximin-Erlebnis zentriert, ändert sich diese Einstellung. Die Bemerkungen zur musikalischen Kunst werden kritisch, teils drastisch abwertend,267 wie in jenem von Maximilian Kronberger überlieferten Diktum Georges: „Musik steht auf der tiefsten Stufe der Kunst. Sie ist die Kunst, die selbst den Tieren in einem bestimmten Grade eigen ist“.268 Den Hintergrund für diese Umwertung bildet u. a. die Konzentration auf statische Konzepte im Umfeld der „Gestalt“-Ästhetik und -Ethik wie ‚Bild‘ oder ‚Leib‘, die eine Annäherung an die Kunst der Plastik annoncieren.269 Man muß den „Wagnerianismus“ jedoch nicht notwendigerweise als „Werbe-Fiktion“ begreifen270, um dennoch Verschrän_____________
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philosophischen Wagnerismus, der Wagner mit Schopenhauer verwechselt und diesen auf eine Todesphilosophie à la ‚Tristan’ reduziert (ebda., S. 85f.), in einem symbolistischen Wagnerismus, der das Faible für Sprachmusikalität mit dem ästhetischen Programm Wagners verwechselt (ebda., S. 86f.), um einen epischen Wagnerismus, der musikalische Formprinzipien (insbesondere das sogenannte ‚Leitmotiv’) auf die Prosa zu projizieren versucht (87f.), sowie um einen dekadenten Wagnerismus, der die erotischen Komponenten sowie die Verbindung von Eros und Thanatos akzentuiert (ebda., S. 93ff., insbes. S. 115ff.). Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 13. So z. B. die Hinweise bei Osthoff: Stefan George und ‚Les deux musiques’, S. 3f., 91f., 252ff.; Möller: Wagner – Nietzsche – George, S. 159ff.; Schäfer: Wortmusik, S. 254f. Zu Wagner-Reminiszenzen, die sich als direkte Zitate lesen lassen, vgl. Osthoff: Stefan George und ‚Les deux musiques’, S. 124ff. Zumindest im Briefwechsel mit Ida Coblenz, die George am 20. November 1892 an den „roman von Siegfried und Brünhild“ erinnert (George / Coblenz: Briefwechsel, S. 38). Coblenz versteht dies in ihren Erinnerungen als Reaktion darauf, daß sie George naiverweise erhaltene Liebesbriefe gezeigt habe (ebda., S. 80). Coblenz spielte George WagnerPassagen vor (Osthoff: Stefan George und ‚Les deux musiques’, S. 31f., 129f.). Urban: Kinesis and Stasis, S. 18, 107ff. Urban: Kinesis and Stasis, S. 18f., 115ff. Kronberger: Gedichte, Tagebücher, Briefe, S. 91. Allerdings schildert auch Kronberger George noch als „Musikfreund“ (ebda., S. 47). Urban: Kinesis and Stasis, S. 40ff. Zu Georges Verhältnis zur Malerei vgl. Stefan George im Bildnis, S. 19ff.; zur Kritik an der ‚unendlichen Melodie’ Osthoff: Stefan George und ‚Les deux musiques’, S. 48. Mattenklott: Bilderdienst, S. 237.
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kungen zu finden.271 Nicht umsonst spielt der Bild-Begriff in Weihe 272 und umgekehrt das „Lied“ beim späten George ein zentrale Rolle (6.4 c). Nach den überlieferten Zeugnissen hat George Wagner insbesondere als Institution geschätzt – die Bayreuther Blätter richten sich wie die Blätter für die Kunst auf die fraglos gültige Autorität Wagners aus, und Saladin Schmitt kommen die Strukturen des George-Kreises 1912 „verdächtig Bayreuth’sch“ vor.273 Wagners und Georges Liaison liegt nahe, weil beide sich als isolierte Gegen- und Korrektivinstitution ihrer Zeit positionieren, die aus Perspektive des Musikdramatikers wie des Dichters eine Verfallszeit darstellt.274 Tatsächlich verteidigt George Wagner gegen die für ihn durchaus nachvollziehbaren Vorwürfe Nietzsches und lenkt dessen Kritik vor allem auf den dahinter liegenden „Treubruch“ um. „[…] Wagner war Nietzsches Meister!“, habe George nach Salins Erinnerungen in einer entsprechenden Diskussion ausgerufen: Keine „Geburt der Tragödie“, kein Nietzsche ohne die Erweckung durch Wagner! Nein, nein – Nietzsche hat Wagner verraten! Wenn er wirklich über ihn hinauswuchs, dann hätte er schweigend von ihm gehen können. Aber dieses Getöse, diese angebliche Entlarvung! Nietzsche selbst hat ganz genau gewusst, daß der Fall Wagner auch ein Fall Nietzsche ist.275
Bereits 1892 hatte Carl August Klein in seinem Blätter-Beitrag Über Stefan George Wagner neben Nietzsche, Böcklin und Klinger mit George in die Reihe derjenigen gesetzt, die in Deutschland eine „neue[ ] kunst“ vertreten, und dabei die Musikalität der Georgeschen Verse besonders betont (BfK I/2, 49f.). Die Anteilnahme Georges an Kurt Hildebrandts Ausführungen zu Wagner und Nietzsche und deren „Kampf gegen das 19. Jahrhundert“ lassen darauf schließen, daß für Georges Wagner-Bild dieser „Kampf“ im Fokus stand, daß aber auch Inhaltliches, etwa die „Idee des Kaiserreichs und des deutschen Königstums“, von Bedeutung gewesen ist.276 Dichterisch hingegen hielt George in dieser Zeit Wagners Diktion _____________ 271 Z. B. Urban: Kinesis and Stasis, S. 123. 272 Urban beachtet dieses Gedicht bezeichnenderweise nicht. Zudem bleibt bei dieser strikten Unterteilung des Werks in einen musikaffinen und einen musikdistanzierten Teil offen, warum George sein Werk auf den ‚Lied’-Zyklus im Neuen Reich zulaufen läßt. Auch dies wird bezeichnenderweise von Urban, der die Bedeutung des Tanzes beim späten George noch erfaßt (Kinesis and Stasis, S. 173ff.), nicht in Betracht gezogen. 273 Brief an Ernst Bertram vom 20. Februar 1912 (zit. nach Möller: Wagner – Nietzsche – George, S. 167). 274 Vgl. Wagners Mitteilung und Aufforderung an die Freunde meiner Kunst, die er in Schlußbericht über die Umstände und Schicksale seiner Nibelungen-Tetralogie zitiert (Sämtliche Schriften und Dichtungen. Bd. 9, S. 315f.). 275 Salin: Um Stefan George, S. 284f. 276 George empfiehlt Hildebrandt Richard Wagners Schrift Die Wibelungen. Weltgeschichte aus der Sage, „worin die Idee des Kaiserreichs und des deutschen Königstums mit dem Frankenstamm in enge Beziehung tritt“ (Hildebrandt: Erinnerungen an Stefan George und
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für „unerträglich“, und auch Wagners Verständnis des „Religiöse[n]“ und „Kultische[n]“, das dieser „auf die Bühne geschleppt habe“, war für George schwerlich akzeptabel.277 a) Isolation und Innovation In Weihe nähert sich George inhaltlich und formal zentralen ästhetischen und philosophischen Problemstellungen Wagners, dessen Sprachtheorie in verschiedenen Varianten auf eine Musikalisierung des Worts, auf die Überwindung einer rationalistisch zersplitternden Welt und auf die Restituierung der ursprünglichen Harmonie zielt.278 Es geht mir dabei an dieser Stelle weniger um Einflußverhältnisse, sondern eher um ein Phänomen des zeitgenössischen europäischen ‚Wagnerismus‘, der sich aus „WagnerReflexe[n]“ und „Wagner-Projektionen“ zusammensetzt.279 Aufschlußreich sind die positiven Bezüge zwischen Wagners kulturtheoretischer Ästhetik und Georges Ausdrucksformen in Weihe zunächst deswegen, weil sie interpretatorische Akzentuierungen insbesondere der programmatischen Qualität des Initiationsgedichts erlauben: Der Naturraum der Weihe erweist sich als Dichtungsraum. Auch bei Wagner ist der „Hauch“ eine Metapher für Poesie, wenn Siegfried im zweiten Aufzug des nach ihm benannten Teils der Nibelungen-Tetralogie den „holde[n] Sang!“ als „Süßesten Hauch“ anruft.280 Dieser Dichtungsraum erfüllt eine ähnliche Funktion wie das Wagnersche Musiktheater, das – insbesondere in Form des Bayreuther Festspielhauses – den von der gesellschaftlichen Realität abgeschlossenen Ort für die „Zukunftsmusik“ bietet. Außerhalb der musikalischen Weihe-Stätte findet die Kunst keine adäquaten Verwirklichungsmöglichkeiten. Wagner koppelt Gebäude und Werk als die „eine“ und die „andere“ „Gesamtheit“ aneinander, weswegen z. B. die zusammenfassende Betrachtung Bayreuth mit einem „Schlußbericht über die Schicksale meines Werkes und des mit _____________ 277 278
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seinen Kreis, S. 176). Auch in Salins Erinnerungen steht dieser „Kampf gegen das 19. Jahrhundert“ im Zentrum (Um Stefan George, S. 284). Hildebrandt: Erinnerungen an Stefan George und seinen Kreis, S. 108. In einer noch nicht durch den ‚Staat’ beschädigten Welt, so führt Wagner beispielsweise in Oper und Drama aus, entfalte sich die Sprache in unmittelbarem Bezug auf die sinnliche Wahrnehmung und schmiege sich als Ausdruck den Eigenschaften der Gegenstände an (Wagner: Oper und Drama, S. 233). Vgl. zur Alliteration und anderen Verfahren, die diese Einheit von Welt und Wort wiederherstellen sollen und gerade die deutsche Sprache auszeichnen sollen, ebda., insbes. S. 234, 249, 372. Dazu Koppen: Dekadenter Wagnerismus, hier z. B. S. 78; zum weniger verbreiteten deutschen Wagnerismus vgl. ebda., S. 82ff. Wagner: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Bd. 6, S. 150.
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ihm zusammenhängenden Planes“ beginnt.281 In diesem ausgegrenzten Raum werden die gesellschaftlichen Problemlagen ausgetragen und performativ in der ästhetischen Vor- und Aufführung überwunden. In beiden Fällen verbindet sich mit jener Exklusivität, die die historischen Umstände erzwingen, der Anspruch auf künstlerische Einzigartigkeit und auf das „zerstäuben“ der „fremden hauche“.282 Die (Selbst-)Bezüglichkeit der aus ihren konventionellen Zusammenhängen gerissenen Worte, die antirationalistische Wendung („ohne denkerstörung“), die Vision einer Rückkehr in eine Form des „Ur“-Zustands („Im rasen rastend sollst du dich betäuben / an starkem urduft“) – all dies macht das Projekt Wagners mit dem Programm und der Faktur des Weihe-Gedichts vergleichbar. Die eigentümliche Kommunikation von „finger“ und „lippe“ läßt sich von hier aus noch einmal reinterpretieren: Die „lippe“ erweist sich dann als Symbol einer musikalisierten Wortsprache: In Von einer Begegnung ist von der „welle“ der „lippe“ die Rede (GW 2, 15), so daß erneut das in der Weihe anfänglich Ausgegrenzte (der „junge[n] wellen schmeichelchor“) im Lauf des Gedichts in veränderter Gestalt wiederkehrt. Diese Allegorie der musikalisierten Wortsprache begegnet dem „finger“, mithin den körperlichen Ausdrucksformen der Gebärdensprache. Auf diese Weise realisiert sich im Gedicht das utopische Projekt Wagners, den Verbund von Gebärden-, Ton- und Wortsprache zu restituieren.283 Vor dem Hintergrund der Schopenhauerschen Wende von Wagners Theorie des Musiktheaters wird dabei der Verlust der „namen“ („der zeiten flug verliert die alten namen“) lesbar im Zusammenhang mit der regressiven Wendung des Gedichts. Die lyrischen Taktiken der Verunklärung zielen darauf, jene Sprachform zu überwinden, die auf Individualisierung und direkte Identifizierbarkeit angelegt ist und damit das sprachliche Äquivalent des principium individuationis bildet. Daß Wagners Bühnenentwürfe gleichsam poetisch und musikalisch die von Freud später durchleuchteten Psychostrukturen der narzißtischen Persönlichkeit erhellen, bildet dabei nur die eine Seite. Auf der anderen Seite findet sich das Programm, gesellschaftliche Konventionen zu überwinden und in eine uranfängliche Einheitlichkeit zurückzukehren.284 _____________ 281 Wagner: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Bd. 9, S. 311, 314, 319. 282 In einem Brief an Albert Verwey wertet George die Vermittlungsfunktion von Übersetzungen ab und verweist dabei auf Richard Wagner (Boehringer: Mein Bild von Stefan George, S. 218). 283 Wagner: Oper und Drama, S. 236f., 243. 284 Borchmeyer: Das Theater Richard Wagners, S. 249f. Zur entsprechenden Nacht-Symbolik vgl. ebda., S. 264ff.; zum okkultistischen Hintergrund des Symbolismus in diesem Zusammenhang: Sohnle: Stefan George und der Symbolismus, S. 25, 55, 58f., 103ff. Wagner schließt u. a. an Schopenhauers Theorie des Traums und des Hellsehens an. Traum und Wachen verhalten sich wie „Lichtwelt“ und „Schallwelt“ bzw. Sehen und Hören. Im Hö-
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Weihe präsentiert damit eine Szene von durchaus Wagnerschem Zuschnitt, und dies nicht zuletzt wegen der für Wagner wie George konstitutiven Paradoxie, daß sich allein in der gesellschaftlichen Isolation die gesellschaftliche Funktion der Kunst realisieren lasse. Analog dazu gilt: In der poetischen und musikalischen Entindividuierung, also durch die Beseitigung der „namen“, erhält der Name des Künstlers um so individuellere Konturen. Dies dürfte für Wagner wie für George ein willkommener Nebeneffekt gewesen sein. Jeweils wird der Anspruch, den die Kunst erhebt, daran deutlich, daß basale Aufmerksamkeitsmuster neu geordnet werden müssen. Dies verbindet George nicht nur mit Wagner, sondern auch mit dem Wagnerianer Nietzsche, der in der Geburt der Tragödie seine sprachmusikalische ‚Weihe‘ entwirft.285 Auf den ersten Blick paßt das Konzept Nietzsches nicht zum Projekt von Georges Initiationsgedicht, „raum und dasein“ nur im „bilde“ zu bewahren, weil es dem Theoretiker des Dionysischen um die musikalische Transzendierung des Bildhaften geht. Zugleich aber handelt es sich bei der durch Wagner hindurchgegangenen Schopenhauerschen Musik- und Sprachästhetik um ein durchaus flexibles Set aus Theoriebausteinen, Motiven und Gedankenfiguren.286 Daß daher Georges Weihe bei allen Differenzen dennoch ihren Ort im Koordinatensystem von Dionysischem und Apollinischem findet, darf nicht verwundern. Zu den Verbindungslinien zwischen Georges und Nietzsches ‚Weihe‘ gehört zunächst die Philosophie der Fortentwicklung durch Streit und „fortwärende[n] Kampf[ ]“, durch die zu überwindende Widerständigkeit also, die Georges Ästhetik dichterischer Arbeit nicht weniger bestimmt als Nietzsches oppositionell modellierte Theorie.287 Dazu gehört weiterhin die Berauschung, die Nietzsche in der Betrachtung der „unmittelbaren Kunstzustände der Natur“ als dionysisches Moment dem apollinischen Traum entgegenstellt, nur daß George in Variation jener Ein-Schränkung des Ausgegrenzten, die die Weihe durchgehend bestimmt, aus der Selbstberauschung die Vision einer _____________
ren wird die durch das Sehen erzeugte „Kluft“ geschlossen, die Trennung von Subjekt und Objekt überwunden (Wagner: Beethoven. In: ders.: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Bd. 9, S. 68ff.). 285 Zu den Phasen von Georges Nietzsche-Rezeption vgl. Weber: Nietzsche und George. George selbst äußert sich im Gespräch mit Kurt Breysig vom 18./19. Oktober 1905 zu Nietzsche: „Nietzsche habe nicht auf ihn eingewirkt. Er habe 1892 oder so ‚Die Geburt der Tragödie’ gelesen; ‚Zarathustra’ erst Jahre nachher. ‚Die Geburt der Tragödie’ habe auf ihn deswegen nicht einwirken können, weil er gar nicht unterrichtet genug gewesen sei“ (Breysig / George: Gespräche, Dokumente, S. 16). 286 Zur wissenschaftspolitischen Bedeutung der Konstellation ‚Wagner und Nietzsche’ vgl. den Streit des Jahrbuchs für die geistige Bewegung mit Ulrich von WilamowitzMoellendorff (Kolk: Literarische Gruppenbildung, S. 355ff.). 287 Diese und die folgenden Zitate und Stellenangaben aus der Geburt der Tragödie, hier: Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Bd. 1, S. 25.
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göttlichen Gestalt hervorgehen läßt, die Nietzsche für den Traum reserviert.288 Die Welten des Dionysischen und des Rauschs wiederum ordnet Nietzsche generisch den „Hymnen“ zu und läßt sie aus dem „Einfluß des narkotischen Getränks“ sowie aus dem Naturerleben hervorgehen.289 Die Aufhebung des „Subjective[n] zu völliger Selbstvergessenheit“ ist die eine Seite jener Allversöhnung, die im „Zauber des Dionysischen“ den Menschen mit dem Mitmenschen und der Natur verschmilzt, die Vergöttlichung des solchermaßen entgrenzten Menschen die andere: „als Gott fühlt er sich, er selbst wandelt jetzt so verzückt und erhoben, wie er die Götter im Traume wandeln sah“.290 Aus der symbiotischen Entgrenzung also gehen in letzter Steigerung wieder Begrenzungen hervor, eine Struktur, die Georges Weihe disponiert. Abschließend faßt Nietzsche die Szene, die dem Setting von Georges Weihe korrespondiert, zusammen, also jender Szene der Abwehr der „schmeichelchore“ und der berauschten Visionierung der eigenen personalisierten Inspiriertheit am einsamen Ort: Diesen unmittelbaren Kunstzuständen der Natur gegenüber ist jeder Künstler ‚Nachahmer‘, und zwar entweder apollinischer Traumkünstler oder dionysischer Rauschkünstler oder endlich – wie beispielsweise in der griechischen Tragödie – zugleich Rausch- und Traumkünstler: als welchen wir uns etwa zu denken haben, wie er, in der dionysischen Trunkenheit und mystischen Selbstentäusserung, einsam und abseits von den schwärmenden Chören niedersinkt und wie sich ihm nun, durch apollinische Traumeinwirkung, sein eigener Zustand, d. h. seine Einheit mit dem innersten Grunde der Welt in einem gleichnissartigen Traumbilde offenbart.291
_____________ 288 „Um uns jene beiden Triebe näherzubringen, denken wir sie uns zunächst als die getrennten Kunstwelten des Traumes und des Rausches; zwischen welchen physiologischen Erscheinungen ein entsprechender Gegensatz wie zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen zu bemerken ist. Im Traume traten zuerst, nach der Vorstellung des Lukretius, die herrlichen Göttergestalten vor die Seelen der Menschen, im Traume sah der grosse Bildner den entzückenden Gliederbau übermenschlicher Wesen […]“ – nachfolgend verweist Nietzsche noch auf Wagners Meistersinger (Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Bd. 1, S. 26, 30). 289 Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Bd. 1, S. 28f. 290 Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Bd. 1, S. 29f. 291 Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Bd. 1, S. 30 (Hervorhebungen S. M.). In Richard Wagner in Bayreuth variiert Nietzsche dieses Modell: Die Kunst ‚erlöst’ in einem begrenzten Zeitraum den Menschen von seinem „Gemeinwesen“ und der „böse[n] Vernunft und Macht“. Sie verschafft den Eindruck der „freien Natur“ und des Aufenthalts „im Reiche der Freiheit“, um in „ungeheuren Luft-Spiegelungen“ das „Ringen, Siegen und Untergehen als etwas Erhabenes und Bedeutungsvolles“ zu erleben (Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Bd. 1, S. 469). Wenn Karl Wolfskehl in den Blättern für die Kunst verkündet: „Wir wissen nichts von der empfängnis des kunstwerks im künstler. Wir wissen nur dass es aus einem meer von tönen und farben sich in seiner seele zur klarheit herausringt und wir denken an die schaumgeburt der schönsten Göttin“ (BfK VI/3, 85), dann stiftet dies, vermit-
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Die Weihe läßt sich damit bei allen Verschiebungen in das Koordinatensystem und in die Szenerie von Nietzsches Tragödienphilosophie einfügen. Wichtig ist dabei, daß Nietzsche die Theorien von der Sprachlichkeit der Musik und des musikalischen Eigensinns weiter verfolgt, sie in die Richtung der Musikalität der Sprache wendet und dabei eine entsprechend avancierte Sprachtheorie entwickelt, so daß sich letztlich die Sprachlichkeit der Musik und die Musikalität der Sprache erneut verschränken.292 Diese Ausrichtung von Nietzsches Philosophie führt dann seit Anfang der 1870er Jahre dazu, daß die Musik als Thema allmählich zurücktritt, weil sie der Sache nach in die Sprachtheorie eingeht.293 Und auch die immer deutlicher und radikaler ausformulierte Kritik an Wagner, dem er die Rhetorisierung der Musik bzw. der Musikinszenierung vorwirft, versteht sich zum Teil vor diesem Hintergrund: „Wagner hatte Litteratur nöthig“, erklärt Nietzsche in Der Fall Wagner, „um alle Welt zu überreden, seine Musik ernst zu nehmen, tief zu nehmen, ‚weil sie Unendliches bedeute‘; er war zeitlebens der Commentator der ‚Idee‘“.294 Genau dies kann man George, der sein Werk nur spärlich kommentiert hat, nicht vorwerfen. Ein anderer Vorwurf indes scheint George direkt zu betreffen.295 Denn Nietzsche wendet sich mit seinem Anti-Wagnerianismus nicht nur gegen Wagner, sondern zugleich gegen Gestaltungsmittel, die in seiner Beschreibung den Anstrich spezifisch moderner Verfahren erhalten und Paul Bourgets Diagnose in den Essais de psychologie contemporaire (1883) wiederholen.296 Wagner behandelt folglich „lauter ganz moderne, lauter ganz grossstädtische Probleme“297 und wird damit zum Vorreiter der „litterarischen décadence“: Womit kennzeichnet sich jede litterarische décadence? Damit, dass das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt. Das Wort wird souverain und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen – das Ganze ist kein Ganzes mehr. Aber das ist das Gleichniss für jeden Stil der décadence: jedes Mal Anarchie der Atome, Disgregation des Willens, ‚Freiheit des Individuums‘, moralisch geredet, – zu einer politischen Theorie erweitert ‚gleiche Rechte für Alle‘. Das Leben, die gleiche Lebendigkeit, die Vibration und Exuberanz des Lebens in die kleinsten Gebilde zurückgedrängt, der Rest arm an Leben. Überall Lähmung, Mühsal, Erstarrung oder Feindschaft und Chaos: beides immer mehr in die Augen springend, in je
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telt über die Schopenhauerianische Bildlichkeit, einen deutlichen Bezug zwischen Nietzsches Tragödien-Schrift und der Weihe-Szene in Georges Initialgedicht. Fietz: Medienphilosophie, S. 32, 35. Fietz: Medienphilosophie, S. 130. Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Bd. 6, S. 36. Vgl. zu einer Kritik in der Frankfurter Zeitung von 1901 Wolters: Stefan George, S. 183f. Faletti: Die Jahreszeiten des Fin de siècle, S. 27ff. Der Fall Wagner (Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Bd. 6, S. 34).
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höhere Formen der Organisation man aufsteigt. Das Ganze lebt überhaupt nicht mehr: es ist zusammengesetzt, gerechnet, künstlich, ein Artefakt.298
Bevorzugte Stilmittel Georges wie die Tilgung von logischen Verknüpfungen, von Wortendungen und Artikeln oder die Wertschätzung kurzer Wörter und des einfachen Wortstamms299 arbeiten einer entsprechenden Atomisierung der Sprache zu. Die sich daraus ergebende Sprachanarchie würde gut zu einem jungen Autor passen, der sich als „Socialist, Communard, Atheist“ und eben auch als „Anarchist“ sieht und „am liebsten“ nach „Dynamit rufen“ würde.300 Den Trend zur Egalisierung indes sucht man bei George vergeblich. Tatsächlich arbeitet Nietzsche an anderen Stellen Elemente seiner décadence-Kritik positiv in die Philosophie des ‚Macht-Willens‘ ein. Dies verwundert auch deswegen nicht, weil seine oben angeführte Theorie der Sprachenergie mit der Theorie der Sprach-Décadence in vielem übereinstimmt. Daher wird Nietzsche selbst gemeinsam mit Wagner als décadent identifiziert, als einer jener „Zitterer oder Flimmerer“, die die ‚Stimmung‘ des fin de siècle beeinflussen.301 Auf der positiven Seite der SprachDécadence steht so eine Theorie der Sprachfluidität: „Die Form ist flüssig, der ‚Sinn‘ ist es aber noch mehr“, heißt es in Zur Genealogie der Moral.302 Erneut läßt sich von Nietzsche aus Georges Stimmungsästhetik in Weihe und ihr „melodienstrom“ historisch verbuchen. Rudolf Fietz hat eine entsprechende „Medienphilosophie“ Nietzsches herausgefiltert: Nietzsche knüpft demzufolge zwar an Schopenhauers Willensmetaphysik an, versteht indes jenen normalerweise verschleierten Bereich, in den die Musik Einblicke ermöglicht, nicht als ein Ur-Eines, das in sich unterschiedslos gebildet ist, sondern als einen Zusammenhang, der bereits in Widersprüche, Streit und Unterscheidungen verwickelt ist. Die Identitäten, die die Alltagswahrnehmung beherrschen, werden also auf Grundlage prinzipieller Differenzen gebildet, und die Musik bringt ‚zur Sprache‘, was der Sprache und ihren Fixierungen voraus liegt und für diese als Bedingung ihrer Möglichkeit unthematisierbar ist. Umgekehrt heißt dies: In der Musikalität der Sprache erscheint eben jene Differentialität, die als Effekt Identitäten ausbildet. „Die tonale Signifikantenkette ‚symbolisiert‘ den aller Erscheinungswelt voraus liegenden dionysischen Werdestrom […]“; die Musikalisierung der Sprache setzt den „Primat des _____________ 298 Der Fall Wagner (Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Bd. 6, S. 27). 299 David: Stefan George, S. 52. 300 So im Brief an Stahl vom Januar 1888 (Boehringer: Mein Bild von Stefan George. Textbd., S. 30) und im Streitgespräch mit Kurt Breysig vom 29. September 1910 (Breysig / George: Gespräche und Dokumente, S. 20). 301 So in Max Nordaus Entartung (1892/93), zit. nach Asendorf: Ströme und Strahlen, S. 81. 302 Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Bd. 5, S. 315.
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Zweiten“.303 Die Poesie ist insofern musikalisch (oder sie ist dann musikalisch), so Fietz’ Nietzsche-Deutung, wenn sie durch die konstellative Setzung der Worte die Fluidität der Sprache herausstellt.304 George bewegt sich mit seinen Aushandlungen von Grenzen in Weihe auch deshalb auf der von Nietzsche markierten Linie, weil dieser der entzeitlichten optischen Wahrnehmung der Schrift, die den Eindruck sprachlicher Stabilität unterstützt, die gesprochene Sprache als Form der Dynamisierung entgegensetzt. Anders als die logozentrische Interpretation des verlautbarten Wortes zeigt sich demnach gerade in der mündlichen Realisierung der Sprache, daß sie an den Körper gebunden ist; gerade hier wird ihre Exteriorität kenntlich.305 Indem Nietzsche in seinen Texten die Grapheme ‚aktiviert‘, macht er umgekehrt auf das Vorhandensein von Schrift in ihrer Materialität aufmerksam: Das Spiel mit Interpunktionszeichen, Absätzen, Zeilenabständen, mit Schriftgraden und Schriftarten, mit Fettund Sperrdruck, Unterstreichungen, Klammern, Minuskel-MajuskelDifferenzierungen, mit Trennungen oder Spatien stellt die Schrift als solche aus. Die Sprachenergie, wie Nietzsche sie in Auseinandersetzung mit Horaz konzipiert (6.1 d), bezieht ihre Leistung aus dem „Ort“ der Worte. Für Georges Werkpolitik ist dies vor allem deswegen aufschlußreich, weil Nietzsche durch das Verfahren der Wiederholung die Fixierungen des Identitätsdenkens demontieren will: Die Wiederholung setzt das ‚Gleiche‘ der Zeit aus und zeigt es als Unterschiedenes. Das Werk im Ganzen markiert als Forum von Variationen und Transformationen sprachmusikalische Qualitäten.306 Wenn George demnach als zentrale Interpretationsvorgabe behauptet, er sei sich stets gleich geblieben (6.3 d u. e), dann darf man dies nicht so verstehen, als sei er stets derselbe. Zwischen dem Gespiegelten und dem Spiegelbild bleibt eine irreduzible Differenz.307 Spiegelungen als Verfahren und der Spiegel als Motiv sind Adjudanten des Projekts der Sprachmusikalisierung insofern, als jeweils die nicht-linearen, nicht-syntagmatischen Bezüge der Sprache herausgestellt werden.308 _____________ 303 304 305 306
Fietz: Medienphilosophie, S. 37ff., 115 (Zitat), 141. Fietz: Medienphilosophie, S. 126. Hierzu und zum folgenden: Fietz: Medienphilosophie, S. 302ff., 313f., 378ff. Fietz: Medienphilosophie, S. 177ff.; vgl. zur „Wiederholung“ auch Schäfer: Die Intensität der Form, S. 83ff. 307 Vgl. dazu Der Spiegel im Siebenten Ring (bzw. in der fünften Folge der Blätter für die Kunst) als Urszene der Vergeblichkeit: „Ihr träume wünsche kommt jezt froh zum teiche! / Wie ihr euch tief hinab zum spiegel bücket! / Ihr glaubt nicht dass das bild euch endlich gleiche? / Ist er vielleicht gefurcht von welker pflanze · / Gestört von späten jahres wolkentanze? / Wie ihr euch ängstlich aneinander drücket! / Ihr weint nicht mehr doch sagt ihr trüb und schlicht / Wie sonst: ‚wir sind es nicht! wir sind es nicht!‘“ (GW 6/7, 75). 308 Fuchs: Vom schweigenden Aufflug ins Abstrakte, S. 169f. – im Unterschied zu Fuchs würde ich den Akzent auf die irreduzible Zeitlichkeit der Spiegelung setzen. George akzen-
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Bei Nietzsche dient das literarische Verfahren der Wiederholung dazu, sich ‚jenseits von Gut und Böse‘ zu bewegen. Es zeigt auf, wie moralische Werte oder andere Identitäten aus dem sprachmusikalischen Spiel der Unterschiede entstehen und deutet damit auf die Verfahren, die Moralität erzeugen. Damit läßt sich auch die wirkungsästhetische Dimension der Musikalisierung aufzeigen. Nietzsche bestimmt Moral bzw. Identitätsbildung als Instrument der Gemeinschaftsbildung. Bei ihm figuriert diese auf Moral setzende Gemeinschaft als ‚schwache‘ Gemeinschaft, als „Heerde“, und „Moralität“ gilt ihm als „Heerden-Instinct im Einzelnen“.309 Umgekehrt bedeutet dies, daß die spezifisch literarische Amoralität einer musikalisierten Sprache Exklusivitäten erzeugt. Eben darauf macht Georges Algabal die Probe, und zwar im doppelten Sinn: Zum einen führt er die soziale Isolation des Amoralisten vor Augen; zum anderen macht er jenen Nicht-Ort sinnfällig, den die basalen kulturellen Differenzen voraussetzen (6.2 c).310 Nietzsches wie Georges Mißtrauen gegen ein instrumentalistisches Sprachverständnis drückt sich daher auch in ihren Invektiven gegen das (vorschnelle, nur scheinbare) Verstanden-Werden aus:311 „Jeder tiefe Denker“, so Nietzsche, „fürchtet mehr das Verstanden-werden als das Missverstanden-werden“.312 Weil es Nietzsche darum geht, die Prozeduren und Effekte der Identifizierung aufscheinen zu lassen, rät er dazu, „seinen Freunden einen reichen Spielraum zum Mißverständniß zu[zu]gestehen“.313 Darin trifft er sich mit George, der beispielsweise bei der Durchsicht von Morwitz’ Kommentar zu seinem Werk Fehler anmerkt, aber die Deutung, die er für richtig hält, verschweigt.314 Vor dem Hintergrund einer Werkpolitik, die auf die Ausbildung von „Unterschiedsempfindlichkeit“ setzt, bedeutet Georges Gelassenheit gegenüber dem Mißverstehen nicht, daß es ihm um die gezielte Lancierung falscher Deutungen geht. Vielmehr signalisiert die Frage an sich eine Form reduzierter Aufmerksamkeit, der gegenüber die Entscheidung einer richtigen oder falschen Stellendeutung an Gewicht _____________ 309 310 311 312 313 314
tuiert dies in dem zitierten Passus, indem er das Verfehlen der Einheit von dem sich Spiegelnden und dem Spiegelbild zur Katastrophe steigert. So in Die fröhliche Wissenschaft (Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Bd. 3, S. 474f.; Drittes Buch, Nr. 116). Dies ließe sich verbinden mit der Diagnose von Landfried, derzufolg die Verbrecherfiguren Georges auf einen „höher verstandenen Sinn“ zustreben (Stefan George, S. 44ff.). Hierzu und zum folgenden Fietz: Medienphilosophie, S. 221ff. So in Jenseits von Gut und Böse (Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Bd. 5, S. 234). Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Bd. 12, S. 50f. (Nachlaß). Mommsen: „Ihr kennt eure Bibel nicht!“, S. 4. Generell sichert George der Wahrheit ihre Integrität und Unberührbarkeit, indem er nur relative Wahrheiten für zugänglich erklärt, eigentliche Erkenntnis aber dem Kairos überantwortet (Zöfel: Die Wirkung des Dichters, S. 13ff., 25, 30, 93).
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verliert. Im Zirkulieren unterschiedlicher Interpretationen wird demgegenüber jene Beweglichkeit erzeugt, die einer Initiation gerecht wird, wie George sie sich vorstellt und wie er sie in Form der Weihe an einen Anfang seines Werks gestellt hat. Aus diesem Grund, so steht zu vermuten, wählt er für den Stern des Bundes, der „zuerst gedacht [war] für die freunde des engern bezirks“, „die öffentlichkeit […] als den sichersten schutz“, zumal ein „verborgen-halten von einmal ausgesprochenem heut kaum mehr möglich ist“ (GW 8, 5). George rechnet mit dem Perspektivismus literarischer und insbesondere kritischer Kommunikation, in der sich die Meinungen in ihrer Vielfalt wechselseitig neutralisieren.315 Zur Provokation von pluralen Deutungsperspektiven finden sich poetische Vorgaben, vor allem im Zyklus Nach der Lese im Jahr der Seele. So kommentiert etwa „Umkreisen wir im stillen Teich“ eine fehlerhafte Lektüre des Eingangsgedichts („Komm in den totgesagten park und schau“), worin das angesprochene „bunte[ ] buch“ der Natur geflochten wurde (6.3 a):316 Umkreisen wir den stillen teich In den die wasserwege münden Du suchst mich heiter zu ergründen Ein wind umweht uns frühlingsweich Die blätter die den boden gilben Verbreiten neuen wolgeruch Du sprichst mir nach in klugen silben Was mich erfreut im bunten buch. Doch weisst du auch vom tiefen glücke Und schätzest du die stumme thräne Das auge schattend auf der brücke Verfolgest du den zug der schwäne.317
Der Versuch, das lyrische Ich „heiter zu ergründen“, scheitert, nicht, weil der sich „klug[ ]“ äußernde Beobachter, nichts wahrnehmen oder sich täuschen würde – der „zug der schwäne“ ist keine Illusion. Das „ergründen“ scheitert, weil der Beobachter seine Aufmerksamkeit falsch verteilt, weder auf die Deutungs-„tiefen“ noch auf das „stumme“ achtet. Das lyrische Ich agiert so, wie es das letzte Gedicht des Subzyklus offen ausdrückt: „Ich lasse meine grosse traurigkeit / Dich falsch erraten um dich zu verschonen […]“ (GW 4, 22). _____________ 315 Blasberg: „Auslegung muß sein“, S. 35. 316 Dort heißt es: „Dort nimm das tiefe gelb · das weiche grau / Von birken und von buchs · der wind ist lau · / Die späten rosen welkten noch nicht ganz · / Erlese küsse sie und flicht den kranz […]“ (GW 4, 12). Zu dieser Deutung Egyptien: Herbst der Liebe, S. 27. 317 George: Das Jahr der Seele, unpag.
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In Jenseits von Gut und Böse proklamiert Nietzsche diese Werkpolitik, die Mißverständnisse als etwas Positives integriert: […] man soll schon für den guten Willen zu einiger Feinheit der Interpretation von Herzen erkenntlich sein. Was aber ‚die guten Freunde‘ anbetrifft, welche immer zu bequem sind und gerade als Freunde ein Recht auf Bequemlichkeit zu haben glauben: so thut man gut, ihnen von vornherein einen Spielraum und Tummelplatz des Missverständnisses zuzugestehn: – so hat man noch zu lachen; – oder sie ganz abzuschaffen, diese guten Freunde, – und auch zu lachen!“318
Nietzsche erläutert damit ironisch die Probleme, die sich aus der Intimisierung literarischer Kommunikation, die einen wichtigen Teil der Werkpolitik darstellt, ergeben können (5.3). Er setzt „die guten Freunde“ nicht umsonst in Anführungszeichen und betont damit, daß der Eindruck eines vermeintlich familiaren Verhältnisses zum Text sich nicht allein in eine unangenehme Zudringlichkeit verwandeln kann, wie Goethe dies bemerkt hat – dieser hatte den Eindruck, er würde, wie der Zauberlehrling, die freundschaftlichen Leser-Geister, die er rief, nicht mehr los (5.4.2 c).319 Sondern Nietzsche bemerkt darüber hinaus, daß die Anmaßung eines intimen Bezugs zum Werk eines Autors auch zu einer unaufmerksamen Haltung führen kann. Nietzsches und Georges ‚Feinheiten‘ gehören in den Prozeß der Etablierung von Negativität, weil Feinheit ein Effekt virtuoser Visibilisierung und Invisibilisierung innerhalb der kritischen und der philologischen Kommunikation ist (4.1.2) und weil sie das Mißverstehen und die Enttäuschung zum Normalfall macht, um die Routinen der Aufmerksamkeit, die dann eben in Unaufmerksamkeit umschlagen, zu blockieren. Aufschlußreich für die Ineinanderschachtelungen des Getrennten bei George ist dabei Nietzsches Gegenbild, also jene Textenumgangsform, die von ‚Feinheit‘ zeugt. Die ‚feine‘ Aufmerksamkeit, die sich bei aller Wissenschaftskritik in der Philologie in besonderem Maß findet, widersteht der Lesehaltung des Konsumierens und des widerstandslosen Überfliegens, wie sie die Publikationsmenge im Zeitalter der Massenmedien erfordert:320 So wenig ein Leser heute die einzelnen Worte (oder gar Silben) einer Seite sämmtlich abliest – er nimmt vielmehr aus zwanzig Worten ungefähr fünf nach Zufall heraus und ‚errät‘ den zu diesen fünf Worten muthmaasslich zugehörigen Sinn –, eben so wenig sehen wir einen Baum genau und vollständig, in Hinsicht auf Blätter, Zweige, Farbe, Gestalt; es fällt uns so sehr viel leichter, ein Ungefähr von Baum hin zu phantasiren. Selbst inmitten der seltsamsten Erlebnisse machen wir es noch ebenso: wir erdichten uns den grössten Theil des Erlebnisses und sind kaum dazu zu zwingen, nicht als ‚Erfinder‘ irgend einem Vorgange zuzu-
_____________ 318 Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Bd. 5, S. 45f. 319 So im Brief an Zelter vom 26. März 1830 (WA I, 46, 286f.). 320 Fietz: Medienphilosophie, S. 329ff.; 339ff., 402ff.
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schauen. Dies Alles will sagen: wir sind von Grund aus, von Alters her – an’s Lügen gewöhnt.321
Die Physiologie322 und Psychologie dieser ‚unfeinen‘ Lektüre entspricht durchaus der symbolistischen Evokationsästhetik323 und in deren Windschatten den Taktiken der Verunklärung Georges (6.1). Der Unterschied besteht möglicherweise darin, daß George die Genauigkeit der Wahrnehmung durch sprachliche Ungenauigkeit herbeiführen will. Nietzsche bezieht das Problem der ‚unfeinen‘ Lektüre auf Probleme gerade der angemessenen Aufnahme des „Neuen“ („Etwas Neues hören ist dem Ohre peinlich und schwierig […]“324). Dies zeigt, wie sehr sein Gegenmodell mit dem Abgelehnten verschwistert und wie sehr sein Streit gegen die modernen Massenmedien als einer Ausdrucksform des 19. Jahrhunderts ein Konflikt der Moderne mit sich selbst ist.325 Wie bei George entfaltet die „zärtliche Langsamkeit“326 jener Leseerotik eine Aufmerksamkeit für „Alles“, und dies meint insbesondere für Formen (Länge und Kürze von Sätzen), Zwischenräume (Pause und Interpunktionen) und Abwesendes (Wahl der Worte) – hier entfaltet sich als historisches Konzept jenes Stellenwertbewußtsein, das kurz nach der Jahrhundertwende in Ferdinand de Saussures Cours de linguistique générale und seinen Konzepten des Syntagmas und des Paradigmas zum Strukturalismus führt. _____________ 321 So in Jenseits von Gut und Böse (Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Bd. 5, S. 113). 322 In Götzen-Dämmerung schiebt Nietzsche alles Unheil der mangelhaften Aufmerksamkeit auf „jenes physiologische Unvermögen, nicht zu reagieren“ (Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Bd. 6, S. 109). 323 Klussmann: Stefan George, S. 6 sowie S. 47ff. (zur ‚geistigen Kunst’ als eines „erlebnisferne[n] Symbolstil[s]“); hier auch zu Anschlußmöglichkeiten Nietzsches: ebda., S. 9ff. Als entscheidenden Unterschied zwischen dem ‚Symbolismus’ Mallarmés und demjenigen Georges macht Klussmann fest, daß Mallarmé ‚Symbole’ „über sich hinaus“ deuten, wohingegen Georges ‚Symbole’ „ganz im Hiesigen“ verharren und „in sich zurück“ weisen (ebda., S. 56). 324 So in Jenseits von Gut und Böse (Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Bd. 5, S. 113). 325 Vgl. dazu auch die positive Wendung der Leseethik des ‚Erratens’ in Jenseits von Gut und Böse: Dort heißt es: „Wie viele Deutsche wissen es und fordern es von sich zu wissen, dass Kunst in jedem guten Satze steckt, – Kunst, die erraten sein will, sofern der Satz verstanden sein will! Ein Missverständniss über sein Tempo zum Beispiel: und der Satz selbst ist missverstanden! Dass man über die rhythmisch entscheidenden Silben nicht im Zweifel sein darf, dass man die Brechung der allzu strengen Symmetrie als gewollt und als Reiz fühlt, daß man jedem staccato, jedem rubato ein feines geduldiges Ohr hinhält, dass man den Sinn in der Folge der Vokale und Diphthongen rät, und wie zart und reich sie in ihrem Hintereinander sich färben und umfärben können: wer unter bücherlesenden Deutschen ist gutwillig genug, solchergestalt Pflichten und Forderungen anzuerkennen und auf so viel Kunst und Absicht in der Sprache hinzuhorchen?“ (Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Bd. 5, S. 189). 326 In Ecce Homo bezieht Nietzsche dies auf das „tempo dieser Reden“ (Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Bd. 6, S. 260).
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b) Medien der Aufmerksamkeit und ihre Körper Die Mitbeobachtung des Abwesenden läuft auf eine Aufmerksamkeit hinaus, der Mißverständnisse keine besonderen Schwierigkeiten bereiten. Sie rechnet mit der Willkür der Ein- und Ausschließungen und mit der Virtuosität der Visibilisierung und Invisibilisierung. Entscheidend ist für diese Form der selektionslosen Aufmerksamkeit, daß das Ausgeschlossene als Latenz mitgeführt wird. Für George hat dies auch eine pragmatische Bedeutung bei der Selbstkontextualisierung und Markenbildung: Die öffentlichen Ausgaben erhalten ihre Funktion durch die Privatausgaben, auf die sie – beispielsweise in Vorworten – verweisen. Die in der Ausstattung gestaffelten Privatausgaben hingegen profilieren sich gegen die öffentlichen. Die Auflagen werden dabei insgesamt so klein gehalten, daß sie auch verkauft werden können. Durch vielfache Auflagen entsteht dann der Eindruck einer großen Nachfrage oder durch den Hinweis auf die vergriffenen Auflagen der Eindruck einer nur exklusiven Zugänglichkeit. Die ausgeschlossenen Leser werden dabei als Neugierige angezogen.327 Die Einsicht in die Normalität von Ausschließungen charakterisiert Aufmerksamkeitsschwellen im Zeitalter der Analogmedien.328 Damit wird auf der einen Seite die Selektionsfunktion von Medien und auf der anderen Seite jener Bereich des Rauschens oder der Differentialität als Telos einer selektionslosen Aufmerksamkeit markiert, den Aufmerksamkeit als differenzierende und gerichtete Einstellung notwendig verfehlt und den George in seiner Ästhetik der Arbeit und des Scheiterns als Verfehlung einschreibt. Um die spezifische Weise zu bestimmen, in der das Konzept selektionsloser Aufmerksamkeit gegen Ende des 19. Jahrhunderts und ‚um 1900‘ ausgehandelt wird, ist der Rekurs auf Nietzsche hilfreich, aber nicht notwendig. Im ‚Fluß der Bedeutung‘ baden in dieser Zeit viele Programme,329 und als poetologisches Konzept hat diese Differenztheorie eine _____________ 327 Mettler: Stefan Georges Publikationspolitik, S. 39f., 87; vgl. auch Roos: Stefan Georges Rhetorik der Selbstinszenierung, S. 81. Vgl. als Exempel Heinrich Rickerts Brief an George vom 13. Oktober 1897 (Boehringer: Mein Bild von Stefan George, S. 241f.). 328 Dazu Kittler: Aufschreibesysteme 1800 1900, S. 288ff. 329 Gustav Gerber etwa, den Nietzsche geradezu ausgeschrieben hat (vgl. ausführlich Fietz: Medienphilosophie, z. B. S. 133f., entwickelt in Sprache als Kunst (1871, 2. Aufl. 1885) eine Sprachphilosophie, die zum Teil als Revival der Wagnerschen erscheint – auch bei ihm dienen die Konsonanten der Differenzierung bzw. der Unterteilung des vokalischen Lautstroms und ermöglichen damit Aussprechbarkeit überhaupt. Gerber: Die Sprache als Kunst. Bd. 1, S. 214: „Die Vokale erscheinen daher als das der Bestimmung Bedürftige, flüssig und wandelbar, die Consonanten als das Bestimmende, Feste, Charakterisirende. Die Vokale deuten mehr auf die Naturseite der Sprache, die Consonanten mehr auf die Selbsthätigkeit des Menschen; jene, leicht aussprechend, lassen die unmittelbare Empfindung ausströmen, diese übernehmen die Arbeit der Besonnenheit, des Verstandes […]“ (im folgenden zitiert Gerber ältere Ansätze, die in eine ähnliche Richtung weisen). Die
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längere Tradition im Projekt einer klassizistischen Formkunst. „Fließend Wasser ist der Gedanke“, so Emanuel Geibel als herausragender Vertreter dieser Richtung im 19. Jahrhundert, „Aber durch die Kunst gebannt / In der Form gediegne Schranke / Wird er blitzender Demant“.330 Zwar geht George an den „strom“ der Sprache, und seine ‚Weihe‘ mag ein „melodienstrom“ sein, aber er zeigt eben zugleich, daß Werkbildung Differenzierung bedeutet und daß der „schmeichelchor[ ]“ der „junge[ ] wellen“ abgewehrt werden muß (6.1 a). Bei George führt diese differenztheoretische Modellierung der Sprachkunst bis hin zu jenem berühmten Schlußverspaar aus Das Wort im Neuen Reich (EA 1928): So lernt ich traurig den verzicht: Kein ding sei wo das wort gebricht. (GW 9, 107)
Dirk von Petersdorff bemerkt zu Recht, daß sich in diesem ‚Lied‘ die Schlichtheit der Darbietung und die Komplexität des verhandelten Problems aufs Schönste widersprechen: Es handelt sich, um es grob zu verkürzen, um die poetische Negation der platonisch-alteuropäischen Tradition, die dem Denken den Vorrang vor der Sprache zugemessen hatte,331 und eben gerade nicht um eine Neuauflage der „Namentheorie des Worts“, die in sprachtheologischer und sprachmagischer Tradition ein ontologisch gefestigtes Verhältnis von Wort und Welt verlängerte.332 Diesen Selbstbezug, den Literatur durch die poetische Funktion markiert, stellt das Gedicht dadurch unter Beweis, daß das lyrische Ich nicht Herr der Sprache, sondern vielmehr von deren Zuwendung abhängig ist, oder anders: daß die Sprache dem lyrischen Ich als Abwesende in ihrer eigentlichen Unverfügbarkeit und somit als Medium erscheint.333 Diese Aufmerksamkeit für das Medium, die Nietzsches Arbeit an der Musikalität von Sprache herausstellt, scheint mir – um wieder auf Wagner zurückzukommen – den Musikdramatiker und George vergleichbar zu machen. Wagner und George verbindet eine Notation des Werks, die auf einer umfassenden Aufmerksamkeit für die eigenen Erzeugnisse, einer gleichsam grenzenlosen Sorgfalt für den Ort sowie für die Zeit ihrer Vermittlung beruht und die den Rezipienten eine umfassende Aufmerksamkeit abverlangt, sie ihnen vielleicht sogar abzwingt. Das Festspielhaus in _____________
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Funktion der Sprache liegt folglich darin, daß sie „die Vorstellung in der Seele“ ausreichend ausdifferenziert. Andernfalls „verginge sie zwar nicht, aber sie würde verschwimmen in dem allgemeinen Fluss, in der rastlosen Bewegung, welche eben das Wesen der Seele ist“ (ebda., S. 231). Geibel: Werke. Bd. 1, S. 320. Petersdorff: Als der Kampf gegen die Moderne verloren war, S. 345ff. So der Ansatz von Mettler: Form und Haltung bei Stefan George, S. 12, 23. Müller: „Das Wort“, S. 120ff.; in diesem Sinn auch Simon: Das Wasser, das Wort, S. 62ff.
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Bayreuth wird dabei zum Pendant der Analogmedien. Es hält den schriftlich nicht festlegbaren Eindruck des Musiktheaters fest, indem das Gebäude ihn architektonisch implementiert. Im Grundstein des provisorischen Festspielhauses versenkt Wagner die entsprechende Botschaft: Hier schließ’ ich ein Geheimnis ein, da ruh’ es viele hundert Jahr’: so lang es verwahrt der Stein. macht es der Welt sich offenbar.334
Noten und Texte werden erweitert um eine bestimmte räumliche Figuration, die die klangliche und visuelle Vorstellung festlegt und überliefert. Dies können Schallplatten, Fotografien und Filme näherungsweise leisten, nicht aber Notenseiten (5.1). Von daher ist es kein Zufall, daß der Wagnerianer Melchior Lechter Buchkunst als „Stimmungskunst“ entwirft und die „Sichtbarmachung des Werkes“ damit beeinflussen will.335 Ausgangspunkt bildet die selektionslose und nicht-hierarchisierende Aufmerksamkeit, vermittelt über Stellenwertbewußtsein: „Im Buche als Kunstwerk ist nichts Beiwerk: alles hat an richtiger Stelle gleiche Bedeutung“.336 Ein solches Werk, das aus der selektionslosen Aufmerksamkeit des Buchkünstlers hervorgeht, soll eine Faszinationskraft entfalten, die der Wagnerschen Vorstellung von der Prägnanz des eigenen musiktheatralischen Schaffens entspricht. „Schon beim anblick des buches, der seiten“, so Lechter in der Subskriptions-Einladung zu Wolters’ Herrschaft und Dienst, „soll uns die unsichtbare seele der verse, der prosa wie stumme musik umfangen und uns keinen augenblick über ihren charakter im zweifel lassen“.337 Die visuelle Orchestrierung des Werks paßte dem musikkritischen George im Laufe der Zeit nicht mehr ins Konzept. Mit dem Siebenten Ring endet die Zusammenarbeit von Lechter und George, der bereits 1899 in einem Gespräch, das sich anläßlich Lechterscher Bildentwürfe entspinnt, darauf beharrt: „Verse, die Musik schon in sich trügen, sollte man mit anderen Tönen nicht belasten“. Die Vertonung seiner Gedichte wollte er allenfalls als Umsetzung des Rhythmus akzeptieren, „wie er aus seinen Versen klingt, und wie er ihn – diese Verse sprechend, festlegt“.338 _____________ 334 Wagner: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Bd. 9, S. 326. 335 Bock: Melchior Lechter, S. 37f. 336 Dieses und das folgende Zitate aus einer handschriftlichen Notiz vom 3. April 1917, in der Lechter die Grundsätze seiner Buchkunst festgehalten hat. Die Notiz ist veröffentlicht bei Raub: Melchior Lechter als Buchkünstler, S. 15ff., Zitat S. 15. Zu Lechter als WagnerVerehrer ebda., S. 10. 337 Landmann: Stefan George und sein Kreis, S. 88; vgl. auch Raub: Melchior Lechter als Buchkünstler, S. 15 338 So in den persönlichen Erinnerungen von Richard Wintzer (zit. nach Seekamp / Ockenden / Keilson: Stefan George, S. 94.
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Konsequent beschränkt George sich in den Gedichtbänden nach dem Siebenten Ring buchkünstlerisch dann auch darauf, mittels eines schlichten Seitenbildes die Rhythmik des Werks zu visualisieren. Er übernimmt lediglich die Stefan-George-Schrift, um die Leseanforderungen durch ein ausgesucht schwer lesbares Alphabet zu markieren. Mit Hugo Münsterbergs Grundzügen der Psychotechnik (1914) formuliert: „Daß der Wegfall der großen Anfangsbuchstaben der Hauptworte der schnellen Auffassung ein starkes Hindernis bereitet, läßt das psychologische Experiment, falls es für die Leser von Stefan George dessen bedarf, in leicht meßbarer Weise erkennen“.339 Lechters Schriften, bei denen zeitgenössische Leser eine „autorisierte Ausgabe“ leicht als „gut frisierte Ausgabe“ lesen konnten,340 zielen auf eine vergleichbare Aufmerksamkeitsirritation und -steuerung.341 Wagner und George verbindet aus dieser Perspektive die Manipulation von Körpern342 durch eine Medienkunst, die ihr Telos nicht im Ausdruck von Affekten oder von Sinn hat, sondern die all das ist, was sie ist. In ihrem So-Sein traktiert sie die leiblichen Sensibilitäten der Rezipienten. Aus diesem Grund galt Wagners Musik als Nervenkunst par excellence. George folgt dieser oftmals kritischen Deutung, wenn er den Tristan als „nur für die Nerven“ abqualifiziert,343 wenn er die ‚Zukunftsmusik‘ für „unanständig“ erklärt oder wenn er gesteht – den „Vorwurf der Prüderie“ zugleich abwehrend –, er habe sich „bei Wagnerscher Musik […] ein bisschen geschämt“.344 Im Gespräch mit Robert Boehringer indes wehrt George dessen Vorwurf ab, die Wagnersche Musik übe lediglich eine Art „Hautreiz“ aus, der sich „für anständige Menschen“ nicht schicke. Statt dessen betont er: _____________ 339 Zit. nach Kittler: Ein Höhlengleichnis der Moderne, S. 220; vgl. auch ders.: Aufschreibesysteme 1800 1900, S. 329; weitere Belege bei Schäfer: Die Intensität der Form, S. 108ff. 340 So die von Ludwig Jacobowski überlieferte Anekdote über die Wahrnehmung der Lechterschen Ausgabe des Schatz’ der Armen (Raub: Melchior Lechter als Buchkünstler, S. 22). 341 Als Eugen Diederichs sich von Lechter ein zumindest leicht lesbar beschriftetes Buchcover wünscht, gibt ihm Lechter am 8. August 1898 eine Lektion in Sachen Exklusivitätsmarketing auf einem umkämpften literarischen Feld: „Auf einen Kompromis, betreffs des Umschlages, kann ich mich nicht einlassen! Ich machte am Anfang unserer Verhandlungen als erste Bedingung geltend, daß mir alles überlassen bleiben müßte. Sie sind darauf eingegangen. Der Lese-Pöbel, der sicherlich die Schrift nicht lesen kann, wird das Buch auch nicht kaufen, dem wird der Inhalt des Werkes ebenso schleierhaft bleiben wie die Schrift. Ich denke Maeterlinck ist nur vornehmen Geistern zugänglich, und nur diese sollen zum ‚Buch als Kunstwerk’ erzogen werden. Das Buch soll man nicht ‚fressen’! Kann man den Titel schwer lesen, nun das ist kein Fehler! Der Titel fällt auf! Und er fällt vornehm auf! Dann ist er aus dem Geiste des ganzen Werkes geboren. Man wird (vielleicht?!) über Unleserlichkeit schimpfen, aber man wird wissen wollen was es ist“ (zit. nach Raub: Melchior Lechter als Buchkünstler, S. 22f.). 342 Dazu Kittler: Weltatem, S. 94f. 343 Hildebrandt: Erinnerungen an Stefan George und seinen Kreis, S. 108. 344 Landmann: Gespräche mit Stefan George, S. 61.
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„Kunst brauche die Reize“.345 Diese Reize sind bei einem Teil des Publikums angekommen, und wie bei Wagner, der mit George bisweilen eine Paarbeziehung eingeht346, reagieren die Rezipienten auf die okkupatorische Macht, auf die Degradierung zum „Zwangskonsumenten“347 der Gedichte, teils affirmativ, teils avernisch berührt. Auf der einen Seite also entfaltet Georges Werk als „stemningsforhekselse“ (Stimmungshexerei) eine Anziehungskraft wie „drømmeavlende opium“ (traumerzeugendes Opium)348; auf der anderen Seite provoziert es allergische Reaktionen, die gleichermaßen die körperliche Anrührungskraft, die von den Werken Georges ausgeht, demonstrieren: Als Fritz Mauthner 1899 im Literarischen Echo die Allerjüngsten und ihre Artistenlyrik behandelt, kommt er auch auf Georges Jahr der Seele zu sprechen. Er bemerkt den „musikalischen Sprachzauber“, dem er sich für eine Zeit „gern träumerisch“ hingibt, deren Unvollkommenheit und innere Gebrochenheit indes diese Bezauberung immer wieder stören. „Diese starke Empfindung, zugleich ergriffen und gefoppt zu sein, ist eine Thatsache meines Bewußtseins, genau so, wie für die französischen und deutschen Pfleger der Artistenlyrik die wunderlichsten Stimmungen Thatsachen des Bewußtseins sind“.349 Bei Georges Gedichten, deren „Stimmung nur von feinfühligen Lesern aufgenommen werden kann“, hebt Mauthner dabei im besonderen die „typographische Maskerade“ hervor, die er – im spöttischen Anschluß an Ernst Schur350 – als „Verteidigung der Unlesbarkeit“ versteht: Druckschrift wie jede andere Schrift ist doch nur ein Ersatz für die lebendige Sprache; der Tonfall eines Satzes wird durch die Notenzeichen der Interpunktionen ebenso ausgedrückt wie die Sprachlaute durch die Buchstabenzeichen. Läßt man die Interpunktionen fort, die mühsam genug im Laufe der Jahrtausende eingeführt worden sind, so entsteht für unser lesendes Auge das gleiche unerträgliche Gefühl, das für unser Ohr durch das tonlose und ungegliederte Ableiern einer Rede erzeugt wird. So kann allerdings das letzte Ziel erkämpft werden, die vollendete Undeutlichkeit. Allen diesen Grundsätzen ist Stefan George in der ersten Ausgabe seines ‚Jahres der Seele‘ unentwegt treu gewesen. Kein Komma verstattet dem Leser, Atem zu
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Hildebrandt: Erinnerungen an Stefan George und seinen Kreis, S. 108. S. Moeller van den Brucks Stilismus (1901) (Kolk: Literarische Gruppenbildung, S. 137). Adorno: George und Hofmannsthal, S. 220. So Johannes Jørgensen 1893 in einem Artikel zu Stefan George in der Norwegischen Zeitschrift Samtiden (zit. nach „L’âpre gloire du silence“…, S. 83) – Wolters weist darauf hin, daß dieser Eindruck sich nicht zuletzt aus Sprachunkenntnis ergeben hat (Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 52). Vgl. daher auch Baumgarten: Stefan George, S. 442, der von „Traumkunst“ schreibt. 349 Zit. nach: Stefan George in seiner Zeit, S. 41. 350 Vgl. die Auszüge aus Schurs Ziele für die innere Ausstattung des Buches in: „L’âpre gloire du silence“…, S. 342.
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holen. Eine demokratische, plebejische Hand wie die meine empfand sogar die Berührung mit dem haarigen Papier des Umschlags wie eine Belästigung, was darauf schließen läßt, daß aristokratische Hände eben von diesem Papiere den unsagbaren Reiz einer feinen Persönlichkeit erhielten.351
Offensichtlich ist Mauthner medientheoretisch um Entdifferenzierung bemüht. Sehen kann man an dieser Stelle jedenfalls, daß noch die kritischen Leser begreifen, wie umfassend Georges Dichtungskonzept ist, daß es keine Beliebigkeit der Ausgaben zulassen will, keine variable Verfügbarkeit der materiellen wie immateriellen Produktions-, Vermittlungs- und Rezeptionsbedingungen, keine Konzentration auf Signifikate und entsprechend auch keine Deutung der Schriftsprache als einer nur nebenbei fixierten gesprochenen Sprache. Wichtiger noch: Auch die George-Gegner reagieren mit allen Fasern ihres Leibs auf dessen Werke und werden von ihm zu einer umfassenden Aufmerksamkeit sowie möglicherweise zu einer korrespondierenden umfassenden Abwehrreaktion gezwungen. Um es in Variation des Lechterschen Programms zu sagen: „Kann man [das Werk] schwer lesen, nun das ist kein Fehler! [Es] fällt auf! Und [es] fällt vornehm auf!“352 Seine Erscheinung ist „aus dem Geiste des ganzen Werkes geboren“. George gelingt es durch Traditionsabwehr und Innovation, in einem durchökonomisierten Medienbetrieb Aufmerksamkeit zu akquirieren, in einem Betrieb, der schon viel gesehen und diese gezielte Unberechenbarkeit eigentlich zur Normalität erklärt hat. Die „Verleiblichung“, die George später im Maximin-Mythos ausbuchstabieren wird und die Mystik und Erotik wie der Wagnerismus kombiniert353, ist das programmatische Pendant zur Verkörperung und Materialisierung des Werks (6.2 b). Daraus erklären sich auch die eigentümlichen Paradoxien und Tautologien einer göttlichen Erlösungsmacht, die Produkt ihres Produktes, mithin sie selbst ist (6.3. e), und daraus erklärt sich weiterhin die Wirkungsmacht, die Wagner und George entfalten konnten und der sich zumindest einige nicht zu entziehen vermochten.354 Bezeichnenderweise findet sich das Vorbild der pathogenen Verhaltensmuster und Körperreaktionen, die aus dem George-Kreis berichtet werden, beim späten Nietzsche wieder:355 Wenn Nietzsche Wagner hört, re_____________ 351 352 353 354
Zit. nach Stefan George in seiner Zeit, S. 47. In Abwandlung des Zitats bei Raub: Melchior Lechter als Buchkünstler, S. 22f. (s. o.). Koppen: Dekadenter Wagnerismus, S. 326. Vgl. z. B. eine Karikatur in L’Eclipse von 1869, wo ein kleiner Wagner mit aller Gewalt eine Note mit einem Hammer in ein Ohr treibt (Eger: Wagner in Parodie und Karikatur, S. 763). Für die bis ins Pathologische reichende körperliche Wirkung Georges vgl. die Beispiele bei Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus, S. 86ff. 355 Und Nietzsche wiederholt seinerseits die Vorwürfe Paul Bourgets gegen Baudelaire (Koppen: Dekadenter Wagnerismus, S. 323).
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voltieren bei ihm Magen, Herz, Blutlauf und Eingeweide, seine „Einwände gegen die Musik Wagner’s sind physiologische Einwände“.356 Positiv formuliert bedeutet diese: Im Zeitalter der Nervosität setzt eine adäquate Rezeption von Georges Werken Nervenschwäche und damit eine äußerst gesteigerte Wahrnehmungssensibilität voraus. Ein schwaches und reizbares Nervensystem eröffnet neue Blickwinkel auf künstlerische Erzeugnisse.357 Aber diese Reizbarkeit gilt nicht nur für den Leser. Die Künstler, die Musiker und Dichter zeigen sich nicht minder empfindlich. Wagner verkörperte den Typus des nervösen und gerade deswegen genialen Künstlers.358 Und konsequenterweise diagnostiziert auch George bei sich eine „nervenschwäche“.359 Dieser Zusammenhang von Nervosität, Sensibilität und Aufmerksamkeit begründet zugleich die Anfälligkeit der George-Leser im emphatischen Sinn für die Machtausübung des Autors. So ist es durchaus konsequent, wenn Rudolf Borchardt, der an späterer Stelle Georges Avancement in eine Reihe mit der Überspanntheit Wagners stellt360, mit dem Angriff auf Stefan Georges „Siebenten Ring“ (1909) in seiner Ambivalenz gegenüber den Kritisierten, in seiner Radikalität und in seiner physiologischen Betroffenheit bis in den stilistischen Duktus hinein die Nietzsche-contra-Wagner-Rhetorik wiederholt: Georges Verse malträtieren den „reizbaren Leser[ ]“, dessen „Ohr“ und „Nerv“ werden „gequält“ und „empört“.361 Freilich hat George im Vergleich zu Wagner einen gravierenden Nachteil: Die Notation des Werks vermochte der Musikdramatiker in Stein zu bauen und damit die Überlieferung seiner „Idee“, die auf Papier nicht angemessen überliefert werden konnte, zu gewährleisten. Dem „idealen Werke“ sicherte er dadurch „seine solide Dauer in der Zeit, der Bühne ihre schützende monumentale Gehäusung“.362 Der Dichter aber konnte seine Werkidee nur in das eigene Bild, in sein Image meiseln, in die statuenhafte Erscheinung seiner ‚Gestalt‘, wie Kurt Breysig es festhält: „George war so sehr von dem beständigen Wirken an seinem Werk beherrscht, dass ein Teil dieser Werkhaftigkeit in seine Haltung überging“.363 Oder in den Worten Wolters’: „[…] dieser Meister ist ganz Werk gewor_____________ 356 357 358 359 360 361 362
So in Die fröhliche Wissenschaft (Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Bd. 3, S. 616f. Koppen: Dekadenter Wagnerismus, S. 295. Koppen: Dekadenter Wagnerismus, S. 303ff. George / Hofmannsthal: Briefwechsel, S. 46. 1928 in Die Gestalt Stefan Georges (Borchardt: Prosa I, S. 305). Borchardt: Prosa I, S. 260. Wagner: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Bd. 9, S. 328; vgl. in diesem Zusammenhang zum Problem der Notation von ‚Stimmlichkeit’ Schäfer: Die Intensität der Form, S. 115ff. 363 Breysig: Aus meinen Tagen und Träumen, S. 39.
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den“ – allerdings fügt das Sprachrohr Georges auch hinzu: „aber noch über das Werk hinaus“ sei er „in seiner körperlichen Gegenwart persönliches Vorbild für Tag und Jahr […]“.364 ‚Form‘ changiert bei George daher zwischen einer ästhetischen und einer ethischen Kategorie, sie ist Sprachform und persönliche Haltung zugleich.365 Und so scheint es Lou Andreas-Salomé bei einer Lesung Georges, als ob „diese Persönlichkeit an sich gleichsam noch einmal ihr Kunstwerk wiederholt, noch einmal an ihrer ganzen menschlichen Aussenform gleichsam stilisiert symbolisch anmutet, als sei sie ihrerseits aus ihren eigenen Gedichten herausgesprungen und deren Geschöpf nicht minder wie deren Schöpfer“.366 Daß George auf diese Deutung zuarbeitet, kann man an Gundolfs Goethe-Monographie sehen, die – wie die GestaltMonographien insgesamt – Krypto-Monographien über George sind367: Als größtes Werk des Autors gilt dort dessen Leben selbst. Zwar stuft Gundolf, um etwaige positivistische Verwechslungen seines Werks zu blockieren, den Wert der Quellen von den Gesprächen über die Briefe bis hin zu den eigentlichen Werken auf, dennoch beharrt er auf der Vergleichbarkeit dieser Bereiche, weil Goethe „auch in seinen unbedachtesten flüchtigsten Augenblicken unter seinem gestaltendem Dämon steht, da er, besonders in seiner späteren Zeit, sein Ich zu solch erwogener Monumentalität durchgebildet hatte, daß keine seiner Äußerungen ganz zufällig war […]“.368 George blockiert zwar eine an der Einfühlung orientierte Hermeneutik, verweist damit aber auf die Form des Textes, auf die Arbeit, die zu seiner Hervorbringung notwendig war, und damit vermittelt auf denjenigen, der den sich sträubenden „griffel“ führt.369 Insofern also ist auch die „gleichschwebende Aufmerksamkeit“ des Philologen gerechtfertigt. c) Georges Bayreuth: ‚Algabal‘ Eine spezifische Form der Aufmerksamkeit ist auch deswegen erforderlich, weil die Gestalt Georges kein dauerhaftes Medium war. Bei aller Kontrolle der fotografischen, bildkünstlerischen und plastischen Reproduktion seiner Gestalt: Die Reproduktionen Georges gehörten ihm nicht wirklich. Aus diesem Grund wurde nach der Verwandlung der esoterisch _____________ 364 365 366 367 368
Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 560. Hierzu und zum folgenden Mettler: Form und Haltung bei Stefan George, insbes. S. 91ff. „L’âpre gloire du silence“…, S. 364. Osterkamp: Das Eigene im Fremden. Gundolf: Goethe, S. 1f., 9ff., Zitat S. 10f.. Vgl. dazu Braungart: Gundolfs George, S. 419f.; zum Methodenproblem Zöfel: Die Wirkung des Dichters, S. 65ff. 369 Zöfel: Die Wirkung des Dichters, S. 20ff.
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vertriebenen Ausgaben in die öffentlichen, von den limitierten Prachtausgaben in die auf den Text reduzierten Leseausgaben eine letzte Verwandlung des Werks notwendig: Wagner hatte Bayreuth, George seine GesamtAusgabe (6.4 c). Eine Vordeutung der Werkfunktion der Gesamt-Ausgabe gibt Algabal (1892). Der zweite Gedichtband Georges ist also nicht zufällig dem Wagner-Förderer Ludwig II. gewidmet, wobei sowohl der Bayern-König als auch sein zeitweiliger Protegé als Verkörperungen des spätrömischen Kaisers galten: Karl Gutzkow nennt Wagner einen „musikalische[n] Heliogabal“370, und Ludwig II. schien in der direkten Verlängerung des Sonnenkultlers alle Ingredienzien des dekadenten Lebensstils zu versammeln: psychopathische Verhaltensmuster, sexuelle Perversion, Realitätsflucht, einen ausgeprägten Hang zu Dekor und künstlichen Landschaften und vieles andere mehr.371 Der Streit mit und um Wagner hinderte dabei nicht, Ludwig II. und Wagner als Brüder eines Geistes zu behandeln.372 Der Tod Ludwigs II. galt im übrigen den Kosmikern – wie auch das Hinscheiden ‚Sissis‘ – als Attentat der dunklen Mächte auf ein ‚Sonnenkind‘.373 Klages und Schuler waren von Algabal begeistert, allerdings aus Gründen, die nicht unbedingt etwas mit dem Gedichtband zu tun hatten, denn die Beschwörung einer germanischen Heidelandschaft und der heidnischen Vorzeit, des Bluts und des Heldentods bestimmt nur bedingt den Algabal-Zyklus im Ganzen.374 Wichtig am Verhalten der Kosmiker ist dabei, daß sie Algabal unter der Rubrik ‚Nietzscheanische Zivilisationskritik‘ verbucht haben. Wolfskehl schreibt am 11. Dezember 1892 an George: Alle jene Züge, die man vielleicht zusammenfassend mit einem Worte Nietzsches als „Armut des Reichsten“ im höchsten wie im materiellsten Sinne genauer bezeichnen könnte, sind von Ihnen in jener schwülen atemlosen Glut, die das damalige Rom mit unsrer Kultur weltgemein hat, zu einem Flammengemälde geschmiedet, dessen prangende Farben unvergänglich sich den Lesern eingraben. (W 2, 120).
Algabals etwas seltsame Verhaltensweisen ließen sich im Blick auf Des Esseintes, dessen Selbstabschließungs- und Schöpfungsbemühungen bei George „im Unterreich“ wiederholt werden375, als typische Abweichungen _____________ 370 Koppen: Dekadenter Wagnerismus, S. 214, Anm. 1. 371 Koppen: Dekadenter Wagnerismus, S. 297f.; vgl. auch Meyer („L’âpre gloire du silence“…, S. 290), Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 40. 372 Vgl. z. B. Verlaines À Louis II de Bavière: „Salut à votre très unique apothéose, / Et que votre âme ait son fier cortège, or et fer, / Sur un air magnifique et joyeux de Wagner“ (Poetische Werke, S. 388). 373 Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus, S. 99. 374 Schneider: Stefan George und der Kreis der Kosmiker, S. 163. 375 David: Stefan George, S. 77; Durzak: Der junge Stefan George, S. 68.
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eines Nervenkranken im positiven wie im negativen Sinn deuten, denn der Held von A rebours wurde von Huysmans als „Paradigma der die Décadence-Literatur bevölkernden Neurotiker und Neurastheniker“ angelegt.376 Die Widmung an Ludwig II. liegt von daher nahe, weil Huysmans vom Bayern-König fasziniert war und weil dieser seiner Neigung zur Realisierung von Luftschlössern nachgegeben hat. Freilich sind die interpretatorischen Begründungen für die Nebenberufe des Herrschers als Architekt und Innenraumausstatter in der George-Forschung etwas enttäuschend: Daß Algabal sich im Umgang mit einer artifiziellen und mortifizierten Natur den ästhetizistischen Interessen am Exklusiven und Erlesenen hingibt, ist plausibel. Aber: Sollte das alles sein? Mit der Zusammenfassung der drei frühen Gedichtbände in der Ausgabe von 1899 wirkt Algabal wie die Krönung und Zusammenfassung des Frühwerks von George. Dieser Eindruck ergibt sich auch daraus, daß in den früheren Sammlungen – wie z. B. in Der Infant aus den Hymnen (W 2, 26) – Präfigurationen Algabals enthalten zu sein scheinen.377 Umgekehrt setzt sich Algabal, mehr noch als die Hymnen, aus unterschiedlichsten Referenzen auf Literatur und Geschichte zusammen. Allerdings erzählt George keine historische Handlung, sondern verschachtelt die Zeiten und erkennbaren Ereignisabfolgen. Rudimente an Faktizität spielt er allenfalls an oder deutet sie um.378 Wie in Weihe ‚zerstäubt‘ George die ‚fremden Stimmen‘, negiert oder ignoriert sie aber nicht einfach. Wieder arbeitet er mit und gegen die historischen Vorgaben, und wieder macht er diese eben gerade nicht einfach zum ästhetisch frei verfügbaren Material, sondern ordnet sie ein in den komplizierten Prozeß der Grenzziehung, -kreuzung und -überschreitung, den ich am Beispiel von Georges Weihe dargestellt habe (6.1 a) – nur nebenbei: Das erste Gedicht des Algabal-Zyklus beginnt mit der Abkehr vom Ufer („Den meister lockt nicht die landschaft am strande“) und führt von dort in die aus dem „rausche“ geborene Vision (GW 2, 60). Mit Recht hat Manfred Durzak gegen Stimmen der Forschung, die auf der völligen Trennung von ‚Kunst‘ und ‚Wirklichkeit‘ im Algabal beharren, darauf hingewiesen, daß sich der Herrschaftsanspruch Algabals allenfalls im Unterreich durchsetzt und noch dort ständig von äußeren Einflüssen bedroht wird.379 Die Gedichte des Unterreichs setzen daher das Projekt der Weihe insofern fort, als die ‚Zerstäubung‘ der „fremden hauche“ sich auch als Errichtung eines „Unterreichs“ deuten läßt, weil bei_____________ 376 377 378 379
Koppen: Dekadenter Wagnerismus, S. 293. Simons: Die zyklische Kunst im Jugendwerk Stefan Georges, S. 331f. Simons: Die zyklische Kunst im Jugendwerk Stefan Georges, S. 291ff., 316f., 324. Durzak: Der junge Stefan George, S. 173, 224f.; vgl. auch Breger: Szenarien kopfloser Herrschaft, S. 117f.
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spielsweise Ovid das lateinische „aura“, also den „hauch“, als Metapher für die „Oberwelt“ verwendet.380 Wegen dieser stets gefährdeten Gegenwendigkeit, nicht wegen der gelungenen ästhetizistischen Selbstabschließung, läßt sich die Figur Algabals als Allegorie des Dichters verstehen. Unterstützt wird die Werkordnung, die in Algabal den Abschluß des Frühwerks sieht, durch Georges Brief an Hofmannsthal vom Januar 1892. Darin heißt es: „was ich nach Halgabal noch schreiben soll ist mir unfasslich“.381 Nun kommt George sich oftmals „unfasslich“ vor. Zumindest zäsuriert er sein Werk von Gedichtband zu Gedichtband neu. Man muß dem also nicht zu viel Bedeutung zumessen. Dennoch erscheint mir die Zuspitzung und Dramatisierung, die das Problem der Werkkontinuität im Brief an Hofmannsthals erfährt, für das hier interessierende Thema zutreffend: Algabal behandelt das Thema der Inkorporierung des Werks in herausragender Weise. Die künstliche Natur im „Unterreich“ zeichnet sich zunächst aus durch die beanspruchte Autarkie des Schöpfers, der „ausser dem seinen kein[en] wille[n] schalte[n]“ lassen will (GW 2, 60). Autarkie meint indes nicht Beziehungslosigkeit, denn Algabal stattet die kostbar geschmückten Räume mit „gesamter städte ganzer staaten beute“ aus (GW 2, 61). Die geheimen Palastsäle sind wie Georges Gedichte durchaus auch als historistische Topo(s)graphie angelegt (6.1 a). Wie ihre realen Vorbilder, die Glaspaläste des 19. Jahrhunderts, machen sie die Natur zum Interieur, spielen mit der Durchlässigkeit und der Verschachtelung von Außen und Innen und symbolisieren die Zirkulationen der warentauschenden Gesellschaft.382 Vorbild jener Überführung des Gewöhnlichen ins Außergewöhnliche sind die „perlen“, die als „klare gaben dumpfer stätte“ zeigen, wie aus Schleim in der Dunkelheit eine preziose, schillernd-glänzende Kostbarkeit erwächst (GW 2, 62; 6.3 c). Damit verkehrt George zugleich die Logik des „Unterreichs“, denn während die Perle von unten nach oben ans Licht gehoben wird und dann ihren Glanz entfaltet, versenkt Algabal das ‚Oberreich‘ ins „Unterreich“, in eine durchaus „dumpfe stätte“, um die eigentümliche Leuchtkraft seiner Welt zu inszenieren. Wichtig sind dabei die Lichtformen, nämlich die Diffusität des Lichts als Wahrnehmungsbedingung auf der einen sowie das Irisierende und Flirrende der Lichtreflexe auf der anderen Seite. Das letzte und bekannteste Gedicht des Subzyklus „Im Unterreich“ faßt die Elemente zusammen und fügt ihnen die Kombination aus Leblosigkeit und dadurch garantierter Zeitlosigkeit hinzu: _____________ 380 Spangenberg: Aura, S. 403. 381 George / Hofmannsthal: Briefwechsel, S. 12. 382 Asendorf: Batterien der Lebenskraft, S. 22ff.; Mattenklott: Bilderdienst, S. 262.
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Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme Der garten den ich mir selber erbaut Und seiner vögel leblose schwärme Haben noch nie einen frühling geschaut Von kohle die stämme von kohle die äste Und düstere felder am düsteren rain Der früchte nimmer gebrochene läste Glänzen wie lava im pinien-hain. Ein grauer schein aus verborgener höhle Verrät nicht wann morgen wann abend naht Und staubige dünste der mandel-öle Schweben auf beeten und anger und saat. Wie zeug ich Dich aber im heiligtume – So fragt ich wenn ich es sinnend durchmass In kühnen gespinsten der sorge vergass – Dunkle grosse schwarze blume?
Daß George sich hier einmal mehr mit dem „zerstäuben“ der „fremden hauche“ beschäftigt, macht die Reverenz an Novalis’ „blaue Blume“ und damit an die Novalis-Faszination der französischen Symbolisten und Ästhetizisten überdeutlich383: Es geht um die Frage nach dem Ursprung der Poesie und um die Probleme der poetischen Schöpfung. Die temporale Unordnung der letzten Strophe, der Wechsel vom Präsens ins Präteritum, verweist dabei – wie in Weihe – auf die Motivationsprobleme selbst erzeugter Widerstände: Während Algabal die „sorge“, die das Herrscheramt als Besorgnis und Fürsorge mit sich bringt, vergißt, schafft er sich selbst eine neue „sorge“ um die Erzeugung der „schwarze[n] blume“, und entwickelt eine neue Sehnsucht, die er als Sehnsucht nach dem Sehnsuchtszeichen der eingeschwärzten blauen Blume potenziert oder – um im Bildfeld des „Unterreichs“ selbst zu bleiben – reflektiert und spiegelt. Diese und andere Deutungsprobleme werden als Verfahren bereits angezeigt durch das diffuse Licht, das über dem „Unterreich“ liegt. Der gedämpfte Glanz, die Scheinhaftigkeit der Szenerie, das „schweben“ der „dünste“ versinnlichen Wahrnehmungsbedingungen und -effekte von Georges Ästhetik der Verunklärung, die ihre Medialität ausstellt. Am deutlichsten wird dies in der zweiten Strophe. Denn daß die „stämme“, die wie alle anderen Gegenstände auch im „graue[n] schein“ liegen, aus „kohle“ gemacht sind, weist den „garten“ schlicht als Kohlezeichnung aus. Wichtig ist dabei, daß die Kohlezeichnung im Fall der „stämme“ aus „kohle“ das _____________ 383 Vgl. dazu Durzak: Der junge Stefan George, S. 202ff.; zum Algabal als „MetaÄsthetizismus“ vgl. Kolk: Literarische Gruppenbildung, S. 32f., 34f.
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zeichnet, womit sie zeichnet. Sie führt das Gemalte vor Augen und zugleich das Medium des Malens. Gleiches gilt im übrigen für das Licht:384 Die „künstlichen Sonnen“ des 19. Jahrhunderts, das Gaslicht wie das elektrische Licht, entstehen aus unterirdischen ‚Steinkohlewäldern‘, wobei die Kohlefadenglühlampe dieses Material auch in dem aus verkohltem Bambus hergestellten Glühfaden nutzt – verkohltes Papier erwies sich als ungeeigneter Rohstoff: der Widerstand war zu groß.385 Aufgrund ihrer Leuchtkraft, die für die Beobachter des 19. Jahrhunderts zum Teil etwas unerträglich Helles gehabt hat, wurde die Lichtwirkung der „währenden Kerzen“, die George im ersten „Unterreich“-Gedicht als Lichtquellen nennt, auf Indirektheit umgelenkt.386 Wie im „Unterreich“ Algabals sieht man Licht, aber man sieht keinen Lichtherd; die Lichtführung basiert auf dem „indirekten, reflektierten, gerichteten Licht“, um so eine „Lichtatmosphärik herauszumodellieren“.387 Diese Formung des Mediums ‚Licht‘ in Algabal ist auch für Lechters Illustrationen zu den Werken Georges aufschlußreich: Lechter, ausgebildeter Glasmaler, orientiert seine Illustrationen an den gotischen Kirchenfenstern. Diese bildeten gegen Ende des 19. Jahrhunderts das Vorbild für die Renaissance mittelalterlicher Glaskunst, die, wie im Fall des TiffanyGlases, bei Lampenschirmen und Fensterscheiben gleichermaßen eingesetzt wurde, um ein diffuses Raumlicht zu erzeugen. Zeitgenössischen Beobachtern, darunter im übrigen auch Cornelius Gurlitt, dessen Bruder Fritz am 8. November 1900 die erste Gesamtausstellung Lechters in seiner Galerie eröffnete388, scheint es so, als ob auf diese Weise dem Inneren des Hauses „Poesie“ sowie „Weihe, Leben und Wärme“ vermittelt würden. Das Licht „entrückt es dadurch der Nüchternheit, der Alltäglichkeit“ – das Fenster dient als Farbfilter für die Realität, das Zimmer erscheint „dämmrig, lauschig“: „Wir fühlen uns in ihm allein, sei es mit unseren Gedanken oder mit unseren Freunden“.389 Wenn man die „Schwelle“ eines solchen Hauses überschreitet, so Curtius über die Wohnung des Ehepaars Lepsius, in der er wie viele andere mit George bekannt gemacht wurde, dann „war _____________ 384 Wie wichtig die Lichtführung für George war, sieht man auch an der Widmung Algabals an Ludwig II.: „Als meine jugend mein leben hob in solch ein licht / kam sie erstaunend deinem nah und liebte dich“ (GW 2, 56). 385 Schivelbusch: Lichtblicke, S. 24f., 54ff., 64ff. 386 Die Differenz von Kerzenlicht auf der einen sowie Gaslicht und elektrischem Licht auf der anderen Seite beruht darin, daß letztere das Brennmaterial nicht oder nicht sichtbar verzehren und insofern „währende Kerzen“ sind (Schivelbusch: Lichtblicke, S. 47f.). Zum indirekten Licht vgl. ebda., S. 48f., 142, 151ff. 387 Schivelbusch: Lichtblicke, S. 173. 388 Kluncker: Dichtung und Buchschmuck, S. 27; Lechter / George: Briefe, S. 16. 389 Zit. nach Schivelbusch: Lichtblicke, S. 175.
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man in einer anderen Atmosphäre“ (6.3 a).390 Auch hier ist freilich wichtig, daß George in Algabal zwar den Trend zur Privatisierung des Innenraums, der vom Lichteinfall des öffentlichen Raums abgeschirmt werden soll, ‚reflektiert‘, aber zugleich in der Staubigkeit der ‚Stimmung‘ den düsteren Glanz des Industriezeitalters einzitiert. Wieder also spielt er mit den kulturellen Grenzen. Auf diese Weise wird im Gedicht der Ästhetizismus als eine künstlerische Option kenntlich gemacht, die das Kunst- und Literatursystem selbst als Medium verwendet.391 Aus dieser Selbstreferentialität ergeben sich Paradoxien und Anschlußprobleme, die George insofern beschäftigen, als er mit der ästhetizistischen Option nicht auf Schönheit, sondern auf Innovation, Überraschung und Andersartigkeit setzt392 – zur Erinnerung: Ausgangspunkt für Georges Lyrik-Projekt war die Realisierung des „NEUE[N]“ in der Kunst (6.1). Schwierig wird der Umgang mit der Differenz dann, wenn die paradoxe Kommunikation von Einzigartigkeit bis zu einer nur noch schwer überbietbaren Steigerung führt wie beispielsweise im Fall der amoralischen Haltung Algabals. Dies macht die Bestätigung des Besonderen durch den Blick des Gläubigen, des Jüngers oder des Freundes notwendig, da sich aus dieser ‚freundschaftlichen‘ Perspektive Erklärungen und Erläuterungen erübrigen. Insofern gilt: „Algabals Solipsismus eröffnet die Urszene des George-Kreises“.393 Gerade aus dem ästhetizistischen Rückzug erwächst dessen spezifische Sozialform. Daher avancieren „Ekel, Haß und Gewalt“ als ästhetische Ingredienzien des Algabal im Umfeld Georges zu „psychische[n] Tatsachen von großer Intensität“, und aus diesem Grund gehört Georges „Witterung für Verrat“ zum Motivschatz seiner Gedichtbände wie zu seiner Einstellung gegenüber dem sozialen Umfeld.394 Noch Wolters wird Georges Position als „Herrscher“ im ‚Kreis‘ bzw. ‚Staat‘ dadurch auszeichnen, daß er von allen jederzeit „verlassen und verraten“ werden konnte.395 Zusammenfassend: Die Werkpolitik von George besteht ‚im Licht‘ Wagners und Nietzsches gesehen zu einem erheblichen Teil darin, neue Aufmerksamkeitshaltungen einzuprägen, die einen stets um das mögliche _____________ 390 Curtius: Stefan George im Gespräch, S. 100; vgl. ähnlich auch über Lechter: Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 119; vgl. umgekehrt zur zeittypischen Lichtpsychologie die Farb- und Lichteindrücke, die die Werke Georges Lechter vermitteln (Zwielicht, gedämpftes Licht, halbdunkle Farbtöne etc.): Lechter / George: Briefe, S. 12f. 391 Plumpe / Werber: Literatur ist codierbar, S. 39. 392 Hierzu und zum folgenden Kolk: Literarische Gruppenbildung, S. 33f. 393 Kolk: Literarische Gruppenbildung, S. 34. 394 Schirrmacher: Dies ist der Pfeil des Meisters, S. 103f. 395 Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 555.
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Übersehen besorgten Leser auszeichnen. Medien einerseits und Körper andererseits sind die Angriffsflächen dieser Werkpolitik. Körper als Medien der Aufmerksamkeit sollen für die Medien der Kunst sensibilisiert werden, um dadurch unter Bedingungen kritischer Gewalt, mithin unter Bedingungen prinzipieller Perspektivität und unkontrollierbarer Möglichkeiten der Visibilisierung und Invisibilisierung, stabil, vielleicht sogar gewaltsam die Aufmerksamkeit zu okkupieren und eine unnachgiebige Attraktivität zu entwickeln. Ob George dichterisch von Wagner enttäuscht war oder ob er Musik als mediokre Kunstform begriffen hat, ist nicht gleichgültig, aber nur eine Facette der Werkpolitik. Wichtiger scheint mir zu sein, daß George und Wagner sich genau an dem Punkt treffen, der ihre Werke am weitesten voneinander entfernt, nämlich in der Reflexion von Mediengerechtigkeit. Nietzsches Theorie der Sprachmusikalität zeigt, daß George eine Aufmerksamkeit nicht zuletzt für den Stellenwert des Werks fordert. Die Liminalität von Georges Taktiken der Verunklärung und die Fluidität des „melodienstroms“ provozieren die Mobilität der Beobachtung. Der Raum und die Materialität des Werks scheinen indes nur in permanenten Kippbewegungen auf. Liminalität, Fluidität und Mobilität tragen dazu bei, daß das Gleiche als Unterschiedenes und das Unterschiedene als Gleiches erscheint, weil Gleichheit und Unterschiedenheit gleichursprünglich sind.396 Georges ständig verschobene Anfänge des Werks, die, zumindest in der vom Autor noch lancierbaren Fassung, bis zum Schlussband der Gesamt-Ausgabe die Grenzen des Werks offen halten, lassen sich somit als Reflexion der Probleme des Anfangs lesen, die sich für ein „Unterschiedswesen“ ergeben. Die Stimmungsästhetik vor George hatte sich bereits inhaltlich und formal auf diesen Ort ‚jenseits von Gut und Böse‘ hin orientiert (5.3.5 b). George geht einen Schritt weiter auf das Medium zu. ‚Mediengerechtigkeit‘ meint damit auch, daß Gerechtigkeit als gleichermaßen juridische, moralische wie ästhetische Kategorie auf Medien angewiesen ist. Bezieht der Radius der Aufmerksamkeit dies mit ein und bezieht sich die Selektionslosigkeit der Aufmerksamkeit auf die Medialität des Werks, dann haben Autoren wie George weniger Schwierigkeiten damit, die Perspektivität der ‚Deutung‘ und das Mißverstehen als Normfall kritischer Kommunikation zu akzeptieren. Nietzsches oder Georges Forderung, „Alles“ wahrzunehmen, meint keine Aufmerksamkeitserweiterung im Sinn der quantitativen Ausdehnung der Aufmerksamkeit, sondern eine Intensivierung der Beobachtungsleistung, die mit Ausschließungen rechnet, diese Ausschließungen aber als Latenzen mitführt. Kurz: Es geht darum, ‚Auswahl‘ als _____________ 396 Derrida: Die différance, S. 40f.
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Selektion mitzulesen, Negativität als etwas Produktives zu behandeln. Das Pendant zur dichterischen Arbeit besteht in der Lektürearbeit. Die Architektur der Werkpolitik, die in Wagners ‚Bayreuth‘ tatsächlich, in Georges Werkgebäuden metaphorisch in Form von Stellenwertbewußtsein realisiert wird, stellt den Buch- und Sprachkünstler vor besondere Notationsprobleme. Aber auch George traktiert die Körper, versucht seiner Werkpolitik bis in die feinsten Fasern des Körpers hinein Wirksamkeit zu verleihen. Daß dabei Attraktion wie Aversion gleichermaßen radikale Formen annehmen, gehört zum Kalkül. Wer sich Georges Werk aussetzt, muß reagieren. In den negativen Reaktionen zeigt sich seine Wirksamkeit und seine Anforderung an die Aufmerksamkeit nicht weniger als in den positiven. Man kann also Wagners wie Georges Umgang mit dem Werk, mit dessen Plazierung und Notierung Materialgerechtigkeit im engeren Sinn ablesen. Genau deswegen unterscheiden sich beide fundamental. Vielleicht versteht sich auch vor diesem Hintergrund Georges allmähliche Abwendung von und seine zunehmende Kritik an der Musik, weil die Verwechslung von musikalischer und sprachlicher Kunst so nahe lag. Ähnlich wie bei Mallarmé in seinen Beiträgen für die Revue Wagnérienne schreibt George der Verbeugung vor dem Anspruch Wagners die Distanznahme ein397 – beide, Mallarmé wie George, konnten Wagner als Dichter nichts abgewinnen. Selbst wenn George in Weihe eine geradezu wagnerianische Einleitung des Werk verfaßt haben mag, so zerstäubt er eben auch diesen „fremden hauch“ im Verlauf des Gedichts. Der „schmeichelchor“ der „junge[n] wellen“ macht thematisch die Faszinationskraft Wagners und seines „erotischen Wahnsinn[s]“ (Max Nordau) im europäischen Wagnerismus der Décadence aus,398 und dies gerade weil der Grund dieser Effekte sich sprachlich nicht notieren läßt.399 Sobald diese „junge[n] wellen“ jedoch in ihre Schranken gewiesen wurden, bleiben die Assonanzen und Alliterationen allmählich aus, bis sie in der abschließenden Strophe, die die Begegnung von Inspiriertem und Inspirationsmacht, von „finger“ und „lippe“ gestaltet, keine Rolle mehr spielen. Diese Verdrängung findet erneut auf Ebene der Physiologie statt: George verdrängt nicht Motive, Themen oder Gedichte, sondern die „fremden hauche“, den „Sound“, um es mit Fried_____________ 397 Zur distanzierten Haltung Mallarmés gegenüber Wagner vgl. Zimmermann: „Träumerei eines französischen Dichters“, S. 162. Dies entsprich dem Charakter der Zeitschrift insgesamt, die Wagner weniger als Ausgangs- als vielmehr als Ziel- oder Konvergenzpunkt der eigenen Bestrebungen verstanden und benutzt hat (Koppen: Dekadenter Wagnerismus, S. 75, zu Mallarmés Beiträgen ebda., S. 76f.). 398 Koppen: Dekadenter Wagnerismus, S. 115ff. 399 Kittler: Fiktion und Simulation, S. 212.
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rich Kittler zu formulieren, dessen „allesdurchdringende Macht“ den „artistischen Imperialismus“ trägt.400 Noch an einer weiteren Stelle ergeben sich Analogien zwischen Wagner und George. Denn die Probleme des Anfangs, die sich für die ZweiSeiten-Beobachtung als Kunst der Unterscheidung einstellen, entstehen strukturell analog bei den Verfahren der Wiederholung (6.2 a). Wo bei Wagner das Orchester Verstärkerfunktion übernimmt und wo vokale und instrumentale Effekte zusammenwirken,401 finden sich bei George eigene „Feedbacks“, und zwar in den Schleifen seiner Selbstbezugnahmen, in den Rückkopplungen von Früh- und Spätwerk.402 Und wie bei Wagner stellen sich dadurch Wahrnehmungsunsicherheiten ein.403 Die Beteiligten sehen nicht das, was sie sehen sollen. Die Erzeugung von Visibilität zielt bei George dabei im Werkverlauf vor allem auf die Invisibilisierung von Unterschieden. Seine Leser sollen zunehmend dazu in der Lage sein, im Gleichen das Unterschiedene zu sehen: „Ihr sehet wechsel · doch ich tat das gleiche“, heißt es in der zentralen Kulturkritik des Zeitgedichts (GW 6/7, 7; 6.3 d). Kurt Breysig gegenüber verkündet George dies als sein „Leitmotiv“: „Ich war immer Derselbe und Gleiche“.404 Dabei behauptet George Selbstgleichheit, die zu den Kernproblemen der Werkpolitik gehört (z. B. 3.3. c), nicht als inhaltliche Identität. Er ‚sagt‘ nicht das Gleiche, sondern er ‚tut‘ das Gleiche. Wie also läßt sich die Performanz des Werks, die „tat“, als wiederholter Vollzug einer Operation beschreiben? _____________ 400 Kittler: Weltatem, S. 97f. 401 Kittler: Weltatem, S. 98f. 402 Dies gilt im übrigen auch für die Wagner-Affinitäten selbst: Im Stern des Bundes findet sich eine späte Erklärung zu Georges frühen Wagner-Affinitäten, die sich als fortgeführte Distanzierung lesen läßt, und dies vor allem dann, wenn unter die „häuser[ ]“, in denen „Wehmut flötet“, auch Bayreuth fallen sollte. Wieder geht es um die Abwehr des „schmeichelchors“ der „wellen“: „Durch die gärten lispeln zitternd / Grau und gold des späten tags. / Irr-gestalt wischt sich versonnen / Sommerfäden aus der stirne / Wehmut flötet .. dort in häusern / Bunte klänge laden schmeichelnd / Saugen süss die seele ... Eilet! / Alles dies ist herbstgesang. / Stimme die in euch erklungen / Heischt nicht gift noch welken glanz“ (GW 8, 87). Vgl. zur frühen Wagner-Affinität die im Kommentar angegebenen Referenztexte Prinz Indra (GA 18, 83ff.) und „Da auf dem seidenen lager“ aus Algabal (GW 2, 70). Näher läge freilich Stimmen im Strom als letztes Gedicht im Buch der hängenden Gärten (GW 3, 99), wo – als letzte Strophe des Gedichtbands – die Selbstauflösung positiv angeboten wird: „Müdet euch aber das sinnen das singen · / Fliessender freuden bedächtiger lauf · / Trifft euch ein kuss: und ihr löst euch in ringen / Gleitet als wogen hinab und hinauf“. Zu „Durch die gärten lispelnd zitternd“ als Wagner-Reminiszenz vgl. Lothar Pikuliks Überlegung (Stefan Georges Gedicht Der Teppich, S. 402). Morwitz bezieht das Gedicht unbestimmt auf eine „zu romantischen Gefühlen verführende[ ] Musik“ (Kommentar zu dem Werk Stefan Georges, S. 383). 403 Wo Brangäne das Hornsignal Markes hört, vernimmt Isolde „des Quelles sanft rieselnde Welle“ (Kittler: Weltatem, S. 99). 404 Breysig / George: Gespräche, Dokumente, S. 23 (Gesprächsnotiz vom 26. Oktober 1916).
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6.3 Werkschritte Georges Behauptung, er sei sich immer gleich geblieben, steht im Kontext einer Werkpolitik, die von Anfang an gezielt die Wahrnehmung irritiert, die Beobachtung der Leser überprüft und justiert. Weihe präludiert diese Einspielung von Aufmerksamkeiten in den oben behandelten Taktiken der Verunklärung, die in der zweimaligen unsicheren Frage nach der Verläßlichkeit von Hör- und Sehsinn reflektiert werden („Siehst du […]? / Hörst du […]?“).405 George überprüft die Wahrnehmungsfähigkeit des lyrischen Ich und die Wahrnehmungskompetenz des Rezipienten, der sich gleichermaßen angesprochen fühlen darf. Eben diese Tests setzt George auch für die Sichtbarkeit von Werkkontinuität ein. Er entwickelt ein spezifisches Interesse an der Vorläuferschaft für das eigene Werk im eigenen Werk: Die mehrfach verschobenen ‚Anfänge‘ des Werks deuten auf das Problem des Anfangs hin; sie regen eine temporalisierte Beobachtung an und rufen dazu auf, Bezüge des aktuell Wahrgenommenen zu Präfigurationen, Variationen und Abwandlungen zu entdecken (6.1 a u. b). George provoziert auf diese Weise eine Mitbeobachtung von Latenzen und insofern wiederum strukturell die Ausbildung einer selektionslosen Aufmerksamkeit.406 Die korrespondierende Beweglichkeit der Beobachtung erfordert, daß motivische oder thematische Variationen wahrgenommen werden, die das Werk als einen Resonanzraum oder als privilegierten Kontext seiner selbst installieren. Auch dies läßt sich an der Werkinitiation durch Weihe ebenso kursorisch wie exemplarisch zeigen: Die Modulationen des Motivmaterials beginnen bereits in den Hymnen selbst, wo der Zusammenhang von Herrschaftsarchitektur und klanglicher Verführung (GW 2, 18), die Ufer- und Schwellenszenen (GW 2, 19, 21) oder die Erhörungserwartung und unsicherheit (GW 2, 20, 28) im Zentrum der zyklischen Konfiguration stehen. Sie führt von dort weiter etwa zum Buch der hängenden Gärten, in dem die Sehnsucht nach den „eigne[n] hauchen“ (GW 3, 88) oder die erotische Attraktion der Wellensprache wieder auftaucht (GW 3, 99). Im _____________ 405 Parallel dazu bei Wagner vgl. Kittler: Weltatem, S. 102. 406 Das Problem wurde in der zeitgenössischen Aufmerksamkeitstheorie im Zusammenhang mit dem Problem der „disjunkte[n] Natur des Sehfelds“ behandelt, also der physiologischen Gegebenheit, daß das Zentrum der Netzhaut licht-, die Peripherie der Netzhaut hingegen bewegungssensibler ist: Das Sehfeld läßt sich damit kaum mehr als glatter Schnitt durch einen Kegel konzipieren, sondern teilt sich auf in „Zonen variierender Sensibilität“. Mit dem wissenschaftlichen Nachweis dieser ungleichmäßigen Reizbarkeit im späten 19. Jahrhundert war klar, daß Wahrnehmungen nicht durch ein ruhendes Auge beim Beobachter ankommen, sondern durch ein „komplexes Aggregat von Augenbewegungsprozessen, die provisorisch den Anschein eines stabilen Bildes aufbau[ ]en“ (Crary: Aufmerksamkeit, S. 231).
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Jahr der Seele werden dann Erinnerungsbilder an die Inspirationsszene (GW 4, 40) und das daraus folgende Projekt, die ‚fremden‘ durch die ‚eignen‘ „namen“ zu ersetzen, eingeflochten (GW 4, 51). Im Teppich des Lebens lädt der Engel des Vorspiels in den „hain der weihe“. Folglich geistern dann auch durchs Dickicht des Teppichs die Irrlichter der Weihe (GW 5, 44), und das „schmeicheln“ der „wellen“ tönt darin. Im Siebenten Ring verkehrt sich die Ankunft der Muse in eine Entrückung, die Baudelaires Élévation (GW 13/14, 13) so wiederholt wie die Weihe dessen Bénédiction (GW 6/7, 111) und damit auch gleich weiter deutet auf den Stern des Bundes (GW 8, 10). Das Neue Reich schließlich justiert die Wahrnehmung weiter und richtet das „geschärftere Aug“ auf den „ursprünglichen boden“, der in Weihe noch durch den „urduft“ des „rasen[s]“ auratisiert wurde (GW 9, 47). Diese motivischen und thematischen Spiegelungen sind aufs höchste vermittelt und entschlüsseln sich nur in einer genauen Lektüre der jeweiligen Kontexte. Eben diese methodische Entscheidung, die Reflexion über den Stellenwert des Gedichts im Werk, wird von George in besonderer Weise provoziert. Selbst wenn die Bezüge also in die Irre führen, sind sie noch immer Teil einer Werkpolitik, die an einzelnen Werkstellen die Erinnerung an das aufruft, was an anderen Stellen im Werk bereits passiert ist, oder die das Interesse auf das hin spannt, was künftig im Werk zu lesen sein wird. Dennoch dürfen die Verschiebungen nicht ausgeblendet werden, die George in seiner Werkästhetik vornimmt, und dazu gehört vor allem die Neigung zu statischeren Konzepten auf der einen, zu anweisenden Texten auf der anderen Seite.407 Im folgenden will ich in einer Reihe von Werkschritten zeigen, daß dies am Projekt einer selektionslosen Aufmerksamkeit nichts ändert. ‚Werkschritte‘ meint also nicht nur, daß der Verlauf des Werks beobachtet werden soll, sondern auch dessen Vollzug. Fokus der Ausführungen ist Georges Gesamt-Ausgabe, in der sich die Problemstränge verknoten lassen, die ich in meiner Studie zur Werkpolitik bislang entwickelt habe (6.4 c). a) Nach der Lese Das Jahr der Seele hat George als eine der Gedichtsammlungen an den Grenzen des Gesamtwerks plaziert. Im einem Brief an Ida Coblenz von Anfang September 1895 schreibt er, er befinde sich nun an einem „wendepunkt“ und wolle sein Werk von den Hymnen bis zum geplanten Jahr der Seele gemeinsam herausgeben, um diese Phase zu schließen – „so sind _____________ 407 Dazu z. B. Kolk: Literarische Gruppenbildung, S. 234.
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meine gesungenen meine gemalten und meine gesprochenen werke zusammen“.408 Entsprechend gilt in der Forschung die nachfolgende Gedichtsammlung Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel als Neuanfang.409 Wahlweise kann allerdings auch der Siebente Ring als Abschluß und Neubeginn gedeutet werden.410 Und bisweilen fallen die werkinternen Grenzen ganz.411 Wichtig scheint mir daher zunächst zu sein, daß George-Leser sich überhaupt mit einer gewissen Fixierung solchen Fragen zuwenden, die von der Entstehung der Sammlungen her eigentlich für obsolet gelten müßten: Bekanntlich entstehen die Gedichte der Sammlungen Georges nicht nacheinander, sondern parallel – noch der Siebente Ring etwa enthält eine Gruppe von Gedichten aus der Entstehungszeit des Jahrs der Seele.412 Das als getrennt Inszenierte ist ein Gleichzeitiges. Anders wäre auch kaum verständlich, wie George jeweils am Ende einer Sammlung bereits auf die folgende verweisen konnte. George reicht seine Werke als Anhäufung von Grenzziehungen weiter, die allerdings den Leser gleichzeitig zu ständigen Überschreitungen auffordern und daher ein ausreichendes Irritationspotential für Kommentare bieten. Der Subzyklus Nach der Lese buchstabiert die Weihe um: In der Auseinandersetzung von „ich und du“, wie es in der Vorrede heißt (GW 4, 7), spiegelt sich die Auseinandersetzung des Autors mit sich selbst, die Auseinandersetzung mit seinen Lesern sowie die Auseinandersetzung mit dem, was ihm an inspiratorischen Kräften geblieben ist.413 Wieder geht es um den Umgang mit der Verführungskraft von Stimmen und um deren Verdrängung (GW 4, 13, 15), um Szenen der Segnung (GW 4, 14), der Begrenzung und des Transzendierens von Grenzen (GW 4, 16, 17). Im Vergleich mit Weihe fällt auf, daß an die Stelle der Offenheit des „stroms“, dessen „wellen“ eingedämmt werden müssen, die Geschlossenheit des „weihers“ tritt, der allerdings bereits in den Hymnen als Inszenierung der Grenze im Unterschied zum „meer“ gedient hat (z. B. GW 2, 21). Zum zweiten unterscheidet die lyrische Initiation in der Weihe von der Situation Nach der Lese die Aura der Spätzeitlichkeit, die das Jahr der Seele insgesamt als eine Erkundung der Möglichkeit am Rand der déca_____________ 408 409 410 411
George / Coblenz: Briefwechsel, S. 59. So z. B. Winkler: Stefan George, S. 40f. So z. B. GW 6/7, 192f. So bei den Arbeiten, die keine Trennung zwischen einem frühen ‚ästhetizistischen’ und einem späteren sich dem ‚Leben’ widmenden George machen (z. B. Durzak: Der junge Stefan George, S. 12). 412 Als extremes Beispiel kann der Siebente Ring dienen, in dem Gedichte aus der Zeit von 1892 bis 1906 versammelt werden (GW VI/VII, 192). 413 Braungart: Ritual und Literatur, S. 25; Braungart: Ästhetischer Katholizismus, S. 224ff.
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dence ausweist.414 Die Sammlung behandelt eine gleichsam zurückgestufte Form der poetischen Arbeit an den Trennlinien der Poesie: Die Natur erscheint gerade ‚noch‘ in Bewegung, die Grenzen von Land und Wasser liegen in der Ferne. In beiden Fällen aber, im Jahr der Seele wie in den Hymnen, figuriert der „Park“ als Bild für die Gedichtsammlung. Hofmannsthal hat im übrigen dem „Gartenhafte[n] in der Anordnung“ einen Großteil der Wirkung von Georges Gedichten zugeschrieben, und George schien dieser Gedanke angemessen zu sein.415 Das Leitgedicht „Komm in den totgesagten park und schau“ bildet dabei eine Art Vorrede zum gesamten Jahreszeitenzyklus: Die Rubrik Nach der Lese, die mit diesem Gedicht beginnt, durchbricht mit ihren insgesamt elf Gedichten die Ordnung des Jahreszeitenzyklus, dessen andere Teile sonst aus je zehn Gedichten unter den Überschriften Waller im Schnee und Sieg des Sommers bestehen. Das Park-Gedicht kann daher als Einleitung der gesamten Gruppe verstanden werden, zumal es die zentralen Motive des Zyklus’ in sich versammelt und eine entsprechende Poetik der Zusammenstellung präsentiert: Komm in den totgesagten park und schau: Der schimmer ferner lächelnder gestade Der reinen wolken unverhofftes blau Erhellt die weiher und die bunten pfade Dort nimm das tiefe gelb das weiche grau Von birken und von buchs · der wind ist lau Die späten rosen welkten noch nicht ganz Erlese küsse sie und flicht den kranz Vergiss auch diese lezten astern nicht Den purpur um die ranken wilder reben Und auch was übrig blieb von grünem leben Verwinde leicht im herbstlichen gesicht.416
Wo die Weihe „hinaus“ führt und dort die Arbeit der Grenzziehung verrichtet, führt das Park-Gedicht „in“ ein umgrenztes Gefilde. Die früheren Limitationen sind ohne Bedrohungspotential nur noch als „schimmer“ gegenwärtig, die irisierende Beweglichkeit erschöpft sich im ruhigen Einsammeln der Naturreste, die zum ‚Gedicht‘ gebunden werden.417 Und während die Weihe die Wahrnehmung radikal problematisiert, bleibt hier _____________ 414 Faletti: Die Jahreszeiten, S. 49 – zurecht weist Faletti darauf hin, das die lyrische Variante der ‚ewigen Wiederkehr’ letztlich auf eine Sprache der zeitlosen Dauer hinarbeitet. 415 George / Hofmannsthal: Briefwechsel, S. 126, 129. 416 George: Das Jahr der Seele, unpag. 417 Vgl. zu Deutungsmöglichkeiten von „gesicht“ Lämmert: „Komm in den totgesagten park und schau …“, S. 64f.
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das Problem der Synthesis: Indem George die Natur in Farbsensationen auflöst und diese nachfolgend zu einer Vision („gesicht“) zusammensetzt, begleitet er literarisch die erkenntniskritische Diskussion um die Beobachtung als produktives Vermögen.418 Mit der Diskussion um die synthetischen Fertigkeiten des Beobachters verbindet sich die Irritation darüber, wie weit Objekt und Subjekt voneinander distanziert sind. Dieser Distanzierung des Beobachters von seiner Umgebung, die, gewissermaßen als „schimmer ferner lächelnder gestade“, nur noch durch einen dichten Filter sensationsverarbeitender Körperlichkeit zu ihm dringt,419 korrespondiert die Farbpsychologie des ParkGedichts: Das gedämpfte Licht, das als „schimmer“ und Reflex den Gedichtraum bescheint (das „blau“ der Wolken „erhellt die weiher und die bunten pfade“) sowie die milden Farben („das tiefe gelb“ und „das weiche grau“) deuten auf eine bestimmte lyrische Farbtopik, auf die ich unten eingehen werden, und sie deuten zugleich auf bestimmte Tendenzen der bürgerlichen Dekorationskultur. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts schotten sich die Wohnräume vom hellen Licht einerseits der Natur, andererseits der künstlichen Illuminationen ab, und auch die Lichtquellen innerhalb der Wohnung werden mit bunten, bisweilen floral gemusterten Stoffen aus der Welt ‚nach der Lese‘ eingekleidet (6.2 c).420 Das Haus des Ehepaars Lepsius, das zu einem der wichtigsten gesellschaftlichen Begegnungsorte Georges gehörte, präsentiert eben diese Lichtpsychologie: […] wenn man die Schwelle von Lepsius’ überschritten hatte, war man in einer anderen Atmosphäre. Das große Wohnzimmer hatte eine Tapete, die Leistikow „entworfen“ hatte: Blätterwerk von Rostkastanien, grün bis rostbraun auf braunem Grund. Ein tiefes, niedriges Sofa, mit gelber Seide bespannt. […] Nach dem Abendessen gruppierte man sich im großen Zimmer um den Kamin.421
Bei Lesungen wird diese künstliche Dämmerung noch verstärkt und der Lichteffekt der Zeit ‚nach der Lese‘ während der ‚Lese‘ erzeugt. Es war ein Spätnachmittag im November, unbestimmte graue Häusermassen, dunkle vorbeieilende Menschensilhouetten, weißes Glühlicht und ein gelblichgrün absterbender Himmel, einer jener mystisch-schönen Momente, welche die Großstadt denen, die Nerven dafür besitzen, wohl bringt. Unser Wirt war der feinste subtilste Bildnismaler Berlins. Wir saßen in den mit verschleierten Lampen matt erleuchteten Räumen auf florentinischen eingelegten Sesseln, auf verblaßtem Brokat. Bekannte Menschen waren zugegen. Nur in gedämpften Tönen wur-
_____________ 418 419 420 421
Vgl. wiederum Crary: Aufmerksamkeit, z. B. S. 24f. Crary: Aufmerksamkeit, z. B. S. 130f. Schivelbusch: Lichtblicke, S. 161ff. Curtius: Stefan George im Gespräch, S. 100f.; vgl. auch über die Wohnung von Lechter, die ebenfalls ein beliebter Treffpunkt des Zirkels um George war: Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 119; dazu auch das Bild „Vor der blumigen Tapete“ bei Boehringer: Mein Bild, S. 158 (Bildteil). Das Bild ist ein Ausschnitt von ebda., S. 151.
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de gesprochen. Dann glitt aus einer Seitentür ein Mann herein und setzte sich nach einer Verbeugung an das gelbverhüllte Licht: hinter ihm eine japanische golddunkle Stickerei, nicht weit von ihm Lorbeerzweige und orangenrote Blüten in getriebenem Kupfergefäß. […] Obwohl ich die meisten Gedichte kannte, war es nicht leicht, den immerhin ungewöhnlichen Gedanken- oder Bildverbindungen zu folgen. Aber mehr und mehr wurden wir hypnotisiert, in die Stimmung hineingebannt.422
Die Verfahren, dem Licht seine Gewalt zu nehmen, und die Tendenz zur sozialen und emotionalen Isolierung bzw. zur Bildung kleiner Gemeinschaften gehören zu einem kulturellen Zusammenhang. Die gesteigerte Helligkeit führt dazu, daß die Lichtbeschirmung verdunkelt wird und die Farben der Interieurs verblassen. Parallel dazu privatisiert sich das Familienleben und die Familienmitglieder vereinzeln sich. Lichtführung und Sozialstruktur gehören in einen sich wechselseitig stabilisierendes Geflecht historischer Entwicklungen: Das abgeschottete Interieur löst so die Einheit von Außen- und Innenlicht auf, und der Helligkeit des künstlichen Lichts fehlt die anziehende und zentrierende Kraft, die der Flamme zuvor als Mittelpunkt der häuslichen Versammlungslogik zugekommen war.423 Wenn die Gruppe um George im Haus Lepsius den Kamin als Versammlungsort wählt, kämpft sie gegen diese Entwicklung an. Die Grenzen des Gedichtraums Nach der Lese lassen sich somit von der historischen Farbpsychologie aus rekonstruieren. Dabei fallen freilich wiederum neue Verschachtelungen auf: Zwar distanziert sich der Beobachter, dessen Wahrnehmungsapparat opak geworden ist, von der Welt der Objekte, zugleich aber wird der materialisierte, verleiblichte, physiologisch fixierte Beobachter der Welt der Objekte eingereiht. Ebenso verschränken sich Außen und Innen gerade in der Abschottung der Interieurs, weil diese in der Kunst der Draperie, der Stoffüberzüge, der Fensterverkleidung und Lichtbeschirmung jene Natürlichkeit wiederherzustellen versuchen, die sich mit dem Licht des Holzfeuers oder der Kerzenflamme verbindet.424 Während indes der „universelle Zwang zum Überzug“ im 19. Jahrhundert wie in der Dekorationskunst, in der Möbelproduktion oder in der historistischen Architektur das „konstruktive Gerüst“ mit allen zur Verfü_____________ 422 So die Erinnerung Marie von Bunsens (zit. nach Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 124; vgl. den Abdruck nach der Vossischen Zeitung vom 9. Januar 1898 in: „L’âpre gloire du silence“,…, S. 322). Vgl. auch die Akzentuierung von Bondi bei der Erinnerung an eine Lesung vom 22. Oktober 1902: „Der Abend war höchst eindrucksvoll und ungemein feierlich; kein elektrisches Licht brannte, nur Wachskerzen leuchteten“ (Bondi: Erinnerungen an Stefan George, S. 10). 423 Schivelbusch: Lichtblicke, S. 171f., 177. 424 Schivelbusch: Lichtblicke, S. 160f.
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gung stehenden Mitteln verdeckt425, stellt George genau diese Konstruktivität aus: Dies betrifft vor allem die Verlesbarkeiten und Doppeldeutigkeiten, die in Bildzusammenhängen wie dem der „lese“ oder in einzelnen Worten die Verfahren der (literarischen) Dekomposition und Rekomposition markieren: Bei George sind ‚Gedicht‘ und ‚Gesicht‘ (z. B. GW 4, 12; 6.) oder ‚Lieb‘ und ‚Lied‘ (und ‚Leib‘ und ‚Leid‘) durch Minimalverschiebung der Signifikanten ineinander transformierbar (GW 3, 24, 48f., auch 65).426 Georges Gedichte sind stets Proben auf die Aufmerksamkeit für den „eben noch merkliche[n] Unterschied“, um noch einmal Fechners Formulierung zu zitieren (6.1 b), und sie testen die Fähigkeit des Lesers, die ‚Auswahl‘, dessen Ergebnis des aktuelle Gedicht ist, mit zu beobachten, also im anwesenden Syntagma das abwesende Paradigma zu sehen. Das konstruktive Moment der „mache“ von Wahrnehmungen oder Gedichten läßt sich als Rhetorik der Poesie im engeren Sinn bezeichnen427, weil Nach der Lese die Tradition dichterischer Florilegien in Georges Werk begründet, die vor allem im blumentragenden Engel des Vorspiels zum Teppich des Lebens fortgesetzt werden wird (6.3 b). Das Verflechten der Flores zum Gedicht ist Teil einer Ethik der dichterischen Arbeit und des dichtenden Bewahrens, die auch dem „lezten“ gilt. Die doppelte „sorge“ Algabals als Besorgnis und Fürsorge (6.2 c) gehört zur ‚Blütenlese‘, auf die der Dichter sich verpflichtet. Aber wie in Weihe, die ebenfalls eine ‚Blütenlese‘ aus dem Reservoir abendländischer Inspirationstopik darstellt, verbinden sich bei George Bewahrung und Zerstörung: Das „verwinden“ der Flores zum „gesicht“ verweist doppeldeutig in die Vergangenheit, wo das Gedicht die Tradition in sich aufhebt, und in die Zukunft, wo das „gesicht“ als Vision das Neue sieht. Vor allem aber alludiert das „verwinden“ direkt das „zerstäuben“ der „fremden hauche“ durch die ‚Winde‘ der eigenen Produktivität in der Weihe.428 Dieses Traditionsverwinden als Traditionszerstäuben wiederum _____________ 425 Asendorf: Batterien der Lebenskraft, S. 89; vgl. hier auch zum „Dämmer“ der Interieurs: ebda., S. 91f. 426 Vgl. zur dichterischen Selbstreflexion im Jahr der Seele auch Mickiewicz / Brinks: A polysemic reading of Stefan George’s „Wir schreiten auf und ab im reichen flitter“, insbes. S. 137f. Die Kritik von Jürgen Egyptien an dieser Interpretation (Herbst der Liebe und Winter der Schrift, S. 35) scheint mir zumindest an dieser Stelle nicht plausibel, wenn man das in Frage stehende Gedicht vor dem Hintergrund von Weihe und dem dort vorgegebenen Traditionsverhalten Georges liest, denn auch im Jahr der Seele geht es darum, von „fremde[n] stimmen“ nicht „[ge]scheuch[t]“ zu werden (GW 4, 15). 427 Zur rhetorischen Bildung Georges vgl. Roos: Stefan Georges Rhetorik der Selbstinszenierung, S. 13ff. 428 Ich danke Alexander Schwieren für diesen Hinweis. Dazu paßt auch „Wir schreiten auf und ab im reichen flitter“, wo das lyrische Ich nach „schattenfreien bänken“ sucht, „wo uns niemals fremde stimmen scheuchten“ (GW 4, 15). Vgl. zur Interpretation des Gedichts als Lektürebild: Mickiewicz / Brinks: A polysemic reading of Stefan George’s „Wir schrei-
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korrespondiert den Verflechtungen, die das Gedicht in sich selbst vornimmt durch seine Lautsymbolik, seine anaphorischen Bezüge, seine semantischen Assoziierungen oder Parallelismen sowie durch das Reimschema, das innerhalb der drei Strophen vom Kreuzreim über den Paarreim bis zum umarmenden Reim wechselt.429 Bereits in der zeitgenössischen Rezeption entbrennt ein Streit darum, in welchem Verhältnis Das Jahr der Seele zur Tradition steht. Richard Moritz Meyer entziffert 1897 in den Preußischen Jahrbüchern die Lyrisierung des Ausdrucks, der die Gedichtsammlung prägt, als „Rückkehr in das alte Heimathsgebiet der Lyrik“, will dies aber nicht als „Rückkehr zur Natur“ und damit nicht als Schritt hinter die vorangegangenen Gedichtbände Georges verstanden wissen.430 Dennoch erklärt sich aus diesem Eindruck, warum die meisten Anthologien sich ihre George-Gedichte gerade aus dem Jahr der Seele holen. Vielleicht auch wegen dieser Konsumierbarkeit macht Karl Wolfskehl, der von George als Interpret autorisiert wurde, in einem Beitrag für den Pan Front gegen Meyers These: Gewiss mit Unrecht hat ein Beurteiler eine „Rückkehr ins alte Heimatgebiet der Lyrik“ in diesen Gedichten gesehen, deren innere und äussere Form sichtlich das notwendige Ergebnis organisch stetigen Fortschreitens ist; und man würde die ganz eigenartige Stilisierung dieser Stimmungen, die Strenge ihrer Gliederungen und ihre festen Bezüge ohne Georges frühere Strophen kaum begreifen. Nur der unbeugsame Zwang, sein Selbst in vielartigen fremden Bildern dennoch ungeteilt zu geben, befreite seinen Stil von allem Triebhaften, Ueberschwenglichen, ohne ihm die Lebensfülle und -glut zu rauben. Er findet nun in scheinbar Gestaltlosem sich, den Rhythmus seines Daseins.431
Wolfskehl muß an dieser Stelle daran erinnern, daß Das Jahr der Seele sich nur aus dem Zusammenhang des Gesamtwerks Georges verstehen lassen soll, nicht aber aus anderen Gedichten. Oder anders: Die Gefahr einer Werkpolitik, die kontextsensibles Lesen anregt, besteht darin, daß diese Kontexte nicht mehr beschränkt werden können. Für George und seine favorisierten Interpreten geht es also darum, das Werk des ‚Meisters‘ als privilegierten Kontext seiner selbst einzusetzen. Wie wichtig, aber auch wie unplausibel diese Selbstkontextualisierung ist, zeigt sich, wenn man _____________
ten auf und ab im reichen flitter“. Egyptiens Kritik an dieser Interpretation (Herbst der Liebe und Winter der Schrift, S. 35) verliert durch die Bezüge auf Weihe an Plausibilität. 429 Faletti: Die Jahreszeiten des Fin de siècle, S. 85; Egyptien: Herbst der Liebe und Winter der Schrift, S. 30. 430 Richard M. Meyer: Ein neuer Dichterkreis. In: Preußische Jahrbücher 88 (1897), S. 33-54 (zit. nach: „L’âpre gloire du silence“…, S. 297). 431 Karl Wolfskehl: Stefan George. Zum Erscheinen der öffentlichen Ausgabe seiner Werke. In: Pan 4 (1899), S. 231-235 (zit. nach: „L’âpre gloire du silence“…, S. 379). Zur Empfehlung Wolfskehls als Interpret durch George vgl. den Brief an Caesar Flaischlein vom 21. Dezember 1898: „Ein der wenigen die ich weiss die über meine Kunst gute und erläuternde sätze gefunden: ist Dr. Karl Wolfskehl Darmstadt“ (ebda., S. 381).
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der Frage nachgeht, wer denn eigentlich den Park „totgesagt“ haben und um welchen „park“ es sich dabei handeln mag. Das Jahr der Seele kommt dem Publikumsgeschmack ‚um 1900‘ eher entgegen als alle anderen Gedichtbände Georges: Keine Sammlung wurde häufiger verkauft. Dies erklärt sich durch einen Seitenblick auf motivisch und thematisch verwandte Gedichte, die kanonischen Rang in der Lyrik des 19. Jahrhunderts erhalten haben. George evoziert topische Naturbilder. Zwei Beispiele von Herbst- und Park-Gedichten mögen dies illustrieren: Das erste der Herbstlieder Emanuel Geibels beginnt beispielsweise mit folgenden Strophen: Nun strömet klar von oben Der Tag ins Land herein, Aus tiefem Blau gewoben Und lichtem Sonnenschein. Es will noch einmal blühen Der Wald, bevor er starb; Er prangt in goldnem Glühen Und lächelt purpurfarb.432
In Geibels Spätherbstblättern finden sich in einem sentimentalen lyrischen Brief über die „goldbeschwingte[ ] Tage“ der Vergangenheit folgende Erinnerungen an „traute[ ] Stätten“, die „unsrer Liebe Werden sahn“: Den Buchengang, den uns der Morgen In herbstlich goldnen Duft getaucht, Als du von meiner Stirn die Sorgen Mit liebem Wort hinweggehaucht; Das Hüttlein in des Parkes Schatten Von Ros’ und wildem Wein umkränzt, Auf dessen Schwelle du dem Matten Den frischen Trunk so oft kredenzt; Das graue Jagdschloß überm Weiher, Wo wir entzückt ins Laubgewog Hinabgelauscht, indes der Reiher Durchs Spätrot seine Kreise zog.
Man sieht, daß George im Jahr der Seele die Requisiten der Park-Dichtung romantisch-liedhafter Herbstlyrik des 19. Jahrhunderts verwendet, so wie er in der Weihe die Zutaten des locus amoenus verwaltet hatte (6.1 a): den Buchengang, die Weiher, die Rosen und Kränze, die goldenen und blauen Farben. Und genau dieser Park wurde „totgesagt“. Geibel galt auch deswegen als „letzter Lyriker“, weil er diesen locus autumnalis des 19. Jahr_____________ 432 Geibel: Werke. Bd. 1, S. 234.
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hunderts ‚noch einmal‘ vorbildlich bedichtet hat. In seinem lyrischen Nachruf auf Geibel heißt es bei Arno Holz: Dem Herrn befahlst du deine Wege Und übtest fromm dein frommes Amt, Dem Lenz gleich, der das Dorngehege Mit rothen Rosen überflammt. Denn alles, was mit seiner Schöne Das Herz erquickt in Wald und Flur, Du gabst ihm Worte, gabst ihm Töne, Ein Hoherpriester der Natur! […] Da horch, ein Klopfen an der Thüre Und laut erschallte mein Herein! Und eilvoll trat zu mir ins Zimmer Mein Freund, der mir die Rechte bot; Schon seines Auges feuchter Schimmer Sprach, eh’s sein Mund sprach: Er ist todt! […] Der Tod, der bleiche Allvernichter, Blies mir ins Herz die Melodie: O, nun ist todt der letzte Dichter Und mit ihm auch die Poesie!433
Von da an kommen bei der Lyrik des 19. Jahrhunderts nur noch „verwehte Frühlingsdüfte“ an, wie es in der Schlußstrophe des Trauergedichts heißt. Holz selbst arbeitet am ‚Verwinden‘ dieser „Frühlingsdüfte“ allerdings nach Kräften mit. In den Modernen Dichter-Charakteren, der Programmsammlung der Naturalisten, besingt er den Frühling in der Art der „Lieder eines Modernen“434, verabschiedet den Herbst zugunsten eines neuen Frühlings und eröffnet den städtischen ‚Natur‘-Raum.435 Man versteht vor _____________ 433 Holz: Das Buch der Zeit, S. 102, 105f. 434 In der dortigen Fassung beginnt das Frühlingsgedicht im übrigen mit einem längeren Zitat aus Christian Ewald von Kleists Der Frühling (Holz: Das Buch der Zeit, S. 26). 435 „Wohl haben sie dich alle schon besungen / Und singen dich noch immer an, o Lenz, / Doch da dein Zauber nun auch mich bezwungen, / Meld ich mich auch zur grossen Concurrenz. / […] Der Tonfall meiner lyrischen Collegen / Ist mir ein unverstandner Dialect, / Denn meinen Reim hat die Kultur beleckt / Und meine Muse wallt auf andern Wegen. // Ins Waldversteck verirrt sie sich nur selten, / Die blaue Blume ist ihr längst verblüht; / Doch zieht die Ahnung neugeborner Welten / Ihr süsser als ein Märchen durchs Gemüth. / Zur Armuth tritt sie hin und zählt die Groschen, / Ihr rothes Banner pflanzt sie in den Streit, / An ihr Herz schlägt das grosse Herz der Zeit / Und aller Weltschmerz scheint ihr abgedroschen. […] O lang ist’s her, dass mir’s im Hirne blitzte! / Im Winterschnee erfror die Phantasie; / Erst heute war’s, dass ich den Bleistift spitzte, / Erst heut in dieser Frühlingsscenerie. / Weh, mein Talent versickert schon im Sande, / Des eitlen Nichtsthuns bin
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diesem Hintergrund also nicht nur besser, wie der „park“ ausgesehen, sondern auch, wer ihn „totgesagt“ hat. Tatsächlich taucht der ‚tote Park‘ gleichzeitig mit der ironischen Verabschiedung des locus autumnalis auf. Karl August Hückinghaus stellt, ebenfalls in den Modernen DichterCharakteren, fest: „Todt lag der Park, todt Haus und todt der Hof, / Denn ach die Seele, du, du warst entfloh’n“.436 Deutlicher noch wird Gustav Falke in seinem Gedicht Gestorben (1893): Der Himmel senkte seine grauen Fahnen tief auf des Parks umflorte Sommerwipfel, und durch die stillen Schattengänge schwebten der Schwermut dunkle Falter leisen Fluges. Die hohen Ulmen weinten und die Birken, die ernsten Koniferen und die Rosen, und durch den feuchten Schleier sah das Haus mit seinen dichtverhängten Fenstern, wie ein müdes, bleiches Menschenangesicht, dem Gram die heißen kranken Lider schloß. Des Gartens offnes Gitter lockte mich, und ich trat ein. […] Und aus der Villa trat ein dürres Männchen, ein alter Herr mit einer Aktenmappe, mit Brille, Regenschirm und Florzylinder. Er sah mich fragend an: Was suchst du hier? Und zögernd kam es von den schmalen Lippen: Sie wissen doch? Die Poesie ist tot. Wie Dolchstich traf das Wort, und ich erschrak. Und wie ein Schluchzen ging es durch die Bäume, stieg aus den Wurzeln bis in alle Kronen. Die Birken weinten und die hohen Ulmen, die Koniferen und die dunklen Rosen, und wie ein Schüttelfrost durchlief es jäh den gramgebeugten gelben Rosenstrauch, der um den Hals der strengen, starren Sphinx die schlanken Arme warf: Fühlst du denn nichts? Fühlst du denn nichts? Die Poesie ist tot.437
Gemeinsam mit der Herbstnatur und dem Park stirbt die Poesie, und so verschattet das Licht und die Farben der Natur sind, so düster wird das Licht in den Innenräumen eines Hauses sein, dessen Fenster „dichtver_____________
ich endlich satt; / Drum da ich ihn noch nie sah auf dem Lande, / Besing ich nun den Frühling in der Stadt“ (Moderne Dichter-Charaktere, S. 137ff.). 436 Moderne Dichter-Charaktere, S. 133 (Maria). 437 Falke: Tanz und Andacht, S. S. 33.
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hängt“ sind. Erst vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie genau George das lyrische Arsenal seiner Zeit gemustert hat und welcher Anspruch sich damit verbindet. Und wichtiger noch: Nicht George mußte seine Umgebung „totsagen“, um die mortifizierte Natur zum willfährigen Material seiner dichterischen Selbstermächtigung zu machen.438 Im Gegenteil: George bewahrt die Reste einer längst „totgesagten“ lyrischen Landschaft. Er bedient damit die Ressentiments der bildungsbürgerlichen und insbesondere der akademischen Leser gegen den Avantgardehabitus der Naturalisten.439 Allerdings, und hier tauchen die Probleme der Überlieferbarkeit dieser Verlebendigung auf, sollte es nicht bei der Resteverwertung bleiben. Denn George mag sich als lyrisches Antidot gegen den Avantgardismus einsetzen lassen, aber sein Projekt, das „NEUE“ lyrisch zur Welt zu bringen (6.1), wiederholt diese Avantgarde-Geste. Die lyrischen Überbleibsel sollen eben im doppelten Sinn ‚verwindet‘ und ‚verwunden‘, die ‚fremden hauche‘ zerstäubt werden. Georges Gedichte erzeugen diesen Eindruck einer Revitalisierung allerdings nicht ohne Hilfe ihres Autors. Erst in der Performance erblüht der „totgesagte park“ zu neuem Leben – Lou Andreas-Salomé erinnert sich an eine Lesung im Hause Lepsius: Für mich hat ein Gedicht noch niemals eine solche siegreiche und überwältigende Umwandlung erlebt, wie Stefan Georges Gedichte in seinem mündlichen Vortrag; es war, als wenn sorgfältig getrocknete und schön geordnete Blumenleichen aus einem Herbarium unversehens in einen blühenden Garten des Lebens zurücksprängen und jedes kleinste ihrer Blättchen goldgrün schimmernd in der Sommersonne dehnten. Dieses Bild ist bewusst falsch, insofern in der Lyrik Georges die reinen und strengen technischen Formen das Leben seines Kunstinhalts keineswegs töten und austrocknen, vielmehr sich diesem gerade in allen seinen Nüancen so meisterhaft anschmiegen, wie es nur dem ganz grossen Techniker gelingt. Aber der Eindruck, den dieses falsche Bild vermittelt, ist dennoch im wesentlichen richtig, weil der Georgesche Kunstinhalt in seiner Lyrik meistenteils so wenig den menschlichen Seelentiefen entnommen ist, einer so wenig komplizierten, packenden, innerlich ergriffenen Gemütsfülle zu entsteigen scheint, dass auch seine Wirkung nur eine ganz schwache Mitbeteiligung der tiefer liegenden Gefühlsschichten im Hörer zur Voraussetzung hat, und dieses schwache Anklingen an ein oberflächenhaftes Interesse konzentriert unwillkürlich unsere Aufmerksamkeit bewusster auf die technischen Ausdrucksmittel der Georgeschen Poesie.440
_____________ 438 So etwa Mattenklott (Bilderdienst, S. 253) zu „der fast programmatischen Eindeutigkeit […], mit der diese Verse die Intention der Georgeschen Sprache aussprechen: die Natur der lebendigen Dinge abzutöten, um ihr Gedächtnis in den erstarrten Bildern des Gedichts aufzubewahren“. Vgl. hier auch zu den Bezügen zu Algabal: Egyptien: Herbst der Liebe und Winter der Schrift, S. 43. 439 Groppe: Die Macht der Bildung, S. 87, 90, 113. 440 Lou Andreas-Salomé: Grundformen der Kunst. Eine psychologische Studie. In: Pan 4 (1898), S. 177-182 (zit. nach „L’âpre gloire du silence“…, S. 363f.; Hervorhebungen S. M.).
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Als typischen Rezipienten von Georges Gedichten identifiziert AndreasSalomé hier den Städter, wie Simmel ihn beschrieben hat (6.1 c): Die urbane Intellektualität, die ihre inneren Seelenregionen vor der Reizfülle schützt, findet bei George den adäquaten Gegenstand. Oberflächlichkeit und Aufmerksamkeitssteigerung bzw. Aufmerksamkeitsfokussierung paktieren. Wenn allerdings die Gedichte auf die „Gestalt“ des Dichters angewiesen sind, um ihre verlebendigende Kraft zu entfalten, dann taugt diese Werkpolitik in Zeiten der Fernkommunikation nicht, um die Poesie stabil zu positionieren, zu überliefern und dauerhaft zu bewahren. Als mindestens flankierende Maßnahme zur Vermittlung des Anspruchs, den das Werk erhebt, hat George daher nicht nur die autorschaftliche Performanz, sondern auch die Performanz des Werks einbezogen: Das „tiefe gelb“ und das „weiche grau“, das der Leser vom „buchs“ nehmen soll, finden sich nämlich vor aller Wörtlichkeit als Farben des Papiers und der Umschläge von Georges Büchern, die nicht anders als ein Park mit seinen Blättern durch das „starke[ ] rauhe[ ] gelbliche[ ] Papier“ den „Eindruck“ der „Geschlossenheit“ vermitteln.441 Sobald der Leser also liest, er solle „das tiefe gelb“ und das „weiche grau“ von „birken und von buchs“ nehmen, hat er genau dies schon getan. Daß George sich auch damit innerhalb der Kultur des gründerzeitlichen Dekors bewegt, belegt die bereits angeführte allergische Reaktion Mauthners auf das Jahr der Seele: Er empfand die „Berührung mit dem haarigen Papier des Umschlags wie eine Belästigung“.442 Tatsächlich irritiert die einzigartige textile Oberflächenstruktur des Einbands den Berührungssinn augenblicklich beim ersten Kontakt. Diese Wirkung verwundert nicht als geschmackliche Überreaktion auf Georges Gedichte, sondern weil Mauthner diese taktile Erfahrung eigentlich durch Gewöhnung kaum mehr hätte auffällig sein dürften: Samt gehörte zu den bevorzugt verwendeten „lichtsaugenden Stoffe[n]“ der Zeit – er verhindert die „Theilung der Lichtstrahlen in aufgenommenes und reflektiertes Licht“, wie Gottfried Semper feststellt, und erzeugt dadurch jenen „Dämmer“, der in den Innenräumen der décadence und bisweilen in „totgesagten park[s]“ herrscht.443
_____________ 441 So ein Artikel in der Zeitschrift für Bücherfreunde von 1898 (zit. nach Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 149). 442 Zit. nach Stefan George in seiner Zeit, S. 47. 443 Asendorf: Batterien der Lebenskraft, S. 91.
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b) Vorspiel mit Engelserscheinung Das Florilegium Georges wird im Vorspiel zum Teppich des Lebens und den Liedern von Traum und Tod in die Hände eines Engels gelegt. Bereits der Titel verdeutlicht, daß dem „totgesagten park“ nun mit Strategien der Vitalisierung zurück ins ‚Leben‘ und auf die Beine geholfen werden soll. Auf verschiedenen Ebenen markiert George diesen Umbruch in seinem Werk, der günstigerweise im siebten Band des Gesamtwerks und damit genau in dessen Mitte sowie an der Wende zu einem neuen Jahrhundert stattfindet: Der Gedichtband, der seine Komposition in der dreimaligen Wiederholung von 24 Gedichten zu je vier Strophen mit je vier Versen ausstellt, erscheint mit relativ geringer Verzögerung nach der Privatausgabe (1900, recte 1899) in der öffentlichen Ausgabe (1901). Er gilt als Höhepunkt der buchgestalterischen Zusammenarbeit mit Melchior Lechter, dem George zumindest während der Entstehungszeit attestierte, er schaffe ein „höchstes DENKMAL“.444 Gemeinsam mit den öffentlichen Lesungen, den Übersetzungen in ausländischen Zeitschriften, der beginnenden Dante-Übersetzung und den Münchner Künstlerfesten verdeutlichen diese Publikationsstrategien eine neue Plazierung auf dem literarischen Feld, zu der auch ein neues Traditionsverhalten gehört.445 George entfernt sich weiter vom Einfluß der französischen Symbolisten und inszeniert sich von nun auch als Erfüllung einer deutschen Literaturtradition, die er in den gemeinsam mit Karl Wolfskehl herausgegebenen Anthologien zu Jean Paul (1900), zu Goethe (1901) und zum „Jahrhundert Goethes“ (1902) präsentiert (GW 5, 90f.). Albert Verwey verkündet in einer niederländischen Zeitschrift flankierend, daß mit George eine Epoche der deutschen Dichtung schließe und eine neu beginne, und Gundolf übersetzt diese und andere Stellungnahmen, um auch dem deutschen Publikum die nun angemessene literaturgeschichtliche Lektüreperspektive mit auf den Weg zu geben.446 Wie kalkuliert George den Jahrhundertwechsel und die Werkmitte inszeniert, sieht man bereits daran, daß das Jahr der Seele und der Teppich des Lebens gleichzeitig entstehen, George aber schon bei den Vorabpublikationen die Gedichte der Sammlungen auseinanderhält (GW 5, 91f.). Bei aller Neukontextualisierung im Rahmen Dantes, Goethes und Jean Pauls dominiert der Kontext des eigenen Werks die Werkpolitik weiterhin. Bezeichnenderweise beziehen sich gleich die ersten Verse des Eingangsgedichts im Vorspiel zum Teppich des Lebens auf die geleistete dich_____________ 444 So in einem Brief an Karl Wolfskehl vom 29. September 1899 (GW 5, 88). 445 Im Überblick vgl. dazu Winkler: Stefan George, S. 40ff. 446 Die Übersetzung erscheint 1905 unter dem Titel: A. Verwey / L.v. Deyssel: Aufsätze über Stefan George und die jüngste dichterische Bewegung (Stefan George. 1868-1968, S. 132).
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terische Arbeit, vielleicht sogar konkret auf das Jahr der Seele, dessen „strofen“ in der Tat von „tiefste[r] kümmerniss“ zeugen: Ich forschte bleichen eifers nach dem horte Nach strofen drinnen tiefste kümmerniss Und dinge rollten dumpf und ungewiss Da trat ein nackter engel durch die pforte: Entgegen trug er dem versenkten sinn Der reichsten blumen last und nicht geringer Als mandelblüten waren seine finger Und rosen · rosen waren um sein kinn. Auf seinem haupte keine krone ragte Und seine stimme fast der meinen glich: Das schöne leben sendet mich an dich Als boten: während er dies lächelnd sagte Entfielen ihm die lilien und mimosen – Und als ich sie zu heben mich gebückt Da kniet auch ER · ich badete beglückt Mein ganzes antlitz in den frischen rosen.447
Aus den verwelkten Blumen, die „nach der Lese“ verflochten werden, ist eine reiche Blumenlast geworden. Wie in der Weihe scheint es gewisse Orientierungsprobleme bei der Koordination von „finger“ und Mund („rosen waren um sein kinn“) zu geben (6.1. a), und deutlicher noch als dort nähern sich Inspirationsmacht und Inspirierter bis zur Spiegelbildlichkeit einander an. Sollten die Rosen bis zum Schluß des Gedichts „um“ das „kinn“ des Engels gruppiert sein, dann dürften wir hier einen gelungenen Musenkuß oder sogar eine symbiotische Verschmelzung vorfinden, auch wenn sich bereits im folgenden Gedicht das amouröse Verhältnis in ein agonales auflöst und zu einer Szene der gewaltsamen Ermächtigung wird: In einer Postfiguration des Kampfes Jakobs mit dem Engel (Mos 1, 32, 27) klammert sich das lyrische Ich um die Knie des Engels und ‚schreit‘ ihn an („Ich lasse nicht · du segnetest mich denn“; GW 5, 11). Mit den Direktiven des „schöne[n] leben[s]“ unterstellt George sein Werk einer Berufung, die, so die opinio communis der Forschung448, auf die Ausbildung des George-Kreises im engeren Sinn zielt – nicht zufällig findet sich genau in der Mitte des Gedichtbandes das Porträt des Jüngers (GW 5, 47).449 Wie immer steht die Selbsterhebung bei George im Zei_____________ 447 George: Der Teppich des Lebens, unpag. 448 Vgl. die Überblicke bei David: Stefan George, S. 174ff., Winkler: Stefan George, S. 40ff., Kolk: Literarische Gruppenbildung, S. 234ff. 449 Zur Sonderrolle des Gedichts in der Handschrift vgl. George: Der Teppich des Lebens (Befunde der Handschrift), S. 65.
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chen des Scheiterns450, nur ist das Scheitern jetzt nicht mehr resignativ konnotiert, sondern erscheint als Zeichen der Stärke.451 Diese Gedankenfigur eines durch Schopenhauer hindurchgegangenen Nietzscheanismus prägt die Lebensphilosophie ‚um 1900‘ als Philosophie des verlorenen Postens, der Tragik und Härte des Lebens.452 Entscheidend ist, daß das „Leben“ in diesen Zusammenhängen als ‚unmarked space‘ konzipiert wird, also als jener Bereich, der den Menschen immer schon umgreift und den er genau wegen der prinzipiellen Vorgängigkeit nie beobachten kann.453 Mit Wolters gesagt: Das „Leben ist die unerfaßliche umfassendste Urmacht, die in raum-zeitlichen Formen erscheint“454 – oder anders: Das ‚Leben‘ ist das, was ‚unerfaßlich‘ ist, weil es alles ‚umfaßt‘. Das ‚Leben‘ ist auf diese Weise die dem Zugriff entzogene Bedingung der Möglichkeit des Beobachtens. Daher erfahren wir auch vom Engel des Vorspiels nichts ‚über‘ das „schöne leben“, sondern er bringt dieses „schöne leben“ direkt mit.455 Nur nach dem Schritt „durch die pforte“ erscheint der Engel, also nur durch das Überschreiten einer Grenze. Dieser Schritt, der als Grenzziehung das Erscheinen ermöglicht, macht zugleich das „schöne leben“ als grenzenlosen Bereich unsichtbar bzw. lediglich andeutbar durch die Liminalität der sprachlichen Verfahren. Auch dafür hat Wolters Worte gefunden, die zwar etwas ‚blumig‘ ausfallen, aber durchaus treffende Einsichten formulieren, wenn man sie auf den historisch spezifischen Fall von Georges Gedichten bezieht: In dichterischen „Werken“, so Wolters, „ist bei dichtester Fülle kein grenzenloser Raum, bei geschlossenen Grenzen doch stete Bewegung, bei leidenschaftlicher Bewegung kein überquellendes randloses Maß, bei strenggemessenen Verhältnissen keine tötende Starre und bei festem Gefüge doch ein fließendes Spiel zwischen Ganzem und Teilen“.456 Es ist also durchaus berechtigt, wenn das lyrische Ich sich im Laufe des Gedichts dem Engel angleicht, denn die Verlebendigung des „totgesagten parks“, die der Engel bedeutet, gelingt George – Andreas-Salomé zufolge – im Vortrag seiner Gedichte (6.3 a). Er setzt das ‚Leben‘ performativ in Szene. Diese Performanz des ‚Lebens‘ tritt im Vorspiel als Engel auf, der Blumen trägt und mit diesen Blumen so verschmilzt, daß er eine _____________ 450 451 452 453
Kolk: Literarische Gruppenbildung, S. 235. David: Stefan George, S. 189f. Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831-1933, S. 176. Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831-1933, S. 175; vgl. in diesem Zusammenhang auch zu den Beziehungen zwischen Dilthey und dem George-Kreis: Laak: „Dichterisches Gebilde“ und Erlebnis. 454 Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 197. 455 Aler: Symbol und Verkündung, S. 77. 456 Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 197.
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Beinahe-Identität mit ihnen wie mit dem lyrischen Ich entwickelt („nicht geringer / Als mandelblüten waren seine finger“, „rosen waren um sein kinn“). Der Engel als Florilegium trägt nicht nur die Blumen und besteht nicht nur im Gleichnis aus ihnen, sondern wenn er redet, entfallen ihm auch Blumen. Dieses Entfallen wird direkt schriftlich umgesetzt in das Enjambement von der dritten zur vierten Strophe. Die flores der Sprache sind dabei – wie die um das „kinn“ gruppierten Rosen – teilweise mit Mündlichkeit konnotiert, teils mit Schriftlichkeit wie die weißen Blüten, denen der „finger“ gleicht. Schließlich handelt es sich um besonders intensiv duftende Blumen.457 Das folgende Gedicht fordert dann auch den „grossen feierlichen hauch“ ein und jene „glut“, „mit denen einst der kindheit flügelschwünge / Sich hoben zu dem frühsten opferrauch“ (GW 5, 11). Wieder also kehrt George in sein eigenes Werk zurück und bezieht die rekreative Kraft aus den Beständen, die er selbst geschaffen hat. Zeitgenössischen Beobachtern ist diese Selbstverschlingung zum Teil unangenehm aufgefallen. So beklagt sich R.A. Schröder bei Hofmannsthal über die „christliche Mystik“ und über die geschmackslose „conventionelle Verwendung ihres Apparates“.458 Unterstützt wird dieser Eindruck durch die Ausstattung Lechters, der sich am Vorbild mittelalterlicher Buchkunst, insbesondere der Gestaltung von Bibelausgaben, orientiert.459 Für die Leser, die sich auf George eingestellt haben, entwickeln daher die „Seiten des ungeheuren Werkes“ eine Weihe-Wirkung und „berausch[ ]en“ den Betrachter; in ihnen scheint die Brechung des Lichts durch die Kirchenfenster „wieder aufgeblüht“. Bis in die Metaphorik hinein verknüpfen sich Lichtpsychologie und Innenraum-Ästhetik, Florilegienkunst und Inspirationsrhetorik mit der völligen Okkupation der Aufmerksamkeit: Die Beobachter sind „ergriffen“.460 Freilich wird man auch sehen müssen, daß diese Aufmerksamkeit zum Übersehen in großen Stil neigt. Das gilt gerade für Lechter, der dem Engel auf seinen Illustrationen des Teppich-Bandes die Sakralattribute hinzufügt, die George ihm gezielt genommen hatte: Während das Vorspiel einen „nackte[n] engel“ präsentiert, der „auf seinem haupte keine krone“ _____________ 457 Morwitz: Kommentar zu dem Werk Stefan Georges, S. 159. 458 Brief vom 16. Februar 1902, zit. nach Stefan George. 1868-1968, S. 132. 459 Ausführlich zur Gestaltung der Prachtausgaben Roos: Stefan Georges Rhetorik der Selbstinszenierung, S. 71ff. 460 So Karl Wolfskehl brieflich nach Empfang des Vorabdrucks eines Blattes aus dem Teppich des Lebens am 5. Nov. 1899: „Wie diese ungeheuren Seiten des ungeheuersten Werkes mich berauschten weiss ich wahrlich nicht zu sagen. Die tiefe Purpurglut aller alten grossen Gottesfenster war wieder aufgeblüht einem Neuen Herrn ein wertestes Heim zu weihen zu durchtränken. […] Ich habe gestern den Freunden dies eine Blatt vorgewiesen und sie waren ergriffen von seiner Schönheit […]“ (GW 5, 89).
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trägt, liefert Lechter einen Engel mit Umhang und Diadem.461 Erst die Illustrationen zum Siebenten Ring entblößen den Engel, und damit endet dann auch die Zusammenarbeit des Buchkünstlers mit George. c) Das Werk als „gebilde“ im Teppich des Lebens George macht – wie der Engel des Vorspiels – seit 1898 den Schritt an die Öffentlichkeit, erscheint den Lesern in Buchhandelsausgaben, schüttet vor ihnen seine flores aus und verknüpft sich auf eine neue Weise mit dem Publikum. Dazu passen Lechters Illustrationen, die die architektonischen Ornamente des Vorspiels im Teppich des Lebens in schlingende Pflanzenmotive auflösen.462 Mit dem Teppich des Lebens und den Liedern von Traum und Tod mit einem Vorspiel schließt sich der Hiat zwischen esoterischer Literaturkommunikation und den gängigen Vertriebstechniken weiter. George selbst hat die Möglichkeit, seine Werke einer mehr oder weniger unsortierten Leseöffentlichkeit zu präsentieren, im Rückblick von einer Voraussetzung abhängig gemacht. Im Vorwort zu den Hymnen, die ja nicht nur die Gedichtsammlung bilden, mit der George sich erstmals namentlich einem ausgewählten Publikum präsentiert, sondern die auch – gemeinsam mit den Pilgerfahrten und Algabal – die Phase der öffentlichen Ausgaben eröffnen, legitimiert George diesen Schritt durch eine veränderte Rezeptionslage: Die „lesende menge“ vermag gegen Ende des Jahrhunderts ein „dichtwerk als gebilde zu begrüssen“ (W 2, 5; 6.1 b). Worin besteht diese Aufmerksamkeitsleistung? Wie verändert sich die Wahrnehmung eines Werks, wenn es als „gebilde“ erkannt wird? Und wie verbindet sich die Ästhetik des „gebildes“ mit der Performanz der Poesie? Die Antwort auf diese Frage findet sich nicht in den Hymnen oder den anderen Sammlungen der ersten Schaffensphase Georges, auch wenn hier in den literarischen Verfahren eine Ästhetik des „gebildes“ ins Werk gesetzt wird, sondern an der Grenze, die George, wie erwähnt, mit dem Jahr der Seele gezogen haben wollte. Für die Frage, was George unter einer Wahrnehmung versteht, die gleichsam ‚gebildefähig‘ ist, bleibt zunächst bemerkenswert, daß das Wort „gebilde“ zwar eine relativ flexible und ‚bildungsfähige‘ Vokabel ist, dafür aber nur selten bei George vorkommt.463 In seinen Gedichten gebraucht _____________ 461 Dies bemerkt auch Wolters, ohne daß es ihn weiter irritieren würde (Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 200). 462 Treffers: Melchior Lechters Buchkunst, S. 16. 463 In den Blättern für die Kunst beispielsweise taucht das Wort in den von George beigesteuerten Texten ab 1896 auf, etwa im Gegensatz der „gebildeten länder[ ]“ zu den ‚ungebilde-
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George das Wort an drei Stellen in einer nicht abgeleiteten Form,464 aber nur an einer einzigen Stelle mit einem Nachdruck, der der HymnenVorrede entspricht: im Teppich des Lebens. Der Teppich Hier schlingen menschen mit gewächsen tieren Sich fremd zum bund umrahmt von seidner franze Und blaue sicheln weisse sterne zieren Und queren sie in dem erstarrten tanze. Und kahle linien ziehn in reich-gestickten Und teil um teil ist wirr und gegenwendig Und keiner ahnt das rätsel der verstrickten .. Da eines abends wird das werk lebendig. Da regen schauernd sich die toten äste Die wesen eng von strich und kreis umspannet Und treten klar vor die geknüpften quäste Die lösung bringend über die ihr sannet! Sie ist nach willen nicht: ist nicht für jede Gewohne stunde: ist kein schatz der gilde. Sie wird den vielen nie und nie durch rede Sie wird den seltnen selten im gebilde.465
_____________
ten’ (BfK III/5, 129), in der Desavouierung des „halbgebildeten volke[s]“ und in der Forderung nach einer Dramaturgie, die Wert auf die „hersagung der neuen klanglichen“ oder „rytmischen gebilde“ legt (BfK IV/5, 130), in der kulturhistorischen Variante von bestimmten dichterischen Formen oder anderen Darstellungsweisen, die mehr oder weniger „ausgebildet“ sein können (BfK VII, 7, 10) oder in dem Konzept „durchgebildeter[ ] sprache“ (BfK X, 1f.). Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Rede von „umgebildeten gedichten“ als Formel für Varianten (GA II, 126). Unter „gebilden“ kann George, wie im Fall Hölderlins, vorbildliche Werke fassen (GW 17, 59), aber auch defiziente Werke, etwa im Fall von décadence-Dichtern, denen bisweilen „gebilde von schmeichelnder süsse“ gelängen (GW 17, 71). Schließlich taucht der Ausdruck noch im Zusammenhang mit Reproduktionen auf, die einem Original ‚nachgebildet’ sind (GW 17, 12; GA 13, 198). 464 In seinen Baudelaire-Übertragungen ist von „wolkigen gebilde[n]“ die Rede (GW 13/14, 158) anstelle der einfachen „nuages“ bei Baudelaire (Baudelaire: Sämtliche Werke / Briefe. Bd. 3, S. 334). In Algabal heißt es im dritten Gedicht des Unterreichs: „Und perlen! klare gaben dumpfer stätte / Die ihr wie menschliche gebilde rollt / Und doch an einer wange warmer glätte / Das nasse kühl beharrlich wahren sollt“ (W 2, 62). Wichtig an dieser Stelle ist, daß das „gebilde“ in nuce Georges ästhetizistische Poetik präsentiert: Transponiert ins Sprachliche fängt die zitierte Strophe die Verfahren der Aneignung ein, die die im Gebrauch verschmutzten Worte im Umbildungsprozeß von den Spuren früherer Verwendung reinigen und – selbst im Kontakt mit dem ‚Lebendigen’, an das sie im Vergleich von Perle und Träne allegorisch erinnern – den Glanz einer mortifizierten und beständigen Perfektion entfalten. Mit den Worten von C. A. Klein: Das „wesen der modernen dichtung“, die sich in Georges „neue[r] Kunst“ verkörpert, liegt darin, „das wort aus seinem gemeinen alltäglichen kreis zu reissen und in eine leuchtende sfäre zu erheben“ (BfK I/2, 47).
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Das Gedicht hätte eine genaue Untersuchung verdient, die z. B. auf die zyklischen Zusammenhänge, und hier insbesondere auf die Bezüge zum Gegenbild Der Schleier (GW 5, 59), eingehen würde. Dies wäre auch deswegen wichtig, weil man im Widerspiel der beiden Gedichte als Initiations- und Finalgedichte eines zyklischen Zusammenhangs allegorisch die Prinzipien von Georges Werkkonstitution überhaupt verhandelt finden kann: Der Zyklusbeginn mit dem Teppich verknüpft Motive und Themen, die in den folgenden Werken eingeholt, reflektiert, durchgespielt, variiert und dementiert werden.466 Der Schleier am Zyklusende, der deutlich auf Goethes Zueignung anspielt und damit Rückbezüge zur Weihe eröffnet,467 macht diese Motive ‚transparent‘ auf das, was nach und vor ihnen liegt. Solche lyrischen Membrane, die eine markierte Überleitungsfunktion übernehmen, setzt George seit den Hymnen ein (6.1). Eine eingehende Interpretation des Teppich-Gedichts lohnte sich auch, weil „Gebild“ der zeitgenössischen lexikalischen Bedeutung nach ein „damastartiger kleingemusterter Stoff“ ist und „Damast“ „ein mit Figuren auf Atlasgrund durchwirktes einfarbiges Seidengewebe“, ein „einoder mehrfarbiger Stoff mit großen Mustern (Blumen, Ornamenten, Landschaften, Genres) zu Tafeltüchern, Servietten etc.“, der „meist auf dem Jacquardstuhl gewebt[ ]“ wird.468 Die „Jacquardmaschine“ wiederum, die der gleichnamige Seidenweber 1808 erfunden hat, ist nicht nur für die Technisierung und Industrialisierung der Webkunst von entscheidender Bedeutung, sondern auch für die Technisierung und Industrialisierung des Wissens, weil sie auf einer mittels Loch- bzw. Jacquardkarte durchgeführten Datenverarbeitung basiert469 – medienhistorisch ambitionierte George-Lektüren dürften von hier aus mit Leichtigkeit ihr Pensum erfüllen können, zumal es im Gedicht u. a. um das digitale Modell von „strich“ und „kreis“, ‚also‘ von Null und Eins, geht. Für Georges Poetik dichterischer Arbeit bedeutet dies, daß er zwar die Aura des Handwerklichen, mit der die Teppichkunst im Rahmen der Kunstgewerbe-Bewegung versehen wurde, seinem kostbar gestalteten Ge_____________ 465 George: Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel, unpag. Den letzten Vers schlägt George für eine Allegorie der Bildhauerei von Lechter vor (Lechter / George: Briefe, S. 77). 466 Aler: Symbol und Verkündung, S. 214ff. 467 Dazu Durzak: Zwischen Symbolismus und Expressionismus, S. 25f.: Die Verschiebungen zwischen Goethe und George tragen insofern eine historische Signatur, als sich bei George die Situation des Anfangs verschwistert mit Markierungen der Spätzeitlichkeit – bei Goethe scheint noch die Sonne, bei George tritt die Muse im nächtlichen Mondlicht auf. Zum Schleier-Gedicht: ebda., S. 60f. 468 So die entsprechenden Artikel im Brockhaus von 1906. 469 Zum Stellenwert Joseph-Maria Jacquards in der Geschichte der Steuerungssysteme vgl. Kammer: Geschichte der Digitalmedien, S. 521.
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dichtband assoziiert, diese Aura jedoch als Schein decouvriert: Die Webmuster des „Gebilds“ basieren auf einer Technik, die auf die Industrialisierung von Arbeit und Datenverarbeitung hinausläuft.470 Für die Kunst der Liminalität wiederum ist wichtig, daß die Lochkartentechnologie zu Georges Zeit ein Beispiel für den ebenso unauffälligen, wie bedeutenden Einfluß des Schwachstroms auf die Datenverarbeitung war, also für die Wirkmacht der „leise[n] Erzitterungen“, wie es ein zeitgenössischer Beobachter formulierte.471 An dieser Stelle soll die Textur des Teppichs selbst im Zentrum stehen, und dies lediglich in ausgewählten Aspekten: Der Aufbau des Gedichts ist klar. In einem ersten Teil wird ein kosmologisches Bild (von den Pflanzen über die Tiere und Menschen bis zu den Himmelskörpern) beschrieben, in das sich wiederum gesellschaftliche Aspekte („kahl“ vs. „reich“) ‚einflechten‘. Der zweite Teil des Gedichts widmet sich dann einer Epiphanie und zieht die Lehre aus der Erscheinung verlebendigter Webmuster. Daß sich die gleichlautenden Anfänge der Verse mit den durchgehenden Kreuzreimen ‚queren‘, daß die Zweigliederung, die der paarweisen Ordnung der Sammlung im Seitenbild der Lechter-Ausgabe insgesamt korrespondiert472, nicht der Strophenordnung entspricht, weil durch die Assonanzen im achten und neunten Vers diese Grenze überspielt wird – diese und andere formale Irritationen übergehe ich ebenfalls und konzentriere mich auf die Frage, was in diesem konkreten Fall das Bild des Teppichs für das Konzept des „gebildes“ bedeutet, und welche Funktion die Vorstellung der Textur übernimmt. Die Texturiertheit des Textes473 deutet für George zunächst auf Verständnisbarrieren hin. Im Vorspiel zum Teppich des Lebens und den Liedern von Traum und Tod heißt es: […] du […] bleibst wie vormals gast von fernem strande Den vielen – die du immer meiden möchtest. Vergeblich wäre wenn sie dich umschlängen Und töricht wenn du zwischen ihnen föchtest. Sie sind zu fremd in deines webens gängen. (GW 5, 23)
Zugleich aber legitimiert dasselbe Gedicht zumindest tendenziell die Öffnung der Georgeschen Publikationspolitik: _____________ 470 471 472 473
Asendorf: Ströme und Strahlen, S. 26f. Zit. nach Asendorf: Ströme und Strahlen, S. 28. Zur Antithetik als Ordnungsprinzip des Zyklus’ z. B. Meuthen: Bogengebete, S. 112, 121. Vgl. in diesem Sinn Wunbergs Unterscheidung zwischen „strukturierten“ und „texturierten“ Texten (Unverständlichkeit, S. 311, 313). An die Thesen zum Historismus als Verfahren ist das Teppich-Gedicht auch insofern anschließbar, als es eines der ältesten poetologischen Bilder aufruft. Vgl. dazu: Albrecht: Der Teppich als literarisches Motiv.
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Werkpolitik in der Moderne: Stefan George
Nur manchmal bricht aus ihnen edles feuer Und offenbart dir dass ihr bund nicht schände. Dann sprich: in starker schmerzgemeinschaft euer Erfass ich eure brüderlichen hände.
Wie im Teppich spielt der ‚Bundes‘-Gedanke in diese Verse hinein, hier gefaßt in die Verschlingung, Verknüpfung und Verbindung der „hände“, die eine eigene, nicht allein poetische Textur bilden. Damit wird auch deutlich, daß die Texturiertheit des Textes, wie sie im Bild des Teppichs erscheint, die Autonomie des Dichterischen repräsentiert und zugleich gerade als Textur eine Bewegung entfaltet, die die Grenzen des Textes transzendiert. Die ‚gebundene‘ im Unterschied zur „ungebundenen rede“ (GW 17, 7) verbindet bei George das Werk, und sie erzeugt jenen ‚Bund‘, der durch das dichterische ‚gebilde‘ gestiftet und zusammengehalten wird. Entsprechend beschränkt das Publikationsbündnis der Blätter für die Kunst einen inneren Kreis durch Versdichtung, die sowohl metrisch als auch literaturpolitisch und sozial ‚gebunden‘ ist. Die „lösung“ wird eben „den vielen nie und nie durch rede / Sie wird den seltnen selten im gebilde“, in dem sich dann ‚Lösung‘ und ‚Bindung‘ vereinen. Eine ähnliche Kombination der Gegensätze führt auch Der Schleier als Korrespondenzgedicht vor Augen: In ihm heben sich einerseits die festen Texturen des Teppichs in der freien Beweglichkeit des transparenten Stoffs auf474; andererseits konnte der Teppich etwas aus dem Gewebe heraustreten lassen, wohingegen das Spiel des Schleiers die Sehnsüchte der Menschen ebenso ermöglicht wie begrenzt („So wie mein schleier spielt wird euer sehnen!“; GW 5, 59). Wie wichtig für George Transparenz und Evokationsfähigkeit für die poetische Textur waren, läßt sich im Vorblick auf Die Untergehenden sehen, einem Text aus Tage und Taten, der Morwitz zufolge zwischen 1911 und 1915 entstanden ist: Sie rühmen sich ihrer dreifachen verderbtheit: der Stadt des Staates und des Stammes. Es sind dies die zersezten menschengefüge die die macht der grossen gefühle und gedanken nicht mehr anders als im spiele ertragen. Ein wunderbar feines inneres gefädel befähigt sie von aussen jede starke schönheit aufzunehmen die ihnen im inneren fremd blieb. Solange sie noch an ihr saugen und solang sie noch jung sind · gelingen ihnen oft gebilde von schmeichelnder süsse. Später schiesst alles in sie ein was ihnen in den weg kommt. (GW 17, 71)
Vermutlich bezieht sich diese Kritik an einer spielerischen, ästhetizistischen Haltung auf die ‚Wiener Moderne‘ und führt damit eine Linie weiter, die in den Liedern von Traum und Tod mit Den Brüdern. An Leopold von Andrian beginnt. Darin heißt es: _____________ 474 So Braungart (Ästhetischer Katholizismus, S. 287), bezogen auf Aler, der die zyklischen Zusammenhänge innerhalb des Teppichs untersucht (Symbol und Verkündung, S. 214ff.).
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Wir – wie ihr – zeigten glücklichern barbaren Dass höchster stolz ein schönes sterben sei .. Bis wir bemerkt wie sehr wir lebend waren Da schlossen wir uns stärkern trieben bei. (GW 5, 71)
Die Ästhetik des „gebildes“ und der Textur verbindet sich mit einer Kritik an der selektionslosen Aufmerksamkeit, insofern diese „alles“ in sich einknüpft und in die jede Sensation „schiesst“. Der Teppich erschließt sich damit als Bild für die literarische Synthesis wie für die Synthesis des Beobachtens schlechthin. George bleibt ganz auf der Spur der Aufmerksamkeitstheorien à la Simmel, die den Menschen als „Unterschiedswesen“ konstruieren (6.1 c) und denen klar ist, daß Selektionslosigkeit die Konstruktion von konturscharfen Bildern, die auf Selektion basiert, verhindert. Wenn aber Der Teppich auf dieser Ebene der Beobachtungskonstitution angesiedelt ist, dann beschäftigt er sich mit Grenzziehungen, die ein Diesund ein Jenseits der Grenze benötigen und die bei aller Kritik an der selektionslosen Aufmerksamkeit deren Horizont immer mit einbeziehen. So besteht die „lösung“ nicht in einem Ergebnis, das inhaltlich bestimmt würde, sondern im bloßen Sich-Ereignen der Verlebendigung und damit auch in einer radikalen Immanentisierung der Perspektive. Diese ‚Lösung‘ wird durch den Ovidschen Prätext, das Wettweben zwischen Arachne und Athene um die lebendiger wirkende Textur, unterstützt: Der Mensch gewinnt dort gegen den Gott mit entsprechend unangenehmen Konsequenzen.475 Aus diesem Grund liegt eine der Funktionen des Teppichs darin, daß er Visualität als zentrales Moment ins Spiel bringt, und zwar im Sinn der ‚theoria‘, der ‚Schau‘ als einer Form antivoluntaristischen oder nicht instrumentalistischen Weltzugangs.476 Weiterhin impliziert der ‚Teppich‘ eine Reihe von Selbstbezüglichkeiten: Der Zyklus Teppich des Lebens beginnt mit dem Teppich/Teppich, der sich verlebendigt; dieser Teppich/Teppich tut das, was er sagt: Er zeigt Verschlingungen und er besteht als Textur aus Verschlingungen, was wiederum die zyklische Form der Bezüglichkeit477 repräsentiert. Das einleitende „Hier“ macht auf dieses Performativität aufmerksam. In dieser Linie spielt George mit der Verlesbarkeit des Titels: Der Teppich des Lebens ist eben auch ein ‚Teppich des Lesens‘478, ein Spiel mit und ein Test für die Fähigkeit zum Sehen und Übersehen kleiner Unterschiede (6. u. 6.3 a). George erkennt die Zeichen einer neuen Zeit, die „gebilde“ wahrzuneh_____________ 475 Ovid: Metamorphosen, VI, 1ff. Hinweise auf andere literaturgeschichtliche Bezüge bei Albrecht: Der Teppich als literarisches Motiv, S. 47ff. 476 So bereits im Blick auf die Hymnen Jacob: Stefan Georges ‚Hymnen’, S. 37. 477 Aler: Symbol und Verkündung, S. 221. 478 Braungart: Ästhetischer Katholizismus, S. 285.
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men in der Lage ist, im „aufschwunge von malerei und verzierung“ (GW 2, 5), in Formen der Wahrnehmung mithin, die Bilder und Rahmungen sehen. Im Jahr der Seele, jener Gedichtsammlung, die auf eine exzessive Weise mit den kleinen Unterschieden spielt, findet sich dann auch das Gegenbild zu jener Aufmerksamkeitsform, die der Teppich vorstellt, und dies in einem Gedicht, das lichtpsychologisch wie beleuchtungstechnisch aufschlußreich ist: Ich lehre dich den sanften reiz des zimmers Empfinden und der trauten winkel raunen Des feuers und des stummen lampen-flimmers Du hast dafür das gleiche müde staunen Aus deiner blässe fach ich keinen funken Ich ziehe mich zurück zum beigemache Und sinne schweigsam in das knie gesunken: Ob jemals du erwachen wirst? erwache! So oft ich zagend mich zum vorhang kehre Du sitzest noch wie anfangs in gedanken Dein auge hängt noch immer an der leere Dein schatten kreuzt des teppichs selbe ranken Was hindert dann noch dass das ungeübte Vertrauenslose flehen mir entfliesse: O gib dass grosse mutter und betrübte In dieser seele wieder trost entspriesse.479
Ein Gegenbild zum Teppich präsentiert dieses Gedicht zunächst, weil es die willentliche Einstellung der Aufmerksamkeit stärker gewichtet, während in der folgenden Gedichtsammlung das Moment der Unwillkürlichkeit und Erwähltheit eine größere Rolle spielt.480 Man könnte auch sagen: George präfiguriert hier das Konzept einer ‚gleichschwebenden Aufmerksamkeit‘, die sich aus dem Wissen um notwendige Selektionsleistung der Aufmerksamkeit heraus für eine Form der Unaufmerksamkeit als Form von Aufmerksamkeit ‚entscheidet‘ (6.).481 Die falsche Teppich-Wahrnehmung ist offenbar eine selektierende Wahrnehmung, die nur immer die „selbe[n] ranken“ in den Blick nimmt. Die Teppich-Ästhetik macht darauf aufmerksam, daß das ‚Bild‘ des Tep_____________ 479 George: Das Jahr der Seele, unpag. 480 Zum Verhältnis von Inspiriertheit und Gemachtheit vgl. Schödelbauer: Traum und Tod. 481 Vgl. zur Differenz von „attention“ und „awareness“ in diesem Sinn Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit, S. 28f.; sowie zur Differenz von „absichtlicher“ und „gleichschwebender“ Aufmerksamkeit in der Psychoanalyse Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 154ff.
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pichs sich nicht zeigt, wenn nur ein Knoten oder nur ein Faden in den Blick genommen wird. Nur im Zusammenspiel der Fäden erscheint das Bild, also nur, indem man das, woraus der Teppich eigentlich gemacht ist, nicht mehr sieht, sieht man die Illusion des Teppichbildes. Wie in den Testbildern zum dreidimensionalen Sehen ersteht der Eindruck von Plastizität dann, wenn das Auge von den Einzelheiten abschweift. Sobald der Blick nicht mehr einzelne Stellen fixiert, sondern ungenau wird, gewinnt das ‚Bild‘ Konturen. Eine der Pointen des Teppich-Bildes besteht also darin, daß es auf die konstruktive Leistung der Wahrnehmung, vielleicht auch auf die Konstruktivität der Wahrnehmungsschwäche anspielt. Zwar fordert die Teppich-Poetik zum Übersehen auf. Aber Invisibilisierung wird als Technik der Visibilisierung gehandelt und beiläufig präsent gehalten. Die Teppich-Bilder bestehen ‚offensichtlich‘ aus zerlegten Elementen, die erst in der produktiven Wahrnehmung den Eindruck eines zusammenhängenden, synthetisierten Bildes erzeugen – Hermann von Helmholtz hatte auf diese Zerlegung und Zusammensetzung in seinen Schriften zur physiologischen Optik aufmerksam gemacht.482 Das Gewebe isoliert die Dinge und verbindet sie zugleich, in Überlagerungen, nicht in einer linearen raum-zeitlichen Ordnung.483 Dem entspricht die Depotenzierung des einzelnen Gedichts durch die zyklische Gesamtanlage der Gedichtsammlung, die ein „teppichartige[s] universale[s] Verweisungsnetz[ ]“ bildet.484 Weiterhin kann die Bildlichkeit der „gebilde“-Ästhetik als Protest sowohl gegen den Verrat des Poetischen ans Weltanschauliche als auch gegen die bloße Musikalisierung des Ausdrucks gedeutet werden. Bereits 1897 behaupteten die Blätter für die Kunst: „kunstverständnis ist nur da zu finden wo ein kunstwerk als gebilde (rytmisch) ergreift und ergriffen wird“ (BfK IV/1 u. 2, 3). 1909 legen die Blätter für die Kunst nach und referieren Robert Boehringers Über Hersagen von Gedichten: Nach dem gesprochenen wort als erscheinung eines dichterischen gebildes ist bei uns kein bedürfnis vorhanden. Es gibt ein verlangen nach rede als ausdrucksmittel einer meinung und es gibt ein verlangen nach vorgetragener musik. Vielleicht
_____________ 482 Asendorf: Ströme und Strahlen, S. 20f. 483 Asendorf: Batterien der Lebenskraft, S. 132. Diese Verschlingungen haben im übrigen auch Hofmannsthal, der neben „neue[n] Dichtungen“ im Teppich des Lebens „ein ganzes Buch […] voll des Wiederklanges halbvergangener Epochen“ gefunden hat, fasziniert. Über die Kunst der Gobelins heißt es in einer Rede, die er am 10. Mai 1902 hält und die den ‚Teppich des Lebens’ mit dem Engel des Vorspiels verbindet: „Welch ganz gebundene, besondere Welt! Welche Möglichkeit, den Engel so zu behandeln wie die Blume, die Gebärde einer Jungfrau mit den Biegungen des Lilienstengels in geheime Harmonie zu bringen, die Wappenbilder auf dem Schild in rätselhafte Konkordanz mit dem Lächeln eines Gesichts“ (Hofmannsthal: Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze I, S. 22). 484 Osterkamp: Nachwort, S. 250.
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gibt es darum kein verlangen nach dem dichterischen rhythmus weil das verlangen nach dem musikalischen so stark vorhanden ist und befriedigt wird. Die beiden rhythmen sind selten in Einer seele lebendig · nur wenige dichter sind musikalisch · wenige musiker dichterisch. Höchster musik-rhythmus und höchster poesie-rhythmus schliessen sich aus weil sie verkörperung derselben weltsubstanz aber verschiedene aggregatzustände sind · also weil wasser nicht zugleich eis sein kann. In den stärker romanisierten ländern sowie in der Antike gab es keine ‚Überladung mit Musik · welche bei uns das unzusammengehörige verdeckt‘. (Burckhardt.)“ (BfK VIII, 5).
Während die Klanglichkeit der Sprachmusikalität an Diskurse der Substantialität und des Präsentischen anknüpfen, ‚betont‘ der Artikel das Rhythmische als eine Erscheinungsform von Differentialität: Der Rhythmus ergibt sich in der Abfolge und in den Unterschieden der Betonung, nicht in Klängen, die ihre Klanghaftigkeit auch isoliert, für sich stehend realisieren können. Wie eng sich die Ästhetik des „gebildes“ damit ans Medium der Schrift bindet, verdeutlicht Roland Reuß’ Deutung der Stefan-GeorgeLettern: Die StG-Schrift unterstreicht den Eindruck des „ruhigen, statischen Bandcharakter[s] der Zeilen“. Die Buchstaben kommen in diesem Schriftsatz ohne jedes dynamische An- oder Abschwellen zustande, sie erzeugen sich „allein durch die Translation des Grundstrichs“ und vermitteln damit, „als seien die Buchstaben jeder Zeile alle auf einen Faden geknüpft“, den „Eindruck eines Teppichs“: Durch die „Repetition und Konzentration ihrer Elemente“ schlägt der „Satz der schmucklosen Ausgangsschrift“, die bekanntlich primär eine Schrift für Anzeigen und Werbungen war, ins „Ornament“ um.485 Die wörtlich zu nehmende Widersinnigkeit dieser Schrift besteht dabei auf Seiten der Produzenten wie der Rezipienten: Die StG-Schrift, die entgegen der von George selbst verbreiteten Legende nicht der Handschrift des Autors angepaßt,486 sondern umgekehrt zur Vorlage der Handschrift für repräsentative Zwecke wurde, verlangt eine „ungeteilte Aufmerksamkeit auf den Akt des Schreibens selbst“, die auch bei George, wie man an Verschreibungen und Inkonsequenzen sehen kann, nicht immer vorhanden war. Sie läuft den Routinen der Handschrift entgegen und gibt dem Bild vom „griffel der sich sträubt“ einen konkreten Sinn (6.1 a).487 Die Ästhetik des „gebildes“ führt ‚vor Augen‘, wie Bilder entstehen. Insofern operiert sie an der Grenze einer per se nicht realisierbaren selektionslosen Aufmerksamkeit. Man kann dies auch allgemeiner formulieren: _____________ 485 Reuß: Industrielle Manufaktur, S. 177. 486 George / Hofmannsthal: Briefwechsel, S. 220; Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 144f., 147; zur Entwicklung der Handschrift vgl. Boehringer: Mein Bild von Stefan George, S. 240f. 487 Reuß: Industrielle Manufaktur, S. 178ff., Aufmerksamkeits-Zitat ebda., S. 185.
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Gerade ‚moderner‘ Literatur, die die Alltagskommunikation unterminieren will, stellt sich ein Problem: die Normalität eben dieser Irritation von Normalität. Wenn nämlich die Funktion der Kunst in der Präsentation alternativer Weltsichten besteht, dann wird das trivial in einer Zeit, in der Polyperspektivität in allen Bereichen auffällt,488 in der also beispielsweise die Philosophie das Vertrauen in die Erkennbarkeit der Dinge an sich verloren hat, die Historiographie die Beobachtungsabhängigkeit ihrer Ergebnisse reflektiert oder die Naturwissenschaften die Konstruktivität der Erfahrung herausarbeiten. Eine Lösung des Problems besteht für die Poesie darin, die für alle kontingent gesetzte Welt mit einer neuen Literaturwelt zu konfrontieren, die den Anspruch auf Nicht-Kontingenz und Monokontexturalität erhebt – damit bietet Literatur noch immer einen alternativen Weltentwurf, aber eben wieder auf eine überraschende, neue, exklusive Art und Weise.489 Diese ist freilich notwendig zum Scheitern verurteilt, weil Ununterschiedenheit durch Unterscheidungen inszeniert wird.490 Man darf auch angesichts der Herrschergesten Georges nie vergessen: Das Mißlingen gehört zu seiner dichterischen Arbeit und stimuliert sie (6.1 b). Erkennen die Rezipienten diese Selbstanregung als Vorbild an, dann führt dies zu neuen schriftstellerischen und gegebenenfalls sogar intellektuellen Anstrengungen, etwa in Form einer George-Forschung. Das Widersinnige einer nicht-kontingenten dichterischen Sprache hat seine Spezifik also in einer Allgemeingültigkeit, die sich nur aus der Perspektive des Dichters erschließt. Es geht gewissermaßen um das Paradox einer exklusiven Allgemeingültigkeit, nicht mehr um das einer allgemeinen Exklusivität, die im Zeitalter der Individualisierung alle für sich reklamieren können. Der Dichter „illuminiert“ die Welt, verstanden als beobachtungsunabhängige Gesamtheit, die vom Dichter beobachtet wird.491 Dies ist auf den ersten Blick schon wegen der kaum verdeckbaren Selbstwidersprüche wenig plausibel und bedeutet zweifellos eine weitere Steigerung der ohnehin bestehenden Unwahrscheinlichkeit, daß das Angebot der Literatur angenommen wird. Um so bemerkenswerter, wie deutlich George diese Widerständigkeiten und Inkonsistenzen herausstellt und sie mit Maximin sogar zum Kultobjekt erhebt (6.3 e). Umgekehrt verhärten sich die Fronten gegen die Leser ebenfalls, denn: Wer nicht sieht, was gesehen werden soll, aber gar nicht gesehen werden kann, wird schnell für blind erklärt. Immerhin eines macht dieser Punkt deutlich: wie in der Beweglichkeit von Georges Ästhetik des „gebildes“ der monopolistische, bisweilen tyrannische Gestus angelegt ist, mit _____________ 488 489 490 491
Fuchs: Vom schweigenden Aufflug ins Abstrakte, S. 154. Fuchs: Vom schweigenden Aufflug ins Abstrakte, S. 155. Fuchs: Vom schweigenden Aufflug ins Abstrakte, S. 173. Fuchs: Vom schweigenden Aufflug ins Abstrakte, S. 156f.
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dem er im folgenden seine Gestalt-Ästhetik ausstaffiert. Es wäre daher zu fragen, ob gerade auch die lyrischen Proklamationen seit dem Siebenten Ring, die George marktschreierisch in Szene setzt, ein Irritationspotential zu bieten haben, das den bisherigen Provokationen der Aufmerksamkeit entspricht.492 d) Die Gleichheit des Unterschiedenen I: Zeitgedichte Der Siebente Ring nimmt eine Sonderstellung insofern ein, als George hier in der Logik der Gedichtsammlung das Maximin-Erlebnis plaziert und damit jene ‚Vergottung des Leibs‘, die ihn zum Stifter, Garanten und Zentrum eines durch „Herrschaft und Dienst“ ausgezeichneten Kreises macht.493 An Georges Gedichten seit dem Siebenten Ring irritiert dabei nicht primär deren Unverständlichkeit, an ihnen irritiert vielmehr die Unklarheit darüber, inwiefern sie angesichts des religiösen oder ethischen Anspruchs überhaupt noch als Dichtung wahrgenommen werden sollen.494 Bis heute hat die Forschung sich nicht einigen können, ob der Siebente Ring nur eine weitere Drehung der ästhetizistischen Schraube bedeutet, die Wendung ins Kultische oder die Kehre zur offensiven politischen Wirksamkeit.495 Als Georg Simmel jedoch 1909 den Siebenten Ring in der Literarischen Rundschau der Münchner Neuesten Nachrichten bespricht, ist von diesen Deutungsproblemen keine Rede. Ihm schien etwas ganz anderes an diesem Gedichtband signifikant zu sein: die „geheimnisvolle ‚Planmäßigkeit‘ des Ganzen“ von Georges Werk sowie das extreme Maß an Selbstbezogenheit, das sich in der „zielsicheren Entwicklung eines Gesamtwerks“ zum Ausdruck bringt: Ich kenne keinen Lyriker, der in so ausschließlichem, ich möchte sagen, metaphysischem Sinne nur aus sich heraus lebte, und der es so zwingend fühlbar machte, daß alles objektive Sein, in sein Werk hineingenommen, nur die verteilten Rollen sind, in denen seine Seele sich selbst spielt.496
George, so scheint es Simmel, als ob ihm erst der Siebente Ring die Augen geöffnet hätte, „singt […] nur sich selbst“, „immer bleibt die Seele in sich beschlossen und spiegelt nur sich selbst zurück in den Formen der Dinge“. Dieser „Solipsismus der Seele“ ziele auf die „Monumentalisierung des durchaus und rein lyrischen Erlebnisses“ im Vollzug des Gesamtwerks, _____________ 492 493 494 495 496
Daß dies der Fall ist hat Ernst Osterkamp gezeigt („Ihr wißt nicht wer ich bin“). Osterkamp: Das Eigene im Fremden, S. 395f. Plumpe: Mythische Identität und modernes Gedicht, S. 110f. Petrow: Der Dichter als Führer? S. 13. Simmel: Der siebente Ring, S. 52.
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das als „zeitliche Verwirklichung“ einer „Idee“ zu verstehen sei. Simmel stellt allerdings den Bezug zur platonischen Welt der Ideen nur versuchsweise, zu heuristischen Zwecken her, und dies mit gutem Grund, denn die Werkpolitik Georges ist, wie ich zu zeigen versucht habe, aufs engste in den ‚Teppich des Lebens‘ seiner Zeit verknüpft. Simmel deutet an dieser Stelle daher nicht auf eine überzeitliche Kette monumentaler Gestalten, als deren letztes Glied George firmierte, sondern auf eben jene Problemfigur, die sich aus Georges Aufmerksamkeitsforderung herleitet. Was ich bislang als Spiel mit dem Verhältnis von Medium und Form am Beispiel des einzelnen Gedichts entwickelt habe, verlegt Simmel auf den Zusammenhang des Gesamtwerks. Daß Simmel sich auf diese Weise dem Anspruch von Georges Herrschaftsanspruch, der sich mit dem MaximinKult verbindet, auf den ersten Blick verweigert, liegt sicherlich auch an seiner Distanz zu einem für ihn illegitimen Anspruch des Dichters.497 Seine Rezension akzentuiert jedoch ein entscheidendes Moment von Georges Werkpolitik und trifft damit auch den Kern der Kreisbildung. Ich will dies im folgenden am Beispiel des ersten Zeitgedichts und daran anschließend am Maximin-Zyklus zeigen. Die Zeitgedichte, die den Einleitungszyklus des Siebenten Rings bilden, sind zu einem wesentlichen Teil Gedichte über falsche Wahrnehmung: Dante und das Zeitgedicht behandelt das mangelnde Verständnis für dichterische Verkündung; Goethe-Tag beklagt die Entweihung der Dichterstätte durch die „festesmenge“, die „auf der stimmen lauteste nur horcht“ und zudem nicht erkennt, daß „viel / Verblichen ist was ihr noch ewig nennt“ (GW 6/7, 10); Nietzsche wird durch die „blöd[e]“ Menge „mit lob befleckt“ (GW 6/7, 12); Böcklin wartet, bis das Publikum „entblindet“ ist (GW 6/7, 14); und der Lustknabe vor der Porta Nigra spottet über die Gegenwart Georges, weil diese ihre eigene Liederlichkeit übersieht. Lediglich vor Leo XIII, der in sich das Amt des Politikers, des Priesters und des Dichters vereint, verschmilzt die esoterische Perspektive der ausgewählten Beobachter mit der „menge“, „die schön wird wenn das wunder sie ergreift“ (GW 6/7, 21). Das Zeitgedicht, mit dem George den Zeitgedichte-Zyklus programmatisch einleitet, ist folglich ein Gedicht über die historische Zeit der Mitmenschen des Dichters, aber auch ein Gedicht über die Zeit des Dichters und über die Wahrnehmung des Dichters und seiner Zeit in seiner Zeit. Ohne Umschweife wird dem Publikum Georges einleitend mitgeteilt: „ihr fehltet“. Neue interpretatorische Anstrengungen sind offenbar gefordert:
_____________ 497 Vgl. dazu auch das Nachwort zu Simmel: Der siebente Ring, S. 502.
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Ihr meiner zeit genossen kanntet schon Bemasset schon und schaltet mich – ihr fehltet. Als ihr in lärm und wüster gier des lebens Mit plumpem tritt und rohem finger ranntet: Da galt ich für den salbentrunknen prinzen Der sanft geschaukelt seine takte zählte In schlanker anmut oder kühler würde · In blasser erdenferner festlichkeit. Von einer ganzen jugend rauhen werken Ihr rietet nichts von qualen durch den sturm Nach höchstem first · von fährlich blutigen träumen. ‚Im bund noch diesen freund!‘ und nicht nur lechzend Nach tat war der empörer eingedrungen Mit dolch und fackel in des feindes haus .. Ihr kundige las’t kein schauern · las’t kein lächeln · Wart blind für was in dünnem schleier schlief. Der pfeifer zog euch dann zum wunderberge Mit schmeichelnden verliebten tönen · wies euch So fremde schätze dass euch allgemach Die welt verdross die unlängst man noch pries. Nun da schon einige arkadisch säuseln Und schmächtig prunken: greift er die fanfare · Verlezt das morsche fleisch mit seinen sporen Und schmetternd führt er wieder ins gedräng. Da greise dies als mannheit schielend loben Erseufzt ihr: solche hoheit stieg herab! Gesang verklärter wolken ward zum schrei!.. Ihr sehet wechsel · doch ich tat das gleiche. Und der heut eifernde posaune bläst Und flüssig feuer schleudert weiss dass morgen Leicht alle schönheit kraft und grösse steigt Aus eines knaben stillem flötenlied. (GW 6/7, 6f.)
George wendet sich mit drei Vorwürfen an seiner „zeit genossen“: Zum einen übersehen diese den Gesellschaftsbezug seiner ästhetizistischen Phase; zum zweiten bemerken sie nicht den lebensgeschichtlichen Hintergrund, die Affektinvestition Georges an „qualen“; zum dritten erkennen sie nicht den inneren Werkzusammenhang, der den „wechsel“ zum „gleiche[n]“ macht. Man kann also schon hier bemerken, daß Simmels Besprechung des Siebenten Rings auf genau diese Vorwürfe reagiert, im Lichte der Wahrnehmungskritik des Zeitgedichts die „geheimnisvolle ‚Planmäßigkeit‘ des Ganzen“ beobachtet, und dies in einer Zeit, in der gerade die
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Wahrnehmung des Gleichen im Unterschiedenen, also von „Gestalten“, mit besonderem Nachdruck problematisiert worden ist.498 Aufschlußreich für die Herausforderung der „zeit genossen“ durch George ist die Frage, an wen sich das Zeitgedicht richtet, denn gemeinhin werden die Zeitgedichte als Georges großes Gericht über den Wilhelminismus im allgemeinen verstanden.499 Zwar können die „genossen“ von Georges „zeit“, je nach Deutung des Genitivs, diejenigen sein, die weit entfernt und gleichsam zufällig in der historischen Zeit gemeinsam mit George leben; es können aber auch diejenigen sein, die die ganz eigene „zeit“ Georges mit ihm verbracht und geteilt haben, Menschen seiner nächsten Umgebung, die sich den Ansprüchen und Anforderungen Georges gestellt haben.500 In jedem Fall aber handelt es sich um „genossen“ Georges insofern, als diese sich mit dem Dichter und seinem Werk auseinandergesetzt haben: Die Kritik betrifft konkret zunächst die Rezipienten oder Produzenten von Dichtung, die mit unzulänglicher Kenntnis von Metrik und Rhythmus („mit plumpem tritt“) sowie mit unzulänglichem Schreibvermögen (mit „rohem finger“) „in lärm und wüster gier des lebens […] rannte[n]“; dann geht es um diejenigen, die Georges Werkverlauf ohne Kenntnis von „der jugend rauhen werken“, also der Fibel, die 1901 erscheint, falsch deuten; und schließlich geht es um diejenigen, die sich aus dem Werk das leicht Konsumierbare, die „schmeichelnden verliebten töne[ ]“, auswählen, sich mithin auf das Erfolgsbuch Das Jahr der Seele konzentrieren.501 Das Zeitgedicht übt nicht undifferenziert an der anonymen Masse Kritik, sondern es widmet sich gerade dem interessierten und aufgeschlossenen Umfeld Georges, der die ‚Zeit‘ der Kreis-Mitglieder okkupiert, sie zu seiner persönlichen ‚Zeit‘ rechnet. So kritisiert er Wolters politische Publizistik, weil er anstelle dieses „Allotria […] doch die Blättergeschichte schreiben sollte. ‚Mit meiner Zeit schreibt er patriotische Reden!‘“502 _____________ 498 Ehrenfels: Über Gestaltqualitäten (1890/1922). Für das Konzept von Lektürearbeit als Pendant der dichterischen Arbeit ist Ehrenfels’ Hinweis auf die „Kraftleistung“ der Gestaltwahrnehmung aufschlußreich (ebda., S. 151). 499 Durzak spricht beispielsweise von „den Zeitgenossen“ als Adressaten (Zwischen Symbolismus und Expressionismus, S. 50). Vgl. zur inhaltlichen Unbestimmtheit: Kolk: Literarische Gruppenbildung, S. 265f.; und zur Unbestimmtheit als Voraussetzung politischer Wirkung: Petrow: Der Dichter als Führer? S. 13. 500 Da es um kritische Reaktionen geht, liegt hier ein Bezug zu den ‚Kosmikern’ nahe. 501 So Morwitz’ plausible Deutung: Kommentar zu dem Werk Stefan Georges, S. 216f. 502 Daß es dabei um Eigentumsverhältnisse geht, um Investitionen, um Fragen der Rückerstattung und des Gewinns, daß George also im Umgang mit der Zeit seine dichterische ‚Arbeit’ und seine Form des poetischen Kapitalismus fortsetzt, sieht man auch daran, daß George dabei eine Anekdote adaptiert, die von einer alimentierten Reise mit „meinem Geld“ handelt (Landmann: Gespräche mit Stefan George, S. 176).
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Mit einer gewissen Konsequenz nimmt George daher das Motiv der falschen, unzureichenden Wahrnehmung im Gezeiten-Zyklus wieder auf, in dem er sein liebevolles Verhältnis zu Gundolf und Boehringer bearbeitet, dem späteren Leitinterpreten und dem Verwalter des Werks.503 Wieder weist George darauf hin, wie wichtig es ist, „meiner geschicke vergangene gnade / Und meine leiden am fernen gestade“ als Hintergrundwissen zu bewahren (GW 6/7, 69). Er beschreibt in Analogie zu Der Teppich und Der Schleier Wahrnehmungsverschiebungen, mittels derer „Gemach und stadt und silbrige allee“ als „andre“ gesehen werden können (GW 6/7, 72). Und in diesem Kontext geht es um die Probleme, die entstehen, wenn man das Leiden des Ich verkennt und daher „nicht sehen“ wird, was mit diesem passiert (GW 6/7, 73). Der Lobgesang (GW 6/7, 87), der von den Gestalten zu Maximin überleitet, greift dann die zentralen Motive und Themen aus dem Zeitgedicht noch einmal auf, wendet sie ins Positive und bündelt sie zur komplexen Leseanweisung: Das Ich wird als „herr“ anerkannt und erscheint folglich in „viel-wechselnder gestalt doch gleich erkennbar“. Während im Zeitgedicht die gemaßregelten „zeit genossen“ mit „plumpem tritt und rohem finger“ agieren, zeichnet der „herr“ sich durch seine „rosige ferse“ und seine „schlanken finger“ aus, die bei aller Anmut dennoch „zermalmen“ können. Die Zeitgedichte re-interpretieren das Werk: Insbesondere die Einschätzung, bei Georges Frühwerk handle es sich um l’art pour l’art ohne jeden Lebensbezug, wird als Mißverständnis dementiert. Bereits 1896 wenden sich die Blätter für die Kunst gegen die Unterstellung, sie propagierten die „scheu vor dem wirklichen und eine flucht in schönere vorzeiten“ (BfK III/1, 1).504 Ein zentrales Moment der Literaturpolitik des Blät_____________ 503 Robert Boehringer schreibt entsprechend an Stefan George am 22. September 1907: „Leb wohl Lieber · ich warte mit sehnsucht und angst auf den VII. Ring · ich brenne darauf ihn in mich aufzunehmen und weiss doch dass er mir allen mut nehmen wird · Ach · sind nicht die verse · dir mir mit gehören · mit auch mein werk?“ (SGA, George III, 1247). Als Reaktion erhält er am 25. September 1907 einen Brief von Gundolf: „Teurer Robert: Zur Milderung von erwartung und unruhe sendet Ihnen der Meister, mit Dank für Ihre beiden briefe eine vorläufige ausgabe des VII. Es ist sowohl sein wie M.L.’s dringender wunsch daß dieser provisorische abzug nicht gezeigt und später bei gelegenheit zurückgegeben wird … Leben Sie wol Teurer, und sehen Sie ins Licht“ (SGA, Boehringer III, 3519). Für alle Hinweise und freundliche Unterstützung im Stefan George-Archiv danke ich Frau Dr. Ute Oelmann. 504 Und wenig später heißt es in genauer Umkehr gängiger Deutungen: „Seid ihr noch nicht vom gedanken überfallen worden dass in diesen glatten und zarten seiten vielleicht mehr aufruhr enthalten ist als in all euren donnernden und zerstörenden kampfreden?“ Ablesen können die Blätter für die Kunst diese Wahrnehmungsschwäche bereits an den „deutschen buch- und zeitschriftenausgaben, die „die schönheitswidrigsten sind“. Den Kritikern ihrer Erscheinungsform erklären sie: „den Deutschen werde eher der geschmack nicht kommen bis sie sich diese geschmacklose sogenannte deutsche schrift abgewöhnt“ haben. Auch hier folgt der Hinweis, diesmal bezogen auf „die kernsprüche des volkes“, daß „diese scheinbar
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ter-Kreises besteht darin, Wahrnehmungsformen zu justieren, das Verhältnis von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit neu zu bestimmen. Diese kontraintuitiven Aufmerksamkeitseinstellungen mußte George weniger den breiten Leserkreisen, die er ohnehin für unerreichbar und unbelehrbar hält, einbleuen, als vielmehr den Mitgliedern des Kreises und den angelagerten Leserzirkeln.505 George schließt mit der Poetik des Zeitgedichts als Wahrnehmungskritik an eine längere Linie der Werkpolitik an. Bekanntlich reicht eine vielfältige Tradition von ‚Zeitgedichten‘ von George bis hin zu Gleim ins späte 18. Jahrhundert zurück. Für die Probleme, die die ‚Zeitgedichte‘ für die Werkeinheit bedeuten können, ist neben Heine vor allem Freiligrath paradigmatisch: Er hatte 1844 mit Ein Glaubensbekenntnis. Zeitgedichte seine Wendung zum „Trompeter der Revolution“ vollzogen und die Bedeutung dieser Umorientierung im Vorwort der Gedichtsammlung reflektiert: Auf der einen Seite ergibt sich für den Autor aus der bitteren Enttäuschung über die „jüngste Wendung der Dinge in meinem eigenen Vaterlande Preußen“ der Zwang, auf die Zeitereignisse reagieren zu müssen – „keines“ der Zeitgedichte, so betont Freiligrath, „ist gemacht; jedes ist durch die Ereignisse geworden, ein […] notwendiges und unabweisliches Resultat ihres Zusammenstoßes mit meinem Rechtsgefühl und meiner Überzeugung […]“.506 Auf der anderen Seite muß er aber die Einheit des Werks über diesen Bruch hinweg betonen, um sich damit als stabiler, selbstidentischer Autor, als eine emotionale und intellektuelle Einheit zu legitimieren: Freiligrath publiziert daher die neuen, agitatorischen Gedichte gemeinsam mit älteren, „minder sicheren und bewußten einer erst werdenden und sich gestaltenden“ politischen Meinung, um auf diese Weise seine Motivation zu enthüllen und Unterstellungen, er habe aus Haß oder Neid gedichtet, „aufs entschiedenste in Abrede“ zu stellen. Werkpolitisch sind dabei die spezifische Adressierung, die Publikumssortierung und die geforderte Lesehaltung entscheidend: Die Besonnenen und ruhig Prüfenden, hoff’ ich, werden die zahlreichen Fäden leicht entdecken, welche aus der ersten Abteilung des Buches in die zweite herü-
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so einfachen werke oft mit der äussersten mühsamkeit und künstlichkeit zu stande gebracht werden“ (BfK III/4, 98f.). 505 Im Gespräch mit Ernst Robert Curtius etwa bemerkt er: „Manche meinen, in meinen ersten Büchern sei nur Künstlerisches enthalten, nicht der Wille zum Menschlichen. Ganz falsch! ‚Algabal’ ist ein revolutionäres Buch. Hören Sie diesen Satz von Plato: Die musischen Ordnungen ändern sich nur mit den staatlichen. Algabal und der Siebente Ring – das ist dieselbe Substanz nur auf eine geringere Fläche verbreitet“ (Curtius: Stefan George im Gespräch, S. 112f.). Zu dieser Besonderheit Georges im Kontext des europäischen Ästhetizismus vgl. Braungart: Ästhetischer Katholizismus, S. 13f. Zur Vorbereitung der Zeitgedichte im Teppich des Lebens vgl. David: Stefan George, S. 231. 506 Freiligrath: Werke. 2. Teil, S. 9.
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berführen. Sie werden es erkennen, hoff’ ich, daß hier nur von einem Fortschreiten und einer Entwicklung die Rede sein kann, nicht aber von einem Übertritt, nicht von einem buhlerischen Fahnentausch, nicht von einem leichtfertigen Haschen nach etwas so Heiligem, wie die Liebe und die Achtung eines Volkes es sind. Sie werden es vielleicht um so eher, wenn sie gleichzeitig erwägen, daß die ganze Schule, die ich soeben als Individuum vor den Augen der Nation durchgemacht habe, doch am Ende nur die nämliche ist, welche die Nation, in ihrem Ringen nach politischem Bewußtsein und nach politischer Durchbildung, als Gesamtheit selbst durchlaufen mußte und zum Teil noch durchläuft […].507
George konnte also gerade im generisch spezifischen Rahmen der Zeitgedichte auf eine längere Tradition der Visibilisierung des Unsichtbaren (Motive, Beziehungen etc.) rechnen, die ihrerseits an eine Tradition der werkpolitischen Wahrnehmungskritik und an einen virtuos gepflegten Umgang mit der Herstellung von Zusammenhängen und Ganzheiten anschließt (z. B. 4.2 u. 5.2). Für George war dies im Fall des Siebenten Rings nicht nur deswegen wichtig, weil er die Geste des Agitators mit den Lyrismen etwa des Jahrs der Seele verknüpfen und zugleich auf die terroristische Tendenz des Ästhetizismus hinweisen wollte. George mußte die Virtuosität der Visibilisierung beim Siebente Ring auch deswegen in Anspruch nehmen, weil diese Sammlung neben dem Neuen Reich die wohl monströseste, uneinheitlichste Zusammenstellung in seinem Werk ist (GW 6/7, 191). Aus diesem Grund betreibt er gerade hier die Visibilisierung von Werkeinheitlichkeit mit besonderem Nachdruck: Die vielfachen Selbstbezüge, etwa die Mottos zu Gedichten des Siebenten Rings, in denen George seine eigenen Gedichte (und die Kronbergers) zitiert (z. B. GW 6/7, 40), haben Simmel zu Recht auf den Gedanken des „Solipsismus der Seele“ gebracht. Schließlich erklärt sich aus der Gattungsgeschichte des Zeitgedichts auch, warum George ein Zentralkonzepte der werkpolitischen Aufmerksamkeitsforderung ins Spiel bringt: die „innere“ Einheit (z. B. 3.2.1 b). Im Gespräch mit Albert Verweys erläutert George nach der Fertigstellung des Siebenten Rings, dessen „Zusammenstellung […] ihn unendliche Mühe und Anspannung gekostet“ hatte: Voriges Mal, da ich bei Ihnen war, sagten Sie: es nicht gut, die Zeit unbeachtet zu lassen. So ist es. In Deutschland gibt es jetzt so und so viele Strömungen des Lebens und des Geistes. Man soll sie ordnen. Man soll den Weg zeigen wodurch sie wirken können. Mein Weg ist aber nicht der beliebte, der moderne der jetzigen Zivilisation. Ich will eine andere, eine innerliche Einheit. Damit bin ich an unsere Welt herangetreten. Früher glaubte ich daß die Welt mich erdrücken würde. Jetzt aber fürchte ich mich nicht mehr. – Meine Verhältnisse zu Personen und Zuständen sind dadurch geändert. Die sind noch wohl alle da, aber weil ich mich um so viel mehr als früher kümmere, stehe ich zu jedem einzelnen nicht mehr in
_____________ 507 Freiligrath: Werke, 2. Teil, S. 10.
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der selben Vertraulichkeit. – Alles wird in meine Arbeit aufgenommen. Auf jede Frage findet sich da, wie auch versteckt, eine Antwort. (GW 6/7, 190f.)
Wichtiger noch als diese Hinweise aber dürfte sein, daß George im Zeitgedicht neben einer kurz gefaßten rückblickenden Werkbiographie zugleich einen Ausblick auf das Finale seines Werks im Neuen Reich gibt. Georges letzter Gedichtband ist eine Art Vorlaßband, der Werke aus den unterschiedlichsten Schaffensphasen vereint. Die Sammlung endet – wie der letzte Blätter-Band – mit dem Lied-Zyklus, also eben mit dem im Zeitgedicht angekündigten „stillen flötenlied“ eines „knaben“. Die Knabenhaftigkeit des Liedes ist dabei zumindest insofern gegeben, als das letzte Lied des letzten Zyklus direkt auf eine französische Vorlage referiert, die George während seiner frühen Pariser Zeit notiert hatte (GW 9, 175).508 Deutlicher als durch diese Verschränkung und Überlagerung des Werkanfangs mit dem Werkende vermittelt der Abschluß des ZeitgedichteZyklus performativ „Unterschiedsempfindlichkeit“ auf der einen, Beziehungssinn auf der anderen Seite: Der Zyklus endet mit Das Zeitgedicht und somit in einer nicht-identischen Verdopplung seines Anfangs. Das Verfahren der Wiederholung und Spiegelung führt vor Augen, welche Probleme von Temporalität, Veränderung und Identitätsbildung sich damit verbinden (6.2 a). Auch in diesem Sinn also stellen die Zeitgedichte ‚Zeit‘ dar, nur daß sie das, was sie sagen, auch selbst tun und daher keine Gedichte ‚über‘ die Zeit sind. George forciert auf diese Weise die Ausbildung der Aufmerksamkeit für den Stellenwert eines Gedichts, die die zyklische Anlage der Gedichte generell provoziert.509 Wer diese Pointen weder in den Zeitgedichten noch im MaximinZyklus ‚wahrgenommen‘ hat, der wird von George am Ende des Siebenten Rings noch einmal darauf gestoßen, daß im „wechsel“ das „gleiche“ gesehen werden soll: Das Finale der Sammlung bilden sechs (!) Gedichte Zum Abschluß des Siebenten Rings. Das erste trägt den genannten Titel, die restlichen folgende Überschriften: Ein Gleiches: Frage, Ein Gleiches: Kehraus, Ein Gleiches, Ein Gleiches: An Waclaw, Ein Gleiches (GW 6/7, 186f.). Darin ordnet George sich in eine genuin deutsche literarische Tradition ein („Ganz wuchs empor aus vaterländischer brache / Dies werk und ging der reife zu ganz ohne / Fernluft […]“) – wenig wunderlich also, das die verschiedenen ‚gleichen‘ Gedichte im Titel auf eines der berühmtesten Gedichte der Literaturgeschichte überhaupt Bezug nehmen: auf Wandrers Nachtlied, das Goethe in der Ordnung seiner Gedichtsammlung _____________ 508 Zu den „Liedern“ bei George vgl. Braungart: Ästhetischer Katholizismus, S. 288ff. 509 Insofern erlaubt also gerade nicht die bloß inhaltliche Auffassung von Georges Gedichten, das ‚Gleiche’ im ‚Unterschiedenen’ zu sehen, wie Simon meint (Das Wasser, das Wort, S. 50). Es geht vielmehr um ein einheitliches Verfahren und ein damit verbundenes Visibilisierungsprogramm.
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mit Ein Gleiches überschrieben hatte.510 Im letzten der ‚gleichen‘ Gedichte bricht George zu einer „neuen fahrt“ auf und wiederholt damit die Szene, mit der er bereits von den Hymnen zu den Pilgerfahrten übergeleitet hatte. Damit schließt George erneut an die Zeitgedichte an: Er distanziert nämlich nicht allein die ohnehin unerreichbare Leserschaft, sondern auch die an sich aufgeschlossenen Rezipienten: „wie dünke / Ich heut mich leicht wie nie · vor freund gefeit / Und feind […]“. Werkpolitisch stellt George die Wahrnehmung auf den „wechsel“ im „gleichen“ ein: Er unterbricht die Siebenerordnung, die das gesamte Arrangement des Siebenten Rings mit einer gewissen Aufdringlichkeit bestimmt. Die „lösung“ für diesen Verstoß gegen die Zahlenordnung dürfte sich wie beim Anblick des Teppichmusters aus der Distanz ergeben, denn das fehlende siebte Gedicht ist die Sammlung des Siebenten Rings selbst, die am Ende wieder an den Anfang anschließt.511 Zumindest in diesem Fall passen Lechters Illustrationen, die neben dem Engel vor allem mit dem Ewigkeitssymbol der sich selbst verschlingenden Schlange arbeiten. Es sind Symbole der Performanz und der Paradoxien einer Selbstbegründung im Vollzug, der die Werkpolitik Georges und ihre Aufmerksamkeitsanforderungen entsprechen. Das Zeitgedicht und Das Zeitgedicht sind nicht dasselbe und gleichen sich doch. Dies gilt auch für das Programm: Zum Schluß des Eingangszyklus, also im zweiten Zeitgedicht, stellt George gegen eine bloß negatorische Haltung512 und gegen die Leibverachtung, die sich aus der unbestimmten Negation ergibt, das Programm der monumentalistischen Historie à la Nietzsche.513 Er fordert dazu auf, die „Schönen“ und die „Grossen“, die „ihr […] nicht mehr saht“, wieder zu sehen (GW 6/7, 32). Damit bezieht George sich im übrigen vermittelt erneut auf Goethe, den Nietzsche zu Beginn der ersten Unzeitgemäßen Betrachtung (1874) über den Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben zitiert.514 Auch hier ergibt sich der Streit um die literaturhistorische Zuordnung (6.). Denn _____________ 510 Weitere Programmpunkte gelten kritisch der Extatik der Kosmiker, dem Projekt der ästhetischen Verklärung im Sinne Algabals, demzufolge die „wracke“ und „leichen“ eines Seeunglücks „später erglitzerten unter dem sternengold“, oder der ästhetischen Verklärung, die er an dieser Stelle einem Zukunftsprogramm unterstellt im Zeichen „des der da kommen wird im morgenrot“. 511 Vgl. zu diesem Prinzip: Braungart: Ästhetischer Katholizismus, S. 117. 512 Vgl. dazu Aurnhammer: ‚Der Preusse’, insbes. S. 193ff. 513 „Gerade aber an dieser Forderung, dass das Grosse ewig sein solle, entzündet sich der furchtbarste Kampf. Denn alles Andere, was noch lebt, ruft Nein. Das Monumentale soll nicht entstehen – das ist die Gegenlosung. Die dumpfe Gewöhnung, das Kleine und Niedrige, alle Winkel der Welt erfüllend, als schwere Erdenluft um alles Große qualmend, wirft sich hemmend, täuschend, dämpfend, erstickend in den Weg, den das Große zur Unsterblichkeit zu gehen hat“ (Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Bd. 1, S. 259). 514 Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Bd. 1, S. 245.
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einem Rudolf Pannwitz etwa sollte der George der Zeitgedichte weniger wie ein Olympier erscheinen. Angesichts der Fortsetzung der ModerneKritik aus den Zeitgedichten in Der Krieg meint Pannwitz vielmehr, George sei nun „wirklich alter Klopstock geworden“.515 Wie auch immer George in den Zeitgedichten auftritt, als zweiter Goethe oder als zweiter Klopstock: Nietzsche jedenfalls hielt seine Betrachtung deswegen für „unzeitgemäß“, weil er damit als „classische[r] Philologe in unserer Zeit […] gegen die Zeit und auf die Zeit und hoffentlich zu Gunsten einer kommenden Zeit“ wirken wollte.516 Auf dieser Linie liegen die Zeitgedichte ebenso wie die Gestalt-Monographien des George-Kreises, deren Programm im Zyklus nach den Zeitgedichten formuliert wird. Er trägt den Titel Gestalten. Die Gestalt-Monographien entdecken im Unterschiedenen das Gleiche, nämlich George. Sie setzen die Visibilisierungsvorgabe der Zeitgedichte um. Daß die Monographien jedoch zur „Innenpolitik“ des Kreises gehören, verdeutlicht umgekehrt, mit welchen Risiken das Wahrnehmungsprogramm noch im Zirkel der eingeschworenen Lesergemeinde verbunden war.517 Die Sprachgewalt der Zeitgedichte, mit denen George auf seine Gegenwart und auf die Erfahrungen der Wahrnehmung seines Werks reagiert, adressiert er in ihrer ganzen Vehemenz an das interessierte Publikum. George erinnert die privilegierten Leser daran, die Aufmerksamkeit auf das zu richten, was andere übersehen, und seien es die göttlichen Qualitäten einer Schwabinger Lokalschönheit. George brauchte einen vergöttlichten Jüngling, um seinen Lesern das Sehen von Unsichtbarem vorzuexerzieren. Maximin avanciert auch deswegen zur Mitte des ‚Staates‘, weil sich an ihm die Wahrnehmungskompetenz der Rezipienten überprüfen läßt. e) Die Gleichheit des Unterschiedenen II: Maximin An Melchior Lechter schreibt George am 3. September 1906, die „ausdehnung“ des Siebenten Rings sei „so ins riesengrosse gewachsen“, daß es nur mit seinen „genauesten erklärungen“ möglich sei, die „innere architektur zu zeigen die durch eine ganz bestimmte anordnung hervorgehoben werden müsse“.518 Die Anforderungen, die die Innerlichkeit des Werks _____________ 515 Brief von Pannwitz an Hofmannsthal vom 1./2. September 1917 (Hofmannsthal / Pannwitz: Briefwechsel, S. 60). 516 Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Bd. 1, S. 247. 517 Zum Stellenwert der Monographien vgl. Osterkamp: Das Eigene im Fremden, S. 396ff.; zur Gefährung der von George statuierten Form von Ritualität vgl. Braungart: Ästhetischer Katholizismus, S. 300ff. 518 Lechter / George: Briefe, S. 263.
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stellt, vermitteln sich nicht von selbst. Sie sind anfällig für Ablehnung oder – was noch schlimmer wäre – für schlichtes Übersehen-Werden. Dies gilt insbesondere, wenn ihre Annahme sich mit so großen Risiken verbindet wie im Fall einer aufs Äußerste gesteigerten kontraintuitiven Aufmerksamkeitsleistung, die George seinen Leser mit der ‚Vergottung des Leibs‘ abverlangt. Wie für Simmel ist für Wolters und damit auch für George der Siebente Ring, der sich bis zur sechsten Auflage durch den Einband in violettes Leinen, Leder oder Seide von den anderen Gedichtbänden schon rein äußerlich unterschied, der Schlüssel zur Einheit des Gesamtwerks. Aus diesem Grund geht Wolters auf die „vorhergehenden“ Werke ein, stellt die Werkentwicklung im Sinne des Zeitgedichts dar und macht auf das „gleiche“ im „wechsel“ aufmerksam.519 Für die Werkentwicklung spielt Maximin indes eine nur untergeordnete Rolle, weil die meisten Gedichte des Siebenten Ring vorlagen, als der Götterknabe noch als unscheinbarer Schwabinger Gymnasiast seine Tage verbrachte. Für die Werkordnung hingegen war das Maximin-Erlebnis so maßgeblich wie für das Erscheinungsdatum, denn George hat alles daran gesetzt, den Siebenten Ring gemeinsam mit dem Gedenkbuch für Maximin erscheinen zu lassen (GW 6/7, 190, 192). Wolters reflektiert daher in der ‚Blättergeschichte‘ die gesamte Werkpolitik Georges und die damit verbundene Aufmerksamkeitsstrategie, wenn er den zentralen Stellenwert des Maximin-Zyklus im Siebenten Ring herausstellt: George hat die Bücher des SIEBENTEN RINGES in Kreisen um das Buch Maximin geordnet, so schon durch die Ordnung andeutend, daß sie alle von der einen Mitte ausgestrahlt sind, daß der innerste Kern sie bedingt und bestimmt. Ob man die umschließenden Ringe sich durch die Abwandlung ähnlicher Gehalte oder durch Anspannung und Abspannung der gestaltigen Dichte entsprechen läßt oder in diesen lebendurchfluteten Wölbungen noch verborgene Verhältnisse findet, immer schwellen ihre Bewegungen zur Mitte hin oder wallen von ihr ab, sind von der Sehnsucht gedrängt, die nach der höchsten Erfüllung dürstet oder von der Erfüllung getränkt, die schon ihre funkelnden Lichter über Stern und Tiefe sprüht. Es ist die gleiche Seele noch die jubelnd und leidend zwischen Gestirn und Abgrund schwingt, aber das sichtbar gewordene Geheimnis hat ihre Ausmaße verwandelt und verborgen schlummernde Kräfte mit ins Wachstum gerissen: die Höhen und Tiefen sind gewaltiger geworden, aber der Flügelschlag wuchtiger zugleich und leichter, die Weiten zu durchmessen. Alle Gebiete, welche in den früheren Werken erobert werden, überfliegt der gelöste Flügel noch einmal als sei es nötig nochmals alles aufzurufen was nicht berührt war, was fraglich und umdunkelt was lebendig und tauglich war: nichts durfte nach der geheimen Vereinung des einen im andern draußen, nichts undurchdrungen bleiben.520
_____________ 519 Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 321ff. 520 Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 328f.
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Wolters neigte im Ausdruck bekanntlich nicht zu letzter Klarheit, und auch aus dieser Passage dürfte man schwerlich ein deutliches Interpretationsangebot herausdestillieren können. Aufschlußreich ist der Passus indes in seinen Wendungen, seinen Bildern und Akzentuierungen: Die Metaphorik des Strahlens und der Wellenförmigkeit markiert jene Form der Attraktivität, die Georges Werk in der elektrifizierten Gesellschaft entwikkeln sollte und die er tatsächlich von Beginn an im Werk entfaltet (6.1 c). Wenn es dann über ein angerufenes „du“ des Maximin-Zyklus heißt, das „Ich“ sei mit „jeder faser / Ferner Brand von dir entglommen“ (GW 6/7, 109), dann rekurriert George überraschend deutlich auf die energetischen Fernwirkungen einer Kunst, die es auf die Nerven(-fasern) der Rezipienten abgesehen hat. Wolters kann sich seine Unentschiedenheit, ob man es dabei in der Ordnung des Siebenten Rings mit Variationen, mit Konzentrationen oder mit anderen geheimnisvollen Beziehungsformen zu tun hat, deswegen erlauben, weil für ihn wie für George entscheidend ist, überhaupt Leser mit Beziehungssinn zu akquirieren. Das Strahlungs- und Attraktionsvermögen, das Georges Werk über Distanzen, unsichtbar und zugleich mit höchster Bindungskraft, auf diejenigen Leser entwickelt, die ihre Aufmerksamkeit auf solche werkinternen Strahlungen und Attraktionen richten, befähigt dazu, die „gleiche Seele“ in unterschiedlichen Ausprägungen des einheitlichen Werk-„Kerns“ zu sehen. Von daher verwundert es kaum, wie wenig sich bisweilen der Gott und sein Prophet unterscheiden. Daß George sich mit der Vergöttlichung Maximins selbst deifiziert, legt zumal die Erinnerungsliteratur nahe, in der immer wieder von der göttlichen Erscheinung und Wirkung des Dichters die Rede ist. Stefan Breuer hat die entsprechenden Passagen zusammengestellt:521 Edith Landmann erfährt im Angesicht Georges, was das Göttliche sei; auf Thormaehlen macht George den Eindruck einer alles verändernden Naturmacht; Sabine Lepsius fühlt in seiner Gegenwart etwas Übermenschliches. Wie in diesen Fällen vermittelt George bei vielen anderen Kontakten „eine heilige und furchtbare Erregung“.522 Am deutlichsten bildet dabei Edgar Salin seine Erinnerung an die Begegnung mit George dem Vorbild des Maximin-Erlebnisses von George nach: Der Betrachter stand erstarrt, auf den Fleck gebannt. Ein Hauch einer höheren Welt hatte ihn gestreift. Er wußte nicht mehr, was geschehen war, kaum wo er sich befand. War es ein Mensch gewesen, der durch die Menge schritt? Aber er unterschied sich von allen Menschen, die er durchwanderte, durch eine ungewußte Hoheit und durch eine spielende Kraft, so daß neben ihm alle Gänger wie
_____________ 521 Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus, S. 21ff. 522 So Bruno E. Werner über Das Erlebnis Stefan George (1928; zit. nach Stefan George 1868-1968, S. 268).
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blasse Larven, wie seellose Schemen wirkten. War es ein Gott, der das Gewühl zerteilt hatte und leichtfüßig zu andern Gestaden enteilt war?523
Kronbergers eigene verhältnismäßig nüchterne Aufzeichnungen heben sich von diesen Stilisierungen im übrigen wohltuend ab. George macht darin einen eher menschlichen Eindruck – „er ist ein grosser Herr, hält sich jedoch schief, die rechte Schulter höher als die linke“.524 In den Erinnerungen der Georgeaner ist derselbe Mechanismus am Werk, der es bereits in den Gestalt-Biographien erlaubte, in wechselnden Biographien das ‚gleiche‘ zu sehen. In jedem Fall machen sie fraglich, wo eigentlich der von George verkündete Gott zu finden ist: in Maximin oder in seinem dichtenden Propheten. Mehr noch: Die Grenzen zwischen ‚Erlebnis‘ und ‚Dichtung‘ sind auch deswegen porös, weil George sein Maximin-Erlebnis von Beginn im Licht der Philologie und deren Deutungskompetenz bearbeitet: Er reicht Kronberger zur Orientierung nicht allein die Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts von Richard Moritz Meyer, „in der er rühmlichst erwähnt war“525, sondern er reflektiert darüber hinaus in Gesprächen die Deutungsunfähigkeit der positivistischen Literaturwissenschaft, deren Biographismus „im Hinblick auf die Ästhetik und andere Gebiete noch weit zurück“ liege.526 Als Kronberger am 30. Januar 1904 seine Beziehungen zu George abbrechen will, schreibt er ebenso hellsichtig wie folgerichtig: „Das Buch ist aus“.527 Der Siebente Ring beginnt also auch im Blick auf den Maximin-Zyklus nicht zufällig mit den Zeitgedichten bzw. mit dem Vorwurf an seine Umgebung, daß diese nicht das sieht, was sie sehen soll. Maximin ist die Funktionsstelle, an der George sein Wahrnehmungsprogramm exemplarisch durchspielt. Elementare Bestandteile dieses Programms präsentiert bereits die Vorrede zum Gedenkbuch, denn Maximin tritt hier als derjenige auf, der „uns dinge zeigte wie die augen der götter sie sehen“, wohingegen zuvor die „sinne abgestumpft und die spannungen gelähmt“ waren (GW 17, 62f.). Diese halluzinogene Wirkung macht sich als erweiterte Aufmerksamkeit bemerkbar, die durch die Erscheinung Maximins in „jeder“ Hinsicht _____________ 523 524 525 526
Salin: Um Stefan George, S. 14. Kronberger: Gedichte, Tagebücher, Briefe, S. 36. Kronberger: Gedichte, Tagebücher, Briefe, S. 50, auch S. 52, 57, 81, 83. Kronberger: Gedichte, Tagebücher, Briefe, S. 90. Damit greift George den Erklärungen in der Vorrede zur Übersetzung der Shakespeare-Sonette und in dem kurzen Prosastück Kunst und menschliches Urbild voraus, wo vor dem Hintergrund des Homosexualitätsverdachts gegen den George-Kreis (dazu Groppe: Die Macht der Bildung, S. 418ff.) die Suche nach „wirklichen“ Personen als „spielerei der ausleger“ desavouiert und damit die Wahrnehmungskritik des Zeitgedichts fortgesetzt wird (GW 17, 70). 527 Allerdings streicht er diesen Passus dann auch wieder durch (Kronberger: Gedichte, Tagebücher, Briefe, S. 105).
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hervorgerufen wird: durch seine „stimme“, die „wendung seines kopfes“, den „griff seiner hände“, seine „haut“, seine „blicke“, seinen „leibhafte[n] duft“ und seine „wärme“ – „sein wesen bewegte sogar die unempfindlichsten leute des volkes“ (GW 17, 63f.). Zugleich verbinden sich in Maximin gesteigerte Sichtbarkeit mit Unsichtbarkeit, zumindest insoweit es seine poetischen Hinterlassenschaften betrifft: Darin nämlich findet sich nicht „das tiefste seines wirkens“, das „erst sichtbar [wird] aus dem was unsren geistern durch die kommunion mit seinem geiste hervorzubringen vielleicht vergönnt ist“ (GW 17, 64). Diese gleichzeitige Aufwertung und Depotenzierung Maximins zum Medium einer Wahrnehmungsveränderung, die tief in die Lebensorientierungen eingreift („Das ganze getriebe unsrer gedanken und handlungen erfuhr eine verschiebung“; GW 17, 64), führt George schließlich so weit, daß er die Funktion des Maximin-Todes ohne Umschweife formuliert: „Wir können nun gierig nach leidenschaftlichen verehrungen in unsren weiheräumen seine säule aufstellen uns vor ihm niederwerfen und ihm huldigen woran die menschliche scheu uns gehindert hatte als er noch unter uns war“ (GW 17, 66). Nur der Tod erlaubt, einen jungen Mann zum Gott zu erklären, weil dessen faktische Existenz dann nicht mehr stört.528 Mit der Wahrnehmungskritik der Zeitgedichte verbindet den MaximinKult somit einerseits die Praxis, göttergleiche Menschen umfassend zu beobachten, andererseits die Vorgabe rückhaltloser Bewunderung, die das Bedrohungspotential einer umfassenden Beobachtung mindert. Das tertium comparationis bildet eine antivoluntaristische Einstellung, die Momente einer selektionslosen, gleichschwebenden Aufmerksamkeit aufweist. Auch dies führt George an sich selbst vor, als er Maximilian Kronberger zunächst zum Photographen schickt, danach einige handschriftliche Zeilen für seine graphologischen Studien und schließlich alle schriftlichen Dokumente von ihm verlangt.529 Die dahinterstehende philologische Haltung, die sich im Interesse an ‚Kleinigkeiten‘ bekundet (5.2), erläutert George in einem Brief vom 21. Mai 1903 an Kronberger: „Nehmen Sie nicht an dass etwas von Ihnen verfasstes, sei es auch gering, bei mir keine teilnahme finde […]“.530 Wie der von Goethe geforderte Leser (5.4.2 c) verhält George sich ‚teilnehmend‘531; wie ein Philologe interessiert er sich für ‚alles‘ und steigert die Möglichkeiten der Aufmerksamkeitsinvestition _____________ 528 529 530 531
Mattenklott: Bilderdienst, S. 283. Kronberger: Gedichte, Tagebücher, Briefe, S. 12, 25, 52. Kronberger: Gedichte, Tagebücher, Briefe, S. 56. Vgl. auch den Brief vom Oktober 1903: „über Ihre verse, die ich immer mit grösster teilnahme verfolge und deren entwicklung ich oft voraussehe – kann ich nur mündlich für Sie erspriesliche worte finden […]“ (Kronberger: Gedichte, Tagebücher, Briefe, S. 78).
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medial durch Schriftlichkeit, damit er sich die Verse Kronbergers „in aller ruhe vornehmen kann“.532 Umgekehrt fordert George diese Aufmerksamkeit für sich und demonstriert damit, daß seine Haltung als Rezeptionsvorgabe gedacht ist. Im Kampf um die Aufmerksamkeit Kronbergers erklärt George dem Gymnasiasten: „Er sei nicht gewohnt, dass seine Freunde ihn in Kleinigkeiten vernachlässigten und sie täten dies auch nicht“.533 Diese Verschlingungen des Propheten mit seinem Gott sind charakteristisch für die Maximin-Dichtung, bei der oftmals unentscheidbar bleibt, wer spricht und über wen gesprochen wird.534 Konnte man im Jahr der Seele den von Simmel diagnostizierten „Solipsismus der Seele“ im Selbstgespräch des Dichters finden535 und im Vorspiel zum Teppich des Lebens im Engel das Spiegelbild des Dichters (6.3 b), so präsentieren auch Georges Maximin-Gedichte eine Poesie des Rollentauschs, in der das „Ich“ leicht zum „geschöpf nun eignen sohnes“ mutieren kann (GW 6/7, 109). Kurz: George variiert um ein neues die Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen der Dichter-Weihe, bei der die Unterschiede zwischen Inspiriertem und Inspirationsmacht unklar waren. Der Advent am Anfang der Hymnen unterscheidet sich nicht wesentlich vom Kunfttag I im Maximin-Zyklus: Dem bist du kind · dem freund. Ich seh in dir den Gott Den schauernd ich erkannt Dem meine andacht gilt. Du kamst am lezten tag Da ich von harren siech Da ich des betens müd Mich in die nacht verlor: Du an dem strahl mir kund Der durch mein dunkel floss · Am tritte der die saat Sogleich erblühen liess. (GW 6/7, 90)
George schließt in Kunfttag I an das Zeitgedicht auf zweifache Weise an: zum einen durch die perspektivisch differenzierte Wahrnehmung, die es _____________ 532 So Gundolf brieflich an Kronberger am 28. Juni 1903 (Kronberger: Gedichte, Tagebücher, Briefe, S. 66). 533 Kronberger: Gedichte, Tagebücher, Briefe, S. 50. 534 Braungart: Ästhetischer Katholizismus, S. 206. 535 So eine Seite von Morwitz’ Deutung der Dialogstruktur: Kommentar zu dem Werk Stefan Georges, S. 113.
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ihm erlaubt, etwas zu sehen, was andere nicht sehen; zum zweiten durch eine episodische Ausgestaltung des Leidens, das George als Latenz und Implikation des Werks zu beobachten aufgibt. Insbesondere die dritte Strophe knüpft dabei an die Florilegienpoetik im Jahr der Seele, im Vorspiel und im Teppich des Lebens an und inkorporiert den „Gott“ der Verskunst Georges: Er wird zum „tritt[ ]“, zum Versgang, der die flores der poetischen Rhetorik Georges zur Erscheinung bringt, und er geht ein in den „melodienstrom“ (der Gott „floss“ als „strahl“ durch das „dunkel“). Verbindet man beides, dann geht es hier um jene erste Differenz, die durch die Trennung von Helligkeit und Dunkelheit die Konstitution einer Welt und damit die Wahrnehmung ermöglicht. Den ganzen Zyklus über verliert sich nicht die Unsicherheit, auf welche Art und Weise Maximin Teil von Georges Dichtung ist. Existiert er nur in Georges Dichtung? Und wenn er nur in Georges Dichtung existiert: Vergöttlicht dies Georges Dichtung oder desakralisiert dies den Gott? Entscheidend dürfte sein, wie empfänglich das Umfeld Georges, der ja der bereits zitierten Erinnerung Verweys zufolge „alles“ in seine „neue Arbeit aufgenommen“ wissen wollte (GW 6/7, 191), für die Florilegienpoetik war: Brieflich nennt Gundolf den Siebenten Ring die „Ernte der vergangenen und Saat künftiger Jahre der Seele“ (GW VI / VII, 190);536 Wolfskehl findet darin eine „um- und aufbauende Spätlese Ihres ganzen bisherigen Daseins“.537 Wie im Verhältnis von lyrischem Ich und Engel im Vorspiel zum Teppich des Lebens verschränken sich Gleichheit und Ungleichheit, Verschiedenheit und Einheit, Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, und wenn man sieht, wie sehr die Perspektive der George-Jünger durch das Jahr der Seele geprägt war, kann man auch besser Georges allergische Reaktion im ersten Zeitgedicht als Reaktion auf seiner „zeit genossen“ verstehen. Die Vergottung Maximins jedenfalls erscheint nur als eine Variante der komplexen, in sich brüchigen und widersprüchlichen Vereinigungsmotive, die Georges dichterische Arbeit insgesamt prägen. Auf diese Weise entschlüsselt sich die werkpolitische Funktion der Gestalt-Ästhetik: Der Maximin-Zyklus knüpft an das Programm einer monumentalistischen Historie, wie es in den Zeitgedichten formuliert wird, insofern an, als er die Gedankenfigur des Gleichen im Unterschiedenen variiert – gegen die Historizität der Ereignisse zeigt sich eine einheitliche Größe in geschichtlichen Erscheinungen, die die Gestalt-Biographien des George-Kreises herausdestillieren. Ähnlich funktioniert Georges mediales CharismaManagement: Die Dante-Reminiszenzen der Profilabbildungen beispiels_____________ 536 Brief von Gundolf vom 23. März 1906 (George / Gundolf: Briefwechsel, S. 175). 537 Wolfskehl an George am 23. Oktober 1907 (GW 6/7, 191).
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weise provozieren déjà-vu-Erlebnisse, durch die George sich historische Größe aneignet.538 Der Maximin-Kult wird somit zum Testfall und Ausbildungszentrum für Zwei-Seiten-Beobachtungen. George abonniert die Dichtung auf „erweckung“ und „übergang“. In ihr synthetisieren sich personale, räumliche und zeitliche Identitäten und bleiben zugleich getrennt. Sie bestehen „nebeneinander“ und werden „eins und dasselbe“.539 Das aber heißt nichts anderes, als daß Poesie eine Kunst der Grenzziehung und Grenzüberschreitung ist, eine Erscheinung liminaler Beweglichkeit, die die Selektion, die notwendigerweise zur Aufmerksamkeit des ‚Unterschiedswesens‘ Mensch gehört, so merklich macht, auf eine solche Weise zum ‚Zittern‘, ‚Schimmern‘ oder ‚Schwingen‘ bringt, daß als Jenseits der Wahrnehmungsgrenzen die Dimensionen einer selektionslosen Aufmerksamkeit ‚aufscheinen‘. Dem „Ich“ der Gedichte Georges, das ‚neben‘ einem „Du“ besteht und mit diesem „eins und dasselbe“ wird, das sich inspirieren läßt und die Inspirationsquelle selbst hervorbringt, das von einem Engel besucht wird und dieser Engel selbst ist, diesem „Ich“ widmet George die abschließenden Verse der Entrückung und damit die letzten Zeilen des MaximinZyklus’: Der boden schüttert weiss und weich wie molke .. Ich steige über schluchten ungeheuer · Ich fühle wie ich über lezter wolke In einem meer kristallnen glanzes schwimme Ich bin ein funke nur vom heiligen feuer Ich bin ein dröhnen nur der heiligen stimme. (GW 6/7, 111)
Wie oft im Maximin-Zyklus ist auch in diesem Gedicht letztlich unklar, wer spricht. Von daher scheint es angemessen zu sein, den zitierten Passus _____________ 538 Blasberg: Charisma in der Moderne, S. 141. 539 In einem kurzen Text Über Dichtung, der Morwitz zufolge zwischen 1904 und 1915 entstanden sein soll (Morwitz: Kommentar zu den Prosa-, Drama- und Jugend-Dichtungen Stefan Georges, S. 65), verdichtet George den Zusammenhang der Ästhetik von „gebilde“ und „gestalt“ sowie der damit verbundenen Konzeption von Aufmerksamkeit: „Das wesen der dichtung wie des traumes: dass Ich und Du · Hier und Dort · Einst und Jezt nebeneinander bestehen und eins und dasselbe werden. / Tiefster eindruck · stärkstes empfinden sind noch keine bürgschaft für ein gutes gedicht. Beide müssen sich erst umsetzen in die klangliche stimmung die eine gewisse ruhe · ja freudigkeit erfordert. Das erklärt warum jedes gedicht unecht ist das schwärze bringt ohne jeden lichtstrahl. Etwas ähnliches meinte man wol früher mit dem ‚idealischen’. / Schönheit ist nicht am anfang und nicht am ende · sie ist höhepunkt ... Die kunst ergreift am meisten in der man das atemholen neuer noch schlafender geister spürt. / Die dichtung hat eine besondere stellung unter den künsten. Sie allein kennt das geheimnis der erweckung und das geheimnis des übergangs“ (GW 17, 69).
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als Bekenntnis über den Stellenwert des „Ich“ in der Lyrik Georges überhaupt zu verstehen. Was bedeutet es dann, wenn das „Ich“ nur ein „dröhnen der heiligen stimme“ ist? Erste Informationen gibt der Bericht von Klages über eine Lesung im Frühjahr 1896, der zeigen sollte, daß George der Macht von Schulers Visionen nicht gewachsen war: Nach der Mahlzeit beginnt er [Schuler, S.M.] mit dem Vorlesen seiner stärksten Fragmente, mächtig schon einsetzend und zu immer mächtigerem Pathos fortgerissen. […] Die alte Mutter ist in sich zusammengesunken; Wolfskehl, seelisch und geistig immun, saugt und assimiliert; seine Frau sitzt teilnahmlos da, denn ihr ist das „zu hoch“; George gerät in wachsende, schließlich kaum noch beherrschte Erregung. Er hat sich hinter seinen Stuhl gestellt; fahler denn fahl scheint er im Begriff, die Fassung zu verlieren. Die seelenatmosphärische Spannung wird unerträglich. Keiner vernimmt noch genau, was Schuler kündet; doch aus dem Dröhnen seiner Stimme wächst ein Vulkan, der glühende Lava schleudert, und aus der Lavaglut steigen purpurne Bilder, besinnungraubend, entrückend. – Wann es vorbei ist, wie es vorbei ist, bleibt unerfaßlich, nur daß es vorbei ist, weiß unversehens ein jeder, indem er aufbruchsbereit einen Strauß in der Hand hält: je ein Fetzen der Kränze, die Schuler zerrissen hat, um seine Gäste zum Abschied damit zu beschenken. – Auf der nächtlichen Straße stehe ich plötzlich mit George allein. Da fühle ich mich am Arm ergriffen: „Das ist Wahnsinn! Ich ertrage es nicht! Was haben Sie getan, mich dorthin zu locken! Das ist Wahnsinn! Führen Sie mich fort; führen Sie mich in ein Wirtshaus, wo biedere Bürger, wo ganz gewöhnliche Menschen Zigarren rauchen und Bier trinken! Ich ertrage es nicht!“ – Nun, so geschah es. In einem ganz gewöhnlichen Wirtshaus voll biederer Bürger trank jeder sein Bier, George angegriffen, aufgewühlt, innerlich ruhelos, ich nachdenklich, sehr nachdenklich.540
Das „dröhnen“ der „stimme“ entfaltet eine Wirksamkeit jenseits der Bedeutungsvermittlung. In ihm bringt sich die „stimme“ performativ zur Geltung und baut ein ‚Spannungsfeld‘ auf, das eine Art schöpferischen Ursprung bildet. Klages faßt diese Schöpfungsmacht im Bild des Vulkans, dem man gemeinhin wenig Produktivität zutraut. Auf das Rauschen der Stimme antwortet George mit dem bürgerlichen Gegenrausch handhabbarer Intoxikation. Auf eine weniger dämonische Weise, führt George das ‚Dröhnen‘ im Sinn eines Art Ursprungsklangs auch in einem Gedicht aus den Pilgerfahrten an: „Läg im vergnügen an fasslichen tönen / Die mir seit monden im munde dröhnen / Zu neuer erscheinung ein keim?“ (GW 2, 43). Das ‚Dröhnen‘ bezeichnet jenes unentschiedene Ineinander, aus dem „erscheinung[en]“ hervorgehen. Auf dieser Ebene wird es als Verfahren der Werkpolitik brauchbar. Dies zeigt wiederum ein Erlebnisbericht, diesmal über eine Lesung Georges aus dem Jahr der Seele am 14. November 1897: _____________ 540 Dichter lesen. Bd. 2, S. 338f. (Hervorhebungen S.M.).
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[…] der Ton seiner Stimme wechselte seine Höhe und Tiefe nur in ganz seltenen Abständen, wurde dann streng beibehalten, fast wie eine gesungene Note, ähnlich dem Responsorium in der katholischen Kirche, und trotzdem bebend vor Empfindung und wiederum hart, dröhnend. […] Auch die Endzeilen verharrten auf dem gleichen Ton, so daß nicht nur der übliche Schlußeffekt völlig vermieden wurde, sondern es schien, als sei das Gedicht nicht ein einzelnes in sich abgeschlossenes, sondern ohne Anfang, ohne Ende, wie herausgegriffen aus dem Reiche großer Gedanken und erhöhter dichterischer Vorstellungen.541
Das dauerhafte ‚Dröhnen‘, das gleichsam als Unterton die bedeutungsstiftenden Selektionen, Differenzierungen und Akzentuierungen trägt, macht auf eine Einheit aufmerksam, auf die die Unterschiede bezogen sind. Mit diesem Zitat bin ich daher wieder am Ausgangspunkt angelangt, bei Simmels Besprechung des Siebenten Rings. Da das „dröhnen der heiligen stimme“ Georges nicht überall hin übertragbar und zudem von den Anfälligkeiten der leiblichen Existenz betroffen war, hat George es im Gesamtwerk so aufbewahrt, wie er das siebte Gedicht der ‚gleichen‘ Gedichte Zum Abschluß des VII. Rings im Gedichtband selbst aufbewahrt hat. Zu Recht behauptet Gundolf, das „dröhnen der heiligen Stimme“ stehe im „Zeichen der Weihe“ und spiele sich auf einer „Ebene jenseits der bloßen Personalität oder des Einbruchs überpersönlicher Welt“ ab. Weniger plausibel, aber durchaus nachvollziehbar ist der Hinweis, dieser „Ton“ sei „nicht wissenschaftlich zu erklären: man vernimmt ihn oder man vernimmt ihn nicht“. Gundolf deutet damit auf eine „Ebene“, die nur einer selektionslosen Aufmerksamkeit zugänglich sein kann, weil dieser „Ton […] überhaupt durch Merkmale nicht bezeichnet wird“, sondern „Merkmale“ erst konstituiert: „Der Ton ist kein ästhetisches Zubehör, sondern das Zeichen des seelischen Raums […]. Innerhalb dieses Raums haben erst seine Bilder und Sätze ihr Gewicht. Man muß sie in ihrem Ton hören: mit dem Es dem sein Ich sich eingelassen hat, das in sein Ich eingebrochen ist“.542 Tatsächlich hat man den Eindruck, daß hier einige Instanzen einbrechen, und dies aufgrund symptomatischer Darstellungsprobleme. Diese ergeben sich aus gegenläufigen Tendenzen einer selektionslosen Aufmerksamkeit, die Ausschlüsse als konstitutiv für die Wahrnehmung begreift und dennoch nach der Einheit des Unterschiedenen fragt. George jedenfalls, und das soll nur noch kursorisch angedeutet werden, verleiht in den beiden folgenden Gedichtbänden seinen Aufmerksamkeitsanforderungen Nachdruck. Insbesondere der Stern des Bundes (1913) markiert durch sein korsettartiges Formgerüst (GW 8, 122), daß Maximins Verleiblichung als _____________ 541 Lepsius: Stefan George, S. 17; vgl. zum „Weiterklingen“ auch Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 186. 542 Gundolf: George, S. 61.
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„tritt“ die Stilblüten von Georges Gedichten „erblühen“ läßt: Im Einleitungsgedicht macht das sprechende „Ich“, dem „zweige“ und „kränze“ gebracht werden, den „schritt auf eine andre bahn“ (GW 8, 10). Die Sammlung beginnt erneut mit einer groß angelegten Wahrnehmungskritik („Ihr wisst nicht wer ich bin“; GW 8, 10), die an die Zeitgedichte auch insofern anschließt, als sich das „geheimbuch“, das der Stern des Bundes sein sollte, an den engsten Zirkel des George-Kreises wendet (GW 8, 5). Noch immer muß, wie in der Weihe, die Fluidität der Erscheinungen begrenzt (6.1 a), noch immer muß durch das ‚Auftreten‘ des Gottes das Zerfließende in die Gegenwärtigkeit gebannt werden („Dein erdenleib dies enge heiligtum […] / Fängt alle sternenflüchtigen gedanken / Und bannt mich in den tag für den ich bin“; GW 8, 11). Aber zugleich entfaltet George wie im unentschiedenen Verhältnis von Inspiriertem und Inspirationsmacht am Beginn des Werks ein komplexes Rollenspiel, in diesem Fall mit den Positionen des Dichters, des Gottes und der Gemeinde. Die Positionen wechseln permanent, und vor allem das „Ich“ der Gedichte verschiebt sich ständig.543 Wieder also stellt sich die Frage nach der Einheit des Unterschiedenen, und wieder wird „Deutung“ als Lesehaltung durch diesen „wechsel“, der ein „gleiches“ ist, abgewiesen: „Die ihr mir folgt und fragend mich umringt / Mehr deutet nicht! ihr habt nur mich durch ihn! / […] Lasst was verhüllt ist: senkt das haupt mir mir: / ‚O Retter‘ in des dunklen grauens wind“ (GW 8, 14). Anstelle des ‚Deutens‘ wird der Vollzug des ‚Lesens‘ als solcher empfohlen. Das Senken des Hauptes führt daher auf ein durch Anführungszeichen markiertes Zitat, mithin symbolisch auf eine direkte Rede, tatsächlich aber aufs Papier der Druckseite. George setzt die Stimme in Anführungszeichen, um auf ihre Schriftlichkeit aufmerksam zu machen. Er provoziert dadurch eine Zwei-Seiten-Beobachtung, die von der instantanen Aktualisierung in die mediale Fixierung umkippt und umgekehrt. Lesen als Vollzug im Unterschied zum Lesen als ‚Deutung‘ rechnet mit einem enttäuschungsresistenten Beobachter, der sich vom „dröhnen der heiligen stimme“ anziehen läßt, ohne daß es ihn nachhaltig frustriert, wenn die Aussagegehalte sich kaum konkretisieren lassen. Oder anders: Die Frustration des Deutungsverlangens und die Irritation von Sinnbegehren entfaltet sich in der Zeit, und zwar in Form einer mehrfach wiederholten Lektüre. Ludwig Thormaelen erinnert sich an die entsprechende Lektüre des Stern des Bundes: Nun hatten wir dieses Buch in der Hand. Wir hatten wohl einen Teil der Gedichte wiederholt gehört und durch das Hören die ganze Wucht, Unerbittlichkeit und
_____________ 543 Blasberg: „Auslegung muß sein“, S. 28.
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Kühnheit, den Atem, das Ausladende, das Magische, das unerhört Neue und Fordernde, das Richtende und Rufende, das Urteilende und Beschwörende begriffen. Wohl waren die Einzelheiten der Gedanken und Sinnbilder, des Baues und der Ordnung durch das Hören schnell aufgefaßt worden. Aber auch jetzt noch, wo wir das Buch in der Hand hatten, blieben uns Teile in ihrem Gesamt und ihrem Sinn verborgen, bis in wiederholtem Lesen und Wiederhören die Tiefe des dichterischen Raumes und die Vielfalt und Weite des Gedankenbaus nach und nach erst in Jahren sich ganz erschloß. […] Es ist ein merkwürdiges Ding um das erste Erleben und Auffassen eines ursprunghaften und leidenschaftlichen dichterischen Werkes […] wo das Wort und Wortgefüge zunächst als Klang dröhnt und schwingt […].544
Wie bei Gundolf ist auch bei Thormaelen von einem „Raum“ der Poesie die Rede. Diese Topographie des Dichterischen fügt sich ins ‚Bild‘ vom Schreiben als einer Geste der Liminalität (6.1 a). Seine letzte Transformation erfährt es in der Idee des „Neuen Reichs“, das Georges letztem Gedichtband den Namen gegeben hat.545 Die Beobachtung des „Neuen Reichs“ wirft dieselben Wahrnehmungsprobleme auf und fordert dieselben Wahrnehmungskompetenzen ein wie die anderen Ansichten des „gleichen“ im „wechsel“. In Ernst Kantorowicz’ Vorlesung über Das Geheime Deutschland am 14. November 1933 heißt es dazu: […] ein solches geheimes Reich, das niemals da war und doch ewig ist, erschliesst sich so wenig wie die Mysterien einem Jeden. Aber wer Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, der weiss, dass fast zu allen Zeiten, seit es ein „Deutsches“ im emphatischen Sinne des Wortes gab, bis zum heutigen Tag unabhängig von dem jeweiligen Zustand, der jeweiligen Verfassung des Reichs immer noch ein andres Deutschland gewesen ist, welchem jenseits des öffentlich sichtbar gewordenen Reiches Wesen und Leben beschieden war.546
Der Terminus ‚Werkpolitik‘ bekommt hier eine wörtliche Bedeutung.547 Georges vorweggenommener Kommentar dazu war der Lied-Zyklus, den er ans Ende seiner Gedichte im Neuen Reich gestellt hat (6.4 c). Die sichtbare Unsichtbarkeit und unsichtbare Sichtbarkeit seines ‚Reichs‘ wird parallel dazu im Auftrag Georges von Friedrich Wolters verkündet und nachfolgend von den ‚Erben‘ verwaltet. Diese konzertierte Aktion hat den Vorwurf zu bewältigen, „dass“, wie es in Georges Geheimes Deutschland heißt, „was meist heut euch wert dünkt / Faules laub ist im herbstwind / Endes- und todesbereich“. Demzufolge muß George sein Werk so präsentieren, daß es unzeitgemäß wirkt und dennoch bewahrenswert erscheint: „Nur was im schützenden schlaf / Wo noch kein taster es spürt / Lang in tiefinnerstem schacht / Weihlicher erde noch ruht – / Wunder _____________ 544 545 546 547
Thormaelen: Erinnerungen an Stefan George, S. 106f. Zu den Bedeutungsfacetten des Begriffs vgl. Groppe: Widerstand oder Anpassung? S. 77. Kantorowicz: Das Geheime Deutschland, S. 80. Zur politischen Dimension von Georges Wirkung vgl. Landfried: Stefan George.
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undeutbar für heut / Geschick wird des kommenden tages“ (GW 9, 49). Dieser Verwaltung des poetischen Geheimnisses, das die Zukunftsfähigkeit des Werks ausweist, gilt das abschließende Kapitel meiner Studie.
6.4 Die Poesie der Wissenschaft Im letzten Abschnitt habe ich die immanente Poetologie von Georges Gedichten nachvollzogen. Mit ihr vermittelt George dem Leser im Vollzug der Lektüre Anweisungen für adäquate Beobachtungshaltungen. Im Mittelpunkt stand dabei die mehrfach wiederholte Behauptung, George sei sich stets gleich geblieben, mithin das Problem der Selbstidentität als eines der Zentralprobleme von Werkpolitik (z. B. 3.3 c). Am Beispiel von „Komm in den totgesagten park und schau“ aus dem Jahr der Seele konnte man sehen, wie George die Wahrnehmung selbst auf den Prüfstand stellt, wie genau er vor diesem Hintergrund die Literaturgeschichte seiner Zeit mustert, deren Versatzstücke gegenwendig nutzt und mit dieser Wendung bis in die Materialität seines Werks hinein Aufmerksamkeit beansprucht (6.3 a). Das Vorspiel zum Teppich des Lebens variiert lebensphilosophisch diese performative Werkpolitik (6.3 b), und Der Teppich bezieht sie auf die Vorgabe einer selektionslosen Aufmerksamkeit, die sich in einer Ästhetik des „gebildes“ künstlerisch umsetzt (6.3 c). Die Invektiven der Zeitgedichte und die offensichtlichen Paradoxien der MaximinGedichte im Siebenten Ring und im Stern des Bundes legen die Vermutung nahe, daß Georges werkpolitische Strategien letztlich wenig erfolgreich waren (6.3 d u. e). An diesem Punkt setzt die Werkpolitik rund um die Gesamt-Ausgabe, also rund um die Ausgabe letzter Hand ein. Mit ihr gibt George unterschiedliche Perspektiven auf sein Werk vor, die in ihrer Multiperspektivität auf die Probleme der Einheit des Unterschiedenen aufmerksam machen. Dies gilt für Morwitz’ Kommentar, für die editorische Nachbehandlung der Ausgabe letzter Hand, für das Projekt einer George-Ikonographie, das die ‚Erben‘ untereinander verhandeln, oder für die Musealisierung des Nachlasses, der eine umfassende Beobachtung Georges anzeigt (6.4 a). Und dies gilt schließlich insbesondere für Friedrich Wolters’ ‚Blättergeschichte‘, die wie Cramers Klopstock-Buch die Wege der künftigen Forschung vorzeichnet (5.2). Wolters zeigt exemplarisch die Bereitschaft zum permanenten Mißtrauen gegen sich selbst, und dies unter genauer Kontrolle sowohl Georges als auch der zeitgenössischen Philologie und Literaturwissenschaft (6.4 b). Georges Gesamt-Ausgabe ist Ausgangs- und Zielpunkt dieser werkpolitischen Begleitmaßnahmen. Bei aller Wissenschaftskritik Georges sind die akademisch institutionalisierten und habitualisier-
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ten Aushalte- und Aufmerksamkeitsstrukturen dabei vorbildlich. Die Gesamt-Ausgabe erscheint, gerade auch in der Verlagspräsentation, als Test auf die Fähigkeit, im Unterschiedenen das Gleiche zu sehen, die Aufmerksamkeit zu intensivieren und sie gleichsam am Leitfaden dieser Zentrierung auszuweiten. Die Verkörperung und letzte poetische Entfaltung dieser Werkpolitik ist der Lied-Zyklus, das Finale von Georges ‚letztem‘ Gedichtband (6.4 c). a) Das Begleitprogramm der Gesamt-Ausgabe: Edition, Kommentar, Ikonographie Zum Begleitprogramm von Georges Gesamt-Ausgabe gehören mindestens vier Projekte, die von George zum Teil direkt angeregt und überwacht, zum Teil in dessen Namen geplant wurden: zum einen die ‚Blättergeschichte‘ von Friedrich Wolters (6.4 b), zum zweiten der Kommentar zu Georges Gedichten von Ernst Morwitz, zum dritten die Überlegungen der ‚Erben‘ Robert Boehringer, Franz Mehnert und Berthold von Stauffenberg zu einer „Ikonographie“ Georges und viertens deren Unternehmungen, den Nachlaß Georges auf eine umfassende und systematische Art zu sichern.548 Hierzu nur einige wenige Bemerkungen, um die Position von Wolters’ ‚Blättergeschichte‘ genauer bestimmen zu können: Morwitz’ Die Dichtung Stefan Georges wird zwar mit dem Erscheinungsdatum 1934 als letztes mit dem Blätter-Signet ausgezeichnetes Werk im Verlag der Blätter für die Kunst veröffentlicht, ist aber bereits am 14. November 1933 auf dem Markt, „wenige Tage vor[ ]“ dem Tod Georges,549 der den Kommentar auch noch durchsehen und korrigieren konnte.550 Bereits das Paratextzeremoniell markiert den Ort des Kommentars im Ensemble des Gesamt-Ausgaben-Projekts: Auf der letzten Seite des Buchs wird für Georges Gesamt-Ausgabe geworben; der Einband des Kommentars in weinrotes Leinen mit Goldaufprägung ähnelt dem lilafarbenen Einband des Siebenten Rings als der wichtigsten Gelenkstelle und Interpretationsvorgabe für die Werkwahrnehmung; das Goethe-Motto legt die Meßlatte auf und deutet die methodische Ausrichtung an, die durch die handschriftliche Widmung Morwitz’ vom Dezember 1933 im _____________ 548 Vgl. zur philologischen und literaturwissenschaftlichen George-Rezeption nach 1933 unter politischen Aspekten: Petrow: Der Dichter als Führer? S. 46ff., 190ff.; zur Diskussion der ‚Erben‘ ebda., S. 160ff. 549 So nach einer anonymen Besprechung des Kommentars: Ein Stefan-George-Vademecum. In: Nationalzeitung Nr. 586. 17. Dez. 1933. 550 Seekamp u. a.: Stefan George, S. 387, 389; Helbing [d.i. Frommel]: Stefan George und Ernst Morwitz, S. 11; zu Morwitz vgl. Boehringer: Mein Bild von Stefan George, S. 139ff.
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Exemplar des Stefan-George-Archivs bestätigt wird: „Lest ihr ihn um den Stil – ich um sein Leben“. Damit freilich vereinseitigt Morwitz sein Vorgehen. Tatsächlich nämlich bietet er eine komplexe Betrachtung: Sein „Wissen“, so eine der ersten Besprechungen in der Nationalzeitung, „begründet [M]orwitz im Kleinen und im Grossen, im Einzelnen und im Ganzen mit philologischer George-Akribie und mit musisch beglaubigter Einfühlungskraft“.551 Entsprechend formuliert der Klappentext des Kommentars: Um einem Bedürfnis der Heutigen nachzukommen, denen das Verständnis durch Fehlen des Zeitabstandes vielfach erschwert ist, entnimmt der Verfasser, der seit mehreren Jahrzehnten zu dem Kreis Stefan Georges gehört, den einzelnen Gedichten das Bild der Lebenshaltung dieses Dichters. Zugleich wird der Weg der dichterischen Entwicklung vom Kunsttechnischen her verfolgt und der Inhalt der Gedichte erläutert, so dass hier – in der Form einer inneren Biographie – DER ERSTE KOMMENTAR zu der gesamten Dichtung Stefan Georges vorliegt.552
‚Philologie‘ und ‚musische Einfühlungskraft‘ verbinden sich im Projekt, durch die gezielte Distanzierung („Zeitabstand[ ]“), Georges Werk den „Heutigen“ verständlich zu machen. Kompetent dazu ist derjenige, der Zeit in den Dichter investiert („seit mehreren Jahrzehnten“) und sich in die „Lebenshaltung“ des Dichters einschwingt. Dieser Leser kann den Gedichten die Formen des Lebens unter Vernachlässigung anekdotischer Inhalte ablesen. Wieder lassen sich ‚Leben‘ und ‚Lesen‘ ineinander übersetzen (6.4 b): Die Entzifferung der „Lebenshaltung“ des Dichters hat die Übertragung dieser „Lebenshaltung“ des Produzenten auf die ‚Lesehaltung‘ des Rezipienten zur Voraussetzung. Eben diese Transferleistung wird durch Wolters ‚Blättergeschichte‘ angeregt. Der hintere Klappentext des Kommentars wirbt daher für Stefan George und die Blätter für die Kunst und charakterisiert die ‚Blättergeschichte‘ im Verhältnis zu dem bis dorthin wohl bekanntesten Buch über George: Wer vom Literarischen und Geistigen den Zugang zu einer dichterischern Gestalt zu finden weiss, wird in Gundolfs erschöpfender Deutungsarbeit ein Forschen begrüssen, das an seinem Gegenstande zu unerhörter Neuigkeit und Präzision gereift ist. Wer aber den Dichter in lebendiger Wechselwirkung mit den Menschen seiner Zeit erblicken möchte, wer die befreiende Tat des herrscherlichen Menschen sucht, Liebe und Opfer der Freunde und Jünger, Hass und Abwehr der widerstrebenden Zeit, wird sich Friedrich Wolters zum Führer wählen.553
Man müßte Wolters’ ‚Blättergeschichte‘ somit auch als Konkurrenzunternehmen zu Gundolfs George verstehen. Insbesondere Bondi ruft Wolters immer wieder seinen literaturwissenschaftlichen Erfolgsautor ins Bewußt_____________ 551 Nationalzeitung Nr. 586. 17. Dez. 1933. 552 Morwitz: Die Dichtung Stefan Georges, unpag. (vorderer Klappentext). 553 Morwitz: Die Dichtung Stefan Georges, unpag. (hinterer Klappentext).
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sein, etwa am 30. Januar 1926, an dem er Wolters auf die Bedeutung des „Gundolf-Heft[s] des Euphorion“ hinweist,554 oder am 1. März 1928, an dem er Wolters daran erinnert, daß Gundolf sich Materialien zur ‚Blättergeschichte‘ ebenfalls durchsehen will555 – Wolters arbeitet unter virtueller Doppelbeobachtung durch George und durch Gundolf, durch die Poesie und die Literaturwissenschaft. Der zitierte kurze Klappentext zu Morwitz’ Kommentar charakterisiert darüber hinaus eine wissenschaftshistorische Situation, in der unterschiedliche Methoden gleichberechtigt nebeneinander stehen, die also, wie George das in den Zeitgedichten oder in seinen Maximin-Gedichten fordert, im Gleichen das Unterschiedenen zu sehen vermögen (6.4 c). Noch deutlicher auf der markierten Linie aber liegt der Kommentar, weil er mit „Ehrfurcht“ das als „Geheimnis“ bewahrt, „was Geheimnis bleiben muß“, und weil er in den „Mittelpunkt der Darstellung […] naturgemäß Georges Hauptwerk ‚Der Siebente Ring‘“ stellt, „in dem George bewußt den Schritt vom Sänger reiner Schönheit und heiligen naturnahen Lebens zum Seher, völkischen Erneuerer und Mythenbilder unternimmt“ – tatsächlich entfallen 40 der 180 Seiten von Morwitz’ Kommentar auf den Siebenten Ring. Kurz: Der Kommentar, so vermuten die Leser zu Recht, ist „sicher mit Georges Wissen und Einwilligung geschrieben“ worden.556 Dies heißt indes nicht, daß damit das letzte Wort zur Dichtung Stefan Georges geschrieben sein muß. Zwar rechnen die Leser wegen des Blätter-Signets damit, daß Morwitz’ Kommentar wie die Bücher von Gundolf und Wolters zu George und seinem Werk nicht „ohne Zustimmung des Dichters erschienen sind“. Aber: Mehr zu vermuten, daß in ihnen eine vom Dichter selbst gewünschte Auslegung seines Werkes und vor allem eine ein für allemal endgültige Auslegung zu finden sei, wäre wohl vorschnell und würde dem tiefen, wissenden Blick des Dichters nicht gerecht, den uns so viele Worte aus seinen Dichtungen bezeugen. Obwohl er nie etwas hat verlauten lassen, wie er selbst zu jenen Arbeiten stehe, wird man bei ihm eine Art großherziger Gelassenheit annehmen dürfen, mit der er die Wirkung seines Werks bei den Zeitgenossen beobachtet hat. Gewiß hat er jene Arbeiten aus dem Kreise gebilligt und ihrer Veröffentlichung zugestimmt, denn zu
_____________ 554 „Sehr geehrter Herr Professor! Ich weiss nicht genau, ob wir im Dezember über das Gundolf-Heft des Euphorion gesprochen haben, und ob Ihnen dieses Heft überhaupt bekannt ist. Falls Sie es nicht kennen sollten bin ich gern bereit es Ihnen zu leihen. Schon die Tatsache dass ein solches Heft über Gundolfs George veranstaltet worden ist scheint mir von Bedeutung zu sein“ (SGA, Wolters III, 1433). 555 „Sehr geehrter Herr Professor! Die gesandten Besprechungen waren zwar Duplikate; trotzdem hätte ich den Aufsatz der Kreuzzeitung sehr gern zurück, da Gundolf und auch andere ihn gern lesen wollten. Von den andern Kritiken bitte ich diejenigen zurückzusenden, die für Sie keinen Wert haben“ (SGA, Wolters III, 1438). 556 Edward Jaime-Liebig: „Die Dichtung Stefan Georges“. Zu einem Buch von Ernst Morwitz. In: Hannoverscher Kurier Nr. 96, 27. Februar 1934.
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der Zeit, da sie erscheinen mochten sie wohl eine gewisse Stufe der Wirkung anzeigen, die das dichterische Werk gerade erreicht hatte oder vielleicht erreichen sollte.557
Man sieht an diesen wenigen Reaktionen sehr gut, wie die literaturwissenschaftliche Perspektive der Geistesgeschichte, die das Bewußtsein von (Selbst-)Historizität mit der Anerkennung von Multiperspektivismus verbindet, die literaturkritischen Perspektiven infiltriert. Eben diese Haltung, in der sich der Wille zur stabilen Vermittlung und Traditionsbewahrung mit dem methodisch forcierten Wissen um die dabei entstehenden Probleme paart (6.4 c), prägt auch die Diskussion zwischen Robert Boehringer, Frank Mehnert und Berthold von Stauffenberg um die Verwaltung des Nachlasses und um eine zu gründende Stefan-George-Stiftung.558 Die literaturwissenschaftliche Behandlung des Werks ist für sie eine der wichtigsten Umwelten des Literatursystems, und zwar gerade unter Zeitaspekten. Man sieht dies bereits an der Abneigung des Kreises gegen den Plan, die Prosastücke Georges aus den Blättern für die Kunst zu isolieren und zu edieren: „In 50 jahren kann sich die philologie ja weiter bemühen“.559 Daß Boehringer, Mehnert und Stauffenberg unter Beobachtung der Philologie agieren, muß indes nicht verwundern, da sie ja tatsächlich als George-Editoren auftreten. Dies gilt zum einen für die Zusammenstellung des von Georges sogenannten „Schlussbands“ der Gesamt-Ausgabe 560, der nach dem Tod des Autors erscheint und von diesem nicht mehr mit ‚letzter Hand‘ in den Druck gegeben werden konnte, und zum anderen für die zweite (bzw. dritte) Auflage der Bände der Gesamt-Ausgabe in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre. Bisweilen kann bei der Korrektur der ersten Auflage der Gesamt-Ausgabe auf die Erstausgabe des betreffenden Werks zurückgegriffen werden.561 Vielfach werden aber auch lediglich erinnerte Hinweise Georges zur Geltung gebracht, etwa „für den fall eines neudrucks des N. Reichs“. Mehnert referiert Boehringer eine entsprechende Notiz Albrecht von Blumenthals: „‚D.M. hat einmal gerügt dass im anhang des N.R. (für den ich (Alb) nicht verantwortlich bin) der hinweis _____________ 557 Eduard Lachmann: Ueber Stefan George. In: Literaturblatt der Frankfurter Zeitung 68, Nr. 22, 2. Juni 1935, S. 21. 558 Vgl. dazu Groppe: Die Macht der Bildung, S. 675. 559 Robert Boehringer zitiert diesen Passus am 18. Januar 1937 im Brief an Berthold von Stauffenberg und Frank Mehnert, und zwar aus einem Brief von E. G. in bezug auf das Editionsprojekt von Wilhelm Farenholtz (SGA, Erben III, 1521). Boehringer verweist Fahrenholtz auf die Vorrede zu Tage und Taten sowie zum 13. Band der Gesamt-Ausgabe, wo George selbst sich bereits zum Problem der Verfasseridentifikation geäußert hatte (Brief vom 14. Februar 1937; SGA, Erben III, 1525a). 560 So Boehringer an Bondi in einem Brief vom April 1934 (SGA, B. Stauffenberg III, 1425a). 561 Vgl. dazu die Korrekturlisten zum Jahr der Seele: SGA; Erben II, 1378a u. Erben III, 1613a.
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fehle dass in Hyp. I und II gegenüber dem blätter druck zusätze sind […]“.562 Blumenthal selbst hat dies allerdings etwas drastischer formuliert: „D.M. hat ausdrücklich getadelt dass die Kröte [d.i. Max Kommerell, S.M.] versäumte den verszuwachs in den Hyperiongedichten anzugeben“.563 Die Fassung des ‚Anhangs‘ der ersten Auflage des Neuen Reichs von 1928 wird in der zweiten Auflage von 1937 entsprechend geändert. Ein anderer Fall betrifft mit Goethe-Tag eines der wichtigsten Gedichte des Siebenten Rings, wo Blumenthal Mehnert auf ein fehlendes Hochkomma hinweist: „Seit solcher frist · diese einzusetzende interpunction ist ausdrückliche anweisung D.M’s gelegentlich einer fehl-lesung des schreibenden“. Auch dies wird in der zweiten Auflage des Siebenten Rings von 1941 entsprechend geändert.564 Freilich müssen die ‚Erben‘ erkennen, daß auch die philologische Sicherung das Werk nicht vor den Reflexionen der Kritik bewahrt: „es gibt doch keinen wahnsinn und keinen druckfehler“, so Mehnert an Stauffenberg am 6. November 1940, „der nicht leidenschaftliche verfechter fände!“565 Im Hintergrund steht die Auseinandersetzung darüber, ob es in Herbergen in der Au am Ende „tönend weh“ wie in der ersten Auflage der Gesamt-Ausgabe (GA 6, 204) oder „tötend weh“ wie in der Erstausgabe des Siebenten Rings heißen muß. Angesichts dieses gravierenden Problems sehen die George-Editoren „schon die künftigen parteiungen und spaltungen voraus: hie tönend! hie tötend!“566 In derselben Zeit, in der die Editoren beschließen müssen, was die ‚letzte Hand‘ Georges eigentlich bedeutet und in der sie – wie man mit Klopstock sagen könnte (4.1.3 a) – eine Ausgabe des „letzten Fingers“ herstellen, keimt auch die Diskussion um die Erhaltung des StefanGeorge-Hauses in Bingen wieder auf.567 Bereits 1927 hatte die Stadt Bingen die Straße, in der Georges Elternhaus stand, in „Stefan-GeorgeStraße“ umbenannt, an dem Gebäude eine Gedenktafel angebracht und mit der Anschaffung der Bücher Georges begonnen.568 Zwar schreibt Boehringer an Mehnert und Stauffenberg am 8. Juli 1938: _____________ 562 Brief vom 16. Februar 1937; SGA, Erben II, 1332. 563 An Mehnert am 31. Dezember 1938; SGA, Erben III, 1112; vgl. hierzu auch SGA, Erben II, 5004 (Berthold von Stauffenberg an Boehringer, 18. Februar 1937) und SGA, Erben III, 1102 (18. Februar 1937, Albrecht Blumenthal an Frank Mehnert). 564 Brief vom 1. November 1939; SGA, Erben III, 1113 (vgl. dazu GA VI, 11). Vgl. auch zu An Ernst (GA VI, 195): „Der punkt am ende der seite den E. vermisst müsste wohl eingesezt werden“ (Mehnert an Boehringer am 16. Februar 1937; SGA, Erben II, 1332). 565 SGA, Erben II, 2601. 566 SGA, Erben II, 2602. 567 Vgl. dazu Petrow: Der Dichter als Führer? S. 184ff. 568 Tilger: Das Elternhaus Stefan Georges, S. 9.
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Wiederholt hatte ich d.M. vorgeschlagen im Binger haus alles zu sammeln und zu bewahren: nie fand ich ihn geneigt dazu. In den Freunden wollte er weiterleben, aber nicht in einem St G Haus in Bingen. Selbst wenn eines Tages der literarische nachlass an die öffentliche hand käme, so fragt sich, wo er wirken kann, und wo das ist, wissen wir noch nicht.569
Dies könnte indes auch Boehringers spezifische Perspektive auf George sein, die – wie sich im folgenden noch zeigen wird – gegen die schlichte Monumentalisierung und Musealisierung Georges opponiert. Weiterhin scheint das Projekt wesentlich dadurch für die ‚Erben‘ wichtig zu werden, weil sie damit Georges Schwester unterstützen wollten.570 Die werkpolitische Bedeutung der Versuche, das George-Haus zu sichern, liegt darin, daß George Bingen und die Bingener Umgebung mit der Aura seines Früh- und Jugendwerks codiert hat. Im Rahmen der Diskussion um die endgültige Übernahme des Hauses durch die Stadt, in der 1938 Einigung erzielt wurde und die 1940 erfolgt,571 macht Boehringer sich an die Sicherung des beweglichen, insbesondere des schriftlichen Nachlasses.572 Er bittet Mehnert daher, einen Stempel mit dem Aufdruck „STEFAN GEORGE ARCHIV“ zu bestellen und in alle „bücher und papiere“ zu setzen, „die dem Archiv gehören“, um auf diese Weise Fakten zu schaffen.573 In diesem Zusammenhang gewinnt auch der Plan an Kontur, „Briefe und Handschriften“ systematisch zu erwerben, und zwar, was an dieser Stelle entscheidend ist, „dem Wolters buch folgend“574 – in der ‚Blättergeschichte‘ waren die Wege vorgezeichnet, der die archivalische Recherche nun zu folgen hatte. Am 22. Juli 1938 schreibt Boehringer an Mehnert und Stauffenberg: Von uns aus gesehen, möchte ich in unserer verwaltung alles das behalten, womit man arbeitet. Um bei Franks vergleich zu bleiben: das was im Goethe-Schiller Archiv ist, sollte uns bleiben: manuscripte, briefe und literatur, die man zur arbeit braucht.575
Nur nebenbei sei bemerkt, daß die ‚Erben‘ dem „Wolters buch“ auch noch insofern folgten, als von Mehnert Notizen und Entwürfe zu einer _____________ 569 570 571 572
SGA, Erben III, 1589. Petrow: Der Dichter als Führer? S. 187. Tilger: Das Elternhaus Stefan Georges, S. 12ff. Bereits 1933 soll Morwitz in seinem Auftrag einen „Rekonstruktionsplan des blauen Zimmers“ im Elternhaus erstellen, um es bei Bedarf wieder authentisch rekonstruieren zu können (Petrow: Der Dichter als Führer? S. 161). 573 Brief vom 25. Januar 1938; SGA, Erben III, 1554. 574 Brief vom 13. Februar 1938; SGA, Erben III, 1555. 575 SGA, Erben III, 1592. Vgl. auch ausführlicher zu dem, was dem „Museum“ bleiben und was den ‚Erben’ zukommen soll: SGA, Erben III, 1597a (hier auch zur nur scheinbaren Authentizität der Räumlichkeiten, denn: „[…] die ganze Ausstattung des Arbeitszimmers ist notwendig an sich künstlich. Weder ist es das wahre Zimmer noch hat es jemals d.M. so in Gebrauch gehabt oder hinterlassen […]“).
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George-Darstellung erhalten sind.576 Neben dem Aufbauschema liegen die Entwürfe zu einer Einleitung vor, die bemerkenswerterweise mit einer Reihe programmatischer Zitate vor allem Nietzsches gespickt sind, weiterhin Entwürfe zur Darstellung der „Person“, zum „Staat“ und zur Außenwirkung bei „Pfaffen“ und „Christen“ sowie Rudimente einer Art kommentierter „Bibliografie“. Es wäre wohl eine Monographie durchaus im Sinne von Georges Wahrnehmungskritik in den Zeitgedichten geworden, denn die Darstellung fußt auf den Grundsätzen des Perspektivismus und der dadurch je spezifischen Form von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit.577 Wie eng die Elemente des Begleitprogramms miteinander verzahnt sind, sieht man auch daran, daß Mehnerts Entwürfen zum George-Buch ein Verzeichnis der Gegenstände im Bingener George-Haus sowie Vorschläge für eine „Ikonographie“ Georges beigelegt sind.578 Boehringer hatte seine Miterben auf die Expertenmeinung des Historikers Ernst Langlotz hingewiesen, derzufolge „alle fotografien mit der zeit verblassen und verloren gehen. Er empfahl deshalb alle in betracht kommenden zu bitten, dass sie uns bilder fuer kurze zeit ueberlassen, damit wir sie fotografieren und die platten aufbewahren koennen“.579 Daß Boehringer in dieser Zeit auf Erinnerungen von Zeitgenossen an die Jugend Georges hinweist,580 die im übrigen nicht zuletzt im Umfeld des 60. Geburtstags Georges und damit zum Start der Gesamt-Ausgabe erscheinen, deutet auf das vielschichtige Problem verblassender Erinnerung, von der im Fall der Fotografien wortwörtlich die Rede sein kann. Bereits 1934 jedenfalls hatte Wolfskehl an Boehringer gemeldet: „Bondi beabsichtigt, was Sie sicher längst wissen, ich durch einen gerade von ihm eingelaufenen Brief erfahre, ein ‚ikonographisches Werk‘, das die besten Bildnisse d.M. enthalten soll […]“.581 Allerdings wurde das Projekt nur wenig später fallen gelassen582 und erst nach zwei Jahren wieder aufgegriffen. Am 31. Januar 1936 erwähnt Mehnert einen „Bildnisband“ zu Stefan George, den der Bondi_____________ 576 SGA, Erben I, 111. 577 Im Kapitel „Person“ erklärt Mehnert dazu: „Die grosse verschiedenheit der aussagen rührt davon her dass das wahrgenommene abhängt von der weite des blickfeldes jedes einzelnen. von seiner geistigen herkunft. der richtung seiner kräfte .. demgemäß musste sich auch das bild mit den wandlungen des werkgeistes wandeln – doch er blieb sich wandelnd der gleiche“ (SGA, Erben I, 111). 578 SGA, Erben I, 111a u. 112; vgl. dazu auch bei Petrow: Der Dichter als Führer? S. 164ff. 579 Brief vom 7. Mai 1934; SGA, Erben III, 1427. 580 So im Brief vom 7. September 1934 über „H. Werners Erinnerungen an die Gymnasiastenzeit ds Ms“ im „neuesten heft des Philologen Blattes“ (SGA, Erben III, 1442). 581 Brief vom 23. Februar 1934; SGA, Erben III, 1409a. 582 Boehringer an Stauffenberg und Mehnert am 22. März 1934: Bondi habe gestern Wolfskehl geschrieben, „dass die Ikonographie zunächst unterbleiben werde“ (SGA, Erben III, 1416).
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Erbe Helmut Küpper583 sich als eine „möglichst endgültige Sammlung“ wünschte, „selbst wenn dies die Publikation auch noch um längere Zeit hinausschieben würde“.584 Küpper behielt zumindest teilweise recht: Erst 1951 realisiert Boehringer seine Bildsammlung, die er 1969 zum 100. Geburtstag „d.M.“ im zweiten Band von Mein Bild von Stefan George erweitert. Aufschlußreich für die Werkpolitik, die die George-Erben im Geiste des ‚Meisters‘ praktizieren wollten, ist der Streit um die Kriterien der Bildauswahl. Wolfskehl hatte in dem bereits zitierten Brief an Boehringer die Konfliktlinie vorgegeben, als er fragte, „ob, wie ich freilich annehme, nur an wirkliche Bildnisse gedacht wird, oder auch an zufällige Aufnahmen“.585 So zielt Mehnert darauf, „eine geschlossenere und einheitlichere reihe zu bekommen“ und sortiert daher „einige aufnahmen, so schön sie als situationsbilder waren“, aus, weil sie auf ihn „zu momenthaft“ wirken. Zudem soll die Auswahl auf George als Motiv selbst begrenzt sein, der „Kreis“ ausgeschlossen bleiben. „Es wäre ja auch einmal ein schöner bilderband denkbar in der art wie es einen gibt von ‚goethe und seiner welt‘. aber die zeit ist dafür vielleicht noch nicht gekommen“.586 Mehnert und Stauffenberg verfolgen also das Programm einer schlichten Monumentalisierung des Autors. Und auch Boehringer hatte dieses Programm vertreten, als es um die Frage der Bebilderung des Schlussbandes der GesamtAusgabe ging, damals allerdings gegen Mehnert und Stauffenberg: Dass die [Toten-]Maske nicht in dem [Schluss-]Band reproduziert wird, bedaure ich sehr, zumal ich nicht glaube, dass eine derart würdige Gelegenheit zur Veröffentlichung jemals wiederkommt. Jetzt nach dem Tode ein Lebend-Bild im Rahmen der Gesamtausgabe, noch dazu in einem Band, in dem nichts aus letzter Zeit steht, zu bringen, scheint mir völlig unmöglich. Da es sich ausserdem noch um ein Gelegenheitsbild handeln müsste, ist darauf hinzuweisen, dass d.M. ganz bewusst Reproduktionen von Gelegenheitsbildern als zu persönlich vermieden hat. Leicht könnte der Eindruck entstehen, als handle es sich mehr um eine Ehrung des Fotographen als des Fotographierten! Wenn also die Maske deswegen nicht kommt weil – naturgemäss – d.M. nichts derartiges bestimmt hat, so darf m.E. auch kein Lebendbild jetzt mehr kommen.587
_____________ 583 584 585 586
Boehringer: Mein Bild von Stefan George, S. 82. Brief an Boehringer (SGA, Erben II, 1318). Brief vom 23. Februar 1934; SGA, Erben III, 1409a. Undatierter Brief; SGA, Erben II, 1322; ausführlich dazu auch Stauffenberg an Boehringer am 22. Feb. 1938 (SGA, Erben II, 5006) und am 24. Februar 1938 (SGA, Erben II, 5007). 587 Boehringer an Stauffenberg und Mehnert am 6. April 1934; SGA, Erben III, 1421. Vgl. auch den Brief vom 12. April 1934: „Dagegen komm ich von der Maske nicht los: Richtig ist, dass dieses mächtige Bildnis noch eine Bestätigung des Lebens ist. Es ist gewaltig und erhaben; die Photographie, die wir in Minusio ausgesucht hatten, wiegt leicht dagegen. Insofern wäre wohl mehr im Sinne des Meisters, wenn die Maske in den Schlussband käme. Sie wirkt als Kultbild“ (SGA, Erben III, 1423).
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Konzeptionell ist dies bemerkenswert, weil Boehringer an dieser Stelle dafür plädiert, den lebensgeschichtlichen Anfang, der mit der Auswahl an Juvenilia im Schlussband präsentiert wird, und das lebensgeschichtliche Ende, den die Totenmaske präsentiert, zusammenzuschließen. Tatsächlich erscheint der Schlussband dann auch ohne Bild. An dieser Stelle kommt es allerdings auf die Neuorientierung Boehringers in der Auseinandersetzung um den Bildband an. Hier vertritt er eine wesentlich interessantere Position und setzt Georges Wahrnehmungskritik angemessen um. Am 10. Februar 1937 schreibt er an Stauffenberg und Mehnert: Sie sehen, meine auswahl wäre mannigfaltiger und weniger anspruchsvoll. Der Probeband [von Mehnert, S.M.] ist strenger, einheitlicher. Aber gerade da liegt meine hemmung gegen den probeband, ja gegen den Bildnisband überhaupt. Fotografie ist naturalismus. Auch die sorgfältigste auswahl schafft das nicht weg. Ja ich empfinde den widerspruch erst recht, wenn auswahl und format stil suchen wie im probeband. Darum suchte ich nun durch grössere anzahl und verschiedene formate auszudrücken, dass eben nur eine sammlung von fotografien geboten sei. Aber freilich: dies bleibt nicht-kunst. Immer fehlt der schutz mit dem das kunstwerk die person umgibt. Allerdings waren längst schon fotografien zu haben, und in der gesamtausgabe sind auch welche.588
Boehringer, der im übrigen ‚sein Bild von George‘ editorisch und mit analoger methodischer Ausrichtung in der Herausgabe des GeorgeHofmannsthal-Briefwechsels festzuhalten versucht589, setzt im Medienwechsel die Naturalismus-Kritik Georges fort. Zugleich geht er damit in die Offensive gegen die im Lauf der 1930er Jahre sich verschärfende George-Kritik.590 Hinzuzufügen bleibt lediglich: In Wolters ‚Blättergeschichte‘ „sind auch welche“, und zwar sekundiert von einer kleinen Theorie der Fotografie, die derjenigen Boehringers korrespondiert. Denn die Entscheidung für eine Fotografie im Maximin-Gedenkbuch bedeutet Wolters zufolge, daß George ein „unkünstlerische[s]“ Verfahren nutzt und „eine lebende Gestalt in seiner vollen Unmittelbarkeit ins Werk“ einfügt, um dadurch den _____________ 588 SGA, B. Stauffenberg III, 1531. 589 Parallel zur Auseinandersetzung um die adäquate fotografische Repräsentation Georges setzt Boehringer sich mit Mehnert und Stauffenberg über die angemessene Edition des Hofmannsthal-George-Briefwechsels auseinander. Er wendet sich gegen die „klassizistische glättung“, die seine Briefpartner fordern, will das „bild“ Georges und Hofmannsthals nicht „retouchiren“ (SGA, B. Stauffenberg III, 1429; vgl. auch Erben III, 1592; zur Edition des Briefwechsels vgl. Petrow: Der Dichter als Führer? S. 172ff.). Vgl. in diesem Zusammenhang auch Boehringers ablehnende Haltung zu dem Plan einer George-Anthologie: „Gerade beim Werk St.G’s halte ich das Herausnehmen einzelner Gedichte für bedenklich […] eine grössere Auswahl [als die von Wolters’ George-Anthologie, S. M.] würde doch manchen in den Irrtum hineinführen, nicht weiter forschen zu müssen“ (Brief von Bondi vom 28. Januar 1934; zit. nach ebda., S. 162). 590 Petrow: Der Dichter als Führer? S. 177; vgl. zur Rezeption der Edition ebda., S. 181ff.
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„Bereich der Kunst“ zu verlassen.591 Während Maximin schon aufgrund seines Alters und seiner Göttlichkeit durch eine Fotografie eingefangen werden kann, bedarf es zur adäquaten fotografischen Repräsentation Georges eine Mehrzahl von Bildern, die ein temporalisiertes Bild entstehen lassen: Die Lichtbilder aus allen Lebensstufen, welche die Gesamtausgabe seiner Werke und der Verkauf früherer und jüngster Aufnahmen jetzt bekannt gemacht haben, bestätigen den augenhaften Eindruck der Zeitgenossen und lassen zugleich erkennen, wie die unverrückbaren Grundlinien im Laufe der Jahre aus zarten Anfängen immer stärker hervortraten und wie sich innerhalb ihres ehernen Rahmens die Runen des Lebens immer tiefer eingruben. […] wenn wir eine Reihe von Lichtbildern vom zwanzig- bis zum sechzigjährigen George betrachten, so sehen wir wie in einem Schicksalsbuche seinen Lebensweg in ihnen aufgezeichnet.592
Man könnte von einer Literarisierung des George-Bildes sprechen, und dies in jenem medientheoretischen Sinn, den Georges Werkpolitik und die von ihr geforderte Aufmerksamkeitsleistung anstreben: Wolters liest das fotografische „Schicksalsbuch[ ]“ Georges nämlich am Lineament der Physiognomie ab, an der „Rundung“, den „Linien“, den „Wölbungen“ und an der Farben des Körpers,593 kurz: an dem zum Buchstaben gewordenen Leib des Autors, der sich in allen Unterschieden doch gleich bleibt. Die ‚Blättergeschichte‘ hat ungefähr denselben Status wie Cramers Klopstock-Kommentar (5.2): Wolters bündelt in nuce Zugangsweisen zum Werk Georges, die an anderer Stelle entfaltet werden. Morwitz’ Kommentare weisen auf die Insuffizienz seiner Werkanalyse594; die Porträtfotografien sollen durch eine umfassende „Ikonographie“ ersetzt werden; und an die Stelle der Bilder des Elternhauses und der Erzählung von der Herkunft tritt ein George-Museum. Diese Beachtlichkeit des Autors und seines Werks und damit deren Sichtbarkeit, wie sie von Wolters im Auftrag Georges markiert wird, führt zu Standardwerken der George-Forschung, zur Philologie also, die die zweite Fassung des George-Kommentars und Boehringers Mein Bild von George bis heute benutzt.595 Die werkpolitische Konzeption, die zur Sicherung der Produkte, Bilder und Lebensspuren des Autors führen, und da_____________ 591 Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 320; in diese Richtung auch George / Gundolf: Briefwechsel, S. 236. Es geht also weder um Platonismus, noch um einen ‚naiven’ Zugang oder um Vorgänge der herrschaftlichen Selbststilisierung (Petrow: Der Dichter als Führer? S. 167f.), sondern um die traditionelle Beschreibung der Fotografie als eines Mediums der Selbstaufzeichnung von Natur. 592 Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 573f., 575. 593 Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 575. 594 Petrow: Der Dichter als Führer? 17f. 595 Robert Boehringer lobt Wolters’ ‚Blättergeschichte’ im übrigen überschwenglich (Briefe vom 24. Januar 1930, Wolters III, 1350, und vom 23. Februar 1930, Wolters III, 1351).
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mit die Philologisierung der Werkpolitik lassen sich anhand seines Entwurfs analysieren. b) Friedrich Wolters’ ‚Blättergeschichte‘ Wolters gehört zu den Kreismitgliedern, die ihre ganze Aufmerksamkeit George gewidmet haben und die von George durch gezielte Enttäuschungen, Irritationen und vor allem durch Aufmerksamkeitsentzug zur Steigerung ihrer Aufmerksamkeitsfähigkeit gebracht worden sind. Als Wolters beispielsweise im August 1923 „vier wochen nichts mehr“ von George hört „als die übermittlung eines schweren misstrauens durch Landmann als ob wir unbefugt dem aufenthaltsort des Meistes nachgespürt hätten“, sucht er den Fehler bei seiner mangelnden Beobachtungsgabe, und dies, obwohl er den Vorwurf für ungerechtfertigt hält. Es gilt: „Ich ehre auch das misstrauen des Meisters“. Diese Lernbereitschaft, die das Mißtrauen des „Meisters“ als Mißtrauen gegen sich selbst übernimmt, macht unscheinbare Details erkennbar, verweist auf die subkutanen Botschaften und verborgenen Winke: „Mein fehl lag wohl darin beim abschied einen unterton in Ihrer äusserung über die zukünftige adresse überhört zu haben aber nach so schwerem vorwurf hoffe ich auch darin achtsamer zu sein“.596 Wolters, der in der Forschung bislang vor allem als Gegenspieler Gundolfs und des Heidelberger Kreises sowie als ‚Staatspolitiker‘ unter den Georgeanern behandelt wird597, erweist sich auf diese Weise als Exempel für die Verfahren der Visibilisierung und Invisibilisierung, die Georges Werkpolitik provoziert. Dennoch bleibt verwunderlich, warum George gerade Wolters mit der ‚Blättergeschichte‘ beauftragt, denn der „Meister“ begegnet ihm nicht mit einer ungebrochenen Wertschätzung. Zeitlebens wird Wolters unter einer gewissen Distanz Georges leiden. Im Hintergrund steht ein Aufmerksamkeitsproblem: Für George bestand das Unvermögen Wolters darin, daß dieser „den Menschen nicht ansehe, was sie wirklich sind“ – er „sieht nicht oder er will nicht begreifen den Unterschied zwischen meinen und seinen eignen Schülern“.598 Man versteht daher den Zuschlag, den Wolters für den Auftrag zur ‚Blättergeschichte‘ _____________ 596 Brief vom 4. September 1923 (George / Wolters: Briefwechsel, S. 178). Vgl. zu den ‚Andeutungen’ Georges auch Boehringer: Mein Bild von Stefan George, S. 167. Zur religiösen Dimension im Verhältnis von Wolters zu George vgl. Philipp: Wandel und Glaube. 597 Am ausführlichsten bei Groppe: Die Macht der Bildung, S. 213ff., 242ff., 268ff., 283ff.; vgl. im Überblick Philipp: Einleitung; Boehringer: Mein Bild von Stefan George, S. 129ff. 598 Phillip: Einleitung, S. 39f.; Landmann: Gespräche mit Stefan George, S. 190 – hier auch weiter zu den Dingen, die „okkult“ bleiben müssen.
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erhält, besser, wenn man sich Wolters’ Herrschaft und Dienst ansieht. Mit dieser Schrift, die vermutlich unter Mitwirkung Georges entstanden ist,599 qualifiziert Wolters sich bei allen Vorbehalten Georges als Historiograph des Kreises, weil er darin mit traumwandlerischer Sicherheit die zentralen Momente von Georges Werkpolitik verarbeitet. Herrschaft und Dienst erscheint zunächst in einer Kurzfassung in den Blättern für die Kunst, dann als erster opulent ausgestatteter Band von Melchior Lechters Einhorn-Presse 1909 – am Beginn desselben Jahres erwähnt George die „Aufgabe, auf Grund seiner Dokumente eine Geschichte der Blätter für die Kunst zu schreiben“.600 Herrschaft und Dienst ist eine Programmschrift der werkpolitischen Visibilisierungsstrategien, wie das Vorwort zur Neuausgabe von 1920 sehr deutlich zeigt. Darin erklärt Wolters nicht umsonst Maximin zur Schaltstelle, von der aus Georges Werk zu verstehen ist: Von nun an vollzieht sich die Geistige Tat in einem unzerbrechlichen und dem ungeweihten nicht durchschaubaren ringe: der irdische kreislauf von Herrschaft und Dienst ist mit dem kreisstrom des ewigen geschehens so unlöslich verbunden, dass in leib und werk unscheidbar sich mischen und das aufblühende leben an ihnen sichtbar wird.601
Herrschaft und Dienst insgesamt besteht aus einer recht wüsten Mischung neu-platonischer, mystischer und nietzscheanischer Motive602, die mit einer prophetischen Geste ausgestreut werden. Bislang hat die Forschung keine genaue Rekonstruktion des Gedankengangs unternommen. Für den hier interessierenden Zusammenhang ist die Suada, die im ‚Kreis‘ zwar begeistert aufgenommen, aber kaum verstanden wurde603, aufschlußreich wegen der Konzepte, Gedankenfiguren und Bilder, mit denen Wolters Georges Bedeutung rekonstruiert. Bereits das Einleitungskapitel zum „Reich“ justiert die Wahrnehmung und fordert das Sehen des Unsichtbaren, und dies schlicht deswegen, weil das „Reich“ „nirgends sichtbar“ ist, sondern sich nur in den „spiegelungen der natürlichen dinge und ihrer seelischen bewegung“ findet. Entsprechend wechselt Wolters zu den Konzepten von Innerlichkeit, die zu den Visibilisierungsleistungen, Temporalisierungen und Perspektivierungen der Werkpolitik gehören. Diese traditionellen Elemente der Werkpolitik kombiniert er dann noch mit jenen Attraktionen und Aversionen einer elektrifizierten Welt, in die George sich von Anfang an eingeschrieben hat (6.1 d): Das „innere[ ] _____________ 599 600 601 602
Groppe: Die Macht der Bildung, S. 242. Tagebucheintrag von Vallentin vom 7. Januar 1909 (Gespräche mit Stefan George, S. 34). Wolters: Herrschaft und Dienst, S. 6. Dies gilt vor allem für eine Reminiszenz an die Geburt der Tragödie (Wolters: Herrschaft und Dienst, S. 27). 603 Philipp: Einleitung, S. 12.
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auge“ und der „innere[ ] finger“ finden zu den „ausströmenden kernen“, spüren den „umlauf einer geeinten fülle von kräften“.604 Der „Herrscher“ dieses „Reichs“ bleibt an sich ebenfalls unsichtbar. Sichtbar wird er in der dichterischen Arbeit (6.1 b), die Wolters dann auch verfolgt, und zwar in ihren „wesentlichen wenden und entwicklungen“605 von der Weihe der Hymnen bis zum Siebenten Ring. Er verweist auf das Innovationsbegehren des „Herrschers“, auf sein Scheitern und auf die Bewältigung dieses Scheiterns in der dichterischen Arbeit: […] die rüstzeuge, mit denen er sein Reich erschaffen muss, [fallen] nicht aus dem himmel […], sondern ihre erze [sind] in qualvoller arbeit aus den schächten seines blutes zu teufen […].606
Die Antriebskraft, die hinter dieser Arbeit im Bergwerk des Geistes steckt, bildet dabei „der ewige wille […] zum werk“.607 Kurz: Wolters entfaltet in mystischer Schau jene Leiden und jenen Werkzusammenhang, den George seinen Lesern als Lektüreaufgabe mit auf den Weg gegeben hatte (6.3 d), ohne das Werk in seiner Integrität durch „deutung“ zu gefährden.608 Die Energieleistung des Autors als „Herrscher“ korrespondiert der Energieleistung des Kommentars als Hymnus auf die Arbeit, auf das „ringen“, die „qualen“, die „schmerzen“ und auf den zu leistenden „verzicht“. Wolters macht darauf aufmerksam, daß das „werk“ nur entstehen konnte, indem der Autor sich gegen die größten Widerstände durchgesetzt hat (6.1 b). Ebenso entbehrungsreich, enttäuschungsresistent und enigmatisch, kurz: ebenso arbeitsförmig wie die dichterische Arbeit soll der Leseprozeß sein.609 Die arbeitsame Lektüre schiebt notwendigerweise das auf, was sie erreichen will, und motiviert damit durch Enttäuschung die Arbeit _____________ 604 Wolters: Herrschaft und Dienst, S. 7. Dieser Metaphorik der ‚Kräfte’, ‚Ströme’ und Energieübertragungen wiederum korrespondiert eine Metaphorik des Lichts: das „weisse[ ] licht“ des Ursprungs bricht sich an den Erscheinungen, „überwirft alles ruhende und geschehende mit seinem farbigen strahl“ (ebda., S. 8). 605 Wolters: Herrschaft und Dienst, S. 50. 606 Wolters: Herrschaft und Dienst, S. 14. 607 Wolters: Herrschaft und Dienst, S. 15. 608 „Wir wollen“, so Wolters bei der Vorstellung des Vorspiels zum Teppich des Lebens, nicht den näheren inhalt deuten, weil wir uns tief bewusst sind, dass die begriffe nicht einmal erläutern noch erzählen können, was im dichterischen bild und klang und maass beschlossen nur dem ergriffenen fühlbar wird, sondern wollen andeutend mit den lindesten finger diesen und jenen weg weisen, den wir selbst gingen“ (Herrschaft und Dienst, S. 33f.). 609 „Denn glaube den toren nicht, die im unerkannten nur unbekanntes sehen und alles mit genauen instrumenten und methoden zu enthüllen wähnen, noch den gelehrten, die im unerreichten nur das unerforschte sehen und über dem aufbau und ordnen des stoffes den formenden geist vergessen, sondern glaube, dass die steilsten berge vor deiner eigenen seele liegen, dass die erklimmung jeder stufe innerste arbeit braucht und manche letzte nur der gnade bleibt“ (Wolters: Herrschaft und Dienst, S. 37).
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neu. Daher gilt auch: Der „Herrscher“ selbst ist „das reinste urbild des Dienenden“.610 Die Selbstanregung der Schreib- und Lesearbeit hat dabei wie bei George einen medientheoretischen Kern: Das „wort“ an sich ist „vermittlung“, die „einheit“ daher lediglich der „stumme grund“.611 Freilich ist Wolters kein Dekonstruktivist avant la lettre. An anderer Stelle schwächt er die Mediatisierung des Wortes ab und beschränkt sie auf die Kommunikationsweisen, die sich nicht „im geschlossenen werk oder im lebendigen anhauch von mund zu mund“ vollziehen.612 Wolters hat sich durch Herrschaft und Dienst als Historiograph von Georges Werk und seiner Wirkung qualifiziert. Er hat gezeigt, daß er die Wahrnehmungskritik der Zeitgedichte registriert und verstanden hat (6.3 d), daß demzufolge die ‚Blättergeschichte‘ den „Werkgang“ rekonstruieren muß, und zwar als „Stationen des Leides und der Freude auf d[ ]em vor vierzig Jahren begonnenen Weg“.613 Die Vorbereitungen zur ‚Blättergeschichte‘ beginnen 1913, also bald nach dem Erscheinen von Herrschaft und Dienst:614 Wolters plant, sich gleich nach Abgabe seiner Habilitationsschrift mit dem Projekt zu beschäftigen. Am 12. Juni 1913 bittet er „einige der abgeschriebenen akten einsehen“ zu dürfen, um sich einen Überblick über die Quellenlage und den zu bewältigenden Stoff zu verschaffen.615 Von Friedrich Gundolf erfährt Wolters wenige Tage später: „d.M. lässt sich demnächst das material schicken und wird das für Sie nötige Ihnen daraus ausziehn“.616 Wolters arbeitet intensiv, liest „von morgens bis abends blättersachen“, recherchiert die zeitgenössischen Rezeptionszeugnisse, reist zu Gundolfs ‚Blätterarchiv‘ und sammelt Erinnerungen der Zeitzeugen.617 Dann aber kommt der Erste Weltkrieg dem Projekt in die Quere. Wolters verliert die ‚Blättergeschichte‘ zwar nicht aus den Augen, verfolgt die Arbeit daran jedoch ernsthaft erst wieder im Winter 1925 weiter. Im Februar _____________ 610 Wolters: Herrschaft und Dienst, S. 59. 611 „Vom Zustand der letzten einung einer seele mit der Gottheit kann kein menschlicher mund etwas aussagen, da dieser zustand ohne bild und unbegrenzt ist. die einheit ist der stumme grund und weil das wort die vermittlung ist, kann es nur vom gegensatz zum gegensatze sprechen und vermag daher vom wege den die seele zu erfüllung geht, von der folge, die in der einmal ergriffenen wirkt, zu sagen, aber muss das wesen des erfülltseins als das undurchdringliche geheimnis jeder schauung, zeugung und schöpfung unbeführt und aussprechlich lassen“. Die „offenbarung“ ist nicht „die lehre vom geheimnis“, sondern die „lehre von der wegbereitung“ (Wolters: Herrschaft und Dienst, S. 53). 612 Wolters: Richtlinien, S. 150. 613 Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 536, 541; zur ‚Blättergeschichte’ vgl. auch Norton: Secret Germany, S. 698ff. 614 Vgl. Wolters: Frühe Aufzeichnungen’. 615 George / Wolters: Briefwechsel, S. 91. 616 Brief vom 16. Juni 1913 (George / Wolters: Briefwechsel, S. 91). 617 George / Wolters: Briefwechsel, S. 100f.
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1925 schreibt Wolters über die Arbeit an der ‚Blättergeschichte‘: „sie ist aufgenommen“.618 Nicht zuletzt aus dieser Verzögerung, die das Projekt der Ideologisierung von Wolters’ Weltbild im Ersten Weltkrieg ausgesetzt hat, erklären sich die deutlich nationalistische Ausrichtung sowie die Sakralisierung des George-Bildes.619 Ganz entgegen Georges Gepflogenheiten, drängte er Wolters zur Weiterarbeit, weil „dies das Werk war“, so Hildebrandt, „dessen Vollendung ihm am dringendsten am Herzen lag“.620 Und Hildebrandt geht noch weiter: „‚George und Wolters’ sind die Verfasser“.621 Obwohl Wolters weiß, daß „an deren [der ‚Blättergeschichte‘, S. M.] Vollendung auch Herrn George sehr gelegen ist“, muß dieser ihn vor der „zersplitterung“ seiner Interessen warnen.622 Wieder nimmt Wolters sich den „stoff der gegenwelt“ vor, sieht „besprechungen“ durch, „um wandel von wirkung und meinung genauer festzustellen“, holt Erkundigungen von Zeitzeugen ein, sichtet Schlüsselromane, Memoiren sowie andere Quellen und läßt sich vom „Meister“ korrigieren.623 George, der – wie üblich – bis in die Ausstattungsfragen mit dem Fortgang des Unternehmens vertraut bleibt,624 mahnt weiter: „Es ist wichtig, dass Sie nun ihre ‚geschichte‘ anpacken und wichtig für mich und Sie dass wir auch ohne dies werk wieder einige zeit zusammen sind“.625 Die im Juni 1929 erstellte Fassung sieht George sich genau durch, stellt einiges richtig und streicht Passagen. Insgesamt aber hält er Wolters Darstellung für publikationswürdig.626 Das Unternehmen steht in dieser Zeit offenbar unter großem Druck. Kritik aus dem George-Kreis und Veränderungswünsche weist George mit dem Hinweis ab, „wichtiger sei der Zeitpunkt, wann ein solches Werk herauskommt, als dass es für die Ewigkeit geschrieben sei“. Er ordnet Wolters Darstellung den nur situativ wichtigen „Streitschriften“ zu.627 Ohne Georges Zustimmung jedenfalls _____________ 618 George / Wolters: Briefwechsel, S. 197. 619 George / Wolters: Briefwechsel, S. 50; zur entsprechenden Wirkung vgl. Petrow: Der Dichter als Führer? S. 16ff. 620 Hildebrandt: Erinnerungen an Stefan George und seinen Kreis, S. 194. 621 Hildebrandt: Erinnerungen an Stefan George und seinen Kreis, S. 193; vgl. auch Boehringer: Mein Bild von Stefan George, S. 133. 622 Briefe vom 12. Juli 1924 (George / Wolters: Briefwechsel, S. 190) und vom 9. Oktober 1925 (ebda., S. 293). 623 George / Wolters: Briefwechsel, S. 198, 201, 209. 624 George / Wolters: Briefwechsel, S. 242. Vgl. dazu generell Zöfel: Die Wirkung des Dichters, S. 32f. 625 George / Wolters: Briefwechsel, S. 199. 626 George / Wolters: Briefwechsel, S. 50, 236ff. 627 Thormaelen: Erinnerungen an Stefan George, S. 249: „Eine Zusammenfassung solcher Art erfolge ja von irgend einer Seite doch einmal, da sei es ihm, dem Dichter, lieb, wenn er selbst noch mit einwirken und dafür Sorge tragen könne, daß die Akzente und Gewichte richtig verteilt würden. Auf Genauigkeiten im einzelnen, Vollständigkeit oder Stil käme es
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stand „kein Wort“ in der ‚Blättergeschichte‘, aber ohne ein gewisses Maß an Toleranz seinerseits, etwa im Blick auf Wolters Behandlung seiner Gedichte, die er nicht gerade für die Stärke seines Historiographen hielt, läßt sich das Unternehmen ebenfalls nicht verstehen.628 Einige Kreismitglieder reagieren negativ auf die ‚Blättergeschichte‘, insbesondere auf die religiöse Überhöhung Georges sowie auf die Bagatellisierung von Kritikern und Verehrern.629 In vielen Briefen, die direkt an ihn adressiert werden, bekommt Wolters aber auch euphorische Lobeshymnen zu hören, so etwa von Kurt Hildebrandt,630 Ernst Morwitz,631 Wilhelm Stein,632 Berthold Vallentin633 oder von Edgar Salin,634 und dies, obwohl Salin, „aus Heidelberg kommend und darum zu den ‚Opfern‘ dieser Geschichtsbetrachtung gehörend“, Grund zur Zurückhaltung hätte.635 Mit Einschränkungen äußern ihre Zustimmung beispielsweise Ludwig Thormaelen636 oder Kurt Singer, der nur betrübt ist, weil er nicht erwähnt wird;637 und sogar Albert Verwey bleibt höflich.638 Erwartbar ungehalten reagiert Ida Dehmel, die meint: „Sie hätten sich von den tatsächlichen Vorgängen leicht selbst ein Bild machen können, wenn Sie in den von mir veröffentlichten Dehmel-Briefen Band 1 Brief Nr. 142 und folgende gelesen hätten“.639 Zu den Hauptkritikpunkten des Kreises an der ‚Blättergeschichte‘ gehört die Behandlung Friedrich Gundolfs,640 wobei sogar Ernst Gundolf seine ‚Beschwerden‘ mit einer hyperbolischen _____________ 628 629 630 631 632 633 634 635 636 637 638 639 640
da nicht so sehr an. Wollte man auf all das sehen, so würde ein solches Unterfangen nie fertig. Das könnten einmal andere machen“. Philipp: Einleitung, S. 51f.; George / Wolters: Briefwechsel, S. 239. Philipp: Einleitung, S. 52; zur Wolters-Kritik vgl. auch Norton: Secret Germany, S. 702ff. – hier werden die negativen Stimmen einseitig hervorgehoben. Brief vom 29. Dezember 1929; SGA, Wolters III, 2603. Brief vom 26. Dezember 1929; SGA, Wolters III, 3101. Brief vom 27. November 1929; SGA, Wolters III, 3502. SGA, Wolters III, 3902. Brief vom 15. Dezember 1929; SGA, Wolters III, 3301. Brief vom 25. Dezember 1929; SGA, Wolters III, 3302. Briefe vom 24. Oktober 1929 (SGA, Wolters III, 3801) und vom 26. Oktober 1929 (SGA, Wolters III, 3802). Brief vom 1. Dezember 1929; SGA, Wolters III, 3401. Brief vom 22. November 1929; SGA, Wolters III, 3954. Brief vom 1. Februar 1930; SGA, Wolters III, 1901; vgl. auch den Brief von Ida Dehmel an Bondi mit Änderungswünschen für die zweite Auflage der ‚Blättergeschichte’ (SGA, Wolters V, 1201[A]). Vgl. z. B. Arnold Bergstraesser, der die ‚Blättergeschichte’ ausgezeichnet findet (Brief an Wolters vom 24. November 1929; SGA, Wolters III, 1251), aber die Kritik von dritter Seite referiert (Brief vom 4. Dezember 1929; SGA, Wolters III, 1252). Ähnlich auch in den Briefen Hans Bettmanns an Wolters (Brief vom 19. November 1929; SGA, Wolters III, 1301; Brief vom 24. Dezember 1929; SGA, Wolters III, 1302).
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captatio benevolentiae einleitet.641 Friedrich Gundolf reagiert ebenso knapp wie nobel. Am 18. November 1929 schreibt er an Wolters: Lieber Wolters: Ich danke Ihnen einstweilen herzlich für die Übersendung Ihres neuen Werks. Mit allen guten Wünschen und treuem Erinnern bleibe ich Ihr Friedrich Gundolf.642
Versteht man die ‚Blättergeschichte‘ als ‚Geistesgeschichte‘, dann erklärt sich unter anderem die Begeisterung von Germanisten wie Franz Schultz oder von Philosophen wie Georg Burckhardt, selbst wenn Wolters deren Lob nicht allzu wichtig nimmt.643 George jedenfalls, so die Prämisse der ‚Blättergeschichte‘, läßt sich aus der „Geistesgeschichte“ nicht mehr wegdenken. Die Geschichte Georges […] ist zugleich die Geschichte der von ihm ausgegangenen dichterischen Bewegung der Blätter für die Kunst und ihrer Auseinandersetzung mit den geistigen Richtungen der Zeit, sowie sie von George und seinem Werk berührt, verwandelt oder in einen notwendigen Gegensatz zu seinem Weltbild gedrängt wurden.
Vor den Anforderungen eines Werks, das die große Wirkung kleiner, fast unsichtbarer Ursachen vor Augen führt, versagt Wolters zufolge die Beobachtungsfähigkeit sowohl der kritischen als auch der philologischen Kommunikation644, und dies bis in die Gegenwart: Viele übersehen bis heute, daß sie nur durch George „denkbar“ sind, oder halten George sogar bereits für überwunden – aber: „das Eigentliche seiner Wirkung [wird] eben erst am fernen Horizont sichtbar […]“. Zwar bekennt Wolters sich zur „Einseitigkeit“, weil er ein „einheitliches Bild“ zeichnen will. Aber er meint auch: Dennoch wird der Geschichtstreibende uns sicher Dank dafür wissen, daß er hier einmal Gelegenheit hat, in einem gegenwärtigen Vorgang den Verlauf einer Bewegung von Stufe zu Stufe verfolgen zu können, einer Bewegung, die anfangs so klein war, daß ein Atemzug sie hätte wegblasen können, die aber nach einem Halbjahrhundert zu allgemeinster Bedeutung gelangt ist.645
Paradigma für diese aufs höchste vermittelte historische Wirksamkeit ist für Wolters wie für George Hölderlin (GW 17, 59), und dies als Exempel einer über die Wissenschaft vermittelten Wirkung.646 Die von George _____________ 641 Brief vom 28. November 1929; SGA, Wolters III, 2301). 642 SGA, Wolters III, 2353; vgl. dann kritisch Gundolf an Wolfskehl am 30. November 1929 (George / Gundolf: Briefwechsel, S. 387f.). 643 George / Wolters: Briefwechsel, S. 247. 644 Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 5. 645 Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 6. 646 Für Wolters spielt Dilthey die entscheidende Rolle: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 419.
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geforderte Rekonstruktion seines historischen Stellenwerts durch Friedrich Wolters in der ‚Blättergeschichte‘ kann auch deswegen mit solchen Modellen operieren, weil die Geistesgeschichte die Historiographie geschichtlicher Stimmungslagen zu einer Normalform von Wissenschaft gemacht hat. George wird zum Fachmann für ‚untergründige‘ Beziehungen, eben für ‚geheime‘ Reiche und für Fernwirkungen und Fernursachen von Ereignissen, die der Alltagsblick übersieht.647 Die Divergenzen und Konvergenzen zwischen der Darstellungsabsicht oder dem Darstellungsvermögen von Wolters und dem, was George sich als ‚Blättergeschichte‘ vorgestellt hat, lassen sich aus den Typoskripten entnehmen, die von George mit eigener Hand oder in Auftrag – vermutlich von Kommerell648 – korrigiert wurden und im Stuttgarter StefanGeorge-Archiv liegen. Über weite Strecken gibt es darin überhaupt keine Eingriffe,649 so daß den tatsächlich erfolgten Korrekturen besondere Bedeutung beigemessen werden muß. Teilweise beziehen sich die Änderungen auf Details und stellen sachliche Fehler richtig, wenn George etwa den Herkunftsort seiner Familie von „Ruplingen“ zu „Rupeldingen“ korrigiert (10) oder wenn er aus einer „grosse[n] Büste Napoleons“ ein „Standbild Napoleons“ macht (11). Andere Ergänzungen, etwa zum Beruf des Vaters, der nicht nur als Weinhändler, sondern zugleich als „Weingutsbesitzer“ tätig war, oder zur Schulbildung, die George nicht nur auf der „Realschule“, sondern auch „in einer Privatschule“ genossen hat (13), retuschieren mehr oder weniger dezent das von Wolters gezeichnete Bild. _____________ 647 Vgl. etwa zur Verwechslung von Wirkung und Ursache George / Wolters: Briefwechsel, S. 147. Wegen Georges Faible für untergründige Beziehungen kann er beispielsweise auch dem Ersten Weltkrieg, den er lediglich als Epiphänomen längerfristiger und wichtigerer Entwicklungen begreift, etwas abgewinnen, weil dieser paradigmatisch historische Situationen als Summe ungewollter Handlungsweisen decouvrierte: „Was das Grossartige daran sei“, so läßt er Wolters über Gundolf ausrichten, „dass die Ereignisse den Zügeln aller Lenker bereits entglitten sind und nun dumpf und verhängnisvoll ihren weg rollen“ (Brief vom 20. April 1916; George / Wolters: Briefwechsel, S. 125). Zur Außenbeobachtung vgl. Carl Heinz: Stefan George und der Naturalismus. In: Zeitenspiegel (2. Beiblatt der Neuen Preußischen [Kreuz-]Zeitung Nr. 1), 11. Februar 1928: „Es ist für Stefan George selbst am allerwenigsten verwunderlich, daß die Wirkung seines Werkes bis heute mit der auffälligen Blüte des Naturalismus nicht verglichen werden kann. Lesen wir abermals in seinen eigenen Blättern: ‚Bevor in einem Land eine große Kunst zum Blühen kommt, muß durch mehrere Geschlechter hindurch der Geschmack gepflegt werden. Das Verwerfen jeder Übereinkunft in Gesellschaft und Kunst ist entweder sehr jung oder sehr gemein. Leute von niedriger Abstammung haben keine Überlieferung.’ Mit dieser Erkenntnis teilt Stephan George gewissermaßen bewußt und ohne viel Aufhebens das Schicksal eines Hölderlin, von dessen Wirkungen die damalige Zeit ähnlich wenig verspürte, wie heute noch breite Schichten von der seines großen geistigen Bruders“. 648 Seekamp u. a.: Stefan George, S. 365. 649 SGA, Wolters I, 502 – im folgenden im Text mit Seitenzahl zitiert.
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Hinweise auf die Kontinuität des Kunstprogramms,650 auf die Fatalität der Geschehnisse651 oder auf die Grenzen der Wirkung und des Wirkungsanspruchs deuten in eine ähnliche Richtung.652 All diese Eingriffe müßten bis in die Linien- und Schriftführung hinein durchgesehen werden, um ein Gesamtkonzept Georges zu extrapolieren – als Wolters beispielsweise schreibt: „In denselben Wochen kam ihm auch Dauthendey nahe“, streicht George dies mit besonderer Vehemenz durch und ersetzt „nahe“ durch „zu Gesicht“ (110). Auf der anderen Seite darf man auch eine gewisse Nonchalance Georges nicht unterbewerten. So korrigiert George zwar im Abschnitt „Die Meisterschaft“ einige unrichtige Angaben und Anekdoten, bemerkt aber zum Treffen mit Georg Bondi im römischen Atelier Ludwig von Hofmanns: „für Sie: falsch: war im Café d’Aragno mit L.v. Hofmann“, und: „für Sie: Kann trotzdem es halbfalsch ist, bleiben!“ (343) Schließlich müßten noch die Auslassungen mitgedacht werden, was eben wiederum jenes Prinzip der Georgeschen Aufmerksamkeit auf das Ausgeschlossene des Eingeschlossenen, auf das Mitlesen des Ungeschriebenen bestätigt: So löscht George den Passus zu Botho Graef komplett („für Sie: Der ganze Botho kann weg!“, 322), kürzt die Ausführungen zu Ernst Hardt („für Sie: E.H. ist nicht so wichtig, dass er irgendwo geboren sein muss“) (333) und verändert die Gundolf-Charakterisierung, indem er die Angaben zu Gundolfs „Gelehrtenfamilie“ streicht, weil es „wichtiger“ sei, daß Gundolf „in seiner äusseren Erscheinung etwas vom romantischdeutschen Jüngling“ gehabt haben soll (334). Freilich zeigt George hier auch einen pragmatischen Umgang mit dem Material, denn die Kürzungen gelten unter anderem der buchhändlerischen Finanzierbarkeit des Projekts.653 Zwei Eingriffstypen, die die ‚Blättergeschichte‘ historiographisch kompatibel machen, sollen zumindest angeführt werden: Zum einen tilgt George großzügig allzu rhapsodisch geratene Ausführungen zu seinen Werken (z. B. 261ff.); zum zweiten fordert er, entgegen aller Akzeptanz _____________ 650 Vgl. etwa folgende Einfügung auf S. 83: „Und diese Leitsätze des Anfangs gelten auch heute noch“. 651 Vgl. dazu etwa folgende Einfügung auf S. 124: „War es wieder ein Zufall, das Georges erste Wohnung in München der Schulers schrägt gegenüber lag? Es ging die Rede um ihn in einem Kreis von unbeträchtlichen Genossen, die ihn für geistig schwer gefährdet erklärten“. 652 So beharrt George darauf, daß seine Wirkung im Ausland „allerdings nur in Zenakeln, nicht in der ‚Öffentlichkeit“ zu verzeichnen gewesen sei (92). Allerdings will George geeignete Pointen auch nicht verschenken. Zu einem Kapitelschluß bemerkt er: „für Sie: Haben Sie nicht diesen Aufsatz von Ubell, in dem er ‚grossen endgültigen Sieg des Dichters voraussagt’ – ein für den Abschluss geeignetes Zitat!“ (370). 653 So Georg Bondi an Wolters am 19. August 1929 (Wolters III, 1450).
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von Halbwahrheiten, ordnungsgemäße Quellenbelege.654 Entsprechend benachrichtigt Bondi den ‚Blätter‘-Historiographen im Namen Georges, daß „bei diesem Buche ein bibliographischer Anhang, enthaltend die Werke meines Verlages aus dem Kreise der Blätter für die Kunst, dringend wünschenswert ist“.655 In die gleiche ‚positivistische‘ Richtung weist dann, daß George den Grenzbereich zwischen Philosophie und Dichtung verstärkt, denn die Zudringlichkeit geistesgeschichtlicher Forschung beruht vor allem auf der philosophischen Perspektivierung literarischer Kunstwerke. So läßt George beim Abschnitt zu Dessoir nicht nur einfügen, daß dieser der „erste[ ] Wissenschaftler seines Bekanntenkreises“ war, sondern beharrt auch darauf, daß bei Dessoir weniger „Philosophie und Kunstwissenschaft“ eine glückliche Verbindung eingingen als vielmehr „Philosophie und Kunst“ (220). Noch deutlicher wird George bei Simmel. Dort setzt er hinzu: „Was George zu Simmel hinzog, war dessen ungewöhnliche Bewandtheit in allen Dingen der Kunst“, und erläutert: „für Sie: Bemerkung deshalb nötig, weil Anschein entstehen könnte, dass G. sich zu tief philosophischen Betrachtungen bei S. einfand“ (222).656 Wolters Selektionsverhalten, seine Maßstäbe und Ordnungskriterien lassen sich, sieht man von der dominanten Nationalisierung und Sakralisierung des Gegenstandes ab657, nur schwer in klare konzeptionelle Leitlinien fassen. Er bringt gattungsgeschichtliche Determinanten von Georges Werk ebenso zur Geltung658 wie den mehr oder weniger weiten literarischen Einfluß, den George ausgeübt hat;659 er verweist auf intertextuelle _____________ 654 Bei Georg Brandes erstem Hinweis auf George, den Wolters auf das Jahr 1899 datiert, setzt George neben die Jahreszahl mit Fragezeichen das Jahr 1894 und notiert dazu: „zu zitieren wäre der erste druck des aufsatzes, der sehr früh sein muss!“ (88). An anderer Stelle klagt George eine Quellenangabe ein, die Wolters jedoch nicht liefern kann, weil es sich dabei um einen Brief von Klages an Wolfskehl handelt (526). 655 SGA, Wolters III, 1465. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Korrekturhinweise von Bondi, etwa zu den Angaben über die Erstausgaben Georges (SGA, Wolters III, 1455) oder andere sachliche Fehler (SGA, Wolters III, 1457) sowie zu strafrechtlich relevanten Tatbeständen: Franziska von Reventlow als eine „in ganz München bekannten Hetäre“ zu bezeichnen, hält Bondi beispielsweise „auch im gerichtlichen Sinne [für] eine Beleidigung“ (Brief vom 22. Sept. 1929; SGA, Wolters III, 1459). Vgl. den juristischen Rat von Vallentin, referiert im Brief vom 24. Sept. 1929: „Man müsse damit rechnen, dass zumal bei der heutigen linksgerichteten Rechtsprechung, der Richter in ‚Hetäre’ eine formale Beleidigung sieht, der gegenüber es unter Umständen nicht auf den Tatsachenbeweis ankommt. Die grössere Gefahr liegt im objektiven Verfahren (Antrag auf Vernichtung des Druckes und der Platten) und diese ist natürlich sehr folgenschwer“ (SGA, Wolters III, 1460). 656 Vgl. hier auch zu den ausführlichen Bachofen-Ausführungen Wolters’ die Sorge Georges, das Philosophische könnte auf diese Weise zu sehr herausgehoben werden (491). 657 Philipp: Einleitung, S. 50, 52. 658 Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 26 zu den Hymnen. 659 So z. B. bei Hofmannsthal (Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 33) oder zur Wirkung „auf die Breite der literarischen Erzeugung“ (ebda., S. 173).
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Details, etwa auf das Pilgerfahrten-Zitat im Chandos-Brief oder das Hölderlin-Zitat „Jahr der Seele“,660 bezieht sich auf literaturgeschichtliche Epochalisierungsversuche oder auf die künftige Literaturgeschichtsschreibung661 und zeigt einen Sinn für die Feldpositionen der Akteure, wenn er hinter Angriffen auf George bestimmte Seilschaften vermutet.662 Und immer wieder geht es um George als Werkpolitiker, um den „Werkgang“, um dessen „werkschaffend[e]“ oder „werkhaft[e]“ Tätigkeit oder Haltung:663 „[…] daß kein Höheres und Hehreres sei als er, sein Werk und seine Welt, war allen gewiß […]“.664 Letztlich will Wolters vorführen, wie das „im Werk verfangene Geschehen […] durch sein Dasein […] eine verwandelte Haltung zu Welt“ fordert.665 Zu den Auffälligkeiten von Wolters’ ‚Blättergeschichte‘ gehört, daß er ausführlich insbesondere negative Stimmen zu George und seinem Werk zitiert666 – daran hat George selbst nichts geändert, vielmehr die Bestrebungen eines umfassenden ‚Stimmungsbildes‘ durch Materialien unterstützt. Wolters begründet in der ‚Bättergeschichte‘ selbst die Relevanz von Negativität, indem er die kritischen Urteile als „Beitrag zur Sozialpsychologie“ und als Beitrag zum „Zeitbild[ ]“ serviert.667 George fügt als Begründung hinzu: „ferner, weil einiges davon bis in die heutigen Lehrbücher und Gedichtsammlungen fortspukt!“668 Dies gehört zu einer generellen Tendenz in der ‚Blättergeschichte‘, Georges Außenseitertum und seine kontroverse Stellung gegenüber den Zeitläuften herauszuheben.669 Denn für Wolters agonales Weltbild gilt: Nur das Umstrittene ist relevant.670 Die Negation, deren Etablierungsgeschichte auch hier weitergeht (2.), wird zum zentralen historischen Merkzeichen: _____________ 660 661 662 663 664 665 666 667 668 669
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Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 135, 291. Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 56, 174 (zur „Neuromantik“). Zu Wilamowitz-Möllendorff: Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S.183. Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 277, 290, 388, 536. Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 390. Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 353. George „lehrte die Menschen dichten, indem er sie dichterisch leben lehrte“, und dies meint, „den geschlechterlangen Atem, das Anhalten des Tones auf einer erreichten Höhe“ auszubilden (ebda., S. 551). Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, u. a. S. 48ff., 58f., 111f., 150ff., 176ff., 209ff., 346ff., 493ff., 502ff. Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 177, 512. SGA, Wolters I, 502, S. 352. Vgl. etwa zum Naturalismus als Gegner (Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 23, 39, 53ff., 131) oder über die Goethe-Anthologien: „Die Auswahl aus seinem [Goethes, S. M.] Werke ist auch taktisch so aufzufassen, daß sie sich den damaligen sehr häufigen Goethe-Auslesen entgegensetzte, die durchaus das Leichtfüssige vorzogen […]“ (Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 212f.) – diesen Passus fügt im übrigen George selbst ein (SGA, Wolters I, 502, S. 428). Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 509.
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Was an diesem Anfangstone verwunderlich bleibt, ist die auffallende Heftigkeit des Hohnes und Hasses als Antwort auf die Veröffentlichung von vier kleinen Gedichtbüchern und einigen Prosestücken in einem Deutschland, das jährlich tausende von Büchern und Gedichten auf den Markt warf.671
Die kritischen Reaktionen bieten für Wolters ein Lehrstück in Sachen Perspektivität und Standortgebundenheit, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Denn die Kritiker haben George einfach „nicht verstanden“, und dies bei einer Sprache, die die „Enkelkinder“ dieser Kritiker bereits „auf den Schulen lesen“.672 Anders gesagt: Bevor man einen Autor wegen mangelnder Verständlichkeit kritisiert, sollte man mit größter Sorgfalt den eigenen Beschränkungen nachgehen. Wolters gibt Georges Auftrag weiter, den Verdacht und das Mißtrauen gegen sich selbst zu habitualisieren. Und wie sein ‚Meister‘ bleibt er nicht bei den Problemen stehen, die aus Unverständnis oder Ablehnung resultieren. Wie George noch den vermeintlich verständigen Lesern ihr Unverständnis vorhält, so verändert auch Wolters seine Verdachtsstruktur: Nachdem sich die Kritiker mehr oder weniger zu Lobrednern gemausert haben, klagt Wolters weiterhin deren Unverständnis an, weil sie George, der sich durch offenen Streit nicht bewältigen läßt, nun durch eine Strategie der Umarmung unschädlich zu machen versuchen.673 Aus diesem Zusammenhang von Relevanz, Unverständnis und Agonalität erklärt sich schließlich, warum Wolters selbst als Polemiker auftritt. Emmy Cremer, die ihm enthusiasmiert von ihrer Lektüre der ‚Blättergeschichte‘ berichtet, schreibt am 5. Dezember 1929: „Ich muss gestehen dass ich manchmal heftig erschrak über die vernichtenden richtsprüche und tollkühnen angriffe, obwohl ich ihnen aus vollstem herzen zustimmte. Sind nicht beleidigungsprozesse, ja eigentlich duelle darauf zu erwarten? Wahrscheinlich wäre Ihnen dieser erfolg sehr recht, doch die gegner werden zu feige sein“.674 Eine wie auch immer offen artikulierte Duellsituation ergibt sich nicht zuletzt im Verhältnis der ‚Blättergeschichte‘ zum Wissenschaftsbetrieb bzw. im Verhältnis von Poesie und Wissenschaft.675 Wolters, der im Verlag von Ferdinand Hirt eine eigene Reihe mit dem Titel „Werke der Schau und Forschung aus dem Kreise der Blätter für die Kunst“ herausgibt,676 hält es zwar für einen Erfolg, daß die Enkelgeneration des George-Kreises _____________ 671 672 673 674 675
Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 184. Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 177. Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, z. B. S. 494f. SGA, Wolters III, 1701. Zu Dichtung und Wissenschaft: Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 478ff.; zu Wolters’ wissenschaftlicher Karriere vgl. Groppe: Die Macht, S. 213ff. 676 Groppe: Die Macht der Bildung, S. 525.
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keine wissenschaftliche Laufbahn mehr anstrebt, sondern zunehmend praktischen Tätigkeiten nachgeht.677 Dennoch bleibt seine Darstellung korrektiv auf die ‚Geistesgeschichte‘ bezogen, zu der seine ‚Blättergeschichte‘ laut Untertitel (Deutsche Geistesgeschichte seit 1890) beitragen will. Auch hier hält Wolters den Beobachtern ihre Irrtümer vor, beispielsweise im Fall der Anthologien von George und Wolfskehl, die man bei ihrem Erscheinen für „wissenschaftlich […] wertlos“ erklärt habe, deren Selektionsverhalten mittlerweile jedoch allgemein akzeptiert worden sei.678 Was für das Verhältnis von George zur Literaturkritik gilt, gilt für das Verhältnis von Georgeanern und Wissenschaft: Die akademisch ambitionierten Kreismitglieder beherrschen das wissenschaftliche Handwerk – hier konnte sie keine Kritik treffen. Aber „so weit und so tief“ ihr „Einfluß“ auch ist: „bist heute ist die bürgerliche Wissenschaft von tiefem Mißtrauen, von einem oft versteckten aber immer wieder ausbrechenden Haß gegen sie erfüllt geblieben“.679 Wolters Kritik richtet sich, wie nach der Vorgeschichte des Jahrbuchs für die geistige Bewegung nicht anders zu erwarten, gegen die Ausdifferenzierung der Teilgebiete und gegen den Positivismus als vorherrschende Tendenzen der Wissenschaft. Beides gehe mit einem Bedeutungsverlust der „sprachlichen Darstellung des Erforschten“ einher.680 Dies ist keine akzidentielle Kritik, sondern trägt Georges Selektions- und Aufmerksamkeitsverhalten in die Wissenschaft hinein: Die Erweiterung der Proseschriften zu wissenschaftlichen Werken über Shakespeare, Platon, Goethe und Nietzsche waren nur Auswirkungen des neuen Blikkes auf gleichhehre Geister der Vergangenheit, war das begeisterte Wiedererkennen desselben Lebensvorgangs bei den großen ewiggegenwärtigen Toten.681
Der ‚neue Blick‘ nimmt genau jene zuvor übersehenen Bereiche ins Visier, die Georges Mediengerechtigkeit und sein Stellenwertbewußtsein als spezifische Form der selektionslosen Aufmerksamkeit sichtbar machen: „Die auftretende Gegnerschaft erinnerte die Forscher aller Gebiete daran, daß auch die entferntesten Sonderfächer auf einer gemeinsamen Denkart beruhten und daß das Wankendwerden der geistigen Übereinkunft notwendig jeden Sondergrund erschüttern mußte“.682 Interessant sind Wolters lebensphilosophische Posaunenstöße also nicht wegen jener ‚Weltanschauung‘, die als Selektionsinstrument alle wis_____________ 677 678 679 680
Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 493. Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 226. Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 488. Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 479f. Zur Wissenschaftskritik im Jahrbuch vgl. Groppe: Die Macht der Bildung, S. 231ff. 681 Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 488. 682 Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 485.
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senschaftlichen Bemühungen begleiten sollte und die gegen die Verpflichtung der Forschung auf Vollständigkeit gestellt wurde683 – das ‚Dröhnen‘ von Wolters’ Stimme hat bekanntlich wenig Informations- und viel Rauschqualität. Genau dieses primäre Rauschen aber als Basis aller Selektionen, die sekundär Informationen erzeugen, stellt Wolters konzeptionell und rhetorisch heraus. Korrespondierend versteht er Wissenschaft als Habitusform, als etwas, was auf der „Gesamtartung des Menschen“ gründet.684 Akademische Ausbildung vollzieht sich nicht als Vermittlung von Wissen und Regeln, sondern als umfassende Imitatio eines Habitus, mittels derer die Wissenschaft des George-Kreises „in fast alle erheblichen Bereiche der Geisteswissenschaften“ diffundiert.685 Wiederum verfeinert sich die Aufmerksamkeit und kompliziert die Beziehungen, Einflüsse und Kommunikationswege historischer Stimmungslagen. Wolters beobachtet die Beobachtungsfähigkeit von George, der bis in die körperliche Gestalt hinein den Anforderungsspiegel der Leser abgibt. Immer wieder geht es um die Wahrnehmungskompetenz des ‚Meisters‘, der mit einem „offene[n] Auge“ ausgestattet ist, das sein „offene[s], teilnehmende[s] Wesen“ bestimmt und ihn in besonderer Weise „aufnahmefähig“ macht.686 Der „klar geöffnete[ ] Blick“687 erlaubt ihm seine eigene verschobene Sichtweise: „Doch dort in andrer luft in andrem land / Entdeckt ich als ein andres fluss und flur“, heißt es in den Legenden der Fibel (GW 1, 92) in einem von Wolters zitierten Passus. Der ‚Blätter‘Historiograph belegt damit, daß George die Wahrnehmungskompetenz für das Maximin-Erlebnis schon früh hatte – auch im Siebenten Ring gelingt es dem Beobachter „Gemach und stadt und silbrige allee“ als „andre“ zu sehen (GW 6/7, 72; 6.3 d). Das „göttliche aufgeschlossene[ ] Auge[ ]“ Georges richtet den Blick auf das „Ursprüngliche“,688 und dies von Anfang an, aber auch mit zunehmend „geschärfte[r] Blicktiefe“.689 Anders formuliert: Tiefenschärfe ist eines der Unterscheidungsmerkmale von Fotografie und menschlicher Wahrnehmung. Das menschliche Auge zeichnet sich durch eine ungleich verteilte Reizbarkeit aus, durch „Zonen _____________ 683 684 685 686
Groppe: Die Macht der Bildung, S. 242. Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 487. Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 492. Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 10f. Auch die Kosmiker werden George auf diese Weise untergeordnet, denn er war derjenige, „dessen Person und Welt ihnen die Augen erst aufgeschlossen hatte“ (ebda., S. 243, ähnlich auch ebda., S. 258). Konsequenterweise zitiert Wolters ausführlich die Maximin-Vorrede (ebda., S. 310ff., 313f., 316f.), denn Maximin ist ja die Erscheinung, die eine „Reinigung der Augen bewirkt“ hat (ebda., S. 322). 687 Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 17. 688 Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 26. 689 Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 534.
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variierender Sensibilität“ (6.3),690 das Kameraauge hingegen kann den Wahrnehmungsraum gleichmäßig ‚scharf‘ stellen.691 Daß Wolters Georges Blick technisiert, erscheint zunächst als eine konzeptionelle Unstimmigkeit in der ‚Blättergeschichte‘. Denn Georges Wahrnehmungskompetenz gibt vor allem durch ihre „Unterscheidungsgabe“692 ein Vorbild ab für die Ausbildung von Sichtbarkeiten. Dennoch geht es auch um die gleichmäßig geschärfte Wahrnehmung eines erweiterten Feldes. Daß hierbei zunächst Frauen im Vorteil sind, daß sie „in diesen Dingen oft schärfer als Männer“ sehen, nämlich „die volle Übereinstimmung von Geist und Haltung, Stimme und Gedicht, die tiefe Schlichtheit von Mann und Werk“, ist ein Nebeneffekt dieser Aufmerksamkeitserweiterung, der für die Gendercodierung des George-Kreises aufschlußreich bleibt. Die neue Einstellung der Beobachter jedenfalls, haben sich Wolters zufolge erst zur Zeit der Publikation der ‚Blättergeschichte‘ und damit parallel zum Vertrieb der Gesamt-Ausgabe, die von entsprechenden Bildbeilagen begleitetet wird, „in den gebildeten Kreisen des Volkes“ verbreitet.693 Daher endet Wolters ‚Blättergeschichte‘ auch mit dem Kapitel „Das Bildnis“, das Georges „leibliche Gestalt und vor allem sein Antlitz“ als „Spiegel dessen, was die ewige Natur ihm mitgegeben und dessen, was die Kämpfe mit den Mächten des Lebens in diese Grundform geprägt haben“.694 Die George-Bilder in Wolters’ Buch gehören zum wissenschaftlichen Programm. Freilich stellen sie das Stellenwertbewußtsein des Verlegers noch vor ganz eigene, pragmatische Probleme. Am 7. Oktober 1929 schreibt Bondi an Wolters, daß die Bilder in der ‚Blättergeschichte‘ nicht am Ende des Buchs zusammengefaßt werden könnten, „weil dieses […] als Geschenkwerk möglich ist“: Ich hoffe dass sehr viele George-Interessenten das Buch als Weihnachtsgeschenk bekommen werden. […] Wenn die Bilder hinten zusammen sind, so riecht das nach ‚Fachwissenschaft‘. Die Bilder haben dann als einziges Ergebnis dass sie den Verkaufspreis verteuern, denn die werbende Kraft dieser zusammengeballten Bilder ist gleich Null.695
Man könnte sagen, daß Wolters mit zwei Formen der selektionslosen Aufmerksamkeit operiert: mit einer extensiven Aufmerksamkeit, die insbesondere zu einer quantitativen Ausweitung des Gegenstandsbereichs führt, und mit einer intensiven Aufmerksamkeit, die eine qualitative Ausweitung des Beobachtungsraums betreibt. Beides läßt sich freilich nicht _____________ 690 691 692 693 694 695
Crary: Aufmerksamkeit, S. 231. Hörisch: Eine Geschichte der Medien, S. 253. Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 77. Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 126. Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 572. SGA, Wolters III, 1462.
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voneinander lösen. Die intensive Aufmerksamkeit als Stellenwertbewußtsein führt beispielsweise zu einer kontextsensiblen Betrachtung der Gedichte Georges sowohl im Blick auf die Blätter für die Kunst als Ort der Erstveröffentlichung als auch im Blick auf die jeweiligen Sammlungen und deren Konstellationslogik. So legitimiert Wolters die wiederholte Behandlung der Gedichte des Neuen Reichs dadurch, daß diese in der Zusammenstellung, in ihrem „Gesamtbau und besonders in Verbindung mit den neuen Gedichten eine Verstärkung und Verwandlung ihrer Eigenschwere erhalten haben und jetzt erst im Chore ihr voller Ton hörbar geworden ist“.696 In dieselbe Ordnung gehört die Aufmerksamkeit für Schrift und Druck und für das ‚Hersagen von Gedichten‘.697 In allen Fällen geht es um eine „unerfaßliche[ ] Einheit alles Wirklichen“, die allein im Vollzug von Dichtung „sichtbar“ wird.698 Mit der Entfaltung extensiver Aufmerksamkeit schließt Wolters an die Historiographie geschichtlicher Stimmungslagen an. Die offen eingestandene und programmatisch eingeforderte Selektivität, die zur Methode der Gestalt-Monographien gehört, läßt sich nicht umstandslos ins Werk setzen: Ich möchte wissen, welche probleme in der Blättergeschichte NICHT zu behandeln sind: ich habe bisher noch kein gebiet des öffentlichen oder geheimen lebens gefunden, auf das die Blätter nicht licht und schatten geworfen hätten und ich werde nur wegen ‚raummangels‘ nicht alle behandeln können.699
Auch George scheint an diesem Aspekt besonderes Interesse gehabt zu haben. So empfiehlt er gerade das Kapitel „Der Dichter und die Zeitmächte“ zum Vorabdruck in der Neuen Zürcher Zeitung.700 Insbesondere die Eingangspassagen der ‚Blättergeschichte‘ situieren George in einer historischen Zeitstimmung, in der „Kräfte“ auf den Knaben einwirken, „Eindrücke“ sich einprägen, in der Überlieferungen und die Umgebung ihre Wirkungen ausüben, in der dem Heranwachsenden „unbewußt“ etwas „eingepflanzt“, eine „Neigung“ verstärkt oder ein „Einfluß“ schicksalshaft von ihm abgehalten wird.701 Zwar ordnet Wolters das kulturelle Feld unter die „gleichen Bedingtheiten“ durch künstlerische Leitfiguren wie Böcklin oder Marées und hebt die einheitliche Bewegung in den Segmenten der bildenden Kunst, der Literatur und der Musik her_____________ 696 697 698 699 700
Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 526. Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 138ff., 186ff., 322f. Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 188. George / Wolters: Briefwechsel, S. 217. So Bondi an Wolters am 13. Nov. 1929; SGA, Wolters III, 1467. Vgl. im Gespräch mit Vallentin: Die ‚Blättergeschichte’ solle feststellen, „was gewesen sei und welche Wirkungen die Bewegung hervorgebracht habe“ (Vallentin: Gespräche mit Stefan George, S. 101). 701 Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 11f., 14fd., 31.
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vor.702 Immer wieder aber isoliert Wolters den solchermaßen geistesgeschichtlich nivellierten George, um ihn zum großen Gegenspieler der Zeit aufzubauen.703 Die Vermitteltheit der Beziehungen, in die Wolters George einsetzt und mit deren Hilfe er dann seine Bedeutung für die Zeitstimmung beschreibt, lassen sich gut an der Metaphorik des ‚Hauchens‘ und der ‚Strömung‘ ablesen, die bereits für den George der Hymnen und dessen Ausbildung von Aufmerksamkeit von zentraler Bedeutung war (6.1 a u. d): So konnte man Wolters zufolge in Deutschland „kein Hauch der Sinnesart“ spüren, die George forderte, als dieser den Plan der Blätter für die Kunst entwickelte; und auch später rufen Georges Werke nicht einmal den „Hauch eines Verständnisses“ bei den Lesern hervor. Ebenso läßt sich eine „geistige Strömung“, die George förderlich war, kaum finden.704 Freilich: Die „empfindlichen Seelen“ der neuen Generation werden „durch tausend Kanäle des öffentlichen Schrifttums“ ergriffen; „wenn auch noch so verdünnt und abgeschwächt“; George dringt „in die Allgemeinbildung“.705 Allerdings wurde der „belebende[ ] Strom des Dichters“ nicht „in die Adern geleitet“,706 so daß George seinen solitären Status bewahrt und die Erschließung seines Werks nach wie vor zu den Aufgaben der Zukunft gehört. Georges Einfluß zeigt sich als „Einstrom eines rauschhaften Schwingens“707, als „Weiterschwingen in einem fremden Seelenelement“ oder als „schimmernde[ ] Wellen gebrochene[n] Licht[s]“.708 Wolters demonstriert, wie unterschwellig, wie weit und wie tiefgreifend Georges Wirkung sich entfaltet und wie diese Beeinflussung von historischen Stimmungen die Vernetzung durch politische oder ökonomische Beziehungen übertrifft.709 Die Diffusität der Beziehungslagen ermöglicht Wolters, die „Ferntönung“ Georges durch große kulturelle Traditio_____________ 702 703 704 705 706 707
Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 80f., 96, 226. Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 498ff. Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 29, 209. Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 493f. Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 498. So im Fall des frühen Hofmannsthal (Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 33, vgl. auch ebda., S. 118 u. 194). 708 Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 43. Georges Energie- und Stimmungsleistung führt damit in Wolters’ Darstellung Goethes ebenso höchst vermittelte wie weitreichende Beziehung zu seinen Zeitgenossen fort, denn dieser „hat sie alle angehaucht und selbst wenn sie gegen ihn stritten, klang ihre Stimme doch indem Raum, den er umgrenzt und gebaut hatte und bekam von daher den gemeinsamen Ton“; von dem „Jahrhundert Goethes“ aus leitet sich eine „geheime Wandlung unserer Fühl- und Sehweise“ ab, „die schon in Georges ersten Werken ihre volle dichterische Entfaltung und Sichtbarkeit gewann“, wohingegen die europäische Moderne um George „keinen dauernden Widerhall“ gefunden habe (ebda., S. 219, 226, 299). 709 Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 90.
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nen festzustellen, ohne ihm den „eigene[n] Ton“ als „Weiterschwingen dieses Tones“ bzw. als „Dauerton“ abzusprechen, und es ermöglicht ihm, George bei aller Wirksamkeit als Solitär, als den großen, isolierten, von ‚seiner Zeit‘ nach wie vor unverstandenen Propheten darzustellen.710 George ist gleichsam der ‚Oberton‘ der historischen Stimmung: „Wir geben uns kaum Rechenschaft darüber, wie viel von dem Zauber eines jeden Tones diese mitschwingenden Obertöne ausmachen, dieses Anklingen […], dieses Mitschwingen […]“.711 Wichtig ist dabei: Obertöne sind „meist nur bei großer Aufmerksamkeit hörbar“ oder „durch Resonatoren“.712 Daher zielt die Erziehung Jugendlicher im Kreis auf „den dichterisch erschütterbaren Menschen“,713 in dessen körperlicher und seelischer Existenz die von George beeinflußte Stimmung nachbebt. Man sieht also, wie die Stimmungsästhetik Georges und die Gesten der liminalen Beweglichkeit Verknüpfungsmöglichkeiten für die Aufmerksamkeitsmuster ‚der‘ Geistesgeschichte bieten. Diese nämlich grenzt sich von einer Zeit, die dann als ‚positivistisch‘ disqualifiziert wird, durch das Sehen des zuvor Unsichtbaren ab. Es sind nicht nur die Programme der Historismus- und Mikrologie-Kritik in der Nachfolge Nietzsches und nicht allein die Gesten der lebensphilosophisch gewendeten Deutungsund Sinnangebote, die George und seinen Kreis für die Verteilungskämpfe auf dem akademischen Markt interessant werden lassen.714 Die ‚Verknüpfungen‘ reichen bis in die Mikrologie der poetologischen Bilder hinein, die Georges Poesie als Richtlinien ihrer eigenen Wahrnehmung präsentiert. Damit lassen sich die „unbewußten Zeichen“ deuten und „tiefere[ ] Kräftelagen“ ablesen, die sich „unter der Oberfläche“ abspielen, die von George „sichtbar“ gemacht und geprägt werden, und dies „in allen Lebensäußerungen vom Herzen bis zum Finger“.715 Die Leser der ‚Blättergeschichte‘ reagieren zunächst selten auf diese Erweiterung der Aufmerksamkeit. Viele Kritiker halten Stefan George und die Blätter für die Kunst für ein gutes Buch über George, aber für ein schlechtes über die „Geistesgeschichte seit 1890“, wie der Untertitel lautet.716 Zwar greift kaum einer die apologetische Leitlinie Wolters’ von der _____________ 710 Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 94 (auch S. 261), 444, 470f., 494f. 711 Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 101; vgl. auch Konzepte der Empfänglichkeit für die „Schwingungen“ von Diffusitäten wie etwa der „germanischen Seele“ (ebda., S. 109) oder die Ausführung zur „Reizbarkeit“ der Romantiker (S. 221f.). 712 So der entsprechende Artikel in: Brockhaus’ Kleines Konversations-Lexikon. Bd. 2, S. 296. 713 Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 522. 714 Vgl. dazu Groppe: Die Macht der Bildung, z. B. S. 221f. 715 So Wolters zum diagnostischen Wert der Schriftgestaltung (Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 142, 240f., 586). 716 So z. B. Franz von Unruh in: Literaturblatt der Frankfurter Zeitung 63, Nr. 46, 16. November 1930. Einige sehen allerdings auch den doppelten Anspruch eingelöst (so z. B. Will
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unterschwelligen und eben deswegen um so nachhaltigeren Wirkung Georges direkt auf.717 Aber vielfach wird Wolters ‚Blättergeschichte‘ als Startschuß zur Historisierung Georges verstanden – Ernst Korrodis Rezension in der Neuen Zürcher Zeitung, die der „Meister […] ganz und gar nicht so schlecht“ fand,718 titelt: „Stefan George als historische Figur“.719 Was auf den ersten Blick wie das Versiegen der Georgeschen Ambitionen im Treibsand des wissenschaftlichen Normalbetriebs aussieht, erweist auf den zweiten Blick die Erfolgsaussichten der Werkpolitik, die die Beachtlichkeit des Werks inszeniert, die dauerhafte Auseinandersetzung damit zu sichern versucht und die Arbeit eines „künftigen Historiker[s]“ anregt.720 Dabei legitimiert sich die Historisierung Georges bezeichnenderweise nicht allein durch Wolters’ ‚Blättergeschichte‘, sondern durch die konzertierte Aktion mit Georges Gesamt-Ausgabe: Notwendig wäre gewesen, die Legenden um den Führer und seinen Kreis mit einer wirklichen Lebensgeschichte zu ersetzen, angelegentlich sachlich zu bleiben, jeglichen Esoterismus und jede Terminologie des ‚Bundes‘ um so strenger zu meiden, als sie sich bereits im zeitlichen Bewußtsein mit George und seinen Anhängern verknüpfen […]. Der Dichter hält die Zeit für gekommen, mit der Herausgabe seines 18bändigen Gesamtwerks die Epoche seines persönlichen Wirkens abzuschließen; damit treten Werk und Träger in die Historie ein und wollen allein noch faktisch und im Zusammenhang der deutschen Geistesgeschichte gewürdigt werden.721
_____________ 717
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Scheller in der Literarischen Rundschau des Hamburger Fremdenblatts vom 7. März 1931, Nr. 66, S. 24). Vgl. allenfalls Berthold Vallentins Rezension von Wolters’ ‚Blättergeschichte’ in: DAZ, 5. Januar 1930 (Unterhaltungsblatt): „Die ohne jedes öffentliche Verbreitungsmittel immer wachsende Geltung Stefan Georges hört man häufig – nicht ohne Absicht der Selbstberuhigung – dahin erklären, daß ihm eine besondere diplomatische Taktik eigne, mit der er seine Geltung von Schritt zu Schritt fördere“. Vallentin: Gespräche mit Stefan George, S. 118. Neue Zürcher Zeitung, 19. Januar 1930 (Literarische Beilage). So Conrad Wandrey in: Die Literarische Welt 6, 3. Januar 1930 ,S. 5: „Wolters’ Georgebuch enthält das wichtigste Material für einen künftigen Historiker. Der aber wird die überragende Persönlichkeit des großen Dichters und die geistige Bewegung, die er erregte, nicht nur von innen sehen dürfen, nicht nur mit der fraglosen Liebe, von der Wolters sich leiten ließ und die freilich tiefer greift als jede abschätzige Mißgunst, der menschlicher Adel ein Ärgernis ist. Er wird George seinen Rang lassen, aber diesen Rang nicht verabsolutieren. Er wird George als geistige Kraft im allgemeinen Kräftespiel unserer stürmischen Anpassungsperiode an neue Lebensbedingungen begreifen. Die Zeit, George zu zelebrieren, ist vorbei“. Walther Petry: Schriften um Stefan George. In: Literatur-Beilage der Magdeburgischen Zeitung, 16. März 1930 – Petry weist darüber hinaus auf den Nachdruck der BlätterAuswahl hin. Vgl. auch Friedrich von der Leyen: Stefan George und die Blätter für die Kunst. In: Kölnische Zeitung, 20. 4. 1930: „Man hat den Eindruck: so wie er sich in der maßgebenden Ausgabe seines Werkes und so wie er sich in der Darstellung von Wolters zeigt, so will George gesehen sein und so will er sein Bild überliefert wissen“.
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Welche Aufmerksamkeitshaltung Biographien erzeugen, konnte George wiederum an den Folgen von Goethes Werkpolitik sehen. Die exemplarische Absurdität, an deren Beispiel Foucault die Werkdezentrierung durch Autorzentrierung exemplifiziert, nämlich die Frage, ob alles von einem Autor Geschriebene, mithin auch der Wäschereizettel, zum ‚Werk‘ gehört,722 stellt zur Zeit der ‚Blättergeschichte‘ eine Normalität dar. Die „Philologen […] durchstöbern“ gleichsam habituell den Nachlaß großer Dichter und edieren „noch das letzte Zettelchen an die Wäscherin sorgsam“ (1.).723 Bei George gibt es dabei noch immer viel zu tun. c) Georges Gesamt-Ausgabe Für George bedeutet die Gesamt-Ausgabe einen Einschnitt im Werk, und dies – wie in der Traditionslinie, die mit Wieland als Werkautor einsetzt (3.3 c) – zunächst in verlagsrechtlicher Hinsicht. Am 18. März 1927 schreibt Robert Boehringer an Ernst Morwitz: D.M. selber möchte zunächst feststellen, dass die Gesamtausgabe ein Novum darstellt und will von Bondi die Anerkennung verlangen, dass dieses Novum neue Grundlagen schafft und dass dafür neue Bedingungen vereinbart werden müssen.724
Als erster Band der Gesamt-Ausgabe Georges erscheint im Dezember 1927 in einer Auflage von 6000 Exemplaren Die Fibel; der Schlussband liegt im Juli 1934 vor.725 Diese Werkfassung ist ebenso offensichtlich wie die exklusiven Privatausgaben nicht an die Literaturkritik adressiert und wird von dieser auch so wahrgenommen, wie man an den Reaktionen auf Wolters’ ‚Blättergeschichte‘ sehen konnte: George war zur historischen Figur geworden. Seine Werkpolitik stand damit nicht mehr unter Bedingungen der kritischen, sondern der philologischen und literaturwissenschaftlichen Kommunikation, die sie allerdings zugleich überflüssig machen will: So weist Karl Viëtor (fälschlicherweise) darauf hin, daß für die Editionsphilologie bei George nichts mehr zu holen ist: „Bei so gültigem und klarem Testament wird kein Enkel es wagen dürfen, an diesem Werk auch nur _____________ 722 Foucault: Was ist ein Autor? S. 1009f. 723 Peter Hamecher: Eine Biographie Stefan Georges. In: Kunst Welt Wissen. UnterhaltungsBeilage der Berliner Börsen-Zeitung Nr. 72, 26. März 1930: „Wahrscheinlich würde […] Goethe recht entsetzt sein, wenn er sehen könnte, wie die Philologen seinen Nachlaß durchstöbern und noch das letzte Zettelchen an die Wäscherin sorgsam edieren“. Allerdings: „Für Goethe hat die Biographie eine gewisse Wichtigkeit, weil er nicht nur das abgelöste Werk schuf, sondern auch sein Leben bewußt zum Bilde formte“. 724 SGA, ohne Signatur. 725 Erste Erwähnung 1925 (Seekamp u. a.: Stefan George, S. 338).
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einen Buchstaben zu verrücken“.726 Und auch die Literaturwissenschaft finde ihre Tätigkeiten bereits erledigt: Die von George genau geplante Gesamt-Ausgabe werde „alles Reden und Schreiben der Darsteller und Biographen auf einmal überflüssig mach[en]. Denn die nötigen Angaben liefert George in kurzen Vorworten oder in Hinweisen im Anhang selbst“.727 Zur selben Zeit wird das bis heute nicht eingelöste Forschungsprogramm entworfen, die Beziehungen zwischen Dichtern und Germanisten zu untersuchen, und zwar gerade am Beispiel Georges.728 George wollte mit Sicherheit nicht allein und vermutlich nicht einmal vorwiegend im enklavierten Bereich der Wissenschaft rezipiert werden. Aber Lesehaltungen, Aushalte- und Aufmerksamkeitsstrukturen von Philologie und Literaturwissenschaft waren vorbildlich für die Lesehaltung, die die Gesamt-Ausgabe vermittelt. Neben Fotografien, Porträts oder Abbildungen von Büsten Georges liefert sie in ihren Anhängen, die von George genau komponiert wurden,729 „Lesarten“, Angaben zu und Texte von „Erstausgaben“, „Proben der Handschrift“ und andere Informationen zur Werkgeschichte sowie zur materiellen Ausstattung (zu Format, Schriftart, Papierfarbe und -qualität, Auflagenhöhe etc.). Zwar gibt George bisweilen nur eine Auswahl an Varianten, weil er sich nicht einem „gelehrten“, sondern einem „dichterischen zwecke“ verpflichtet weiß (GA 4, 125). Dennoch hat er diesen werkgeschichtlichen Aspekt, der wiederum dazu auffordert, Ausschlüsse und Stellenwerte wahrzunehmen,730 sehr wichtig genommen, wie sich an der Diskussion unter den ‚Erben‘ um die Gestaltung der Anhänge für die zweite Auflage der Gesamt-Ausgabe sehen ließ. So wurde beispielsweise die einleitende Bemerkung im Anhang zum Neuen Reich auch deswegen wesentlich erweitert und umformuliert, weil _____________ 726 In seiner Besprechung von Band 10/11, 17 und 18 der Gesamt-Ausgabe in: Deutsche Literaturzeitung 6, Heft 17, 28. April 1935, S. 732f., hier S. 733. 727 Siegfried Lang: Gesamtausgabe der Werke von Stefan George. In: Neue Zürcher Zeitung Nr. 207, 5. Februar 1928. 728 Schultz: Das Schicksal der deutsche Literaturgeschichte, S. 34f., 45f., 47f., 51, 82. 729 Anläßlich der Diskussion um die Gestaltung der zweiten Auflage der Gesamt-Ausgabe schreibt Albrecht Blumenthal am 27. Dezember 1938 an Frank Mehnert: „den anhang neu zu fassen find ich eine seltsame idee: wer hat das recht die vom M. genehmigten, häufig von ihm geänderten oder eingefügten angaben umzuändern? so stammt im JdS gerade der absatz über die franz. fassung nicht von mir .. also doch wol von DM? und etwa so zu ändern: ‚Sie hat .. ihre stelle gefunden’ fänd ich überflüssige pedanterie und ersezt etwas noch lebendes durch philologie“ (Erben III, 1111). 730 Vgl. zum Beispiel im Anhang zu den Büchern der Hirten- und Preisgedichte · der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten die Verweise auf die Erstausgabe, die bestimmte Gedichte nicht enthält (GA 3, 126) (nur nebenbei: Die Angabe zur Erstausgabe des Vorworts stimmt nicht. Es findet sich nicht in der ersten, sondern in der zweiten Folge der Blätter für die Kunst). Vgl. weiterhin den Hinweis z. B. im Anhang zum Neuen Reich, wo George auf Umstellungen der Reihenfolge aufmerksam macht (GA 8, 140).
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George an der ersten Fassung textkritische Versäumnisse bemerkt hatte (6.4 a).731 Die „Handschriftenproben“ der Anhänge sind auf vielfache Weise aufschlußreich und zeigen neben Phasen der Werkgeschichte beispielsweise die schon früh einsetzende Orientierung der Handschrift an der Druckseite732 oder liefern Zeugnisse der dichterischen Energieleistung in eine mehrfach geschichtete Textarbeit.733 Die Rezensenten der GesamtAusgabe haben in den Faksimiles der Manuskripte teils „Persönliche[s]“ gesehen und sie in eine Reihe mit „Bildnisse[n]“ und „dichterische[n] Zusätze[n]“ geordnet;734 teils sind sie den von George vorgetretenen Pfaden gefolgt und fanden in den „Handschriftenproben“ Zeugnisse der „harte[n] Arbeit des Willens in der allmählich sich steigernden Formgebung“735 oder Spuren der Entbehrungen, die den Weg zum Leidensweg des Autors auf seiner schriftstellerischen Laufbahn weisen.736 Bemerkt wird aber auch, daß die „Redaktion […] mit ausgewählten Beigaben an ersten Fassungen, Varianten, Handschriftproben und Abbildungen ein kennzeichnendes Vergnügen am philologischen Handwerk erweist […]“.737 _____________ 731 Bei aller editionsphilologischen Akribie, die die Herausgeber Boehringer, Mehnert und Stauffenberg an den Tag legen, wenn es um den genauen Vergleich von Ausgaben geht: Beim Schlussband scheinen sie erheblich in den Text einzugreifen. Zu ihren Konjekturen gehört dabei beispielsweise die „etwas gleichmässig[e]“ Verteilung der „interpunktion […] durch alle teile des bandes“ (Boehringer an Mehnert und Stauffenberg am 29. April 1934; SGA, B. Stauffenberg III, 1429). 732 So im Fall der Kopie aus einer „Petrarca-Auslese“ (GA 1, 132). 733 So in der Vorfassung des Ikarus-Gedichts, wo der handschriftliche Beginn der zweiten Strophe überarbeitet, durchgestrichen und auch in der endgültigen Fassung noch einmal korrigiert wird (GA 1, 133; dazu GW 1, 117). 734 Paul Rossi: Stefan George, Die Fibel. In: Welser Anzeiger, 21. Januar 1928. Vgl. auch Siegfried Lang: Gesamtausgabe der Werke von Stefan George. In: Neue Zürcher Zeitung, 5. Februar 1928: „[…] den bekannten Texten sind Lesarten beigefügt, Wiedergaben von Titelblättern und Schriftproben, mit denen ausgestattet sie erstmals erschienen – und Persönliches: Handschriften und Bildnisse verschiedener Lebensstufen des Verfassers. Die Selbstdarstellung eines Schaffenden also, wie sie sich einfacher und zugleich eindringlicher kaum denken läßt!“ 735 Peter Hamacher: Stefan Georges Gesamtwerk. In: Der Tag, 13. Januar 1928. 736 So in der Besprechung der Ausgabe des Siebenten Rings in der Gesamt-Ausgabe von H. Getzeny: Neue Lyrik. In: Kölnische Volkszeitung, 29. Okt. 1931: „Besonderen Wert empfängt sie [die Gesamt-Ausgabe, S.M.] durch die beigefügten Handschriftenproben. Erschütternd ist eine erste Niederschrift – kaum hallend vor Sturm und Schmerz. Zwei weitere Seiten zeigen Niederschriften letzter Hand: voll schwerer Wucht, doch in keinem Buchstaben künstlich gemacht und kalt, sondern das heiße, volle, aus aller Regelhaftigkeit der Buchstaben ins dunkel Ungeregelte weisende Leben der prägenden Hand verratend. So bezeugen auch die anderen Handschriftproben den Widersinn des weit verbreiteten Geredes von der Marmorkühle Georges“. 737 Mgr.: Schlußband. In: Prager Presse, 10. Aug. 1934.
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In jedem Fall testen die „Handschriftenproben“ erneut die Fähigkeit, im Unterschiedenen das Gleiche zu sehen. Denn um von der Handschrift Georges auf kontinuierlichem Weg zur StG-Schrift zu kommen, bedarf es außerordentlicher Anstrengungen und einer sehr genauen Aufmerksamkeit fürs Detail, insbesondere für die kleinen Abweichungen von der Kurrentschrift.738 Auffällig wird diese Anforderung eben wegen des strengen Bemühens um eine einheitliche Gestaltung, um eine „gleichmässigkeit“, die vom Titel über den Buchrücken bis zur Letter reicht.739 Die Faksimiles durchbrechen den blockhaften Eindruck des Seitenbilds, der durch die Anordnung der Gedichte und durch die StG-Schrift erzielt wird. Die Anforderungen, die George stellt, beschränken sich daher nicht auf das Sehen des Statuarischen und zum Monument gewordenen Werks. Die Gesamt-Ausgabe Georges ist keine historisch-kritische Ausgabe. Sie genügt weder damaligen noch heutigen editionsphilologischen Ansprüchen. Sie nimmt aber Einfluß auf die elementare Wahrnehmbarkeit des Werks als eines physischen und psychischen Faktums und okkupiert die Aufmerksamkeit auf eine Art und Weise, die zentralen philologischen Beobachtungsmustern entspricht. George nutzt die philologische Haltung, um den Gefahren der kritischen Kommunikation zu entkommen, dies aber nicht durch Verunsicherung der Beobachter, also durch die quantitative Erweiterung der Aufmerksamkeit, die die immer mögliche Blickbeschränkung bewußt macht, sondern durch die Intensivierung der Aufmerksamkeit. Wenn sich die zerstreute und stimmungsvolle Aufmerksamkeit der Philologie, wie sie sich in der kritischen Kommunikation des 18. Jahrhunderts anbahnt und im Laufe des 19. Jahrhunderts institutionalisiert, vor allem der Breite des Wahrnehmbaren widmet, dann geht George gleichsam in die Tiefe. Er versetzt die Aufmerksamkeit in eine derartige gesammelte Beweglichkeit, erzeugt eine zentrierte Dezentrierung und dezentrierte Zentrierung der Wahrnehmung, daß das in der Beobachtung notwendig Ausgeschlossene immer als Ausgeschlossenes merkbar und als Einzuholendes spürbar bleibt. Aber auch diese Form der Werkzentrierung provoziert und ermöglicht Dezentrierungen. Allein ein Blick auf die Erinnerungsliteratur, die zum 60. Geburtstag Georges am 12. Juli 1928 und damit parallel zur Gesamt_____________ 738 Dies gilt natürlich auch umgekehrt, wenn man an einzelnen Abweichungen erkennt, welche psychische und physische Selbstkontrolle die Umstellung der Handschrift erfordert – vgl. zu der von George sich selbst verordneten „ungeteilte[n] Aufmerksamkeit auf den Akt des Schreibens selbst“: Reuß: Industrielle Manufaktur, S. 185. 739 So Georg Peter Landmann in einem Brief an George vom 5. Juli 1930 (SGA, George III, 7733). Vgl. auch Ernst Gundolfs Brief über die einheitliche Schriftgestaltung vom 23. September 1926 (SGA, George III, 4700).
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Ausgabe erscheint, könnte dies verdeutlichen.740 Die strukturelle Beziehung ergibt sich wiederum im Blick auf Wolters’ ‚Blättergeschichte‘. Über sie schreibt Will Scheller, der sich auch als George-Biograph betätigt hat: Der außergewöhnliche, keinen zeitgenössischen Vergleich zulassende Umfang der Literatur über den deutschen Dichter George hat schon vor zehn Jahren etwa dazu geführt, ihr die Bedeutung eines der mächtigsten Archive der neueren Zeitund Geistesgeschichte zuzusprechen. […] Da er […] selbst neuerdings, nämlich in der Gesamtausgabe seiner Werke, durch die Beigaben von Lichtbildern und Handschriftproben […] Wege zum Wissen um intimere Einzelheiten seines Lebens weist, kann es nicht wundernehmen, wenn nun gleichsam das Tor weit aufgemacht wird, durch welches allen, die in das hinter und unter dem Werk liegende Geflecht persönlicher Bestimmtheiten, menschlicher Beziehungen, schicksalshafter Kämpfe sich zu gewinnen suchen, Eingang gewährt und eine schier unschätzbare Möglichkeit geboten wird, ihre Wünsche zu befriedigen und ihre Anschauung vom Wesen Georges in ungeahnt weitreichender Weise zu vervollständigen: durch das Buch von Friedrich Wolters über ‚Stefan George und die Blätter für die Kunst‘.741
Die intensivierte Aufmerksamkeit für die Medialität und Topographie des Werks diffundiert von sich aus in die Kontexte. In diesen konzeptionellen Zusammenhang gehört die Verlagswerbung, die Georges Werk (und seine Porträts) im Ensemble der Kreis-Schriften sowie angelagerter Literatur präsentiert742; dazu gehören die Hinweise in den Anhängen der GesamtAusgabe auf die editio princeps von Gedichten in den Blättern für die Kunst, deren Auswahlbände im Jahr 1929, im „Umdruckverfahren hergestellt“, ebenfalls im Begleitprogramm der Gesamt-Ausgabe erscheinen und Gegenstand einer kontextsensiblen Lektüre sein können; und in diesen Zusammenhang von Konzentration und Diffusion gehören die Literaturangaben zur Auswahledition von Gedichten in Zeitschriften oder an anderer Stelle (z. B. GA 4, 125). Gemeinsam mit Informationen über Auflagenhöhe oder Vertriebsarbeit (öffentlich / nicht-öffentlich; z. B. GA 2, 126) stiftet George auf diese Weise ein diffuses Feld literaturgeschichtlicher Wirksamkeit und skizziert die Kommunikationswege eines von ihm neu sortierten literarischen Felds.743 Schließlich wird man auch nicht vergessen dürfen: In seinem _____________ 740 Landmann: Stefan George und sein Kreis. 2. Aufl., S. 135ff. 741 Will Scheller: Deutsche Geistesgeschichte seit 1890. In: Zeitenspiegel (Beiblatt der Preußischen Kreutz-Zeitung) 81, Nr. 1, 12. Januar 1930. 742 Vgl. z. B. Stefan George und sein Kreis. Verlags-Verzeichnis (1934). Vgl. auch die politisierte Fassung, wo viele Schriften aus dem George-Kreis sowie George selbst so präsentiert werden, daß sie an die nationalsozialistische Rhetorik anschlußfähig sind: Werke aus dem Kreise der Blätter für die Kunst (1934). George firmiert hier als direkter Vorbereiter für den Marsch „in das Dritte Reich“ (ebda., S. 6). 743 Dies gilt zumal für die Fibel als Eröffnungsband. Dort beginnt der Anhang mit folgendem Passus: „Die erste ausgabe der Fibel erschien im jahre 1901. Folgende gedichte waren
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letzten Gedichtband hat George Gedichte zweier Kreismitglieder so integriert, daß sie für den nicht eingeweihten Leser als Gedichte von seiner Hand erscheinen mußten. Es handelt sich dabei um Gedichte von Ernst Morwitz und Friedrich Wolters, also seines Kommentators und seines Historiographen (GW 9, 115). In der Selbsthistorisierung, die von den Beobachtern bemerkt wird, tritt George sich bisweilen wie ein Philologe, zumindest aber wie ein Beobachter zweiter Ordnung gegenüber.744 Gerade mit dieser Selbsthistorisierung verband George das Vertrauen auf seine Modernität und Zukunftstauglichkeit. Vallentin notiert ein Gespräch vom 20. November 1927 über die Gesamt-Ausgabe: Ich meinte, dass die Gesamtausgabe im nächsten Jahr einen grossen Erfolg haben würde, und die Presse würde es sich ja nicht nehmen lassen, den Meister auf alle mögliche Weise zu berühmen. Der Meister war auch dieser Meinung. Ich äusserte darauf, der Meister würde schon dafür sorgen, dass die Presse unrecht behalte. Er würde sein bewährtes Mittel anwenden, ein Schritt vorwärts und zwei zurück. Worauf der Meister ergänzte: und dann kommt etwas ganz anderes aus einer ganz anderen Ecke, woran niemand denkt. Ich bin viel moderner als die jungen. Ich habe immer gefürchtet, dass ich sie im Alter nicht mehr verstehen würde und heute sehe ich, ich bin ihnen noch immer voraus. Alles was die jungen machen, ist in zehn Jahren veraltet.745
Aber tatsächlich macht George insofern einen Schritt zurück, als sich diese Werkpolitik bereits längerfristig angekündigt hat. Datiert auf den 22. März 1912 liegt ein erster Verlagsvertrag vor, der in § 10 u. a. festhält: „Die Gesamtausgabe des Herrn George soll bei Herrn Bondi erscheinen _____________
schon früher veröffentlicht: Die Najade· Der Blumenelf · Die Rose · Ikarus in den Bl. f. d. K. 1. F. 5. B. mit der gemeinsamen Überschrift ‚Rosen und Disteln‘ und diese einleitung: ‚Unter diesem namen der den meisten unserer leser bekannt · uns selber eine liebe erinnerung ist bieten wir aus der frühesten schaffenszeit unsrer mitarbeiter einige proben. Geschmack und anlage eines jeden leise verratend sind sie nicht nur eine hübsche seltsamkeit sondern machen auch den unterschied älterer und heutiger dichtweise klarer. Sie sind vielleicht um so mehr hier angebracht als davon nie etwas an die öffentlichkeit gelangte.‘ Ferner brachte die Allgemeine Kunst-Chronik 1894 heft 23 das gedicht Gelbe Rose · ebendort im Wolfskehlschen aufsatz über St.G.: ‚Drunten zieht mit bunten wimpeln..‘ Die Legende: Erkenntnis erschien zuerst Bl. f. d. K. 1.F. 1.B. Frühlingswende Bl. f. K. 1.F. 2.B. beide unter dem verfassernamen Edmund Lorm · wiederabgedruckt in der Allgemeinen KunstChronik 1894 heft 23 mit der überschrift: Aus den Werken von Stefan George“ (GA 1, 128). 744 Dies wird im Anhang zum Teppich des Lebens besonders deutlich. Dort inszeniert George die Unsicherheit des Konjekturalphilologen, der entgegen allen „früheren ausgaben“ eine andere „schreibung“ favorisiert, sich aber nur annäherungsweise der Intention des Autors oder dem Maßstab poetischer Perfektion anzunähern vermag: „Obwol in allen früheren ausgaben im selben gedicht [Den Brüdern, GW 5, 71; S.M.] gedicht s. 77 ‚glücklichen barbaren’ steht · scheint ‚glücklichern’ die bessere lesart zu sein“ (GA 5, 94). 745 Vallentin: Gespräche mit Stefan George, S. 97.
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[…]. Kein Band der Gesamtausgabe darf vor 1919 erscheinen“.746 1897 erwähnt George allerdings bereits in einem Brief an Richard Moritz Meyer, er müsse an eine Gesamtausgabe seiner Gedichte denken;747 1898 findet sich die Anzeige, daß der erste Band der Blätter-Auswahl „gleichzeitig mit der ersten vollständigen ausgabe der werke von Stefan George“ bei Bondi veröffentlicht werde.748 Das Kriterium der Vollständigkeit wird dann im Verzeichnis der Erscheinungen der Blätter für die Kunst von 1904 um weitere philologische Aufmerksamkeitskriterien ergänzt, die zugleich den „sammler“ adressieren. In der „Vorrede“ heißt es: Mehrfache bedürfnisse verlangten ein nach guten quellen bearbeitetes verzeichnis dieser hefte und bücher von denen die meisten so selten sind dass sie weder im buchhandel noch in einer öffentlichen bücherei aufliegen.
Geboten werden Inhalte, Beschreibung der Buchausstattung sowie Preisangaben (soweit die Publikationen nicht ohnehin „unverkäuflich“ waren, wie der Prospekt bei mehreren Werken notiert). Abschließend heißt es: „Bei einer ausstellung dient dieses büchlein zugleich als führer“.749 Die libidinöse Bindung ans Werk, mit der George zuvor die Herausgabe öffentlicher Ausgaben legitimiert hatte (6.1 c), gründet nicht mehr allein im „schönheitverlangen“, sondern im Interesse an einer kommentierten bibliographischen Aufarbeitung, die auf die Musealisierung des Gegenstands und auf eine spezifische Liebe zum Wort hinausläuft. Bedient George damit philologische Interessen, so konstituiert die Erklärung des Verzeichnisses, es handle sich bei der „Gesellschaft der Blätter für die Kunst“ keinesfalls um einen „geheimen bund“, sondern um einen „lose[n] zusammenhang künstlerischer und ästhetischer menschen“ und zugleich um eine geistesgeschichtlich relevante „bewegung“: Der BlätterKreis präsentiert sich als willentlich unkontrollierte Erscheinung des Zeitgeistes auf den Gebieten der Literatur (George und Hofmannsthal) und der bildenden Kunst (Hofmann, Lechter und Lepsius), so wie Wolters immer wieder epochale Gemeinsamkeiten herstellen wird. Und wie der Kreis-Historiograph plausibilisiert sich die Selbstepochalisierung negatorisch: Das gemeinsame Merkmal der „künstlerische[n] und ästhetische[n] menschen“ besteht darin, daß sie „anhänger[ ] der dem naturalismus entgegengesezten · auf eine tiefere geistigkeit gerichteten neuen bewegung“ sind. Kurz: Der Blätter-Kreis bietet sich als idealer Gegenstand dem oppositorischen Denkstil der Geistesgeschichte, ihrem Drang zur Synthese und ihrem Willen zur Analyse elementarer Strukturen an. Praktischerweise _____________ 746 747 748 749
SGA, ohne Signatur. Seekamp u. a.: Stefan George, S. 65. SGA, George III, 1527. Verzeichnis der Erscheinungen der Blätter für die Kunst, unpag.
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veranstaltet diese „bewegung“ neben Lesungen auch noch „künstlerische ausgaben der alten und neuen dichter“, liefert also gleichsam ihre eigene Tradition gleich mit.750 In Bondis Verlagsprospekt von 1910 wird diese Koalition von Poesie und Wissenschaft noch sinnfälliger. Der Prospekt beginnt mit der Annonce von Richard M. Meyers Ausgabe des Briefwechsels Goethe und seine Freunde, der – anders als die vorliegenden Editionen von Goethe-Briefen – „Rede“ und „Gegenrede“ und damit den eigentlichen „Reiz brieflichen Verkehrs“ erschließe. Dieser liege „im Austausch von Meinungen“751 – die Nähe zum wirkungsästhetischen Konzept von Gundolfs Shakespeare und der deutsche Geist und zur Absicht, „eine Geschichte lebendiger Wirkungen und Gegenwirkungen“ zu konstruieren, ist offensichtlich.752 Dadurch erst, so der Prospekt weiter zu Meyers Edition, werde „Goethes geistige Weltherrschaft“ erkennbar. Diese Visibilisierung von Kommunikationsund Einflußverhältnissen dürfte unschwer auf George zu übertragen sein, zumal im Licht von Wolters‘ ‚Blättergeschichte‘, wo Goethes unterschwelliger Wirkungsmacht paradigmatische Funktion zugesprochen wurde (6.4 b). Auf Meyers Brief-Edition folgt die Anzeige von Gundolfs Shakespeare-Ausgabe, „die den strengsten wissenschaftlichen und dichterischen Anforderungen entspricht“, damit „Resultate einer gründlichen Textkritik“ präsentiert und in „knappen Anmerkungen […] viele[ ] neue Gesichtspunkte für Lesart und Deutung des englischen Textes“ bietet. Die „strengsten wissenschaftlichen und dichterischen Anforderungen“ verkörpert indes keine äußere Instanz, sondern in Personalunion George selbst. In der Anzeige wird George zwar lediglich als Übersetzer der Sonette angeführt. Über dessen tragende Bedeutung war Gundolf sich indes, auch in finanzieller Hinsicht, im klaren. In einer „Erklärung“ vom 6. April 1909 heißt es: „Da Stefan George bei meiner in Bondis Verlag erschienenen Übersetzung bzw. Revision von Shakespeares Werken einen sehr grossen Anteil an der Arbeit gehabt hat so ist derselbe berechtigt von dem Reingewinn der sich etwa aus den Bühnenaufführungen ergeben sollte die Hälfte zu beanspruchen“.753 _____________ 750 Die Blätter halten dabei im übrigen als einen ihrer Erfolge fest: „[W]ir […] begnügen uns heute mit der feststellung dass über das einzelne gelungene versgebild hinaus immer mehr der wert grösserer dichterischer zusammenhänge empfunden wird […]“ – „in jeder Beziehung“, im Bereich der dichterischen und wissenschaftlichen Wirkung sowie beim „einfluss im lebendigen“, sei „eine folge: eine überlieferung geschaffen […]“ (BfK XI/XII, 5). 751 Neuere Werke aus dem Verlag Georg Bondi, unpag. 752 Gundolf: Shakespeare und der deutsche Geist, S. VII. 753 SGA, ohne Signatur.
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Welche „Anteile“ George an der „Arbeit“ gehabt hat, erläutert Gundolf in einem Brief an Wolfskehl: Die gemeinsame Arbeit am Shakespeare hat mir George wieder und eindringlicher von dieser – ich meide das Wort nicht und spreche es mit einem dichteren Sinn aus – SITTLICHEN Seite so gezeigt, wie man ihn aus seinen Werken zwar ahnt, aber nicht begreift: eine erhabene, unbarmherzige und hingegebene Sachlichkeit, ein Überschauen und nimmermüdes Ergründen aller Details, ein Kampf mit allen Engeln und mit allen Teufelchen, den Tücken des Objekts, eine enorme Akribie und ein verzehrender Fleiss, eine Allgegenwart der Realien, eine solche rührende Ehrfurcht vor jedem positiv Geleisteten, auch dem kleinsten Philologenstückchen, kurz bei dieser leidenschaftlichen Tiefe des Wesens eine Treue und Exaktheit, dass ich nur mit gerührter Ehrfurcht und einem noch vertieften Bild von diesem Menschen auf das letzte arbeitsvolle Jahr zurückblicke, aber auch mit einer an Selbstverachtung grenzenden Einsicht in alles was bloss Geist und genialisches Getue ist in vielem, worauf ich mir bisher viel zugute tat. Lieber Karl, dass ich den Dichter des Teppichs und des Siebenten Rings hier einmal monatelang an der Arbeit gesehen, in die Maschinerie dieses Geistes Einblick gewonnen habe, ist mir ganz unschätzbar – ,Luft die wir atmen... ‘ Er ist das einzige Genie unsrer Zeit und ein typisches Genie überhaupt und wenn wir aus Büchern von Goethe und Napoleon lesen, was sie all gewusst, gekonnt und wie furchtbar ernst sie ihren Beruf und ihre Gegenstände genommen haben – so bedeutet das nicht den zehnten Teil für unsre Kenntnis, wie die lebendige Teilnahme an dem Wirken eines solchen Mannes. Ich habe über ihn nicht weniger gelernt als für mich […].754
Der „Gestus des ‚Dienens‘“ gehört nach wie vor zum Ethos der Germanistik, auch in ihrer geistesgeschichtlichen Fassung. Die „strenge Zucht“ (Ernst Elsner), die „Staatsdienerpflicht“ des Philologen (Oskar Walzel) oder das Votum für „Reinheit“, „Fleiß“ und „Mühe“ (Konrad Burdach), mögen als Referenz an die philologische Methode zu Floskeln werden, aber „Strenge“ und „Gewissenhaftigkeit“ lassen sich auch von der Geistesgeschichte reklamieren.755 Bezeichnenderweise lernt Gundolf in der philologischen Übersetzungsarbeit, die – dem Verlagsprospekt zufolge – für den „Fachmann unentbehrlich“ sein soll, das Werk des Dichters zu verstehen: Klar wird mir aber auch, dass Georges Grösse nicht in irgend welchem vagen Gewölk von Aussermenschlichem zu greifen ist, sondern man seinem Weg von den Organen, die er hat, zu den Dingen folgen muss, seine kleinsten Schritte machen mir seine grössten Gedichte deutlicher […].756
Wiederum gilt: Der philologische Blick für die ‚Kleinigkeiten‘ lernt aus dem Blick auf die „kleinsten Schritte“, wie er seine Aufmerksamkeit aufs Detail einzustellen hat. Was allerdings als Detail gilt, ist in der Philologie nicht weniger fragwürdig als in der Literaturwissenschaft oder in der Lite_____________ 754 George / Gundolf: Briefwechsel, S. 16. 755 Barner: Zwischen Gravitation und Opposition , S. 207f. 756 George / Gundolf: Briefwechsel, S. 17.
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raturkritik. Hinzu kommt: Gundolf wird im Laufe der Zeit immer schwerer an dem Konflikt tragen, als Literaturhistoriker ein Georgescher Wertewissenschaftler und damit ein Selektionskünstler zu sein, oder anders: Er wird immer stärker die Ausweitung des Blicks ins Spiel bringen, die die Fokussierung auf Kleinigkeiten provoziert (5.2).757 Auf die Shakespeare-Anzeige folgen im Verlagsprospekt von 1910 Anzeigen der Blätter für die Kunst sowie der Werke Georges, seiner Übersetzungen und Anthologien, unterfüttert mit dem Hinweis auf Klages’ Stefan George (für deren mögliche „Unterbilanz“ George im übrigen gegenüber Bondi gebürgt hat).758 Vor Wilhelm Bölsches „Naturgeschichte des Tierreichs“, Kurt Breysigs Kulturgeschichte der Neuzeit sowie weiteren kleineren Hinweisen und direkt nach der Anzeige der George-Werke findet sich eine längere Ankündigung der Reihe „Das neunzehnte Jahrhundert in Deutschlands Entwicklung“ mit Studien zur Sozialgeschichte (Theobald Ziegler), Literaturgeschichte (Richard M. Meyer), Kunstgeschichte (Cornelius Gurlitt), Politikgeschichte (George Kaufmann), Wirtschaftsgeschichte (Werner Sombart) und Militärgeschichte (Colmar von der Goltz) – Bücher wie diese wird Wolters genutzt haben, als er sich, „um den hintergrund der zeit sicherer zu sehen“, für seine ‚Blättergeschichte‘ „viel mit den staats- und wirtschaftstheorien und zuständen des 19. und 20. jahrhunderts befasst“ hat.759 Diese Anzeige verdeutlicht die konzeptionellen Gemeinsamkeiten zwischen Poesie und Wissenschaft im Prozeß der Etablierung von Negativität. Wie George dem ‚Mißverständnis‘ einen weiten Raum zubilligen kann, weil ‚Deutung‘ für seine Werkpolitik nur ein Oberflächenphänomen ist, so stellt im Rahmen der geistes- und eben auch schon kulturwissenschaftlichen Forschungen nach ‚1900‘ prinzipielle Perspektivität kein Problem dar. Das Programm erklärt: Da die in den einzelnen Bänden behandelten Gebiete des Kulturlebens oft genug einander nicht nur berühren, sondern sich stellenweise fast auch decken, so kann es nicht fehlen, dass der Leser des Gesamtwerkes mitunter über ein und denselben Gegenstand verschiedene Auffassungen und Darstellungen kennen lernt, je nach den verschiedenen schriftstellerischen und wissenschaftlichen Individualitäten der Verfasser. Wir glauben darin keinen Mangel, sondern einen besonderen Reiz des Gesamtwerkes zu erkennen. Im Streben nach möglichster Objektivität einig, werden die Autoren kraft der bei ihnen anerkannten Sachkenntnis und Ur-
_____________ 757 Osterkamp: Nachwort, S. 98ff. 758 Als Abschrift findet sich im SGA (George II, 293A) folgender Passus: „Ich erkläre mich damit einverstanden, dass die Unterbilanz, die die Broschure ‚Stefan George’ von Ludwig Klages eventuell zur Folge haben wird, aus den Überschüssen meiner Werke gedeckt wird“. 759 Brief an George vom 25. Januar 1914 (George / Wolters: Briefwechsel, S. 95).
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teilsfähigkeit ihre eigene Meinung unabhängig voneinander zu vertreten und zu behaupten haben.
Um nur kurz den philologiegeschichtlichen Kontext zu skizzieren: Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war klar, daß die Philologie nicht weniger mit Visibilisierungsproblemen zu tun hat als die Literaturkritik – wo die einen vorbildliche Philologie entdecken, sehen die anderen nur „Irrthümer, Willkür, falsche Methode“. Aus diesem Grund forderte Wilhelm Scherer, die Lösung auf einem „Gebiet“ zu suchen, „das man noch nicht betreten hat, und das auch mit der gewöhnlichen Routine gar nicht zu erreichen ist“.760 Ein Ausweg bestand für ihn darin, die Perspektive ‚tiefer‘ zu legen, etwa auf einen Bereich, wo man die „Causalität“ der historischen Zusammenhänge beobachten kann.761 Zwar ist Scherer nur mit groben Verkürzungen für einen Positivismus zu reklamieren, der sich ebenso groben wissenschaftsgeschichtlichen Verkürzungen verdankt;762 dennoch läßt sich aus heuristischen Gründen ‚die‘ Geistesgeschichte als der Versuch verstehen, die von Scherer angesichts der irreduziblen Multiperspektivität notierte Problemlage dadurch in den Griff zu bekommen, daß sie die Vielzahl von Zugängen anerkennt. Sie gesteht sich den faktischen Methodenpluralismus ein und macht daraus eine Position, die sie aufgrund ihrer Vielgesichtigkeit weniger positiv, dafür aber mit hohem Negationsaufwand gegen Historismus, Positivismus, Biographismus, Relativismus, Spezialismus und andere Gegner profiliert, die oft genug lediglich Pappkameraden sind.763 Die Germanisten entfalten also um 1890 das gemeinsame Ziel einer ‚Vertiefung‘,764 handeln sich damit aber Probleme ein, weil sie durch die Methodenreflexion eigentlich zu einer offensiven Anerkennung mehrerer gleichberechtigter Zugänge mit unterschiedlichen Ergebnissen gezwungen werden. Statt dessen entscheiden sie sich weiterhin für Gegenstandsnähe als Qualitätskriterium.765 Die Geistesgeschichte treibt die anstehenden Fragen ins Grundsätzliche, und dies nicht zuletzt katalysiert über die Generalkritik an der modernen Kultur oder Zivilisation im Zuge des Nietzscheanismus.766 Das ‚Leben‘ und die ‚Jugend‘ avancieren zu Schlagworten – auch dies dürfte George zwar in der jeweiligen Trivialisierung, nicht aber _____________ 760 So in seiner Lachmann-Rezension (1876) im Blick auf den Nibelungen-Streit; vgl. dazu Kolk: Liebhaber, Gelehrte, Experten, S. 100. 761 Vgl. seine Rezension von Hettners Literaturgeschichte (1865; Scherer: Poetik, S. 210ff.). 762 Höppner: Das „Ererbte, Erlebte und Erlernte“ im Werk Wilhelm Scherers; Kindt / Müller: Dilthey gegen Scherer. 763 Barner: Zwischen Gravitation und Opposition, S. 214. 764 Dainat: Von der Neueren deutschen Literaturgeschichte zur Literaturwissenschaft, S. 494f. Streim: Introspektion des Schöpferischen, S. 155f. 765 Dainat: Von der Neueren deutschen Literaturgeschichte zur Literaturwissenschaft, S. 501. 766 Kolk: „Repräsentative Theorie“, S. 87,
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an sich gestört haben.767 Die Geistesgeschichte greift einen außerakademischen kulturkritischen Diskurs auf und dient sich damit der ‚Gesellschaft‘ an. Mit Erfolg: Bis in die 1950er und 1960er Jahre transportiert die Germanistik die Stereotypen über Literatur und ihren besonderen Wert, die hier formiert werden.768 Man könnte also sagen: Georges philologische Haltung zeigt nur, was die sich etablierende Literaturwissenschaft ihm verdankt. Oder anders: Er erstattet der Literaturwissenschaft das zurück, was die Philologie ihm gegeben hat. Die verbreitete Aversion gegen die George-Schüler in der etablierten und institutionalisierten Germanistik zeigt dabei, daß diese sich in ihrer Eigenständigkeit und damit in ihrem Status als Wissenschaft bedroht sah, den sie sich gerade mühsam gesichert hatte.769 Der wechselseitige Pakt von Literaturwissenschaft und literarischem Feld erklärt sich aus der gemeinsamen Bereitschaft zu Werten, die gegen die selektionsarme Aufmerksamkeit der Philologie ausgespielt werden und in einen breiten Reformdiskurs der Zeit gehören.770 Neben dieser Etablierung als Wertewissenschaft läßt sich als zweites Merkmal der Geistesgeschichte bemerken: Ihr kognitiver Zugewinn besteht darin, daß sie an der Beobachtung zweiter Ordnung festhält. Auch wenn man sich in der Zeit der philologischen Methode Gedanken darüber gemacht hat, wie man zu seinem Gegenstand kommt, wie man zu den Fragen kommt, die man an ihn stellt, und ob es nicht vielleicht andere Fragen geben könnte, und auch wenn es komplexe methodische und theoretische Überlegungen gegeben hat, war die philologische Arbeit doch cum grano salis in der Objektebene zentriert. Die Objekte waren gegeben, es galt, sie zu erschließen. Im Zeitalter des Methodenpluralismus ist offensichtlich, daß die Zugänge zur Literatur kontingent sind, daß Methoden parallel existieren und daß die Ergebnisse der einen Methode sich aus Sicht einer anderen Methode anders ausnehmen können.771 Dies gilt natürlich vor allem für die unnachahmbaren literaturwissenschaftlichen Arbeiten aus dem George-Kreis.772 Literatur- und Wissenschaftstheorie wird zum unverzichtbaren Teil literaturwissenschaftlicher Arbeit. Jede Methode hat ihre Legitimität, jede aber auch ihre Grenzen. Was also steckt hinter den Methoden? Eben hierauf gibt George keine Antwort. Aber er stellt wie die Geistesgeschichte die Aufmerksamkeit auf diese Frage ein. Und so ist die von ihm direkt kontrollierte Literaturwissenschaft zwar zur radikalen Selektion bereit, _____________ 767 768 769 770 771 772
Winkler: Der Jugendbegriff im George-Kreis. Kolk: „Repräsentative Theorie“, S. 89. Osterkamp: Friedrich Gundolf zwischen Kunst und Wissenschaft, insbes. S. 188ff. Kolk: „Repräsentative Theorie“, S. 95ff. Kolk: „Repräsentative Theorie“, S. 92f. Barner: Zwischen Gravitation und Opposition, S. 221.
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aber eben nur deswegen, weil mitgesehen wird, was der „Auswahl“ zum Opfer fällt: „Nur wer alles prüft hat das Recht zur Auswahl, und auf der Auswahl beruht erst die Darstellung“773 – allerdings: Woran sieht man, daß einer ‚alles‘ geprüft hat? Gibt es ein Äquivalent in den wissenschaftlichen Schriften zu den lyrischen Taktiken der Verunklärung, die das, was sie ‚zerstäuben‘ noch immer in der Beweglichkeit ihrer Sprachformen einfangen (6.1 a)? Die Ordnung von Georges Werken in dem zitierten Verlagsprogramm Bondis gehört in diese Aufmerksamkeitskultur. Sie beginnt mit der 1901 erschienenen Fibel und sortiert dann von den Hymnen bis zum Siebenten Ring die Werke in der Reihenfolge ihrer Publikation. Daß die Auswahl erster Verse noch immer nicht zufällig und nicht selbstverständlich am Anfang der Werkreihe steht, sieht man einerseits daran, daß die Entscheidung für die Eröffnung der Gesamt-Ausgabe mit den Jugendwerken erst verhältnismäßig spät gefallen zu sein scheint. Vallentin notiert am 30. Oktober 1927: „Es wird von der neuen Gesamtausgabe gesprochen, die jetzt mit der ‚Fibel‘ beginnt“.774 Andererseits verdeutlicht ein späterer Verlagsprospekt, vermutlich aus der Zeit um 1920, den konzeptionellen Stellenwert der Ordnung. Dort beginnt die Werkreihe ebenfalls mit der Fibel, die allerdings als „vergriffen“ geführt wird775 – auch dies stimuliert eine Variante der von George geforderten Haltung, die das Abwesende als Anwesendes mitsieht. Worin also besteht die Funktion der Fibel? Die Ausgabe der Juvenilia signalisiert eine bestimmte Aufmerksamkeitshaltung. Sie testet gleichsam die Aushaltefähigkeit und Enttäuschungsresistenz des Publikums bzw. die höherstufige Unwahrscheinlichkeit seines Interesses und seiner Liebe zum Wort. Das Vorwort warnt die Käufer: Die „freunde und verehrer“, die den Autor zur Publikation gedrängt haben und auf „schöne offenbarung warteten“, werden „vielleicht mit einer enttäuschung belohnt: sie werden das für die zukunft bedeutsame – sofern es nicht aus persönlichen gründen oder als zu unfertig ausgeschieden ist – gar oft verhüllt und verflüchtigt vorfinden und sie bedenken zu wenig dass die jugend gerade die seltensten dinge die sie fühlt und denkt noch verschweigt“. Wieder gibt der Autor selbst das Vorbild für die erforderliche Visibilisierungsleistung ab: Wir die dichter aber erkennen uns in diesen zarten erstlingen wieder und möchten sie unter unsre besondere obhut nehmen .. wir sehen in ihnen die ungestalten puppen aus denen später die falter leuchtender gesänge fliegen und lassen uns gern durch sie erinnern an die zeit unsrer reinsten begeisterung und unsrer vollen blühwilligkeit. (GW 1, 7)
_____________ 773 Gundolf: Shakespeare und der deutsche Geist, S. VII. 774 Vallentin: Gespräche mit Stefan George, S. 89. 775 Allgemeine Ausgaben aus dem Kreise der Blätter für die Kunst, unpag.
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Hier gilt es nicht nur im Verschiedenen, sondern sogar im Verschwiegenen das Gleiche zu sehen. Im übrigen entspricht die Funktion der Juvenilia im Werk Georges derjenigen, die sich seit Wieland herausgebildet hat (3.3 c). Daraus erklärt sich die für George zwar ungewöhnliche, für die Geschichte des Werks jedoch typische Datierung der Rubriken: In den Versen finde sich die „geschichte mein[es] ganzen verflossenen lebens zusammengestellt“, wie es in der Widmung einer frühen handschriftlichen Sammlung seiner Jugendgedichte an Arthur Stahl heißt, und das Publikum wird entsprechend selektiert: „diese blätter mögen nur als erinnerungszeichen an einen freund gelten […]“ (GW 1, 98f.; 5.4.2 c). Der Ankündigung der Gesamt-Ausgabe zufolge markiert die Aufmerksamkeit der „dichter“ und „freund[e]“ gegen Ende der 1920er Jahre den Lesestandard: Die Fibel sei seit 15 Jahren vergriffen „und seitdem außerordentlich gesucht“.776 Tatsächlich gehört die Liebe zum Wort, die das Gesamtwerk als Gesamtwerk vermittelt, in dieser Zeit zum Bereich der für jedermann käuflichen Liebe, auch wenn es hier Stufungen der Prostitution gibt. Dietrich Seckel fordert 1933 einen Volks-George, eine „Volksausgabe“, weil die Bände der Gesamt-Ausgabe „um 9 Mark herum kosten (also praktisch unerschwinglich sind)“, was allerdings nicht ganz richtig ist.777 Unter der großen Überschrift „Gesamtausgaben lebender Dichter“ jedenfalls erklärt Der Bücherfreund im April 1930 den Wert der selektionslosen Aufmerksamkeit: Es ist sehr wichtig, von einzelnen Dichtern, die man schätzt, alles kennenzulernen, weil nur das Gesamtwerk die schöpferische Persönlichkeit und den lebendigen Quellgrund des Wesens offenbart. Wichtiger als das einzelne Werk ist der Mensch, der es schuf. Diesem Menschen kommt man nur durch Versenkung in das Gesamtwerk nahe. Dadurch erschließt man sich auch einzig und allein das Verständnis des einzelnen Werks. Die Werke eines Dichters erhellen sich wechselweise durch Schlaglichter, die vom einen aufs andere fallen, erschließen sich durch geheime Fäden, die im Wurzelboden des Unterbewußten scheinbar Gegensätzliches mit einander verbinden. Der Besitz einer Gesamtausgabe allein spiegelt auch die Liebe, die man für einen Dichter empfindet.778
_____________ 776 Stefan George. Gesamtausgabe, unpag. 777 Dietrich Seckel: Ein Volks-George. In: Deutsche Allgemeine Zeitung, 23. Juli 1933. Dies gilt allerdings nur für „Doppelbände“, und dann auch nur in der Leinenausgabe (9.50 Mark), nicht in der broschierten Ausgabe (7.65 Mark). Ansonsten kosten die broschierten Ausgaben 5 Mark, die Leinenausgaben 6.75 Mark (Stefan George und seine Kreis, unpag.). Dennoch sind die Bände der Gesamt-Ausgabe nicht günstig. Auch Bondi ist der Meinung, daß die Gesamt-Augsabe teuer ist und verweist darauf, daß der „ganze Mommsen für 5 RM“ zu haben ist (Morwitz an George, 11. Jan. 1933; SGA, George III, 9368). 778 So im Geleitwort (Der Bücherfreund. Literaturblatt der „Lese“. Sonderbeilage der Geraer Zeitung. April 1930).
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Das Gesamtwerk als solches trägt dazu bei, selektionslose Aufmerksamkeit („alles kennenzulernen“) als kulturelle Kompetenz zu verbreiten. Bereits wenn Kinder die Gesamtausgaben im Bücherregal stehen sehen, tritt der Dichter „als Wert ins Bewußtsein der folgenden Generation“, heißt es in dem zitierten Artikel. In der über den Autor kanalisierten Beobachtung des Werks verbinden sich dabei erneut Tiefsinn („Versenkung“), Detailismus („einzelne[s] Werk“) und das Sehen des Unsichtbaren („geheime Fäden“) auf eine solche Weise, daß die Einheit des Unterschiedenen sich einstellt („scheinbar Gegensätzliches mit einander verbinden“). Freilich stellen sich hier noch ganz andere Verbindungen des Gegensätzlichen ein, denn die Lesepädagogik in Form der Propaganda für die Anschaffung von Gesamtausgaben präsentiert neben Georges Werken unter anderem noch folgende einschlägig bekannte Autoren: Wihelm von Scholz, Hermann Stehr, Albert Trentini, Rudolf Pannwitz, Otto zur Linde, und der Artikel zu George behandelt zwar die einzelnen Werke im Zusammenhang, verliert aber über die Gesamt-Ausgabe selbst kein Wort. Man wird also nicht sagen können, daß eine umfassende Edition allein schon eine dauerhafte Liebe zum Wort eines Dichters sichert und den promisken Leser in eine stabile Beziehung einbindet. Wie auch immer: Angesichts der Erstauflage der Fibel in der Fassung der Gesamt-Ausgabe von 6000 Exemplaren müssen Autor und Verleger tatsächlich daran geglaubt haben, daß die Fibel „außerordentlich gesucht“ ist – in der Ausgabe von 1901 hatten sich in den ersten vier Jahren lediglich 289 Exemplare verkauft,779 und keiner Zeitung war die Ausgabe eine Besprechung wert.780 Immerhin dies ändert sich 1928. Als Eröffnungsband der Gesamt-Ausgabe eines mittlerweile zum Mythos gewordenen Autors781 fällt die Fibel nicht mehr durchs Aufmerksamkeitsraster der Presse. Die Kritiker stellen das freundschaftliche Verhältnis, das George von ihnen fordert, programmatisch zur Schau: Zwar hätten die Gedichte noch „keinen selbständigen Wert“, ließen „rückschauend von dem vollendeten Werk aber […] im Keime Grundelemente von Georges Wesen“ spüren;782 sie gewähren Einblicke in das „doch schon sehr bestimmte[ ] Wollen[ ]“;783 und sie lassen den „Grundzug des Georgeschen Wesens“ erkennen.784 Wie bei der Konzeption der Gesamt-Ausgabe darf man auch hier nicht übersehen: Die Fibel markiert zwar einen besonderen Punkt in der Ausweitung der Aufmerksamkeit auch auf die unvollkommenen Wer_____________ 779 780 781 782 783 784
So der Aufstellung Bondis zufolge (SGA, ohne Signatur). Landmann: Stefan George und sein Kreis, verzeichnet keine Besprechung. Zu den Pressestimmen und Ehrungen vgl. Norton: Secret Germany, S. 687ff. Peter Hamacher: Stefan Georges Gesamtwerk. In: Der Tag, 13. Januar 1928. Paul Rossi: Stefan George, Die Fibel. In: Welser Anzeiger 21. Januar 1928. Albert H. Rausch: Stefan George. In: Die literarische Welt, 2. Februar 1928.
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ke, aber dieses geminderte Selektionsverhalten gehört bereits zuvor zum Repertoire der George-Leser: Als Karl Wolfskehl 1894 in der Allgemeinen Kunst-Chronik die ersten drei Gedichtbände Georges anzeigt, merkt er nicht nur das je „in sich geschlossene[ ] Ganze“ der Sammlungen sowie deren „Einheit“ als Werkkomplex an. Er deutet zugleich in einer Darstellung, deren bestimmende rhetorische Gelenkstellen das „Schon“, das „Noch“ und das „Nicht ganz“ markieren, auf die „Fäden“, „die von diesen Werken nach den anderen Phasen seiner [Georges, S. M.] Entwicklung sich hinüberziehn“ – gemeint sind die Auszüge aus dem Frühwerk in den Blättern für die Kunst.785 Bei der Einschätzung des von George selbst so genannten Schlussbands,786 der nach dem Tod des Autors erscheint und mit einer weiteren Lieferung von Jugendgedichten aufwartet, bringen die Rezensenten das gleiche Beurteilungsmuster an.787 Irritierend wirkt hier lediglich, daß der letzte Band der Gesamt-Ausgabe kein Spät-, sondern erneut das Frühwerk serviert, was dann auch die Analogie zum „rund“ einhundertjährigen Jubiläum des Abschlusses von Goethes Ausgabe letzter Hand etwas in Schieflage bringt: Es sind rund hundert Jahre her, daß eine andere Ausgabe letzter Hand ihren Abschluß gefunden hat – nur, daß postum nicht eine Nachlese von Jugendwerken nachgedruckt, sondern die reifste Frucht eines gesegneten Lebens, der zweiten ‚Faust‘ zum ersten Male der Welt zugänglich gemacht wurde. Damals aber wie heute hat eine Epoche des deutschen Lebens einen Abschluß gefunden.788
In so gut wie jedem Fall aber gelingt den Beobachtern die Visibilisierungsleistung, die im Zentrum der Werkpolitik steht: die Wahrnehmung einer „schier lückenlose[n] Einheit“, einer „nie aussetzende[n] Kontinuität“.789 Auf die Vermittlung von Werkkontinuität hat George dabei auch insofern besonderen Wert gelegt, als er auf ein zügiges Erscheinen der GesamtAusgabe drängte. Die Abstände zwischen dem Erscheinen der Bände, so _____________ 785 „L’âpre gloire du silence“…, S. 106ff. ; vgl. auch Oscar Schmitz (ebda., S. 255f.). 786 So Boehringer gegenüber Bondi in einem Brief vom April 1934 (SGA, B. Stauffenberg III, 1425a). 787 Lothar Helbing (d. i. Wolfgng Frommel) entdeckt wieder die „Grundelemente“ (Der letzte Band. Stefan George: Schlussband der Gesamtausgabe. In: Berliner Tageblatt, 17. Juli 1934); Eduard Jaime-Liebig empfindet den Schlussband als angemessene und „schöne Bereicherung“ (Der „Schlußband“ Stefan Georges. In: Hannoversches Tageblatt, 12. Juli 1934). Freilich gibt es auch Gegenstimmen. Unter der Überschrift Die Schüler-Gedichte Stefan Georges meint die Neue Zürcher Zeitung (11. Juli 1934, Abendausgabe), man „empfindet […] die Früh-Gedichte des zwanzigjährigen George schwerlich als Verheißung künftiger Größe“, und weiter: „man staunt eher, daß nach soviel Hingabe an andere und soviel Lust am Ornament und schönen Schein, der Dichter doch sich selber gefunden hat“. 788 Mgr.: Schlußband. In: Prager Presse, 10. August 1934. 789 Rudolf Bach: Schlußband Stefan George. In: Das deutsche Wort. Die Literarische Welt. N.F. 2, 10. August 1934, S. 9.
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legt es eine handschriftliche Notiz in einem Vertragsentwurf fest, soll nicht mehr als ein Jahr betragen.790 Zwar dürfen die Bände der GesamtAusgabe einzeln abgegeben werden. Sobald aber ein Werk in der GesamtAusgabe erschienen ist, sind „neue Drucke, auch anastatische, der bisherigen Ausgabe […] unzulässig“.791 George selbst behält sich allerdings vor, neue Werke, die automatisch zur Gesamt-Ausgabe gehören, auch in einer „Sonderausgabe im Verlag der Blätter für die Kunst“ zu publizieren.792 Schließlich legt der Vertrag, ebenfalls nachträglich eingefügt, fest, daß „die Werke von Stefan George nach dessen Tode [in Bezug auf Text und Satz] in derjenigen Form erscheinen […], in der sie zuletzt bei Lebzeiten von Stefan George erschienen sind“. Der endgültige Vertrag fügt dann noch hinzu: „auch ohne wesentliche Verschlechterung des Papiers“.793 Die Fibel lenkt den Blick des an Entwicklungen und Einflüssen interessierten Lesers in das Werk zurück. Damit ist die Fibel Bestandteil von Georges Aufmerksamkeitsjustierung, die darauf zielt, das Werk als privilegierten Kontext seiner selbst kenntlich zu machen. Freilich weiß George, daß Zentrierungen Dezentrierungen provozieren – Wolters’ ‚Blättergeschichte‘ entfaltet sich ja in dieser eigentümlichen Paradoxie. Zur Werkpolitik gehören auf der einen Seite gezielte Zentrierungen wie die Formen eines gleichsam poetischen Narzißmus in Form von direkten und offensiven Selbstbezügen oder Selbstzitationen794 oder die Wende von einer eher projektiven zu einer kommentierenden Haltung.795 Zu dieser Werkpolitik gehören aber ebenso die gezielten Dezentrierungen und Diffundierungstaktiken etwa durch Anonymisierung der Autoren in den Blättern für die Kunst,796 die Einbeziehung von Gedichten anderer Verfasser ins eigene _____________ 790 SGA, ohne Signatur; dieser Passus wird dann auch in die endgültige Fassung des Vertrags zwischen Bondi und George vom 6. Oktober 1927 übernommen (SGA, ohne Signatur). Die Diskussion im George-Kreis um die rechtlichen Probleme des Vertragsabschlusses dreht sich auch darum. Julius Landmann schreibt am 19. August 1927 kritisch über einen Vertragsentwurf, weil dieser Bondi ermögliche, immer dann einen Band der GesamtAusgabe herauszubringen, wenn die vorliegenden Ausgaben verkauft sind – „damit muss von vorne herein mit einem zum mindesten 3 – 4 jährigen Zeitraum gerechnet werden, auf welchen das Erscheinen der Gesamt-Ausgabe sich verteilen wird. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass eine derart lange Erstreckung der Erscheinungsdauer der Wirkung des Werkes nicht zuträglich ist“ (George III, 7761). In dieselbe Richtung geht Ernst Morwitz (Brief vom 10. Juli 1927; fälschlicherweise auf 1926 datiert, George III, 9342) und vom 31. Juli 1927 (George III, 9343). 791 So ebenfalls im Verlagsvertrag festgehalten (SGA, ohne Signatur). 792 Verlagsvertrag (SGA, ohne Signatur). 793 SGA, ohne Signatur. 794 Vgl. die Sammlung narzißtischer Formen bei Matt: Der geliebte Doppelgänger, S. 266ff. Vgl. in diesem Zusammenhang zur „Säkularisierung typologischer Bibelexegese“ bei George Tiedemann-Bartels: Versuch über das artistische Gedicht, S. 61f. 795 Kolk: Literarische Gruppenbildung, S. 240. 796 Kluncker: Blätter für die Kunst, S. 43.
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Werk (GW 9, 115), die Reihenbildung als Marketingstrategie797 oder die Ausbildung eines Gruppenstils.798 Letzteres ist insbesondere deswegen aufschlußreich, weil George damit im Zeitalter der Stilgeschichte, die die Einheit der Literaturgeschichte eben über den Stil herstellt, eine eigene Literaturgeschichte konstituiert,799 und dies mit Erfolg: Bis heute wird der George-Kreis literaturgeschichtlich enklaviert.800 Anders formuliert: Die Fibel als Teil von Georges Werkpolitik gehört zu jenem Visibilisierungsprojekt, das auf die Wahrnehmung des Gleichen im Unterschiedenen zielt.801 Die entsprechende Lesehaltung spiegelt George beispielsweise in den Maximin-Gedichten des Stern des Bundes: Wem Du dein licht gabst bis hinauf zu dir Weiss dass er nie dich sagen darf und wort Das dafür steht hinausgebracht zur menge Nur eine weile wirkt und dann verdirbt Bis neuer wecker kommt der neu es spendet. Will ich mein ganzes teil von dir erobern So muss ich sehn wie ich ein eines fasse Wie ich im raum den du mir maassest hafte Bedingte arbeit meines tags vollbringe Und mit dem traum von morgen mich vermähle. (GW 8, 24).
_____________ 797 Mettler: Stefan Georges Publikationspolitik, S. 12ff. Vgl. hier zu den Handschriften in der Gesamt-Ausgabe, durch die George sich eine eigene Überlieferung schafft (ebda., S. 45f.). 798 Kluncker: Blätter für die Kunst, S. 108ff. 799 Zur Stilgeschichte vgl. z. B. Baumgarten: Stefan George, S. 429f. In diesem Zusammenhang werden auch Georges Einzelstellen-Sammlungen, etwa in der Mallarmé-Lobrede, als eine Art Florilegienpoetik interessant, weil sie dem Vorgehen zeitgenössischer literaturgeschichtlicher Arbeit in Positivismus und Geistesgeschichte entsprechen, also der tabellarischen Sammlung von Stileigenheiten von Autoren oder Epochen. Die tabellarische Auflistung wiederum gehört zum Darstellungsrepertoire des Historismus als Verfahren (dazu Baßler u. a.: Historismus und literarische Moderne, z. B. S. 75). 800 Vgl. z. B. den an sich sehr guten Überblick in Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur von Winkler: Der George-Kreis (bis auf einen Artikel zu Nietzsche ist dies das einzige personalisierte Rubrum in der Abteilung „Fin de siècle“). 801 Man könnte dies beispielsweise an Ursprünge aus dem Siebenten Ring zeigen, einem Gedicht, das in seinen vier Teilen mit ständigen Bezugnahmen auf Kindheit und Jugend versetzt ist und in zwei Zeilen von Georges Geheimsprache ausklingt. In diese Fragmente der Dichterkindheit und -jugend blendet George den großen historischen Verlauf von der heidnischen Antike bis zu deren Aufhebung in der christlichen Kultur ein („auf diesen trümmern hob die Kirche dann ihr haupt“; GW 6/7, 117). Ungefähr in der Mitte wechselt das Gedicht kurzzeitig von der Vergangenheitsform ins Präsens: „Auf dem bergweg seht die schaar – / Eine stampfende kohorte! / Offen stehen brück und pforte / Für des Caesarsohnes aar“ – die Gegenwärtigkeit der vergangenen Antike, auf die die monumentalistische Historie zielt, wird hier durch die poetologischen Metaphern von ‚Brücke’ und ‚Pforte’ annonciert, die zu Georges Konzept von Poesie als einer Kunst des Übergangs gehören („Die dichtung hat eine besondere stellung unter den künsten. Sie allein kennt das geheimnis der erweckung und das geheimnis des übergangs“; GW 17, 70).
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George entwirft eine Aufmerksamkeit, die auf die Einheit des Werks ausrichtet („ein eines fasse“), die dabei die Grenzziehungen des Autors berücksichtigt („raum den du mir maassest hafte“), sich über die Relativität und Arbeitsförmigkeit ihres Zugriffs im klaren ist („bedingte arbeit“) und dennoch von einer unerschöpflichen Antriebskraft bewegt wird („mit dem traum von morgen mich vermähle“). Dieser zurückhaltende, um die eigene Beschränktheit wissende Zugriff, der gerade aufgrund seiner Unzulänglichkeiten einen Prozeß unaufhörlicher Arbeit anregt, entspricht gleichermaßen der dichterischen wie der philologischen Arbeit. Zugleich bietet das Gedicht einen Schlüssel für Georges Komposition der Gesamt-Ausgabe. Diese endet, was das eigene dichterische Werk im engeren Sinn betrifft,802 im Neuen Reich mit dem Lied-Zyklus. Das Finale ist allein schon deswegen ungewöhnlich, weil eine zentrale Werkfunktion von Lyrik darin besteht, die Leseaufmerksamkeit gleichsam werkförmig zu stimmen. Daher beginnen Gesamtausgaben auch regelmäßig mit einem ersten Band ‚Gedichte‘ (5.4.2 c).803 George hingegen setzt seine ‚Lieder‘ ans Ende des Neuen Reichs wie auch der Blätter für die Kunst. Er nimmt damit die Prophetie des Zeitgedichts als Werkgedicht auf (6.3 d). Am Anfang des Siebenten Rings greift George die Wilhelministische Gesellschaft, vor allem aber auch seine engste Umgebung an. Er hält denjenigen, die Zeit und Arbeit in sein Werk bereits investieren, ihre Wahrnehmungsinkompetenz vor. Diese Inkompetenz besteht darin, im Unterschiedenen nicht das Gleiche zu sehen, also im Ästhetizisten nicht den Gesellschaftskritiker, in der exaltierten Anti-Moderne nicht den Keim, der „schönheit kraft und grösse“ auch und gerade „aus eines knaben stillem flötenlied“ emporzutreiben vermag (GW 6/7, 7; 6.3 d). Auf der einen Seite könnte George schon früh die „Gefahr“ gesehen haben, „dichtungstheoretisch in den Ästhetizismus zu geraten“, also die konkrete, einfluß- und wirkungsreiche Beziehung zu seiner Umwelt zu verlieren;804 zugleich aber weist er werkpolitisch einen Weg, wie damit – und zwar prinzipiell – umzugehen ist. Daher braucht die „Transformation von Religion“ keinen transzendenten Fluchtpunkt, und der Kritiker der Moderne kann offenlassen, „wer zu heilen ist und was erobert werden soll“.805 Denn beides vollzieht sich in der angemessenen Wahrnehmung seines Werks als Exerzitium über die Konstituierung von Zielen. _____________ 802 Vgl. zu den Problemen der Grenzziehung, die sich auch hier aufgrund der Werkfunktion der Übersetzung ergeben bzw. aufgrund der Intention, die Übersetzung zum eigenen Werkbestandteil zu machen: Nutt-Kofoth: Autor oder Übersetzer, S. 93ff. 803 Verf.: Zwischen Dichtung und Wahrheit. 804 Petersdorff: Als der Kampf gegen die Moderne verloren war, S. 333. 805 Petersdorff: Als der Kampf gegen die Moderne verloren war, S. 334f.
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Man kann damit die Probleme und die dichterischen Folgen von Georges „Allerweltschiliasmus“806 positiv wenden: Das rollenhafte Sprechen im Neuen Reich gehört zu jener dichterischen Inkorporation der Stilgeschichte, die im beziehungslos gewordenen Gedicht und in der poetischen Zentrierung die Dezentrierungen einer Historiographie der Stimmungen aufbewahrt – die Gedichte durchzieht eine Tonlage, und wenn es diejenige Hölderlins ist, dann ruft George damit das zentrale Paradigma einer vermittelten, eben stimmungshaften Wirkung auf (6.4 b).807 Die Leere einer sich in mageren Variationen erschöpfenden Botschaft, die Ersetzung von „Theologie durch Tautologie“,808 gehört, wie der produktive Umgang mit dem Mißverständnis, zu einer Ästhetik der Wiederholung in der Tradition Nietzsches. Sie impliziert zentrale Elemente von Georges Werkpolitik: das Stellenwertbewußtsein, die Mediengerechtigkeit und die Inszenierung einer Dichtungs- und Lektürearbeit, deren Wert sich im Überwinden von Widerständen erweist. Dies alles ändert freilich nichts daran, daß Georges dichterische Gesten zur Pose erstarren.809 Während vor George der Leser gewissermaßen durch das Lied als Werkinitiation auf die Wahrnehmung der Zusammenhänge des Unzusammenhängenden eingestellt werden mußte, auf die Einheit des Werks von den Jugendgedichten bis zu den spröden Exponaten der Alterspoesie (5.4.2 c), stellt George sich eine andere Aufgabe: die Bewahrung des Werks durch einen Leser, der zu dessen Lektüre bereit ist. Die institutionalisierte Philologie hat bewiesen, daß strapazierfähige Virtuosen der Visibilisierung und Invisibilisierung zur Verfügung stehen, die dazu in der Lage sind, ein Gesamtwerk in allen Details beobachtbar zu machen. Und eben diese Virtuosität der Aufmerksamkeitslenkung, die die Einheit des Unterschiedenen in den Blick rückt, wird schon im Motto des Lied-Zyklus eingespielt: „Was ich noch sinne und was ich noch füge / Was ich noch liebe trägt die gleichen züge“ (GW 9, 98). Dieser Vorgabe folgend handeln die ‚Lieder‘ beispielsweise von der Memorialfunktion der Lyrik, deren Sprachereignisse in der Alltagskommunikation als Unsinn behandelt und doch „bis in die spätste zeit“ tradiert werden (GW 9, 100).810 _____________ 806 Osterkamp: „Ihr wisst nicht wer ich bin“, S. 41. 807 Osterkamp: „Ihr wisst nicht wer ich bin“, S. 38ff. 808 Osterkamp: „Ihr wisst nicht wer ich bin“, S. 42f. Generell zu George als Hüter eines Geheimnisses, das nicht existiert und daher „Haltung“ als Ausgleich verlangt: Adorno: George und Hofmannsthal, S. 199ff. 809 Osterkamp: „Ihr wisst nicht wer ich bin“, S. 46f. 810 Braungart: ‚Schluß-Lied’, S. 101, sieht hier das Zurücktreten des Autors hinter das Werk, das in archaischer Form überliefert wird.
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Vor allem aber machen die ‚Lieder‘811 auf Georges Hoffnung aufmerksam, seinem Werk durch die performative Markierung der différance, also der Unterscheidung von Form und Medium, die nur als Unterschiedene erscheinen können, eine besondere Form der Dauerhaftigkeit zu vermitteln. Die schlichte Auslegung dieser Medienpoetik zielt auf die Produktivität des Mißverstehens (6.2 a), wie sie im Prozeß der Etablierung von Negativität herausgestellt wurde: „Alle Wahrheit muss zweideutig sein“, statuiert George im Gespräch mit Edith Landmann, „wenn sie nur auf eine Weise verstanden werden kann, ist’s bald mir ihr fertig. Wenn sie verschiedene Deutungen zulässt, wirkt sie länger“.812 Die lyrische Gestaltung dieser Medienpoetik fügt dem Lob des Mißverstehens das Programm der Visibilisierung des Gleichen im Unterschiedenen hinzu. Die Törichte Pilgerin handelt daher von einem Unfall, der Aufmerksamkeit umlenkt: „Nur mein unglück dass ich fiel / Machte dass du auf mich schautest“. Weil die Pilgerin auf den „grund“ gefallen ist, wird der „blick“ des Beobachters auch „in schmuckrem kleid“ auf ihr „ruhn“ (GW 9, 105). Oder anders: Indem die Aufmerksamkeit sich auf den „grund“ umlenkt, auf das, was die Erscheinungen trägt, provoziert diese Wende eine wiederholte Lektüre, die im Unterschiedenen, in der „maid“ mit „verwirrtem haar / Und in kümmerlichem rock“ sowie in der Frau in „schmuckrem kleid“, die gleiche, vielleicht sogar dieselbe Person sieht. Daß der Beobachter sich von der „schwangre[n]“, die ihn um Unterstützung bittet, abwendet und einer gefallenen „maid“ zu Hilfe eilt, deutet auf eine Aufmerksamkeit für Ereignisse ‚jenseits von Gut und Böse‘, also auf den amoralischen „grund“ der Entstehung von Moral (6.2. a); und daß diese Begegnung gerade auf dem Weg „zum strome“ sich ereignet, dürfte den Werkbeobachter von der Weihe aus gesehen nicht überraschen (6.1). Der gesamte Zyklus ließe sich auf diese Weise als werkpolitisches Programm entschlüsseln: So wie Das Wort die Aufmerksamkeit auf die welterschließende und eben nicht weltrepräsentierende Kraft der Sprache richtet (GW 9, 107; 6.3 e) und die „dumpfe erde“ erklärt: „Worin du hängst · das weisst du nicht“ (GW 9, 103), so deutet Das Licht auf das Medium, das ‚etwas‘ als Gegenstand faßlich macht, selbst aber eben deswegen nicht erfaßt werden kann: „Wir wären kinder · wollten wir dich fassen“ (GW 9, 109) – George klärt seine Jünger im übrigen nicht darüber auf, ob das „Licht“ die Sonne oder ihn selbst bezeichnet (GW 9, 174). Am Ende des Neuen Reichs kehrt George dann tatsächlich wieder zu seinen Anfängen zurück, nämlich zu den frühen Gedichtabschriften der Pariser Zeit, unter denen sich mit Francis Vielé-Griffins „Vous si claire et _____________
811 Zur Tradition der Lieder in Georges Werk vgl. Braungart: ‚Schluß-Lied’, S. 90ff.; vgl. auch ders.: Ästhetischer Katholizismus, S. 288ff. 812 Landmann: Gespräche mit Stefan George, S. 198.
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si blonde et si femme“ auch der Prätext des Schlußgedichts findet (GW 9, 175). Du schlank und rein wie eine flamme Du wie der morgen zart und licht Du blühend reis vom edlen stamme Du wie ein quell geheim und schlicht Begleitest mich auf sonnigen matten Umschauerst mich im abendrauch Erleuchtest meinen weg im schatten Du kühler wind du heisser hauch Du bist mein wunsch und mein gedanke Ich atme dich mit jeder luft Ich schlürfe dich mit jedem tranke Ich küsse dich mit jedem duft Du blühend reis vom edlen stamme Du wie ein quell geheim und schlicht Du schlank und rein wie eine flamme Du wie der morgen zart und licht. (GW 9, 111).
George stellt im letzten Gedichtband durch die Lieder, die traditionell mit dichterischer Ursprünglichkeit codiert sind (5.4.2 c),813 seine andauernde Juvenilität unter Beweis. Damit entspricht die Präsentation des eigenen dichterischen Werks der Präsentation der Gesamt-Ausgabe, die – zur Überraschung der Beobachter – im Schlussband keine Altersdichtung, sondern noch einmal eine Auswahl der frühesten poetischen Versuche bringt.814 Man müßte jetzt über die Ideologie und Signifikanz der Flamme im George-Kreis handeln,815 über den Mystizismus des Kampfes von Licht und Dunkelheit816 und über die entsprechende Wirkungskonzeption, _____________ 813 Verf.: Zwischen Dichtung und Wahrheit, S. 80ff. 814 Vgl. hier auch den Kommentar zu Das Lied in den Blättern für die Kunst, das dort in einer Rubrik von Gedichten mit der Verfasserangabe von „jüngere[n] dichter[n]“ erscheint: „Wir bringen wie in der achten folge eine auswahl jüngerer dichter: das lezte gedicht wie die lezte rede weil sie – obwohl den Rahmen der ‚Blätter’ etwas überschreitend – ein vielversuchtes und -angepriesenes in einer echtheit zu enthalten scheinen“ (BfK IX, 139). 815 Vgl. zu den Antikenfesten Schonauer: Stefan George, S. 84. 816 Vgl. dazu die Herausgebereinleitung im Jahrbuch für die geistige Bewegung von 1912: „Wir glauben dass es jezt weniger darauf ankommt ob ein geschlecht das andre unterdrückt, eine klasse die andre niederzwingt, ein kulturvolk das andre zusammenschlägt, sondern dass ein ganz andrer kampf hervorgerufen werden muss, der kampf von Ormuzd gegen Ahriman, von Gott gegen Satan, von Welt gegen Welt“ (S. VIII). Brockhaus’ Kleines KonversationsLexikon erläutert: „Zoroáster, griech. Name des Zarathushtra (bei den heutigen Parsen Zerduscht), Begründer eines orient. Religionssystems. Das System des Z., der geraume Zeit vor dem 6. Jahrh. v. Chr. in Ostiran lebte, lehrt einen Gegensatz zwischen dem Lichtgott
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die das „reich des geistes“ zum „abglanz / Meines reiches, hof und hain“ erklärt (GW 8, 83) und fordert: „Wer je die flamme umschritt / Bleibe der flamme trabant!“ (GW 8, 84). Schließlich wäre der Anschluß an die Lichtpsychologie der Georgeschen Werkpolitik zu suchen (z. B. 6.2 c), und es wäre an die „Harmonika“, die „chemische, singende Flamme“, zu erinnern, die 1777 erfunden wurde, „um Töne mittels Flammen in Röhren oder andern abgegrenzten Lufträumen (Flaschen, Retorten, Kolben etc.) hervorzurufen“.817 An dieser Stelle soll indes der Hinweis auf einige elementare Motive der Werkpolitik genügen. Das Schlußgedicht des Neuen Reich beschwört etwas, was nur indirekt, nur im vierfachen Vergleich mit der Flamme, dem Morgen, dem Zweig und der Quelle greifbar wird, was nur als Wirkung erscheint und was inkorporiert werden kann. Erscheinung als Wahrnehmungsmedium und Zeichen der Anfänglichkeit, Wirkungsmächtigkeit und Leibhaftigkeit: dies sind augenscheinlich die Merkmale z. B. des inkorporierten Gottes in Gestalt Maximins oder von Georges Werk, das als Gleiches jenseits aller Unterschiede existiert, auch wenn es nur in diesen Unterschieden sichtbar wird (6.3 e). Auf der einen Seite ist dieses nur sekundär Erfaßbare unter anderem durch die Adjektive wie „schlank und rein“ oder „zart und licht“ temporal codiert als Erscheinung der Jugendlichkeit und Anfänglichkeit. Auf der anderen Seite ist das angesprochene „Du“ ein Medium, es ‚begleitet‘, ‚umschauert‘ und ‚erleuchtet‘, und es hat ausgesprochen naturale Eigenschaften.818 Die Werkform schließlich bildet „Du schlank und rein wie eine flamme“ vor allem dadurch ab, daß das Gedicht die Anfangsstrophe in der Endstrophe nicht-identisch verdoppelt.819 Denn genau das, was das Gedicht macht, wiederholt George in der Komposition der Gesamt-Ausgabe, deren zentrale Funktion darin besteht, das Werk zum privilegierten Kontext seiner selbst zu machen. Er vertraut darauf, daß es Beobachter gibt, die sich von seinem Werk ‚wie‘ von einer „flamme“ erleuchten, die sich ‚wie‘ von einem „morgen“ einen kommenden Tag versprechen, die sich _____________
(Ormuzd), mit seinen Engeln (Amschaspands und Izeds) und dem Gott der Finsternis (Ahriman) mit seinen Dämonen (Dêws). Als einziges Sinnbild des Ormuzd wird das Feuer (als wichtigstes Reinigungsmittel) verehrt; seinen Kampf gegen Ahriman und den Sieg des Lichtreichs fördert der Mensch durch Wahrhaftigkeit, Reinlichkeit und Ackerbau. Reste der Anhänger Z. S sind die Parsen (s. d.)“ (Bd. 2, S. 1034). 817 Brockhaus’ Kleines Konversations-Lexikon. Bd. 1, S. 761 (s. auch die Bildtafel zu „Schall II, 8.“, ebda. Bd. 2, o. S.). 818 Daß George mit dem achten Vers „Du kühler wind du heisser hauch“ die Vogelschau aus Algabal alludiert („In dem winde hell und heiss […] / In dem winde kalt und klar!“; GW 2, 85), paßt also insofern ins Bild, als es auch dort um einen Blick geht, der von Mediengerechtigkeit und Stellenwertbewußtsein zeugt. 819 Dazu auch Schäfer: Die Intensität der Form, S. 83ff.
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‚wie‘ von einem „reis“ auf eine „edle[ ]“ Tradition verweisen und die sich ‚wie‘ von der Ursprünglichkeit eines „quell[s]“ faszinieren lassen. Freilich: Georges letzter Lyrikband mag mit dem Vertrauen auf eine erfolgreiche Werkpolitik enden. Als wahrscheinlich letztes Werk dichtet er jedoch während der Zusammenstellung des Neuen Reichs und damit in unmittelbarer konzeptioneller Nähe zur Gesamt-Ausgabe kein Lied, sondern einen knappen Dialog in sechs Zweizeilern (GW 9, 88).820 Der Titel dieses Finalgedichts reflektiert noch einmal das zentrale Problem der Werkpolitik: Zweifel der Jünger.
_____________ 820 George / Gundolf: Briefwechsel, S. 385.
7. Literaturverzeichnis a) Abkürzungen BfK
CI-V
CB
CD I
CD II
GA GW GB KA
KB
KW
KO
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b) Ungedruckte Quellen Die folgenden Quellen finden sich im Stefan George-Archiv in der Baden Württembergischen Landsbibliothek Stuttgart (Signaturen, soweit vorhanden, in Klammern): Bergstraesser, Arnold: Brief an Friedrich Wolters, 24. November 1929 (Wolters III, 1251) Bergstraesser, Arnold: Brief an Friedrich Wolters, 4. Dezember 1929 (Wolters III, 1252) Bettmann, Hans: Brief an Friedrich Wolters, 19. November 1929 (Wolters III, 1301) Bettmann, Hans: Brief an Friedrich Wolters, 24. Dezember 1929 (Wolters III, 1302) Blumenthal, Albrecht von: Brief an Frank Mehnert, 1. November 1939 (Erben III, 1113) Blumenthal, Albrecht von: Brief an Frank Mehnert, 18. Februar 1937 (Erben III, 1102)
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8. Danksagung Mein Dank gilt den Bibliotheken und Archiven, die durch ihre Hilfsbereitschaft maßgeblich zum Gelingen der Arbeit beigetragen haben. Insbesondere Helmut Riege (Klopstock-Arbeitsstelle, Hamburg) und Ute Oelmann (Stefan George-Archiv, Stuttgart) haben mich großzügig unterstützt; die Stefan George-Gesellschaft hat freundlicherweise die Publikationserlaubnis für die von mir verwendeten Archivalien erteilt. Auf Tagungen und Kolloquien konnte ich einzelne Aspekte zur Diskussion stellen, und in Gesprächen habe ich viele Hinweise erhalten. Dafür danke ich pars pro toto Wilfried Barner, Roland Berbig, Jens Bisky, Wolfgang Braungart, Holger Dainat, Roland Galle, Achim Hölter, Wolfgang Höppner, Fotis Jannidis, Herbert Jaumann, Michael Kämper-van den Boogaart, Paul Kahl, Tom Kindt, Lothar van Laak, Gerhard Lauer, Dirk Niefanger, Helmut Pfeiffer, Andrea Polaschegg, Stephan Porombka, Stefan Scherer, Erhard Schütz, Carlos Spoerhase, Meike Steiger, Friedrich Vollhardt, Thomas Wegmann und Simone Winko. Christine Lubkoll danke ich für das Habilitationsgutachten. Meinen Erstlesern Ernst Osterkamp und Lutz Danneberg bin ich für ihre erstaunliche Aufmerksamkeit, für ihre zahllosen Anregungen und für ihre dauerhafte Unterstützung verpflichtet – Schreiben unter Bedingungen von Kritik und Philologie war bei ihnen ein Vergnügen. Ohne Claudia Stockinger wäre auch diese Arbeit nicht entstanden.