Werke: Band 4 Zur Theorie und Philosophie der Geschichte 9783486819588, 9783486451221


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German Pages 437 [440] Year 1965

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Inhalt
Einleitung des Herausgebers
Erste Gruppe: Hauptprobleme des geschichtlichen Denkens
Zweite Gruppe: Historische Besinnung und Krisis der Gegenwart
Dritte Gruppe: Zur Geschichte des Historismus
Personenregister
Sachregister
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Werke: Band 4 Zur Theorie und Philosophie der Geschichte
 9783486819588, 9783486451221

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FRIEDRICH MEINECKE WERKE • BAND IV

FRIEDRICH MEINECKE WERKE

Herausgegeben im Auftrage des Friedrich-Meinecke-Institutes der Freien Universität Berlin von HANS HERZFELD, CARL H I N R I C H S , WALTHER H O F E R

In Zusammenarbeit von K . F. K O E H L E R V E R L A G ,

STUTTGART

R. O L D E N B O U R G V E R L A G , M Ö N C H E N S I E G F R I E D T O E C H E - M I T T L E R VERLAG, DARMSTADT

FRIEDRICH M E I N E C K E

Zur Theorie und Philosophie der Geschichte Herausgegeben und eingeleitet von EBERHARD

KESSEL

2. Auflage

K.F. KOEHLER VERLAG STUTTGART 1965

© 1959 K. F. Koehler Verlag, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es audi nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf photomecfaanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Photomechanischer Nadidruck: Greiserdruck Rastatt

INHALT

Einleitung des Herausgebers

VII

Erste Gruppe HAUPTPROBLEME DES GESCHICHTLICHEN DENKENS

Willensfreiheit und Geschichtswissenschaft (1886/87)

3

Persönlichkeit und geschichtliche W e l t (1918)

30

Kausalitäten und Werte (1925/28)

61

Geschichte und Gegenwart (1930/39)

90

Ein W o r t über geschichtliche Entwicklung (1942)

102

Deutung eines Rankewortes (1942)

117

Gedanken über W e l t - und Universalgeschichte (1942)

140

Zweite Gruppe HISTORISCHE BESINNUNG UND KRISIS DER GEGENWART

Germanischer und romanischer Geist im Wandel der deutschen Geschichtsauffassung (1916)

153

Die deutsche Geschichtswissenschaft und die modernen Bedürfnisse (1916)

172

Über Spenglers Geschichtsbetrachtung (1923)

181

Von der Krisis des Historismus (1942)

196

Irrwege in unserer Gesdiidite? (1949)

205

Dritte Gruppe Z U R GESCHICHTE DES HISTORISMUS

Aphorismen (1942)

215

1. Allgemeines über Historismus und Aufklärungshistorie . 2 . Moser — Herder — Goethe 3. Ranke Klassizismus, Romantizismus und historisches Denken (im

.

18. Jahrhundert (1936) Goethes Geschichtsauffassung und der Historismus (1930)

215 244 254 264

.

.

.

279

Sdiiller und der Individualitätsgedanke (1937)

285

Schillers Spaziergang (1938)

323

Zur Entstehungsgeschichte des Historismus und des Schleiermachersdien Individualitätsgedankens (1939) 341 Wilhelm Dilthey (1924) 358 Ernst Troeltsdi 364 1. Nachruf (1923) 364 2. Ernst Troeltsdi und das Problem des Historismus (1923) . . 367 3. Einleitung zu den Spektator-Briefen (1924) 379 Personenregister Sachregister

384 390

E I N L E I T U N G DES

HERAUSGEBERS

Friedridi Meinecke gehört zu denjenigen Historikern, die viel und tief über Wesen und Struktur ihrer Wissenschaft und über den allgemeinen Ertrag ihres Wissens für die Erkenntnis und das Leben nachgedacht haben. Das hat seine wissenschaftliche Arbeit mannigfach befruchtet und ist in vielfältigen Wendungen und Bemerkungen, die sidi überall in seinen großen Werken wie in seinen kleinen Schriften finden, zum Ausdruck gekommen. Aber es hat nun auch einen unmittelbaren Niederschlag in einigen mehr oder weniger ausdrücklich den tiefsten und umfassendsten Fragen der Geschichte gewidmeten Aufsätzen und Niederschriften gefunden. Sie machen sein eigentliches „geschiditsphilosophisdies" Opus aus, das erst in ihrer Zusammenfassung in seiner eindrücklichen Geschlossenheit zur Geltung kommt, wobei denn auch gelegentliche Wiederholungen oder Überschneidungen nicht stören, sondern vielmehr ein Gewinn sind. Freilich: inwiefern war Meinecke überhaupt „Philosoph" oder audi nur „Geschichtsphilosoph"? Haben nicht gerade die zünftigen Philosophen, Soziologen und Juristen an seinen Werken einen Mangel an sdiarfer Begrifflichkeit, klaren und eindeutigen Definitionen und logischer Systematik kritisiert, die nach einer allgemein gebräuchlichen Auffassung zum Wesen der Philosophie dazuzugehören scheinen? Und hat er nicht in seinen Erinnerungen von sich gesagt: „Zum reinen Philosophen langte es bei mir nicht.. ." x ? Wie verträgt sich das mit einer Geschichtslehre, die zwar nach unseren realistischen Forderungen aus der Fülle stofflicher Kenntnis erwachsen sein muß, aber dabei doch der systematischen gedanklichen Durcharbeitung bedarf? Meinecke hat an der Stelle seiner Erinnerungen, an der er sich die Eignung zum „reinen" Philosophen absprach, weiter ausgeführt und damit zugleich den tiefen metaphysischen Impuls seiner historischen Arbeiten gekennzeichnet: „Ich bedurfte einer 1

Erlebtes 1862—1901 (1941) S. 101. Dazu: Ernst Troeltsdi und das Problem des Historismus, unten S. 568.

VIII

Einleitung- des Herausgebers

engeren Berührung des Realen mit dem Geistigen, um zu diesem gelangen zu können. Und nirgends ist sie enger als auf dem Arbeitsgebiet des Historikers, der von dem Kerne des staatlichen Geschehens aus seine Blicke auf alle anderen Lebens- und Geistesgebiete richten darf und eigentlich muß, um Geist und Staat zugleich verstehen zu können." Er bedurfte der Realität, um zum Geiste zu gelangen. Mit anderen Worten: sein Erkenntnisstreben war von Haus aus auf die Wirklichkeit gerichtet, um in ihr mit den Kräften des Geistes bestehen zu können. Die Wirklichkeit aber entzieht sich den menschlichen Abstraktionen. Sie kann nicht „erklärt", sie will „angeschaut" und „verstanden" werden. Das ist ein unendlicher Annäherungsprozeß, und nur in dem Grade, wie man die Wirklichkeit „versteht", ist ein Eingreifen in sie möglich, ohne Unheil anzurichten. Das ist, auf eine kurze Formel gebracht, die Lehre des „Historismus", wie Meinecke ihn aufgefaßt hat. Meinecke hat wie jeder echte Historiker aus der „Anschauung" heraus gelebt, darin nicht prinzipiell unterschieden von Burdkhardt oder Ranke, auch wenn er stärker als jeder von beiden mit dem Rüstzeug philosophischer Gedanken gearbeitet hat. Auch und gerade in der Ideengeschichte, die er auf der Höhe seiner Schaffenskraft zu seinem Hauptarbeitsfeld wählte, so daß er ihr Wegbereiter und Protagonist geworden ist, ging er von der „Anschauung" aus, um die feinsten und verborgensten Fäden in dem Netzwerk der gedanklichen Voraussetzungen des menschlichen Handelns aufzuspüren. Auf diese Weise blieb er ganz dicht an der Wirklichkeit. Aber was er an Realismus gewann, büßte er notwendig an Begrifflichkeit ein, und daher kommt jener Mangel an logischer Systematik und begrifflicher Schärfe, der dem oberflächlichen Blick als ein Fehler erscheint. Er arbeitete bewußt als „Historiker, dem es auf ein anschauliches Verstehen ankommt und der die erschöpfende Untersuchung der hinter seinen Problemen sich erhebenden logischen und metaphysischen Fragen dem Philosophen überlassen muß" 1 . „Denn überall handelt es sich nicht nur um begrifflich zu fassende und in -ismen summarisch unterzubringende Züge des Denkens, sondern um lebendiges Gesamtleben, seelische Totalitäten der Einzelnen wie der Gemeinschaf1

Idee der Staatsräson (Werke I 2).

Einleitung des Herausgebers

IX

ten und Generationen — wie sie eben der Historismus zu sehen gelernt hat 1 ." Es galt ihm, „die besonderen Gedanken und überhaupt das rein Begriffliche soviel wie nur irgend möglich zurückzuführen auf das, was mehr ist als Gedanke und Begriff, auf Leben und Persönlichkeit 2 ." Die Ideen sind ihm „keine bloßen Schattenbilder und graue Theorien, sondern Lebensblut der Dinge, aufgenommen in das Lebensblut von Menschen, die berufen sind, das Wesentliche in ihrer Zeit auszusprechen3." Das bedeutete die „Geschichte der Meinungen" als „Schlüssel zur Tatengeschichte", wie Herder gesagt hatte. „Das Feinste und Wertvollste des geistigen Lebens" droht geradezu „verlorenzugehen im caput mortuum einer Definition" 4 . So ist Meineckes Geschichtsschreibung und speziell seine Ideengeschichtsschreibung von unmittelbarer „Anschauung" getragen, und nichts ist ein größeres Mißverständnis, als in ihr etwas vom wirklichen Leben Losgelöstes und nur in der verdünnten geistigen Luft eines sublimen Idealismus Wahrnehmbares aufzufassen. Auf dieser Eigenart beruht ihr unnachahmlicher Reiz und zugleich ihre innere Überzeugungskraft. Aber andererseits: „begriffliches Denken folgt dem anschaulichen Denken auf dem Fuße und läßt sich den Versuch nidit nehmen, das schärfer zu umgrenzen, was uns zuerst nur anschaulich-lebendig vor Augen stand 5 ." Auf diese Weise wird der Historiker zum Philosophen, freilich nur auf diese Weise, indem er die ganze Stoffülle seines Anschauungsmaterials zur steten Kontrolle der Begriffe bereit hält, die er so weit spannt und an den Grenzen unbestimmt läßt, daß sie der Wirklichkeit keine oder doch möglichst wenig Gewalt antun. So erhält die „Philosophie" Meinedkes jenen eigentümlich schwebenden Charakter, der das Irrationale der Wirklichkeit zu umgreifen versucht, ohne es doch fassen zu können. Das ist nun aber zugleich der Hauptwesenszug des Historismus in seiner Haltung zur Wirklichkeit, und insofern ist „Historismus" überhaupt mehr — oder aber Entstehung des Historismus (Werke III 5). Weltbürgertum und Nationalstaat, 6. Aufl. 1922 S. 20 f. 3 Idee der Staatsräson (Werke 124). 4 Klassizismus, Romantizismus und historisches Denken im 18. Jahrhundert, unten S. 264. B Kausalitäten und Werte, unten S. 74. 1 2

X

Einleitung des Herausgebers

weniger — als irgendeine positive Philosophie oder Lehrmeinung; „mehr" deshalb, weil er eine menschliche Verhaltensweise im Denken und Handeln bezeichnet, „weniger" aber, weil mit dieser Bezeichnung noch gar kein bestimmter Gedankeninhalt gegeben ist, der vielmehr erst aus den besonderen Voraussetzungen der Persönlichkeit und der Zeit aus dieser Haltung erwachsen muß. Wir sind gewohnt, dies Phänomen als historischen Relativismus zu beurteilen. Das Neue und Eigenartige an Meineckes Lehre ist, daß darin nicht eine Sckwädie liegt, oder jedenfalls nidit zu liegen braucht, sondern eine Stärke. Ob es das eine oder andere ist, hängt von dem Charakter ab, den die Persönlichkeit im Historismus bewährt. Die hierfür zuständige Instanz aber ist für Meinecke das Gewissen des Einzelmenschen. So mündet Meineckes Geschichtsphilosophie in eine ausgesprochen individualistische Gewissens-Ethik aus, die zur Norm zu erheben, die Konsequenz des Historismus wäre. „Historismus allein tut es eben noch nicht", hat Meinecke gesagt, „sondern er bedarf eines ganzen und vollkräftigen Menschentums zu seiner Ergänzung. Darum geht der Weg von ihm aus noch höher hinauf ins Religiöse und Metaphysische1." So wenig indessen mit dem Begriff des Historismus ein bestimmter Gedankeninhalt vorgegeben ist, so deutlich ist es doch, daß der auf historistisdie Weise gewonnene Gedanke, welcher es auch immer sein mag, dadurch in seinem Wesen geprägt wird. So kommt es, daß in Meineckes Gesdiichtsdenken „Theorie" und „Philosophie" unmittelbar in eins verschmelzen; und nimmt man hinzu, daß für ihn der Historismus nicht nur eigene Überzeugung ist, sondern gleichzeitig Gegenstand seiner Geschichtsschreibung und Forschung, so wird klar, daß bei ihm Geschichtstheorie, Geschichtsphilosophie und Geschichtsschreibung untrennbar miteinander verwoben sind und sich in ihren Ergebnissen gegenseitig erhellen. So gesehen, ist die „Geschichte des Historismus" geradezu ein Teilstück seiner Geschichtsphilosophie, und von alledem muß die Rede sein, wenn wir seine zerstreuten Äußerungen zu dem Gesamtthema zusammenfassen wollen. Einem derartigen Gesdiichtsdenken ist allerdings seiner ganzen Natur nach das weite Feld der materialen Gesdiiditsphilo1

Von der Krisis des Historismus, unten S. 204.

Einleitung des Herausgebers

XI

Sophie so gut wie verschlossen, wie denn überhaupt der Historismus eine solche nur sehr bedingt als unbestimmte „Ahnung" oder wiederum als „Umrandung" oder Formalprinzip möglich madit. So hat sie Wilhelm von Humboldt als Verwirklichung der Idee der Menschheit in der Welt aufgefaßt und allerdings die Vorstellung einer Weltregierung als denknotwendig angenommen, aber zugleich betont, dem Geschichtsschreiber sei „kein Organ verliehen, die Plane der Weltregierung unmittelbar zu erforschen . . . u l . Und Ranke, der weit stärker als Humboldt von der Tatsache göttlicher Providenz erfüllt war, der selbst in seinem Erstlingswerk nodi den später aufgegebenen Versuch gemacht hatte, wenigstens an einzelnen Punkten des Geschehens „Gottes Finger" nachzuweisen, meinte doch: „Die Weltgeschichte weiß Gott allein." 2 Schon die Stredce, die in der Zukunft liegt, bleibt ein ewiges Rätsel, ohne dessen Lösung die Vergangenheit unverständlich bleibt, und die Annahme einer diesbezüglichen göttlichen Offenbarung ist dem modernen Geschlecht suspekt geworden. Meinecke zitiert die Worte Egmonts: „Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich doch kaum, woher er kam 3 ." Das bezieht sich auf die „Horizontale" des Geschichtsverlaufs, um uns gleich des charakteristischen Ausdrucks von Meinecke zu bedienen. W i r wissen nicht nur nichts über ihren Inhalt, sondern jede willkürliche Konstruktion vergewaltigt die Individuen, wie er einmal notiert hat: „Jede Geschiditsphilosophie hat die Neigung, das Individuelle in der Geschichte zu beschränken oder gar zu eliminieren, es zu mediatisieren zur bloßen Hilfsfunktion im Interesse des ganzen Entwicklungsgangs. Als Historiker muß man einen wahren Kampf kämpfen, um das Recht aller Individualitäten zu schützen. Anschauung und Lebensgefühl, unmittelbare Liebe für alles Lebendige schützen ihn vor dieser Mediatisierung 4 ." Meinecke hat deshalb der „Horizontalen" des Geschichtsverlaufs mit deutlichem Wertakzent die „Vertikale" des Immediatverhältnisses der Individualität zum Absoluten gegen1

Humboldt, Ges. Schriften (Akad.-Ausg.) IV 50. Rankes Idee der Universalhistorie, Historische Zeitschrift 178 (1954) S. 301. * Geschichte und Gegenwart, unten S. 92. 4 Aufzeichnung zu Spengler Bd. I im Nachlaß BHA Rep. 92 Meinecke 231/5648. 3

XII

Einleitung des Herausgebers

übergestellt; mit Ranke zu sprechen: „jede Epodie ist unmittelbar zu Gott", und Meinecke hat dies Ranke-Wort zum Ausgangspunkt einer seiner tiefgründigsten Abhandlungen genommen 1 , nun nur noch stärker als Ranke geneigt, das Schwergewicht von der horizontalen Betrachtung auf die vertikale zu verlagern und den „Versuch Rankes, sie beide zu vereinigen, aufzugeben". Ganz gelingt ihm dies freilich nicht; die Individualität steht nun einmal im Schnittpunkt der horizontalen und vertikalen Richtung der Betrachtung, und man kann nicht ausschließlich die eine ins Auge fassen, ohne auf die andere wenigstens einen Blick zu werfen. Zugleich faßt auch Meinecke die Weltgeschichte im ganzen als eine große allumfassende Individualität auf, „die genau so unmittelbar zu Gott ist wie jede einzelne der unzähligen von ihr umschlossenen Individualitäten", so daß die Abweichung von Rankes Versuch einer Verbindung beider Richtungen nur als eine Nuance erscheint, und zwar als eine Nuance von weniger zuversichtlicher Gläubigkeit, als sie Ranke besaß. Ein „ftelov", ein „Göttliches" bleibt es auch für Meinecke, und damit zugleich ein Geheimnis. Aber abgesehen von diesem Unerkennbaren des Gesamtzusammenhangs der Geschichte2 sind es zwei Faktoren, die Meinecke immer wieder auf die Untersuchung des horizontalen Geschichtsverlaufs hinweisen. Das sind der Entwicklungsbegriff und die Kausalität. Gewiß hat in Meineckes Geschichtsdenken die Individualität unbedingt den Vorrang vor der Entwicklung, und er kritisierte an dem Historismus-Begriff von Karl Heussi, daß er den Individualitätsgedanken ignorierte'. Aber den Entwicklungsgedanken wollte er sich darum doch auch nicht nehmen lassen, und als Erich Brandenburg in seiner überspitzten Logik die Entwicklung aus dem Geschichtsdenken überhaupt eliminieren wollte, hat er sich dagegen gewehrt, auch wenn er dabei Brandenburgs Verdienst in der Ablehnung allzu gedankenloser schematischer Anwendung des Entwicklungsgedankens in der Geschichte ehrlich anerkannt hat 4 . Individualität und Entwicklung gehörten für ihn 1 a 3 4

Deutung eines Rankewortes, unten S. 117 ff. Gedanken über Welt- und Universalgeschichte, unten S. 140 ff. Von der Krisis des Historismus, unten S. 196 f. und 202 f. Ein Wort über geschichtliche Entwicklung, unten S. 102 ff.

Einleitung des Herausgebers

XIII

zusammen, der wohlverstandene Historismus bestand für ihn gerade in der Vereinigung beider Vorstellungen 1 . Entwicklung und Individualität aber verhalten sich wie Horizontale zur Vertikalen zueinander. Andererseits wirkt audi die Kausalität in der Horizontalen, und mit diesem Begriff berühren wir, biographisch gesehen, geradezu einen Ausgangspunkt von Meineckes Nachdenken. Die Anfänge seines Gesdiiditsdenkens haben deutlich unter dem Eindruck der Auseinandersetzung zwisdien Johann Gustav Droysen und Henry Thomas Buckle über dessen Forderung einer rein kausal erklärenden Zustands- und Kulturgesdiichtschreibung gestanden. Meinecke hat als junger Student im ersten Semester im Winter 1882/83 Droysen gehört, der damals zum letzten Mal, anderthalb Jahre vor seinem Tode, seine Vorlesung über Methodologie und Enzyklopädie der Gesdiichte gehalten hat. Meinecke hat immer wieder davon gesprochen und dann audi in seinen Erinnerungen erzählt, wie die Vorlesung als Ganzes und speziell die beiden Stellen von dem X der Persönlichkeit bei der Sixtinischen Madonna und der Lückenlosigkeit der Gedankengeschichte im Gegensatz zu dem Fragmentarischen der Tatengeschichte in ihm „blitzartig" gezündet hatten 2 . Der „alte kleine Mann mit den blitzenden Augen hinter der Brille" auf dem Katheder hatte einen bleibenden Eindruck auf den jungen Studenten gemacht. Der gedruckte schmale „Grundriß der Historik", den Droysen den Hörern seiner Vorlesung in die Hand zu drücken pflegte, enthielt als Beilage audb seine Kritik an Buckle aus der Historischen Zeitschrift von 1862. Dazu kam Lotzes Versuch einer Synthese zwischen dem kritischen Idealismus und den modernen Forderungen der Naturwissenschaften, ferner Du Bois-Reymond mit seinen „Welträtseln" und „Grenzen des Naturerkennens" und mit seiner Forderung von „Culturgesdiichte und Naturwissenschaft", gegen die sidi vor allem der Wiener 1 Persönlich wäre ich geneigt, im Anschluß an Humboldt als drittes noch den Zeugungsgedanken hinzuzunehmen, und Meinecke ist audi im Gespräch in der ihm eigenen Bereitschaft, die Gedanken anderer aufzunehmen, darauf eingegangen. Aber ich hatte den Eindruck, daß er das als eine unnötige Komplizierung empfand, da sein Begriff der Individualität das alles schon mit umfaßte. 2 Erlebtes 1862—1901, S. 86 f.

XIV

Einleitung des Herausgebers

Historiker Ottokar Lorenz zur Wehr setzte. Uns Nachlebenden tut sidi mit diesen Namen eine heute vergessene geistige Welt auf, die in der Auseinandersetzung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften die Grundlagen für eine kritische Selbstbesinnung der Historie gelegt hat. Meinecke hat von ihr entscheidende Anregungen empfangen, wie seine philosophische Staatsexamensarbeit zeigt, für die er sich 1886 als Thema erbeten hatte: „Vergleichung der Gesdiichts- und Naturwissenschaften hinsichtlich ihrer Methoden 1 ." Das war mehr als eine Zweckarbeit, wie er sie denn auch in verkürzter Form und mit abgewandeltem Titel demnächst in der Sonntagsbeilage der Vossisdien Zeitung zum Abdruck brachte. Die Titeländerung in: .Willensfreiheit und Geschichtswissenschaft" bezeichnet zugleich den tieferen Sinn, der hinter dem Problem steht, könnte aber auch auf den Wunsch des Redakteurs vorgenommen sein. An sich will die ursprüngliche Thema-Fassung besser zum Inhalt passen; denn die Frage der Willensfreiheit wird nicht entschieden, sie wird für unlösbar erklärt und gewissermaßen ausgeklammert, und dann wird der Versuch gemacht, die Eigenständigkeit der Geschichtswissenschaft in ihrer Methode ohne Rücksicht auf die Frage, ob Willensfreiheit oder nicht, zu begründen. Als solche aber übernimmt der junge Meinecke Droysens Terminus „forschend zu verstehen" 2 . Die Arbeit hatte Meinecke »endlich'', wie er schreibt, auch den Zugang zu Dilthey finden lassen, in dessen Vorlesungen zu gehen er versäumt hatte. Nun las er die „Einleitung in die Geisteswissenschaften" — „nicht ohne Mühe" — und konnte zu seiner Genugtuung feststellen, daß er in wesentlichen Punkten mit ihm übereinstimmte 3 . Damit wird klar, daß es eigentlich ungenau ist und eine gewisse Verwischung des Erinnerungsbildes vorliegt, wenn Meinedce in seinen Erinnerungen angibt, die Arbeit sei „von Droysen und Dilthey zugleich inspiriert" worden, und es scheint für die geistesgeschichtlichen Zusammenhänge nicht unwichtig festzustellen, daß sich, während primär Droysens Einfluß auf ihn gewirkt hat, die Berührungspunkte mit Dilthey erst nachträglich ergeben haben. 1 Willensfreiheit und Geschichtswissenschaft, unten S.S. Dazu vgl. Erlebtes 1862—1901 S. 132 f. * Grundriß der Historik § 8. * Vgl. unten S. 17.

Einleitung des Herausgebers

XV

Wir stehen damit in den keimenden Anfängen von Meineckes Gedankengängen, und es ist interessant zu sehen, wie er als Einzelbeispiel für die Anwendung der Methode des „forschenden Verstehens" das Stralendorffsche Gutachten heranzieht, jene Fälschung einer antipreußischen habsburgisdien Denkschrift von 1610, über die er seine Dissertation bei dem jungen Reinhold Koser ausgearbeitet hatte: schon hier das ausgesprochene Bedürfnis, die speziellste Detailarbeit zu den höchsten und allgemeinsten Fragen in Beziehung zu setzen; den Fragen nicht nur der historischen Methode, sondern der Kausalität und Willensfreiheit, der Gesetzmäßigkeit der Geschichte und des Verhältnisses von individuellen und kollektiven Mächten, von Spontaneität und Notwendigkeit im menschlichen Leben. Das sind die Grundfragen, um die es sich für Meinecke zeitlebens in der Hauptsache gehandelt hat, und sie sind charakteristisch für seine Auffassung des Historismus geworden. Er hat den Begriff damit nun auch für die wissenschaftliche Diskussion maßgeblich bestimmt, die gut daran tut, sich an ihn zu halten. Gewiß, der erste Versuch von 1886, die Problematik der Geschichte direkt anzugehen, ist lange ohne Nachfolger geblieben. Er war notwendig unvollkommen und ist von der vorausgegangenen zeitgenössischen positivistischen Auseinandersetzung geprägt. Die Kausalitäten werden nicht weiter unterschieden, und die Eigenständigkeit des „Verstehens" als der eigentümlich historischen Methode wird nicht etwa aus der prinzipiellen Ungültigkeit des naturwissenschaftlichen Kausalitätsbegriffs für die Geschichte gefolgert, sondern aus der Unmöglichkeit, die Kausalitäten eines historischen Vorgangs sämtlich nachzuweisen, schon weil dafür die Quellen nicht ausreichen. Trotzdem: das „X der Persönlichkeit" ist da und ebenso das „Sittliche Bewußtsein" und damit der Kern der Grundanschauung Meineckes, die in den Aufsätzen und Abhandlungen der Spätzeit in immer ausgereifterer Form und umfassenderer Übersicht zum Ausdruck gekommen ist. Allerdings ist der Kausalitätsbegriff in Meinecke lebendig geblieben. Er spricht gelegentlich von der „ehernen" Kausalität 1 , 1

So: Zur Beurteilung Rankes, zuerst in Historische Zeitschrift, Bd. 111 (1913), S. 586, zuletzt in: Schaffender Spiegel, S. 127, dazu: Persönlichkeit und geschichtliche Welt, unten S. 35, und: Straßburg, Freiburg, Berlin, S. 49.

XVI

Einleitung des Herausgebers

und sie war und blieb ihm das Charakteristikum einer „exakten" wissenschaftlichen Forschung. Auch die Geschichte will, soweit sie „reine Wissenschaft" ist, kausal erklären. Diese Auffassung ist an sich nur von der Ausgangsposition Meineckes aus zu verstehen. Aber er lernte bald zwisdien den verschiedenen Kausalitäten unterscheiden, durch deren verschiedene Geltung im Reiche der Natur und des Geistes auch eine Differenzierung in den Unterschieden bei der Arbeit mit der Kausalität zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften Platz greifen mußte, von der Auflösung des Kausalitätsbegriffs in den Naturwissenschaften selbst nicht weiter zu reden, die in der neuesten Entwicklung der Naturwissenschaften das Flüssigwerden ihrer früher anscheinend so festen und den Geisteswissenschaften überlegenen Grundbegriffe gebracht hat; damit nahm die Naturwissenschaft 150 Jahre später an dem gleichen Umschwung des Denkens teil, den die Geisteswissenschaften bereits um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert durchgemacht hatten 1 . Das mußte für Meinecke wie überhaupt für den modernen Historismus als eine Bestätigung seiner Grundposition wirken. Meinecke stellte dazu den „Kausalitäten" die „Werte", bzw. die „Kulturwerte" gegenüber. Dabei wird die Kausalität von Meinecke in ihrer doppelten Bedeutung für die Geschichte gewürdigt, einmal als Methode, um einen Vorgang oder Zustand zu „erklären", oder aber als Forschungsgegemfcwiif, wenn es gilt, den Kausalzusammenhang zwisdien den historischen Ereignissen festzustellen. Auf jeden Fall wirkt sie in der „Horizontalen". In den „Werten" aber kommt die vertikale Richtung zur Geltung. Beides gehört für Meinecke untrennbar zusammen. Wir sehen der Horizontalen in dieser Beleuchtung eine nicht wegzuleugnende Bedeutung zukommen. Der Wertgedanke aber liegt bereits der Grundkonzeption von Meineckes gesamter Ideengeschichte zugrunde, in der der einzelne Denker unabhängig von den Kausalzusammenhängen, in denen er steht, einen „Wert" hat, und dieser Wert ist es, der uns überhaupt dazu veranlaßt, uns mit ihm zu beschäftigen. Der 1

Vgl. Geschichte und Gegenwart, unten S. 91, dazu die Anleihe bei der Quantentheorie in: Geschichte des deutsch-englischen Bündnis-

problems (1927), S. 5.

Einleitung des Herausgebers

XVII

Kulturwert der großen Ideen hebt sie geradezu aus dem Kausalzusammenhang heraus, in den sie eingebettet sind, und madit sie, unabhängig davon, wie sie entstanden sind, was sie für ihre Zeit bedeutet haben und was aus ihnen unmittelbar hervorgegangen ist, über alle Zeiten und Räume hinweg „wertvoll". Das hat Meinedce zuerst gegenüber grundsätzlicher Kritik an seiner Ideengeschichte deutlich ausgesprochen, und es gilt nun nicht nur für die „Ideen", sondern für jede große Leistung in der Geschichte. Meinedce nennt sie „Kulturleistung" und hat das dann in grundsätzlicher Erörterung, seine Positionen behutsam abstedcend, im einzelnen ausgeführt. Die Erforschung der Kausalitäten ist dafür gewissermaßen Hilfskonstruktion und Vorarbeit 1 . Meinedce verlangt deshalb eine Synthese von kausal erklärender Wissenschaft und „überwissenschaftlichen Erkenntnismitteln", oder von „Kritik und Intuition", wie er auch gesagt hat 2 . „Mir schwebt von jeher vor", so hat er sidi 1922 einmal im Anschluß an eine Lektüre notiert, „ein Zusammenwirken irrationaler und rationaler Erkenntnismittel. Unmittelbare Anschauung für das nicht zu Fassende — aber alles, was sich fassen läßt durch rationale Forschung, muß auch erfaßt werden. Die rationale Bastion der Geschichtsforschung soweit vorschieben als möglich ist. Dann Ausblick auf die unendliche Weite [?]. — Und dann Auswählen. Historische Frage. Droysen 3 ." Was natürlich nicht im Sinne einer sauberen Trennung der Erkenntnismittel gemeint ist, die eben nicht möglich ist; eins geht ins andere über. Die Kausalität aber erfährt außerdem noch die Unterbrechung durch den Zufall. Die positive Anerkennung des Zufallsfaktors in der Geschichte ist Meinedce nicht leicht gefallen; er sah zunächst — und darin kommt das idealistische Geisteserbe bei ihm sehr deutlich zur Geltung — das Einreißende und Zerstörerische seines Waltens. Aber er machte dann auch Unterschiede, ohne 1

Vgl. Zur Beurteilung Rankes a. a. O., dazu: Kausalitäten und Werte, unten S. 61 ff. 1 Außer Kausalitäten und Werte nodi: Entstehung des Historismus (Werke III 510). * Aus einer Aufzeichnung zu: Spranger, Der gegenwärtige Stand der Geisteswissenschaften und die Schule (1922) im Nachlaß BHA Rep. 92 Meinedce Nr. 231/5651. Ib Meinecke Werke, Bd. IV

XVIII

Einleitung des Herausgebers

diese freilidi jemals so systematisch auseinanderzusetzen, wie er das bei den Kausalitäten getan hat; und er bemerkte vor allem, daß der Sinn für das Unberechenbare zu den konstituierenden Elementen des Historismus gehört 1 . Das ist allerdings in dem Hauptwerk über die Entstehung des Historismus nicht sehr deutlich zum Ausdrude gekommen, und er war beispielsweise bei Ranke geneigt, dessen Sinn für das Unberechenbare mehr seiner religiösen Überzeugung als seinem Historismus zuzuschreiben: Meinecke warf die Frage auf, wie man sich mit dem Unberechenbaren abfinden könne, wenn man Rankes Glauben nidit besäße2. Aber Historismus ist eben überhaupt ohne irgendeine religiöse Überzeugung undenkbar; es braucht nicht unbedingt diejenige Rankes zu sein, und zuletzt läuft der Historismus bei Meinecke auch auf ein unbestimmtes religiöses Ahnen hinaus. Nur ist Meineckes Grundhaltung überhaupt sehr viel pessimistischer als diejenige Rankes, obsdion man sich auch Ranke nicht als allzu „gläubig" im Sinne eines weltlich-harmonisierenden Optimismus vorstellen sollte, von dem er im Grunde seiner Seele weit entfernt war. Den hoffnungsfrohen Zug, den Ranke im ganzen noch gehabt hat, konnte sich Meinecke nicht bewahren. Darin kommt die ganze schmerzliche Erfahrung eines durch die Katastrophen der beiden Weltkriege, des Bolschewismus und des Nationalsozialismus hindurchgegangenen Lebens zum Ausdruck. Und Meinecke hat schwer an dem Zwiespalt einer nach Harmonie dürstenden Seele und der desillusionierten Realität der Gegenwart getragen; denn sein unbestechlicher, bohrender Erkenntniswille ertrug keine schönfärbende Verfälschung der Wirklichkeit. Aber darum zieht er zum Schluß entschlossen die Konsequenz und verlagert den Schwerpunkt der geschichtlichen Betrachtung radikal von der horizontalen auf die vertikale Richtung 3 . In der Horizontalen bleibt tatsächlich nichts als ein dumpfes Ahnen, in der Vertikalen dagegen liegen die Werte, die das Leben lebenswert machen. Auf diese kommt es an, und nur wenn 1

Aphorismen, unten S. 232 f. Aphorismen, unten S. 261 f., und: Deutung eines Rankewortes, unten S. 130 f. ' Geschichte und Gegenwart, unten S. 98 ff., und: Irrwege in unserer Geschichte?, unten S. 209 ff. 1

Einleitung des Herausgebers

XIX

man sie richtig würdigt, gewinnt auch die Horizontale zuletzt noch einen gewissen Sinn. Das ist zugleich eine unmittelbar praktische Aufgabe; denn die Spontaneität des menschlichen Handelns schafft stets neu an der Weiterbildung der Horizontalen mit. Oft genug fallen dabei Motiv, Absicht und Erfolg weit auseinander. Hegel hatte von der List der Vernunft gesprochen, was Ranke eine unwürdige Vorstellung nannte. Auch Meinecke konnte in der Gleichsetzung von Vernunft und Wirklichkeit nur die Anmaßung menschlicher Ratio sehen. Aber im Unterschied von Ranke, der sich mit dem ruhigen Bestehenlassen der Antinomien begnügte, empfand Meinecke die „Heterogonie der Zwecke" als eine tief schmerzliche Tragik. Darin liegt der dämonische Charakter begründet, den die Weltgeschichte für Meinecke bekommen hat, gerade weil er nicht auf eine ethische Wertung verzichten wollte und konnte. Das führte ihn im Verlauf seines Lebens immer mehr auf die Seite von Jacob Burckhardt, bei dem er feststellen konnte, daß er am entschiedensten von allen Historikern des 19. Jahrhunderts „den Schwerpunkt von den Kausalitäten auf die Werte verschoben hat" 1 . Trotzdem endete Meinecke nicht in Resignation und Pessimismus. Für ihn war und blieb das Gewissen der menschlichen Einzelseele die entscheidende Instanz im Leben und damit'audi in der Geschichte, und er sprach es schließlich in aller Kürze und Klarheit aus: „Im Gewissen verschmilzt sich die Individualität mit dem Absoluten und das Geschichtliche mit dem Gegenwärtigen . . . Alle Ewigkeitswerte der Geschichte stammen letzten Endes aus den Gewissensentscheidungen der handelnden Menschen." 2 Damit wird dem „Augenblick" eine Dignität verliehen, die ihn tatsächlich zum Kernpunkt der Geschichtsbetrachtung werden läßt. Er knüpft zugleich Vergangenheit und Zukunft aneinander: .Der Augenblick ist Ewigkeit." 3 In Konfliktsituationen aber kann 1 So in der Besprechung von: Carl Neumann, Jacob Burckhardt, München 1927, in der Historischen Zeitschrift, Bd. 138 (1928), S. 82, im übrigen vgl. Meineckes Akademie-Vortrag von 1948: Ranke und Burdchardt, wiederabgedruckt: Aphorismen und Skizzen zur Geschichte, 2. Aufl., Stuttgart 1952. 3 Geschichte und Gegenwart, unten S. 101. 4 Ebenda unten S. 98. Tb»

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nicht eine Theorie entscheiden, sondern allein die vom Gewissen bestimmte Tat. So gibt der Historismus, wie Meinedce ihn auffaßte, eine Lehre für praktisches Tun und Handeln; nidit freilich durch spezielle Ratschläge, wohl aber durch die Erziehung zu einer Haltung, die im Sichanpassen an die Wirklichkeit die Folgerungen für die Notwendigkeit des Augenblicks aus der gegebenen Situation zu ziehen weiß. Meinedce hat, wie er berichtet, im Gespräch mit seinem Freunde Ernst Troeltscb, mit dem er über die Probleme des Historismus und über politische Tagesfragen lebhaft zu diskutieren pflegte, „oft bemerkt, daß Troeltsch, wenn er eben in großartigem Freskostil seine Auffassung der Lage entwickelt und die zerstreuten Dinge zusammengebunden hatte zu festen Kausalkomplexen, achselzuckend versagte auf die Frage, was man denn nun unmittelbar zu tun habe." 1 Und er hat das auf einen Mangel „an dem Triebe zu unmittelbarer Einwirkung auf die Dinge" bei dem Freunde zurückgeführt. Vielleicht liegt doch hier eben nur jene Grenze der betrachtenden Haltung überhaupt vor, weil derjenige, der nicht mitten inne steht in der Sphäre des Handelns, gerade wenn er historistisch denkt, nicht im einzelnen konkret angeben kann, was und wie etwas getan werden soll. Er kann eine Analyse der Lage geben, aber nicht dem Handelnden die Entscheidung abnehmen, ja — von Ausnahmen abgesehen — kaum einen konkreten Rat für den einzelnen Zug in der Aktion erteilen. Das ist ja audi die Eigentümlichkeit etwa der politischen Denkschriften Rankes gewesen, die den Leser, sofern er einen unmittelbar praktischen Vorschlag erwartet, im allgemeinen unbefriedigt entlassen. Und nicht anders sind Meineckes eigene Analysen der Gegenwartssituation gewesen. Sie können Form und Richtung des Handelns angeben, aber in der Regel nicht das Handeln selbst. Doch ist diese Form und Richtung des Handelns von entscheidender Wichtigkeit. „Von dieser Seite ist die Geschichte dem handelnden Leben v e r w a n d t . . h a t Wilhelm von Humboldt gesagt2. Der handelnde Mensch, so hat es Meinecke 1916 mitten 1 Einleitung zu den Spektator-Briefen, unten S. 882 und ähnlidi S. 367 f., dazu: Straßburg, Freiburg, Berlin, S. 156 f. 1 Ober die Aufgabe des Geschichtsdireibers, Ges. Schriften IV 40.

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im Kriege formuliert, bedarf des „Spiegels, den das historische Denken und Verstehen ihm bieten kann", und was die Geschichtswissenschaft dem öffentlichen Leben zu geben hat, ist „nicht in erster Linie ihr Wissen, sondern ihre Kunst des Verstehens... Sie ist nur erreichbar für den, der eine tief menschliche Gesinnung in sich pflegt, dem nichts Menschliches fremd bleibt, der sich einzufühlen vermag audi in die Gedankenwelt seines Feindes." 1 Meinecke weiß wohl, daß in dieser „Einfühlung" der betrachtende Historiker weiter zu gehen hat als der handelnde Staatsmann, und hier scheiden sich die Aufgaben beider, aber er erblickt darin zugleich eine Grundvoraussetzung jeder fruchtbaren Aktivität. Der Historismus bietet sogar die Basis für einen Ausgleich bestehender Gegensätze, für eine gegenseitige Verständigung, wenn von beiden Seiten in diesem Geiste verfahren wird. So hält der Historismus wohl den Betrachtenden zurück in der Erteilung unmittelbar praktischer Ratschläge, aber er macht den Handelnden fähig zu dem der Wirklichkeit angemessenen Verfahren, zur Wahrnehmung des eigenen und zur Anerkennung des fremden Lebensrechts. In diesem Sinne ging Meinecke selbst keineswegs völlig in der Vita contemplativa auf, so sehr er ihren Eigenwert vertreten hat 2 , sondern er suchte diesem praktischen Auftrag des Lebens an den Historiker immer wieder durch die geschichtliche Besinnung auf den gegenwärtigen Moment zu genügen. Das hat auf der einen Seite die eigentliche politische Publizistik Meineckes hervorgerufen 3 , auf der anderen handelte es sich um eine Selbstorientierung der Geschichtswissenschaft in der Gegenwart und um eine Auseinandersetzung mit dem Geschichtsbild und der Geschichtsauffassung in der allgemeinen öffentlichen Meinung. Biographisch gesehen, gingen von hier aus die nach dem Jugendaufsatz ersten Anregungen zu weiterer grundsätzlicher Stellungnahme zu den allgemeinen geschichtstheoretischen und geschichtsphilosophischen Fragen aus, und während die großen 1 Gesdiidite und öffentliches Leben (1916), wiederabgedruckt: Probleme des Weltkrieges (1917), S. 5 f. a Ernst Troeltsch und das Problem des Historismus, unten S. 378, und Über Spenglers Geschichtsbetrachtung, unten S. 185. 3 Vgl. Bd. II der Meinecke-Gesamtausgabe mit der Einleitung von Georg Kotowski.

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Themen der Meineck es chen Ideengeschichte denknotwendig auf das Historismus-Problem führten, bradite der erste Weltkrieg mit den Angriffen des westlichen Denkens auf die deutsche historische Tradition, dann Revolution und Nachkriegszeit mit der „Krisis des Historismus", schließlich die Katastrophe von 1933/45 mit der Forderung auf Revision des Geschichtsbildes aktuelle Anstöße zu immer neuer Selbstbesinnung und Auseinandersetzung mit allen möglichen Zeitströmungen, die Meinecke in der ihm eigenen Aufgeschlossenheit gegenüber allem Lebendigen auf das jeweils Berechtigte oder auch nur Beachtenswerte in ihnen prüfte. Dabei stand er ganz fest in den Traditionen seiner Wissenschaft, und er konnte mit einem überlegenen Lächeln von den »modernen Jünglingen" oder den „Umstürzlern" sprechen, das deutlich seine gefühlsmäßige Ablehnung oder doch eine Distanzierung von ihrem Treiben erkennen ließ. Er mochte auch seine eigenen Bücher nicht ausgenommen sehen, wenn die Fachwissenschaft angegriffen wurde. 1 Aber er empfand die Kluft zwisdien der Historie und weiten Strömungen des modernen Lebens je länger je mehr als etwas Ungesundes und Gefährliches und fragte sich doch auch, ob „die alte Wissenschaft ganz untadlig ist und nichts zu ändern hat? Droht nidit jede große und blühende Riditung und Kultur einmal zu erstarren? sich auszuleiern? Der herkömmliche Betrieb des akademischen Unterrichts zugeschnitten auf Lieferung von Dissertationen hat in der Tat die Gefahren der Routine. Ganz vermeiden kann man solche Gefahren und Klippen niemals. Alles Geistige droht, wenn nicht neue frische Impulse kommen, zu erstarren, Handwerk und Konvention zu werden." Da war nun seine Forderung, "die alte Wissenschaft in einen inneren Kontakt mit den neuen Bedürfnissen zu setzen. Und zwar dadurch, daß man alle neuen Fragen und Gesichtspunkte, die von den Umstürzlern kommen, vorurteilslos prüft" 2 . Er nannte es einmal „eine der größten Leistungen", daß es den Ranke, Savigny und Grimm gelang, „romantische Intuition und Wissenschaft in festen Kontakt zu 1 Die deutsche Geschichtswissenschaft und die modernen Bedürfnisse, unten S. 172. 1 Aus der Aufzeichnung zu: Spranger, Der Stand der Geisteswissenschaften und die Schule (1922) vgl. oben S. XVII.

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bringen" . Dies Bündnis wiederherzustellen, das inzwischen zerrissen war, darauf kam es ihm an. Er erinnerte sich auch, wie in der entscheidenden Phase der Entstehung des Historismus die wesentlichen Antriebe nicht von der Fachwissenschaft, sondern von den Außenseitern ausgegangen waren. Allerdings war die Situation auch in dieser Beziehung nicht mehr ganz die gleiche. Die Fachwissenschaft hatte j a j e n e Impulse in sich aufgenommen, während bei den modernen „Umstürzlern" zugleich ein Element der Zuchtlosigkeit in Erscheinung trat, das Meinecke erschreckte und mit Abneigung erfüllte. „Uberhaupt", so notierte er sich, „scheidet sich die geistige W e l t in solche, die Nietzsche im Magen haben, und in solche, die ihn nicht im Magen haben" 1 . Er kannte die positiven Seiten des verachteten Spezialistentums, das im Verlauf eines langen entsagungsreichen Forscherlebens eine „ungeschriebene" Synthese selbst beim eingezogensten Spezialisten entstehen läßt: „Eine solche ungeschriebene lebendig gewachsene Gesdiichtsphilosophie — erwachsen aus strengster Zucht und Arbeit — ist oft mehr wert als ein geschlossenes System. Weisheit läßt sich nicht auf Flaschen ziehen." 1 Aber er bemühte sich um das Verständnis nicht nur von Nietzsche, sondern auch — um nur einige N a m e n zu nennen, die von ihm erwähnt worden sind — um Spengler, Klages, Gundolf, N a d l e r . Selbst Lamprecht und Sombart zählte er zu dieser G a t t u n g „kühner Dilettanten". Dem „Untergang des Abendlandes" hat Meinecke einen eigenen, höchst aufschlußreichen Aufsatz gewidmet 2 , der allerdings auf eine von außen an ihn herangetragene Anregung hin entstanden ist. Aber die ersten flüchtigen Aufzeichnungen zu Spengler, die sidi im Nachlaß gefunden haben, zeigen uns, daß er bereits vorher von sich aus in die Auseinandersetzung mit dem a u f sehenerregenden W e r k eingetreten war. In ihnen spiegelt sich das Interesse und überhaupt die rein gefühlsmäßige Reaktion gewissermaßen unwillkürlicher wider als in dem sorgfältig f o r mulierten späteren Aufsatz. „Einfälle wie ein H u n d Flöhe", steht d a auf einem Zettel, aber gleich darunter: „oft gute Ein1 Aufzeichnungen zu Spengler im Nachlaß BHA Rep. 92, Meinecke Nr. 231/5642 ff. 3 Ober Spenglers Gesdiiditsbetraditung, unten S. 1S1 ff.

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fälle", und d a n n folgt in Stidiworten eine Reihe von später in dem gedruckten Text positiv gewerteten Gesichtspunkten 1 . Er w a r durchaus bereit, dasjenige anzunehmen, was er als anregend und bereichernd empfand. „So Spenglers Idee des pflanzenhaften Wachstums der Kulturen und der Ausprägung desselben Grunddiarakters in allen Seiten und Zügen einer Epoche oder Kultur", wobei er freilich gleich hinzusetzte: »durchaus nicht so was Neues grade" 2 . Meinecke betrachtete indessen Spengler mit seiner pseudoromantisdien u n d konservativen Ideologie — ihm fiel sofort die Parallele mit Adam Müller auf — zugleich als ein Element der allgemeinen geistigen und politisdien Gärung der Zeit, und insofern galt ihm überhaupt die sogenannte „Krisis des Historismus" nur als eine Teilerscheinung d e r großen Krisis der zwanziger J a h r e in Deutschland. Die Überwindung der Krisis hing nicht so sehr von der Geschichtswissenschaft selbst, sondern von ganz anderen Faktoren ab. D a bedeutete d e r Einbruch des N a tionalsozialismus den schärfsten Schnitt in der Entwicklung. Das h a t Meinecke denn auch in seiner Besprechung des Budies von Karl Heussi über die Krisis des Historismus, die er 1934 in der Historischen Zeitschrift veröffentlichte, kurz bevor er aus deren Redaktion verdrängt wurde, wenigstens angedeutet, indem er sagte: „Seine schwerste Belastungsprobe aber wird der Historismus bei uns jetzt wohl erst vor sich haben." 3 I n dem Aufsatz über Heussis Buch, den er dann 1942 in seine Sammlung „Aphorismen und Skizzen zur Geschichte" aufnahm, h a t er freilich diesen Gegensatz zu überbrücken versucht, und er hat geradezu von d e r Möglichkeit einer Verbindung „dieser neuen Momente" mit dem „Kern dessen, was wir unter Historismus verstehen," gesprochen. In der T a t konnten doch nur einzelne „Momente" in Übereinstimmung mit dem Historismus erscheinen, und Meinedce hat in demselben Aufsatz gleich zu A n f a n g die Forderung aufgestellt: „Aber der Historiker muß in den W i n d e n und Strömungen seiner Zeit, wie stark er auch ihre Macht und seine 1

Vgl. unten S. 186 A. und 193. Aus der Aufzeichnung zu Spranger, Der Stand der Geisteswissenschaften und die Schule, vgl. oben S. XVII. s Historische Zeitschrift, Bd. 149 (1934), S.305. Vgl. unten S.201. 2

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eigene Abhängigkeit von ihnen empfinden mag, seinen eigenen Kurs zu behaupten versuchen."1 Meinecke vollendete, sein großes Hauptwerk über den Historismus2, obwohl er wußte, wie er in der Vorbemerkung schrieb, „daß wir nur bei Wenigen und nicht bei den Vielen heute Gehör für ihn finden". Wirklich fand er momentan wenig „Gehör". Aber er ließ sich nicht beirren, und gerade in den Wirren und Krisen der Gegenwart mußte er um so lebhafter innewerden, daß die Horizontale des Geschichtsverlaufs, rätselhaft tragisch, wie sie für den Mitlebenden ist, eine Sinndeutung nur finden kann durch die vertikale Gedankenrichtung der unmittelbaren Gegenüberstellung mit dem Absoluten. So bleiben die Kulturleistungen der Geschichte auf jeden Fall Großtaten, auch wenn der horizontale Geschichtsverlauf gegenwärtig, wie es scheinen will, ihnen jeden Sinn geraubt hat. So steht am Ende auf die Frage nach den Irrwegen unserer Geschichte Meineckes Antwort von 1949, die den tragischen Gang der deutschen Geschichte nidit der früheren Vergangenheit zur Last legen will, soweit sie Großes geschaffen hat, sondern an jede Leistung die Frage richtet, ob sie „unmittelbar vor Gott" als Kulturleistung bestehen kann oder nicht3. Diese Antwort ist damals auf mancherlei Mißverständnis gestoßen 4 . Das liegt natürlich auch an der geistigen Höhenlage des Historismus, und es ist unzweifelhaft, daß die Tiefe und Feinheit von Meineckes Gedanken nicht jedermann ohne weiteres zugänglich ist, der zufällig einen vereinzelten Aufsatz von ihm liest. Aber vor allem zeigt sich darin, wie wenig der Historismus überhaupt im Bewußtsein der Allgemeinheit durchgedrungen ist, und dies ist überdies in den verschiedenen Nationen und Kulturen in verschiedenem Umfang geschehen. Das gilt besonders auch für Westeuropa und für Amerika, wo die naturrechtliche Denkweise bisher weitgehend vorherrschend geblieben ist. Das 1

Von der Krisis des Historismus, unten S. 196. Vgl. Bd. III der Meinecke-Gesamtausgabe mit der Einleitung von Carl Hinridis. 3 Irrwege in unserer Geschichte?, unten S. 210 f. 4 Vgl. die Leserbriefe und Gegenäußerungen in der Zeitschrift „Der Monat", Jg. 2 (1949/50) in den auf die Erstveröffentlichung von Meineckes Aufsatz folgenden Heften Nr. 15, 16 und 17. 2

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war ja die Erfahrung gewesen, die Meinecke und Troeltsdi im ersten Weltkrieg gemacht hatten, daß nämlich trotz des gemeinsamen europäischen Mutterbodens zwischen dem deutschen und dem westlichen Geschichtsdenken eine gefährliche Kluft entstanden war. Gewiß steckte darin viel aktuelle Agitation und Propaganda, aber der tiefere Urgrund der durch die momentanen Leidenschaften nur übersteigerten gegenseitigen Anklagen ließ sich nicht verkennen: es war der Unterschied der historistisdien von der naturrechtlichen Denkweise, der dahinter stand. Wie war es zu diesem Zwiespalt gekommen? Das war das Problem, das Meinedce nun wieder von einer ganz anderen Seite an dasselbe Thema heranführte, auf das ihn die Geschichte der Lehre von den Interessen der Staaten als Individualitäten gebracht hatte: die Entstehungsgeschichte des Historismus um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Die Aufgabe hatte also außer dem historischen Erkenntniswert die Bedeutung, durch die Aufhellung der großen geistigen Revolution im europäischen Denken zum gegenseitigen Verständnis beider Denkweisen beizutragen und damit einer Überbrüdcung der Kluft und einer Aussöhnung der Geister zu dienen. Das konnte natürlich nicht sogleich und vollständig gelingen, zumal die Zeitereignisse im Moment des Erscheinens des Historismus-Werkes 1936 die politischen Gegensätze verschärften und nun sogar Meineckes Historismus selbst dem Mißverständnis aussetzten, im Sinne einer opportunistischen Gewaltlehre verkannt zu werden1. Dabei hat Meinedce das Berechtigte des Naturrechtes als solchen stets anerkannt 2 , und die Zentralstellung Goethes in seinen Untersuchungen beruhte ja auch gerade mit darauf, daß er hier eine Synthese von normativem Klassizismus und individualisierendem Relativismus sah. Ihn wie Troeltsch hat die Frage nach dem „Gib mir, wo ich stehe" 3 keine Ruhe gelassen, und das „korrosive Gift des Relativismus" sowohl wie 1 Vgl. Charles A.Beard undA.Vagts, Currents of thought in historiography, in: American Historical Review, Bd. 42 (1937), S. 460 ff. — Meinedce hat diesen Angriff damals sehr sdiwer und schmerzlich empfunden. * Vgl. unten S. 266. 1 Geschichte und Gegenwart, unten S. 94, und: Ernst Troeltsdi und das Problem des Historismus, unten S. 369 f.

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die Gefahren eines „behenden grundsatzlosen Opportunismus" sind ihm nicht verborgen geblieben. Deshalb suchte er den Punkt zu bestimmen, an dem dap Gewissen zur sittlichen Entscheidung aufgerufen wird, und er konnte eine Identitätsphilosophie nicht billigen, die die Allgewalt des Staates und den hemmungslosen Opportunismus in politischen Fragen zur sittlidien Pflicht des Staatsmanns und des Staatsbürgers erklären wollte. Am seltsamsten aber dürfte der Aufsatz „Geschichte und Gegenwart" durch die Zeitereignisse berührt worden sein. Bereits 1930 als Vortrag gehalten, hatte ihn Meinecke unter dem Titel „Geschichte, Staat und Gegenwart" für das 1933 als Festgabe zu Heinrich Rickerts 70. Geburtstag bestimmte Heft der Zeitschrift „Logos" beigesteuert. An sich sehr sinnvoll und beziehungsreich als die Gratulation des nachdenkenden Historikers an den Philosophen, der so Grundlegendes über das Verhältnis von Geistes- und Naturwissenschaften gesagt hatte wie Rickert. Aber was Meinecke bei der Abfassung des Aufsatzes als „Staat der Gegenwart" behandelt hatte, hatte in der kritischen Wende zu Beginn des Jahres 1933 eine ganz andere Bedeutung bekommen 1 , und — doppelte Ironie des Schicksals! — derjenige Beitrag, auf den in der Festschrift seine Ausführungen folgten, war überschrieben „Der autoritäre Staat" und verfaßt von dem Staatsrechtslehrer Julius Binder 2 , der seinen Aufsatz in den lapidaren Sätzen ausklingen ließ; „Jedes politische System ist unhaltbar, das irgendwie den Individualismus zur Voraussetzung hat, und jede Konsequenz ist abzulehnen, die die Männer der Revolution und der nachrevolutionären Zeit aus ihm gezogen haben. Der Staat als die Einheit des allgemeinen und des besonderen Willens, der Staat der universalistischen Staatstheorie ist der Staat, der seinen Begriff realisiert, ist allein der wahre Staat. So mag die Philosophie der Politik zur Seite stehen, um diesem wahren Staat, dem Staate des Begriffes, zum Leben zu 1 Deshalb sind zur Verdeutlichung dieser Zusammenhänge unten beim Wiederabdrudc des Aufsatzes die Abweichungen der Fassung von 1933 von der Umarbeitung von 1939 für die Sammlung „Vom geschichtlichen Sinn und vom Sinn der Geschichte" mit aufgenommen worden. 2 Vgl. zur Charakterisierung Binders die Angaben von Walther Hofer in seiner Einleitung zu der Ausgabe der „Idee der Staatsräson" in der Meinecke-Gesamtausgabe, Bd. I, S. X X f.

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verhelfen." Auf der nädisten Seite begann Meinedce die „doppelpolige Einheit" von Geschichte, Staat und Gegenwart auseinanderzusetzen: Ein nachdenklicher Geist konnte da wohl von dem Sinn der Festschrift auf den Sinn der Geschichte reflektieren. So ist Meineckes Irrationalismus das Ergebnis eines vielfältigen folgerichtig zu Ende geführten Nachdenkens gewesen, das sich nirgends mit Sdieinlösungen und Halbwahrheiten abspeisen lassen wollte. Nur eine solche Haltung ist der Historie angemessen, aber eine so gewonnene Geschichtslehre widerstrebt natürlich der systematischen Darstellung und Zusammenfassung. Wir haben hier eine derartige „lebendig gewachsene Geschichtsphilosophie" vor uns, wie sie Meinecke im Gegensatz zu dem „Irrtum, von einer greifbaren Lehre, von einmaliger synthetischer Leistung das Heil zu erwarten", als das Richtige und Wahre gekennzeichnet hat, das allein befriedigen kann1. Indessen ist sie bei Meinecke eben dodi nicht „ungeschrieben" geblieben, und wir sind nicht allein darauf angewiesen, sie aus den großen historiographischen Einzelwerken herauszulesen, sondern haben sie zugleich in einer Fülle mehr oder weniger direkt auf sie zielender Aufzeichnungen und kleiner Abhandlungen. Da gibt es natürlidi mancherlei Wiederholungen, und andererseits ist nicht alles gleichmäßig behandelt worden. Nach Lebensalter, aktuellem Anlaß und spezieller Themawahl tritt bald der eine, bald der andere Aspekt der Problematik hervor. Im ganzen ergibt sich ein Gesamtbild, dessen Nuancierungen ohne weiteres einleuchten. Die vorstehenden Bemerkungen können und sollen nicht die Aufgabe haben, einen vollständigen Kommentar dazu zu geben. Sie sollen nur auf die Lektüre hinweisen und einige Angaben machen, die bei der Struktur einer solchen sich über ein ganzes Leben hin erstreckenden Selbstaussage vielleicht erwünscht sind. Für den eigentlichen philosophischen Kommentar sei ein für allemal auf das Werk von Waither Hofer: Geschichtschreibung und Weltanschauung, Betrachtungen zum Werk Friedrich Meineckes (München 1950) hingewiesen, das die bisher umfassendste Behandlung des Stoffes bietet2, dazu vor allem auf die anderen Bände der Gesamtausgabe. 1

So in der Niederschrift zu Spengler vgl. unten S. 184 f.

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Es bleibt nodi übrig, etwas über die Auswahl und Zusammenstellung des Bandes und die Editionsgrundsätze zu sagen. Mit den einleitenden Bemerkungen ist bereits der Umkreis abgestedct, dem die hier zu vereinigenden Aufsätze zu entnehmen waren. Sie gliedern sich demgemäß zwanglos in mehrere Gruppen. Die erste umfaßt die Direktaussagen zur Theorie und Philosophie der Geschichte, die das geschichtliche Denken in seiner Eigenart analysieren und auf den Sinn und Inhalt der Geschichte hinführen. Das sind die Abhandlungen, die jene für Meinecke wesentlichen Hauptprobleme des geschichtlichen Denkens unmittelbar zum Thema haben. Die beiden wichtigsten sind zweifellos die Aufsätze „Kausalitäten und Werte" und „Geschichte und Gegenwart". Den einen hat Meinecke selbst als seine „Historik" bezeichnet1, der andere gibt die reifste und in ihrer schlichten Einfachheit — fast ohne jeden philosophischen Fachausdruck — vielleicht ansprechendste Antwort auf die Frage nach dem „Nutzen" der Geschichte für die Gegenwart, die Meinecke zu geben hat. Die übrigen Essays, aus verschiedenen Anlässen entstanden, reihen sich an; sie behandeln die Probleme von Determinismus und Persönlichkeit, das Immediatverhältnis des Einzelnen zum Absoluten, den Entwicklungsbegriff und Möglichkeit und Aufgabe der Universalgeschichte. Es fällt auf, daß die Mehrzahl aus der Spätzeit Meinedces stammt. Aber das ist natürlich. Nur die Jugendarbeit über „Willensfreiheit und Geschichtswissenschaft", die hier natürlich nicht fehlen durfte, und der Vortrag von 1918 über „Persönlichkeit und geschichtliche Welt", zu dem Meinecke unter speziell pädagogischer Fragestellung aufgefordert worden war, stammen aus früherer Zeit. Das bedingt natürlich Unterschiede, die beachtet sein wollen, und so ergab sich ohne weiteres die chronologische Anordnung nach der Entstehungszeit. Als zweite Gruppe, für die sich die gleiche Reihenfolge zwangsläufig anbot, kamen die Abhandlungen in Frage, in denen 3

Seitdem zum Problem des Historismus noch Erich Rothacker, Die dogmatische Denkform in den Geisteswissenschaften und das Problem des Historismus, Abhandlungen d.AkacL d.Wiss. u. Lit in Mainz 1954, geistes- und sozialwiss. Kl. Nr. 6. 1 Vgl. Walther Hofer, Geschichtsschreibung und Weltanschauung a. a. O., S. 233.

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Meinecke auf Grund historischer Sidit sidi zur Gegenwartslage geäußert hat, sei es zur Geschichtswissenschaft speziell oder zur geistigen Situation im allgemeinen. Dazu gehören die Aufsätze und Reden von 1916 als erstes und auch heute noch denkwürdiges Zeugnis seiner Stellungnahme zum historischen „Augenblick" unter dem Druck besonders schwieriger Zeitumstände, ferner die Auseinandersetzung mit Spengler und mit der Krisis des Historismus, schließlich die „Irrwege" von 1949. Die dritte Gruppe besteht aus den kleinen Schriften zur Geschichte des Historismus, die das große Hauptwerk über die Entstehung des Historismus ergänzen und zum Teil fortführen. Denn das Hauptwerk reichte j a nur bis Goethe mit einem Nachtrag über Ranke. Das ließ manche Frage offen, die nun später zwar nicht mehr im größeren Zusammenhang, aber doch als Detailstudie noch in Angriff genommen werden konnte. Dazu kamen Aufzeichnungen, die Meinecke selbst nicht mit in das Hauptwerk hatte aufgehen lassen, die gewissermaßen als wilde Triebe und Ranken hatten abgeschnitten werden müssen, aber doch einen Eigenwert gerade als Selbstaussage besitzen. Meinecke hatte sie selbst noch als „Aphorismen" gesammelt veröffentlicht 1 . Sie zeichnen sich alle durch einen mehr oder weniger direkten allgemeinen Bezug, durch eine unmittelbare Konfrontierung des historischen Gegenstandes mit der Gegenwart oder gegenwärtigen Problemen aus und bieten schon deshalb mehr als eine nur stoffliche Ergänzung des Historismus-Werkes. Auch eine Rezension von zwei Schriften über Goethes Geschichtsauffassung aus der Zeit der Ausarbeitung des Buches hat eine gewisse selbständige Bedeutung und ist mit aufgenommen worden 2 . Das sind alles Arbeiten und Niederschriften aus den Jahren 1930 bis 1942 von einem durchweg einheitlichen Zug. Freilich reichen sie doch auch nicht sehr weit über den Endpunkt des Hauptwerkes hinaus. Die Fortsetzung des dort eingeschlagenen Weges sollte nach Meineckes Aussage 3 von Goethe über Niebuhr. 1 Sie werden deshalb auch in den vorliegenden Band geschlossen aufgenommen, obwohl die Zeitfolge ihrer Entstehung ganz anders sein kann. 2 Unter der Überschrift „Goethes Geschichtsauffassung und der Historismus" unten S. 279 ff. 3 Vgl. unten S. 344.

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Wilhelm von Humboldt , Schleiermadier, die Romantiker zu Ranke führen. Davon ist eine Studie über Schleiermadier abgeschlossen wurden, 2 in der sich Meinecke zugleich grundsätzlich zu der Kritik des italienischen Philosophen Benedetto Croce an seinem Irrationalismus geäußert und die Bewegung des deutschen Idealismus von Kant über Fichte und Sdielling zu Hegel als dem „eigentlichen Historismus" fremd hingestellt hat. Das muß uns als Ersatz für eine detaillierte Ausführung des Bildes der Entwicklung dienen. Aber schon von der Staatslehre her ist Meineckes Gegenposition gegen Hegel deutlich geworden, und Walther Hofer hat mit Recht von der „Idee der Staatsräson" als einem „Anti-Hegel" gesprochen3. Hier wird der tiefste Grund des Gegensatzes sichtbar: Für Meinecke gehört Hegel eben nicht zu dem „eigentlichen" oder echten Historismus. Die idealistische Entwicklungslinie zu Hegel bedeutete nur einen Nebenstrang in der Geschichte des Historismus, und zwar mit einem Rückfall in das systematische Denken. Darüber erheben sich freilich noch Fragen über Fragen, auf die uns Meinecke die Antwort nicht mehr hat geben können. Doch hat er immerhin, zumeist schon früher, aus bestimmtem Anlaß, den einen oder anderen Namen aus der Weiterentwicklung der Geschichtsauffassung und Geschichtschreibung berührt, und es mochte naheliegen, als weitere Gruppe Meineckes kleinere Studien zur Geschichte der Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts anzufügen. Aber das hätte den Umfang des Bandes gesprengt; der Stoff mußte auf zwei Bände verteilt werden, und so bleiben für einen weiteren Band der Gesamtausgabe, der den Titel „Zur Geschichte der Geschichtsschreibung" führen wird, alle Aufsätze und Abhandlungen reserviert, die sich mit 1

Uber Humboldt hatte sich Meinecke früher wesentlich nur im Hinblick auf seine Staatsanschauung geäußert. Sein Individualitätsgedanke kommt dann gewissermaßen als Gegenpol in Meineckes Untersuchung über Schillers Individualitätsgedanken zur Geltung. Über seine Gesdiichtslehre überhaupt hatte sich Meinecke, wie er mir 1949 schrieb, etwas „für den Hausgebrauch" aufgesetzt, aber nicht zu Ende geführt; dodi habe idi nichts dergleichen im Nachlaß entdecken können. 2 Zur Entstehungsgeschichte des Historismus und des Schleiermadierschen Individualitätsgedankens, unten S. 341 ff. 8 Vgl. Walther Hofer in der Einleitung zur „Idee der Staatsräson" Gesamtausgabe, Bd. I, S. X I X .

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einzelnen Historikern und der Gesdiiditsschreibung im engeren Sinne beschäftigen. Daß diese Scheidung ihre Schwierigkeiten hat, liegt auf der Hand, und so mußte hier audi wenigstens für Ranke eine Ausnahme gemacht werden, insofern als die „Aphorismen" geschlossen in den vorliegenden Band aufgenommen werden mußten und der Aufsatz „Deutung eines Rankewortes" so weit über den Ausgangspunkt hinaus zu einer grundsätzlichen Erörterung vorstieß, daß er ebenfalls hier und nicht in dem späteren Band seinen Platz gefunden hat. Sonst ist alles weitere über Ranke, Burckhardt, Droysen, Dove, Lamprecht usw., was an sich j a auch mehr oder weniger zu den allgemeinen Themen der „Theorie" und „Philosophie" der Geschichte in Beziehung steht und vielleicht mit Recht hier gesucht werden könnte, ausgeschieden worden. Dagegen wurden die Philosophen aus der Weiterentwicklung des Historismus, über die sich Meinecke noch geäußert hat, in den vorliegenden Band mit aufgenommen. So wurden den kleinen Schriften zur Entstehungsgeschichte des Historismus noch eine Besprechung von Diltheys Schleiermacher und seinem berühmten Briefwechsel mit dem Grafen Paul Yorde von Wartenburg und Meineckes Aufsätze über Emst Troeltsch angefügt. Dabei schien es sinnvoll, alle Äußerungen Meineckes über seinen geistvollen Freund und Mitstreiter im Kampf um den Historismus hier zusammenzufassen, also außer dem Aufsatz über das Problem des Historismus, der selbstverständlich hierher gehört, auch den kurzen Nachruf aus der Historischen Zeitschrift und die Einleitung zu der Ausgabe der „Spektator-Briefe", obwohl diese in das Gebiet der politischen Publizistik oder Essayistik hinübergreift. Aber wenn auf dem Wege des thematischen Zusammenhangs mit Ernst Troeltsch nun dieser kleine Beitrag an das Ende der vorliegenden Sammlung kommt, der eigentlich schon über die „Theorie und Philosophie der Geschichte" hinausweist, so findet damit doch im Grunde nur wieder die Dynamik des Historismus einen sinngemäßen Ausdruck, und Theorie und Philosophie der Geschichte im Sinne Meineckes und des Historismus münden in der Verwirklichung ihrer Ideale zuletzt nicht nur in die Geschichtsschreibung und Geschichtswissenschaft, sondern auch in die politische Aktivität aus. Für die Reihenfolge der Aufsätze innerhalb dieser Gruppe aber wurde sinngemäß nicht ihre

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Entstehungszeit, sondern die Chronologie ihrer Themen zugrunde gelegt Zur Form der Edition sei bemerkt, daß es nicht die Absicht sein konnte, in eine Art Meinecke-Philologie zu verfallen. Der Band soll das geschichtsphilosophisdie Werk Meineckes in der Zusammenfassung der zerstreuten Arbeiten einem möglichst breiten Publikum möglichst ohne technische Erschwerungen zugänglich machen. Deshalb wurden überall grundsätzlich die letzten Fassungen der Schriften zum Abdruck gebracht. Meinecke hat im allgemeinen sehr wenig geändert, wenn er seine Aufsätze wiederabgedruckt hat, meist nur geringfügige kleine Verbesserungen, bei denen die Notierung des älteren Wortlauts reine Pedanterie wäre. Im übrigen sollten die Arbeiten das Gepräge ihrer Entstehungszeit behalten. Der handschriftliche Nachlaß (jetzt im Berliner Hauptarchiv — abgekürzt zitiert: BHA), der auch für diesen Band der Gesamtausgabe in vollem Umfange zur Verfügung stand, gab im allgemeinen keinen Anlaß zu Zusätzen oder Bemerkungen. Nur ganz wenige Ausnahmen mußten gemacht werden, wo der handschriftliche Befund oder die früheren Drucke bemerkenswerte Abweichungen aufwiesen. Das ist vor allem bei der Jugendarbeit „Willensfreiheit und Geschichtswissenschaft" der Fall, die ja seinerzeit nur gekürzt veröffentlicht worden war. Bei dem Aufsatz „Geschichte und Gegenwart" haben die Unterschiede zwischen den beiden Fassungen entschieden biographisches und zeitgeschichtliches Interesse, und zu Spengler fanden sich Aufzeichnungen im Nachlaß, deren Abweichungen vom gedruckten Text des Aufsatzes über ihn einige mitteilenswerte Stellen enthielten. Ferner wurde aus dem Nachlaß noch ein Aphorismus über Rousseau aufgenommen. Sonst sind nur ein paar kleinere Zusätze in den Anmerkungen gemacht. Alle Zusätze sind in eckigen Klammern, dabei Wortlaut des Herausgebers kursiv gesetzt. Am Kopf jedes Aufsatzes sind unter der Überschrift in Petit die früheren Drudeorte vermerkt und, soweit noch notwendig, spezielle Erläuterungen gegeben. Rechtschreibung und Interpunktion sind unter Beibehaltung der Eigentümlichkeiten von Meineckes Schreibweise normalisiert worden.

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Allen, die bei der Ausgabe hilfreiche Hand leisteten, sei aufrichtig gedankt, in erster Linie Frau Geheimrat Meinedce, die aus ihrer Kenntnis des Nachlasses und der hier vereinigten Arbeiten Rat und Auskunft erteilte, sodann den Herausgebern der Gesamtausgabe, den Herren Professoren Herzfeld, Hinridis und Hofer, mit denen der Herausgeber während der Arbeit in enger Fühlung stand, überdies den Herren vom Berliner Hauptarchiv, Direktor Dr. Zimmermann und den Archivräten Dr. Branig und Dr. Sdiultze, und auch wieder dem Marburger Staatsarchiv für die willige Aufnahme der leihweise dorthin zur Benutzung entsandten Papiere. Schließlich sei mit besonderem Dank erwähnt, daß die Drucklegung des Bandes durch großzügige Unterstützungen von Seiten der Farfield-Foundation, New York, und des Bundesministeriums des Inneren, Bonn, ermöglicht worden ist. Wertvolle Hilfe bei Korrektur und Register leisteten Stud. Ref. Karl Lingelbach und stud. phil. Karl-Otto Schmitt.

ERSTE

GRUPPE

Hauptprobleme des geschichtlichen Denkens

Willensfreiheit

und

Geschichtswissenschaft

Voss. Ztg. 1887 Sonntagsbeil. Nr. 48 und 49 (zu Nr. 555 und 567) vom 27. Nov. und 4. Dez.; verkürzter Druds der philosophischen Staatsexamensarbeit Meineckes, abgefaßt 1886, vgl. seine Erinnerungen „Erlebtes 1862—1901" (1941), S. 132 f. Der handschriftliche Entwurf mit dem Titel „Vergleichung der Geschichts- und Naturwissenschaften hinsichtlich ihrer Methoden" im Nachlaß Meinecke BHA Rep. 92, Meinecke Nr. 232/6027—6037. Wir geben den Text des Zeitungsdruckes unter Einfügung der dort ausgelassenen Teile in spitzen Klammern und notieren einige weitere Abweidlungen des Manuskripts vom Drude, soweit sie von sachlichem Interesse sind, in Anmerkungen unter dem Text in eckigen Klammern. Die sonstigen sehr zahlreichen Abweichungen sind rein stilistische Verbesserungen, die uns indessen darauf aufmerksam machen, daß die im Druck fortgelassenen Partien des Manuskripts eine solche stilistische Durcharbeitung nicht erfahren haben. I.

{Als Charles Darwin auf seiner Weltumseglung die südwestlich der Sundastraße gelegenen Keelinginseln besuchte, unterzog er den Bau dieser kleinen Inselkörperchen einer genaueren Untersuchung. Er fand, daß sie aus Korallenbauten bestanden, die aus großer Tiefe emporstiegen. Er wußte, daß die Korallentierdien nur in wärmerem Seewasser, also nahe der Oberflädie leben können. Also, war zu schließen, mußten diejenigen Tierdien, welche den jetzt in kältere Tiefe hinabreichenden Unterbau der Riffe errichtet hatten, zur Zeit, als sie lebten und bauten, sich näher der Oberflädie befunden haben, d. h. — Land mußte sidi hier gesenkt haben. So fand Darwin das „Gesetz" für den Bau nicht nur dieser, sondern aller Koralleninseln und war nun imstande, in allen Fällen, in denen ihm die gleichen Wirkungen — aus großen Tiefen emporsteigende Korallenriffe — entgegentraten, mit untrüglicher Sicherheit, ohne nochmals die Sonde der Untersuchung anzusetzen, die gleichen Ursachen — Senkung von Land — anzugeben. l*

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Hauptprobleme des geschichtlichen Denkens

In noch günstigerer Lage befindet sich der Naturforscher, wenn er das Experiment zu Hilfe rufen kann. Der Chemiker braudit nur einmal das gegenseitige Verhältnis zweier Säuren beobachtet haben, um sofort wieder ein „Gesetz", eine bleibende Regel, wonadi gleichen Ursachen gleiche Wirkungen folgen, zu gewinnen.) Streng geschlossene Ketten von Ursachen und Wirkungen nachzuweisen, hat etwas Anziehendes. Es ist fast etwas von ästhetischem Wohlgefallen dabei. Und mehr! Da es möglich ist, auf Grund solcher Gesetze, wonadi den gleidien Ursachen gleiche Wirkungen folgen, das Verhalten der Dinge in der Außenwelt für alle Zukunft vorauszubestimmen, so kann man diese Dinge menschlichen Zwecken unterwerfen, für die sie sicherer, unfehlbarer und anspruchsloser arbeiten als irgendein menschliches Individuum. Man schenkt den Naturkräften ein blindes Vertrauen, das man seinen Mitmenschen nicht immer entgegenbringt. Warum nicht? Funktioniert das Leben des menschlichen Geistes unsteter, gesetzloser als das der Natur? Oder hat man nur nodi nicht die Formel gefunden, welche jenes ebenso untrüglich berechnet wie dieses? Und wenn man sie noch nicht gefunden hat, kann man hoffen, sie je zu finden? Die Frage verallgemeinert sich sehr bald. Von einzelnen Menschen wendet sich der Blick fragend zu dem ganzen Bereich des geistigen Lebens, zu der geschichtlichen Welt. Gibt es auch hier Gesetze, welche erlauben, das Kommende aus gegebenen Bedingungen zu beredinen? Ist auch hier die Herstellung eines lückenlosen Kausalzusammenhangs, wenn nidit schon geschehen, so doch prinzipiell möglich? Kurz, gelten die Methoden der Naturwissenschaften auch für die Erforschung des geschichtlichen Lebens? Aus den Bewegungen des Tages ist die Frage geschöpft. Noch wogt der Streit in scharfen Gegensätzen, die nichts mehr und nidits weniger sind als die Gegensätze zweier Weltanschauungen. Denn die tiefsten Fragen des menschlichen Lebens werden berührt durch die scheinbar harmlose und unverfängliche Kontroverse, ob der Historiker die Verfahrensweisen des Naturforschers anwenden kann. Soll es dem Geschichtsforscher möglich sein, feste, untrügliche Gesetze in der Vergangenheit der Menschheit aufzuweisen, so dürfen diese Gesetze keine anderen Störungen erleiden als etwa

Willensfreiheit und Geschichtswissenschaft

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durch andere bestimmbare Gesetze, {so muß spontanes Geschehen ausgeschlossen sein,) und es muß das strenge Kausalgesetz ausnahmslos auch für die Geschichte gelten. Damit scheinen wir sofort zum Kern unserer Frage, zum Problem der Willensfreiheit geführt. {Oder sollte vielleicht dodh nicht dies den Kern der Frage bilden? W ä r e es vielleicht zurückzuführen auf ein umfassenderes, und wäre es so vielleicht möglich, der dornigen Diskussion jenes uralten Problems aus dem Wege zu gehen? Es ist allerdings ein interessanter Versuch gemacht worden, das „vielumstrittene Problem, welches mit allen Vorurteilen traditioneller Abneigung oder Vorliebe verwachsen ist, durch ein neutraleres zu ersetzen" (Bernheim, Geschichtsforschung und Geschichtsphilosophie. Göttingen 1870, p. 126 ff.). Wie mir scheint, mit wenig Glück. Er will die Hoffnung, die Geschichte durch allgemeine Gesetze erklären zu wollen, „im tiefsten Grunde vernichten" durch den Nachweis, daß neben den mechanischen auch heteropathische Gesetze im Gebiete des Empfindens und Denkens ausgedehnte Geltung haben, d. h. „Gesetze, die überall stattfinden, wo die vereinte Wirkung verschiedener Ursachen nicht identisch der Summe der einzelnen Wirkungen ist, sondern etwas Neues, Versdiiedenartiges darstellt". Auf dieses Neue, Verschiedenartige, auf diese Spontaneität in der Rückwirkung käme es nun eben an. Seien also die Rückwirkungen der Seele spontan, nicht berechenbar als Summe der einzelnen auf sie einwirkenden Faktoren, so sei damit die Möglichkeit, allgemeine Gesetze aufzustellen, f ü r das Seelenleben genommen. Ist diese sogenannte Spontaneität der Rückwirkung wirklich ein Hindernis dagegen? Bernheim selbst reproduziert die Ausführungen John Stuart Mills, wonach bereits in der Chemie und Biologie solche heteropathische Gesetze wirksam sind. Und doch schmälert niemand dem Chemiker, dem Biologen darum das Recht, die Methode der Naturforschung, allgemeine Gesetze aufzusuchen, unbeschränkt zu üben. Oder haben sie es etwa bisher nur mißbräuchlich usurpiert? Und herrscht nun etwa in den Bereichen der chemischen, der organischen Vorgänge auch solch »spontanes" Geschehen?

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Hauptprobleme des geschichtlichen Denkens

W i r geraten sdieinbar in ein arges Dilemma, dessen Lösung aber nicht weitab liegt. Spontane, d. h . aus dem W e s e n der einwirkenden Ursadie allein nidit erklärliche Rüdewirkungen eines Elements sind j a gar kein Hindernis, um Gesetze aufzustellen. Bernheim geht von der augenscheinlich irrigen Voraussetzung aus, daß, wenn Gesetzmäßigkeit in der geschichtlichen W e l t vorh a n d e n sein solle, jedes Faktum lediglich als Produkt äußerer W i r k u n g e n ausgerechnet werden müßte — aber es ist j a evident, d a ß die Möglichkeit d e r Gesetzmäßigkeit dadurch nicht im mindesten aufgehoben wird, d a ß zu dem Faktum der Endresultate nicht n u r jene äußeren Ursachen, sondern auch die N a t u r des leidenden Objekts kommt. W e n n letzteres ebenso, wie es seinem W e s e n und seiner Beschaffenheit nach reagieren muß, auf die von a u ß e n herantretenden Ursachen reagiert und so den E n d erfolg mitbestimmt, so sind wir doch durchaus imstande, Gesetze dieser Rüdewirkung aufzustellen. U n d da die Naturwissenschaft dies in der T a t unangefochten tut, so wäre prinzipiell kein Bedenken vorhanden, f ü r die geschichtliche W e l t das Gleiche zu versuchen. Bernheim mußte etwas ganz anderes beweisen, w e n n er wirklich mit seiner Spontaneität der Rüdewirkung etwas erreichen wollte. E r mußte nachweisen, d a ß diese Rüdewirkung wirklich spontan ist im wahrsten Sinne des Wortes, d. h. d a ß das reagierende Element nicht n u r kraft seiner ihm eigentümlichen N a t u r , wie sie ihm v o n vornherein ohne sein Z u t u n anhaftet, reagiert 1 , sondern d a ß es in Freiheit wählen kann, wie es reagiere. Die Rüdewirkung dürfte also nicht bedingt sein durdi das vorgefundene Wesen des Elements, sondern es müßten hier eben ursächliche A n f ä n g e des Geschehens vorliegen. Es liegt auf der H a n d , d a ß wir damit einfach wieder zu dem Problem der Willensfreiheit zurückgeführt sind, dessen Diskussion n u n ein(} Bernheim p. 129 beruft sich zum Beweis dafür, daß heteropathisdie Gesetze sogar sdhon im Bereich der medianischen Erscheinungen [bestehen], auf Lotzes Ausführungen über die Mitteilung der Bewegung, in der niemals „völlige Gleichheit der Wirkung mit den bewirkenden Anstößen vorkomme, sondern jedes Element durch seine eigene Natur den Erfolg des erfahrenen Anstoßes mitbestimme". Diese Worte „durdi seine eigene Natur* hätten Bernheim allein sdion auf das Richtige führen können.)

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mal unvermeidlidi ist. Wirklich ist diese auch der Ausgangspunkt des Engländers Buckle gewesen.) W e r Gesetze und nur Gesetze in der Geschichte nachweisen will, muß es leugnen, daß der Wille frei sei. {Das ist denn auch der Ausgangspunkt des Engländers Buckle, der jenen Versuch unternahm 1 . Es kann nicht die Aufgabe dieser Blätter sein, die schwierige und dunkle Frage, die schon so viele Denker mit heißem Bemühen zu ergründen versucht, hier von neuem irgendwie erschöpfend vorzunehmen. Aber jeder Historiker, der es mit den Grundlagen und der Tragweite seiner Methode ernst nimmt, muß das Problem einmal durchdenken und sich mit ihm abfinden. Von dem Standpunkt eines solchen will ich versuchen, meine Meinung darzulegen. Daß ausnahmsloser Kausalzusammenhang — in unserem Denken wenigstens — die natürliche Welt beherrscht, leugnet niemand.) Zu bestreiten, daß die sittliche und geschichtliche Welt wenigstens zum Teil dem Kausalgesetz unterworfen ist, wäre sinnlos. Handlungen geschichtlicher Personen werden von herrschenden Ideen der Zeit, von überlieferten Anschauungen und Grundsätzen der Politik beeinflußt. ( W e n n Friedrich der Große in Schlesien einrückte, so führte er damit einen Gedanken aus, der ihm von seinen Vorgängern überkommen und früh in die Seele gepflanzt war.) Das Werk des Künstlers steht nie vereinzelt da, sondern ist in Stoff, Technik und Auffassung 2 in mannigfachster Weise mit der vorangehenden und gleichzeitigen Kunstübung verknüpft. Greifen wir in unser eigenes- Leben! ( ' Unbegreiflich ist, wie Ottokar Lorenz, Die Geschichtswissenschaft in Hauptriditungen und Aufgaben p. 189 behaupten kann: „Wenn er (Droysen) sidi gegen die Aufstellung objektiv gültiger historischer Gesetze im Sinne Buddes äußerte, so hatte er dabei übersehen, daß die trage des freien Willens von Buckle tatsächlich gar nicht berührt werden wollte.* Buckle, Geschichte der Civilisation in England übers, von Dr. J . Ritter I 10 ff., bekämpft nachdrücklich neben der Lehre von der Vorherbestimmung das Dogma vom freien Willen und sagt u. a. p. 14: .Indem wir also das metaphysische Dogma vom freien Willen und das theologische von der Vorherbestimmung der Begebnisse verwerfen, werden wir zu dem Schlüsse gedrängt, daß die Handlungen der Menschen nur von dem, was ihnen vorangeht, bestimmt werden.*) [* Behandlung.]

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Hauptprobleme des geschichtlichen Denkens

Viele unternehmen eine Reise nadi den Alpen, weil es Mode ist; sie folgen dem Zuge der Zeit, dem Beispiele anderer. All das sind einfache (und triviale) Wahrheiten. Die Schwierigkeit beginnt erst bei der Frage, ob neben dieser Summe von Bedingungen, die unser T u n beeinflussen, auch ein kleines, noch so kleines x persönlichster und wahrhaft spontaner Tätigkeit unser Handeln leitet. Gewiß, wenn dieses x bestände, so wäre es von „unermeßlicher Wucht", es umschlösse „den ganzen sittlichen Wert des Menschen, seinen ganzen und einzigen Wert". Droysen, dessen Polemik gegen Budde diese Worte enthält, hat dies eindrucksvoll an zwei Beispielen zu zeigen versucht. Bei der Sixtinischen Madonna sind die Technik, die Raffael von seinen Meistern gelernt hat, die Auffassung der Jungfrau Maria in der kirchlichen Überlieferung usw. äußere Bedingungen, welche Droysen ohne weiteres zugibt. „Aber daß auf diesen Anlaß, aus diesen materiellen und technischen Bedingungen usw. die Sixtina wurde, das ist in der Formel A = a + x das Verdienst des verschwindend kleinen x." Aber wie? W a r nicht Raffaels Vater Maler? Haben wir nicht soundso viele Beispiele dafür, daß Talente und Anlagen sich vererben? W a s wissen wir überhaupt von Vererbung? Meine physiologischen Kenntnisse sind zu gering, um mir ein Urteil zu erlauben. Die Frage der Vererbung soll dunkel, soll noch ungelöst sein. Aber muß nicht, solange sie noch nicht gelöst ist, immer die Möglichkeit in Rechnung gestellt werden, daß in der Vererbung der Kausalnexus f ü r so manche Erscheinungen liegt, deren Ursachen durch alle äußeren und bekannten Bedingungen nicht erschöpft werden? Und ähnliche Gedanken sind gegenüber dem zweiten Beispiele Droysens unabweisbar. Möge, meint er, immerhin die Statistik zeigen, daß unter tausend Frauen soundso viele regelmäßig unverheiratet gebären, — „jeder einzelne Fall der Art hat seine Geschichte und wie oft eine rührende und erschütternde, und von diesen 20, 30 Gefallenen wird schwerlich auch nur eine sich damit beruhigen, daß das statistische Gesetz ihren Fall erkläre." Gewiß nicht das statistische Gesetz allein, kann der Determinist, der Leugner der Willensfreiheit 1 einwenden. Gewiß hat jeder einzelne Fall auch noch seine Geschichte, und daß unter [* der Leugner der Willensfreiheit nodi nidit im Mi.]

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tausend Frauen gerade diese und nicht eine andere gefallen ist, kann auch immer noch seine besondere Veranlassung in Charakter, Gemütsanlagen, Umgebung der Einzelnen haben. Und diese Veranlassungen könnten vereint mit den Wirkungen der Ursachen, welche jenem statistischen Gesetze zugrunde liegen, eine gerade ausreichende Macht gewesen sein, welche die Unglücklichen ihrem Falle zutrieb. Jedenfalls sind jene Ergebnisse der Moralstatistik in hohem Grade geeignet, die Aufmerksamkeit zu erregen und nachdenklich zu machen. In regelmäßiger Wiederkehr jahraus, jahrein dieselbe, nur um verhältnismäßig geringe Differenzen schwankende Zahl von Verbrechen — wie reimt sich das mit der Freiheit des Willens? Falls wirklich jede Tat dem freien Willen des Handelnden entspringt, müßte man da nicht von vornherein erwarten, daß die Statistik ganz unregelmäßige, prinziplos schwankende Zahlen aufweisen würde? Es fehlt freilich nicht an allerlei Einwänden. Es 1 wird bemängelt, daß die Statistik nicht auch ein stetig wiederkehrendes Verhältnis der Anzahl der wirklich begangenen Verbrechen zu derjenigen der nicht ausgeführten, nur geplanten zu zeigen vermöge. Beispielsweise würden unter der Rubrik „Mord" Fälle von allerverschiedensten sittlichen Werten zusammengeredinet, „deren Anzahl ja gar keinen Maßstab für die Quantität des f 1 Von hier an im Ms. kürzer und anders gefaßt: „Solange die Möglichkeit der Freiheit erst geprüft werden soll", hat man gesagt (Lotze, Grundzüge der praktischen Philosophie. 1882 p. 20), „kann keine Art der Wiederkehr von Handlungen, weder eine regelmäßige noch eine unregelmäßige, für rätselhafter gehalten werden als irgendeine andere". Ich glaube, man kann hier ohne weiteres Behauptung gegen Behauptung setzen. Eine regelmäßige Wiederkehr von Handlungen ist von vornherein im höchsten Grade der Erklärung bedürftig, denn solche festen und unerbittlich wiederkehrenden Zahlen können auf keinen Fall das Werk eines blinden Ungefährs sein, sie müssen ihre zureichenden Gründe haben, und zwar Gründe, die nicht in dem Inneren der sich angeblich aus freiem Willen zu ihrer Tat entschließenden Personen gesucht werden dürfen, sondern die auf wirkende Ursachen zurückweisen, welche außerhalb des Rayons des sittlichen Lebens der Einzelnen liegen. In der Tat ist denn auch Lotze selbst gar nicht gemeint, die Wirksamkeit solcher von außen auf das Individuum einwirkenden Mächte zu leugnen ... und weiter ähnlich, wenn auch nicht gleichlautend mit dem gedruckten Text unten S. 10 Absati 5.]

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Bösen gibt, welches nach irgendeiner Richtung hin von einer bestimmten Gesellschaft in bestimmter Zeit erzeugt wird." (Lotze, Mikrokosmos2 III, 79.) Das sind ohne Frage zutreffende Bemerkungen; sie stellen Aufgaben für die Moralstatistik auf, deren Lösung dieser Wissenschaft als Ideal vorschweben müßte. Freilich als unerreichbares Ideal, denn es ist ihr nidit vergönnt, in die Herzenstiefen der Einzelnen zu blicken und das Quantum des Guten und Bösen in ihnen zu beredinen. In dieser Hinsicht werden die Waffen der Statistik stets stumpf und unvollkommen bleiben. Schmälert das die Bedeutung ihrer bisher gewonnenen Resultate? Der Beweis scheint j a evident geführt, daß uns in ihnen eine Quelle von ungenügenden und lückenhaften Informationen vorliegt. Sollen wir sie darum für abgetan erklären? Vielleicht ist noch eine andere Auffassung möglich. Trotz aller ihrer Mängel, trotzdem daß sie bei weitem nicht alle Beobachtungen anzustellen vermag, die sie anzustellen hätte, erzielt die Statistik doch bereits jene gleichbleibenden, nur innerhalb eines kleinen Spielraums schwankenden Ziffern. Obgleich sie die Morde nur mechanisch zusammenzuzählen vermag, findet sie dodi diese Stetigkeit in den Zahlen. Das legt den Gedanken nahe, daß die Statistik auch für jene Fälle, deren Prüfung ihr unzugänglich ist, die feste Gleichmäßigkeit nachweisen würde, wenn sie die Mittel dazu hätte, — daß auch vielleicht die kleinen Schwankungen in den Ziffern, die jetzt noch begegnen, sich erheblich verringerten, wenn die Statistik minder mechanisch und tiefer gehend in der Einschätzung der Einzelfälle anordnen und einteilen könnte. Diese konstanten Zahlen müssen durchaus ihren zureichenden Grund haben, und auch Lotze dachte gar nicht daran, die Wirksamkeit von Mächten, die bestimmend auf das Individuum einwirken, zu leugnen. Er räumt vielmehr dem Determinismus sehr viel ein, denn er glaubt, daß durch solche Faktoren auch jene regelmäßige Wiederkehr von Handlungen verursacht werde. Er urteilt also ganz wie Droysen: die Macht der bestimmenden Einflüsse wird anerkannt, aber ein x des freien Willens dabei reserviert. Wir müssen allerdings anerkennen, daß sich aus der Betrachtung der statistischen Beobachtungen allein kein zwingender Grund gegen das Vorhandensein eines solchen x ergeben

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kann. (Es steht demnach Möglichkeit gegen Möglichkeit.) Das eine aber ist dann sicher: Der Machtbereich dieses x wäre in nicht geringem 1 Grade eingeschränkt durch die Wirksamkeit aller jener Faktoren, die trotz dieses x so regelmäßig funktionieren und so gleichbleibende Ergebnisse liefern. (Zu 2 abschließenden Resultaten für oder wider sind wir also bisher nicht gelangt, aber die Prüfung der Argumente, die man auf beiden Seiten vorgebracht hat, ist j a auch bei weitem noch nicht erschöpft. Vielleicht, daß uns eine andere von Lotze geltend gemachte Betrachtung weiterführt. Unstreitig nimmt zugunsten der Ansicht von der Unfreiheit des Willens die Geschlossenheit des Systems, das sie ergibt, ein! Lückenlos breitet sich der Kausalzusammenhang aus, so weit und wie tief auch immer Sinn und Gedanken schweifen mögen. Bis in das Unendliche erstredet er sich, muß er sich erstrecken, falls er überhaupt gilt. Oder sollte man doch an den Grenzen der Unendlichkeit stehenbleiben können und behaupten dürfen, daß es hier ursachlose Anfänge des Geschehens geben könne, über die wir nicht hinwegblicken können? Lotze tut dies nun allerdings mit den Worten: „Man kann nicht sagen: Alles überhaupt muß eine Ursache haben; vielmehr das ursprüngliche Sein der Welt und die Richtung der Bewegung in ihr sind ursadilose Tatsachen." Die Erörterung des metaphysischen Problems, das hiermit berührt ist, würde uns zu weit abführen. Aber es drängen sich doch schon der oberflächlichen Erwägung schwerwiegende Bedenken gegen diesen Satz auf. Das ursprüngliche Sein der Welt und die Richtung der Bewegung in ihr sind ursachlose Tatsachen — das heißt doch mit anderen Worten: Wenn wir den Kausalzusammenhang des Werdens zurückverfolgen könnten durch alle seine Glieder, so kämen wir schließlich auf einen Punkt, wo dieser Zusammenhang jäh abreißt, zu einer Ursache, die eben keine U r sache mehr als Hintermann hat. Läßt sich das denken und erfassen? Darf man nicht mit demselben Rechte sagen: Wenn man den Raum verfolgt in ungemessene Fernen, so kommen wir [' Im Ms.: hohem verbessert aus: höchstem.] [* Das Folgende im Druck zu dem kurzen Satz zusammengezogen: Freilich hätten wir damit nur die Möglichkeit eines solchen x gewonnen.]

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Hauptprobleme des gesdiiditlidien Denkens

schließlidi bis an einen Punkt, über den hinaus wir nicht können, wo der Raum eben aufhört. Idi meine also, ebenso wie wir für Raum und Zeit Unendlichkeit anzunehmen durch unser Denken genötigt sind, so auch für die Kette des Kausalzusammenhangs. Fällt damit nun der Begriff der »ursachlosen Tatsachen" weg, dessen Aufstellung eigentlich nur ein Eingeständnis unserer Unmöglichkeit [sie] ist, den Kausalzusammenhang bis in das Unendliche zu verfolgen und das Unendliche überhaupt zu denken, so wird damit auch die geistvolle Anwendung des Begriffes, die Lotze zugunsten der Möglichkeit des freien Willens macht, hinfällig. Er fragt, warum dies ursachlose Vorhandensein einer Tatsache auf den übrigens doch niemals erreichbaren Anfang der Welt beschränkt sein und nicht innerhalb ihres Verlaufs an jedem Punkte möglich sein soll1. Der Begriff „ursachloses Vorhandensein einer Tatsache" müßte als für das Denken unfaßbar eliminiert werden. Gewiß, das philosophische Denken hat immer und immer wieder zur Lösung unlösbarer Rätsel seine Zuflucht zu einem „letzten Grunde aller Dinge", zu einem Unbedingten, das durch nichts bestimmt wird und das alle anderen Dinge bestimmt, genommen. Aber soll das Denken rücksichtslos konsequent vorgehen, so muß es sich sagen: Ich kann nicht fassen, wie eine Ursache ursachlos sein soll, es muß eine Ursache der Ursache geben und so in infinitum. Selbst wenn wir nun wirklich zugeben wollten, daß ein abschließendes Unbedingtes Hintergrund und Fundament alles Bedingten sei, daß es also überhaupt ein Unbedingtes geben könne, so wäre damit immer nur erst, wie auch Lotzes Worte nicht anders verstehen lassen, die Möglichkeit gegeben, daß auch innerhalb des Weltlebens unbedingte Anfänge des Geschehens neu auftreten können,) und es bedürfte erst noch anderer Tatsachen, um die Wahrscheinlichkeit desselben zu behaupten. Eine solche Tatsache scheint allerdings vorhanden zu sein: das sittliche Bewußtsein. Ich will nicht davon reden, daß unsere ganze Rechtspflege auf der Überzeugung von der Willensfreiheit des Einzelmenschen beruhe. Man könnte einwenden, das sei nur eine gewohnheits[* Gestrichen: Id> glaube, Lotze vergleicht hier Unvergleichbares.]

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mäßige Annahme, die äußerst praktisch und nützlich sei. Wenn die Gesellschaft:, der Staat den Willen als frei ansehe und auf diese Fiktion hin dem Verbrecher Strafe androhe, so werde diese Anordnung denjenigen, der sonst anderen Impulsen folgen würde, von dem Vergehen abschrecken. Wichtiger ist, daß in dem ursprünglichen, durch keine Reflexion des Verstandes getrübten Gefühle eines jeden das Bewußtsein der Verantwortlichkeit für die begangenen Taten lebt. Man braucht nur die Worte Gewissen und Reue auszusprechen, um zu zeigen, daß wir es hier nicht mit einer oberflächlichen Täuschung unserer Willensneigungen zu tun haben, sondern daß wir hier in den Tiefen unseres gesamten inneren 1 Lebens stehen. Ein rätselhaftes Gefühl. Ringsum von der Warte unseres beobachtenden Geistes Kausalzusammenhang, und nur hier oben in dem Selbstbewußtsein, in dem Sitze alles Wahrnehmens und alles Denkens die Negation des Gesetzes, unter dessen Bann alles andere steht. Die Meinung, daß wir für unsere Handlungen verantwortlich sind, ist keine auf Verstandesgrundsätze gestützte Oberzeugung, sie läßt sich nicht vortragen und logisch zwingend beibringen, sondern sie ist da 2 und hat Macht über uns, und wenn uns wirklich der Verstand einmal nach langem Grübeln und Sinnen dazu gebracht hat, das Leben der Seele für einen geschlossenen Mechanismus zu halten, so wirft eine Aufwallung dieses starken inneren Gefühls das Gebäude jener Schlüsse über den Haufen. Und wenn man wirklich wissenschaftliche Gründe für die Willensfreiheit ins Feld geführt hat, so wurde man ohne Frage dabei in erster Linie von der Absicht geleitet, jenen Anspruch des unmittelbaren Gefühls vor dem Forum des Verstandes zu rechtfertigen. Aber täuschen wir uns nicht! Ein solcher Versuch verschleiert nur den wahren Sachverhalt. Jener Anspruch des unmittelbaren Gefühls gehört nicht unter die Gerichtsbarkeit des Verstandes. Hier steht nicht die Partei vor dem Richter, sondern zwei Parteien stehen einander gegenüber, deren eine so gut ihr Lebensrecht zu behaupten versucht wie die andere. Gefühl und sittliches Bewußtsein gegenüber dem Kausalgesetz, auf dessen folge[» geistigen.] [ l Sie ist ein innerstes Erlebnis unserer Natur, das wir nicht zergliedern können, sondern das eben da ist...]

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Hauptprobleme des geschichtlichen Denkens

richtiger Durchführung der Verstand unerbittlich besteht — das sind die Gegner, die hier im Kampfe liegen. Der 1 Kampf wird dadurch so erbittert, daß es nicht Gegner sind, die von fremd her einander gegenübertreten, sondern ungleiche Söhne einer Mutter — im inneren geistigen Leben des Menschen wurzeln sie beide. Und indem der Verstand daran denkt, muß er auch sofort seiner Schwäche innewerden, muß er die Möglichkeit ins Auge fassen, daß die Grundsätze, mit deren Hilfe er den Inhalt der Erfahrung gliedert und ordnet, vielleicht nur für diesen allein Wert und Gültigkeit haben. Nie und nimmer wird es bewiesen werden können, daß das Kausalgesetz und die übrigen Grundsätze des Verstandes auch an sich und absolut gültig sind für die Welt der Dinge. (Alles Rütteln und Rühren an dem ehernen Satze Kants, daß für die Welt der Dinge an sich keine Erkenntnis möglich ist, wird ein törichtes und aussichtsloses Bemühen sein.) Ist das Kausalgesetz also nur eine Waffe von relativem Werte, so könnte das allein schon mißtrauisch machen gegen seine blinde und rücksichtslose Durchführung. Man wird sofort einwenden: wenn auch seine absolute Gültigkeit unbeweisbar sei, so sei es doch für den menschlichen Geist wenigstens allgemein gültig und notwendig. Und wenn sich seiner Anwendung innerhalb des Bereiches menschlichen Geisteslebens keine Schwierigkeit entgegenstellte, so wäre es das auch. Aber es ist ein quälendes und lähmendes Bewußtsein, das sich uns aufdrängt, wenn wir es auch da durchzuführen versuchen, wo uns der lebhafte Protest einer anderen Stimme unseres inneren Lebens entgegenschallt, die vielleicht (wer mag das ergründen?) ein ebenso wertvoller Zeuge, vielleicht gar ein noch wertvollerer ist als der reine Verstand. Es schleicht sich der Gedanke ein: Vielleicht haben wir in dieser einfachen schlichten Stimme unseres sittlichen Bewußtseins die reinste und edelste Quelle, die in unserem Inneren fließt und die weit über alles das gehen könnte, was das Erkenntnisvermögen emsig und mühevoll herbeischafft und aufbaut. Dieser Gedanke f1 Der Gedanke von den ungleichen Söhnen einer Mutter noch nicht im Ms., im übrigen aber ist dieser Absatz im Ms. viel ausführlicher gehalten, ohne sachlich mehr zu bringen. Es handelt sich bei der Kürzung zugleich um eine Verbesserung, ich füge nur den letzten charakteristischen Satz zur Ergänzung ein.]

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{mag vielleicht unphilosophisch sein, er) führt vielleicht zu bedenklichem Subjektivismus, zur Unterschätzung des Denkvermögens 1 , daß man versucht sein könnte, die Flinte ins Korn zu werfen angesichts der gegen seine Waffen gefeiten Macht des sittlichen Bewußtseins. Aber wegschaffen läßt sich die Möglichkeit jenes Gedankens nicht2, und es bleibt bei allen Konstruktionen und Argumentationen die marternde Angst, die den Rechner überfällt, daß seine kunstvoll ausgesponnenen Rechnungen vielleicht durch einen einzigen unrichtigen Ansatz entwertet sind. {Und wenn der Verstand so sich auf sich selbst besinnt und das prüft, was er zu leisten imstande ist, so muß er sich nicht nur eingestehen, daß er zu absoluter Erkenntnis nie gelangen kann und so fortgesetzt in der Möglichkeit zu fehlen sich befindet, er muß auch, wenn er Überschau hält auch nur über die ihm naheliegende beschränkte Sphäre, das Vorhandensein von Rätseln anerkennen, die er seiner Natur nach nie und nimmer zu lösen imstande ist. Ein solches Rätsel liegt allein schon in der Tatsache, daß ein Ding auf das andere Wirkungen auszuüben vermag. Mit allem Aufwand von Scharfsinn und Nachdenken können wir sie uns nicht erklären, und alle Versuche, etwa durch Annahme einer substantiellen Einheit aller Einzeldinge begreiflich zu machen, wie ein Zustand von einem Dinge zu einem anderen übergehen könne, beseitigen nidit die Schwierigkeit, sondern verlegen sie nur in eine andere Sphäre. Es ist bekannt, daß es speziell ein hierhergehöriges Problem ist, das der Auflösung durch verstandesmäßige Erkenntnis unüberwindliche Schwierigkeiten entgegenstellt: das Problem der Beziehungen zwischen Körper und Seele, das Problem, wie aus materiellen Voraussetzungen das Denken entstehen kann, „wie Materie denken könne". Es ist bemerkenswert, daß ein Naturforscher wie Du Bois-Reymond, den selbst die Entstehung des organischen Lebens und die Zweckmäßigkeit in den organischen Gebilden der Natur keine unübersteigbaren Schranken für die Durchführung [' Zu einer Verwilderung der Zucht des Gedankens.] [* Aber ich kann mir nidit helfen! Das Gefühl ist in mir lebendig und vermag sich nidit durch das beruhigen zu lassen, was der Verstand beredt und eindringlidi predigt.]

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Hauptprobleme des geschichtlichen Denkens

der medianischen Weltauffassung dünken, in feierlicher und nachdrücklicher Weise vor dieser Frage den unverrückbaren Grenzpfahl seiner Wissenschaft abgesteckt hat. Aber nicht nur in seiner Anwendung stößt das Kausalgesetz auf nie zu bewältigende Fragen, sondern in sich selbst birgt es „einen dunklen Kern einer nicht in sinnliche oder Verstandeselemente auflösbaren Tatsächlichkeit" (Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften I, 510). Es ist ein eigentümliches Ergebnis, das wir damit gewinnen. Gerade bei dem Obergange von der natürlichen zur psychischen Welt versagt das Kausalgesetz seine Dienste. Wir stehen mit unserem Erkennen machtlos der Tatsache gegenüber, daß geistige Vorgänge an körperliche geknüpft sind, ohne daß wir den Zusammenhang begreifen. Muß das nicht allein schon gegen das Unternehmen stutzig machen, das Kausalgesetz, dessen Anwendung auf die natürlichen Gebiete unbestrittenes Recht der Naturwissenschaften ist, ausnahmslos auch auf das geistige Leben auszudehnen? Und wenn nun aus dem Leben der Seele selbst, wie wir sahen, sich jene Opposition des sittlichen Bewußtseins dagegen erhebt, so drängt alles dazu, das Urteil zurückzuhalten und nicht vorschnell die Frage zu entscheiden. Würde nun ein weiteres vorsichtiges und behutsames Nachdenken nun doch zum Ziele führen und alle Schwierigkeiten ausnahmslos, die uns bei der Frage begegneten, befriedigend lösen — sowohl die Ansprüche des Erkenntnisvermögens wie des sittlichen Bewußtseins? Ich glaube nein. Um den Preis, daß wir jenes sittliche Bewußtsein einfach als subjektive Täuschung erklären, können wir nicht, wie Du Bois-Reymond (Über die Grenzen des Naturerkennens. Die sieben Welträtsel. 6. resp. 2. Aufl. 1889, p. 103) meint, eine zufriedenstellende Lösung erringen, denn [wenn] wir dann konsequent sein wollen, müssen wir auch zugeben, daß die Grundsätze des reinen Verstandes auf subjektiver Täuschung beruhen könnten. Der Begriff subjektive Täuschung muß hier ganz wegfallen. Was wir alle gemäß unserer menschlichen Natur empfinden und erleben, das hat für uns empfindende und erlebende Geister Realität, und wir brauchen uns nicht darum zu sorgen, ob und welche Geltung dem von uns Erlebten außerhalb unseres Geisteslebens zukommt.)

Willensfreiheit und Gesdiidbtswissensdiaft

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So wird es dabei bleiben müssen: Das Problem der Willensfreiheit, der Durchführung des Kausalgesetzes auf das seelische Leben ist für uns unlösbar, ist, wie Du Bois-Reymond sich ausdrückt, das „Dilemma, auf dessen Hörner gespießt unser Verstand gleich der Beute des Neuntöters schmachtet". Damit ist die prinzipielle Grundlegung der Gesdiichtswissensdiaften in eine peinliche Situation gebracht. Es fragte sich, ob es möglich wäre, die naturwissenschaftliche Methode auf das Gebiet der geschichtlichen Welt zu übertragen, und wir fanden, daß die Voraussetzung dafür die Leugnung der Willensfreiheit ist. Und indem wir dieses heiß umstrittene Problem zu erfassen suchten, sind wir zu dem Ergebnis gelangt, daß es für menschliche Erkenntnis nicht zu lösen ist. Daraus würde folgen, daß auch die Entscheidung der Frage, ob die naturwissenschaftliche Methode auch f ü r die Geschichte anwendbar sei, unmöglich ist, und während die Naturwissenschaft stolz und frei auf fester Grundlage baut, hätte die Geschichtswissenschaft nicht, wo sie ihr Haupt hinlegen sollte. Gleichviel ob sie versucht, den Kausalzusammenhang auf ihrem Gebiete durchzuführen, oder ob sie leugnet, daß ausschließlich Gesetzmäßigkeit ihre Sphären erfüllt, sie hätte gleicherweise ihr Haus auf Sand gebaut. (Vielleicht ist es in der Tat so?) Wir glauben aber einen beruhigenden Ausweg aus dieser beängstigenden Lage zu sehen. Das Dichten und Trachten des menschlichen Geistes geht in solchen Fällen darauf aus, im jeden Preis nach einer harmonischen Lösung zu suchen, und selten endigt ein Philosophem, das durch das dunkle Dickicht dieser Frage geführt hat, anders als mit dem sonnigen Ausblick auf eitel Zusammenklang und Versöhnung. Wenn irgendwo, so muß man in der Ausführung dieses Strebens die Möglichkeit subjektiver Täuschung in Rechnung stellen, und so mögen wir auch nur mit dem Gefühl ungewissen Zagens den Versuch einer Lösung vorlegen (,für die ich in Droysens Ausführungen über die Eigenart der historischen Methode fruchtbare Gedanken gefunden zu haben glaube 1 .) f 1 Im Ms. späterer Zusßtz mit Bleistift: Zu meiner Freude fand ich nadi Abschluß der Arbeit Übereinstimmung in wesentlichen Punkten mit Dilthey.] 2 MeineckeVerteBa.IV

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Hauptprobleme des geschichtlichen Denkens

II. Nehmen wir an, das Problem der Willensfreiheit sei gelöst, es sei nachgewiesen, daß der Zusammenhang von Ursache und Wirkung nicht nur das natürliche, sondern auch das geistige Leben ausnahmslos beherrsche; die Geschichtswissenschaft könnte, froh und erlöst von ihrer qualvollen Lage, an das Werk gehen, die Gesetze des historischen Lebens aufzusuchen — wie würde sich dieser Versuch in der Ausführung gestalten? W i r finden diese Ausführung in Buddes „Geschichte der Civilisation in England". Indem er von der Leugnung der Willensfreiheit ausging, unternahm er es, Gesetze in der geschichtlichen Welt zu finden, und siehe da, er fand sie. Aber was waren es für Gesetze? Der Fortschritt der Menschheit beruht auf dem Erfolg, mit dem die Gesetze der Erscheinungen erforscht werden. Bevor diese Forschung beginnen kann, muß sich ein Geist des Skeptizismus bilden. Die so gemachten Entdeckungen stärken den Einfluß intellektueller Wahrheiten; diese entwickeln sich stärker als die sittlichen Wahrheiten. Der Hauptfeind der Zivilisation ist der bevormundende Geist in Staat und Kirche. { D e r unerträglich süffisante Ton, den Buckle anschlägt in der Ableitung und Begründung dieser Sätze, war es kaum minder als die „vage Allgemeinheit" (Bernheim a. a. O. p. 65) der gefundenen Gesetze, welche die deutschen Historiker gegen das neue Evangelium Buckles von vornherein einnahmen. Aber noch mehr bewirkte das der tiefe Gegensatz, in dem Buckle durch die Methode, die ihn zur Auffindung dieser Gesetze führte, zu ihrer ganzen bisherigen Arbeitsweise trat.) Buckle meint, man müsse, um die großen sozialen Gesetze zu erkennen, möglichst große Zahlen oder lange Zeitperioden zusammenfassen, da bei der Verwendung kleinerer Zahlen Unregelmäßigkeiten und Störungen des umfassenderen Gesetzes durch sekundäre Einflüsse die Ergebnisse trüben könnten. Diese umfassenderen Gesetze sind für ihn die intellektuellen Gesetze; sekundäre Einflüsse, welche deren Tätigkeit im einzelnen vielfach hemmen, im ganzen aber doch nicht aufzuheben vermögen, sind ihm die „moralischen Gesinnungen der Einzelnen". („Die Summe der Handlungen der Menschen im allgemeinen richtet

Willensfreiheit und Geschichtswissenschaft

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sidi nach der Summe des Wissens, welches die Menschheit besitzt.") Hier liegt der springende Punkt der Buckleschen Theorie. Das Individuum mit seinen Neigungen und Leidenschaften tritt machtlos zurück in dieser Geschichtsbetrachtung. Das Plus, das es etwa über die Durchschnittsleistung der übrigen hervorbringt, wird schleunigst und geräuschlos wieder ausgeglichen durdi das Minus, das ein anderer leistet. Und die Geschichtsforscher, die sich mit dem Tun und Leiden der einzelnen beschäftigen, heben uns gerade das Unwichtige auf und vernachlässigen das Wichtige. Anekdoten von Königen und Höfen, endlose Berichte über das, was dieser und jener Minister gesagt und gedacht hat, Aufzählungen von Schlachten und Belagerungen sind nutzloser Ballast, denn sie bieten uns keine neuen Wahrheiten. Alexanders und Napoleons Taten „werden nach einiger Zeit ihrer Wirkung entledigt, und der Zustand der.Welt kehrt zu seiner früheren Gestalt zurück." Gerade in solchen Dingen aber lebt und webt unsere ganze neuere deutsche Geschichtsforschung; in rastloser Arbeit ist sie bemüht, das Leben und die Taten von Königen, Staatsmännern und Feldherrn aufzuhellen. Und nun kommt Buckle und behauptet: Wenn die Geschichtswissenschaft Gesetze auffinden will, muß sie all diesen Ballast des Individuellen in die Ecke werfen. Die Scholastik des Mittelalters hatte eine Unsumme von geistiger Kraft, Scharfsinn und Gelehrsamkeit an leere, unfruchtbare Aufgaben verschwendet. Entsetzlich, wenn unser Jahrhundert eine ähnliche Erscheinung zu verzeichnen hätte, wenn unsere ganze historische Arbeit, die nicht auf Buckleschen Prinzipien beruhte, nur Kram und Wust an das Licht gefördert hätte! Buckle war ausgegangen von der Leugnung der persönlichen Willensfreiheit. Sind seine letzten Sätze wirklich die unausweichliche Folge davon? Müßte der überzeugte Determinist notwendig auch die Bedeutung des Individuums in der Geschichte leugnen, müßte er mit Buckle die Wirksamkeit der ethischen Faktoren gering achten und alles Heil nur von der Mehrung unseres Wissens und von unserer Herrschaft über die Natur erwarten? Ich berufe mich auf einen bedeutenden Gelehrten, der sich als unumwundenen Anhänger des Determinismus bekannt hat, der 2*

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Hauptprobleme des geschichtlichen Denkens

sogar — wie ich meine, irrigerweise — geglaubt hat, mit Budde völlig eines Sinnes zu sein über das, worauf es in den historischen Wissenschaften ankommt, und der es doch nicht verschmäht hat, sich tief und mühevoll mit solchen Dingen zu beschäftigen, die für Buckle nur unwesentliches Nebenwerk, Störungen der allgemeinen Gesetze, individuelle Launen und Neigungen wären. Es ist Wilhelm Scherer. „Wir glauben mit Buckle", sagt er (Zur Geschichte der deutschen Sprache2 XII), „daß der Determinismus, das Dogma vom unfreien Willen . . . der Eckstein aller wahren Erfassung der Geschichte sei. Wir glauben mit Buckle, daß die Ziele der historischen Wissensdiaft mit denen der Naturwissenschaft insofern wesentlich verwandt seien, als wir die Erkenntnis der Geistesmächte suchen, um sie zu beherrschen, wie mit Hilfe der Naturwissenschaften die physischen Kräfte in menschlichen Dienst gezwungen werden." Die Erkenntnis der Geistesmächte suchen — dazu gehört aber audi die Erkenntnis der ethischen Mächte und der im Leben des Staates und in den Beziehungen der Völker untereinander wirksamen Faktoren; dazu gehört ein Studium derjenigen Individuen, die bestimmend eingewirkt haben auf ihre Zeitgenossen. In diesen und ähnlichen Studien ist Scherers Tätigkeit aufgegangen; sein ideales Lebensziel war ein „System der nationalen Ethik", ein Kapitel seiner Deutschen Literaturgeschichte trägt den Namen Friedrichs des Großen an der Spitze und geht den Einwirkungen dieses Individuums auf seine Zeit nadi; und einzudringen in die Tiefen eines Einzelwesens wie Goethe, sah Scherer für eine hohe und einer Lebensarbeit werte Aufgabe an. Er hat gezeigt, daß sich Determinismus und Anerkennung der Bedeutung des Individuellen in der Geschichte allerdings vereinigen lassen.