Wer und was bin ich?: Zur Phänomenologie des Selbst im Zen-Buddhismus 9783495860106, 9783495484357


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Inhalt
Vorwort
1 Leere und Fülle – Sunyata im Mahayana-Buddhismus. Zum Selbstgewahrnis des wahren Selbst
I
II
2 Die zen-buddhistische Erfahrung des Schönen
1. Teil Das Wahr-Schöne nach dem Zen
2. Teil Renku ›Anschluss-Gedicht‹
3 Das In-der-Doppelwelt-Wohnen – der Ort des Menschen nach dem Zen
1. Der Ort des Menschen
In-der-Welt-Sein
Die Be-grenztheit der Welt
Das In-der-Doppelwelt-Wohnen
Zusammenfassung
Die Doppelwelt im Alltagsleben
II. Das No-Theater
Die No-Bühne
Das Spiel auf der Bühne
Das No-Stück »Izutsu« von Zeami
Die erste Szene
Die zweite Szene
Schlussbetrachtung
4 Was ist Zen?
1. Die drei Aspekte des Zen
2. Zazen
3. Das wahre Selbst
4. Kojo und koge: Nach oben und nach unten
5. Das geschlossene Ich
6. San-zen und Mon-Do
5 Der Tod im Zen-Buddhismus. Eine Besinnung
6 Erfahrung und Sprache in Hinsicht auf die Problematik »Glaube und Mystik«
7 Schweigen und Sprechen im Zen-Buddhismus
1. Das wahre Selbst als Problem der Sprache
Die Sprache des Zen
8 Reales und A-Reales im Sprechen des Zen. Zu einem Gedicht eines Kindes
9 Meister Eckhart und Zen
1. Der Durchbruch
2. Gott-lassen und vita activa
3. Das Nichts der Gottheit und die unendliche Offenheit
10 Wer und was bin ich? Phänomenologie des Selbst in der Perspektive des Zen-Buddhismus
Zusammenfassende Wiederholung im Grundriss
I
II
Nachwort
Veröffentlichungen in deutscher Sprache
Monographie
Aufsätze
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Wer und was bin ich?: Zur Phänomenologie des Selbst im Zen-Buddhismus
 9783495860106, 9783495484357

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A

Welten der Philosophie 6

Shizuteru Ueda

Wer und was bin ich? Zur Phänomenologie des Selbst im Zen-Buddhismus

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495860106

.

B

WELTEN DER PHILOSOPHIE

A

https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

Dieser Band vereint die kleineren deutschen Texte des japanischen Philosophen Shizuteru Ueda. Die meisten sind in verschiedenen Zeitschriften und Sammelbänden erschienen und heute schwer zugänglich. Einige sind erst für dieses Buch verfasst worden. Das Themenspektrum reicht von Leere und Fülle, Erfahrung und Sprache über Tod und Selbst zu Schweigen und Gelassenheit, Freiheit, Wahrheit und Schönheit. In diesem Spannungsbogen entwickelt Ueda sein Verständnis des Zen aus der Perspektive des europäischen Denkens. Zugleich eröffnen sich Möglichkeiten der Vertiefung des europäischen Denkens durch die Erfahrung des Zen.

Der Autor: Shizuteru Ueda, geboren 1926 in Tokyo als Sohn eines Shingon-Priesters, Studium der Philosophie bei Keiji Nishitani an der Universität Kyoto, 1959–63 Studium bei Friedrich Heiler und Ernst Benz an der Universität Marburg, Dissertation über »Die Gottesgeburt in der Seele und der Durchbruch zur Gottheit: Die mystische Anthropologie Meister Eckharts und ihre Konfrontation mit der Mystik des Zen-Buddhismus«, 1964 Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der Universität Kyoto, 1977 Lehrstuhl für Philosophie und Religion an der Universität Kyoto. Als Repräsentant der dritten Generation der KyotoSchule führt er das Erbe Kitaro Nishidas weiter.

https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

Shizuteru Ueda Wer und was bin ich?

https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

Welten der Philosophie 6 Wissenschaftlicher Beirat: Claudia Bickmann, Rolf Elberfeld, Geert Hendrich, Heinz Kimmerle, Kai Kresse, Ram Adhar Mall, Hans-Georg Moeller, Ryôsuke Ohashi, Heiner Roetz, Ulrich Rudolph, Hans Rainer Sepp, Georg Stenger, Franz Martin Wimmer, Günter Wohlfahrt, Ichirô Yamaguchi

https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

Shizuteru Ueda

Wer und was bin ich? Zur Phänomenologie des Selbst im Zen-Buddhismus

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

2. Auflage 2016 © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48435-7 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86010-6

https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

Inhalt

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

1 Leere und Fülle – S´u¯nyata¯ im Maha¯ya¯na-Buddhismus Zum Selbstgewahrnis des wahren Selbst . . . . . . . . . .

11

. . . . . . .

38

3 Das In-der-Doppelwelt-Wohnen Der Ort des Menschen nach dem Zen . . . . . . . . . . .

72

4 Was ist Zen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

5 Tod im Zen-Buddhismus Eine Besinnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

121

6 Erfahrung und Sprache in Hinsicht auf die Problematik ›Glaube und Mystik‹ . . . . .

134

7 Schweigen und Sprechen im Zen-Buddhismus . . . . . . . .

145

8 Das Reale bzw. A-Reale im Sprechen des Zen Zu einem Gedicht eines Kindes . . . . . . . . . . . . . .

165

9 Meister Eckhart und Zen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

171

10 Wer und was bin ich? Phänomenologie des Selbst in der Perspektive des Zen-Buddhismus Zusammenfassende Wiederholung im Grundriss . . . . . .

193

Vorwort

2 Die zen-buddhistische Erfahrung des Schönen

Nachwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

Veröffentlichungen in deutscher Sprache . . . . . . . . . . . . .

219

7 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

Vorwort

Die Aufsätze dieses Buches haben im Grunde zwei Teile bzw. Perspektiven, erstens theoretische Grundlagen des jeweiligen Themas und zweitens Beispiele aus der fernöstlichen Kulturgeschichte. Bei den theoretischen Grundlagen kommt es darauf an, in Orientierung an der westeuropäischen Philosophie, manchmal an einer bestimmten Philosophie wie z. B. der Heideggers, diese zu modifizieren und zu bearbeiten, um dann ein Beispiel aus der klassisch-chinesischen bzw. japanischen Kulturgeschichte wie z. B. das No¯-Theater oder das sog. Renku ›Anschlussgedicht‹ darstellen und interpretieren zu können. Im zweiten Teil bzw. in der zweiten Perspektive kommt es umgekehrt darauf an, Beispiele aus der japanischen Kulturgeschichte in einem weiteren Horizont zu begreifen und ihre mögliche Bedeutung für die gegenwärtige Welt zu entwerfen. In der Erörterung herrscht also ein zweifaches ›Zwischen‹ – erstens thematisch zwischen West und Ost und zweitens in der Darstellung zwischen der deutschen und der japanischen Sprache. Obwohl ursprünglich japanische Begriffe und Formulierungen hier in Deutsch wiedergegeben sind, wurden nicht japanische Texte ins Deutsche übertragen. Vielmehr sind die deutschen Texte als solche von Anfang an in Deutsch verfasst worden. Um so tiefer ist die Kluft zwischen der Welt der darstellenden deutschen Sprache und der Welt der dargestellten Sachen, die als solche zu der Welt des Japanischen gehören. Die Aufsätze dieses Buches stellen Versuche dar, thematisch-inhaltliche Brücken zwischen West und Ost zu bauen und zwar zugleich zwischen der deutschen und japanischen Sprache je den Bedeutungshorizont irgendwie zu erweitern. Zu diesem zweifachen horizontalen ›Zwischen‹ kommt nun ein drittes anderer Art, nämlich das vertikale ›Zwischen‹ von Philosophie und Religion, da das Thema der einzelnen Kapitel gerade auf Philosophie und Religion übergreift. 9 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

Vorwort

Jeder Aufsatz unternahm also eine Erörterung an einem unsichtbaren Ort an der Kreuzung des Horizontalen mit dem Vertikalen. Das ging nicht glatt und nicht problemlos, worüber der Verfasser sich bewusst sein musste. Er war nicht immer sicher, ob ihm die Ausführungen wirklich gelangen. Er wäre deshalb den Lesern dankbar, wenn er ihr Interesse für das genannte dreifache ›Zwischen‹ als Ort des Denk-würdigen wecken könnte. Der Verfasser möchte in Zukunft weitere Grundprobleme in dem dreifachen ›Zwischen‹ erörtern wie z. B. ›Zeit und Geschichte‹ oder ›die Einzelnen, Gemeinschaft und Gesellschaft‹.

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1 Leere und Fülle – S´u¯nyata¯ im Maha¯ya¯na-Buddhismus Zum Selbstgewahrnis des wahren Selbst 1

Die Formulierung »Leere und Fülle« soll eine buddhistische Modifikation unseres Generalthemas »Einheit und Verschiedenheit« darstellen. Der Kategorie »Einheit« liegt der Begriff »eins« zu Grunde. Der Buddhismus überschreitet sozusagen diesen zur »Null« zurück. Das Wort »s´u¯nya«, das als buddhistischer Terminus die Leere besagt, bedeutet zugleich im mathematischen Bereich die Null. Diese ist zwar keine Größe, hat aber mehrfach entscheidende Funktionen in mathematischen Operationen. Entsprechend ist es mit dem Begriff der »Leere« im Existenzbereich. Andererseits wird die Kategorie der Verschiedenheit zu der der Fülle konkretisiert. Es geht nämlich nicht nur um die Verschiedenheit untereinander, sondern weiter um eine spezifische Vollkommenheit eines jeden Einzelnen und um die konkrete Fülle des Ganzen. Radikalisierung zur Null einerseits und Konkretisierung zur Fülle andererseits, diese beiden gehören hier also zusammen. Auf der Grundlage dieser Zusammengehörigkeit wird auch im Buddhismus die Problematik »Einheit und Verschiedenheit« in verschiedenen Hinsichten erörtert. Die genannte Zusammengehörigkeit der Null, der Leere oder auch – im philosophischen Terminus: des absoluten Nichts – einerseits und der Fülle andererseits, diese Grundzusammengehörigkeit ist nun im buddhistischen Denken ursprünglich und eigentlich eine existenziale Kategorie, – eine existenziale Kategorie, die zum Selbstinnewerden des Selbst gehört, das seinerseits sein Selbst nicht in sich selbst, sondern gerade in der betreffenden Zusammengehörigkeit hat. In der Geschichte des Buddhismus ist es der Zen-Buddhismus, der die inzwischen mehrfach spekulativ entfaltete Zusammengehörigkeit wieder in ihren ursprünglichen lebendigen Existenzbereich zurückgeführt hat. Ursprünglich »Leere und Fülle. S´u¯nyata¯ im Maha¯ya¯na-Buddhismus. Einheit und Verschiedenheit«, hrsg. A. Portmann u. R. Ritsema, in: Eranos 45 (1976) 1980, S. 135–163.

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Leere und Fülle – S´u¯nyata¯ im Maha¯ya¯na-Buddhismus

So möchte ich versuchen, das Thema »Leere und Fülle« zunächst im ursprünglichen existenzialen Zusammenhang auszuführen und zwar hauptsächlich anhand von Beispielen aus dem Zen-Buddhismus zu behandeln, wobei ich zur Erklärung sowohl die Maha¯ya¯na-Philosophie als auch die moderne japanische Philosophie heranziehe. Was ist unser Selbst? Wie ist es mit unserem Selbst? Zur Erhellung dieser Frage möchte ich mich der Anschaulichkeit halber auf einen kleinen altchinesischen Zen-Text, eine Art Bilderbuch, stützen, weil ich hoffe, auf diese Weise der Sache selbst angemessen näher zu kommen, ohne unvermittelt und unvorbereitet in eine Begrifflichkeit der abstrakten Ebene zu gleiten. Die Begrifflichkeit soll zwar zur Klarheit führen, führt aber manchmal in die Irre, wenn es an notwendigen Vorkenntnissen fehlt, insbesondere wenn es sich um eine Sache einer anderen kulturellen Welt handelt. Unser Thema gehört ursprünglich zum Selbstverständnis des ostasiatischen Menschen, dessen Begriffswelt sich in der altchinesischen und der japanischen Sprache ausdrückte, während es hier in der deutschen Sprache dargestellt wird. Die Kluft zwischen der darzustellenden ostasiatischen Sache und der darstellenden westlichen Sprache verlangt besondere Vorsicht sowohl vom Verfasser als auch von den Lesern. Unter diesen Umständen hilft uns vielleicht die Heranziehung einer Art Bilderbuch als eines grundlegenden Textes.

I 1) Der Text stammt aus dem 12. Jahrhundert und heißt in der deutschen Übersetzung »Der Ochs und sein Hirte«. 2 Von diesem Text wird noch heute in japanischen Zen-Kreisen viel Gebrauch gemacht. Er stellt den Vorgang der Selbstrealisierung des Menschen in zehn Stationen anschaulich dar. Der Text gibt zu jeder Station ein kurzes Vorwort, eine Tuschezeichnung in einem kreisförmigen Rahmen und eine bündige Erklärung in Gedichtform. Jede Zeichnung zeigt anschaulich eine Der Ochs und sein Hirte. Eine altchinesische Zen-Geschichte. Erläutert von Meister Daizohkutsu R. Ohtsu mit japanischen Bildern aus dem 15. Jahrhundert, übers. von K. Tsujimura und H. Buchner, Pfullingen 2. Aufl. 1958, 4. Aufl. 1981. D. T. Suzuki, The Ten Oxherding Pictures I & II, in: Manual of Zen Buddhism, New York 1960, S. 127–144.

2

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Leere und Fülle – S´u¯nyata¯ im Maha¯ya¯na-Buddhismus

bestimmte Weise und Dimension der Existenz auf dem Weg zum wahren Selbst. Im Titel »Der Ochs und sein Hirte« ist der Ochse ein vorläufiges Symbol für das gesuchte wahre Selbst, und der Hirte stellt den Menschen dar, der sich um das wahre Selbst bemüht. Hier sollte gleich darauf hingewiesen werden, dass die Gestalt des Ochsen trotz des Titels »Der Ochs und sein Hirte« bzw. »Ten Oxherding Pictures« nicht in allen zehn Zeichnungen erscheint, sondern nur in vier. Dieses Verhältnis ist für das zen-buddhistische Verständnis des Selbst entscheidend wichtig. Ich werde später darauf zurückkommen. Die Titel des ersten Teils lauten: 1. »Die Suche nach dem Ochsen«, 2. »Das Finden der Ochsenspur«, 3. »Das Finden des Ochsen«, 4. »Das Fangen des Ochsen«, 5. »Das Zähmen des Ochsen« und 6. »Die Heimkehr auf dem Rücken des Ochsen«. Auf diese Weise wird die Beziehung des Hirten zum Ochsen immer enger und intimer bis zur 7. Station, wo die Einswerdung erreicht wird und der Mensch sich nicht mehr den Ochsen als Vereinigungsobjekt vorstellt. Das Selbst, so wie es und so weit es in dem Ochsen symbolisiert wird, ist jetzt realisiert worden, wodurch der Ochse als Symbol für das Selbst aufgehoben wird. Der Titel der 7. Station heißt »Der Ochse ist vergessen, der Hirte bleibt.« In der Zeichnung dazu ist der Ochse verschwunden und allein der Mensch bleibt da, wie dieser »ruhig und gelassen zwischen Himmel und Erde sein eigener Herr ist«. Die Strecke von der 1. bis zur 7. Station in ihrer Steigerung von Stufe zu Stufe zeigt nacheinander Stadien der buddhistischen Lehren, Einübung in die Versenkung, anstrengende und angespannte Zucht, Einswerdung in Glückseligkeit usw. Mit der 7. Station ist aber noch nicht das wahre Selbst realisiert, wie es der Zen-Buddhismus versteht. Wir sind immer noch unterwegs auf dem Weg zum Selbst, um mit einem entscheidenden Sprung einen Durchbruch zur 8. Station zu erreichen. Jetzt kommt aber mit der 8. Station das Charakteristische des wahren Selbst in der zen-buddhistischen Auffassung ausdrücklich zum Vorschein. 2) Die 8. Station, »Vollkommene Vergessenheit des Hirten und des Ochsen« oder »Doppelte Vergessenheit«, ist durch eine merkwürdige Zeichnung dargestellt, nämlich durch einen »leeren Kreis«, der nichts enthält, weder Hirte noch Ochs, überhaupt nichts. Auf diese Leerheit, in der nichts gezeichnet ist, kommt es hier in diesem Zusammenhang an. Nichts gezeichnet, das bedeutet das absolute Nichts, das hier über die 7. Station hinausgehend zunächst die absolute Negation bedeutet. 13 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

Leere und Fülle – S´u¯nyata¯ im Maha¯ya¯na-Buddhismus

Das absolute Nichts besagt aber im Buddhismus nicht, dass es überhaupt nichts gäbe. Es soll vielmehr den Menschen vom substantialisierenden Denken und vom substantialisierenden Selbstergreifen befreien. Für den Buddhismus liegt dem substantialisierenden Denken die Selbstsubstantialisierung des Menschen zugrunde, die seine verborgene Wurzel im Ich als solchem hat, in der Ich-Verhaftetheit. Das Ich wird in der buddhistischen Lehre als Ich-Bewusstsein verstanden und die elementarste Weise des Ich-Bewusstseins lautet: »Ich bin ich«, und zwar in der Weise: »Ich bin ich, denn ich bin ich.« Dieses »ich bin ich«, das seinen Grund wieder im »ich bin ich« hat und derart in sich geschlossen und verschlossen ist, dieses Ich-bin-ich gilt mit seiner so genannten dreifachen Selbstvergiftung, nämlich Hass gegen Andere, Grundblindheit über sich selbst und Habgier, als Grundverkehrtheit und Unheilsgrund des Menschen. Demgegenüber würde das wahre, d. h. im buddhistischen Verständnis selbst-lose, Selbst von sich sagen: »Ich bin ich und zugleich bin ich nicht ich« (nach der Formulierung von K. Nishitani) oder: »Ich bin ich, weil ich nicht ich bin« (Suzuki). Alles kommt auf die vollkommene Auflösung des geschlossenen, verschlossenen Ich-bin-ich, auf die endgültige Loslösung von der Ich-Fessel an. Der Ich-Mensch soll endgültig sterben um des wahren, selbst-losen Selbst willen. Der Weg von der 1. zur 7. Station ist zugleich der Prozess der Loslösung vom Ich-bin-ich. Wenn der Mensch aber auf der 7. Station, wo er als er selbst da ist, d. h. wo er noch als er selbst da ist, in Selbstgenügsamkeit und Selbstsicherheit stehen bleibt, fällt er mit seinem Selbstbewusstsein »ich bin jetzt, was ich sein soll« wieder in das verborgene Ich-bin-ich zurück, eine sublimere Form des religiösen Egoismus sozusagen. Auch seine eigene Religion zu lassen, das ist hier das letzte religiöse Anliegen. Daher führt die 8. Station ein für allemal mit einem entschiedenen, entschlossenen Sprung ins absolute Nichts, in dem weder der suchende Hirte noch der gesuchte Ochs, weder Mensch noch Buddha, weder Dualität noch Einheit ist. Übrigens sei in diesem Zusammenhang auf Meister Eckharts Gedanken hingewiesen: Gott vergessen, Gott lassen; von der Vereinigung mit Gott weg zum Nichts der Gottheit, das gleichzeitig der Grund der Seele ist. Der Mensch soll also, um zum Durchbruch zum wahren Selbst zu gelangen, dessen unbedingter Selbst-losigkeit entsprechend, nun alle bis dahin erreichten religiösen Einsichten und Erfahrungen ganz lassen, seiner selbst wie auch des Buddhas ganz ledig werden und ein für allemal ins lautere Nichts ein-springen, d. h. »groß sterben«, wie es im 14 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

Leere und Fülle – S´u¯nyata¯ im Maha¯ya¯na-Buddhismus

Zen-Buddhismus heißt. Im Begleittext zur Zeichnung des leeren Kreises heißt es: »Alle weltlichen Begierden sind abgefallen. Zugleich hat sich auch der Sinn der Heiligkeit völlig entleert. Verweile nicht vergnügt am Ort, wo der Buddha wohnt. Geh rasch vorbei an dem Ort, in dem kein Buddha mehr wohnt.« »Mit einem Schlag bricht jäh der große Himmel in Trümmer. Heiliges, Weltliches spurlos entschwunden.« Das drückt diese 8. Zeichnung aus. Nun darf das buddhistische Nichts, ein alles Substanzdenken auflösendes Nichts, nicht als das Nichts festgehalten, nicht für eine Art Substanz, für Minus-Substanz sozusagen, d. h. für ein nihilum gehalten werden. Es geht um die entsubstantialisierende Bewegung des absoluten Nichts, um das Nichts des Nichts, oder in einem philosophischen Terminus um die Negation der Negation, und zwar um eine reine Bewegung des Nichts in zusammenhängender Doppelrichtung. Nämlich erstens als Negation der Negation im Sinne der weiteren Verneinung der Negation, ohne zur Bejahung umzukehren, weit ins unendlich offene Nichts und zweitens als Negation der Negation im Sinne der Umkehr zur Bejahung ohne jede Spur der Vermittlung. Das absolute Nichts bewährt sich als diese dynamische Zusammengehörigkeit der unendlichen Negation und der unmittelbaren schlichten Beja15 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

Leere und Fülle – S´u¯nyata¯ im Maha¯ya¯na-Buddhismus

hung. Auf diese Zusammengehörigkeit kommt es einzig an. Das absolute Nichts bewegt sich als das Nichts des Nichts. Das absolute Nichts, das von der 7. Station her als deren absolute Negation wirkt, ist als solches nichts anderes als diese dynamische Zusammengehörigkeit der Negation mit der Bejahung. So ereignet sich in diesem Nichts als dem Nichts des Nichts eine Grundwendung und eine völlige Umkehr wie im »stirb und werde« oder in »Tod und Auferstehung«. 3) Die Zeichnung der nächsten und 9. Station stellt einen blühenden Baum am Fluss dar, nichts anderes. Dazu heißt es im Begleittext: »Die Blumen blühen, wie sie von sich selbst blühen, der Fluss fließt, wie er von sich selbst fließt.« Es geht um den Menschen in seinem wahren Selbst. Warum hier plötzlich ein blühender Baum am Fluss? Es handelt sich hier, da wir uns auf dem Weg des Selbst befinden, nicht um eine äußere, gegenständliche bzw. uns umgebende Landschaft, aber auch nicht um eine metaphorische Landschaft als Ausdruck eines inneren Zustandes des Menschen oder um eine Projektion einer inneren Seelenlandschaft, sondern um eine völlig neue Realität als eine Ver-gegenwärtigung des selbst-losen Selbst. Es handelt sich um die Auferstehung aus dem Nichts, um die radikale Wendung von der absoluten Negation zum großen »ja«. Ja, das ist es! Da auf der 8. Station die Subjekt-Objekt-Spaltung in jeder Gestalt zum Vor-der-Spaltung im Nichts zurückgelassen wurde, so ist hier bei der Auferstehung aus dem Nichts ein blühender Baum am Fluss nichts anderes als das Selbst, und zwar nicht im Sinne substanzieller Identität der Natur und des Menschen, sondern in dem Sinne, dass ein blühender Baum, so wie er blüht, die Selbst-losigkeit des Menschen auf nichtgegenständliche Weise verkörpert. Das Blühen des Baumes, das Fließen des Wassers ist hier also, so wie es sich ereignet, zugleich ein Spielen der selbstlosen Freiheit des Selbst. Die Natur, wie die Blumen blühen, wie der Fluss fließt, ist der erste Auferstehungsleib des selbst-losen Selbst aus dem Nichts. Hier kann nicht von Naturmystik bzw. von Pantheismus die Rede sein. »Die Blumen blühen, wie sie blühen.« Daran ist nichts Mystisches. Hier ist vielmehr unmittelbar und einfach »ein blühender Baum am Fluss«, nichts anderes. Es ist das Einfache, dem nichts gegenübersteht, dem nichts sich hinzufügt. Dieses Einfache entfaltet sich, ohne die Einfachheit seiner Realität zu verlieren, wie schon gesehen: »Die Blumen blühen, wie sie von sich selbst blühen«, oder, um noch ein Beispiel für einen Zen-Spruch zu geben: »Ferne Berge, grenzenlos, 16 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

Leere und Fülle – S´u¯nyata¯ im Maha¯ya¯na-Buddhismus

grün über grün«. Wo ist aber der Ort, an dem sich das Einfache so entfaltet, wie es von sich selbst ist, ohne jedes angeblich höhere bzw. menschliche Zutun? Im Mu-Shin, wie es in einem klassischen sinojapanischen Terminus heißt, d. h. im Nichts des Herzens, oder ganz direkt übersetzt, im Nichts-Herzen, wobei das Herz, auf der 8. Station ins Nichts entworden und jetzt von dem Nichts auferstanden, nichts anderes als gerade diese blühenden Blumen ist. Blühende Blumen offenbaren sich, geben sich ganz, wie sie von sich selbst blühen, im Nichts des Herzens, nicht aber dem Ich-Menschen. Hier liegt aufgrund des Nichts eine eigentümliche Verbindung der Existentialität des Selbst mit der Objektivität des Seienden vor. Nach einer traditionellen Wendung wird die Existenz »zum Ding«. So lautet ein Zen-Spruch: »Unerschöpfliche Fülle des Nichts: Blumen blühen, der Mond scheint.« Dies ist das erste Modell für unser Thema »Leere und Fülle.« Das sino-japanische Äquivalent des Wortes »Natur«, »Shi-zen« oder »Ji-nen« nach der fachbuddhistischen Lesung, bedeutet eigentlich so viel wie: »So sein, wie es von sich selbst her ist.« Es bedeutet nicht die Natur als eine bestimmte Region des Seienden im Ganzen, sondern die Seinswahrheit alles Seienden. Wenn der Mensch in seinem Nichts, also nicht vom Ich her, z. B. Blumen so erfährt, wie sie von sich selbst 17 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

Leere und Fülle – S´u¯nyata¯ im Maha¯ya¯na-Buddhismus

her blühen oder, noch unmittelbarer ausgedrückt, wenn im Nichts des Menschen Blumen gegenwärtig so blühen, wie sie von sich selbst her blühen, so west er in eins damit in seiner eigenen Seinswahrheit. Die Natur in diesem Sinne der So-wie-von-sich-selbst-her-heit ist im Buddhismus ohne weiteres gleichbedeutend mit der Wahr-heit (Sanskrit »Tathata¯«, sino-japanisch »Shinnyo«, wörtlich übersetzt »Soheit«). Der zur Wahrheit Erwachte heißt »Tatha¯gata« (sino-jap. »Nyorai«), also derjenige, der kommt und geht in der So-heit, als welche die Natur »naturt«. Bei der Bewegung von der 8. zur 9. Station handelt es sich nicht mehr wie bei den vorausgegangenen Stationen um eine stufenweise Steigerung, sondern um eine Zusammengehörigkeit bzw. eine Hinund-her-Umwendung. Das Nichts in der 8. und das Einfache in der 9. Station gehören der Sache nach derart zusammen, dass sie – um in einem Gleichnis zu sprechen – die beiden Seiten eines Stücks Papier, eines Papiers bilden. Die beiden Seiten sind weder zwei noch eins. Es handelt sich um die zusammengehörige, ineinander-durchdrungene Doppelperspektive, nämlich: die Richtung von der 8. zur 9. Station »in eins mit« der entgegengesetzten Richtung von der 9. zur 8. Station, so dass es in einer umkehrbaren Doppelaussage heißt: »Blühende Blumen, das heißt das Nichts; das Nichts, das heißt blühende Blumen.« Die klassische Formulierung im Buddhismus lautet: »Das Formhafte ist das Leere, das Leere ist das Formhafte« (Sanskrit »Ru¯pam ˙ s´u¯nyata¯ s´u¯nyataiva ru¯pam«, sino-jap. »Shiki soku ze ku¯, ku¯ soku ze shiki«). Es geht demnach um das absolute Zusammenfallen des Nichts und des Formhaften, wobei aber die Betonung nicht in der Identität als solcher liegt – das wäre wieder eine irrige Substantialisierung – sondern in der zusammenhängenden Doppelperspektive, die ihrerseits mit »Tod und Auferstehung« im existentiellen Bereich zusammenhängt. Die eine Richtung, das Formhafte als das Nichts zu durchschauen, wird als die »Große Erkenntnis« bezeichnet, während die andere Richtung, in der das Nichts unmittelbar als das Formhafte konkretisiert wird, als die »Große Sympathie« bezeichnet wird. 4) In der 10. und letzten Station ist die zwischenmenschliche Begegnung ausdrückliches Thema. Hier wirkt und spielt das wahre Selbst, vom Nichts auferstanden, zwischen Mensch und Mensch als selbstlose Dynamik des »Zwischen«, wobei dieses »Zwischen« jetzt der eigene Spielraum, Spielinnenraum des Selbst ist. Das von dem absoluten 18 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

Leere und Fülle – S´u¯nyata¯ im Maha¯ya¯na-Buddhismus

Nichts aufgeschnittene, geöffnete Selbst entfaltet sich als das »Zwischen«. Die Zeichnung hier stellt dar, wie sich ein Greis und ein Junge auf der Weltstraße begegnen. Hier handelt es sich nicht um zwei verschiedene Menschen, die sich dann zufällig treffen: »Ein Greis und ein Junge«, das ist eine selbst-lose Selbstentfaltung des Greises selbst. Wie es einem Anderen geht, das ist jetzt das innere Anliegen des Selbst in seiner Selbst-losigkeit. Die Sache des Jungen, wie sie ist, ist die eigene Sache des Greises, der seinerseits für sich keine Sache hat. Die communio des gemeinsamen Lebens ist der zweite Auferstehungsleib des selbst-losen Selbst. Ich bin »Ich und Du«; »Ich und Du«, das bin ich. Es handelt sich um das Selbst als Doppelselbst auf Grund der Selbstlosigkeit. Das ist das zweite Modell für das Thema »Leere und Fülle.« Im Begleittext wird bemerkt: »Freundschaftlich kommt dieser Mensch – der Greis – aus einem fremden Geschlecht (das ist, aus dem absoluten Nichts). Er hat sein leuchtendes Wesen schon tief vergraben. Bald kommt er mit einem ausgehöhlten Kürbis, mit Wein gefüllt, zum Markt. Bald kehrt er mit seinem Stab in seine Hütte zurück. Wie es ihm gerade gefällt, besucht er Weinkneipen und Fischbuden, wo die anderen im Umgang mit ihm zu sich selbst erwachen.« Zur Begegnung mit anderen Menschen wohnt das wahre Selbst 19 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

Leere und Fülle – S´u¯nyata¯ im Maha¯ya¯na-Buddhismus

nicht im so genannten »Nirva¯na«, sondern auf der viel befahrenen und ˙ viel begangenen Weltstraße, ohne aber das absolute Nichts zu verlassen. Es handelt sich dabei wieder um die doppel-perspektivische Dynamik: auf der Weltstraße wie im Nichts, im Nichts wie auf der Weltstraße. Die unermüdliche ernste Bemühung um die anderen ist dabei gleichzeitig ein Spiel für sich selbst auf Grund des Nichts, ohne dass dabei durch den Spielcharakter jedoch die Bemühung und das Mitleiden Einbuße erlitten. Dies meint der Zen-Buddhismus mit der charakteristischen Doppelaussage, die nur logisch gesehen einen Widerspruch darstellt. Einerseits heißt es: »Die Lebewesen sind unermesslich. Wir geloben, sie alle zu retten.« Andererseits heißt es: »Es gibt kein Lebewesen, das wir retten sollen und gerettet haben, auch keine Rettung.« Oder: »Schade! Alle Welt wollte ich bisher retten. Erstaunen! Es gibt keine Welt mehr zu retten.« Das Selbstbewusstsein, die anderen gerettet zu haben, das allein würde die Rettung innerlich schon wieder verderben. Selber zum wahren Selbsterwachen zu gelangen, das bewährt sich darin, einen anderen erwachen zu lassen, und zwar so, dass dieser selber erwacht. Auf Grund des formlosen, weiselosen Nichts ist die Art und Weise der Begegnung hier wieder sehr charakteristisch. Wenn die Begegnung irgendwo unterwegs auf der Strecke zwischen der 1. und der 7. Station stattfindet, so wird über religiöse Themen gesprochen werden. Hier aber nicht. Der Greis predigt nicht, belehrt nicht, sondern stellt in der Begegnung wie auch beim Zusammensein einfach Fragen: »Woher bist du?«, »Was ist dein Name?«, »Wie geht es dir?«, »Hast du schon gegessen?«, »Siehst du diese Blumen?«, um einige Beispiele aus der Geschichte des Zen-Buddhismus zu nennen. Diese sind alle zunächst unauffällige, alltägliche Fragen. Ob der Andere aber in Wahrheit weiß, woher er überhaupt kommt? Ob der Andere Blumen wirklich so sieht, wie sie von sich selbst her blühen? Der Greis fragt und bei dem anderen wird die Frage nach sich selbst, nach dem wahren Selbst erweckt: »Wer bin ich eigentlich?« Der Andere fängt an, selber »nach dem Ochsen zu suchen«. So haben wir von neuem die 1. Station. Die 10. Station ist also nicht der Abschluss, sondern der Anfang der 1. Station für einen Anderen, für einen Jungen, dem der Greis in seinem offenen »Zwischen« begegnet und bei dem dadurch die Frage nach dem wahren Selbst erweckt wird. Es geht um die Überlieferung des Selbst, von Selbst zu Selbst.

20 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

Leere und Fülle – S´u¯nyata¯ im Maha¯ya¯na-Buddhismus

5) Sehen wir zurück: während es sich von der 1. bis zur 7. Station grundsätzlich um eine stufenweise Steigerung des Vorankommens auf dem Weg zum Selbst handelt, stellen die letzten drei Stationen keine Steigerungen mehr dar, sondern zeigen die dreifache Erscheinung, in der jeweils das-selbe sich verwandelnd, auf eigene Weise total gegenwärtig ist. Dieses Selbe, das selbst-lose Selbst, ist seinerseits nur insofern voll real, als es sich in dreifacher Verwandlung jeweils vollkommen anders realisieren kann: als das absolute Nichts, als das Einfache der Natur und als das Doppelselbst der Kommunikation. Die letzten drei Stationen bilden gleichsam die Drei-ein-heit des wahren Selbst. Das Selbst ist dabei nirgends »da«, sondern bewegt sich in Verwandlung, jeweils einem Anlass entsprechend und zugleich von sich aus, unbehindert einmal ins Nichts spurlos entwerdend, einmal z. B. bei Blumen als diese selbst-los blühend, einmal bei der Begegnung mit einem Anderen diese Begegnung selbst zu seinem eigenen Selbst machend. Im freien Wechsel der Aspekte der 8., 9. und 10. Station bezeugt sich die Nichtsubstantialität des Selbst. Nicht die bleibende Identität mit sich in sich selbst, sondern eine ek-statische Bewegung, mit der Ek-sistenz einen unsichtbaren Kreis von Nichts-Natur-Person zu zeichnen, diese Bewegung macht das wahre selbst-lose Selbst. Die Aspekte, die drei Aspekte, die aber jeweils unendlich variiert werden können, können zwar noch vergegenständlicht, versinnbildlicht werden, wie die drei Stationszeichnungen sie darstellen. Die Bewegung als solche aber, auf die es einzig im Grunde ankommt, ist nie gegenständlich-bildlich fixierbar. Sie kann auch nicht durch einen Kreis, einen da-bleibenden, statischen Kreis symbolisiert werden. Es geht um die Kreisbewegung, um die Bewegung, einen Kreis zeichnen zu können. Aber diese Bewegung als solche, einen Kreis zeichnen zu können, muss auch den gezeichneten Kreis auslöschen können, sonst würde die Bewegung von dem Gezeichneten gefesselt werden. Auf das selbst-lose Selbst als Bewegung der Ek-sistenz wird nur noch mit Hilfsbezeichnungen hingewiesen, z. B. mit »fu¯-kaku«, das man mit »Würde des Windes« übersetzen kann. Die Bewegung des selbst-losen Selbst »weht« sozusagen. Unter der »Würde des Windes« wird etwas anderes als Persönlichkeit verstanden, dafür steht das japanische Wort »jin-kaku«, d. h. Würde des Menschen. Diese hat jeder Mensch als Mensch. Die Würde des Menschen ist bei einem jeden Menschen ganz gleich und unantastbar. Dagegen ist die Würde des Windes ganz individuell, bei einem jeden anders und charakteristisch, je mit verschiedener Ge21 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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schwindigkeit und je nachdem, welcher Aspekt zum Vorschein kommt. Ein Mensch hat auch keine Würde des Windes, wenn er, gefesselt von dem Ich-bin-ich, die betreffende Bewegung nicht machen kann. »Wie weht es bei Euch?«, »Wie ist es mit dem Winde Eures Hauses?«, so fragt man oft in der Zen-Geschichte einen Meister nach dem »Wie« seines Selbst. Die 8., 9. und 10. Station stellen also nicht eine Steigerung in Stufen dar, sondern drei Aspekte des wahren selbst-losen Selbst. Doch hat die Reihenfolge der Stationen dabei eine praktische Bedeutung. Das schlechthin Entscheidende auf dem Zen-Weg zum Selbst ist das Nichts-Ereignis, das das Ich-bin-Ich endgültig, d. h. auch in seiner subtileren Form im religiösen Bereich, durchbricht. In diesem absoluten Nichts entschwindet alles Formhafte, das heißt zugleich: das formfreie Selbst zeigt sich zunächst als das Formlose schlechthin, die Formlosigkeit als solche. Das ist die 8. Station, dargestellt durch einen leeren Kreis. Nun kreist sich der Kreis, nun bewegt sich das Nichts als entsubstantialisierende Dynamik zum Nichts des Nichts. So aufersteht das Selbst von dem Nichts, und zwar jetzt zum selbstlosen Selbst. Weshalb aber erscheint in der nächsten, 9. Station »ein blühender Baum am Fluss« und nicht ein Mensch? Es handelt sich um die Auferstehung von dem Nichts zu dem selbst-losen Selbst. Die Selbstlosigkeit als Grundbedingung des wahren Selbst wird dabei, um der Selbst-losigkeit willen, zunächst in einer Realität, in der der Mensch nicht vorkommt, z. B. in dem blühenden Baum verkörpert. Das zeigt die 9. Station. Ein blühender Baum am Fluss, nichts anderes. Der Mensch kommt dabei nicht vor. Das ist des Menschen Selbst-losigkeit als solche. Erst dann, auf Grund der die Selbst-losigkeit bewährenden und bewahrenden Verkörperungsrealität als grundsätzliche Vorbeugung gegen einen Rückfall ins Ich-bin-Ich, kommt das selbst-lose Selbst nun zum Vorschein, das wegen der Selbst-losigkeit das »Zwischen« des Ich-Du zu seinem eigenen ek-sistenten Innenraum macht. Das besagt die 10. Station. Ein solcher beweglicher Zusammenhang der 8., 9. und 10. Station gibt uns das dritte Modell für unser Thema »Leere und Fülle«.

II In dem zweiten Teil sollen zum näheren Verständnis unseres Themas drei verschiedene Probleme aus dem oben erörterten Zusammenhang 22 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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einzeln aufgegriffen und in einer breiteren Perspektive behandelt werden. * 1) Das erste Problem bezieht sich auf die »s´u¯nyata¯« (»Leere« in der buddhistischen Bedeutung) bzw. das Nichts und das Eins-Sein. Der Buddhismus verneint grundsätzlich die Auffassung des Seins als solches mit der Kategorie »Substanz« als etwas Seiendes, das identisch mit sich selbst ist und seinen Seinsgrund in sich selbst hat. Der Buddhismus sieht in der Substantialisierung ein Werk der verborgenen Selbstsubstantialisierung des ich-verhafteten Menschen. Er kennt nur die Kategorie »Beziehung«. Dem buddhistischen Denken gemäß gibt es schlechthin nichts, was in sich selbst und durch sich selbst ist. Alles, was ist, ist erst in Beziehung zu anderen, und zwar in gegenseitig bedingender Beziehung. »Sein« heißt dann: »in sich selbst nichts sein und in einer Beziehung stehen«, wobei die grundsätzliche Geltung der Kategorie »Beziehung« charakteristisch ist. Denn was in einer Beziehung steht, ereignet sich erst aus der Beziehung und enteignet sich wieder in Beziehung. »Beziehung« ist ihrerseits auch kein bestehender Zustand, sondern ein dynamisches Geschehen des Zu-, Mit-, Für-, Durch-, Voneinander usw. In dieser Beziehungsdynamik ist ein Jedes in sich selbst ein Nichts und gerade dadurch für die universalen Beziehungen schrankenlos offen, die sich ihrerseits in dem Nichts eines Jeden in Einmaligkeit und Einzigartigkeit zentrieren. Das macht die Individualität eines Jeden aus. Ein Zen-Spruch sagt: »Es geht eine Blume auf und eine Welt entsteht.« Dieser zusammengehörige, dynamische Sachverhalt wird im buddhistischen Denken aus einer doppelten Perspektive betrachtet. Die Lehre der »s´u¯nyata¯«, gemäß der ein Jedes in seinem Eigensein leer ist, betrachtet den ganzen Sachverhalt in der Perspektive des »Nichts«, während die Lehre des »pratı¯tyasamutpa¯da«, des »Entstehens in gegenseitiger, allseitiger Abhängigkeit voneinander«, denselben Sachverhalt in der Perspektive der universalen Beziehungsdynamik betrachtet. Die Wahrheit aber liegt dabei in der untrennbaren Zusammengehörigkeit des Nichts mit der Beziehungsdynamik, wobei die Zusammengehörigkeit als solche des Seins und des Nichts ledig ist. Dieser Zusammengehörigkeit entsprechend bedient sich das buddhistische Denken vielfach einer eigentümlichen Formulierung: 23 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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Es ist, und zugleich (d. h. nichtsdestoweniger) ist es nicht. Es ist nicht, und zugleich (d. h. nichtsdestoweniger) ist es. In diesem doppelperspektivischen »nichtsdestoweniger« bzw. »und zugleich« von A und Nicht-A sieht der Buddhismus die Wahrheit des Seins wie auch des Nichts. Sein allein, das wäre eine Einseitigkeit. Nichts allein, das wäre eine andere Einseitigkeit. Der Einblick in dieses »und zugleich« von A und Nicht-A heißt die prajña¯-Erkenntnis, die absolute Weisheit jenseits von jeglichem Dualismus. Das »und zugleich« ist als solches weder A noch Nicht-A, durch keine bildliche, begriffliche und ideenhafte Fixierung zu bestimmen und deshalb von der modernen japanischen Philosophie manchmal als das absolute Nichts bezeichnet, dessen der Mensch nur in seinem »Nichts« auf nicht-gegenständliche Weise innewerden kann. Unsere Frage ist nun: Wie ist es mit dem Eins-Sein auf Grund der Zusammengehörigkeit des Nichts mit der Beziehungsdynamik? Das fünfundvierzigste Beispiel aus »Bi-yän-lu« 3 lautet: Ein Mönch fragte Dschau-dschou: Alle die Zehntausende von Dinglichkeiten gehen zurück auf Eines. Welches ist der Ort, auf den das Eins selbst zurückgeht? Dschau-dschou sagte: Als ich [noch] in Tjing-dschou lebte, machte ich mir [einmal] einen Leinenrock, der hatte ein Gewicht von sieben Pfund.

»Alles Seiende geht auf Eines zurück.« Daran aber schließt sich im Zen-Buddhismus die Frage: »Worauf geht das Eine zurück?« Dass alles Seiende mit seinen Unterschieden und Gegensätzen auf das ursprüngliche Eine zurückgehe, ist die Lehre von der »All-Einheit«. Dabei aber ist noch nicht geklärt, was unter dem »Einen« gemeint ist. Unter Umständen könnte das Eine eine ontologische Sackgasse für Vielheit bedeuten. Deshalb geht der Zen-Buddhismus weiter mit der Frage: »Worauf geht das Eine zurück?« Auch bei dem Einen ist nicht Halt zu machen. Denn an dem Einen festzuhalten, das würde bedeuten: in der Einheit gefangen bleiben. Auch diese muss durchbrochen werden, da Bi-Yän-Lu, Meister Yüan-wu’s Niederschrift von der Smaragdnen Felswand verfaßt auf dem Djia-schan bei Li in Hunan zwischen 1111 und 1115 im Druck erschienen in Sitschuan um 1300. Verdeutscht und erläutert von W. Gundert, Bd. I–III, München 1977, Bd. II (1967), S. 241 ff.

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sie nicht die Wahrheit sein kann. Insofern sie als Einheit im Unterschied zur Verschiedenheit und Gegensätzlichkeit verstanden wird, wird sie zum Einen substantialisiert, das als solches dann mit einem bestimmten Begriff oder in einer bestimmten Form aufgefasst werden muss. So verstanden wäre das Eine nicht mehr das Einigende, sondern umgekehrt eine Ursache der Spaltung und Gegensätzlichkeit, da es anderes, das dieser Form sich nicht einfügt, ausschließen muss, und das Ausgeschlossene seinerseits das Eine wiederum in einer anderen Form als Prinzip in Anspruch nimmt. Dann kommt es zum Kampf um das Grundprinzip, der zur tiefsten Spaltung führt. In solcher Grundgegensätzlichkeit muss der Idealismus den Materialismus, der Theismus den Atheismus oder Nihilismus herausfordern und umgekehrt. Wenn alles »in Wahrheit« eins ist, dann muss das wahre Eins-Sein der substantiellen Fixierung durch bestimmte Formen des Einen enthoben sein. Darauf zielt die Frage: »Worauf geht das Eine zurück?« Diese Frage führt zur Erkenntnis, dass das Eine zu Nichts werden muss, oder der Mensch das Eine verlassen muss, und zwar in zwei dynamisch zusammengehörenden Richtungen, nämlich: einmal zum Nichts hin und zum anderen zur Vielheit hin (oder zur Vielheit zurück). Die Wahrheit des Einen ist also: das Nichts »und zugleich« die Vielheit. Die vollständige Formulierung lautet »weder das Eine noch das Viele; das Eine und zugleich das Viele, das Viele und zugleich das Eine.« Wenn das Eine zu Nichts geworden ist, dann kehrt es jetzt wieder als Beziehung »das Eine und zugleich das Viele, das Viele und zugleich das Eine«. Dieser Beziehung – das ist immer wieder hervorzuheben – liegt das ungründige Nichts zugrunde, das nunmehr auf der Beziehungsebene seine Negation ausübt: »Weder das Eine noch das Viele.« Das Nichts löst das Viele zum Einen auf und zerlegt zugleich das Eine in das Viele, wobei das Nichts aus dem Vielen die Gegensätzlichkeit – nicht aber die Unterschiedenheit und aus dem Einen die geschlossene und verschlossene Festigkeit – nicht aber die Einheit – eliminiert. So hat die Beziehung »das Eine und zugleich das Viele, das Viele und zugleich das Eine« ihren Möglichkeitsgrund im Nichts, das seinerseits seine Realität in der genannten Beziehung bewährt. In einer solchen Beziehungsdynamik bedeutet die wahre Überwindung der Vielheit gerade die Rückkehr zur Vielheit als dem Prozess, der zugleich vom Einen weg zum Nichts hinführt. Ein Zen-Spruch lautet: »Beim Frühlingswinde, gleichmäßig und unsichtbar, sind lange Äste mit Blüten lang, kurze kurz, je von sich selbst.« »Langes lang, Kurzes kurz«, oder »das Rot rot, das Grün grün.« Hierin sieht der Buddhismus 25 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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die formfreie Einheit, die Einheit, die jedes Seiende und Geschehende in seiner Einzigartigkeit belässt und die derart eine bunte Seinssymphonie in der Offenheit des Nichts darstellt. Das ist gemeint, wenn es im Buddhismus heißt: »Unterschiedenheit, das bedeutet Einheit; Einheit, das bedeutet Unterschiedenheit.« In diesem Zusammenhang sollte am Rande auf zwei charakteristische Termini hingewiesen werden. Der Buddhismus spricht nämlich von »ichi-nyo« bzw. von »fu-ni«. »Ichi« bedeutet »eins«, und »nyo« besagt »wie«, »so, wie«, wobei in diesem »wie« der buddhistische Wahrheitsbegriff »So-heit« mitklingt. »Ichinyo« kann ungefähr mit »wie eins« übersetzt werden, »ichi-nyo« bedeutet also »(zwei bzw. viele sind) wie eins«. Zwei sind eins, wie sie zwei sind. Anders gesagt: Zwei sind »nicht zwei«, was der letztere Terminus »fu-ni« zum Ausdruck bringt. »Fu« bedeutet »nicht«, »ni« »zwei«. Also spricht der Buddhismus weniger direkt von der Einheit, als von der »Wie-eins-heit« bzw. »Nicht-zwei-heit«. Hören wir noch einmal das Beispiel: Ein Mönch fragte Dschau-dschou: Alle die Zehntausende von Dinglichkeiten gehen zurück auf Eines. Welches ist der Ort, auf den das Eine selbst zurückgeht? Dschau-dschou sagte: Als ich in Tjingdschou lebte, machte ich mir einmal einen Leinenrock, der hatte ein Gewicht von sieben Pfund.

Die Art und Weise der Erwiderung des Zen-Meisters ist vollkommen anders als die Art und Weise der oben versuchten Erörterung. Der ZenMeister weiß den Sachverhalt als solchen ganz konkret lebendig auszudrücken, statt über den Sachverhalt zu sprechen. * * 2) Das zweite Problem bezieht sich auf die nichtgegenständliche, ekstatische Erfahrung der Natur, wie in der Zusammengehörigkeit der 8. und der 9. Station der Ochsenbilder. In der Erklärung dort wurde gesagt: ein blühender Baum am Fluss ist dann nichts anderes als das selbst-lose Selbst. Dieser Sachverhalt, der sich in das Subjekt-ObjektSchema nicht einpassen lässt, soll nun von einer anderen Seite her erhellt werden, und zwar hauptsächlich in Anschluss an die Philosophie der »reinen Erfahrung« bei Kitaro¯ Nishida (1870–1945), einem Vertreter der modernen Philosophie in Japan. 26 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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»In dem Augenblick des Sehens, des Hörens, noch ohne Reflexion wie z. B. ›ich sehe Blumen‹, auch noch ohne Urteil wie z. B. ›diese Blumen sind rot‹, in dem Augenblick dieses gegenwärtigen Sehens, des Hörens, da ist weder Subjekt noch Objekt. Diese ›unmittelbar erfahrende‹ Erfahrung, diese vom reflektierenden und urteilenden Denken noch nicht bearbeitete ›reine‹ Erfahrung ist der Seinsgrund der allerwirklichsten Wirklichkeit wie auch des wahren Selbst, da die Ununterschiedenheit noch vor der Subjekt-Objekt-Spaltung als ursprüngliche Ganzheitsfülle gegenwärtig ist.« Hier zeigt sich eine direkte Verbindung des Empirischen und des Metaphysischen und auch des Existenziellen auf eigene Art. Wenn Nishida vom Sehen, vom Hören spricht, so steht er mitten im Bereich der Erfahrung. Indem er aber der Erfahrung als solcher viel näher kommt als der Empirismus, der der Erfahrung von Anfang an verschiedene Denkkonstruktionen wie z. B. eine Voraussetzung von Empfindungsatomen als Grundlage der Erfahrung oder Verifizierbarkeit in Experimenten unterschiebt, so führt die Erfahrung bei Nishida direkt zum Metaphysischen. Auf diese Weise ist für Nishida das Metaphysische nicht jenseits der Erfahrung, wie dies in der Metaphysik meistens der Fall ist, sondern gerade in der entgegengesetzten Richtung, d. h. diesseits der erfahrenen Erfahrung inmitten der erfahrenden Erfahrung schlechthin. »In dem Augenblick des Sehens, des Hörens, da ist es weder Subjekt noch Objekt«, als solches unbestimmbar, geöffnet für die unendliche Offenheit und erfüllt. In diesem Sinne ist es das »Nichts«, zugleich aber die reine Präsenz schlechthin »ohne Sehendes und Gesehenes«. Diesen »Augenblick« kennen wir aber gewöhnlich nicht. Bei unserem Sehen und Hören überspringen wir schon den »Vor-der-Spaltung-Augenblick«. Wir vergessen den »Augenblick«, und aus einer locker gedehnten Zeit heraus sagen wir etwa: »Ich sehe Blumen«, als ob das Ich noch vor dem Sehen schon als Ich in sich bestände, wobei wir auch wie selbstverständlich denken, dieses »Ich sehe Blumen« wäre eine unmittelbare fundamentale Erfahrung. Für Nishida ist dies bereits eine Rekonstruktion des Erfahrenen im Subjekt-Objekt-Rahmen, also nicht mehr Gegenwart, sondern Vergangenheit, keine erfahrende Erfahrung mehr, sondern schon eine erfahrene Erfahrung, welche sich aus Reflexion als Ich und Re-präsenz der Blume als gesehener Blume re-konstruiert. Es ist aber nicht so, dass Nishida überhaupt Reflexion und Re-präsenz verneinen wollte. Was er verneinen wollte, war die als 27 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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selbstverständlich an den Anfang gesetzte Zweiheit verschiedener Formen wie Geist und Natur, Bewusstsein und Ding, ganz formal gesagt, Subjekt und Objekt. Es geht Nishida darum, wo die Unmittelbarkeit der Erfahrung anzusetzen ist, um jene ursprüngliche Unmittelbarkeit nämlich, die der Realitätsgrund ist und die für die Einheit der Erfahrung letzte Gewähr bietet. Diese Unmittelbarkeit verlagert er ins Vor-der-Spaltung zurück, und zwar zurückgeleitet durch die erfahrende Erfahrung selber. Das Vor-der-Spaltung können wir nicht durch Reflexion, nicht gegenständlich erfassen, sondern seiner nur unmittelbar auf nichtgegenständliche Weise ich-los innewerden. Aber wie geht das vor sich? Da wir gewöhnlich bei der erfahrenen Erfahrung sind, die sich ausspricht im »ich sehe Blumen«, d. h. da die ursprüngliche Unmittelbarkeit des Vor-der-Spaltung schon übersprungen und vergessen ist, so müssen wir, um ursprünglich zu sein, den Ursprung durch einen »Sprung zurück« erst nachholen, wie dieser als Radikalisierung vom »Schritt zurück« bei Heidegger gelten würde. Und zwar so, dass das Nachholen selber in die Unmittelbarkeit aufgehoben wird. Wie vollzieht sich aber ein solcher Rücksprung? Nicht durch unsere eigene willentliche bzw. reflexive Tätigkeit. Wir können nicht beliebig aus dem Subjekt-Objekt-Rahmen zurücktreten. So heißt es bei Nishida: »Im Augenblick des Sehens, des Hörens, da ist weder Subjekt noch Objekt.« Von dem »Augenblick« der Präsenz getroffen, aus der Fesselung im Subjekt-Objekt Rahmen herausgerissen, und auf diese Weise zugleich ich-los, werden wir sprunghaft zum Nichts des »vor« zurückgebracht. Die Bereitschaft von dem »Augenblick« getroffen zu werden, benötigt als unerlässliche Vorbedingung unsererseits die Übung, sich selber in den »Augenblick« des Sehens, des Hörens ich-los zu sammeln, obwohl wir derart getroffen werden müssen, dass die Übung selber spurlos in die Präsenz eingeht. Darin, dass das geschlossene Ich-bin-ich in dem, und durch den »Augenblick« durchbrochen wird, sieht Nishida das Empirisch-Metaphysische und das Existenzielle als die Einheit, die das Selbst auf dem ursprünglichen Grund des Vor-der-Spaltung realisiert. Nishida sieht also in dem Vor-der-Spaltung des gegenwärtigen Sehens oder Hörens das ursprüngliche Ineinandergreifen des Empirischen, des Metaphysischen und des Existenziellen, während diese drei meistens auseinander und gegeneinander auftreten, und dieses Aus- und Gegeneinander dem menschlichen Dasein ein verhängnisvolles Problem bereitet. Auf diese Weise werden wir also in dem »Augenblick« des Sehens, 28 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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des Hörens, von dem »Augenblick« getroffen und durchbrochen, zum Nichts des »vor« sprunghaft zurückgebracht und holen den Ursprung nach, der übersprungen und vergessen wurde. Aber nicht so, dass wir im Nichts entschwunden bleiben, nicht so, dass das »vor« alleine die ganze Wahrheit ist. Nishida sagt: »Vor der Spaltung«. Damit hat auch bei ihm die Spaltung eine Geltung. Aber Spaltung wovon? Das ist für ihn entscheidend frag-würdig. Es kommt ihm darauf an, von wo her und als was diese Spaltung erfahren wird. Hier liegt bei Nishida im Grunde eine Art Kreisbewegung vor. Zurück zum Nichts des »vor« und von daher das Subjekt-Objekt als Ur-Selbst-Teilung des »vor« zu erfahren, dessen Erfahrung nun die Selbstentfaltung der reinen Erfahrung bedeutet. Das Subjekt-Objekt-Feld ist jetzt der eigentliche Spielraum des Selbst, das, ins Nichts entworden, aus dem Nichts wird. Das Selbst sieht nunmehr alles »wie auf der eigenen inneren Handfläche« oder »wie sein eigenes Gesicht«, wie es im Zen-Buddhismus heißt. Nishida spricht jetzt von der Subjektseite bzw. Objektseite als einer und derselben entfalteten Erfahrung. Es handelt sich um eine Doppelperspektive, nicht um eine Zweiheit von Subjekt und Objekt. Diese Entfaltung der Erfahrung gehört für Nishida zu der reinen Erfahrung. Es bleibt zu fragen, ob die reine Erfahrung, wie sie von Nishida vertreten wurde, eine wirkliche Erfahrung ist? Ereignet sie sich wirklich bei jedem von uns? Als ein Beispiel, an dem »die reine Erfahrung« illustriert werden kann, wollen wir hier den bekannten Grabspruch Rainer Maria Rilkes heranziehen, ohne eine Interpretation des Gedichtes zu versuchen. Er lautet: Rose, oh reiner Widerspruch, Lust, Niemandes Schlaf zu sein unter soviel Lidern. In unserem Zusammenhang wollen wir uns dem »oh« zuwenden und fragen: Was ist eigentlich dieses »oh«? Diese fragende Hinwendung an das »oh« mag im Sinne einer deutschen Poetik nicht das am nächsten Liegende sein. Das Gedicht erfährt dadurch vielleicht eine gewisse Umdrehung, der zufolge nun ein unauffälliges »oh« zu einem großen »Oh!« wird, und dadurch das Gedicht als ein ursprüngliches Wortgeschehen wieder vernehmbar wird. »Rose, Oh! Reiner Widerspruch…« Was ist nun dieses »Oh!»? Als geschriebenes Wort ist es, grammatikalisch, eine Interjektion. Aber welches Ereignis ist eigent29 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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lich das »Oh!« im gegenwärtigen Ausrufen? Was geschieht, wenn »Oh!« in Wirklichkeit und Wahrheit ausgerufen wird? Man könnte kurz von »Oh-Ereignis« sprechen. Wenn wir dieses Gedicht nicht als fertig geschrieben oder gedruckt, sondern als ein Wortgeschehen in der gegenwärtigen Tat des Dichtens hören, so können wir in dem »Oh!« den Ursprung des Gedichtes vernehmen, aus dem sich die ganzen Versworte als dessen Artikulation entfalten. »Rose, Oh! …« Getroffen von der reinen Präsenz wird »Oh!« ausgerufen. Was ereignet sich als gegenwärtiges »Oh!»? Einerseits: Die reine Präsenz beraubt den Menschen der Sprache. »Oh!« Was da gegenwärtig west, ist nicht mehr dasjenige, das man oder »das Man« mit seinem vertrauten, aber auch abgenutzten Wort »Rose« bezeichnet; nicht mehr dasjenige, dem man in der sprachlich vorverstandenen Welt begegnet. Es blitzt da sozusagen die Rose auf, nein, ETWAS, etwas Unsagbares. Die Rose ist da zum »Oh!« geworden, oder angemessener ausgedrückt, entworden. Da wird die sprachlich vorverstandene Welt durchbrochen, zerrissen. Das »Oh!« ist ein Ur-laut der Präsenz in eins mit dem primitiven Urlaut, mit dem die Sprachwelt durchbrochen wird. »Oh!«: die Sprache wird hier in ein Unartikuliertes zurück- und zusammengenommen, um dann in die absolute Stille zu entwerden. »Oh!»—still. Das bedeutet zugleich den Wesenstod des Menschen als eines sprachbegabten Wesens. Dieses »Oh!« ist kein Wort, über das der Mensch verfügt. »Oh!« – dann wird dem Menschen die Sprache weggenommen. »Oh!« ist vielmehr der letzte Atemlaut, mit dem der sprachbegabte Mensch stirbt. Der Mensch ist, in seinem Wesen gestorben, zum »Oh!« geworden, entworden. Also nur noch »Oh!«, in dem sowohl die Rose als auch der Mensch entworden sind. »Oh!« – still. Anderseits ist nun dieses »Oh!« zugleich aber auch der anhebende, der erste Beginn der folgenden Versworte: »Oh reiner Widerspruch …« Es ist der allererste Urlaut, welcher in der absoluten Stille anklingt, und als welcher die sprachberaubende, unsagbare Präsenz selbst überhaupt zum Wort wird. Als die Präsenz des Unsagbaren ist dieses »Oh!« das allererste Wort. Es gehört zwar noch nicht zur Sprache, es ist aber ein un-wortliches Vor-wort zur Sprache, durch das überhaupt der Weg zur Sprache wieder erschlossen wird. Das bedeutet zugleich die Wiederauferstehung des Menschen zu seiner wesenhaften Sprachlichkeit. »Oh!«, das ist der erste, früheste Laut des Menschen, wenn er in die sein Wesen auszeichnende Sprachlichkeit wieder hinein30 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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geboren wird. »Oh!« – da wird alles in einem gesagt, aber noch unartikuliert, und in diesem Sagen, zwar noch unreflektiert, ursprünglich begriffen. Zusammenfassend: das Oh-Ereignis ist ein einziges »und zugleich« doppeltes Ereignis. In das einzige »Oh!« sind der Mensch und die Rose beide entworden, und zwar zum »Oh!«, das als solches »weder Subjekt noch Objekt« ist. Und zugleich ist dasselbe »Oh!« der eigentliche Ursprung für die Entfaltung der strukturierten Ganzheit. Es ist Nichts und Alles in einem, und zwar ganz konkret: »Oh!« Wenn das »Oh!« sich wirklich so ereignet, so ist das Oh-Ereignis für Nishida eine, bzw. in diesem Fall, die reine Erfahrung. Wie oben am Beispiel »Oh!« illustriert wurde, ist die reine Erfahrung weder sprachlich gefasste Erfahrung, noch sprach-lose Erfahrung, sondern die Erfahrung des Weggenommen-Werdens des Wortes und gleichzeitig die Erfahrung der Geburt des Wortes. Die Präsenz schlechthin beraubt den Menschen der Sprache und ist als solche zugleich selber das allererste Wort. Sie reißt sich von der Sprache los und drängt in die Sprache hinein. So ereignet sich durch das »Oh!« und als das »Oh!« eine extreme Kreisbewegung vom Wort weg zum Wort hin. Diese Bewegung bedeutet zugleich »Tod und Auferstehung« des sprachbegabten oder sprechenden Menschen. Es handelt sich um die radikale Freiheit von der Sprache und zugleich die ursprünglichste Freiheit zur Sprache. Als diese Freiheit ist das »Oh!« ein Grundereignis des menschlichen Wesens, und betrifft gleichzeitig das Seiende im Ganzen. Das »Oh!«, als das allererste Wort aus dem absoluten Schweigen, als das un-wortliche Vor-Wort zur Sprache überhaupt angesehen, könnte als »Urwort« bezeichnet werden. Damit ist aber durchaus nicht gemeint, dass jedes »oh« als eine Interjektion, die wir gelegentlich gebrauchen, schon ein Urwort wäre. Ohne das oben beschriebene Ereignis kann vom Urwort nicht die Rede sein. Umgekehrt gesagt, ist dieses Ereignis an kein bestimmtes Wort gebunden. Das betreffende Ereignis kann sich auch in vorsprachlichen Formen wie Lachen oder Weinen, ebenso in einem Atemzug, auch in einer Körperbewegung vollziehen, die wir Leib-Sprache nennen könnten. Sehr oft auch verschwindet das Urwort, wenn es zu einer sprachlichen Artikulation kommt, »zwischen den Zeilen« und bestimmt nun unsichtbar den Stil von der Gesamtkomposition bis zur Wortwahl. So bleibt bei dem Grabspruch Rilkes nur noch ein unauffälliges »oh«, das nach der Metrik schwach gelesen 31 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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wird. Das »oh!« artikuliert sich zu Versworten, auf die es bei einem Gedicht einzig ankommt, um dann in diesen Worten seine leise Spur »oh« zu hinterlassen. Einige weitere Bemerkungen zum Oh-Ereignis könnten zugleich zur Erklärung der »reinen Erfahrung« dienen: a) Im »Oh!« sind Schweigen und Sprechen eins. In diesem »Oh!« und als dieses »Oh!« schweigt die Sprache und spricht sich das Schweigen aus. Im »Oh!« befreit sich das Sprechen vom Reden. b) Bei diesem »Oh!« sind Wirklichkeit und Sprache noch nicht zu unterscheiden. »Oh!« – ein Urwort-Sprechen ist als erstes Ereignis in der absoluten Stille ohne Weiteres die erste Wirklichkeit. Urwort, das heißt, Ur-Sache. Da gibt es noch keine Kluft zwischen der Erfahrung und ihrem sprachlichen Ausdruck, keine Zweiheit von Realem und Irrealem. Diese absolute Ununterschiedenheit von Urwort und Ur-Sache in einem und demselben »Oh!« gewährt in verschiedenen Bereichen, wo Wirklichkeit und Sprache sonst getrennt sind, eine ursprüngliche und letzte Grundlage zur Verbindung der Wirklichkeit und der Sprache: so im Falle der Übereinstimmung der Erkenntnis mit dem Gegenstand, oder bei der Wirklichkeitsgestaltung durch das Wort, oder etwa bei der Tat, die Wort hält. c) Wer spricht eigentlich das »Oh!« als Urwort? Im Ausruf »Oh!« wird nicht gesagt: »Ich sage Oh!«. Vielmehr wird das Ich dabei vollkommen vergessen. Es ist nicht das Ich, das »Oh!« ausruft, sondern die Ek-stase. Das »Oh!« ereignet sich also als die ek-statische Einheit von Person, Sprache und Wirklichkeit (bzw. Sache). d) Ein einziges »Oh!« – doch dabei zwei entgegengesetzte Richtungen ineinander. Die Rose ist zum »Oh!« geworden, und zugleich ist der Mensch zum »Oh!« geworden. Ur-ansprechen und Ur-entsprechen in einem. »Oh!« – es handelt sich hier um eine Ur-zwiesprache in einem ursprünglichen Einklang. Das dialogische Wesen der Sprache reicht bis ins »Oh!« zurück. Das »Oh!« als ereignishafte »reine Erfahrung« ist auch eine Kreisbewegung aus der Sprache heraus über das absolute Schweigen wieder zur Sprache hin. Die anhebende Bewegung zur Sprache ist als solche das Urwort, das un-wortliche Vor-Wort zur Sprache. Dadurch wurde der Weg zur Sprache erschlossen. Und jetzt kommt es zur Sprache, d. h. das Urwort wird durch die Sprache in Worten artikuliert. Der ganze Grabspruch Rilkes kann in dieser Hinsicht als eine Artikulation des »Oh!« angesehen werden, des »Oh!« nämlich, das der Dichter, von der Präsenz getroffen, ek-statisch aufgerufen hat. Insofern es zur Ar32 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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tikulation gekommen ist und zwar dann erst und nur dann können wir auf den Ursprung zurückblickend so etwas wie das Urwort erkennen. Das »Oh« allein wäre nichts. Mit der Artikulation wird das »Oh« zu einem Nichts, das alles in einem sagt und sich nun artikuliert. Diese Artikulation des Urwortes kommt der oben erwähnten selbst-urteilenden Entfaltung der reinen Erfahrung gleich. So gelten die oben zur Erklärung der 9. Station angeführten Worte: »Die Blumen blühen, wie sie von sich selbst her blühen« auch als eine Artikulation der reinen Erfahrung. Nun ist aber das Problem der Artikulation ein eigenes Thema, das hier nicht weiter behandelt werden kann. Nur einige Hinweise. In der Artikulation des Urwortes, wie z. B. des »Oh!« sind in Hinsicht auf Modus und auf Dimension folgende Unterscheidungen zu treffen. A) Modal: a) Logos-Artikulation des »Oh!« als Ununterschiedenheit schlechthin, absolute Indifferenz, b) Pathos-Artikulation des »Oh!« als Urklang, c) Handlungsartikulation des »Oh!« als Urkraft. B) Dimensional: die erste und die zweite Artikulation. Der ZenSpruch: »Die Blumen blühen, wie sie von sich selbst blühen« gehört zur ersten Artikulation, während »die Philosophie der reinen Erfahrung« bei Nishida zu einer zweiten Artikulation gehört. Weitere Probleme in Bezug auf die Artikulation sind folgende, worauf hier nur hingewiesen werden sollte. 1) Was für ein Ereignis ist überhaupt die »Artikulation« des Urwortes? In welcher Beziehung steht die sprachliche Artikulation des Urwortes zur Leistung der Sprache? 2) Wodurch wird das Artikulierte gekennzeichnet? Was charakterisiert z. B. eine Aussage als Logosartikulation des Urwortes, insbesondere im Hinblick auf die »Logik«? * *

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3) Das dritte Problem bezieht sich ganz allgemein auf die zwischenmenschliche Beziehung. Unsere Frage ist: Was kennzeichnet die zwischenmenschliche Beziehung aufgrund des Nichts, in das der Mensch entwird und von dem er wieder aufersteht? In der 10. Station der Ochsenbilder begegnen sich zwei Menschen auf der Straße. Im Rahmen der Selbstwerdung auf dem Zen-Weg handelt es sich, wie im Bildtext erklärt, um das wahre Selbst, und zwar im Aspekt des Doppelselbst aufgrund der Selbst-losigkeit im Nichts. Auf33 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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geschnitten durch das absolute Nichts öffnet und entfaltet sich das Selbst selbst-los zum Zwischen, in dem der Andere in seiner Andersheit die Selbst-losigkeit des Selbst verwirklicht. Dieser Sachverhalt als solcher enthält mehr als das, was der Text im gegebenen Zusammenhang unmittelbar und ausdrücklich aussagt. Das Charakteristische darin wird am Problem »Ich und Du« zum Ausdruck kommen. In dem betreffenden Sachverhalt ist zwar die Ich-Du-Beziehung als ein wesenhaftes Moment enthalten, aber der gesamte Sachverhalt ist etwas anderes bzw. mehr als die Ich-Du-Beziehung. Das Beispiel der alltäglichen Begrüßungsform in der japanischen Tradition mag als Erklärung dienen. Zwei Bekannte begegnen sich auf der Straße. Sie machen zunächst eine Verbeugung voreinander, manchmal so tief, wie in die Richtung der Grund-losigkeit des Zwischen, wo weder »Ich« noch »Du« ist. Erst von da aus, dann sich aufrichtend und zueinander sich hinwendend die Begrüßung: »Schönes Wetter, nicht wahr?« »Ja, schön!« Das ist eine unauffällige alltägliche Szene. Es handelt sich um die gebräuchliche Form der Begegnung und Begrüßung. Eine Form ist nicht von Anfang an nur formal, obwohl sie manchmal zu einer bloßen Form entartet ist. Eine Form der Begrüßung ist ursprünglich ein elementarer Ausdruck und eine Vollzugsweise des Selbstverständnisses des Menschen bei der zwischenmenschlichen Begegnung, in dem sich das Wesen des Menschen ausdrückt. So ist zu fragen: welches Selbstverständnis des Menschen in der Begegnung liegt einer solchen Form der alltäglichen Begrüßung zu Grunde? Was geschieht in dieser Begrüßungsbewegung eigentlich? Die beiden Partner verbeugen sich zunächst gegenseitig tief voreinander. Man sagt gewöhnlich »aus Höflichkeit«. Seinsmäßig ist es eine tiefe Verbeugung und es liegt mehr in ihr als nur »Höflichkeit«. Es geht nämlich darum, sich selbst vor dem Anderen zum Nichts zu machen, in dem dann auch der Andere nicht da ist. Und zwar geschieht das gegenseitig. Statt ohne Weiteres in die Ich-Du-Beziehung einzutreten, geht es einem bei der Verbeugung darum, sich zunächst einmal in die Tiefe der Grund-losigkeit zu tauchen, d. h. das »ego« sozusagen brechend in die Tiefe des Nichts entwerden zu lassen, wo es weder »Ich« noch »Du« gibt. Es geht um eine Art Versenkung in das Nichts der Grund-losigkeit des Zwischen. Dann erst sich wieder aufrichtend, d. h. vom Nichts wieder auferstehend und sich zueinander hinwendend, stehen sich jetzt die beiden 34 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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Partner in einer Ich-Du-Beziehung gegenüber. Das bedeutet gleichzeitig, dass diese Ich-Du-Beziehung vom Weder-Ich-noch-Du im Nichts durchdrungen wird. Es ereignet sich hier eine dynamische Zusammengehörigkeit der Ich-Du-Beziehung und des Weder-Ich-nochDu im Nichts. Wie wirkt sich das in der Ich-Du-Beziehung aus? Mitten im »Zwischen«, als dem Raum des Einander-Gegenüberstehens wird, vom Nichts durchdrungen, eine unendliche Offenheit erschlossen. Jeder der beiden Partner hat nun die absolute Ununterschiedenheit als das Weder-Ich-noch-Du im Nichts erfahren. In diesem offenen Zwischen kann jeder der beiden Partner aufgrund jener Ununterschiedenheit einerseits die ganze Ich-Du-Beziehung als sein Selbst erleben (es handelt sich um die absolute Selbstständigkeit und Alleinigkeit), andererseits die ganze Ich-Du-Beziehung, in die er restlos aufgeht, dem Du überlassen (es handelt sich nun um die absolute Abhängigkeit). Aufgrund der Ununterschiedenheit also, die jeder der beiden Partner im Weder-Ich-noch-Du erfahren hat, kann er einerseits die ganze Beziehung auf der Ich-Seite erleben (»Ich und Du«, das bin ich zur absoluten Selbstständigkeit), und andererseits dieselbe Beziehung ganz der DuSeite überlassen (Ich bin in meiner absoluten Abhängigkeit »Ich und Du«, dessen Herr Du bist). Anders gesagt, es geht um die Gegenseitigkeit im Wechsel der Rolle des Herrn, wie es im Zen-Buddhismus heißt. Diese Zusammengehörigkeit der absoluten Selbstständigkeit und der absoluten Abhängigkeit – auch diese wiederum wechselseitig – kennzeichnet die Ich-Du-Beziehung aufgrund des Nichts. Beide Partner sind erst dadurch in einer solchen Beziehung sowohl absolut frei als auch einander vollkommen gleichgestellt. Sie verbeugen sich voreinander in die Grundlosigkeit des Nichts und, sich vom Nichts wieder aufrichtend, wenden sie sich einander zu. In dieser gesamten Bewegung sind verschiedene Phasen und Momente enthalten. A) weder »Ich« noch »Du« im Nichts. B) Ich-Du-Beziehung, und in dieser wiederum a) ein Gegenüber als Ich-Du auf der Beziehungsebene, und b) Zusammengehörigkeit der absoluten Selbstständigkeit und der absoluten Abhängigkeit auf Grund der vom Nichts durchdrungenen Ich-Du-Beziehung. Das bedeutet den gegenseitigen Wechsel der Rolle des Herrn zwischen den Partnern. Diese ganze Bewegung, die in ihren einzelnen Phasen und Momenten kompliziert erscheinen mag, aber in Wirklichkeit als Tat einfach ist, diese Bewegung stellt das selbst-lose Selbst in der zwischenmenschlichen Beziehung her. Umgekehrt gesagt: das selbst-lose Selbst muss in der zwi35 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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schenmenschlichen Beziehung die oben genannten verschiedenen Phasen und Momente frei durchlaufen können. Im Grunde genommen ist die gesamte Bewegung der Begrüßung nichts anderes als die Kreisbewegung in der 8., 9. und 10. Station der Ochsenbilder. Darin kommt die Ununterschiedenheit des Religiösen und des Alltäglichen zum Ausdruck, auf die es beim Zen-Buddhismus ankommt. Auf diese Weise wird der Alltag bis in die letzten Einzelheiten mit Bedeutung erfüllt. Es ist daher eine entscheidende Frage für jeden, ob er in Wirklichkeit und Wahrheit einen Partner so grüßen kann? In der Beziehungsdynamik auf Grund des Nichts versteht sich der Mensch nicht als das in sich mit sich selbst substanziell identische Subjekt, das nachher irgendwie eine Beziehung zum anderen aufnimmt, sondern er versteht sich jeweils schon aus der Beziehung, in der er sich von vornherein findet. Er versteht sich immer schon als »Partner des Partners«. Aus sich heraustreten, und immer schon in der Beziehung zum Anderen, im Gegenüber stehen – das gehört zur inneren Struktur des Selbst. Bezeichnet man diese Struktur des Aus-sich-Heraustretens« mit dem Terminus »Ek-sistenz«, so ist der Andere im Gegenüber kein Anderer, sondern gerade in seiner Andersheit die Verkörperung der »Ek-»heit der Ek-sistenz, der Außer-sich-heit des selbst-losen Selbst. Das Selbst und der Andere im Gegenüber, jedes durch das Nichts aufgeschnitten und geöffnet, fügen gegenseitig ihr Sein zusammen, so dass sie ineinander gefügt »weder zwei noch eins« sind. Das Ich und das Du sind dann zwei entgegengesetzte polare Perspektiven. Ich bin »Ich und Du«. Das gilt umgekehrt auch vom Du aus. Das Selbst ist die Beziehung »Partner des Partners«. Das bedeutet aber nicht einseitig eine Auflösung des Selbst in die Beziehung. Die ganze Beziehung ist das Selbst. »Ich und Du«, das bin ich. Dieser Sachverhalt ist aber kein ruhender Zustand, sondern jeweils ein Ereignis. Das sollte nur jedes Mal konkret in der Begegnung und Kommunikation vollzogen und bewährt werden. Auf der ethischen Ebene wird die Betonung, wie es naheliegt, auf das Moment der Selbstnegation gelegt, worin dem Anderen die Rolle des Herrn übergeben wird. Das bedeutet aber kein einseitiges Selbstopfer. Im Grunde geht es um den gegenseitigen Austausch des »demAnderen-den-Vorzug-Geben«, um den Austausch des »Bitte, nach Ihnen« sozusagen, allerdings nicht um einen bewussten absichtlichen Austausch – das wäre ein Handel zwischen Ich-Menschen. Während 36 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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dieses genannten Austausches geschieht es in irgendeinem Moment, dass der eine »Danke schön« sagt und einen ersten Schritt macht, um dann den Partner zu seinem Schritt einzuladen. Wiederum ein Austausch. In diesem dem-Anderen-den-Vorzug-Geben (oder »dem-Anderen-den-Seinsvorrang-Lassen«) zeigt sich die Größe des selbst-losen Selbst, das seinerseits imstande ist, den Anderen aus dem Ich-Gefängnis zu befreien, so dass dann die oben erwähnte ek-sistierende Bewegung wechselseitig spielen kann.

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2 Die zen-buddhistische Erfahrung des Schönen 1

1. Teil Das Wahr-Schöne nach dem Zen Zur Erörterung des Themas wollen wir uns am Anfang kurz den Gesamtzusammenhang des Zen vergegenwärtigen, da dieses in seinen einzelnen Erscheinungen oft verblüffend einfach, manchmal scharf, manchmal verschwommen und oft auch einseitig, seltsam, oder in sich widersprüchlich, paradox und sogar sinnlos zu sein scheint. In einem früheren Eranos-Vortrag 2 haben wir das Zen anhand der Bilderserie eines klassischen Zen-Textes dargestellt. Es handelt sich um drei Bilder, die sich als eine Triade gegenseitig durchdringen und ein dreifaches Selbstbildnis des wahren selbst-losen Selbst darstellen. Das erste Bild ist ein leerer Kreis, in dem nichts gezeichnet ist – also kein eigentliches Bild, sondern gleichsam ein Bild der Bildlosigkeit. Es geht um das absolute, unendliche Nichts, das darauf hinweist, dass es bei dem wahren Selbst zuallererst auf Bild- und Formlosigkeit der Selbstlosigkeit als solcher ankommt. Der Mensch muss um des wahren Selbst willen, entsprechend dessen unbedingter Selbst-losigkeit ein für alle Mal ins lautere Nichts hineinspringen, d. h. »groß sterben«. In diesem unendlichen Nichts mit der entsubstantialisierenden Dynamik des »Nichts des Nichts« ereignet sich dann eine Grundwendung wie bei »Tod und Auferstehung«. So kommen wir zum zweiten Bild, welches nichts anderes als einen blühenden Baum am Fluss darstellt. Da im Nichts der Subjekt-Objekt-Dualismus durchbrochen wurde, bedeutete hier bei der Auferstehung aus dem Nichts ein »blühender Ursprünglich Die Zen-Buddhistische Erfahrung des Wahr-Schönen. Die Schönheit der Dinge, hrsg. R. Ritsema, in: Eranos 53 (1984) 1985, S. 197–240. 2 Leere und Fülle. S ´ u¯nyata¯ im Maha¯ya¯na-Buddhismus. Einheit und Verschiedenheit, hrsg. A. Portmann u. R. Ritsema, in: Eranos 45 (1976) 1980, S. 135–163, hier S. 11–35. 1

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Baum am Fluss« ganz unmittelbar eine ungegenständliche und konkrete Verkörperung der Selbst-losigkeit des wahren Selbst. Das Fließen des Flusses, das Blühen der Blumen ist dabei zugleich ein Spielen der selbst-losen Freiheit des Selbst. Auf Grund der die Selbst-losigkeit bewahrenden Verkörperungsrealität in der Natur, z. B. bei einem Baum am Fluss, kommt nun im folgenden Bild das selbst-lose »Selbst« zum Vorschein. Das Bild zeigt, wie sich ein Greis und ein Junge in der Welt begegnen. »Ein Greis und ein Junge« verstehen sich als die selbst-lose Selbstentfaltung des Greises. Das Selbst ist durch das absolute Nichts selbstlos aufgeschnitten und so zu einem Doppel-Selbst geworden, wofür das Zwischen des Ich-Du nichts anderes als der Spielraum des Selbst ist. Das Befinden des anderen wird jetzt dem Selbst in seiner Selbst-losigkeit ein eigenes Anliegen. In der Begegnung fragt der Greis den Jungen um dessen wahren Selbstes willen z. B.: »Siehst du die Blumen da blühen, wie sie blühen?« Oder: »Woher kommst du? Wer bist du?« Da wird dem anderen im Zwischen des Ich-Du die Frage nach dessen wahrem Selbst erweckt. Beim wahren Selbst handelt es sich um eine Bewegung der Existenz, die einen unsichtbaren Kreis von »Nichts/Natur/Ich-Du« zeichnet: sowohl ins Nichts spurlos entwerdend, z. B. bei Blumen selbst-los mitblühend, als auch bei der Begegnung selbstlos sein anderes Selbst im Gegenüber erkennend. Dabei können die drei Aspekte wie in diesen drei Bildern vergegenständlicht werden. Es kommt auf die Bewegung als solche an, die nie bildhaft fixierbar ist, also wiederum auf das Nichts. Wenn im Zen-Buddhismus vom absoluten, unendlichen Nichts die Rede ist, so ist dieser gesamte, bewegliche Zusammenhang gemeint. Wo findet sich nun in diesem Zusammenhang ein Ansatz zur Erörterung der Themas »Schönheit«? Angesichts dieser Frage kommt im Begleitgedicht zum zweiten Bild das Urphänomen der Schönheit in der zen-buddhistischen Erfahrung zur Erscheinung. Es heißt: »Die Blumen blühen, wie sie von sich selbst her blühen. Der Fluss fließt, wie er von sich selbst her fließt.« Kurz gefasst: »Die Blumen blühen, wie sie blühen.« Das Zen kann das noch kürzer, noch einfacher fassen: »Die Blumen blühen.« Oder: »Die Wolken ziehen.« Wir wollen aber in unseren Überlegungen bei der Fassung bleiben: »Die Blumen blühen, wie sie blühen.« Mit diesem »wie« als Ausdruck der Schönheit für den Zen-Buddhismus wollen wir uns eingehend beschäftigen. Es geht hier um das Einfache, das Einfachste auf Grund jenes un39 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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endlichen Nichts des ersten Bildes, auf Un-grund des Nichts bzw. in der unendlichen Offenheit des Nichts. Dieses Einfache artikuliert sich z. B. in »die Blumen blühen, wie sie blühen.« Das so Artikulierte kann vom unendlichen Nichts wieder zurückgenommen werden, damit das Einfache erneut zur einer anderen Artikulation kommt. Es handelt sich also um ein gegenseitiges, bewegliches Einander-Durchdringen des Nichts und des Einfachen. Dabei ist einerseits das Sein des Einfachen bis zum Nichts transparent, andererseits wird das Sein umso seiender, als es auf dem Hintergrund des Nichts erscheint. Aus dieser Perspektive könnte man von einem »Überschuss des Seins« sprechen. Einerseits also bis zum Nichts transparent, andererseits ein Überschuss des Seins. Bei der Schönheit in der zen-buddhistischen Erfahrung geht es um diesen »transparenten Überschuss des Seins«, wobei aber das Nichts unendlich abgründig und weder schön noch nicht schön ist. In indischmaha¯ya¯na-buddhistischen Termini ausgedrückt: »Schön« ist durchduftet von der So-heit« (tathata¯), wobei die Leerheit (s´u¯nyata¯) als So-heit qualifiziert wird, während die So-heit ihrerseits von der Leerheit wieder abgründig zurückgenommen wird. »Schön« ist dann in Wirklichkeit schön, wenn es in Wahrheit mehr als schön ist, wie bei Rilke: »Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir gerade noch ertragen.« In unserem Zusammenhang wollen wir in Verwandtschaft mit dem Schrecklichen bei Rilke wieder auf das unendliche Nichts hinweisen. Wenn es im Zen-Kontext heißt »die Blumen blühen, wie sie blühen,« dann handelt es sich um eine Wahrheit, die zugleich die Natur und den Menschen angeht. So möchten wir, um die Schönheit als »wie« zu bestimmen, eine Doppelfrage stellen. Wie steht es erstens mit dem Blühen der Blumen? Wie steht es zweitens mit dem Menschen, der die Blumen erfährt als Blumen, die blühen, wie sie blühen? Wie erfährt der Mensch sich selbst, wenn er sagt: »Die Blumen blühen, wie sie blühen«? Ko¯ichi Tsujimura zeigte einmal Martin Heidegger, bei dem er seinerzeit in Freiburg studierte, die Bilderserie »Der Ochs und sein Hirte«. 3 Von unserem zweiten Bild mit dem Begleitgedicht beeindruckt, Der Ochs und sein Hirte. Eine altchinesische Zen-Geschichte. Erläutert von Meister Daizohkutsu R. Ohtsu mit japanischen Bildern aus dem 15. Jahrhundert, übers. von K. Tsujimura und H. Buchner, Pfullingen 2. Aufl. 1958, 4. Aufl. 1981. D. T. Suzuki,

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machte Heidegger Tsujimura auf eine innere Verwandtschaft mit einem Gedichtspruch von Johannes Scheffler (1624–1677) bzw. Angelus Silesius, wie sein Dichtername lautet, aufmerksam. Das Gedicht lautet: Die Ros ist ohn warum / sie blühet / weil sie blühet / Sie acht nicht ihrer selbst / fragt nicht, ob man sie siehet. 4 Wir wollen diesen Gedichtspruch zum Vergleich heranziehen, um den Ort der Zen-Gedichtzeile »die Blumen blühen, wie sie blühen« zu bestimmen. Man hört unmittelbar, dass die beiden Gedichte einer fast gleichen Geisteswelt entspringen. Bei aufmerksamerem Hören des Klangs der einen und der andern Zeile fühlen wir jedoch einen feinen Unterschied im Ton, und zwar im »wie« der Zen-Zeile einerseits und im »weil« bei Angelus Silesius anderseits. Der Unterschied mag erstens in Bezug auf die Seinsweise des Blühens der Blumen und zweitens in Bezug auf die Existenzweise des Menschen erkannt werden, der so spricht und dabei auch sein Selbst irgendwie zum Ausdruck bringt. Wir wollen nun zuerst auf den Spruch des Angelus Silesius eingehen. Dann kommt im Vergleich damit das Charakteristische des »wie« ausdrücklicher zur Erscheinung. »Die Ros ist ohn warum.« Die Wendung »ohne Warum« erinnert uns sogleich an seine geistige Herkunft. Angelus Silesius ist ein Geisteserbe Meister Eckharts (1260–1329). Ein anderes seiner Gedichte lautet: Die Rose / welche hier dein äußeres Auge sieht / Die hat von Ewigkeit in Gott also geblüht. 5 Die Rose ist hier in Gott gesehen. Da bricht die Rose durch die Naturwelt hindurch und blüht in Gott, und zwar als Gott, denn wie Meister Eckhart sagt:

The Ten Oxherding Pictures I & II, in: Manual of Zen Buddhism. New York 1960, S. 127–144. 4 Angelus Silesius, Cherubinischer Wandersmann. Kritische Ausgabe, hrsg. L. Gnädinger, Stuttgart 1984, S. 69 (I. Buch, Nr. 289). 5 Angelus Silesius, a. a. O., I. Buch, Nr. 109.

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Was in Gott ist, ist Gott. 6 Wie Angelus Silesius sagt: In Gott ist alles Gott: ein einz’gs Würmelein/ Das ist in Gott so viel als tausend Gotte sein. 7 Man wird Angelus Silesius nicht gerecht, wenn man diese und ähnliche Worte auf die theologische Ebene zurückführt und so versteht, als handle es sich dabei um die ideenhaften Urbilder in Gott. Es geht ihm im Gegenteil um die Konkretisierung aus der Theologie in die Wirklichkeit. Wenn es bei ihm heißt »die Rose … hier …«, so liegt die Betonung auf dem »hier«. Und zwar ist dabei das Blühen der Rose nicht mehr nur ein natürliches Werden, sondern ein unmittelbares Ereignis in Gott, ein Ereignis Gottes. Das Leben Gottes blüht in sich als Gott, und zwar so, dass Gott in sich genau so blüht, wie die Rose hier blüht. Die Rose hier ist in Gott blühend, als Gott blühend, »ohne Warum«, denn Gott ist »ohne Warum«, und nur Gott ist »ohne Warum«. Das Ohne-Warum-Sein der Rose entspringt nicht einer Rhetorik, sondern im strengen Sinn einem In-Gott-Gott-Sein der Rose-hier. Es handelt sich also um ein konkretes Ereignis Gottes. Das ist aber kein objektiver Sachverhalt. Um die Rose hier so in Gott als Gott blühen sehen zu können, muss der Mensch selber aus Gott in Gott geboren werden. Das liebste Werk / das Gott so inniglich liegt an / Ist / dass er seinen Sohn in dir gebären kann. 8 Der Punkt der Seligkeit besteht in dem allein / Dass man muss wesentlich aus Gott geboren sein. 9 Gott zeuget nichts als Gott: zeugt er dich / seinen Sohn / So wirst du Gott in Gott / Herr auf des Herren Thron. 10

Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate, hrsg. und übers. von J. Quint, W. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1958 ff. (im Folgenden abgekürzt DW), Bd. I, S. 56 u. 440. 7 Angelus Silesius, a. a. O., II. Buch, Nr. 143. 8 Angelus Silesius, a. a. O., IV. Buch, Nr. 194. 9 Angelus Silesius, a. a. O., IV. Buch, Nr. 205. 10 Angelus Silesius, a. a. O., IV. Buch, Nr. 134. 6

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Außerdem kommt eine unerlässliche Voraussetzung zum Vorschein: Nichts werden ist Gott werden. 11 Diese Worte spiegeln die Gedankenwelt Meister Eckharts wieder: Bist du aus Gott gebor’n / so blühet Gott in dir / 12 Dieses Blühen Gottes »in dir« ist dasselbe Blühen Gottes wie das der »Rose hier«. Das Blühen der Rose, wie sie »ohne Warum« ist, ist in dieser Hinsicht ein eigenes Ereignis des Menschen selbst, in dessen »abgeschiedene(r) Seele« (Meister Eckhart) Gott seinen Sohn geboren hat, und dessen Seele dadurch in Gott erhoben ist. »Die Ros ist ohn warum; sie blühet, weil sie blühet.« Wenn hier die Rose angesprochen wird, so wird nichts anderes als Gott selbst angesprochen und – in eins damit – der Mensch. Eine solche Integration von Gott, Mensch und Natur ist innerhalb der westlichen Geistesgeschichte nicht selbstverständlich. Das Ohne-Warum-Sein Gottes als solches hebt Meister Eckhart sehr stark hervor. Gott ist das absolute Sein, das seinen eigenen Grund in sich selbst und als sich selbst hat, und als solcher der Seinsgrund für alle anderen Seienden ist. Gott ist die plenitudo des Seins. Aus dieser Fülle des Seins »quillt« die göttliche Tat »ohne Warum« 13 naturaliter. Gott wirkt aus sich selbst zu sich selbst. Nichts bewegt Gott zu seinen Taten. Mit seinen Taten beabsichtigt Gott nichts. »Gott wirkt ohne Warum und kennt kein Warum.« Das »ohne Warum« weist also die Fragestellung »warum« als Gott unangemessen zurück und lässt damit Gott in seinem eigenen Ohne-Warum-Sein erscheinen. Das »ohne Warum« ist ein Seins-Zeichen Gottes. Diese Art onto-theologischer Überlegung zum Sein Gottes ist bei Eckhart zwar sehr konsequent durchgeführt, ist aber nicht ihm allein eigen, sondern gehört zur allgemeinen Grundlage der damaligen Theologie und Metaphysik. Charakteristisch für Eckhart ist die unmittelbare Übertragung des göttlichen »ohne Warum« auf die Existenz des Menschen durch das Eins-Sein der Seele mit Gott, wie es durch die 11 12 13

Angelus Silesius, a. a. O., IV. Buch, Nr. 130. Angelus Silesius, a. a. O., I. Buch, Nr. 81. DW, Bd. II., S. 289 u. 691.

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»Gottesgeburt in der Seele« und den »Durchbruch der Seele zur Gottheit« vollzogen wird. Diese Übertragung ihrerseits verleiht dem OhneWarum-Sein höchste Lebendigkeit. Ein Beispiel dafür: Er (der gerechte Mensch) will nichts und sucht nach nichts, da er kein Warum kennt, um dessentwillen er irgendetwas täte. So, wie Gott ohne Warum (ane warumbe) wirkt und kein Warum kennt – ganz in der gleichen Weise, wie Gott wirkt, so auch wirkt der Gerechte ohne Warum; und so, wie das Leben um seiner selbst willen lebt und kein Warum sucht, um dessentwillen es lebe, so auch kennt der Gerechte kein Warum, um dessentwillen er etwas tun würde. 14 … er (der gerechte Mensch) ist das Leben selbst. Wer Leben fragte tausend Jahre lang: »Warum lebst du?«, könnte es antworten, es spräche nichts anderes als: »Ich lebe dar umbe daz ich lebe.« Das ist da von, wan leben lebet ûzer sînem eigenen grunde und quillet ûzer sinem eigen; dar umbe lebet ez âne warumbe in dem, daz ez sich selbser lebet. 15

Hier hören wir eindrucksvoll, wie Meister Eckhart das göttliche »ohne Warum« durch die gelebte Einheit des Menschen mit Gott auf die Existenz des Menschen überträgt. Gott als das Leben selbst »ohne Warum« fließt in die Abgeschiedenheit, in das Nichts des Menschen ein und belebt ihn zu eben diesem Leben-ohne-Warum. Der Mensch lebt jetzt selber »ohne Warum« als das Leben, das aus seinem eigenen Grunde lebt und aus seinem Eigenen quillt. »Hier lebe ich aus meinem Eigenen, wie Gott aus seinem Eigenen lebt.« 16 So ist das Leben-ohne-Warum für Meister Eckhart die höchste Freiheit des Menschen. Das »ohne Warum« ist auch ein Grundwort des Zen-Buddhismus. Das Leben-ohne-Warum als die gelebte Freiheit des Menschen gibt Keiji Nishitani, ein Vertreter der modernen japanischen Philosophie im Geist des Zen, auf seine eigene Weise wie folgt wieder: »Im Grund des Lebens haben wir keinen Grund unter den Füßen. Vielmehr müssen wir sagen: Das Leben ist darum Leben, weil es dort gründet, wo es nichts gibt, auf dem das Leben gründen kann. Aus der Selbstgewahrnis des Un-gründigen realisiert sich die neue Subjektivität des Selbst, die 14 15 16

a. a. O. DW, Bd. I. S. 91, 92. DW, Bd. I, S. 90, 450.

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den spirituellen Intellektus, die Vernunft und das natürliche Leben durchfließt.« 17 Sowohl in der konsequenten Durchführung in Bezug auf das Absolute, als auch in der restlosen Übertragung auf die Existenz des Menschen in seiner gelebten Freiheit sehen wir in dem Gedanken »ohne Warum« eine wesenhafte Geistes- und Lebensverwandtschaft zwischen Meister Eckhart und dem Zen-Buddhismus. Dabei haben beide mit dem Ohne-Warum-Sein auch eine gemeinsame Relevanz für die moderne Existenzkrise. Bei Nietzsche findet sich die Umschreibung, die diese Krise aufs Bündigste und Schärfste zum Ausdruck bringt: »Der Nihilismus steht vor der Tür: Woher kommt uns dieser unheimlichste aller Gäste?« »Was bedeutet Nihilismus? – Dass die obersten Werte sich entwerten. Es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das ›Warum‹.« 18 Der radikale Nihilismus macht von vornherein alle möglichen Antworten auf das »warum« hinfällig. Insofern es uns ernsthaft um eine Überwindung des radikalen Nihilismus geht, so zeigen uns Meister Eckhart und der Zen-Buddhismus gemeinsam einen Weg, auf dem das nihilistische Fehlen der Antwort auf das Warum in einem Lebenssprung von »ohne Warum« des Lebens eingeholt wird. Es geht dabei um eine Umkehr vom negativen Fehlen des Darum zum ausdrücklichen Ohne-Warum, vom privativen Nichts zum großen erfüllten Nichts. Vielleicht könnte die Gott-losigkeit bei Zarathustra in dem Leben-ohne-Warum bei Meister Eckhart ihre bejahende Erfüllung erfahren. Diese Wendung ereignet sich sowohl bei Meister Eckhart – wie auch im Zen aufgrund eines »großen Todes« – im Zen aufgrund des »großen Sterbens«, bei Meister Eckhart aufgrund des »Grundtodes«, jenes großen Todes nämlich, der auch der Tod des Nihilismus ist. Im Nihilismus ist ja derjenige noch da, der sagt: »Gott ist tot.« Derjenige müsste auch sterben. Erst dann! Bei aller Verwandtschaft zwischen Meister Eckhart und dem Zen im Ohne-Warum-Sein gibt es doch einen Unterschied. Der Unterschied kommt im Bereich der Natur am deutlichsten zur Erscheinung. Eckhart überträgt das Ohne-Warum-Sein Gottes zwar eindrucksvoll auf die Existenz des Menschen, aber nicht auf die Natur, wie z. B. auf die Rose. Eckharts eigentliches, einziges Anliegen ist die UnmittelbarK. Nishitani, Kongenteki Shutaisei-no-Tetsugaku (dt.: Philosophie des urspünglichen Existenzsubjektes), Ko¯bundo¯ Verlag, To¯kyo¯ 1940, S. 2. 18 F. Nietzsche, Umwertung aller Werte. Aus dem Nachlass zusammengestellt u. hrsg. v. F. Würzbach, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1969, S. 469, 470. 17

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keit der Beziehung von Seele und Gott. Die Natur als solche liegt für ihn abseits und ist kein primärer Ort der Heilswahrheit. In der BarockMystik erlangt die Natur als solche allmählich eine eigene Realität, nicht nur in der Kreatürlichkeit. Ganz ausgesprochen ist das der Fall bei dem Philosophen und Arzt Angelus Silesius, dessen Mystik das Ohne-Warum-Sein Gottes bei Eckhart unmittelbar auch auf die Natur überträgt. So heißt es bei ihm: »Die Ros ist ohn warum; sie blühet, weil sie blühet.« Die Rose hier ist mit dem Seinszeichen Gottes qualifiziert. Dabei ist auch ein Bezug zum Leben des Menschen unverkennbar. Der zweite Teil des Spruchs lautet: »Sie acht nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet«. Er enthält, zwar nicht ausdrücklich, aber unverkennbar eine eindringliche Anweisung für die Existenz, für das Leben des Menschen. Auf diese Weise zeigt sich die Natur bei Angelus Silesius in einem absoluten Aspekt, und dadurch gibt sie dem Menschen eine direkte Anweisung für seine Existenz. In diesem Gesamtzusammenhang kommt der Spruch des Angelus Silesius der Welt des Zen ganz nahe. Das Zen selber drückt es aber einfach so aus: »Die Blumen blühen, wie sie blühen.« Wie können wir den feinen, aber unüberhörbaren Unterschied im Klang des »weil« einerseits und des »wie« andererseits bestimmen? Einige Versuche dazu sollen nun gemacht werden. »Die Ros ist ohn warum.« So lautet die negative Bestimmung in der Weise der negativen Theologie. In positiver, bejahender Umsetzung lautet es in der Weise der positiven Theologie: »Sie blühet, weil sie blühet.« In Analogie und Unterschied dazu ist im Zen, bei aller gemeinsamen Bewertung der Natur als des Ortes der Wahrheit, die negative Bestimmung zum unendlichen Nichts radikalisiert. Dementsprechend ist in der Wendung die bejahende Bestimmung ganz schlicht ver-einfacht. Die Spannweite zwischen dem unendlichen Nichts und dem schlicht Einfachen ist dabei zugleich der Ort von Tod und Auferstehung für die Existenz. Im Zen wird der negativ-theologische Aspekt der Natur zum unendlichen Nichts radikalisiert, indem das »ohne Warum« als Seinszeichen des Absoluten restlos, spurlos verschwindet, indem auch keine Rede von Blumen, keine Rede vom Absoluten mehr ist. Das erste ZenBild weist darauf hin. Falls sich das unendliche Nichts doch auf der Artikulationsebene spiegelt, so lautet es in schroffer Formulierung paradoxerweise z. B.: »Die blühenden Blumen blühen nicht.« Oder er lautet: »Wenn ich über die Brücke gehe, so fließt die Brücke, und der 46 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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Fluss steht.« In der Wendung vom Nichts zur Bejahung heißt es ganz schlicht vereinfacht: »Die Blumen blühen, wie sie blühen«. Das ist einfacher und schlichter als: »Die Rose blühet, weil sie blühet«. Mit »wie« wird das Einfache noch einfacher als mit »weil«. In der frischen Unmittelbarkeit der Bejahung ist die Wirklichkeit, wie sie ist, in ihrer einfachen Erfüllung ur-gegeben, noch vor jeglicher Begründung. Wegen der Einfachheit der Erfüllung ist es für den Zen-Buddhismus auch schon genug, wenn es heißt: »Die Blumen blühen.« Um uns den feinen, entscheidenden Unterschied zwischen dem »wie« und dem »weil« klarer machen zu können, wollen wir uns eigens mit dem »weil« beschäftigen, indem wir Heidegger heranziehen, der über diesen Gedichtspruch von Angelus Silesius eingehend nachgedacht hat. 19 »›Warum‹ ist das Wort für die Frage nach dem Grund. Das ›weil‹ enthält den antwortenden Hinweis auf den Grund. Das Warum sucht den Grund. Das Weil bringt den Grund«, 20 »Die Rose ist zwar ohne Warum, aber – im Hinblick auf das ›weil‹ – doch nicht ohne Grund.«21 Die Rose ist »ohne Warum«, d. h. »die Rose bleibt ohne die fragende, den Grund eigens vorstellende Beziehung zum Grund.« 22 »Der Rose geschieht das Blühen, indem sie darin aufgeht.« 23 Aber »Angelus Silesius will nicht leugnen, dass das Blühen der Rose einen Grund hat. Sie blühet, weil – sie blühet.« 24 Was heißt das eigentlich? »Dies [das ›Weil‹ in diesem Kontext] sagt eigentlich nichts; denn es ist dem ›weil‹ eigen, etwas anderes beizubringen, was uns als Grund für das zu Begründende verständlich ist. Aber dieses anscheinend nichts sagende ›sie blühet, weil sie blühet‹ sagt eigentlich alles, nämlich alles hier zu Sagende in der ihm eigenen Weise des Nichtsagens. »Die Rose ›blühet‹, weil sie blühet« […] Das ›weil‹ nennt den Grund, aber einen seltsamen und vermutlich ausgezeichneten Grund. […] Das ›weil‹ des Spruches weist das Blühen einfach auf es selbst zurück. Das Blühen gründet in ihm selbst, hat seinen Grund bei und in ihm selbst. Das Blühen ist reines Aufgehen aus ihm selbst […] Das, was das »anschei-

19 M. Heidegger, Der Satz vom Grund, Verlag Günther Neske, Pfullingen 1957, (Freiburger Vorlesung im Wintersemester 1955/56). 20 A. a. O., S. 70. 21 A. a. O., S. 77. 22 A. a. O., S. 78, 79. 23 A. a. O., S. 71. 24 A. a. O., S. 71.

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nend nichts sagende »weil« in der Weise des Nichtssagens« 25 sagen wollte, ist dies: Das Blühen der Rose ist »einfaches, reines Aus-sichAufgehen«. 26 Zu dem so verstandenen Spruch von Angelus Silesius sagt Heidegger: »Der ganze Spruch ist so erstaunlich klar und knapp gebaut, dass man auf den Gedanken kommen möchte, zur echten und großen Mystik gehöre die äußerste Schärfe und Tiefe des Denkens. Dies ist denn auch die Wahrheit. Meister Eckhart bezeugt sie.« 27 Wenn es sich bei Angelus Silesius um ein »einfaches, reines Aussich-Aufgehen« handelt, wie Heidegger ausführt, dann findet das einen noch unmittelbareren Ausdruck im Zen-Spruch »Blühen-wieBlühen«. Im »Blühen-weil-Blühen« ist das Blühen von Anfang an im Denken verwoben, d. h. mit »dem antwortenden Hinweis auf den Grund, den das Warum sucht«. Es handelt sich schon um ein Gedachtes, zwar nicht ein bloß Gedachtes, aber mit der denkenden Kategorie verwoben. Heidegger sagt, wie wir sahen, »die Rose ist zwar ohne Warum, aber sie ist doch nicht ohne Grund. … ›Die Rose blühet, weil sie blühet‹«, und dann gleich anschließend, wie in direkter Fortsetzung: »Ihr Blühen ist einfaches Aus-sich-Aufgehen.« 28 Es gibt aber zwischen dem »sie blühet, weil sie blühet« und dem »einfachen Aus-sich-Aufgehen« eine feine, doch entscheidende Verschiebung aufgrund des denkenden »weil«. Im Zen-Spruch blühen die Blumen im Nichts-Raum, wo das Denken noch nicht eingesetzt hat, in jenem Raum, der durch das Nichts, wie aufgeschnitten, unendlich offen erschlossen ist. So heißt es: »Die Blumen blühen, wie sie blühen.« Da zeigen sich die Blumen in der unendlichen Offenheit des Nichts, wie sie blühen, noch ohne Brechung durch das denkende »weil«. Es handelt sich in Wahrheit und Wirklichkeit um das »einfache, reine Aus-sich-Aufgehen«. Es geht dem Zen nicht darum, das Denken überhaupt zu eliminieren. Es kommt darauf an, wo das Denken einsetzt. Es kommt vor allem darauf an, wie das zu Denkende dem Denken gegeben wird. Es geht dabei im Grunde darum, was Denken heißt. Wir wissen nicht, ob unser Denken diese Kardinalfrage überhaupt beantworten kann. Wir haben aber eine Ahnung, die uns zu folgender Überlegung führt. Das Ein25 26 27 28

A. a. O., S. 79, 80. A. a. O., S. 73. A. a. O., S. 71. A. a. O., S. 73.

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fache, worauf es ankommt, wird dem Denken nicht gegeben. Denn das Einfache ist als solches das Undenkbare. Das Einfache als das Un-denkbare kann vielleicht erst dem Un-denken ur-gegeben werden. Das so Ur-gegebene gehört, um eine denk-würdige Wendung Heideggers zu verwenden, zwar »nicht in das Denken, aber vielleicht vor das Denken«. 29 Das vor das Denken gehörende Un-denkbare ist das »Un-vordenkliche«. Dieses ist nichts anderes als das zu Denkende im eigentlichen Sinne. Das zu Denkende ist anders als das Denkbare. Das Denkbare ist schon das Vor-gedachte. Das eigentlich Undenkbare, d. h. das Un-vordenkliche, ist das erst zu Denkende im primären Sinne. Die Erfahrung des vor das Denken gehörende Un-vordenklichen durch das Un-denken gibt dem Denken erst das wirklich zu Denkende, das Denkwürdige. Sonst geht alles im Denken auf, anstatt dass es die Rose, die im Blühen aufgeht, im Blühen aufgehen zu lassen. So denkt sich das Denken allmächtig, alles als denkbar zu denken und alles in Gedachtes aufgehen zu lassen. Das führt folgerichtig zum modernen Nihilismus. Anders verhält es sich mit dem Getroffensein vom Einfachen. Dabei geht es um den Moment der Umkehrung des Denkens zum Un-denken, und zwar gerade um des wirklich zu Denkenden willen, also nicht zur Aufhebung des Denkens. Wir haben versucht, anhand von Heideggers Erörterung des »weil« im Spruch von Angelus Silesius, und im Unterschied dazu, den Ort zu bestimmen, wo es im Zen heißt: »Die Blumen blühen, wie sie blühen«. Es handelt sich um das einfachste Einfache auf dem Un-grund des Nichts bzw. in der unendlichen Offenheit des Nichts, von wo aus das Einfache vor jeglicher Berechnung durch das Denken zur Artikulation kommt: »Die Blumen blühen, wie sie blühen«. Wo ist dann der Mensch? Er ist zu Nichts geworden. Das ist entscheidend. Es ist aber nicht so, dass der Mensch nicht mehr da wäre. Gerade umgekehrt. Er ist wirklich da! Er ist da, indem er sagt: »Die Blumen blühen, wie sie blühen«. Er ist da, d. h. er ist das »da«, die Erschlossenheit, die durch das Nichts unendlich geöffnete Offenheit, worin dieses artikuliert ist: »Die Blumen blühen, wie sie blühen«. DieBlumen-blühen als Wirklichkeit ist in dem Nichts-Raum zum Wort »die Blumen blühen« geworden, zum Menschenwort zwar, aber noch ohne jedes menschliche Tun, ohne jede denkbare Hinzufügung, ohne jede denkende Durchdringung vom Menschen her, so dass die Wirk29

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lichkeit selbst von sich selbst her zum Wort geworden ist. Zwischen Wirklichkeit und Wort steht nichts. So heißt es: »Die Blumen blühen, wie sie blühen«. Die Verdoppelung von »die Blumen blühen« bedeutet hier, dass die Wirklichkeit sich im Nichts spiegelt, wie sie ist. Dieses »wie« ist nichts anderes als das Zeichen für den transparenten Überschuss des Seins. Das ist das Urphänomen der Schönheit, aber abgründig, wie am Anfang gesagt wurde: Spiegelung im Nichts, wie es ist, aber ab-gründig im Nichts. Es geht um das »wie«, nicht um das Blühen als solches. So ist es nicht weniger schön, wenn es heißt: »Die Blumen welken, wie sie welken.« Der Mensch ist da, indem er sagt: »Die Blumen blühen, wie sie blühen.« Nur legt er sich selbst nicht als den Sagenden in das Gesagte, in das Artikulierte hinein. In dem Gesagten findet sich keine Spur des sagenden Menschen. Das ist die höchste Selbstlosigkeit des Menschen, die die Blumen so blühen lässt, wie sie blühen. Aber im Sprechen ist er wirklich da. Die Eigenständigkeit seines Selbst stellt der Mensch nicht dadurch auf die Probe, dass er von sich selbst redet, sondern indem er eine neue, d. h. erst durch ihn erschlossene Artikulation ausspricht. Sowohl das Einfache als auch das Nichts ist gerade wegen des Einfachen, gerade wegen des Nichts, unerschöpflich artikulierbar. Es kommt jedes Mal darauf an, dass einer wirklich eine eigene Artikulation aussprechen und seine Selbständigkeit durch sein eigenes Wort erproben kann. Deswegen fordert der Zen-Meister den Schüler in einer gegebenen Situation unvermittelt heraus: »Sag ein Wort!«. Der Meister wehrt dann, dem unendlichen Nichts entsprechend, jedes Wort des Schülers ab. Auf der Seite des Schülers kommt es ernst darauf an, was er noch sagen kann, wo er in sich nichts mehr zu sagen hat. Es handelt sich bei »die Blumen blühen, wie sie blühen« um eine Artikulation des Einfachen in der unendlichen Offenheit des Nichts, zu dem der Mensch geworden ist. In dem Gesagten erscheint der Mensch nicht, keine Spur des Menschen. Im Sagen ist er aber wirklich da, und zwar als das Sagen selbst. In dieser Weise des Sagens ist die wesenhafte Selbstlosigkeit des Menschen verwirklicht. Das hat der Mensch von den Blumen gelernt, die blühen, wie sie blühen. Deswegen hat der Spruch als solcher einen Existenzbezug für den Menschen, nicht als Anweisung, sondern noch unmittelbarer. Dieses Verhältnis soll noch erklärt werden. Zum Vergleich in dieser Hinsicht wollen wir uns wieder dem Spruch von Angelus Silesius zuwenden. In diesem zeigt sich ein Exis50 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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tenzbezug als Anweisung, wie wir gesehen haben. Das ist unverkennbar im zweiten Vers: »Sie acht nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet.« Der Mensch soll nämlich seiner selbst nicht achten, um wahrhaft und wesenhaft zu leben. Das ist aber im Grunde nur möglich, wenn der Mensch wie die Rose »ohne Warum« ist. Aufgrund dieses Zusammenhangs hat nun auch der erste Vers den Charakter einer Anweisung: »Sei ohne Warum!« Der Zen-Spruch »die Blumen blühen, wie sie blühen« hat keinen zweiten Vers, der eine mögliche Anweisung enthalten würde und damit dem ganzen Spruch den Charakter einer Anweisung verleihen könnte. Nun bedeutet das Fehlen einer Anweisung keineswegs das Fehlen eines Existenzbezuges. Im Gegenteil, der Existenzbezug im Zen-Spruch ist mit dem Fehlen einer Anweisung noch eindringlicher und unmittelbarer. Entsprechend dem Einfachen auf dem Un-grund des Nichts kommt es dem Zen darauf an, die Gegenwartskraft des Blühens unmittelbar auf die Existenz wirken zu lassen. Das Zen fasst dabei nämlich eine ursprüngliche Kraft des Blühen-wieBlühens ins Auge, um durch die Präsenz des Blühens die Ich-heit des Menschen zu durchbrechen und ihn auf die unendliche Offenheit hin zu öffnen. Vorher wurde gesagt, dass im Nichts des Menschen die Blumen blühen wie sie blühen, während jetzt gesagt wird, dass die Präsenz des Blühens die Kraft hat, den Menschen zum Nichts zu durchbrechen. Ein und dasselbe kann sich von der einen oder der andern Seite her ereignen. Beides steht in einer beweglichen Korrelation zueinander. So antwortete z. B. ein Meister dem Schüler bei einer gemeinsamen Bergwanderung, als dieser ihn nach der Wahrheit fragte: »Hörst du den Bach da murmeln?« Ein anderes Beispiel zeigt, wie der Anblick des Blühens der Pfirsichblüten einen Mönch jäh zum Erwachen brachte. Es geht dem Zen also nicht primär um lehrhafte Anweisungen für die Existenz durch die Rose, d. h. am Beispiel der Rose, sondern vielmehr um unmittelbares Betroffensein von den Blumen. Im Anblick dieses einfachen »die Blumen blühen« wird der Mensch von der Präsenzkraft des Anblicks zu Nichts gemacht und wieder zum Leben erweckt, indem er mit den Blumen mitblüht. Dies zeigt das zweite ZenBild. Im Anblick der Blumen findet beim Menschen das Ereignis von Tod und Auferstehung statt. Deswegen fragt der Meister einen Schüler: »Siehst du die Blumen, wie sie blühen?« Indem der Mensch die Blumen sieht, ereignet sich schon alles, was die Existenz bestimmt. Ein Vergleich mit der bekannten Stelle im Matthäus-Evangelium 51 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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(6,25–30, nach der Übersetzung Luthers), in der Jesus von Lilien und Vögeln spricht, könnte zur Klärung der zen-buddhistischen Sicht von Natur und Existenz beitragen: Darum sage ich euch: Sorget nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet. … auch nicht um eueren Leib, … Sehet die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater nährt sie doch. … Schauet die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, dass auch Salomon in aller seiner Herrlichkeit nicht bekleidet gewesen ist wie derselben eine. So denn Gott das Gras auf dem Felde also kleidet, …

In seinen Worten sind für Jesus die Vögel und die Lilien Beispiele, an denen er zweierlei anschaulich lehrt: Erstens soll man sich nicht um sein Leben sorgen. Zweitens zeigt sich Gottes Walten darin, wie Gott die Vögel nährt, wie Gott das Gras kleidet, und wie Gott sich um das Leben des Menschen sorgt. Diese Redeweise ist einfach, anschaulichkonkret und der Inhalt der Rede ist entscheidend für die Gott-MenschBeziehung. Für Jesus ist das Beispiel der Vögel und der Lilien ausdrücklich lehrhaft. Zwar gibt es in der Zen-Literatur Belehrungen und Anweisungen für die Existenz. In einer konkreten Situation drückt sich das Wesen des Zen aber anders aus. Ein Meister würde dann zum Schüler einfach sagen: »Sehet die Vögel unter dem Himmel an! Schauet die Lilien auf dem Felde!« Oder noch einfacher: »Die Vögel fliegen, die Lilien wachsen« – ohne irgendeine Anweisung. Er lehrt nicht, was wir an Vögeln und Lilien lernen sollten. Falls nun durch diese Worte die Präsenz der fliegenden Vögel, die Präsenz der blühenden Lilien oder einfach die Präsenzkraft des Fliegens oder des Blühens unsere Ich-Geschlossenheit durchbrochen hat, dann könnte das ein Ereignis sein, in dem das Zen den entscheidenden Anfang des wahren Lebens sieht. Erst dann setzt die Sprache als die Selbstartikulation des Ereignisses ein, die zugleich unsere Selbstgewahrnis ist. Eine hinzugefügte Lehre oder Anweisung würde aus der Sicht des Zen die Präsenzkraft der fliegenden Vögel und der blühenden Blumen schwächen. Dann würden »die Vögel unter dem Himmel und die Lilien auf dem Feld« bloß als Beispiel für die betreffende Lehre verstanden werden, anstatt unmittelbar erlebt zu werden. Wenn hingegen die Präsenz der fliegenden Vögel und der blühenden Blumen uns unmittelbar trifft, sind sie etwas völlig anderes als 52 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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die Vögel und Blumen, wie wir diese üblicherweise sehen. Wie anders es sein könnte, sehen wir in einem Erlebnis von Rainer Maria Rilke aus dem Jahre 1913. 30 Er gedachte der Stunde im jenem, anderen südlichen Garten (Capri), da ein Vogelruf draußen und in seinem Innern übereinstimmend da war, indes er sich gewissermaßen an der Grenze des Körpers nicht brach, beides zu einem ununterbrochenen Raum zusammennahm, in welchem, geheimnisvoll geschützt, nur eine einzige Stelle reinsten, tiefsten Bewusstseins blieb. Damals schloss er die Augen, um in einer so großmütigen Erfahrung durch die Kontur seines Leibes nicht beirrt zu sein, und es ging das Unendliche von allen Seiten so vertraulich in ihn über, dass er glauben durfte, das leichte Aufruhn der inzwischen eingetretenen Sterne in seiner Brust zu fühlen.

Hier durchbricht das Erlebnis eines Vogelrufes die Trennwand von Innen und Außen eines Menschen und erschließt dadurch einen ununterbrochenen, reinen, tiefen und klaren Raum, in dem das Unendliche vertraulich fließt. Wir haben hier ein treffendes Beispiel dafür, dass ein Vogelruf völlig anders erfahren werden kann, als wie wir ihn üblicherweise hören. Welches ist das wirkliche Hören, Rilkes Erlebnis oder unser normales Hören? Es erhebt sich die Frage, ob es sich bei Rilke um ein ausgefallenes Erlebnis handelt, oder ob es sich vielmehr so verhält, dass unser anscheinend normales Hören eigentlich kein wirkliches Hören ist? Oder ob es nicht so ist, dass unser normales Hören auch ein Erlebnis ist, wenn auch nur ein Mini-Erlebnis, welches sofort in Vergessenheit gerät aufgrund der gleichzeitig einsetzenden Reflexionen: »Wir hören Vögel singen, wir hier und die Vögel dort.« Wir möchten die Frage offen lassen und uns im Zusammenhang mit Rilkes Erlebnis dessen erinnern, was Meister Eckhart seinerseits über die Grund-Erfahrung schrieb: »Wer in diesen Grund je nur einen Augenblick lang lugte, dem Menschen sind tausend Mark roten, geprägten Goldes (soviel) wie ein falscher Heller.« 31 Rilkes Erlebnis wirkt sich entscheidend auf die Erfahrung des In-der-Welt-Seins bei ihm aus. Er erfährt sich selbst, die anderen Menschen und die Dinge jetzt anders. Der Unterschied von Innen und Außen wird neu artikuliert, indem die 30 31

R. M. Rilke, Erlebnis (Spanien, Anfang 1913), in: Ausgewählte Werke. Bd. II., S. 267. DW, Bd. I., S. 98 u. 450.

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Trennwand durchbrochen wird. So kommt Rilke zur Erfahrung: »Überall Lust zu Bezug und nirgends Begehren.« Vor allem ist in diesem Zusammenhang der echte Rilkesche Begriff »Weltinnenraum« zu nennen. Durch alle Wesen reicht der eine Raum; – Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still durch uns hindurch. O, der ich wachsen will, ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum. 32 »Die Vögel fliegen still durch uns hindurch. Ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.« Dieses ereignet sich im »Weltinnenraum«, wo Rilke sich selbst, die Vögel und den Baum in Einem als Wahrheit und Wirklichkeit erfährt. Zum »Weltinnenraum« sagt Bollnow: Wir müssen dieses Wort ganz ernst nehmen. … Es gibt einen inneren seelischen Raum der Welt, einen Innenraum der Außenwelt, der zugleich in irgendeiner noch zu bestimmenden Weise zugleich mit dem Inneren der Seele des Menschen zusammenhängt, so dass sich eine seltsame Kommunikation zwischen den Vorgängen im Inneren des Menschen und denen im Innern der Außenwelt ergibt. 33

Rilke sagt ganz einfach und klar: »Die Vögel fliegen still durch uns hindurch. Ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.« Das Entscheidende in unserem Zusammenhang ist die Wirklichkeit der Kommunikation zwischen Innen und Außen: »Ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.« Wie ist das überhaupt möglich geworden? Dadurch, dass hier die Trennwand von Innen und Außen durchbrochen wurde. Was ist diese Trennwand von Innen und Außen? Es ist nichts anderes als das Ich, das mein Innen und mein Außen trennt, genauer gesagt: das Ich als das geschlossene Ich-bin-ich. Das Ich wurde bei Rilke von einem Vogelruf auf einmal durchbrochen. Der Dichter wurde unendlich geöffnet, für die unendliche Offenheit, die nun als Vogelruf kosmisch tönt. Aber nein, in dieser Gegenwart kann nicht von einem Vogelruf die Rede sein – das kommt erst später im »Gedenken« wieder. In dem AuR. M. Rilke, aus Es winkt zu Frühling fast aus allen Dingen. Zitiert aus O. F. Bollnow, Rilke, W. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1951, S. 167. 33 O. F. Bollnow, a. a. O., S. 167. 32

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genblick ist es lautere kosmisch tönende, unendliche Offenheit, welches Tönen zugleich die eigene, selbst-lose volle Erfüllung des Dichters ist. Mit diesem Erlebnis wandelt sich bei ihm alle Erfahrung in die gleiche neue Qualität. So heißt es jetzt: »Die Vögel fliegen durch uns hindurch; ich sehe hinaus, und in mir wächst der Baum«. Es handelt sich nicht um eine bildhafte innere Seelenlandschaft. In Wirklichkeit fliegen die Vögel unter dem Himmel durch mich hindurch. Der Baum im Garten draußen wächst in mir. Diese offene Verbindung von Innen und Außen konnte sich erst dadurch verwirklichen, dass das geschlossene Ich als die Trennwand durchbrochen wurde. Der so verstandene Vers erinnert uns an den Zen-Spruch: »Die Blumen blühen, wie sie blühen.« Analog zu Rilkes Gedicht könnte es heißen: »Die Vögel fliegen, wie sie fliegen. Der Baum wächst, wie er wächst.« Die Vögel fliegen still durch uns hindurch. Die Vögel fliegen, wie sie fliegen. Diese beiden Zeilen wollen wir hier ohne vergleichende Erklärung im Nebeneinander belassen. Ein Zen-Meister wäre bereit, anhand der Zeile Rilkes eine Zen-Aufgabe (ein sog. Koan) zu stellen: »In dieser Zeile ist Überflüssiges. Kannst du es streichen?« Er ist eventuell auch noch mit der zweiten Zeile als Zen-Spruch unzufrieden und fragt: »In dieser Zeile ist auch noch Überflüssiges. Kannst du es streichen?« In Analogie und im Vergleich zu Rilkes Vers formulierten wir als ein Zen-Spruch: »Die Vögel fliegen, wie sie fliegen.« Einen ähnlich klingenden Spruch haben wir tatsächlich in der Geschichte des Zen. Es handelt sich um einen Spruch des japanischen Großmeisters Do¯gen (1200–1253). Der Spruch besteht aus vier Wörtern, d. h. vier chinesischen Schriftzeichen, in der Reihenfolge: »Vögel-fliegen-wie-Vögel.« Es geht hier wieder um das »wie«. Es ist äußerst schwierig, den Sinn dieses Spruchs in einem deutschen Satz wiederzugeben, da eine Doppeldeutigkeit von extremer Polarität darin enthalten ist. Wenn man den Sinn zunächst mit zwei verschiedenen Sätzen wiederzugeben versucht, so könnte es paraphrasierend heißen: Erstens fliegen die Vögel, oh, so sind wahrlich Vögel. Dieser Sinn kommt aus dem »Überschuss des Seins auf dem Hintergrund des Nichts«. Zweitens fliegen die Vögel, als ob es Vögel wären, während es eigentlich das Nichts ist. Dieser Sinn kommt aus der Transparenz zum Nichts. In der Übersetzung müsste man diese zwei Sätze nebeneinander stellen, während der Ori55 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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ginalspruch die beiden Aussagen mit einem Satz in Sinnverschmelzung darstellt. Das geschieht kraft des »wie«, und gerade darauf kommt es im Originalspruch an. Durch diese Sinnverschmelzung erweckt das Original ein Gefühl von »real-irreal/ irreal-real«, höchst real und zugleich ganz traumhaft. Die Schönheit des Spruchs liegt in eben dieser abgründigen Doppeldeutigkeit des »wie«. An Aussagen wie z. B. »die Blumen blühen, wie sie blühen« oder »die Vögel fliegen, wie sie fliegen« wird häufig kritisiert, der ZenBuddhismus spreche immer nur von der Natur, nicht aber von der Transzendenz, nicht von dem Menschen. Außerdem sei nach der Kritik die Natur, die schöne Natur, von der das Zen sagt: »die Blumen blühen, wie sie blühen«, nicht mehr in der heutigen Welt zu finden. Was das Zen sagt, gelte heute nicht mehr. Um diesem Missverständnis zu begegnen, haben wir schon mehrfach den Bezug zu Transzendenz und Existenz in Sätzen wie »die Blumen blühen, wie sie blühen« hervorgehoben. Wenn im Zen häufig von »Natur« die Rede ist, so sollte man bedenken, dass es sich um den sino-japanischen buddhistischen Terminus Shizen oder Jinen handelt, der dem deutschen Begriff der Natur nicht in jeder Hinsicht entspricht. Der buddhistische Begriff »Natur« besagt soviel wie: »So sein, wie es von sich selbst her ist«. Hier handelt es sich nicht um die Natur als Gegenstandswelt bzw. um Naturdinge, nicht um die Natur als eine bestimmte Region des Seienden, sondern um die Wahrheit des Seins alles Seienden, wie dieses ist. Wenn das Zen von Natur spricht, so handelt es sich nicht um einen Bereich, der sich von Gott, Mensch u. a. unterscheidet. In Zen-Versen wie »die Blumen blühen, wie sie blühen« oder »die Vögel fliegen, wie sie fliegen« ist zwar von Naturphänomenen die Rede, wie es so scheint, die eigentliche Aussage jedoch liegt im »wie«. Und dieses »wie« betrifft unmittelbar den Menschen. Wenn der Mensch in seinem Nichts, auf dem Un-grund des unendlichen Nichts, also nicht vom Ich her, Blumen so erfährt, wie sie von sich selbst her blühen, d. h. wenn im Nichts des Menschen Blumen so blühen, wie sie von sich selbst her blühen, so west der Mensch in eins damit in seiner eigenen Seinswahrheit. Damit wird auf Grund der Selbst-losigkeit des Menschen eine ganz spezifische Verbindung des subjektiv Existentiellen und des objektiv Sachlichen konstatiert. Wenn daher im Zen davon die Rede ist, dass die Blumen blühen, oder die Vögel fliegen, so ist damit gleichzeitig ein direkter Existenzbezug gemeint. Der Begriff »Natur« im Sinne von So-wie-von-sich-selbsther-Sein im chinesisch-japanischen Buddhismus ist in der Tat gleich56 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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bedeutend mit dem Begriff »Wahrheit« in der maha¯ya¯na-buddhistischen Auffassung, d. h. mit tathata¯ im Sanskrit. Tathata¯ bedeutet wörtlich übersetzt »So-wie-dies-heit« oder schlicht »So-heit« (Übersetzung von Frauwallner). »So« beinahe in dem Sinne, wie wenn wir sagen: So ist es! Das »so« in der So-heit als buddhistischer Wahrheit besagt gleichzeitig die Unverborgenheit der Präsenz (»so ist es«) und das ursprüngliche Begreifen der Präsenz (»so ist es«). Es handelt sich hier also um einen ursprünglichen Wahrheitsbegriff noch vor der Differenzierung zu Seinswahrheit einerseits und zur Wahrheit von Sätzen bzw. Erkenntnissen andererseits. Im chinesischen und japanischen Buddhismus hat »Natur« diese Bedeutung von »Wahrheit« erst auf Grund des Nichts bekommen. Im »wie« und als das »wie« von »die Blumen blühen, wie sie blühen« er-scheint die So-heit konkret und zugleich transparent. Zum Schluss des ersten Teils wollen wir noch einmal auf Angelus Silesius zurückkommen: »Die Ros ist ohn warum; sie blühet, weil sie blühet.« »Die Rose, welche hier dein äußeres Auge sieht, die hat von Ewigkeit in Gott also geblüht.« So ist die Rose bei Angelus Silesius in ihrem Sein bis hin zu Gott transparent. Die Rose, die nun in Gott als Gott »ohne Warum« blüht, ist aber gerade dieselbe, die da »dein äußeres Auge« als Sinnesorgan sieht. Dabei ist die sichtbare Wirklichkeit der Rose eine Konkretion des Lebens Gottes, wie es in sich blüht. Der in sich »ohne Warum« blühende Gott ist »Fleisch geworden« und bietet sich als »die Rose hier« dem äußeren Auge dar. Dabei ist »die Rose hier« doch mit dem göttlichen Seinszeichen »ohne Warum« ausgezeichnet. Dadurch hängt dieses Geschehen um die Rose mit dem Existenzereignis des Menschen zusammen. Im Vergleich damit klingt es im Zen entscheidend einfacher: »Die Blumen blühen, wie sie blühen.« Die Blumen sind hier unmittelbar bis zum Nichts hin transparent, es braucht kein »ohne Warum«. In eins damit ist das Nichts als die Blume hier ganz Wirklichkeit geworden, auch ohne »weil«. Es handelt sich um das Konkretisieren des Nichts. Angelus Silesius erblickt die Rose transparent hin zu Gott, so dass Gott in der Rose konkretisiert ist. Das Zen erblickt die Blumen transparent hin zum Nichts, das Nichts ist in den Blumen konkretisiert, wobei das Nichts in der Abgeschiedenheit, also im Nichts des Menschen, gegenwärtig ist. Im Menschen ereignen sich Tod und Auferstehung des Selbst im Moment des Anblicks von »die Blumen blühen«. 57 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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In der westlichen Geistesgeschichte findet sich eine Analogie zum Nichts in diesem Zen-Kontext an jener Stelle, wo Meister Eckhart vom Nichts der Gottheit spricht. Eckhart kommt es auf den »Durchbruch durch Gott hindurch zu dem Nichts der Gottheit« an, in welchem die Seele erst »ledig und frei« aus ihrem eigenen Grund lebt. Für Eckhart liegt die Natur abseits, weil sein Anliegen die unmittelbare Beziehung von »Seele und Gott« ist. Die Entsprechung zum Zen-Spruch »die Blumen blühen, wie sie blühen« in der westlichen Welt wäre der Vollzug jenes Eckhartschen Durchbruchs zum Nichts der Gottheit in der konkreten Natur und das damit zusammenhängende Ereignis von Tod und Auferstehung des Selbst. In seinem eigenen Kontext geht es dem Zen um die Zusammengehörigkeit und das Einander-Durchdringen des Nichts und des Einfachen. Das Einfache artikuliert sich dann auf dem Un-grund des Nichts, d. h. in der unendlichen Offenheit des Nichts: »Die Blumen blühen, wie sie blühen«. Dabei spiegelt sich das Nichts seinerseits in der nun erschlossenen Artikulationsebene: »Die blühenden Blumen blühen nicht.« Im Zusammenklang der beiden Artikulationen klingt schön und abgründig das Nichts an. In dem ersten Teil wurden westliche Entsprechungen aus Dichtung, Theologie, Philosophie und Religion herangezogen, um den Ort zu bestimmen, von dem aus ein Durchblick zum Zen erlangt werden konnte. Bei Angelus Silesius, Meister Eckhart, Heidegger, Jesus und Rilke haben wir verschiedene Ausgangspunkte zum Verständnis des Zen gefunden. Der hier in den Mittelpunkt gestellte Zen-Spruch »die Blumen blühen, wie sie blühen« braucht nämlich zur Erörterung einen Vergleich auf verschiedenen Ebenen. Das heißt zugleich, dass der Ort des Zen-Spruchs noch vor jeder Differenzierung in die Bereiche von Religion, Theologie, Philosophie und Dichtung erschlossen werden sollte. In der Welt des Zen kann dieser Spruch ein religiöses Wort, ein Gedichtvers oder auch ein Satz der Erkenntnis sein. Diese Vielheit des Einen ist bezeichnend für das Zen. Deswegen gehört die Erscheinung des Zen nicht nur in den religiös existentiellen Bereich, sondern seinem Wesen nach ebenso sehr in den Bereich der Schönheit.

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2. Teil Renku ›Anschluss-Gedicht‹ Im ersten Teil wurde das »wie« als die Urschönheit für den ZenBuddhismus wesentlich in dem gegenseitigen Durchdringen des Nichts und des Einfachen erblickt und erörtert. Das betreffende gegenseitige Durchdringen wirkt auch als Prinzip in verschiedenen Bereichen der Kunst, das in Japan meistens als Do¯ (»Weg«) bezeichnet wird, wie z. B. im Tee-Weg, Blumen-Weg, Schreib-Weg, Gedicht-Weg. Ein typisches Beispiel ist die sogenannte Schwarz-Weiß-Tuschmalerei. Für unsere weiteren Ausführungen wollen wir im Horizont der Sprache bleiben und nun eine unter dem Einfluss des Zen-Buddhismus voll entfaltete besondere Gedichtform in Betracht ziehen. Sie heißt Renku (etwa »Anschluss-Gedicht«) und bezieht sich auf Gedichte, bei denen mehrere Dichter je eine Zeile zu einem spezifischen Zusammenhang verknüpfen. In Entsprechung zum Einander-Durchdringen des Nichts und des Einfachen braucht die Wahrheit eine Doppelartikulation, um sich zum Ausdruck zu bringen, wobei die Bewegung des »sich zum Ausdruck bringen und sich wieder in das Nichts zurücknehmen« zur Wahrheit selbst gehört. Die Doppelartikulation lautet im Extremfall, wie wir im ersten Teil sahen: »Die Blumen blühen, wie sie blühen«. Und: »Die blühenden Blumen blühen nicht«. Darin erklingt jener offene Raum, in dem die Artikulation stattfindet. Das Zusammenklingen des so verschieden artikuliert asymmetrisch aufeinander Abgestimmten lässt die Stimme des unendlichen Nichts anklingen. Wenn nun jede mögliche Artikulation jeweils von einer anderen Person, von einem anderen Dichter entworfen wird, so dass dadurch das erwähnte Zusammenklingen unmittelbar zwischenmenschlich-gemeinschaftlich zustande kommt, so ist die Grundlage für die Ausbildung der charakteristischen Gedichtform des Renku gegeben. Dabei stehen nicht so sehr die einzelnen Zeilen im Vordergrund, d. h. die jeweilige Aussage des Einen und des Anderen, sondern vielmehr das Geschehen im Zwischenraum. In unserem Beispiel des Zen-Spruchs stellt sich das so dar: Der Eine sagt zum Anderen: »Die Blumen blühen, wie sie blühen.« Letzterer erwidert dem Ersteren: »Die blühenden Blumen blühen nicht.« Daher entsteht ein merkwürdiges Zusammenklingen, wie im Chor, zwar ganz asymmetrisch, aber – oder gerade deshalb – in vollkommener Entsprechung. Auf der zwischenmenschlichen Ebene ist das Renku der Ort, wo sich Herz und Herz berühren. 59 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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Im ersten Teil ging es um die Natur, wie sie sich im »wie« zeigt, das die Zusammengehörigkeit des Nichts und des Einfachen darstellt. Im zweiten Teil unserer Ausführungen geht es um den Menschen, wie er in seiner Zwischenmenschlichkeit dieselbe Zusammengehörigkeit im Dialog ausdrücklich vollzieht. In der Natur wie im Menschen handelt es sich um dieselbe Zusammengehörigkeit des Nichts und des Einfachen. Diese Zusammengehörigkeit waltet unmittelbar in der Natur und als Natur, während der Mensch sie als solche vollzieht. Im Übergang vom Walten der Natur zum Vollzug durch den Menschen findet eine Steigerung von der einfachen zur potenzierten Zusammengehörigkeit statt. Der Mensch ist in seinem Sein nichts anderes als diese potenzierte Zusammengehörigkeit. So verstanden offenbart der Mensch gleichzeitig die Ambivalenz des Menschseins wie folgt. Als eine Möglichkeit kann der Mensch durch die Potenzierung tiefer in die Natur eingehen, so dass sich in ihm die Natur als Natur zeigt, wie wir dies am Beispiel des »wie« im Zen-Gedicht gesehen haben. Auf diese Weise realisiert der Mensch eben an der so geoffenbarten Natur seine eigene Selbst-losigkeit, um die offene Selbstständigkeit des Selbst in der Zwischenmenschlichkeit zu erreichen. Als die andere Möglichkeit kann der Mensch, wie es zumeist der Fall ist, sich durch diese Potenzierung von der Natur abheben, so dass er sich nun als Weltsubjekt und die Natur höchstens als Umwelt versteht, wodurch diese gewissermaßen in der menschlichen Konstitution aufgeht. Das bewirkt eine Verdrehung der Natur zur Unnatur. Schließlich wird der Mensch als Urheber dieser Verdrehung selber in sie hineingezogen und entmenschlicht. So muss der Mensch einen Weg (Do¯) beschreiten, um die verdrehte Potenzierung zunächst einmal zurechtzudrehen und um so zur einfachen Natur zurückzufinden. Durch diese imitatio naturae wird der Mensch in der Selbst-losigkeit die Freiheit zum Selbst wiedergewinnen. Dieser Weg ist im ostasiatischen Verständnis die Kunst schlechthin. »Wir müssen die Sache des Bambus vom Bambus, die Sache der Kiefer von der Kiefer lernen. Das ist der Weg der Kunst«, sagt der Heiku- und Renku-Meister Basho¯ (1664–1694). Die Kunst ist der Weg (Do¯), der uns zur Einfachheit der Natur zurückführt und uns von daher frei macht für das Selbst, für das Spiel des Doppelselbst. Hier öffnet sich ein Zugang zur sprachlichen Kunstform des RenkuGedichtes. Was heißt nun Renku? – Das Wort Ren bedeutet »sich an60 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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einander anschließen und in einem Zusammenhang stehen«. Das Wort Ku, wie es auch im bekannten Terminus Hei-ku vorkommt, bedeutet »einen kurzen, aber Entscheidendes sagenden Satz«, in einer knappen, spruchartig-poetischen Form. Beim Renku handelt es sich um ein Zusammenwirken von mehreren Dichtern (meistens drei, manchmal vier). Es ist eine nach Form und Stil streng und genau geregelte, dichterische Zusammenarbeit. Drei Dichter – nennen wir sie A, B und C – finden sich zum Renku zusammen. A verfasst eine erste Gedichtzeile, die aus 5, 7 und 5 Silben besteht und als »lange Zeile« bezeichnet wird. Daran anschließend schreibt B die zweite Gedichtzeile, die aus 7 und 7 Silben besteht und als »kurze Zeile« bezeichnet wird. Dann verfasst C die dritte Zeile, dieses Mal wieder eine Langzeile aus 5, 7 und 5 Silben, wie in der ersten Zeile. Das Renku beginnt also mit einer Langzeile, auf die Kurz- und Langzeilen im Wechsel folgen, bis ein Gedicht von 36 Zeilen entstanden ist. Dabei wechselt der Autor von Zeile zu Zeile, und für gewöhnlich bleibt die in der ersten Runde festgelegte Reihenfolge konstant. Es geht aber nicht darum, dass diese 36 Zeilen zusammen ein einheitliches Gedicht ergeben sollen. Die eigentliche Bedeutung liegt in etwas anderem. Um der Anschaulichkeit willen sei hier ein klassisches Beispiel aus der Renku-Dichtung angeführt. Es handelt sich um einen Auszug aus einem Renku von 36 Zeilen, das von Basho¯ und drei seiner Schüler verfasst wurde: 1) Das steinerne Wasserbecken, moosbedeckt, neben Blumen. 2) Der Ärger von heute morgen verflüchtigte sich von selbst. 3) Bei einer Mahlzeit für zwei ganze Tage gegessen. 4) Kalter Nordwind auf der Insel, fast schneit es. 5) Abends Aufstieg zum Bergtempel, um Lichter anzuzünden. Dieses Beispiel soll uns zunächst einen unmittelbaren Eindruck von einem Renku-Gedicht vermitteln. Wir müssen aber im Folgenden zunächst die formale Struktur sorgfältig analysieren. Dies ist nämlich eine unabdingbare Voraussetzung für das Verständnis des Renku. Außerdem ist diese Struktur bedeutsam in Hinsicht auf Probleme der Sprache und der Zwischenmenschlichkeit. Beginnen wir noch einmal: A spricht eine erste Zeile (1), die in sich schon ein Kurzgedicht ist. Dann wird diese Zeile entweder von einem Schreiber, oder wenn kein Schreiber anwesend ist, vom Dichter 61 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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selber niedergeschrieben. Wenn sie geschrieben und so festgelegt ist, wird sie noch einmal laut vorgelesen. An diesem Punkt setzt der zweite Dichter ein. B versucht nun seinerseits einen Einzeiler zu verfassen, und zwar in Entsprechung zur Zeile (1). Die Zeile (2) muss als solche wieder ein in sich selbstständiges Gedicht sein. Dabei soll die Entsprechung zur vorhergehenden Zeile (1) keine unmittelbar anschließende, direkte Beziehung sein, weder sachlich noch sprachlich, sondern ihr »irgendwie« entsprechen, und zwar so, dass sich dadurch zwischen den Zeilen (1) und (2) eine neue Welt öffnet, eine die beiden Zeilen umgreifende Welt, welche die Zeile (1) alleine nicht ahnen lassen konnte. Dazu muss B auch die feinsten Bedeutungsnuancen der Zeile (1) erfassen und durch das Anfügen seiner eigenen Zeile (2) eine Art Sinnverschmelzung mit der vorigen Zeile zustande bringen, aus der eine neue, beiden Zeilen gemeinsame Welt entsteht. Die Initiative zum Entwurf dieser neuen Welt liegt bei B, dem die Zeile (1) dabei aber bestimmte Schranken setzt. Es handelt sich um eine vollständige, gegenseitige Durchdringung von Bedingtheit und Freiheit, um eine Art »geworfenen Entwurfs«, wobei es gilt, die Geworfenheit selbst entwerfen zu können. Beim Renku kommt es wesentlich darauf an, dass Dichter B die vorgegebene Zeile (1) neu interpretieren kann. Er bringt seine Deutung jedoch nicht als interpretierender Kommentar zum Ausdruck, sondern durch das Hinzufügen seiner eigenen Zeile. Er bewegt sich also auf derselben dichterischen Ebene. Seine Interpretation der Zeile (1) wird für uns erst durch den neuen Horizont sichtbar, den er mit Zeile (2) erschlossen hat. Mit dem Niederschreiben der Zeile (2) kommt die Arbeit von B zum Abschluss. Die neue Zeile, selbst eine einzeiliges Gedicht, hat nun als objektives Gebilde ein eigenes Dasein. Gerade dadurch erlangt die betreffende Zeile ihrerseits eine Offenheit für mögliche neue Interpretationen, unabhängig von der ursprünglichen Vorstellung des Dichters B. Die niedergeschriebene und damit festgelegte Zeile wird nun vorgelesen, zunächst zum gemeinsamen Genuss der vollendeten Zeile, zugleich aber auch als Zeichen dafür, dass der dritte Dichter an der Reihe ist. Nun versucht C eine dritte Zeile hinzuzufügen. Erst jetzt wird das Charakteristische des Renku voll offenbar: In Entsprechung zur Zeile (2) fügt er jetzt die Zeile (3) hinzu, so dass zwischen den Zeilen (2) und (3) durch seine Initiative wiederum eine neue Welt entsteht, die 62 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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ganz verschieden von der früheren Welt zwischen den Zeilen (1) und (2) sein sollte. Beim Verfassen der Zeile (3) ist ihm Zeile (2) in deren Entsprechung zu Zeile (1) unveränderlich vorgegeben. Das ist für C eine unabdingbare Voraussetzung und stellt ihn vor die Frage, ob er in der alten Welt befangen bleibt oder anhand der alten eine neue, nämlich seine Welt öffnen kann. Für das Hinzufügen der Zeile (3) muss C eine dreifache Vorarbeit leisten: a) Verstehen der Zeile (2); b) Interpretation der Zeile (2) auf jene Welt hin, die durch die Entsprechung der Zeilen (2) und (1) erschlossen wurde; c) Neuinterpretation der Zeile (2) im Hinblick auf den Entwurf einer neuen Welt. Zu (a): Beim Anschluss der Zeilen soll jede Zeile ein einzeiliges Kurzgedicht für sich selbst sein. Entsprechend kommt es dem Dichter C zunächst auf das Verstehen dessen an, was die Zeile (2) an sich bedeutet oder vielmehr bedeuten kann. Zu (b): Die vorgegebene Zeile (2) ist keine isolierte Größe. Sie befindet sich schon in einer bestimmten Welt – in der Welt, die durch ihre Entsprechung zur Zeile (1) erschlossen wurde. Somit muss C die Zeile (2) auch auf diese Welt hin interpretieren, wobei der Bedeutungszusammenhang der Zeilen (1) und (2) eine bestimmte Sinnrichtung bzw. Nuance der Zeile (2) besonders hervorhebt. Es handelt sich für ihn um eine Versenkung in die vor ihm entfaltete Welt, und zwar durch eine Interpretation der Zeile (2), die den Zugang zu dieser Welt darstellt. So macht er sich mit dieser Welt vertraut und muss sich diese Welt vollständig vergegenwärtigt haben, um nun seinerseits in Entsprechung zu Zeile (2) eine neue, andere Welt zu erschließen. Zu (c): Die Hauptarbeit von C liegt in der dritten Stufe. Er muss die Zeile (2) um-interpretieren, d. h. er muss der Zeile (2) eine andere Bedeutung abgewinnen, als sie in ihrer Entsprechung zur Zeile (1) hatte. Dichter B hat nicht absichtlich eine »doppeldeutige« Zeile geschaffen. Er schrieb seine Zeile in einer bestimmten Sinnrichtung, d. h. in der Entsprechung zur Zeile (1). Dichter C muss die Zeile (2) um-interpretieren, indem er durch den Entwurf eines anderen, neuen Sinnhorizontes tatsächlich eine »neue« Bedeutung der Zeile (2) »schafft«. Diese groß angelegte Arbeit der Neu-Interpretation ist für Dichter C die entscheidende Aufgabe. Die »neue« Bedeutung zeigt sich ihrerseits erst in der neuen Welt, die durch die Fortsetzung erschlossen wird. Es kommt dem Dichter C auf eine Neu-Interpretation an, die so weit geht, dass er dadurch der alten Welt vollkommen entrinnt. Das tut er um einer 63 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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eigenen Welt willen, in der nun auch die Zeile (2) eine andere, neue Bedeutung erhält. Die dreifache Vorarbeit von C, nämlich Verstehen, Interpretieren und Neu-Interpretieren, läuft unterschwellig ab und wird nicht stufenweise vollzogen. Das einzige, was Dichter C ausdrücklich vollzieht, ist Folgendes: seine eigene Zeile finden, und zwar in einer Entsprechung zur vorhergehenden, von ihm neu interpretierten Zeile (2). Dadurch öffnet sich, dichterisch zusammenklingend, zwischen den Zeilen (2) und (3) eine neue, andere Welt. Oder anders gesagt: Indem C seinen Einzeiler spricht, erschließt sich durch die dichterische Entsprechung zur vorhergehenden Zeile eine neue Welt, zu der nun auch eine neue Bedeutung der Zeile (2) gehört. Von Dichter B her gesehen kann dieser Vorgang folgendermaßen wiedergegeben werden: Das Verhältnis von B zu C ist zweifach: Einmal stellt B dem Dichter C mit seiner Zeile die Frage: »Wie interpretierst Du meine Zeile? Kannst Du meine Zeile wirklich so neu interpretieren, dass Du meiner Welt entrinnen und dir eine eigene Welt erschließen kannst? Wenn Du dazu nicht imstande bist, bleibst Du nur ein Teil meiner Welt, bist Du nicht Du selbst.« Das bedeutet aber auch: B stellt C seine Zeile ganz selbst-los für eine mögliche Neu-Interpretation zur Verfügung, ohne auf seiner eigenen Auffassung als Kriterium der Interpretation beim Hinzudichten zu bestehen. Dichter B wird nie sagen: das meinte ich nicht, das ist falsch, das ist bloß ein Missverständnis. Er ist vielmehr bereit, jegliche Interpretation, auch die überraschendste, hinzunehmen, und zwar in der Hoffnung, dass er sich in einer fremden Interpretation neu wiederfinden wird. Wenn es C gelingt, in der dargestellten Weise eine treffende Zeile hinzuzufügen, verwandelt sich die Zeile (2). Dichter B erlebt zu seiner Freude, wie sich in seiner Zeile eine neue Welt auftut. Die neue Zeile (3) wird alsdann niedergeschrieben und vorgelesen. Damit ist A wieder an der Reihe. Nun gelingt es nicht immer und nicht jedem Dichter, eine treffende Zeile der vorhergehenden zuzufügen. Seine Zeile mag in sich als einzeiliges Gedicht schön sein; sie mag der vorhergehenden gut entsprechen. Und doch kann es sein, dass diese Entsprechung keine neue Welt erschließt. Statt eine Neu-Interpretation zuwege zu bringen, bewegt sich C immer noch in der alten, von B erschlossenen Welt. Er bleibt in dieser Welt befangen, umschlossen vom bereits vorher geöffneten Horizont. Eine solche Zeile wird in der Renku-Poetik 64 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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als shin-ku, d. h. »verwandte Zeile« (verwandt mit der früheren Welt) bezeichnet, während eine treffende Zeile mit der Kraft zur Öffnung einer neuen Welt so-ku, d. h. »fremde Zeile« bzw. »Zen-Zeile« heißt. Ein Dichter muss in einer gegebenen Situation eine »fremde Zeile« finden können, sonst hat er sich selbst nicht bewährt. Es kommt beim Hinzufügen sowohl auf Entsprechung, als auch auf selbständiges Schaffen an. Bei jeder Fortsetzung kommt es darauf an, dass eine neue Welt erschlossen wird. Ein gelungenes Weiterdichten bedeutet einen Weltenwechsel. Auf diesen kommt es beim Renku an. Die 36 Zeilen eines Renku-Gedichtes bilden keine einheitliche, durchgehende Sinngestalt, sondern stellen ein Weltenwechselspiel dar, das mehrere Dichter gemeinsam und abwechselnd spielen. Von entscheidender Bedeutung ist dabei, was zwischen den Zeilen »spielt«. Das »Zwischen« ist einerseits das wirkliche Ereignis, wie wir oben gesehen haben, anderseits ist diese »Leere« zwischen den Zeilen der freie, unendlich offene Raum, sozusagen das Nichts, wo sich das Welten-Wechsel-Spiel ereignet, und wohin es sich wieder zum neuen Ereignis auflöst. Im Renku handelt es sich also um ein Weltenwechselspiel im unendlich offenen Raum des Nichts. Dabei spielt jeder der Beteiligten die Hauptrolle, die Rolle des »Herrn« der Welt, oder – genauer gesagt – er muss sie spielen können. Sonst ist er nicht er selbst. Die Rolle des Herrn besteht darin, angesichts der durch die vorangehende Zeile unabdingbar gegebenen Welt mit einer »fremden Zeile« aus eigener Initiative eine neue Welt zu öffnen. Darin wird er der vorhergehenden Zeile eine neue Bedeutung abgewinnen und erlebbar machen, um anschließend die Rolle des Herrn einem andern zu übergeben. Im Renku–Zusammenhang ist jeder der beteiligten Poeten zugleich Leser und Dichter, Empfangender und Schaffender. Nur derjenige, der einen anderen wirklich lesen kann, kann selber ein Dichter sein: Nur derjenige, der selber wirklich dichten kann, kann einen anderen lesen. Lesen und Dichten gehen ineinander über. Das Lesen besteht aus der dreifachen Tätigkeit von Verstehen, Interpretieren und Neu-Interpretieren. Dieses Lesen geht durch das Moment des Neu-Interpretierens, das zugleich als eine Um-wendung, als ein Ansatz zur Selbstständigkeit wirkt, in das poetische Schaffen über, und zwar durch einen Weltenwechsel. Das Dichten, als selbstständiges Öffnen einer eigenen Welt, hat eine selbst-lose, in Entsprechung interpretierende Rückkoppelung an die frühere Welt zur Voraussetzung. Durch die neue Zeile geht das Dichten alsdann in 65 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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vollkommene Selbst-losigkeit über, die diese eigene Zeile ganz einem fremden Neu-Interpretieren überlässt. Durch die im Nichts des Zwischen entstehenden Welten wird die Zusammengehörigkeit von Lesen und Dichten verwirklicht. Dies gilt im Grunde auch für das Lesen eines Renku als eines fertigen Textes. Wir lesen z. B. ein Renku, an dem Basho¯ beteiligt war, in einem geduckten Text. Um einen Renku-Text lesen und genießen zu können, müssen wir in der oben beschriebenen Weise das Zwischen der jeweiligen Zeilen lesen und uns am Ereignis des jeweiligen Weiterdichtens beteiligen. Ohne an der dreifachen Tätigkeit von Verstehen, Interpretieren und Neu-Interpretieren teilzunehmen, bekommen wir keinen Zugang zum Renku. Nun ist aber diese dreifache Tätigkeit in der »Leere« des Zwischen der Zeilen nicht sichtbar. Wir können uns nicht mit bloßem Lesen begnügen, sondern müssen die dreifache poetische Tätigkeit unsererseits schöpferisch nachvollziehen, und zwar anhand der schon gegebenen Zeilen. Durch einen solchen schöpferischen Nachvollzug im Lesen haben wir aktiv teil an einem Renku. Man könnte von einer sekundären Beteiligung sprechen. In Bezug auf ein Renku gibt es keinen »bloßen Leser«. Ein »bloßer Leser« kann ein Renku nicht verstehen. Ein echter Leser muss ein Renku wieder-erschaffen, so wie ein Dirigent ein Musikstück in der Aufführung interpretiert. Jeder Leser offenbart und bewährt sich in seinem spezifischen Lesen. Es kommt im Renku sowohl bei den primär beteiligten Dichtern als auch bei den Lesern, den sekundär Beteiligten, auf das Zwischen der Zeilen an, und zwar in zweifacher Hinsicht: einerseits auf die Leere des Zwischen als unendlich offenen Raum des Nichts, andererseits auf das Zwischen als Ereignis des Weltenwechsels. Es handelt sich beim Renku um ein Weltenwechselspiel im offenen Raum des Nichts. Bei diesem Weltenwechsel lebt jede Zeile als Verkörperung ihres Autors in einer Doppelwelt, d. h. in einer Welt mit der vorherigen und in einer anderen Welt mit der folgenden Zeile. Das In-der-Doppelwelt-Wohnen ist dabei aber erst möglich aufgrund der »Leerheit« des Zwischen, auf dem Grund des Nichts. Daher wohnt der Dichter nicht nur horizontal, sondern auch vertikal in einer doppelten Welt, einerseits in der oben beschriebenen Doppelwelt, andererseits auch in der allumfassenden Welt der unendlichen Offenheit auf dem Grund des Nichts. Eine Zeile erschließt einmal ganz selbst-ständig eine Welt, dieselbe Zeile gehört ein andermal ganz selbst-los zu einer fremden Welt. Die Selbst-stän66 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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digkeit und die Selbst-losigkeit haben letztlich ihren gemeinsamen Grund im Nichts, zu dem die Leere des Zwischen einen Durchblick gewährt. Sie gehören in der Bewegung ins Nichts hinein und in der Bewegung aus dem Nichts heraus zusammen. Gerade das Nichts, die Leere des Zwischen, gewährt als äußerste Offenheit die größte Möglichkeit zur Neu-Interpretation der Worte und zum Neu-Interpretieren als zwischen-menschlichem Ereignis. Dieses entscheidende Moment des Renku bewegt sich einmal ganz selbst-ständig aus dem Nichts heraus zum Neu-Interpretieren, ein andermal ganz selbst-los ins Nichts hinein zum Neu-interpretiert-Werden. Da die sprachliche Interpretierbarkeit und die Neu-Interpretation als zwischen-menschliches Ereignis entscheidend für die Dynamik des Renku sind, sei hier als weiteres Beispiel eine Geschichte von Basho¯ und seinem Dichter-Schüler Kyorai angeführt. Kyorai legte seinem Lehrer folgendes Heiku vor: Felsenvorsprung, oh, hier auch ein Gast des Mondes. Als Basho¯ dieses Heiku gelesen hatte, fragte er Kyorai: »Was meinst Du mit Deinem Gedicht?« Darauf erzählte ihm der Schüler Folgendes: »Eines Abends, beeindruckt und bewegt vom wunderbaren Vollmond, machte ich einen Spaziergang im Mondschein. Da fand ich auf einem Fels einen vom Mond begeisterten Menschen, auch ein Gast des Mondes. In freudiger Verbundenheit mit ihm und als Gruß an ihn habe ich dieses Haiku verfasst: ›Felsenvorsprung, oh, hier auch ein Gast des Mondes‹.« Dazu sagte Basho¯: »Es wäre schöner, dieses Gedicht in folgendem Sinne zu lesen: Vom Vollmond beeindruckt machst Du einen Nachtspaziergang im Mondlicht. Aus Begeisterung steigst Du auf einen Felsenvorsprung und begrüßt den Mond: ›Oh Mond! Hier auf dem Felsenvorsprung bin ich auch ein Gast, von Dir eingeladen. Danke für Deine Einladung.‹ Mit dem Gedicht ›Felsenvorsprung, oh, hier auch ein Gast des Mondes‹ hast Du Dich somit selber gemeint.« Diese Interpretation von Basho¯ beeindruckte den Schüler tief. Er sagte später einem anderen Schüler: »Mit meinem Gedicht habe ich das zwar nicht gemeint, aber mit der Interpretation des Lehrers habe ich selber erst verstehen können, was mein Heiku aussagt. Ich hatte den wahren Sinn meines Gedichtes nicht verstanden.« In dieser Geschichte steckt viel Wichtiges hinsichtlich der Proble67 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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matik von Schreiben, Lesen, Text, Interpretation, Sprache usw. Es ist hier nicht der Ort, darauf ausführlich einzugehen, aber auf einige wichtige Aspekte soll hingewiesen werden. Der Text und der Autor sind vorgegeben. Nun kommt aber eine fremde Interpretation des Textes hinzu, in der sich unerwartet ein in der Intention des Autors neuer Sinn offenbart. Diese neue Bedeutung kann auch von dem Autor selbst als schöner und wahrer erlebt werden. Woher kommt das? Auf Grund welcher Voraussetzungen und Bedingungen ereignet sich das? Was ein Text als solcher aussagt, welche Möglichkeiten der Aussage er in sich birgt, kann verschieden und mehr sein als das, was der Autor damit sagen wollte. Gerade durch seine Fixiertheit ist ein Text offen für neue Interpretationen. Die möglichen Aussagen eines Textes kommen erst durch die Interpretationen zum sprachlichen Ausdruck. Der Interpretationshorizont ist zwar nicht beliebig, aber doch grundsätzlich fast unendlich variabel. Ein Text kann, je nach dem Zeitalter, verschieden interpretiert werden. Einen Text lesen heißt im Grunde: ein Verstandenes verstehen, das vom Autor beim Schreiben Verstandene von neuem verstehen. Es handelt sich also beim Lesen um einen Doppelhorizont des Verstehens, wobei die mögliche Verschiebung zwischen dem Horizont des Autors und dem des Lesers den Raum für die neue Interpretation schafft. Im Unterschied zu einem Lesen, das sich möglichst genau an die Intention des Autors hält, kommt es beim Renku-Lesen gerade darauf an, in vollem Bewusstsein die Horizont-Verschiebung bzw. -Erweiterung imaginativ zu vollziehen, um den Text auf neue Weise interpretieren zu können. Beim Lesen eines Renku geht es – wie schon angedeutet – nicht um die Textzeilen als solche, sondern um den Horizontwechsel und um eine Art gegenseitiges Echo, gegenseitiger Spiegelung der beiden Horizonte. Es ist ein Spiel, bei dem es zwischen den beiden Spielenden ganz ernst werden kann. Wenn ein Mensch, z. B. ein Renku-Dichter, sein Leben in das Spiel einbringt, wird es ein ernstes Lebensspiel. Ein Lebensspiel ernst spielen ist Leben. Zum Leben gehört aber, dass wir leben lernen, und zwar durch das Leben und im Leben, anstatt durch unsere geschlossene Ich-heit in einem sehr beschränkten Horizont zu verharren. So kann der Horizontwechsel ein Freiwerden zum Leben bedeuten. Beim Renku kann man sich darin einüben. Deshalb wird das Renku auch als »Weg« bezeichnet. Aber wie ist es möglich, dass auch dem Autor eine fremde Interpretation nicht nur anders, sondern sogar schöner und wahrer klingt? 68 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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Nur deshalb, weil das Grundanliegen, sowohl des Autors als auch des Interpreten, die Wahr-Schön-heit ist, die die Sprache braucht, um sich zu artikulieren. Die Wahr-Schön-heit, die der Autor eines Gedichtes meint, kann übertroffen werden von jener Wahr-Schön-heit, die eine fremde Interpretation desselben Gedichtes sichtbar macht. Die WahrSchön-heit an sich ist in ihrem zum Nichts hin transparenten Überschuss des Seins unbegrenzt und unermesslich. Aus dem unermesslichen Raum der Wahr-Schön-heit heraus kann ein Text, der die Wahr-Schön-heit irgendwie zum Ausdruck bringt, als schöner und wahrer erlebt werden. Nachdem wir die formale Struktur der Renku-Dichtung analysiert haben, hören wir nun noch einmal den oben angeführten fünfzeiligen Auszug: 1 2

Das steinerne Wasserbecken, moosbedeckt, neben Blumen. Der Ärger von heute morgen verflüchtigte sich von selbst.

2 3

Der Ärger von heute morgen verflüchtigte sich von selbst. Bei einer Mahlzeit für zwei ganze Tage gegessen.

3 4

Bei einer Mahlzeit für zwei ganze Tage gegessen. Kalter Nordwind auf der Insel, fast schneit es.

4 5

Kalter Nordwind auf der Insel, fast schneit es. Abends Aufstieg zum Bergtempel, um Lichter anzuzünden.

Wir wollen versuchen, die Bedeutung der jeweiligen Erweiterung und des entsprechenden Weltenwechsels zu erfassen. 1

Das steinerne Wasserbecken, moosbedeckt, neben Blumen.

Wir vergegenwärtigen uns einen stimmungsvollen Hausgarten, geschmackvoll gepflegt, still und friedlich, zugleich ein wenig hell-heiter durch eine kontrastvolle Zusammenstellung von Stein und Moos, vom Grün des Mooses und Rot der Blumen. Dann wird Zeile 2 hinzugefügt: 1 2

Das steinerne Wasserbecken, moosbedeckt, neben Blumen. Der Ärger von heute morgen verflüchtigte sich von selbst.

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Hier können wir uns z. B. einen alten Hausherrn vorstellen, einen Ästheten, der aber auch verdrießlich und mürrisch ist, schon frühmorgens böse mit seiner Frau. Bei seiner Lieblingsarbeit im Garten hat er seinen Ärger vergessen, d. h. in der Gartenstimmung verflüchtigte sich sein Ärger von selbst. Er ist nun ein großzügiger Hausherr, auch plötzlich wieder freundlich zu seiner Frau. Dabei können wir schon im Unterton hören, dass sein Stimmungswechsel etwas Lustiges hat. Nun wird Zeile 3 hinzugefügt: 2 3

Der Ärger von heute morgen verflüchtigte sich von selbst. Bei einer Mahlzeit für zwei ganze Tage gegessen.

Wir können uns jetzt einen Mann vorstellen, der sehr launisch ist. Sein erster Ärger verflüchtigt sich zwar von selbst, aber es stellt sich wieder eine eigenartige Laune ein, dieses Mal ziemlich grob, triebhaft, aber auch komisch. Bei einer Mahlzeit hat er nämlich für zwei ganze Tage gegessen. Dies ist ein absurdes Verhalten, wie es im Alltag nicht oft vorkommt. Absurdität gehört aber zum Leben. Um wirklich zu leben, muss man sie nicht nur hinnehmen, sondern auch genießen können. Nun folgt Zeile 4: 3 4

Bei einer Mahlzeit für zwei ganze Tage gegessen. Kalter Nordwind auf der Insel, fast schneit es.

Hier könnte man eine raue Landschaft und ein karges Leben auf der Insel sehen. Es waltet eine ganz andere Stimmung als in der vorigen Welt. Bei einer Mahlzeit hat man für zwei ganze Tage gegessen, so hat man sich für harte Arbeit beim nun kommenden Schnee vorbereitet. Nun wird das Gedicht um Zeile 5 vermehrt: 4 5

Kalter Nordwind auf der Insel, fast schneit es. Abends Aufstieg zum Bergtempel, um Lichter anzuzünden.

Wir können uns hier eine entlegene Insel vorstellen. Es herrscht kalte Einsamkeit in der tiefen Stille. Das klingt wie eine Anspielung auf das tragische Leben eines Ex-Kaisers aus der japanischen Geschichte, der auf eine Insel verbannt wurde. Es waltet eine etwas schwermütige Stimmung. So ist es mit einem Versuch, die fünf angeführten Zeilen in dem 70 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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Renku-Zusammenhang zu interpretieren, beinahe anwesend und mitspielend zu interpretieren. Aber nur ein Versuch. In Bezug zu einem bestimmten Renku sind verschiedenste Interpretationsversuche möglich, wie oben schon erwähnt. Sie sind nicht bloß möglich, sondern verschiedene, verschiedenste Interpretationen bilden gemeinsam eine Art Sinnsymphonie, welche gerade dem Wesen des Renku entspricht. Ein Mondo¯, d. h. Frage-Erwiderungsereignis, soll nun zum Schluss die Herkunft der Renku-Dichtung aus dem Geiste des Zen erhellen. Es ist ein Gespräch zwischen den Mönchen Kyo¯zan Ejaku und Sansho¯ Enen. (»Kyo¯zan« und »Sansho¯« sind jeweils Mönchsnamen, »Ejaku« und »Enen« sind Eigennamen.) Die beiden kennen sich gut und selbstverständlich auch ihre Namen. Bei einer Begegnung ereignet sich folgendes Mondo¯: Kyo¯zan Ejaku fragt Sansho¯ Enen: »Was ist dein Name?« Woher kommt diese unerwartete Frage? Kyo¯zan kennt doch den Namen Sansho¯s. Was für eine Frage ist das eigentlich? Sansho¯ antwortet: »Ejaku.« In dieser Fragesituation antwortet Sansho¯ mit Kyo¯zans Namen, also desjenigen, der ihm diese Frage stellt. »Ejaku, das bin ich.« Daraufhin sagt Sansho¯: »Mein Name ist Enen.« Kyo¯zan bricht in Gelächter aus. Es geht hier nicht um das Thema des Gesprächs. Für den ZenBuddhismus und für die Mentalität, die vom Zen genährt wird, liegt das Religiöse nicht so sehr im Worüber, sondern vielmehr im Wie des Sprechens. In dieser Hinsicht ist Renku, bei dem es auf das Ereignis in der Leere »zwischen den Zeilen« ankommt, gerade als poetisches Geschehen zugleich ein eigentlich religiöses Geschehen. »Schön« ist in Wirklichkeit schön, wenn es in Wahrheit mehr als schön ist. 71 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

3 Das In-der-Doppelwelt-Wohnen – der Ort des Menschen nach dem Zen – 1

1. Der Ort des Menschen Im ersten Teil geht es um die Erörterung des menschlichen Daseins, dem als Wesensstruktur der Doppelaspekt von Welt und Selbst zugrunde liegt. Dieses Phänomen nennen wir das »In-der-DoppelweltWohnen«. Meine Erläuterungen dazu bereiten auch eine Voraussetzung für den Begriff einer Kreuzung der Wege der Zeit im japanischen Kulturverständnis. Der zweite Teil bezieht sich auf das No¯Spiel als ein Spiel der zeitlichen Wegkreuzung und als Besinnung auf das menschliche Dasein in seinem Doppelaspekt von Leben und Tod. Die Begriffe der Welt und des Selbst durchdringen sich im ZenBuddhismus, wobei diese gegenseitige Durchdringung ihrerseits von dem »absoluten Nichts« durchdrungen wird. Im Bild des leeren Kreises, dem achten der »Zehn Ochsenbilder«, kommt dies gut zum Ausdruck.2 Ihm zugehörig und wesensgleich ist der Zen-Spruch: »Offene Weite, nichts Heiliges.« Dieser gesamte Seins-Zustand wird von Kitaro¯ Nishida (1870–1945), dem Begründer der modernen Philosophie in Japan, in den Begriff »basho-teki-jiko« gefasst. Das Wort basho bedeutet »Ort, Feld, Raum«, teki ist ein Suffix, das ein Substantiv zum Adjektiv macht, jiko bedeutet »Selbst«. Der Begriff basho-teki-jiko bedeutet demzufolge »basho-haftes Selbst«. Dieses basho enthält nach Nishida ein Zweifaches, nämlich das basho des Seins, den Raum des Seins, sowie das dieses umfassende basho des absoluten Nichts, die unbegrenzte, unendliche Offenheit. Das Selbst befindet sich also in einem Raum, der seinerseits letztlich von der unendlichen Offenheit umfasst wird. Dieser gesamte Strukturkomplex gehört zum Selbst als solchem. Ursprünglich »Der Ort des Menschen im Nô-Spiel, Wegkreuzungen«, hrsg. R. Ritsema, in: Eranos 56 (1987) 1989, S. 69–103. 2 S. Kapitel 1 »Leere und Fülle – S ´ u¯nyata¯ im Maha¯ya¯na-Buddhismus. Zum Selbstgewahrnis des wahren Selbst«, S. 13 ff. 1

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Das In-der-Doppelwelt-Wohnen – der Ort des Menschen nach dem Zen –

In der Geschichte des Zen-Buddhismus kommt es bezeichnenderweise oft vor, dass ein Zen-Meister, der sich einen Berg als Wohnort wählt und ihn auf diese Weise zum do¯jo¯, zum Ort der Wahrheit, macht, nach dem betreffenden Berg benannt wird, so dass Mensch und Berg denselben Namen tragen. Bei den großen Zen-Meistern und ZenDichtern der chinesischen Tang-Zeit ist dies häufig der Fall, wie z. B. ¯ baku, Yakusan, Kanzan u. a. Man könnte mit der lapidaren Formel bei O von Keiji Nishitani (1900–1991), dem Nachfolger Nishidas, einfach sagen: »Der Mensch Kanzan (das Wort zan in diesem Zusammenhang bedeutet Berg) ist der Berg Kanzan, der Berg Kanzan ist der Mensch Kanzan.« Dabei handelt es sich aber nicht um ein Identitätsverhältnis zwischen Berg und Mensch. Es geht im Wesentlichen um die unendliche Offenheit des absoluten Nichts, die sowohl Mensch als auch Berg umfasst und durchdringt, so dass die Landschaft des Kanzan konkret darstellt, wie der Mensch Kanzan in der unendlichen Offenheit wohnt. Der Mensch Kanzan ist dann seinerseits der Geist der Landschaft des Bergs Kanzan. Dies als ein konkretes Beispiel für das Ineinanderverwobensein des Selbst und der Welt im wahren Selbst als dem basho– haften Selbst. Dieses Verwobensein von Selbst und Welt habe ich von der Seite des Selbst her mehrfach entfaltet. 3 So sollte jetzt dasselbe Phänomen von der Seite der Welt her erörtert werden.

In-der-Welt-Sein Einen Zugang zum Grundwort basho im Begriff basho-teki-jiko und damit zum Weltverständnis im Zen-Buddhismus und in der Philosophie Nishidas bietet uns Martin Heideggers bekannter Begriff »In-derWelt-Sein«. In seiner Terminologie ist das Seiende, das wir je sind, das »Dasein«, dessen »Grundverfassung« bzw. »fundamentale Struktur« das In-der-Welt-Sein ist. 4 Das Dasein existiert als In-der-Welt-Sein, wie er dies in dem Abschnitt über »[d]ie vorbereitende Fundamentalanalyse des Daseins« aufzeigt. In unserer Erörterung der »Welt« im basho-teki-jiko wollen wir von Heidegger ausgehen, um dann mit S. Kapitel 1, S. 11 ff. Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, 4. Aufl. 1935, Erster Teil, erster Abschnitt, 2. bis 6. Kapitel.

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dem Zen-Buddhismus und der Philosophie Nishidas diesen Weltbegriff zu modifizieren und weiterzuentwickeln, und zwar zum Begriff des In-der-Doppelwelt-Wohnens als der eigentlichen Struktur des Daseins. Die Welt des In-der-Welt-Seins ist für Heidegger der umfassende Sinnraum, der Raum des Bedeutungszusammenhangs bzw. der »Bewandtnisganzheit«, in welchem Seiendes überhaupt erst Bedeutung für das Dasein erhält. Die Weltlichkeit der Welt als Bedeutungszusammenhang macht Heidegger durch die existentiale Analyse des Um-zu und des Worum-willen sichtbar. 5 Ein innerweltliches Seiendes versteht das Dasein als ein Zeug, d. h. als ein zuhandenes »Um-zu« in jeweiligen Daseinssituationen, denen das Worum-willen des Daseins selbst zugrunde liegt, wobei das Sein des Daseins in seiner »ursprünglichen Ganzheit des Strukturganzen« in seiner Eigenschaft als »Sorge« erhellt wird. Ein Krug z. B. ist ein Zeug für Aufnahme und Ausschenken von Wasser, und zwar um der Lebenserhaltung des Daseins selbst willen. Daran anschließend möchten wir ein Weiteres überlegen. Da ein Zusammenhang als ein in sich Zusammenhängendes immer bestimmt und wesenhaft begrenzt ist, ist nun auch die Welt im Sinne Heideggers in ihrer Seinsweise des Bedeutungszusammenhangs grundsätzlich begrenzt. Auf Grund der Begrenztheit des Zusammenhangs erhält ein Seiendes in dem betreffenden Zusammenhang eine bestimmte Bedeutung. Ein Seiendes kann auch doppeldeutig sein, d. h. gleichzeitig in zwei verschiedenen Zusammenhängen stehen, die sich gerade im betreffenden Seienden überschneiden. Auch in diesem Fall ist der Zusammenhang der Zusammenhänge bestimmt und be-grenzt. Die Welt als der umfassende Sinnraum, als die Ganzheit des Bedeutungszusammenhangs für das Dasein, ist in ihrer Seinsweise als Zusammenhang wesenhaft be-grenzt. Diesen Seinscharakter der Welt hat Heidegger selbst nicht ausdrücklich herausgearbeitet, er ist jedoch in seinem Weltbegriff implizit enthalten. Heidegger führt nun weiter aus: »Die Angst erschließt allererst die Welt als Welt.« 6 So sieht er die Angst als »Grundbefindlichkeit« des Daseins. Auf welche Weise erschließt Angst als Grundbefindlichkeit die Welt? »Die innerweltlich entdeckte Bewandtnisganzheit des Zuhandenen und Vorhandenen ist als solche überhaupt ohne Belang. Sie sinkt in sich zusammen. Die Welt hat den Charakter völliger Unbe5 6

Vgl. insbesondere das dritte Kapitel: »Die Weltlichkeit der Welt«. M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 187.

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deutsamkeit.« 7 In diesem Zusammenhang spricht er in »Was ist Metaphysik?« 8 ausdrücklich von dem Nichts, das durch die Angst offenbar wird. »In der hellen Nacht des Nichts« der Angst entgleitet das Seiende im Ganzen ins Nichts und zeigt sich umso eindringlicher als das Seiende im Ganzen. Genau das meint Heidegger, wenn er sagt: »Die Angst erschließt allererst die Welt als Welt.« Das Nichts, das durch die Angst offenbart wird, in dem das Seiende im Ganzen seine Bedeutsamkeit verliert, erschließt allererst die Welt als Welt, während die Welt als Bewandtnisganzheit innerweltlich Begegnendem Bedeutung gegeben hat. Dieses Verhältnis bedeutet – auf unsere Problematik übertragen – die Begrenztheit der Welt. Wie im Zen-Buddhismus wird die Welt auch bei Heidegger vom »Nichts« begrenzt, nur dass das »Nichts« bei letzterem vom zuvor erschlossenen Bedeutsamkeitscharakter der Welt her negativ als »Unbedeutsamkeit« erfahren wird. Das Nichts wird gewiss zunächst negativ als nichtig erfahren, wie dies bei Heidegger der Fall ist. Diese vorerst negative Erfahrung wird aber im Zen und bei Nishida wiederum vom Nichts vereint, so dass sich die Wahrheit des Gesamtverhältnisses um das Nichts offenbart.

Die Be-grenztheit der Welt Was bedeutet eigentlich die Be-grenztheit der Welt für das Dasein? Das möchten wir ausgehend vom Zen-Buddhismus und Nishida nun herausarbeiten. ›Be-grenzt‹ will allgemein besagen, dass einem Etwas eine Grenze gesetzt ist. Diese Grenze kann auf verschiedene Weise verschoben werden, jedoch nicht beliebig und nicht unbegrenzt. Im Grenzfall, wie beim Weltbegriff, ist das Begrenzte wesenhaft begrenzt. Die Welt als umfassender Sinnraum des Daseins ist wegen ihrer Struktur als Bedeutungszusammenhang be-grenzt. Was bedeutet nun die Be-grenztheit der Welt als solche? Zum Begriff der ›Grenze‹ gehören das Diesseits und das Jenseits der Grenze. ›Be-grenzt‹ heißt im Grenzfall: vom Jenseits der Grenze, d. h. vom Un-begrenzten be-grenzt und eben an der Grenze vom Un-begrenzten umfasst – und unter Umständen vom Un-begrenzten durchdrungen, – ohne dass die Grenze A. a. O., S. 186. M. Heidegger, Was ist Metaphysik?, 1929, 11. Auflage, Frankfurt/M. 1975, insbesondere S. 34 ff.

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verwischt würde. Das ist beim Weltbegriff der Fall. Die Welt, die als solche be-grenzt ist, ist in ihrer Be-grenztheit vom Un-begrenzten begrenzt und gerade an der Grenze von der un-endlichen Offenheit umfasst. Das Dasein wohnt in der be-grenzten Welt, in der sich Dasein in der Begegnung mit Mitdasein wie auch im Umgang mit dem innerweltlich Seienden jeweils sinngemäß orientieren kann. Das Dasein wohnt in der wesenhaft be-grenzten Welt, die ihrerseits an der Grenze von der unbegrenzten, un-endlichen Offenheit umfasst und durchdrungen ist. Gerade in der Welt wohnt das Dasein zugleich in der unendlichen Offenheit. Diese Welt, die sich ihrerseits in der umfassenden un-endlichen Offenheit befindet, nennen wir die Doppelwelt des Daseins. Was bedeutet das In-der-Doppelwelt-Wohnen für das Dasein? Zum Beispiel: Ein innerweltliches Seiendes versteht das Dasein in der Welt als Zuhandenes zum praktischen Gebrauch, und zugleich begegnet ihm dasselbe Seiende aus der Sinntiefe, die sich un-endlich in die un-endliche Offenheit vertiefen kann, z. B. als ein Kunstwerk. Das Seiende spricht dann das Dasein in seiner ganzen Tiefe an, so dass es sich aus dem selbstentworfenen Bedeutungszusammenhang heraus in die un-endliche Offenheit öffnet. Nishida sagt dazu: »Die Dinge sind da und leuchten mich an.« Heidegger spricht in späteren Schriften, ohne sich auf sein früheres Verständnis des innerweltlichen Seienden als Zuhandenen zu beziehen, von dem »Ding, das dingt«. Anhand des Beispiels vom Krug sagt Heidegger: »Das Geschenk des Gusses verweilt die Einfalt des Gevierts der Vier (d. h. der Erde und des Himmels, der Göttlichen und der Sterblichen). Im Geschenk aber west der Krug als Krug. … Das Wesen des Kruges ist die reine schenkende Versammlung des einfältigen Gevierts in eine Weile. Der Krug west als Ding. … Das Ding dingt« 9 , d. h. das Ding verweilt das Geviert, »das ereignende Spiegel-Spiel der Einfalt von Erde und Himmel, Göttlichen und Sterblichen«. Das Geviert nennt Heidegger dann Welt, wieder ohne sich auf seinen früheren Weltbegriff zu beziehen. »Wir nennen das ereignende Spiegel-Spiel der Einfalt von Erde und Himmel, Göttlichen und Sterblichen die Welt. Welt west, indem sie weltet. … Das Ding verweilt das Geviert. Das Ding dingt Welt.« 10 Ein Seiendes wie der Krug west als Ding im Horizont des Gevierts, das das Ding dingt, wobei Heidegger allerdings nicht 9 10

Vgl. »Das Ding« in Aufsätze und Vorträge, Pflingen 1954, S. 172. A. a. O., S. 178/179.

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mehr wie in Sein und Zeit vom Seienden und vom Horizont spricht, aber das Geviert doch ›Welt‹ nennt. Nishida würde fragen, wo sich die Welt als Geviert befindet? Wir werden auf diesen Begriff nochmals erläuternd zurückkommen. In Hinsicht auf das In-der-Doppelwelt-Wohnen, um das es uns hier geht, können wir nun aber das Zuhandensein und das Ding-Sein in ein und demselben Seienden zusammenfassen. Ein Krug, der sich in der Küche befindet, ist somit ein Zeug zum täglichen Gebrauch und zugleich ein Kunstwerk, wie wir es nicht selten erfahren. Manchmal ist er nicht nur ein Kunstwerk, sondern auch ein »Ding«, welches das ganze Universum in sich konkretisiert. Oder in der religiösen Sprache des Angelus Silesius ausgedrückt: »Die Rose / welche hier dein äußeres Auge sieht / Die hat von Ewigkeit in Gott also geblüht.« 11 Das betreffende »und-zugleich« ist erst auf Grund des In-der-Doppelwelt-Wohnens möglich, das seinerseits auch im »und-zugleich« zum Ausdruck kommt. In demjenigen Menschen, der auf diese Weise der Wesensstruktur des Daseins gemäß in der Doppelwelt wohnt, kreuzen sich z. B. der praktische Weg der Lebensführung und der dichterische, künstlerische bzw. religiöse, wobei die Kreuzung nichts anderes als den Urpunkt des eigentlichen Ortes des menschlichen Daseins darstellt. Der Mensch braucht also ein Seiendes als bestimmtes Zuhandenes in seiner Lebenssituation und zugleich erfährt er dasselbe Seiende als Ding, das ihn zur un-endlichen Offenheit hin öffnet. Dieses »und-zugleich« ist für den Zen-Buddhismus und für Nishida von entscheidender Bedeutung. Bei Heidegger kommt dieses »und-zugleich« als solches nicht zur Sprache. Der Gedanke »das Ding dingt« erscheint bei ihm erst später in der Wendung von der früheren »Fundamentalontologie« im transzendentalphilosophischen Ansatz zum »Denken des Seins«. Ausgehend von seinem früheren Verständnis des Zuhandenen können wir die Entwicklung seines Denkens wie folgt rekonstruieren: Das innerweltlich Seiende als Zuhandenes im Um-zu-Zusammenhang des Worum-willens des Daseins versinkt in die Un-bedeutsamkeit als das Nichts der Welt als Welt – in einem Nichts, das sich in der »Grundbefindlichkeit der Angst«, im Grunde aber im »Sein zum Tode« als Sein des Daseins erfahren lässt. Soweit Heideggers Sicht in Sein und 11 Angelus Silesius. Sämtliche poetische Werke und eine Auswahl aus seinen Streitschriften, hg. von G. Ellinger, 2 Bde., Berlin 1923, »Cherubinischer Wandersmann«, I. Buch 109, Bd. I. 36.

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Zeit. Dann aber wird gerade im Nichts – jetzt nicht mehr vom Seienden her gesehen – das Sein selbst erfahren, indem »der Tod als der Schrein des Nichts das Wesende des Seins in sich birgt«. 12 Das Dasein ergibt nun als Sterbliches mit den anderen drei, nämlich mit Erde, Himmel und den Göttlichen, eine »Vierung« des einzigen Gevierts. Das Dasein erfährt nun das Seiende als das »Ding«, das das Geviert dingt und verweilt. Wenn wir die so verstandene Entfaltung vom Dasein zum Sterblichen, vom Zuhandenen zum Ding, von der Welt zum Geviert gewissermaßen synchronisieren und als Strukturtiefe des Daseins integrativ zusammenfassen, dann nähern wir uns schon sehr dem Begriff des Inder-Doppelwelt-Wohnens. In Heideggers Werk Sein und Zeit ist die Welt als Bewandtnisganzheit der umfassende Sinnraum. Der spätere Heidegger spricht dann vom Geviert »Erde und Himmel, Göttliche und Sterbliche«, das er wiederum als Welt bezeichnet. Uns geht es um die Doppelwelt, um die Welt, die sich in der un-endlichen Offenheit befindet. Zusammenfassend möchten wir diese drei verschiedenen Weltansichten genauer differenzieren und in den Gesamtzusammenhang der Doppelwelt einbeziehen. Wir werden jetzt drei Aspekte der Doppelwelt untersuchen: 1. Die Welt, die sich in der un-endlichen Offenheit des absoluten Nichts befindet, erschließt sich zunächst als Welt, ist dabei aber von der un-endlichen Offenheit umfasst. Die Welt ist in dieser Sicht der umfassende Sinnraum für das innerweltliche Seiende. Diese Weltsicht ist derjenigen von Heidegger in Sein und Zeit ähnlich. 2. Die Welt, die sich in der un-endlichen Offenheit des absoluten Nichts befindet, erschließt sich als eine Welt, die von der un-endlichen Offenheit durchdrungen ist – wie z. B. die Welt als Geviert bei Heidegger oder als Mandala oder auch als Phantasie- und ˙˙ Symbolwelt. 3. Die un-endliche Offenheit des absoluten Nichts als solche. Diese kann in keinem Sinne als ›Welt‹ bezeichnet werden, sondern als ›Nicht-Welt‹ oder ›A-Welt‹ bzw. ›A-Kosmos‹. Es ist der un-endlich offene Raum für Welten, worauf der leere Kreis im achten der »Zehn Ochsenbilder« hinweist.

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M. Heidegger, Aufsätze und Vorträge, S. 177.

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Wenn wir also von der Doppelwelt sprechen, wie wir es jetzt präziser tun können, so bezieht sich zunächst die Doppelheit der Welt konkret auf das »und-zugleich« der Welten 1 und 2. Es handelt sich um eine sichtbare Doppelheit. Dieses »und-zugleich« ist seinerseits erst auf Grund, d. h. auf Un-grund, der un-endlichen Offenheit möglich. Die eigentliche Doppelheit liegt zwischen der unsichtbaren un-endlichen Offenheit und der sichtbaren Doppelheit der Welten 1 und 2. Es handelt sich dabei um die unsichtbare Doppelheit. So sehen wir die drei Aspekte in eins und sprechen von der Doppelwelt. Wenn aber nur der erste Aspekt ins Auge gefasst wird, so sieht man die Welt des bloßen Realismus. Wenn nur der zweite Aspekt ins Auge gefasst wird, dann sieht man die mythische Welt. Wenn der erste und der zweite Aspekt ins Auge gefasst werden, ohne dass zugleich der dritte gewahrt würde, so befindet man sich in der sogenannten ›Zweiwelten-Theorie‹. In Unterschied zu diesen unvollkommenen drei Varianten, die in der Geschichte ihre jeweiligen Ausprägungen erfahren haben, beinhaltet das In-der-Doppelwelt-Wohnen die Integration aller drei Aspekte, wie dies vom Zen-Buddhismus vertreten wird.

Das In-der-Doppelwelt-Wohnen Das In-der-Doppelwelt-Wohnen, auf das es uns hier ankommt, sollte anhand des Horizontbegriffs weiter erhellt werden. Das Dasein befindet sich in der Welt. Die Welt als Bedeutungszusammenhang ist der umfassende Horizont des Verständnisses dessen, was dem Dasein in der Welt begegnet. Erst am Horizont der Welt ist etwas als etwas für das Dasein zugänglich. Was nicht am Horizont auftaucht, ist für das Dasein soviel wie nichts. Nun gehört zum Horizont als solchem das Jenseits des Horizontes ebenso sehr wie das Diesseits. Das Jenseits des Horizonts macht den Horizont gerade erst zum Horizont. Ohne Jenseits gibt es keinen Horizont, der die Voraussetzung ist für das Verstehen des Seienden. Ohne Jenseits ist auch keine »Horizontverschmelzung« im Sinne Gadamers möglich. 13 Für denjenigen aber, der sich dieser Struktur des Horizonts in seinem eigenen Dasein bewusst ist, 13 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, insbesondere S. 289 f., 356 f. und 375.

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wird das »Jenseits des Horizonts« zum anderen Horizont des Verständnisses, und zwar sowohl negativ wie positiv. 1) Im negativen Sinne, weil er nicht weiß, was jenseits des Horizonts ist. Er weiß aber, dass er nicht weiß, was jenseits des Horizonts ist. Im Wissen des Nichtwissens relativiert das Nichtwissen das Wissen in der Welt. Er weiß, dass das, was er weiß, nicht das Ganze ist, und dass er nicht das Ganze wissen kann, da zu jedem weiteren Horizont immer wieder ein weiteres Jenseits gehört. Im Wissen des Nichtwissens ist sein Horizont zwar negativ, aber doch über den Welthorizont hinaus zum Jenseits des Horizonts erweitert. Als Wissender des Nichtwissens wohnt er nicht nur in der Welt seines Verständnishorizonts, sondern zugleich als Nichtwissender auch schon in der un-endlichen Offenheit jenseits des Horizonts. 2) Im positiven Sinne, weil diese Erfahrung positiv für das Verständnis dessen wirkt, was ihm in der Welt begegnet. Ein Etwas hat für ihn jeweils eine bestimmte konkrete Bedeutung als etwas in der be-grenzten Welt. Es hat für ihn aber zugleich eine unerschöpfliche Sinntiefe in der un-begrenzten Offenheit des »Jenseits des Horizonts,« die mit dem Horizont zugleich als »Jenseits«, aber auch als das den Horizont vom Jenseits her erscheinen lassende und umfassende Offenheit gegeben ist. Die Als-Struktur des Verstehens hat in diesem Zusammenhang keine endgültige Geltung. Das Als kann höchstens analogisch bzw. symbolisch verwendet werden, wobei aber immer die Gefahr eines Rückfalls in das »kategoriale bzw. existentiale« Als nahe liegt. Deswegen muss dieses immer wieder durch die Negation auf das Un-endliche hin zerstört werden. In Zen-Texten kommt häufig der Satz vor: »Berge sind Berge und zugleich nicht Berge.« Dabei handelt es sich nicht um ein logisches Paradox, nicht um eine unsinnige Verwirrung des gesunden Menschenverstandes, sondern um den Ausdruck der Erfahrung des In-der-Doppelwelt-Wohnens. Dabei weist der Ausdruck »und zugleich nicht Berge« durch seine direkte Negation, ohne Vermittlung durch Analogie oder Symbol, unmittelbar über den Horizont hinaus. Ein Mensch, der sich dieser Seinsstruktur bewusst ist, wohnt zugleich im Diesseits als Wissender und im Jenseits des Horizonts als Wissender des Nichtwissens; er befindet sich auf diese Weise in der un-endlichen Offenheit, die das Diesseits und das Jenseits umfasst und sich auch in der Umfassung nicht erschöpft.

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Zusammenfassung Das Dasein wohnt in der Welt, d. h. in der be-grenzten Welt, von der un-begrenzten Offenheit umfasst. Indem das Dasein als das »In-derWelt-Sein« in der Welt wohnt, wohnt es zugleich in der un-endlichen Offenheit, die die Welt umfasst. Dasein heißt in diesem Sinne »In-derDoppelwelt-Wohnen«. Am Horizont der Welt als umfassendem Sinnraum versteht das Dasein das ihm jeweils Begegnende als etwas Bestimmtes, wobei aber das Jenseits des Horizonts dem innerweltlich Begegnenden eine grenzenlose Sinntiefe gibt. Diese ist im Grunde nicht bestimmbar, da der Horizont als solcher in seinem Horizontcharakter vom endlosen Jenseits des Horizonts her umfasst ist. Das oben genannte »und-zugleich« ist dabei weder unartikulierte Kontinuität, noch bloßes Nebeneinander. Es handelt sich um das »und-zugleich« von Begrenztheit und Un-begrenztheit, von Endlichkeit und Un-endlichkeit. Die Negation trennt diese scharf voneinander und verbindet sie zugleich innig. Das wird vom Selbst, in religiöser Sprache ausgedrückt, als »Tod und Auferstehung« bzw. als »Leben aus dem TotSein« erlebt. Das Gewahrwerden von Endlichkeit als Tod ist nichts anderes, als sich mitten in der realisierten Endlichkeit zugleich auch über die Endlichkeit hinaus in der un-endlichen Offenheit zu befinden, um dann gleich wieder in die Endlichkeit, nun aber als endliche Konkretion der Un-endlichkeit, zurückzufinden. Diese gesamte Bewegung macht das wahre Selbst, d. h. das selbst-lose Selbst, als Bewegung aus sich heraus zu sich zurück. Das Dasein existiert als Selbst in der Welt, das nun dem In-der-Doppelwelt-Wohnen entsprechend, wie es sich oben erwies, zugleich selbst-los in der un-endlichen Offenheit eksistiert. Die Faktizität des »da« konkretisiert sich am Selbst, während sich die Erschlossenheit des »da« selbst-los in die un-endliche Offenheit er-weitert. Das Dasein wohnt als das selbst-lose Selbst in der Doppelwelt. Es handelt sich also um die Doppelwelt in der unmittelbaren Doppelheit, d. h. um die Welt und um die die Welt umfassende unsichtbare un-endliche Offenheit. Weil die betreffende Doppelheit als solche unsichtbar ist, geschieht es manchmal, in Wirklichkeit fast immer, dass die Doppelheit nicht gesehen wird und daher das Selbst nicht mehr selbst-los, sondern ich-haft in der geschlossenen Welt verschlossen ist. Daher kommen verschiedenartige Fehlgestalten des menschlichen Daseins wie Egoismus u. a. Existenziell muss beim Menschen also irgend81 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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wie eine Umkehr geschehen. Erst dann entspricht die Wirklichkeit des Menschen der eigentlichen Struktur des Daseins.

Die Doppelwelt im Alltagsleben Wie wirkt sich nun das In-der-Doppelwelt-Wohnen im konkreten Leben aus? Welche Qualität erhält das tägliche bzw. gemeinschaftliche Leben durch das In-der-Doppelwelt-Wohnen? Wenn ein Mensch in Wahrheit und Wirklichkeit in der Doppelwelt wohnt, so spiegelt sich diese Doppelwelt häufig zu ihrer konkreten Bewährung auch in der be-grenzten Welt. Man könnte geradezu von einem Doppelleben sprechen, was sich auf die Lebensform tiefgreifend auswirkt. Ein konkretes Beispiel aus dem japanischen Alltagsleben mag das verdeutlichen. Fast jede Zeitung in Japan stellt ihren Lesern einmal bzw. zweimal monatlich eine ganze Seite zur Verfügung für deren eigene Gedichte in traditioneller Dichtform – für Waka, ein Kurzgedicht von 31 Silben, und Haiku, ein Kurzgedicht von 17 Silben. Die Leser schicken ihre Waka- bzw. Haiku-Gedichte an die Zeitung. Diese von Menschen verschiedenster Berufe und Altersstufen eingesandten Gedichte werden von einigen namhaften Waka- bzw. Haiku-Dichtern geprüft. Mit kurzen kritischen Bemerkungen wird jeweils eine Auswahl in der Zeitung gedruckt. Dass die Zeitungen regelmäßig einen Raum für Gedichte ihrer Leser anbieten, ist ein typischer Ausdruck eines in der japanischen Gesellschaft gepflegten Lebensstils. Was kann dieses Phänomen paradigmatisch für das Leben bedeuten? Der Mensch wohnt in zwei konkreten Welten: einerseits in seinem Beruf als Glied der Gesellschaft, andererseits als Dichtender in der Welt der Kunst. Es ist nun aber nicht so, dass die erstere Tätigkeit die ernste Wirklichkeit im Gegensatz zur zweiten als nebensächlicher Liebhaberei betrachteten Tätigkeit wäre. Bei der Berufsarbeit ist der betreffende Mensch ganz in der ersten Welt wohnhaft, beim Dichten ganz in der zweiten. Er wohnt also wesenhaft in zwei verschiedenen Welten. Jede Welt ist auf ihre eigene Weise konkret bestimmt und daher endlich. Im Übergang von der einen zur anderen Welt und im wiederholten Hin und Her blitzt aber die un-endliche Offenheit des Nichts auf, die dann auch die konkreten Welten durchdringt. Dabei ist der Übergang ein Durchblick auf die un-endliche Offenheit über die Grenze hinüber. Anders gesagt: Mitten im Übergang wird der Mensch 82 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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vom Licht der un-endlichen Offenheit von jenseits der Grenze her berührt. Indem ein Mensch auf diese Weise konkret in den zwei Welten wohnt, realisiert er, dass jede Welt begrenzt und relativ ist. Bei dieser Realisierung nimmt er zugleich wahr, dass er gerade »zwischen« den beiden Welten von der Un-endlichkeit durchdrungen wird. Es kommt in der japanischen Kulturgeschichte auch in der Gegenwart oft vor, dass der betreffende Mensch in der einen und in der anderen Welt verschiedene Namen trägt. Der Philosoph Nishida z. B. nennt sich als Philosophieprofessor und in seinen wissenschaftlichen Veröffentlichungen Kitaro¯ Nishida. Als Kalligraph und Dichter nennt er sich Sun-shin. Das ist der Name, der ihm seinerzeit von seinem Zen-Meister gegeben wurde. Sun ist eigentlich eine kleine Maßeinheit, etwa 3,3 Zentimeter, und bedeutet »sehr klein, kurz« mit den weiteren Bedeutungen: »konzentriert, erfüllt, rein, scharf«. Shin bedeutet »Herz«. Sun-shin heißt soviel wie »kleines Herz«, wobei alle die anderen Bedeutungen mitklingen. Die Verwendung eines solchen Dichternamens ist in Japan eine ziemlich verbreitete Sitte, und dies nicht nur unter Waka- und HaikuDichtern. Wir dürfen das nicht als Pseudonym missverstehen. Bei Nishida handelt es sich um echte Namen und dazwischen um eine Freiheit von Kitaro¯ und nun ein Werden zu Sun-shin sowie um die Freiheit von Sun-shin und um ein Werden zu Kitaro¯. Die Welt der Berufsgesellschaft hat ihre eigene Ordnung, in der jeder Mensch eine bestimmte Funktion hat. Die dichterische Welt hat auch ihre eigene Ordnung, in der derselbe Mensch gleichfalls eine spezifische Stellung hat. Es ist möglich und sogar oft der Fall, dass ein Mensch, der auf Grund seiner Tätigkeit und Fähigkeiten in der Berufsgesellschaft einen niederen Status hat, in der dichterischen Welt hoch steht oder umgekehrt. Diese Art des Wohnens in verschiedenen Ordnungen, in zwei verschiedenen Welten, hat auch eine bedeutsame soziale Auswirkung. Die Gesellschaft hat dadurch verschiedene, sich überlagernde Stufungen, die die gesellschaftliche Spannung relativieren, weil die Menschen sich auch im sozialen Leben nicht ein-dimensional verstehen. Indem der Mensch auf diese Weise in zwei verschiedenen Welten wohnt, zur Bewahrung der Doppelwelt, ist er von der Weltgebundenheit befreit und kommt von der un-endlichen Offenheit durchdrungen wieder zur Weltverbundenheit in die be-grenzte Welt zurück. Dadurch erhält das Leben in der Welt eine Dimension religiösen Daseins.

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II. Das No¯-Theater Ein klassisches Beispiel für das In-der-Doppelwelt-Wohnen aus dem japanischen Kulturbereich ist das No¯-Theater. Es ist eine umfangreiche und komplexe Kunstform, für die ich als Laie nicht kompetent bin. Ich möchte hier nur aufzeigen, wie in einem No¯-Spiel eine aufschlussreiche Wegkreuzung von Leben und Tod als In-der-Doppelwelt-Wohnen zur konkreten Darstellung gelangt. Das No¯-Spiel ist eine traditionelle Theaterform in Japan. No¯-Stücke kommen auch heute noch viel zur Aufführung neben anderen traditionellen und auch modernen Theaterstücken in westlichem Stil. Das Wort no¯ im Namen des No¯-Spiels bedeutet etymologisch »können« oder »vermögen«. Noch genauer »geistiges Können«, das sich leiblich ausdrückt, d. h. ein Können, in dem das Geistige sich verkörpert. So erhielt no¯ die Bedeutung »künstlerisches Können«. Auf diesem Weg kam es dann dazu, dass man unter No¯ meistens das No¯-Theater versteht. Übrigens kommt das Wort no¯ in seiner ursprünglichen Bedeutung auch im heutigen Japanisch in verschiedenen idiomatischen Verbindungen vor, wie in no¯-ryoku »Kraft bzw. Fähigkeit« oder gei-no¯ »Kunstfertigkeit«, ein Sammelbegriff für verschiedene künstlerische Tätigkeiten wie Tanzen, Singen, Musizieren, die meistens im traditionellen Stil gehalten sind. Das No¯-Spiel zählt also zum klassischen Gei-no¯. Es ist ein Theater, das Dramatik, Gesang (sowohl Einzel- wie auch Chorgesang), Tanz und Musik miteinander verbindet. Man kann von einem Gesamt-Theater sprechen. Es ist eine Kombination von Dialog (gesprochenem bzw. gesungenem), Monolog (ebenfalls gesprochen oder gesungen), Handlung und Tanz auf dem Grund von Musik und gesungener Erzählung. Die No¯-Stücke stützen sich, mit wenigen Ausnahmen moderner Stücke, auf die klassische Literatur wie Genji-Monogatari, Heike-Monogatari und dergleichen, deren Lektüre die No¯Autoren beim Verfassen ihrer Textbücher jeweils inspirierte. Das No¯-Spiel ist Ende des 14. und Anfang des 15. Jahrhunderts durch Zeami (1363 -1443), Sohn des großen No¯-Schauspielers Kannami, zur vollendeten Form gebracht worden. Zwei Theaterformen gelten als Vorläufer des No¯: Dengaku, ein sakrales Spiel bei bäuerlichen Anlässen, und Sarugaku, ein Lustspiel für das Volk. Auf dieser Basis entfalteten Kannami und Zeami im Geist des Zen-Buddhismus einen ganz neuen Theaterstil, der auf einer hohen geistigen Ebene das Künst84 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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lerische und das Religiöse verbindet. Zeami ist eines der größten Genies in der Kulturgeschichte Japans. Er war Schauspieler, Dramaturg, Schriftsteller und Theoretiker des No¯-Spiels in einer Person. Von den etwa 240 bis heute erhaltenen No¯-Stücke stammt vielleicht die Hälfte, mindestens aber ein Drittel direkt von ihm. Die Entdeckung seiner theoretischen Schriften Anfang dieses Jahrhunderts gehört zu den größten kulturgeschichtlichen Ereignissen in Japan. Das No¯-Theater von heute steht noch völlig in der Tradition Zeamis. Sein Einfluss reicht über das No¯-Theater hinaus in verschiedenste kulturelle und geistige Bereiche. In dieser Hinsicht ist er dem Haiku-Dichter Basho¯ (1644–1694) ebenbürtig.

Die No¯-Bühne Nun wollen wir das No¯-Theater ein wenig näher betrachten. Handelnde Personen sind der Shite und der Waki, hinzu kommen der Chor und die Musiker. 1. Der Hauptakteur wird als Shite bezeichnet, d. h. als derjenige, der handelt. Nur der Shite trägt eine No¯-Maske, welche Omote »Gesicht« genannt wird. In manchen Stücken hat der Shite noch Begleiter, sogenannte Tsure. 2. Sein Gegenspieler wird als Waki bezeichnet. Das Wort Waki bedeutet wörtlich »neben, zur Seite«. Der Waki ist zwar nicht Akteur, nicht eigentlich Handelnder, aber seine Rolle ist entscheidend, da das Spiel nämlich auf seine Veranlassung oder als Antwort auf seine Fragen hin zustande kommt. Auch der Waki hat manchmal Tsure »Begleiter«. 3. Des Weiteren gehören zum No¯-Spiel acht bis zehn Chorsänger, die die jeweilige Geschichte einstimmig singend erzählen. Es handelt sich also um eine Gruppe singender Erzähler. Die Chorsänger im No¯-Spiel werden als Ji-utai bezeichnet. Das Wort ji bedeutet »Grund, Boden«. Das Wort utai bedeutet »einen Text singen«. Oft singen der Shite, bzw. der Waki im Wechsel mit den Ji-utai. 4. Und als letztes gehören zum No¯-Spiel noch drei, je nach Stück eventuell auch vier Musikinstrumente: eine Flöte und zwei Trommeln, die mit der Hand geschlagen werden, und manchmal zudem eine größere Trommel, die mit einem Schlegel geschlagen wird. Niemals jedoch Streichinstrumente. Es ist charakteristisch für die No¯-Musik, dass diese drei bzw. vier Musiker nicht wirklich zusammen spielen. Sie spielen zwar alle gleichzeitig, aber jeder für sich ohne vorher bestimmte Harmonie. Trotzdem ergibt sich wie von selbst ein Zusammenstimmen. 85 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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Dabei handelt es sich nicht um das Schaffen einer musikalischen Melodie, sondern darum, dem Spiel-Raum eine metaphysische Stimmung zu verleihen. Kurze Momente der Stille zwischen den Trommelschlägen sind das Wesentliche. Alle Personen, d. h. Schauspieler, Chorsänger und Musiker, erscheinen auf der Bühne. Die Chorsänger und Musiker bleiben während der ganzen Aufführung auf ihren besonderen Sitzen, auch wenn sich der Hauptakteur in manchen Stücken zwischen zwei Szenen von der Bühne zurückzieht. Es gibt keinen eigentlichen Regisseur. Wie sieht nun die Bühne aus? Die Innenarchitektur des No¯-Theaters macht den Geist dieser Theaterform anschaulich. Zunächst sollten drei Punkte hervorgehoben werden: 1. Die Bühne, ein Quadrat von etwa sechs Metern Seitenlänge und vier Pfeilern, befindet sich nicht vor, sondern im Zuschauerraum. Ursprünglich war die Bühne auf drei Seiten von Zuschauern umgeben, heutzutage manchmal nur an zwei Seiten. Bei einer Aufführung im Freien, meistens im Shinto-Schrein-Garten, ist heute noch die Bühne nach drei Seiten hin offen. Die vierte Seite ist den Göttern als heiligen Zuschauern vorbehalten, denen das Spiel auch geweiht wird. Die Bühne befindet sich im Prinzip mitten im Zuschauerraum. Hier waltet nicht das ausgesprochene Gegenüber, die Dichotomie von Schauspieler und Zuschauer. Das Spiel wird nicht vor dem Zuschauer gespielt, sondern Schauspieler und Zuschauer befinden sich im selben Raum. Diese Situation steigert das Moment der Gemeinsamkeit in der Aufführung. Das Stück wird den Zuschauern nicht einfach gezeigt, sondern es ereignet sich mitten unter ihnen. Der Ort der Bühne mitten im Zuschauerraum bedingt auch die Art des Auftretens der Schauspieler, da diese nicht nur von vorn, sondern auch von der Seite her gesehen werden. Der Körper des Schauspielers muss seine Rolle auf allen Seiten richtig darstellen. 2. Ein weiteres Moment erhöht den Gemeinsamkeitscharakter des Bühnengeschehens: Es gibt keinen Vorhang zwischen der Bühne und dem Zuschauerraum, wie das im modernen Theater und auch in anderen traditionellen japanischen Theaterformen wie Kabuki (Bürgertheater) und Bunraku (Marionettentheater) üblich ist. Die Bühne ist von Anfang an für die Zuschauer offen. Beim Eintritt ins Theater befindet sich der Zuschauer unverzüglich in dem Raum, in dem gespielt wird. Mit dem Eintritt ins Theater hat das Ereignis für den Zuschauer schon 86 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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begonnen, insofern als das Vor-dem-Ereignis wesenhaft zum Ereignis gehört, auch wenn es noch ohne spezifischen Inhalt ist. Die Bühne ohne Vorhang und der Zuschauerraum befinden sich also von vornherein ausdrücklich in einem Raum, in einer und derselben Welt. 3. Die Bühne ist zunächst leer, ganz leer, ohne jedes Inventar. Die Leere der Bühne durchdringt von der Mitte aus die um die Bühne herum befindlichen Zuschauer. Die Leere wirkt dabei in verschiedener Weise sehr intensiv. Die Leere als solche reinigt, nicht nur von der weltlichen Welt, sondern auch von der seienden Welt überhaupt. Die Leere macht offen und gelassen. Die Leere macht aber auch gespannt. Die Leere löst eine Erwartung aus, ohne ungeduldig zu machen. Indem die Leere Erwartung auslöst, stillt sie zugleich schon diese Erwartung. Dadurch erweckt die Leere eine umso intensivere Erwartung. Durch die Leere wird also das Moment reinen Wartens gesteigert. Entsprechend wird auch der Ereignischarakter dessen gesteigert, was nun gespielt wird. In der Leere und durch die Leere der Bühne wird das Moment des Wartens gesteigert, und zwar des reinen Wartens in dem Sinne, dass sich die Zuschauer durch die Leere, die von der Mitte ausstrahlt, so durchdringen lassen, dass das Spiel nun in ihrer eigenen gereinigten Leere gespielt wird. Mit dem durch die Leere bedingten Erwarten hat das Spiel im Wesentlichen schon begonnen, bevor das eigentliche Stück beginnt. Entscheidend wirkt hier das »bevor« als Leere. Die Leere ist überhaupt die Grundbedingung dafür, dass sich etwas ereignet – ein Ereignis, an dem dann Spieler und Zuschauer gemeinsam teilhaben. Die Tatsache, dass die Bühne inmitten des Zuschauerraums zunächst ganz leer und offen für die Zuschauer ist, hat noch eine weitere Konsequenz. Die notwendigen, aber auf ein Minimum reduzierten Requisiten werden erst mit dem Beginn der Aufführung, oft auch erst während der Aufführung auf die Bühne gebracht. So werden erstens Objekte wie Haus, Schiffe, Berge, Bäume u. a. oft nur andeutend gezeigt. Zweitens erscheinen die Bühnenbildner für kurze Momente selber auf der Bühne, um die notwendigen Objekte herzurichten. So sind auch sie Mitspieler, obgleich in einem sehr bescheidenen Maße. So wie sie gehen, Gegenstände bringen und sich wieder zurückziehen, üben sie durch jede kleinste Bewegung im leeren Raum der Bühne auch eine Wirkung auf die Aufführung als solche aus. Die Arbeit der Bühnenbildner bewegt sich im Grunde auf derselben Ebene wie die der Schauspieler. Wenn ein Berg gebracht wird, ereignet sich ein Berg. Alles ge87 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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schieht also sozusagen ex nihilo. Man könnte, in Analogie zur creatio ex nihilo, von einem Geschehen, einem Ereignis ex nihilo sprechen. Dabei ist allerdings das ex nihilo hier positiv schöpferisch gemeint. Dies gilt noch stärker in Bezug auf das Spiel der Darsteller. Außer den vier Eckpfeilern ist zu Beginn nur der Prospekt der Bühne vorhanden. Er stellt eine große Kiefer, einen heiligen Baum, dar und weist damit auf den sakralen Ursprung des No¯-Theaters hin. Ursprünglich war der Prospekt den Göttern als heiligen Zuschauern vorbehalten. Man könnte sagen: auf dem shintoistischen Hintergrund wird das No¯ in der zen-buddhistischen offenen Leere des absoluten Nichts gespielt. Die leere Bühne, von der nun die Rede war, ist in Wirklichkeit nicht nur eine bauliche Eigenart des No¯-Theaters, sondern wesentlich mehr als ein lediglich architektonisches Element. Jedes Theater ist eine Spiegelung der Welt und als solches eine ausdrückliche Vollzugsform des sich selber erkennenden menschlichen Daseins. Das gilt in besonderem Maße für das No¯-Theater. Die Leere der Bühne, des Quadrats, dessen sechs Meter lange Seiten nur von vier Eckpfeilern abgesteckt sind, ist als solche nichts anderes als eine Spiegelung der un-endlichen Offenheit des absoluten Nichts, die die Welt umfasst und durchdringt. Die Leere der Bühne weist unmittelbar auf die un-endliche Offenheit hin und erweitert sich dadurch ins Unendliche. Das wirkt sich sowohl auf die Schauspieler als auch auf die Zuschauer aus. Zugleich ist die Bühne durch die vier Eckpfeiler doch konkret be-grenzt. So ist die leere Bühne mit ihren vier Pfeilern in ihrer auf die un-endliche Offenheit hinweisenden Leere und zugleich mit ihrer konkreten Be-grenztheit eine vollkommene Spiegelung der Doppelwelt. Das bedingt grundsätzlich und unmittelbar die Art und Weise der Handlung und Darstellung der No¯-Spieler. Die der Begrenztheit entsprechend möglichst sparsame Handlung soll eine der Unendlichkeit entsprechend möglichst weit reichende Spannung auslösen. Mit einem Schritt auf der Bühne soll der Schauspieler tausend Meilen ausdrücken. Dazu gehört viel Übung. (Die Schauspieler schreiten mit dem Suri-ashi, dem »Streichschritt«, eine besondere Weise des Schreitens, bei der die Fußsohlen nie vom Boden abgehoben werden.) Gerade weil die leere Bühne eine Spiegelung der Doppelwelt ist, stehen Leben und Tod im Mittelpunkt des No¯-Theaters.

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Das Spiel auf der Bühne Die No¯-Spieler kommen aus dem Kagaminoma, dem Spiegelzimmer, über den Hashigakari, den Brückenweg, auf die Bühne und ziehen sich von der Bühne wieder über den Brückenweg ins Spiegelzimmer zurück. Aber ihr Erscheinen auf dem Brückenweg – noch vor dem eigentlichen Auftritt – bzw. ihr Verschwinden über den Brückenweg nach dem Auftritt hat eine starke Wirkung und steht in nichts hinter dem eigentlichen Bühnengeschehen zurück. Es handelt sich um eine Vorahnung des Geschehens bzw. um einen anhaltenden Nachklang der gespielten Szene. Der Brückenweg hat manchmal einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Spiel. Bei einer traurigen Trennung steht ein Schauspieler in sich versunken auf der Bühne und sieht dem anderen nach, wie dieser sich langsam über den Brückenweg entfernt, um schließlich im Spiegelzimmer zu verschwinden. Manchmal wird auch eine Vor- oder Nach-Geschichte auf dem Brückenweg gespielt. In diesem Fall bildet er eine Art Erweiterung der Bühne. Da sich Schauspieler wie Musiker nach der Aufführung langsam über den Brückenweg zurückziehen, und da das Verschwinden als solches seine eigene Wirkung hat, gibt es im No¯ kein eigentliches Ende der Szene oder des Stücks. Beifall mit Händeklatschen ist dem No¯Theater fremd. Das Miterleben, wie die Schauspieler sich zurückziehen und verschwinden, führt die Zuschauer wieder in die ursprüngliche Leere der Bühne zurück, in jene Leere, in der das Spiel sich ereignete. Wie das Vor-dem-Auftritt schon zum Spiel gehört, so auch das Nachdem-Auftritt. Die Schauspieler kommen also aus dem Spiegelzimmer über den Brückenweg auf die Bühne und ziehen sich von der Bühne wieder über diesen ins Spiegelzimmer zurück. In ihrer Darstellung müssen die Schauspieler den Brückenweg als Verbindung von Spiegelzimmer und Bühne auch innerlich als Überbrückung zwischen Jenseits und Diesseits gestalten. Da das Spiegelzimmer für die No¯-Spieler ein heiliger Raum ist, ist im No die innere Entfernung zwischen Spiegelzimmer und Bühne größer als die Entfernung zwischen Bühne und Zuschauerraum. Im Rahmen der im ersten Teil erörterten Doppelwelt gilt das Spiegelzimmer als Spiegelung der Welt. Die qualitative Entfernung zwischen Spiegelzimmer und Bühne wird durch den Brückenweg überbrückt. Inwiefern ist das Spiegelzimmer ein heiliger Raum für die No¯89 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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Spieler? Was machen sie im Spiegelzimmer? Das Spiegelzimmer hat seinen Namen daher, dass dort ein großer Spiegel an der Wand hängt. Das Spiegelzimmer ist kein Ankleideraum, den es an anderer Stelle im No¯-Theater natürlich auch gibt. Das Spiegelzimmer ist ein Raum der inneren Sammlung, wo die No¯-Spieler sich auf die Verwandlung in die jeweilige Person konzentrieren, deren Rolle sie spielen. Das gilt ganz besonders für den Hauptakteur, den Shite, denn er setzt sich im Spiegelzimmer die No¯-Maske, das Omote, das »Gesicht«, auf. Die No¯-Maske ist keine Maske im gewöhnlichen Sinn (dafür hat die japanische Sprache ein anders Wort, nämlich Ka-men, etwa »Scheingesicht«), sondern das Gesicht, d. h. das wahre Antlitz, das Wesensantlitz des Alten, der jungen Frau, des Kriegers, des Göttlichen, des Dämonischen, des Zorns, des Leidens, der Trauer usw. Das Omote gilt als heilig, so dass der Shite eine ehrfürchtige Verbeugung vor ihm macht, bevor er es anlegt. Nun sammelt sich der Shite mit dem Omote vor dem großen Spiegel. Er sieht in den Spiegel und sieht dabei nicht sich selbst gespiegelt, sondern er sieht sich als Spiegelbild des Omotes. Er sammelt und versenkt sich, manchmal eine halbe Stunde lang, in das Omote, in das Wesensantlitz, d. h. in das Wesen der jeweiligen Person, die er spielt. Es handelt sich um eine wirkliche Versenkung. Das Spiegelzimmer ist für den No¯-Spieler der heilige Ort der Verwandlung. Die Verwandlung muss je nach Stück mehrmals vollzogen werden. In dem Stück von Zeami, das uns hier als Beispiel dient, verwandelt sich der Shite zunächst in die Rolle einer Frau aus dem Dorf. Diese Frau entpuppt sich dann als eine Verkörperung des Geistes einer Frau, die vor zweihundert Jahren gestorben ist. In der zweiten Szene erscheint der Shite als der Geist dieser verstorbenen Frau. Es muss eine zweite Verwandlung vollzogen werden: von der Frau aus dem Dorf in das geisterhafte Wesen, das auch als Frau erscheint. In einem solchen Fall zieht sich der Shite nach der ersten Szene in das Spiegelzimmer zurück, um sich dort in die Geistfrau zu verwandeln (in manchen No-Stücken mit einem anderen Omote), um dann zur zweiten Szene auf der Bühne zu erscheinen. Hier handelt es sich also um eine Doppelverwandlung. Im Ausgang des Spiegelzimmers zum Brückenweg hängt ein leichter Vorhang, der jedes Mal beim Erscheinen bzw. Verschwinden eines Schauspielers hochgezogen und gleich wieder herabgelassen wird. So gibt es im No¯-Theater zwar auch einen Vorhang, aber nicht zwischen der Bühne und dem Zuschauerraum, sondern zwischen der Bühne als Spiel-Raum und dem Spiegelzimmer als heiligem Raum der 90 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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Verwandlung. Das ist wesentlich für das No¯-Theater. Der Abstand zwischen dem Spiel-Raum und dem heiligen Verwandlungs-Raum, zwischen zwei qualitativ verschiedenen Welten, impliziert die Notwendigkeit einer Brücke, daher der Brückenweg. Die beiden Welten müssen sich in ein und demselben Raum befinden, sonst gäbe es keine Möglichkeit der Überbrückung. Welcher Raum ist ihnen gemeinsam? Die beiden befinden sich, trotz ihrer qualitativen Verschiedenheit, in ein und demselben Raum, eben in jenem Raum der un-endlichen Offenheit, die der Leere der Bühne entspricht. Die Bühne ist be-grenzt, muss be-grenzt sein. Die Leere der Bühne ist als solche nicht auf die Bühne beschränkt, sondern erweitert sich ins Un-endliche und weist somit auf die un-endliche Offenheit des Nichts hin. Nur wer in der un-endlichen Offenheit wohnt, kann zwischen den beiden Welten hin und hergehen und durch sein Gehen beide verbinden. Wie kann der No¯-Spieler leibhaft in der un-endlichen Offenheit wohnen? Es ist eine der schwierigsten Aufgaben des No¯-Spielers, durch sein Schreiten auf dem Brückenweg diese Überbrückung sichtbar zu vollziehen. Das ist vielleicht noch schwerer als die Versenkung im Spiegelzimmer oder als das Spiel auf der Bühne. Kita Minoru (geb. 1900), ein virtuoser No¯-Spieler der heutigen Zeit, soll gestanden haben: Erst nach sechzig Jahren Übung konnte ich richtig auf dem Brückenweg schreiten. Bezüglich des Omote, der No¯-Maske, sollen hier noch einige Punkte ergänzt werden. Es gibt sehr viele, fein differenzierte Omotes, die je einen Namen, beinahe eine Art Eigennamen, haben, wie z. B. Koujijo¯ »Omote der Würde eines Alten«, Koomote »Omote der Reinheit einer jungen Frau«, Heita »Omote der Tapferkeit eines Kriegers«, Kantan-otoko »Omote der Schwermut eines jungen Mannes« usw. Die Omotes können in fünf Kategorien geordnet werden: göttlicher Omote, Omote des Alters, Omote des Mannes, Omote der Frau, Omote der Geister. Die Omotes werden auch heute noch aus Holz geschnitzt. Wenn man sie nur flüchtig als Gegenstände betrachtet, sehen sie steif aus. Wenn man sich aber in ein Omote versenkt, kann es einen starken Eindruck vermitteln. Aber erst in der Aufführung, von der Bewegung eines Shite getragen, wird ein Omote verschiedene Grundgefühle, wie Freude, Trauer, Schmerz usw., sehr nuanciert zum Ausdruck bringen. Ein etwas schräg gesenkter Omote (der Fachausdruck lautet »trübe werden lassen«) drückt Trauer bzw. Schwermut aus. Ein leicht nach oben gewendeter Omote (»strahlen lassen«) drückt Freude aus. Ein schnell in scharfem Winkel zur Seite gewendeter Omoto (»schneiden«) 91 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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drückt Zorn aus. Ein langsam nach links und rechts gedrehter Omote (»benutzen«) weist auf das Horchen auf die Stimme des Windes oder auf das leise Summen der Insekten. Es handelt sich jeweils um unmittelbare Grundgefühle, die erst durch den Omote in ihrer ganzen Reinheit ausgedrückt werden können, indem er das individuelle und momentane Mienenspiel verdeckt. Als besondere Schwierigkeit für den Shite kommt hinzu, dass der Omote kleiner als das menschliche Gesicht ist, so dass als Hintergrund des Omote immer etwas vom Gesicht sichtbar bleibt. Daraus ergibt sich, dass der Shite den Omote und den sichtbaren Teil seines Gesichts durch sein Spiel zu einer leibhaften Einheit verschmelzen muss. Ein Shite kann sich nicht einfach hinter der Maske verbergen, sondern muss sich leibhaftig mit der konkreten Reinheit des Omotes vereinen. Soviel zum Rahmen des No¯-Theaters. Es sollte die Grundidee dieses Theaters vermittelt werden, damit das im Folgenden zur Sprache kommende No¯-Stück verständlich wird. Es kommen auch heute hauptsächlich No¯-Stücke des klassischen Repertoires zur Aufführung. Es gibt verhältnismäßig wenig moderne No¯-Stücke. Im Geiste des No¯Theaters kommt es weniger auf neue Stücke an als auf die spezifische No¯-Qualität der Aufführung. Das betrifft nicht so sehr die Inszenierung, sondern das individuelle Darstellungsvermögen der Schauspieler. Ein einfaches Gehen, Stehen oder Sitzen ist in der Qualität des Ausdrucks je nach No¯-Spieler sehr verschieden. Die Wirkung eines Stücks beruht weniger auf dessen Inhalt als auf dem Vermögen der Darsteller. Das oberste Gebot für No¯-Spieler lautet daher: üben, nochmals üben und wiederum üben! Übrigens hat das No¯-Theater eine befruchtende Wirkung auf das moderne japanische Theater. Es sei hier auf die modernen Autoren Mario Yokomichi, Junji Kinoshita, Yukio Mishima bzw. moderne No¯Spieler wie Hisao Kanze u. a. hingewiesen, die europäische Autoren wie z. B. Sophokles, Shakespeare und W. B. Yeats sowie Themen der Volkssage und der alten Epik im No¯-Stil auf die japanische Bühne gebracht haben.

Das No¯-Stück »Izutsu« von Zeami Nun wollen wir uns einem No¯-Stück zuwenden, das von Zeami in seinen späten Jahren verfasst wurde. Der Titel des Stücks lautet »Izut92 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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su«. »Izutsu« bezeichnet eine quadratische, etwa einen Meter hohe hölzerne Umrandung des Brunnenschachts. Ausgehend von einer Liebesgeschichte, die einem klassischen Werk aus dem 10. Jahrhundert namens Ise-monogatari »Erzählung von Ise« entnommen wurde, schrieb Zeami das Stück »Izutsu«, das als Musterbeispiel für das No¯Theater überhaupt gilt. Zeami selbst hielt es für sein Meisterwerk. Die zugrunde liegende Liebesgeschichte kann vereinfacht und verkürzt so wiedergegeben werden: Zwei Kinder, die Tochter von Kinoaritsune und der Sohn des Nachbarn, hatten sich gern und spielten oft zusammen am Brunnen, wobei sie sich im Brunnenwasser spiegelten und große Freude daran hatten. Sie maßen ihre Größe am Izutsu, dem Holzrahmen des Brunnens, und amüsierten sich über ihr Wachsen. Sie drückten ihre gegenseitigen Gefühle aus – zwar nicht mit Worten, aber im Herzen schworen sie sich sozusagen ewige Liebe. Als sie aufwuchsen, sahen sie sich seltener. Sie waren nun keine Kinder mehr und eine gewisse Scheu hielt sie zurück. Eines Tages schickte der Junge dem Mädchen folgendes Waka-Gedicht: Als Kinder verglichen wir unsere Größe An der Höhe des Holzaufsatzes vom Brunnen. Seitdem ich dich das letzte Mal gesehen habe, so scheint es mir, bin ich viel größer geworden. Auf diesen Heiratantrag in Gedichtform antwortete das Mädchen ihrerseits auch mit einem Gedicht: Als wir am Brunnen unsere Größe verglichen, waren meine Haare noch kurz. Jetzt hängen sie lang an meinem Rücken hinunter. Für wen, wenn nicht für dich, Sollte ich als Frau sie zusammenknoten? So heirateten sie und waren sehr glücklich. Auch als eine andere Frau ihn einmal betörte, blieb er der Liebe zu seiner Frau treu. Als die Frau ziemlich jung starb, war ihr größter Schmerz die Trennung von ihrem geliebten Mann. Der Mann wurde ein berühmter Dichter namens Ariwara-no-Narihira. Das erwähnte »Ise-monogatari« ist eine Sammlung von Erzählungen von ihm. Über diese Liebesgeschichte, die Zeami tief beeindruckte, schrieb 93 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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dieser ein No¯-Stück namens »Izutsu«, wobei er einen charakteristischen Stil entwickelte, der später maßgebend für die No¯-Dramatiker wurde. Dieser Stil wird heute als »Mugen-No¯« (mu bedeutet »Traum«, und gen »Phantasie bzw. Vision«) als Traum-Vision-No¯ bezeichnet, im Unterschied zu einem anderen Stil, den Genzai-No¯, dem »GegenwartsNo¯«. Im Genzai-No¯ ist der Hauptakteur ein realer Mensch. Der Verlauf auf der Bühne entspricht dem natürlichen Zeitverlauf. Wenn ein Stück aus zwei Szenen besteht, folgen diese zeitlich aufeinander. Ebenso wird der lineare Zeitverlauf nicht aufgehoben durch das Erscheinen von Göttern und Dämonen, die sich im No¯-Spiel oft in die Geschehnisse einmischen. Es gibt viele No¯-Stücke, in denen, wie in anderen Theaterformen, der Ablauf auf der Bühne mit dem alltäglichen Zeiterleben übereinstimmt. Im Mugen-No¯, dem »Traum-Vision-No¯«, zu dem das Stück Izutsu gehört, geht es wesentlich anders zu. Die Mugen-No¯-Stücke bestehen im Allgemeinen aus zwei Szenen, die hinsichtlich des Zeitverlaufs kontrastieren. Der Verlauf auf der Bühne unterscheidet sich vom natürlichen Verlauf der Zeit, indem zwischen den beiden Szenen eine Umkehrung der Zeitrichtung stattfindet, so dass die zweite Szene zwar in ihrer formalen Abfolge eine Fortsetzung der ersten ist, inhaltlich aber nicht, sondern eigenständig der ersten beigeordnet wird. In der zweiten Szene wird die Vergangenheit über den Tod ausgehend in die Gegenwart geholt. Diese Gegenwart der zweiten Szene umfasst aber auch diejenige der ersten. Hier müssen wir versuchen, uns die konkreten Vorgänge des Stücks »Izutsu« auf der Bühne vorzustellen.

Die erste Szene An einem Spätherbsttag kommt ein Wandermönch als Waki (der Nebenakteur) an dem Tempel Ariwaradera vorbei, wo vor etwa zweihundert Jahren das berühmte Ehepaar, Ariwara-no-Narihira und seine Frau, Tochter des Ki-no-Arizune, wohnte, und wo sich jetzt das Grab des Mannes befindet. In Erinnerung an das Ehepaar möchte der Wandermönch den Tempel besuchen. Die Liebesgeschichte von Narihira und seiner Frau ist ihm aus der Lektüre des Ise-monogatari bekannt. Er betritt den Tempelgarten, besichtigt den Tempel und hält seine Andacht an dem Grab. Es wird Abend. Er setzt sich in eine Ecke der Bühne 94 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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auf den Sitz des Waki, um sich im Tempelgarten auszuruhen. Dort bleibt er bis zum Ende der zweiten Szene sitzen. Nun erscheint auf dem Brückenweg eine Frau aus dem Dorf, einen Rosenkranz in der rechten Hand, einen Zweig in der linken: Diese Rolle wird von dem Shite mit dem entsprechenden Omote gespielt. Auf der Bühne angekommen, wendet sich die Frau dem Prospekt zu. Indem sie so den Zuschauern den Rücken kehrt, singt sie: »Jeden Tag dem Buddha ein Wasseropfer. Jeden Tag dem Buddha ein Wasseropfer. Des Mondes Spiegelung im Wasser reinigt das Herz.« Während der Chor diese Strophe wie ein Echo leise wiederholt, wendet sich die Frau dem Publikum zu und singt weiter: »In einer einsamen Herbstnacht im entlegenen Tempel …« Es mag seltsam anmuten, dass der Shite anfänglich als Frau aus dem Dorf mit dem Rücken zum Publikum singt. Das hat aber eine besondere Wirkung. Indem die Frau nicht zum Publikum gewendet singt, scheint der Gesang unbestimmten Ursprungs zu sein und ergießt sich in den Zuschauerraum. Das schafft eine spezifische Atmosphäre der Unbeschränktheit, welche die Offenheit der leeren Bühne füllt und in die das Publikum einbezogen wird. Nun fängt die eigentliche Handlung an. Es ist fast Abend und schon ziemlich dunkel. Die Frau schöpft Wasser aus dem Brunnen im Tempelgarten, um es andächtig und innig im Andenken an Ariwarano-Narihira über den Grabstein zu gießen. Diese Szene macht den Wandermönch neugierig. Vom Waki-Sitz aus richtet er sich an die Frau und fragt sie, wer sie sei, was sie mache und warum so spät am Abend. Die Frau antwortet kurz: »Ich wohne in diesem Dorf und ich weiß nicht viel von Ariwara-no-Narihira. Es drängt mich irgendwie, das Grab des berühmten Dichters zu sehen.« Die Neugier des Mönchs wird dadurch noch mehr angestachelt. Er fragt weiter, worauf sie anfängt, über Narihira und seine Frau zu erzählen, wobei ihr Gesang immer leidenschaftlicher wird und manchmal nahezu in die Ichform übergeht. Diese Erzählung wird teilweise im Wechsel mit dem Chor gesungen. Die Frau singt auch die beiden oben angeführten Gedichte. Daraufhin wird sie vom Chor nach ihrem Namen gefragt. Es folgt ein Dialog, diesmal nicht mehr mit dem Mönch, sondern jetzt zwischen dem Chor und der Frau. Das weist darauf hin, dass die Frage nach ihrer Identität nun nicht mehr eine nur persönliche Frage des Mönches ist, sondern inzwischen zu einer allgemeinen Frage geworden ist, die das ganze Publikum betrifft. Schließlich gesteht sie zögernd: »Ich bin seine Frau«. Und ver95 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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schwindet hinter dem Brunnenaufsatz. Sie zieht sich langsam und still über den Brückenweg ins Spiegelzimmer zurück. An die Frau von Ariwara-no-Narihira denkend, singt der Wandermönch jetzt: »Die Nacht wird tiefer. Der Mond der Nacht im AriwaraTempel. Der Mond der Nacht im Ariwara-Tempel. Das Innere des Gewandes nach außen drehend, wie um den Zeitablauf nun umzuwenden, sich auf ein Moosbett ausstreckend, sich schlafen legend, um zu träumen.« Das singt der Wandermönch, während er sich schlafen legt. – Ende der ersten Szene. Ein hervorragender moderner No¯-Spieler, Hisao Kanze, sagt dazu: Der entscheidende Moment ist der, in dem der Shite, der als Frau aus dem Dorf beim Grab saß, aufsteht mit den Worten: »Ich bin seine Frau«. Im Aufstehen und durch das Aufstehen soll die vollkommene Verwandlung der Frau aus dem Dorf in die Frau von Narihira sichtbar zum Ausdruck gebracht werden.

Die zweite Szene Nun erscheint der Shite, der Hauptakteur, eben als die Frau von Narihira, allerdings als Verkörperung ihres Geistes. Die Frau trägt nun das Gewand ihres Mannes. Die hat ihren Mann wie ein Gewand angezogen, als Ausdruck der Vereinigung mit ihm. So tanzt sie um den Brunnen und singt die Geschichte ihrer Liebe wie von etwas Gegenwärtigem. Währenddessen spiegelt sie sich ab und zu im Wasser des Brunnens. Da sieht sie nun ihren Mann gespiegelt. Ihre Freude darob ist groß. Aber die Spiegelung zeigt ihr auch manchmal sich selbst als alte Frau. Die abwechselnden Gefühle von Beglückung und Verzweiflung steigern sich zu einem Höhepunkt. In solchen Gefühlen tanzt die Frau ganz hingerissen und doch verhalten. Dieser Tanz ist einer der schönsten No-Tänze. Der Mönch sitzt unbeweglich und schweigend während der ganzen Zeit auf dem Waki-Sitz in einer Ecke der Bühne und vertieft sich meditativ in das, was vor ihm gespielt wird. Er erlebt, wie die vor zweihundert Jahren gestorbene Frau von Ariwara-no-Narihira jetzt ihren Liebestanz aufführt. In der gesamten zweiten Szene singen der Shite und der Chor abwechselnd. Der Schlusschor endet mit den Worten: »Beim alten Tempel weht der Wind in den Kiefern. Die Frau verschwindet. Der Traum zerstiebt. Der Morgen dämmert.« In diesem No¯-Stück im Stil des Mugen-No¯ kreuzen sich zwei 96 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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Wege der Zeit: der Weg von der Gegenwart in die Vergangenheit und der Weg von der Vergangenheit in die Gegenwart. Der erstere Weg ist der Weg des Wandermönchs als Waki, als Nebenakteur. Der letztere ist der Weg der Frau als Shite, als Hauptakteur. In der ersten Szene erinnert sich der Mönch an die Geschichte des Ehepaars vor zweihundert Jahren. Bei ihm ist die Erinnerung der Weg, der von der Gegenwart in die Vergangenheit führt. Dann begegnet ihm die Frau aus dem Dorf als eine gegenwärtig lebende Frau. Die Begegnung findet in der Dimension der alltäglichen Gegenwart statt. Dann aber entpuppt sich diese Frau als die Frau von Ariwara-no-Narihira, die vor zweihundert Jahren starb. So bringt diese Frau aus dem Dorf, indem sie sich als die verstorbene Frau entpuppt, die Vergangenheit in die Gegenwart.

Schlussbetrachtung Die architektonische Struktur der No¯-Bühne spiegelt das In-der-Doppelwelt-Wohnen in der unsichtbaren Doppelheit. Das dramatische Geschehen auf der Bühne entspricht in seiner Zeitlichkeit dem In-derDoppelwelt-Wohnen. Dieses artikuliert sich in der Zeitlichkeit jeweils nach einer Weise der Doppelwelt wie folgt: 1) Innerhalb der Welt als solcher gilt die normale alltägliche Zeit wie die Uhrzeit, Kalenderzeit u. a., Morgen und Abend, ein Tag, ein Monat, ein Jahr, vier Jahreszeiten, sieben Jahre, zweihundert Jahre usw. 2) In der Welt, umfasst von der un-endlichen Offenheit, gilt die kosmische Zeit, wie es heißt: »Jitsu (Sonne)-Getsu (Mond) lang«. 3) In der Welt, die die unendliche Offenheit durchdringt, gilt die paradoxe Zeit, wie wenn es heißt: Die Vergangenheit kommt erst in der Zukunft. Zwei Zeitrichtungen, von der Gegenwart zur Vergangenheit und von der Vergangenheit zur Gegenwart kreuzen sich oft und durchdringen sich manchmal unregelmäßig. 4) In der un-endlichen Offenheit als solcher gilt überhaupt keine Zeit, weder Zeit noch Ewigkeit, obgleich das manchmal von der Welt her fantastisch als Ewigkeit missverstanden wird. So ist es mit den vier Weisen des In-der-Doppelwelt-Wohnens in Hinblick auf die Zeitlichkeit. Das Stück Izutzu ist in der ersten und in der zweiten Szene in den gesamten Vorgängen und Zusammenhängen ziemlich kompliziert in Hinsicht auf die Problematik der Zeitlichkeit. 97 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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In Grundzügen könnte dabei eine Überlagerung von der ersten und dritten Zeitlichkeit festgestellt werden – von der ersten Zeitlichkeit nämlich, wenn es heißt »es wird Abend bzw. der Morgen dämmert«, von der dritten Zeitlichkeit, wenn die Frau von vor zweihundert Jahren über den Tod hinaus vor dem Wandermönch als eine Frau vom Dorf erscheint. In dieser dritten steht der Traum für die Welt, die die unendliche Offenheit durchdringt. Nicht einfach der Traum, den der Wandermönch träumt, sondern der auf der Bühne aufgeführte Traum als das Stück Izutsu selbst. In Wahrheit erscheint der Wandermönch als eine Gestalt in diesem Traum, der die Struktur der Bühne spiegelt, die ihrerseits als solche dem In-der-Doppelwelt-Wohnen in der unsichtbaren Doppelheit entspricht.

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4 Was ist Zen? 1

1. Die drei Aspekte des Zen Die erste Frage sollte für uns heißen: Was ist eigentlich Zen? Ich bin nicht imstande, aus dem Zen heraus eine direkte Antwort zu geben – wie ein Meister, der sagen konnte »im Himmel oben ziehen Wolken, im Krug unten ruht Wasser«, oder wie ein anderer Meister, der erwiderte »hast Du schon Frühstück gegessen?«, wie ein dritter, der dem Fragenden unvermittelt einen heftigen Tritt mit dem Fuß gab, oder wie ein vierter Meister, der ein bisschen verständlicher sagte »es gibt überhaupt nichts, was als Zen bezeichnet wird.« Zur Erörterung unseres Themas möchten wir zunächst zugänglichere Ansätze suchen. Wir wollen uns dem zuwenden, was ein Mensch auf dem Weg des Zen tut, um das wahre Selbst zu realisieren. Es gibt drei Aspekte bzw. drei Glieder: 1) 2)

3)

Za-Zen, d. h. die Zen-Übung im Stillsitzen, San-Zen, d. h. die Zen-Übung in der Begegnung mit den anderen – meistens die Zwiesprache und Auseinandersetzung mit einem Meister, Samu, d. h. Dienst, meist Garten- und Feldarbeit, und Angya »Wanderung«, Zen-Übung in der Natur.

Warum wird das Zen an diesen drei Aspekten geübt? Weil das wahre Selbst, um dessen Realisierung es geht, in einem beweglichen Zusammenhang von drei Aspekten wirkt. Die drei Weisen der Übung entsprechen den drei wesenhaften Aspekten des wahren Selbst. Deswegen ist diese Übung der Weg zum wahren Selbst – und zwar als der Weg des Erste Hälfte von »Die Bewegung nach oben und die Bewegung nach unten. ZenBuddhismus im Vergleich mit Meister Eckhart«, in: Eranos 50 (1981) 1982, S. 223–272.

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wahren Selbst. Dieser Weg wird nämlich nicht erst durch unsere Übung erschlossen, sondern das wahre Selbst, das als solches eine Bewegung ist, hat durch seine Bewegung den Weg erschlossen. Deshalb ist dieser Weg des wahren Selbst zugleich der Weg zum wahren Selbst. Es handelt sich nach einem Zen-Ausdruck um die »Imitatio des Selbst«. Warum aber ist von dem wahren Selbst die Rede? Weil wir zunächst und zumeist in eine Verkehrtheit des Ich geraten sind, weil wir zunächst und zumeist an das eigene Ich gefesselt sind. Es kommt uns darauf an, aus der Ich-Verkehrtheit zum wahren Selbst zu erwachen, von der Ich-Fesselung zum wahren Selbst frei zu werden, wobei die Wahrheit des Selbst in Übereinstimmung mit der Wahrheit alles Seienden zugleich die Wahrheit des Selbst ist. Nun wollen wir zunächst den ersten Übungsaspekt, das Zazen, erklären, um danach wieder zum Thema des wahren Selbst und der Verkehrtheit des Ich zurückzukommen.

2. Zazen Das Wort za bedeutet »sich setzen, sitzen«. Das Wort zen bedeutet in dieser Verbindung »Sammlung«. Es vereinigt zwei Momente, erstens: Abgeschiedenheit, Gelassenheit, Gelöstheit, Stille und zweitens: Schauen, Erblicken. So könnte unter Zen in diesem Zusammenhang Folgendes verstanden werden: »Sammlung bis zur äußersten Selbstvergessenheit, in der die Wahrheit des Selbst und des Seins gegenwärtig wird und so erblickt wird.« Zazen ist also, kurz gefasst, Zen im und durch das Sitzen oder vielmehr das Sitzen als Zen und das Zen als Sitzen. Was aber ist eigentlich das Sitzen? Wenn in Japan vom Sitzen die Rede ist, so handelt es sich immer um das Sitzen auf dem Boden. 2 Dabei unterscheidet man: erstens Seiza, rechtes Sitzen in der gespannten Stille, zweitens Agura-Sitzen in der Gelöstheit und drittens ZazenSitzen in Spannung und Gelöstheit zugleich. Jede dieser Arten des Sitzens entspricht einer bestimmten Situation und hat einen eigenen Haltungswert und eine eigene Bedeutung. Eine Haltung des Sitzens Sitzen bedeutet in Japan ursprünglich Sitzen auf dem Boden. Für das Sitzen auf einem Stuhl hat das Japanische ein anderes Wort.

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ist nämlich der Ausdruck und Vollzug der Haltung eines Menschen in der Welt. Im Zazen und als Zazen ist das Sitzen zur Ur- und Grundhaltung des Menschen erhoben. Dem liegen von vorne herein ein bestimmtes Verständnis und eine bestimmte Bewertung des Sitzens zugrunde. Praktisch bedeutet sitzen im Grunde »still und gelassen sitzen« – nicht aber irgendwo in einem gegebenen stillen Zustand sitzen, sondern still werden durch Sitzen. Das Sitzen gibt Stille. Sitzen heißt »Ruhe ausdrücken, dem Ort und der Situation gut angepasst und innerlich harmonisch gestimmt sein«. Im Ausströmen dieser Stimmung der Stimmigkeit gibt das Sitzen die Stille. Im Walten der Stille wird der Unterschied von Außen und Innen, von Bewegung und Ruhe aufgehoben. Das also ist das Sitzen. Schon im Sitzen als solchem ist etwas von Zen enthalten. Im Zen gilt das Sitzen in Stille und Gelassenheit als die Grundhaltung menschlichen Seins, nicht als eine Haltung unter anderen, nicht als eine vorübergehende Zwischenhaltung zwischen Liegen und Stehen. Sich-Setzen bedeutet im Zen-Buddhismus ohne Weiteres »in das Zazen hineingehen«. Es handelt sich also beim Zazen um das Sitzen als den körperlichen Ausdruck und Vollzug der stillen Sammlung und der gelassenen Offenheit. Man soll sich in sich sammeln und das so Gesammelte von der grenzenlosen Offenheit durchdringen lassen. Das Sitzen als Zen wirkt im alltäglichen Sitzen als die Sinnerfüllung der Lebenswirklichkeit, die dann in verschiedenen Bewegungen ausströmt. Wie wird Zazen geübt? Durch dreifaches Stimmen geht der Übende in das Zazen hinein: durch das Stimmen des Leibes, des Atems und des Geistes. a) Das Stimmen des Leibes erfolgt mit dem Senkrechthalten der Wirbelsäule, dem Unterschlagen der Beine und dem Verschränken der Hände, die auf dem Unterleib ruhen. Dadurch wird der Schwerpunkt des ganzen Leibes in den Unterleib verlagert. Es ist gewissermaßen ein Zusammenbinden zur konkreten Sammlung. Diese Haltung ist auch die Verkörperlichung3 einer Lage, in der es keinen Gegenstand, keinen Gegensatz gibt. Die Augen werden leicht geöffnet gehalten. Das ist entscheidend im Zen-Buddhismus. Den Blick auf den Boden richten, Das Wort ›Verkörperlichung‹ soll zum Ausdruck bringen, dass es sich um eine Verkörperung im Leiblichen handelt, und zwar im Sinne der Realisierung durch den und in dem eigenen Körper.

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aber weder sehen noch nicht sehen. Es handelt sich beim Zazen nicht um Betrachtung innerer oder äußerer Bilder. Ich befinde mich mitten in der Offenheit ohne jede Gegensätzlichkeit. In einer weiteren Hinsicht ist diese Haltung die Verkörperlichung des Nichts-Tuns. Ich gebrauche die Hände und die Beine nicht, also tue ich nichts. Zugleich tue ich, indem ich nichts tue. So ist das Zazen nicht nur Nichts-Tun, sondern auch ein Tun des Nichts-Tuns. Dieses letztere Tun wirkt erst beim Herausgehen aus dem Zazen explizit, während es im Zazen wieder in das Nichts-Tun hineingenommen ist. Hier sei nur darauf hingewiesen, dass in dem Tun des Nichts-Tuns das Moment des uranfänglichen Tuns aus dem Nichts liegt. Ein anthropologischer Gesichtspunkt wird uns helfen, die Bedeutung des Zazen verständlicher zu machen. Der Mensch zeichnet sich unter allen Lebewesen durch aufrechtes Stehen und Gehen aus. Während die Tiere jeweils eindeutig an eine Umwelt gebunden sind, ist dem Menschen durch das aufrechte Stehen eine Offenheit erschlossen, die im Unterschied zur Umwelt Welt heißt. Mit den Händen, die jetzt frei zur Verfügung stehen, kann der Mensch nach seinem eigenen Weltentwurf seine Umwelt umbauen. Das ist aber nur eine Seite. Die andere Seite muss ebenso ins Auge gefasst werden: Durch das aufrechte Stehen ist dem Menschen die Welt erschlossen, wobei er sich aber zunächst immer ins Zentrum der Welt stellt. Der Homo- und Egozentrismus gehört also dazu. Mit den Händen greift er umher, um das Seine immer mehr zu gewinnen. Wenn nun im Zen das Sitzen auf die oben beschriebene Weise als die Urhaltung des Menschseins gilt, so bedeutet das zugleich, dass der Mensch das anthropologische Privileg des aufrechten Stehens zunächst einmal zurücknimmt. Er nimmt sich selbst aus der Welt heraus, so dass die vom Egozentrismus verzerrte Welt wieder zur Offenheit zurecht gebracht wird und der Mensch sich in der ursprünglichen und eigentlichen Offenheit wieder findet. Diese Offenheit, in der sich der Mensch durch und in Zazen findet, ist nichts anderes als der Raum für die Bewegung nach oben und nach unten. b) Das Stimmen des Atems geschieht durch ein natürliches Atmen durch die Nase, mit leiser innerer Betonung der Ausatmung, wobei der Atemimpuls nicht aus der Brust, sondern aus dem Unterleib kommt. Die Atemzüge werden von selbst immer dünner, immer länger, immer tiefer. Also Versenkung in die Atmung. Ruhe in Bewegung, Bewegung in Ruhe. Ausatmen heißt: restlos aus sich selbst hinaus in das unendlich weite Offene eingehen. Das ist schon ein Sterben, eine Nicht102 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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Selbst-heit. Einatmen heißt: das unendliche Offene in sich hinein nehmen. Das ist schon eine Wiederauferstehung. Alles ist innen: die AllSelbst-heit. c) Das Stimmen des Geistes bedeutet den Geist so stimmen, dass er in die vollkommene Gesammeltheit hineingeht. Worauf gesammelt? Auf Nichts. Nichts-Denken, Nichts-Wollen. Das Nichts-Denken kann aber nicht zielbewusst erreicht werden. Der Weg dazu ist bei Zazen das Su-soku-kan, das »Schauen als Atemzählung«, d. h. die Sammlung im Zählen der Atemzüge. Beim Ausatmen wird lautlos von eins bis zehn gezählt, was auf den ersten Blick einfach zu sein scheint und in Wahrheit auch einfach ist. Aber wie wir in der Praxis erfahren, ist diese Übung gar nicht so leicht, da wir zunächst zum Einfachen nicht bereit sind. Wir sind nämlich in Vielheit zerstreut. Zum Su-soku-kan müssen wir äußerst wach und gegenwärtig sein. Das Einfache tun, das reinigt uns von dem Vielerlei, in dem wir zerstreut sind. Also wach und gegenwärtig Atemzüge zählend sich selbst in der Sammlung vergessen. Hier ist Wach-und-gegenwärtig-Sein und Selbstvergessenheit das gleiche. Auf diese Art ist in der Übungsweise des Zazen das wahre, selbstlose Selbst leibhaft vorweggenommen. Offenheit ohne Gegensätzlichkeit, Ruhe in Bewegung, Bewegung in Ruhe. Wach, gegenwärtig und selbstvergessen. Zusammengehörigkeit der Leere und der Fülle. Es kommt nun darauf an, durch den eigenen Vollzug das in der Übung Vorweggenommene zu erfüllen. Es ist aber nicht so, dass dies durch wiederholtes Üben erreicht werden könnte. Was treibt eigentlich zum eigenen Vollzug? Jetzt kommt es zum entscheidenden Punkt im Zazen. Das Treibende zum und im Zazen ist nichts anderes als die existentielle Grundfrage, wie dies bei Gautama der Fall war, der Buddha geworden ist, d. h. bei demjenigen, der zu der Wahrheit erwacht ist: Wer bin ich eigentlich? Was ist der letzte Sinn von Leben und Sterben? Das Zazen ist existentiell zunächst die Verkörperlichung der totalen Infragestellung des Menschen durch diese Grundfrage und deren Unlösbarkeit. Der Mensch ist jetzt selber zur unlösbaren Frage geworden, »Frage und Verzweiflung wie ein Klumpen«. Er kann jetzt fast im buchstäblichen Sinn nichts mehr machen. Das Ende aller menschlichen Bemühungen und Versuche ist erreicht. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich in diesem »Nichts-mehr-machen-Können« tot zu stellen. Das ist also das Zazen. Ohne diese existentielle Frage würde das Zazen leicht zu einer bloßen Übung entarten. Deswegen fragt und fragt der Zen-Buddhismus einen jeden Übenden: Was ist dein eigentliches und 103 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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uranfängliches Selbst, das du schon warst, als du weder dies noch das dachtest und als du von deinen Eltern noch nicht geboren warst? Nun ist dasselbe Zazen zugleich die Verkörperlichung der Antwort, der Gelöstheit des Klumpens, der Gelöstheit, wie sie in der Übung des Zazen vorweggenommen ist. Zazen zu üben bedeutet also für den Übenden Gegenwart des Buddhas und der alten Meister. Um dem Abgleiten des Zazen in eine bloße Übung vorzubeugen, spricht der Zen-Buddhismus bei aller Betonung der Zazen-Übung dem Zazen den Übungscharakter ab. Und zwar entweder mit dem ironischen Hinweis auf die Nutzlosigkeit des Zazen als Übung oder durch die nachdrückliche Betonung, dass Zazen als solches schon nichts anderes als Buddhas Gegenwart ist. Dafür je ein Beispiel. 1) Ein Meister malte mit Tusche einen auf einem Stein sitzenden Frosch und schrieb dazu: »Wenn man durch die Übung des Zazen Buddha werden könnte.« 2) Es heißt: »Du bist als Zazen Buddha oder du kannst nie Buddha werden.« Ein andermal wird gesagt: »Buddha sein, das ist einfach. Buddha werden, das ist unmöglich.« Das Zazen ist, wie schon oben dargestellt, die Verkörperung der Frage-Existenz und zugleich die Verkörperung der endgültigen Lösung. Dieses »zugleich« weist als solches auf eine grundsätzliche Umkehrung hin, eine Umkehrung von der Frage-Existenz zur gelösten Ek-sistenz. 4 Man müsste noch fragen, wann sich diese Umkehrung ereignet. Doch darauf gibt es keine Antwort. Zum Zazen gehört kein Programm. Es genügt für die Übenden, dass es in der Geschichte des Zen-Buddhismus Beispiele für die wirkliche Umkehrung, für das Erwachen gibt. Der Zen-Buddhismus gibt deshalb Anweisungen in Form von Beispielen, und nicht primär in der Form der Lehre oder Theorie. Es ereignet sich wie folgt: Im Zazen klingt oder blitzt plötzlich ETWAS auf, unsagbar, unfassbar, aber klar und gewaltig. ETWAS, das man sonst im alltäglichen Sinn objektiv-gegenständlich, z. B. als Singen eines Vogels oder als Trommeln, hören würde oder das man im religiösen Sinn als Gnade erleben würde. In der unmittelbaren Gegenwart dieses ETWAS-Ereignisses ist kein Raum für eine Deutung. Dieses ETWAS durchbricht das Ich-bin-ich, und zwar, wie es heißt, »in zehn Richtungen«. Das Ertönen des Durchbruchs wird manchmal in einem Gedicht bzw. in einem Spruch artikuliert als Selbst-Klarheit, wie z. B. Diese von Heidegger entlehnte Wortform bedeutet hier »außer sich sein« und »sich in der unendlichen Offenheit befinden«.

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bei dem japanischen Meister Daito¯ (1283–1337): »Dort, wo das Wolkentor durchschritten ist, dort führt der Pfad des Lebens nach Osten, nach Westen, nach Süden, nach Norden. In Abendruhe und im Morgenwandern finden sich weder Herr noch Gast. Nur reiner Wind weht um den wandelnden Fuß.« Oder wie in einem Spruch des chinesischen Meisters Genscha (835–908): »Das Weltall im Ganzen, in seiner grenzenlosen Offenheit nach zehn Richtungen, ist eine einzige klare, durchsichtige Perle, eine aus sich selbst rollende Perle. Der Ganzheitsleib des wahren Selbst ist nichts anderes als diese Perle.« Die Berichte von Erlebnissen des Erwachens geben den anderen Übenden Gewissheit und Gewähr. Sie dienen ihnen als Bilder der Orientierung, als hinweisende und einladende Zeichen für das Erwachen zur Wahrheit.

3. Das wahre Selbst Nun wollen wir sehen, wie diese einzige durchsichtige Perle rollt, wie dieses Rollen-aus-sich-von-selbst ein Wahrheitsereignis des Selbst darstellt. Damit kommen wir zum Thema des wahren Selbst. Als Illustration für die Bewegung des wahren Selbst seien drei Bilder herangezogen, die einem kleinen klassischen Zen-Text entnommen sind. 5 In dem Text bilden die drei Bilder eine Einheit, welche die Vollkommenheit auf dem Wege der Selbstwerdung des Menschen darstellt. Es handelt sich um ein dreifaches Selbstbildnis des wahren Selbst, wobei sich die Wahrheit des Selbst erst in dieser Triade erschließt. 6 Das erste Bild ist eigentlich kein Bild, nur ein leerer Kreis, in dem nichts gezeichnet ist. Es geht also um das absolute Nichts: weder Sein noch Nicht-Sein. Das wirkt aber zunächst als unendliche Negation. »Heiliges und Weltliches sind spurlos verschwunden«, so heißt es im Text zu diesem leeren Kreis. Es geht um ein radikales »weder-noch«, um eine grundsätzliche, totale Negation jeder Art von Dualität. Um zum Durchbruch zu dem wahren Selbst zu gelangen, dessen unbedingStufen 8, 9 und 10 aus Der Ochs und sein Hirte. Eine altchinesische Zen-Geschichte. Erläutert von Meister Daizohkutsu R. Ohtsu mit japanischen Bildern aus dem 15. Jahrhundert übersetzt von K. Tsujimura und H. Buchner, Pfullingen 2. Aufl. 1958, 4. Aufl. 1981. D. T. Suzuki, »The Ten Oxherding Pictures I & II«, in: Manual of Zen Buddhism, New York 1960. 6 Kapitel 1, »Leere und Fülle – S ´ u¯nyata¯ im Maha¯ya¯na-Buddhismus. Zum Selbstgewahrnis des wahren Selbst«. 5

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ter Selbst-losigkeit entsprechend, muss der Mensch nun ein für alle Mal ins lautere Nichts springen, d. h. »groß sterben«, wie der Zen-Ausdruck lautet. Das heißt zugleich: Formlosigkeit als solche, unberührbar, unsagbar, unanalysierbar. Daher der leere Kreis. In diesem absoluten Nichts der entsubstantialisierenden Dynamik ereignet sich dann die Grundwendung, wie in dem »stirb und werde« oder in »Tod und Auferstehung«. Das Formlose zeigt sich hier in einer konkreten Form. So kommen wir zu dem zweiten Bild. Dieses stellt einen blühenden Baum am Fluss dar, nichts anderes. Dazu heißt es im Text: »Die Blumen blühen, wie sie von sich selbst her blühen; der Fluss fließt, wie er von sich selbst her fließt.« Es handelt sich hier, auf dem Wege des Selbst des Menschen, nicht um eine äußere, gegenständliche Landschaft, aber auch nicht um eine metaphorische Landschaft als Ausdruck eines Seelenzustandes des Menschen. Es ist die Vergegenwärtigung des selbst-losen Selbst. Da im absoluten Nichts des ersten Bildes der Subjekt-Objekt-Dualismus einmal durchbrochen worden ist, so ist hier bei der Auferstehung aus dem Nichts ein blühender Baum am Fluss nichts anderes als das Sein des Menschen. Ein blühender Baum, wie er blüht, verkörpert nämlich die Selbstlosigkeit des wahren Menschen auf nichtgegenständliche Weise. Das Blühen des Baumes, das Fließen des Flusses ist dann nur ganz schlicht, was es ist, und zugleich ein Spielen der selbst-losen Freiheit des Selbst. Aufgrund der die Selbst-losigkeit bewahrenden Verkörperungsrealität in der Natur kommt nun im dritten Bild das selbst-lose »Selbst« zum Vorschein. Wegen der Selbst-losigkeit erscheint jetzt das Zwischen des Ich-Du als Spielraum des Selbst. Das dritte Bild zeigt, wie sich ein Greis und ein Junge auf der Straße begegnen. Es sind nicht zwei beliebige Menschen, sondern ein Greis und ein Junge, in denen die selbst-lose Selbstentfaltung des Greises dargestellt wird. Das Selbst wird durch das absolute Nichts selbst-los aufgeschnitten und so zu einem Doppelselbst. Wie es dem anderen geht, das ist jetzt dem Selbst in seiner Selbst-losigkeit das eigentliche Anliegen. So fragt der Greis den Jungen im Gegenüber, wie es ihm gehe, woher er sei, welches sein Name sei oder ob er diese Blumen sehe – um einige Beispiele aus der Geschichte des Zen-Buddhismus zu nennen. Dies alles sind einfache, alltägliche Fragen. Für den anderen wirkt das aber als die Frage, ob er in Wahrheit und Wirklichkeit weiß, woher er eigentlich ist, oder ob er Blumen wirklich so sieht, wie sie »von sich selbst her« blühen. Der 106 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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Greis fragt ganz einfach, und bei dem anderen wird die Frage nach sich selbst, nach seinem wahren Selbst erweckt: Wer bin ich eigentlich? Das Zwischen als der selbst-lose innere Spielraum des einen ist so für den anderen der Ort der existentiellen Frage nach dem Selbst. Zusammenfassend kann man sagen, dass diese drei Bilder eine dreifache Erscheinung zeigen, in der jeweils dasselbe selbst-lose Selbst auf eigene Weise vollkommen gegenwärtig ist. Dieses Selbe, das selbstlose Selbst, ist seinerseits nur insofern ganz real, als es sich in dreifacher Verwandlung jeweils vollkommen anders realisieren kann. Es handelt sich um eine Bewegung, die mit der Existenz einen unsichtbaren Kreis von Nichts-Natur-Kommunikation zeichnet. Sowohl ins Nichts spurlos ent-werdend, wie z. B. in Blumen selbst-los mitblühend, wie auch bei der Begegnung mit dem anderen in diesem sein anderes Selbst sehend. Erst in dieser Bewegung entsteht das wahre, selbst-lose Selbst. Dabei können die drei Aspekte wie in diesen Bildern vergegenständlicht werden. Die Bewegung als solche aber, auf die es ankommt, ist nie gegenständlich, bildhaft fixierbar. Also wieder das absolute Nichts. Wenn im Buddhismus vom absoluten Nichts die Rede ist, so ist dieser gesamte bewegende Zusammenhang gemeint. Im Vergleich zu den sogenannten »Mandala-Bildern« sind die ˙ ˙ wie wir oben gesehen Zen-Bilder charakteristisch einfach und schlicht, haben. Für den Zen-Buddhismus ist das Ursprünglichste, das Unbedingte, immer das Einfachste. Neben der Einfachheit hat ein Zen-Bild eine andere entscheidende Eigenheit. Im Zen-Bild ist ein Moment der Auflösung der Bildhaftigkeit in die überbildliche Bildlosigkeit wesenhaft enthalten. »Die grenzenlose Offenheit nach zehn Richtungen, das ist eine einzige, klare durchsichtige Perle.« In der Bildganzheit wird das Bild des Universums als Perle durchsichtig. Sie wird einerseits in die grenzenlose Offenheit zurück aufgelöst, wie diese andererseits in dem Bild der Perle konkretisiert wird. Die durchsichtige Perle, in welche und als welche die grenzenlose Offenheit kristallisiert wird, hebt selber gleichzeitig ihre Bildhaftigkeit in ihrer eigenen Durchsichtigkeit auf. In dem Bildzusammenhang von Nichts-Natur-Kommunikation werden das zweite und das dritte Bild wieder in das erste Bild des absoluten Nichts aufgelöst, während dieses umgekehrt in beiden Bildern verkörpert wird. Ein Zen-Bild ist in seinem Bildcharakter eigentlich das bewegliche Bild für die Bewegung des Ein- und Ent-Bildens. So vermittelt ein Zen-Bild die Bewegung vom Unsichtbaren zum Sichtbaren und vom Sichtbaren zum Unsichtbaren. Dieser bewegliche Charakter des 107 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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Zen-Bildes ist wichtig, wenn man bedenkt, dass die Kraft des Bildes gerade wegen der Bildhaftigkeit in eine Gefahr umschlagen kann. Die Macht des Bildes liegt nämlich darin, das Unsichtbare sichtbar zu machen. Umso größer ist dabei auch die Gefahr, dass das Bild als solches fesselt und beschränkt – wie bei einer Verwechslung des Symbolisierten mit dem Symbol. Nun wollen wir das selbst-lose Selbst formal in seiner Struktur zu bestimmen versuchen, um das Wesentliche schärfer herauszuarbeiten. Das wahre Selbst wirkt als das selbst-lose Selbst, selbst-los, nicht nur in ethischer Hinsicht, sondern auch strukturell. Ein solches selbst-loses Selbst darf nicht als Substanz aufgefasst werden, sondern nur als Bewegung, und zwar wieder nicht als eine Bewegung in sich, sondern als eine Bewegung aus sich heraus und zu sich zurück. In dieser Bewegung ist die Identität mit sich zwar als ein wesenhaftes Moment enthalten, aber in der Spannung zu einem anderen Moment, nämlich zur Negation der Identität mit sich um der Selbst-losigkeit willen. Identität mit sich und Negation der Identität mit sich in gegenseitiger Zusammengehörigkeit: Das führt zur Bewegung aus sich heraus und zu sich zurück. Eine solche Bewegung können wir am Beispiel der Freiheit erkennen, weil diese wesenhaft zum Selbst gehört. Wir sprechen von der Freiheit von einer Sache und der Freiheit zu einer Sache. Das »von-zu« der Freiheit weist auf eine Existenzbewegung hin. Die ursprünglichste Freiheit des Selbst als Selbst ist eine Freiheit von sich und zu sich. Also die Bewegung von sich weg zu sich zurück. Wenn diese Bewegung der Freiheit irgendwie gestört ist, so tritt die Krankheit des Selbst, die Existenzkrankheit auf, und zwar in verschiedenen Weisen. Erstens die Krankheit der Selbstverschlossenheit, nicht aus sich herauskommen zu können, zweitens die Krankheit der Selbstverlorenheit, nicht zu sich zurückkommen zu können, drittens die Krankheit der Selbstverwickeltheit, wenn die Bewegung nicht in der Offenheit stattfindet, sondern in den Ich-Rahmen eingesperrt ist.

4. Ko¯jo¯ und ko¯ge: Nach oben und nach unten Das wahre Selbst ist das selbst-lose Selbst und als solches eine Bewegung von sich heraus zu sich zurück. Das Selbst geht aus sich heraus, selbst-los in die unendliche Offenheit, ek-statisch, und aus der Offen108 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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heit zurück zu sich, diese Offenheit hineinnehmend, enstatisch. Zum selbst-losen Selbst gehört in seiner Selbst-losigkeit die unendliche Offenheit, zu der ihrerseits das selbst-lose Selbst gehört, als Raum der Bewegung von sich zu sich, ebenso wie das Selbst als Dasein bei Heidegger ohne Weiteres das In-der-Welt-Sein ist. Die unendliche Offenheit gilt in dieser Hinsicht als die extreme Erschlossenheit der Welt, als Erschlossenheit schlechthin. Der jeweilige Daseinsraum, in dem sich das Selbst konkret befindet, ist ganz unterschiedlich, z. B. eine Familie, eine Gemeinschaft, eine bestimmte Gesellschaft usw. Wenn aber das Selbst zu dem betreffenden Raum geöffnet werden muss, so kann das im Grunde nur dadurch geschehen, dass das Selbst überhaupt zu einer Offenheit geöffnet wird. Es muss mit der unendlichen Offenheit aufgeschnitten werden. Sonst bleibt z. B. ein Vater ein egoistischer Vater innerhalb seiner Familie. Er kann nicht ein wahrer Vater sein. Er verhält sich in seinem Vatersein egozentrisch innerhalb der Familie. Sein Verhältnis zur Familie ist nicht offen. Es handelt sich um eine Bewegung in der unendlichen Offenheit. Das ist kein Leerlauf in sich, sondern auf dem Weg der betreffenden Bewegung findet die Begegnung mit den anderen und mit der Natur statt. Bei jeder Begegnung kommt es wiederum auf eine Bewegung von etwas und zu etwas an. In der Grundbewegung von sich heraus und zu sich zurück, d. h. in der ursprünglichsten Freiheit von sich zu sich, ist auch die Freiheit der anderen zu den anderen und die Freiheit der Natur zu der Natur realisiert. Die Zusammengehörigkeit der drei oben genannten Bilder zeigte das bereits. In diesem Zusammenhang bedeutet die Freiheit von etwas die Negation, die Freiheit zu etwas die Bejahung. Die Bewegung von sich heraus, das ist die äußerste Selbstnegation, und die Bewegung zu sich zurück, das ist die unmittelbarste Selbstbejahung. Die Negation in diesem Gesamtkontext heißt in der Zen-Terminologie Weg nach oben, und die Bejahung Weg nach unten – in den Texten meistens ohne das Wort Weg einfach ko¯jo¯ 7 »nach oben« und ko¯ge »nach unten«. Dies ist ein Grundmotiv des Zen-Buddhismus, das wie selbstverständlich das ganze Schrifttum durchzieht. Einerseits ein großes, immer weitergehendes Nein, in allen möglichen Formen, andererseits das zurücknehmende Hier und Jetzt. Ein Beispiel für die Negation: Wenn der Schüler an das oben genannte Bild des Universums 7 Das Wort kojo war ursprünglich ein Wort der chinesischen Alltagssprache in der ¯ ¯ T’ang-Zeit und bedeutet »oben, weiter, dann …«

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als Perle gebunden ist und dabei stehen bleibt, dann sagt ihm der Meister: »Zerschlage deine Perle.« Oder ein Beispiel für die Bejahung: Der Meister packt den Schüler am Leib und sagt: »Die Ganzheitsperle, die ist das.« Beim Zen handelt es sich im Grunde um den Vollzug. Deswegen hat es nur wenig Bilder und Theorien. Statt Bildern und Theorien bietet uns der Zen-Buddhismus unzählige konkrete Beispiele des Vollzugs in aller Art an. (Man darf aber dabei nicht außer Acht lassen, dass diese Einfachheit in der Spannweite zwischen der radikalen Negation und der unmittelbaren Bejahung auch einen Raum für die Entfaltung der Metaphysik und Ethik schafft. Nur ist es für das Zen charakteristisch, dass das so Entfaltete jederzeit wieder durch die oben dargestellte Bewegung nach oben und nach unten zur Verwirklichung aufgelöst werden kann. Dieses Problem kann im Rahmen des gegenwärtigen Themas nicht weiter verfolgt werden.) Die charakteristischen Aspekte des nach oben und nach unten im Zen können zu drei Punkten zusammengefasst werden: a) Es geht dem Zen um die Bewegung nach oben und nach unten, um diese Bewegung als solche, nicht um das bildhafte »wohin« der Bewegung. Wenn das »wohin« bildhaft angegeben ist, dann kann die Bewegung immer noch unterwegs von Bildern versperrt werden. Deswegen muss die Bewegung unaufhaltsam weitergehen (nach oben) und noch näher kommen (nach unten). b) Dabei geht es nicht nur um die Bewegung als solche, sondern auch um die eigentliche Erschließung des Raumes, in dem sich diese Bewegung bewegt. Es handelt sich um die Erschließung der unendlichen Offenheit. Es geht also darum, sich von der unendlichen Offenheit für die unendliche Offenheit öffnen zu lassen. Zum wahren, selbst-losen Selbst gehört in seiner Selbst-losigkeit die unendliche Offenheit, und zwar in der Weise, dass diese Offenheit das Selbst sozusagen aufschneidet. Wenn dem so ist, dann ist das selbst-lose Selbst höchst beweglich und zugleich un-beweglich. Die unendliche Offenheit, als der Raum für die Bewegung, bewegt sich nämlich nicht. Die Bewegung nach oben und nach unten ist also zugleich eine »Un-bewegung«. c) Dies alles ist keine Angelegenheit von Spekulationen. Es handelt sich um die existentielle Bewährung das Selbst. Das Za-Zen ist auf die unendliche Offenheit gerichtet, das San-Zen auf die Bewegung nach oben und nach unten, wie wir noch sehen werden. Es war von dem wahren Selbst die Rede, d. h. von dem selbst-losen 110 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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Selbst als Bewegung von sich heraus zu sich zurück, aus sich zu sich: Aufgrund dieser Identität wird gesagt: Ich bin ich, wobei eine große Reise sozusagen aus sich heraus zu sich zurück unternommen wird. »Ein edler Mensch zog aus in ein fernes Land, sich ein Reich zu gewinnen, und kehrte zurück« (Lukas 19, 12). Das macht für Meister Eckhart den Adel der menschlichen Natur aus. 8 Mit einer kleinen Abwandlung könnte man sagen: Ein Mensch zog aus, sich in der unendlichen Offenheit das Nichts zu gewinnen. Daran kann diese große Reise aus sich heraus und zu sich zurück vergegenwärtigt werden. Wir können daher sagen: Ich bin ich, gerade da ich nicht ich bin – wobei dieser zweite Satz diese Reise aus sich zu sich als Selbstklärung darstellt.

5. Das geschlossene Ich Das wahre Selbst wurde oben als die Bewegung aus sich heraus zu sich zurück dargestellt. Eine Fehlentwicklung dieses »Aus-sich-zu-sich« kann aber auch dazu führen, dass diese beiden »sich« aneinander haften. Die Identität mit sich selbst verharrt dann bei sich, so dass ein in sich geschlossenes Ich entsteht. Dieses sagt ebenfalls: ›Ich bin ich‹, aber jetzt nicht mehr aufgrund der selbstlosen Bewegung, sondern: ›Ich bin ich‹, denn ich bin ich. Dieses in sich geschlossene Ich, das Ich-bin-ich, ist die Grundverkehrung des ursprünglichen selbst-losen Selbst, und als solches auch die Grundformel für die Ich-Behauptung des Ich. Das eigentliche selbst-lose ›Ich bin ich‹ verkehrt sich in ein Ich-bin-ich, indem sich die ursprüngliche Offenheit verschließt. In diesem Ich-bin-ich, in diesem selbst-substantialisierenden Sich-Selbst-Ergreifen, sieht der Buddhismus den Unheilsgrund im Menschen, für den Menschen und auch für alles Seiende. Dieses Ichbin-ich bewirkt die so genannte dreifache Vergiftung des Ich, nämlich Blindheit gegen sich selbst, Hass und Habgier. Dabei ist das Ich zugleich Ursache und Opfer dieses Giftes. Es handelt sich um eine existentielle Selbstvergiftung. a) Blindheit gegen sich selbst: Das Ich öffnet sich nur halb in Richtung auf das selbst-lose ›Ich bin ich‹ und bleibt dadurch dem Ich-binich verhaftet, und zwar so, dass das Ich sich selbst in sich vorstellt und Vgl. Meister Eckhart, Die deutschen Werke, Bd. 5, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 1968, S 109 ff.

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damit zugleich seine Identität mit dem vorgestellten Ich festhält. Das halb geöffnete Ich wird von leidenschaftlicher Hinneigung zum vorgestellten Ich ergriffen. Es ist ein Ergreifen seiner selbst, das zur Verschlossenheit in sich führt. Die Eigenliebe wird am vorgestellten Ich aktualisiert. Es wird zum »lieben Ich«. So gehört der Narzissmus immer zum Ich-Bewusstsein. Dies ist keine Klarheit über sich selbst, sondern nur eine Scheinklarheit, die im Grunde eine Blindheit gegen sich selbst ist, wie bei Narziss, der sein schönes Spiegelbild im Wasser sah und sich in dieses vernarrte. Von diesem Ich-Bewusstsein wird das Bewusstsein überhaupt getrübt, verstimmt und verdunkelt. b) Hass: Mit dem Ich-bin-ich als dem »lieben Ich« wird der Raum zwischen dem Ich und dem anderen zu einem Kampfplatz. Der Hass gegen den anderen gehört zum Ich-bin-ich, wenngleich er sich unter verschiedenen Kompromissformen des Zusammenlebens zu verbergen pflegt. Der Hass als Gift des Ich wirkt mehr oder weniger versteckt, aber manchmal auch akut, nicht nur zwischen einzelnen Ich-Menschen, sondern auch zwischen Partei und Partei, Staat und Staat, Volk und Volk, und auch, wie die Geschichte zeigt, zwischen Religion und Religion, d. h. überall dort wo das Ich-bin-ich auf ein Kollektivbewusstsein übertragen wird. c) Habgier: Das Ich-bin-ich ist eine inhaltslose Identität mit sich selbst. So bedarf diese an sich leere Ich-Behauptung, um ausgefüllt werden zu können und sich im angeblichen Gehalt zu bestätigen, der Eigenschaften und des Besitzes. Deshalb will das Ich ein Mein, und zwar immer mehr. Das Ich kann sich nur als Besitzender in seiner Selbstsicherheit bestätigt sehen. Die Natur, die der Ich-Mensch vorfindet, wird zu »seiner« Welt, die Naturdinge werden Gegenstände des Besitzes für ihn. Die Grundform seines Umgangs mit Dingen ist das »Haben«. In diesem Haben vermeint das Ich sein Sein zu haben und ist darauf bedacht, durch Vermehrung der Habe sein Sein zu festigen und zu vergrößern. Was das Ich noch nicht hat, will es haben, und was es hat, das will es nicht lassen. Das ist die Habgier als Gift des Ich. In Bezug auf sich selbst – die Blindheit gegen sich selbst, in Bezug auf die anderen – der Hass gegen die anderen und in Bezug auf die Natur – die Habgier nach Besitz. Das Leiden als eine der Grundeinsichten des Buddhismus entspringt dem Ich-bin-ich in dieser dreifachen Selbstvergiftung. In der eigenen Blindheit die anderen zu hassen im Kampf um Besitz, das ist also die Grundform des menschlichen Unheils. Das Ich 112 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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versucht sich vom Leiden zu befreien, indem es sich eine leid-lose andere Welt vorstellt und als Weg zu der anderen Welt Askese und Anbetung praktiziert. Solche Versuche des Ich zur eigenen Erlösung aber bewegen sich immer noch innerhalb des Bannkreises des Ich-bin-ich. Sie übertragen nur das Ich ins Religiöse, während doch die Ursache des Leidens in dem Ich-bin-ich als solchem steckt. Der Ich-Mensch soll gründlich sterben um des wahren Selbst willen, d. h. zugleich um der anderen willen und um der Natur willen. Das Ich-bin-ich kann nicht frei von den anderen und der Natur sein, geschweige denn frei zu den anderen und der Natur. So kommt es ganz auf die Auflösung des Ich-bin-ich an. Dazu dient das Zazen. Die Offenheit ohne jede Gegensätzlichkeit löst den Hass gegen andere auf. Das Immer-wach-und-gegenwärtig-Sein durchdringt den Ich-Wahn, die Blindheit gegen sich selbst. Die Habgier löst sich im Leer-Sein auf. Dann kann sich der Zen-Spruch bewahrheiten: Lassen gibt Überfülle. Das Ich-bin-ich muss nun durch das Zazen immer wieder, immer von neuem durchbrochen werden, da bei der Bewegung aus sich heraus zu sich zurück eine mögliche Verhaftung in diesen beiden »sich« steckt. Es kommt nicht darauf an, wie oft und wie lange Zazen geübt wird, sondern darauf, dass Zazen zur Grundhaltung des Lebens wird. Dann kann in der unendlichen Offenheit unaufhörlich an der Auflösung des Ich-bin-ich gearbeitet werden. Vom wahren Selbst im buddhistischen Sinn, d. h. vom selbst-losen Selbst war die Rede. Man könnte fragen, warum nicht vom Buddha gesprochen wurde, ob denn etwas Wesentliches im Buddhismus ausgesagt werden kann, ohne von Buddha zu sprechen. Beim selbst-losen Selbst und bei Buddha handelt es sich ursprünglich und im Grunde um das gleiche. Das selbst-lose Selbst wird wegen der Selbst-losigkeit ursprünglich der Erwachte, d. h. Buddha genannt. Der Erwachte zur Wahrheit des Selbst stimmt mit der Wahrheit des Seins überein. Wie ist es aber mit dem Erlöser-Buddha bzw. mit dem kosmischen Buddha, wie uns diese Buddhas in der geschichtlichen Entfaltung des Maha¯ya¯na-Buddhismus begegnen? Wenn und solange das Selbst seine Selbstlosigkeit nicht wirklich realisiert, so erscheint einem solchen Selbst der Buddha als sein eigener Urgrund und seine Seinsquelle, aber als ein absolut Anderer in seiner unendlichen Größe. Hier erreicht das Selbst seine eigene Selbst-losigkeit in seiner restlosen Hingabe an den Er113 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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löser-Buddha (wie im Amida-Buddhismus) oder in der unio mystica mit dem kosmischen Buddha (wie im esoterischen Shingon-Buddhismus). Es geht dem Buddhismus in allen seinen Ausprägungen letztlich um die Selbst-losigkeit des Selbst. Übrigens wird im Volksmund ein Verstorbener wegen der sinnenfälligen Selbst-losigkeit des Toten auch »Buddha«, japanisch hotoke genannt – nicht sosehr wegen des Ahnenkultes, sondern viel mehr wegen der Selbst-losigkeit, auf die es in der Wahrheit des Selbst ankommt. Wegen des Nicht-mehr-Seins wird das Sein des Verstorbenen größer, reiner und intensiver, so dass er mehr Bedeutung für die Hinterbliebenen haben kann. Deswegen hat der Tod in den Religionen eine starke Symbolkraft, Symbol für die Abgeschiedenheit bei Meister Eckhart wie im Zen-Buddhismus. »Es ist recht mit den Leuten, die so leben, wie sie nicht mehr leben«, sagt Meister Eckhart. »Stirb, erst dann komm zu mir«, sagt der Zen-Meister zu seinem Schüler.

6. San-zen und Mon-Do¯ Nun wollen wir vom Zazen zum zweiten Aspekt der Übung übergehen, zum Sanzen. Es handelt sich nun um das Zen in der Begegnung und Kommunikation mit den anderen, bei der Übung praktisch in der Zwiesprache und Auseinandersetzung mit dem Meister. Zum Zazen gehört auch das Herausgehen aus dem Zazen. Hineinund Herausgehen gehören zusammen. Die erste Bewegung ist aus dem Zazen Aufstehen. Allerdings bedeutet das nicht, dass man mit dem Zazen aufhört, sondern dass das Zazen selbst aufsteht und sich in Bewegung setzt. Mit dem Aufstehen aus dem Zazen ereignet sich etwas Neues. Wenn man aufsteht, dann hat man nämlich immer ein Gegenüber. Gegenüberstehende begegnen sich. Die Beziehung wird aktualisiert in Bezug auf einen Menschen, auf einen Baum usw. Was nun aber ein Begegnendes ist, d. h. als was ein Begegnendes erscheint, das hängt mit der Tiefe des Zazen zusammen. Was sonst nur ein Baum zu sein scheint, kann für denjenigen, der aus der Tiefe des Zazen aufgestanden ist, im Augenblick der Begegnung die kristallisierte Konkretion des ganzen Universums sein. Eine Beziehung zum Anderen gehört zum Menschsein. Nur ist die Beziehung jetzt, aus dem Zazen aufgestanden, anders geworden, und 114 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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zwar aufgrund der grund-losen Tiefe des Zazen, auf Ungrund der Tiefe. Das Verhältnis zum Anderen bewegt sich nicht mehr im Subjekt-Objekt-Rahmen, auch nicht ganz in derselben Weise wie »Ich und Du« bei Martin Buber, obgleich die Ich-Du-Beziehung als ein wesenhaftes Moment enthalten ist. Schroff formuliert könnte es heißen: Ich und Du werden auf Ungrund des Weder-Ich-noch-Du in der Tiefe des Zazen vom Weder-Ichnoch-Du durchdrungen. Dadurch ist das Zwischen von Ich und Du zur un-gründigen Grundlosigkeit der Tiefe geworden. Für Martin Buber ist der tragende Grund für »Ich und Du« 9 das ewige Du in der verlängerten Linie des einzelnen Du. »Jedes geeinzelte Du ist ein Durchblick zu dem ewigen Du.« Ohne diese Beziehung zu dem ewigen Du, das seinem Wesen nach nicht ›Es‹ werden kann, wird das Du von dem Ich her zu einem Es verwandelt. Das Ich ist nämlich in seinem Vom-Ichaus mit seiner Ein-seitigkeit so gewaltig, dass es alles vergegenständlichen kann, als Gegenstand konstituieren kann. Das Ich muss an seiner Einseitigkeit von einem gewaltigen Begegnenden angehalten und zurückgedrängt werden, damit überhaupt Raum für die Ich-Du-Beziehung in der Gegenseitigkeit entsteht. Dieser gewaltige Begegnende ist für Buber das ewige Du. Es kommt auf die Überwindung des Egozentrismus mit seiner Ein-seitigkeit an. Für den Zen-Buddhismus ist der tragende Grund die un-gründige Tiefe des Zwischen als solchem, wie sie durch das Zazen erschlossen wird. Es kommt hier zwar gleichfalls auf die Überwindung des Egozentrismus mit seiner Ein-seitigkeit an, wenn auch in anderer Weise. Statt sich unmittelbar an den Begegnenden zu wenden, versenkt man sich zunächst einmal selbst-los ins Nichts der ungründigen Grund-losigkeit des Zwischen, um erst dann von der Tiefe des Nichts aufstehend, auferstehend, sich in das Ich-Du im Einander-gegenüber einzulassen, wie es in der traditionellen Begrüßungsform konkret praktiziert wird. Auf diese Weise wird sowohl die gegenseitige Selbstständigkeit als auch die gegenseitige Abhängigkeit voneinander, also die doppelte Grundbedingung des Ich-Du, des Dialogs, bis zur äußersten Möglichkeit durchgeführt: Einerseits selbstständig bis zum Nichts des Partners, da dieser von mir in meiner Selbstlosigkeit umgriffen wird, andererseits abhängig vom Partner bis zu

Martin Buber, Die Schriften über das dialogische Prinzip, Lambert Schneider, Heidelberg 1954, S. 76.

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meinem Nichts, und zwar gegenseitig. Dies wäre ein Thema für sich, auf das wir hier nicht weiter eingehen können. In unserem gegenwärtigen Zusammenhang ist wichtig, dass ein Gegenüber da ist, wenn man aus dem Zazen aufsteht. Jetzt wird das selbst-lose Selbst in dem Einander-gegenüber geübt. Das ist Sanzen: Die Dynamik des vom Weder-Ich-noch-Du durchdrungenen Ich-Du mit seinem Meister durchzuspielen, so dass das selbst-lose Selbst sich in entsprechender Bewegung bewähren kann. Wie kann aber die Begegnung überhaupt eine Übungssituation sein? Eben weil die Begegnung als solche schon eine gegenseitige Frage-Erwiderung bewirkt. Das Ich-Du im Gegenüber auf Un-Grund des Zwischen ist kein ruhender Zustand, sondern ein jeweils neues Ereignis, das von den beiden Partnern immer wieder konkret vollzogen wird und sich bewähren muss. Die Begegnung ist jedes Mal ein Ereignis von Selbst zu Selbst – ein Ereignis, in dem das Selbst auf die Zusammengehörigkeit der Selbst-losigkeit und der Selbst-heit hin in Frage gestellt und aufs Spiel gesetzt wird. Die Begegnung ist im Grunde eine gegenseitige In-Frage-Stellung: »Wer bist du eigentlich?« Im ZenBuddhismus vollzieht sich die Begegnung ausdrücklich als Frage-Erwiderung. Ein Beispiel dafür: Ein Mönch kam zu Meister Hui-nen, bei dem er Zen üben wollte. Der Mönch machte vor dem Meister eine Verbeugung zur Begrüßung. Daraufhin fragt ihn der Meister: »Wer bist du eigentlich, der du so zu mir kommst?« Mit dieser Frage wird der Mönch augenblicklich in Bezug auf sich selbst in Frage gestellt und damit wesentlich verunsichert. Erst nach drei Jahren Ergründung des Selbst durch Zazen und Sanzen erwachte er zu seinem Selbst und brachte dem Meister einen eigenen Spruch: »Schon ein einziges Wort über das Selbst verfehlt das wahre Selbst.« Das Frage-Erwiderung-Ereignis als ausdrücklich vollzogene Begegnung wird in der Zen-Terminologie Mon-Do »Frage-Erwiderung« genannt. Zen-Buddhismus mitten im Leben ist Mon-Do, ein freies, einmaliges, lebendiges Ereignis zwischen einem Lebendigen und einem Lebendigen. Das eigentliche Anliegen des Zen-Buddhismus wird nicht so sehr als Lehre dargestellt, sondern erscheint primär in den realen Beispielen des Mon-Do. Die Hauptschriften des Zen-Buddhismus sind meistens Sammlungen derartiger Beispiele, wie z. B. das Bi-yän-lu, die »Niederschrift von der Smaragdenen Felswand«. Die Lehrschriften des Maha¯ya¯na (nämlich Su¯tras und Traktate) bilden zwar die philoso116 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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phisch-religiöse Grundlage des Zen-Buddhismus. Auf deren Grundlage geht es in der Zen-Praxis jedoch um das Durchbrechen der Lehrebene als lebendige Verwirklichung. So wird ein Thema ganz anders dargestellt, je nachdem ob es von der Lehre oder von der Frage-Erwiderung her angegangen wird. In den Lehrschriften heißt es z. B.: »Prajña¯pa¯ramita¯, ›Weisheit der Vollkommenheit‹, ist die Weisheit jenseits jeglichen Dualismus.« In der Frage-Erwiderung und als solche wird das gleiche Thema ganz anders durchgeführt: Ein Meister arbeitet mit einem Besen im Garten. Da kommt zufällig ein anderer Meister vorbei. Dieser fragt den ersteren: »Was ist die Prajña¯pa¯ramita¯?« Daraufhin wirft der erstere seinen Besen weg, bricht in Gelächter aus und geht schleunigst in sein Zimmer. Dann bricht auch der andere Meister im Gelächter aus und geht weg. Aus diesem Beispiel wird die Verschiedenartigkeit und der Niveau-Unterschied von Lehrform und Frage-Erwiderungs-Ereignis ersichtlich. Die Betonung des Ereignischarakters von Begegnung und Dialog findet sich auch in anderen Zusammenhängen wieder, wie z. B. in der erzählenden Literatur. An entscheidenden Stellen und bei Höhepunkten geht dort die Darstellung in einen Dialog über. So wird das Zen im und als Mon-Do¯ geübt. Das geht praktisch wie folgt vor sich: Der Meister gibt einem Schüler eine Zen-Aufgabe. Als Aufgabe legt ihm der Meister meistens eine der klassischen Frage-Erwiderungs-Geschichten aus der Zen-Literatur vor. Ein gutes Beispiel ist der Dialog mit dem Großmeister Dung-shan des China der T’angZeit. 10 Einst frage ein Mönch den Meister Dung-shan: »Was ist der Buddha?« Dung-shan erwiderte: »Drei Pfund Hanf.« Nach der Überlieferung war die Situation des Dialogs so, dass der Meister gerade beim Wägen von Hanf war, als der Mönch zu ihm kam und die Buddha-Frage stellte. Die Erwiderung des Meisters entsprang unmittelbar dem Zustand der Versenkung in die Arbeit. Was ist der Buddha? Drei Pfund Hanf. Eine schroffe Zusammenhangslosigkeit mit der Frage-Stellung fällt auf. Die Antwort »Drei Pfund Hanf« wird vom ZenBuddhismus als plötzliches, unvermitteltes Ereignis bezeichnet. Wenn man aus dieser Frage-Erwiderung etwa einen Lehrsatz ableiten wollte – wie z. B.: »Der Buddha ist etwas Gewöhnliches, Alltägliches wie drei 10 Vgl. Bi-yän-lu, Niederschrift von der Smaragdenen Felswand. Verdeutscht und erläutert von Wilhelm Gundert, Band 1–3, Carl Hanser, München, 1960–73, Bd. 1, S. 239 f.

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Pfund Hanf«, so bedeutete das ein völliges Übersehen des Ereignischarakters. Hier wird die lehrhafte Aussage gesprengt durch ein Ereignis im Zwischen, das die lebendige Verwirklichung in der unmittelbaren Gegenwart herbeiführt. Ein solches Ereignis kann nicht in lehrhafter Form dargestellt werden. Was ist der Buddha? Drei Pfund Hanf. Angesichts dieses alten Beispiels fragt nun der Meister einen Schüler: Was für eine Bewandtnis hat es mit diesen drei Pfund Hanf? Die Aufgabe besteht für den Schüler darin, seinem Meister in irgendeiner Form etwas aus seinem Allereigensten heraus zu erwidern. Dann findet eine kurze Zwiesprache zwischen Meister und Schüler statt. Der Meister weist dabei den Schüler meistens strikt ab, worauf dieser wieder zurück in das Zazen hineingeht. Zu einer erneuten Erwiderung tritt er dann aus dem Zazen wieder heraus. Zwischen dem Schüler und seinem Meister wiederholt sich das so lange, bis der Schüler an dem gegebenen Beispiel wirklich etwas zu seinem eigenen Erwachen gesehen hat. Dann gibt ihm der Meister ein anderes Beispiel zur Aufgabe. Im wiederholten Hin und Her von Za-Zen liegt der Vollzug jener Zusammengehörigkeit von Gespräch und einsamer Besinnung, von Sprechen und Schweigen. Diese Zusammengehörigkeit ist für das echte Zen-Gespräch entscheidend, weil die Wechselseitigkeit des Gesprächs ohne die einsame Besinnung leicht in eine rein formale Wechselseitigkeit ausartet und den Ereignischarakter verliert. Das echte Gespräch erfordert sowohl die einsame Besinnung als auch die Wiederholung des Gesprächs. Im San-Zen ist die Frage-Erwiderung zweifach enthalten: 1) Die ursprüngliche Frage-Erwiderung, wie sie in der Zen-Geschichte vorkommt, und 2) eine Frage-Erwiderung zwischen Meister und Schüler anhand der Überlieferung der ursprünglichen Frage-Erwiderung. Um den richtigen Zugang zu dieser ursprünglichen Frage-Erwiderung zu finden, muss sich der Schüler die Geschichte als Ereignis vergegenwärtigen, d. h. sich unmittelbar als den Fragenden bzw. Gefragten erleben. Er wird dann die ursprüngliche Frage-Erwiderung nicht als Dritter von außen betrachten und aus der gestellten Frage und der gegebenen Erwiderung einen objektivierten Lehrsatz bauen und damit wähnen, das Beispiel verstanden zu haben. Wesentlich ist, dass er sich direkt in das Ereignis des Zwischen der ursprünglichen Frage-Erwiderung hineinversetzt. Die Frage-Erwiderung in der Übung zwischen Meister und Schüler bezweckt somit, die ursprüngliche Frage-Erwiderung des alten Meisters in die Gegenwart zu holen und in ihrer ganzen Lebendigkeit 118 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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wiedererstehen zu lassen. Was das in der Praxis heißt, zeigt folgendes Beispiel. Ein Mönch fragte Dschau-Dschou: »Welchen Sinn hat es, dass der erste Patriarch (Bodhidharma) vom Westen her (aus Indien nach China) gekommen ist?« Dshau-Dschou erwiderte: »Eiche vor dem Garten.« Ein Jünger Dschau-Dschous holte diese ursprüngliche Frage-Erwiderung in die Gegenwart, als er gefragt wurde: »Ich habe gehört, dass dein Meister auf die Frage nach dem Sinn vom Kommen des Patriarchen aus dem Westen mit ›Eiche vor dem Garten‹ geantwortet habe. Ist das wahr?« Dazu sagte der Jünger: »Mache meinen Meister nicht lächerlich. Mein Meister hat niemals diese Worte gesagt.« Das ist die Freiheit des Jüngers, auf seine eigenste Weise in voller Ursprünglichkeit das ›Eiche vor dem Garten‹ seines Meisters wieder in die Gegenwart zu holen. Das Kernstück des Mon-Do¯, die Zusammengehörigkeit von Negation und Bejahung, wird konkret hervorgehoben, z. B. in einer Geschichte, die den Ereignischarakter sowie das dynamische Zusammenspiel in Wechselseitigkeit unmittelbar darstellt. Zwei Meister sitzen einander gegenüber und trinken Tee. Jeder Anlass ist für das Zen eine passende Gelegenheit zur Frage-Erwiderung. Unvermittelt sagt Meister A: »Das All ist in einer Tasse Tee restlos gegenwärtig (1).« In dem Moment stößt Meister B die Tasse des A um. Der Tee fließt aus. Meister B fragt daraufhin A: »Wo ist jetzt das All (2)?« Dazu sagt Meister A einfach: »Oh, schade um den guten Tee (3).« Darauf lachen beide (4). Zu (1): Das ist eine Anwendung der All-Einheitslehre auf eine konkrete, alltägliche Situation. Obgleich diese Art Anwendung schon etwas vom Zen ahnen lässt, bleiben diese Worte durch ihre Thesenform noch auf der Ebene der Lehre. Das soll aber hier nicht bedeuten, Meister A sei der Ebene der Lehre verhaftet. In der Situation des Gegenübers wird Meister B mit diesen Worten herausgefordert, etwas zu erwidern, zur vorgelegten These Stellung zu nehmen und auf diese Weise sein Selbst zu zeigen. Zu (2): Meister B stößt die Tasse von Meister A um. Hier wird durch eine unerwartete, grob erscheinende Tat die Ebene der Lehre restlos durchbrochen. Eine totale Negation, die sich auf dem Weg nach oben ereignet. Dadurch wird die Gesprächsebene des Themas von der Thesenform in ein Ereignis umgewandelt. Von diesem Ereignis ausgehend, zieht Meister B den Meister A wegen seiner schönen These zur Rechenschaft: »Wo ist jetzt das All?« Zu (3): Dann sagt Meister A: »Oh, schade um den guten Tee.« 119 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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Eine totale Umwandlung des Ungewöhnlichen ins Alltägliche, die sich nun auf dem Weg nach unten ereignet. Seine Tasse ist umgefallen, der Tee fließt aus. Unbeirrt von der sich aufdrängenden Frage, die die grobe Tat des Meisters B auslöst, aber auch ohne an seiner eigenen These zu haften, erwidert er nur: »Oh, schade!« Von der Rede über All-Einheit und von der zerstörenden Tat zieht er sich damit völlig in die unmittelbare Gegenwart des Alltäglichen zurück. Das Ereignis des Augenblicks wird restlos erfasst durch: »Oh, schade!« Zu (4): So lachen die beiden Meister. Ein Lachen im Chor als Schlusspunkt. Die dynamische Zusammengehörigkeit der unendlichen Negation mit der unmittelbaren Gegenwart des Hier-Jetzt verwandelt den Ernst der gegenseitigen Fragestellung in die Wechselseitigkeit eines Wahrheitsspiels. Im Wahrheitsspiel von Mensch zu Mensch im Gegenüber wird die Frage aufgelöst und zum Verschwinden gebracht. Die beiden lachen, und das Lachen löst die Frage-Erwiderung auf. Zum Schluss des ersten Teils sei eine moderne Zen-Frage aus der gegenwärtigen Begegnung von Christentum und Buddhismus angeführt, um die Richtung der Zen-Frage zu erhellen. Daisetzu T. Suzuki fragt: »Es steht geschrieben in der Bibel: ›Gott sprach, es werde Licht.‹ Wer hat denn das gesehen? (Wer ist der Augenzeuge?)«

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5 Der Tod im Zen-Buddhismus Eine Besinnung

Ein Sterblicher kann nicht über den Tod sprechen, als ob es sich dabei um den Gegenstand einer theoretischen Erörterung handelte. Von dem Tod kann er nur betroffen sein und in Ehrfurcht schweigen. Vor ihm vergeht im Grunde jede Rede. Der Tod lässt schweigen. Einer meiner Freunde starb plötzlich bei einem Unfall. Einen Tag zuvor hatten wir ein langes vertrautes Gespräch. Der erste Sohn eines anderen Freundes starb, als er zehn Tage alt war. Jeder stirbt individuell und schicksalhaft seinen eigenen Tod. Wenn aber der Tod sein Nichts vollendet hat, dann waltet im Antlitz des Toten die ungeheure Stille, in die der Tod selbst zu verschwinden scheint. Die Stille des Toten durchdringt die Anwesenden zum tiefen Schweigen. Dann verschwindet auch diese unsere Welt. Umso schwerer wiegt die dann aufbrechende Frage: Was bedeutet es, dass wir sterben müssen? Hat das Sterben überhaupt einen Sinn? Der Tod ist eben die Grenze der Sinnfrage. Wie können wir unter der ungeheuren Fragekraft des Todes leben, der alle möglichen Antworten im Voraus zum Schweigen auslöscht? Der Tod kommt nicht von außen unserem Leben zu. Zum Leben gehört wesenhaft das Sterben-Müssen oder einfacher: das Sterben. Zum Leben gehört aber auch das Vergessen-Wollen und das Vergessen des Todes. Deswegen fragt uns der Zen-Buddhismus, um uns zur Wahrheit des Lebens und des Sterbens erwachen zu lassen: »Wo west dein Wesen in dem Augenblick, da dein Augenlicht erlischt?« In der Scheu vor dem Tod und verlegen angesichts der Schwierigkeit des Problems werde ich dennoch versuchen, die zen-buddhistische Auffassung dessen darzulegen, was der Tod dem menschlichen Dasein in seinem Selbstverständnis zu verstehen gibt. Der Versuch gehört nämlich zu meinem eigenen Selbstgewahrnis. Der Weg ist unendlich, und der Tod ist das Tor zur Verwandlung in die unsichtbare Unendlichkeit. Der Mensch als Sterblicher wandelt auf dem unendlichen Weg durch das Sterben in den Tod. Daraus ergibt 121 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

Der Tod im Zen-Buddhismus

sich für den Zen-Buddhismus das dringende Problem, nämlich wie wir Menschen lebend sterben können, d. h. aus dem Tode leben können, um wahrhaft zu leben. Auf dieses Problem konzentriert sich der ZenBuddhismus, gerade weil er den Tod am Ende des menschlichen Lebens ohne Illusion ganz ernst nimmt. Der Tod sammelt das einmalige Ganze des Lebens, um es unwiederholbar dem Nichts zu überreichen, und zwar dem Nichts, das zunächst vom Leben her als totale Nichtigkeit erscheinen muss. Der Tod endet so das menschliche Dasein. Angesichts des Todes befindet sich der Mensch in einer doppeldeutigen, in sich widersprüchlichen existentiellen Situation. Einerseits ergreift er im Zurückschrecken vor seinem Ende, vor der Nichtigkeit umso leidenschaftlicher sich selbst und steigert sich in seiner Ich-Verhaftetheit. Andererseits erfährt der Mensch, wenn auch nur in Ahnungen und flüchtig, in der angesichts der Vernichtung geahnten Ich-losigkeit eine neue Beziehung zu sich selbst, zu Mitmenschen, zu Dingen und zu der Natur. Es ist nicht selten, dass wir in der Ahnung des Todes, sei es unseres eigenen, sei es eines Familienmitgliedes oder eines Freundes, eine zwar flüchtige, doch neue, offenere, intimere Beziehung erfahren. Der Tod lässt ahnen, dass die Ich-losigkeit die Bestimmung des Menschseins sei. Von daher bringt der Tod mit seinem dunklen Licht die Wirklichkeit unseres Lebens, die von der Ich-heit geführt wird, an den Tag. Diese beiden Seiten, d. h. die gesteigerte Ich-heit einerseits und die geahnte Ich-losigkeit andererseits, sind im »Sein zum Tode« untrennbar und ambivalent verbunden. Um leben zu können, das heißt zugleich um sterben zu können, müsste nun diese ambivalente Existenzweise irgendwie zu einer Wahrheit des Lebens und des Todes entschieden werden. Zunächst erscheint aber die erste Seite als unsere faktische Wirklichkeit. Die zweite bleibt meistens eine nur geahnte Kehrseite, deren Ahnung in der Ich-Wirklichkeit leicht wieder einschläft, und zwar bis einem etwas ereignet. Der Tod bedroht uns, indem er uns in die Nichtigkeit stellt. Es scheint deswegen, als komme alles darauf an, den Tod irgendwie zu überwinden. Unser Leben aber, wie es in der Bedrohung der Nichtigkeit steht und vom Tod grundsätzlich in Frage gestellt wird, ist seinerseits als solches von Anfang an fragwürdig und bedenklich. Nicht erst der Tod, sondern Leben und Tod in ihrer Zusammengehörigkeit machen die grundlegende Fragwürdigkeit aus. So spricht der Buddhismus von dem »Leben-Sterben« als einem Doppelbegriff, sho¯ji (sho¯ bedeutet »Leben« und ji bedeutet »Sterben, Tod«) und sagt: »Leben-Sterben, das 122 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

Der Tod im Zen-Buddhismus

ist die einzige große Sache«. Es geht uns Menschen darum, dem LebenSterben zu entkommen, des Leben-Sterbens ledig zu werden. Dabei besteht das eigentliche Problem doch darin, die Wurzeln des LebenSterbens abzuschneiden. Worin liegen die Wurzeln des Leben-Sterbens? Der Buddhismus sieht sie in der Ich-heit des Menschen. Ich lebe, ich sterbe. In diesem Ich stecken die Wurzeln des Leben-Sterbens. Alles ist vergänglich. Das Ich aber will für immer bleiben. Die Diskrepanz zwischen der universalen Vergänglichkeit und dem bleiben-wollenden Ich bereitet dem ich-verhafteten Menschen, dem IchMenschen, das Leiden des Todes. »Leiden« als ein buddhistisches Grundwort bedeutet ursprünglich »Unstimmigkeit, Diskrepanz«. Das Ich meint in der buddhistischen Lehre das Ich-Bewusstsein, und die elementare Weise des Ich-Bewusstseins lautet »ich bin ich«, und zwar in der Weise »ich bin ich, denn ich bin ich«. Das Ich will immer ich sein und zwar vom Ich aus. Dieses Ich-bin-ich, das seinen Grund wieder im Ich-bin-ich hat oder haben will und derart in sich verschlossen ist – dieses Ich-bin-ich gilt mit seiner sogenannten dreifachen Selbstvergiftung (d. h. Grundblindheit über sich selbst, Hass und Habgier) als die Grundverkehrtheit und der Unheilsgrund des Menschen. Der Buddhismus ist in Bezug auf das Ich-Bewusstsein sehr empfindlich. Demgegenüber würde das wahre, ich-lose Selbst von sich sagen »ich bin ich, und zugleich bin ich nicht ich« bzw. »ich bin, indem ich nicht ich bin, ich«. 1 Der Buddhismus sieht also die Wurzeln des Leben-Sterbens als kardinales Leiden im Ich als Ich-Bewusstsein, in der Ichheit. »Leben-Sterben« als Doppelbegriff ist eine sino-japanische Prägung, ursprünglich eine chinesische Übersetzung des indisch-buddhistischen Sanskrit-Terminus sam˙sa¯ra, d. h. des endlosen Leidenskreislaufs von Leben und Sterben. Ich lebe, ich sterbe. Um das Ich kreisen das Leben und das Sterben, so dass der Kreislauf das Ich packt und unentrinnbar mitkreisen lässt. Hier offenbart sich jenes ursprüngliche Existenzverständnis, das in dem indisch-mythischen Gedanken des endlosen Kreislaufs von Leben und Sterben mit stets wechselnden Gestalten des Lebens seinen bildhaften Ausdruck gefunden hat. Den Terminus sam˙sa¯ra übersetzte der chinesische Buddhismus in zwei verschiedenen Begriffen, rinne und sho¯ji. Rinne besteht aus zwei chinesischen Schriftzeichen, nämlich aus rin »Ring bzw. Kreis« und e »drehen,

1

Vgl. S. 14, 32 ff., 103 ff., 109 ff.

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Der Tod im Zen-Buddhismus

kreisen«. Rinne gilt als eine sinngemäße Übertragung. Das Wort sho¯ji bedeutet wörtlich, wie schon erwähnt, »Leben-Sterben«. Der ZenBuddhismus hat die Übersetzung sho¯ji vorgezogen. Das Wort »LebenSterben« ist von der indisch-mythischen Bildhaftigkeit abgelöst und entspricht vielleicht unmittelbar dem zugrunde liegenden Verständnis der Existenz. Nun scheint der Ausdruck »Leben-Sterben« auf einen Widerspruch hinzudeuten: Einerseits sieht das Ich im Tode sein Ende. Deshalb fürchtet es sich vor ihm und strebt in sein Ich zurück. Andererseits sieht sich der Mensch wegen seines Ichs in einer schwierigen existentiellen Situation, wie sie auch mit dem Tod nicht zum Ende kommt, nämlich eben eingebunden in den endlosen Kreislauf. Es handelt sich hier aber in Wahrheit nicht um einen Widerspruch auf einer Ebene, sondern um eine Verschiebung des Problems, um eine Radikalisierung vom Problem des Todes zum Problem des Ichs als des Grundes des Unheils, der schon das Leben selbst nicht heil sein lässt, ähnlich wie im Christentum bei der Steigerung des Todesproblems zum Sündenproblem. Wenn der Mensch nach der Möglichkeit eines Fortlebens nach dem Tode sucht, so ist dies nach dem Buddhismus nur ein anderer ich-verhafteter Versuch des Ich-Menschen. Bei einem solchen Versuch handelt es sich nicht um eine Lösung des Problems, sondern um einen gesteigerten Ausdruck der Ich-heit. Wenn der Mensch sich im Unterschied zur Vergänglichkeit eine bleibende Ewigkeit irgendwo in einer anderen Welt, wie z. B. im Himmelreich oder im Reinen Land, über den Tod hinaus vorstellt, so ist dies nichts anderes als eine illusionäre Projektion der harten, aber zugleich leeren Identität des fragwürdigen Ich-Menschen. Was überwunden werden muss, ist also nicht der Tod, sondern die Ich-heit, das an sich klebende Ich-bin-ich, die Ich-Verhaftetheit. Es kommt einzig darauf an, aus dem Ich-Wahn zu erwachen. Für den Erwachten ist das Leben-Sterben, wie es ist, nichts anderes als das Nirva¯na. ˙ Zurückblickend eine kurze Zusammenfassung der bisherigen Besinnungen: Das Leben-Sterben als solches ist in der Existenzweise doppeldeutig und ambivalent: Leben-Sterben als großes Problem, aber auch das Leben-Sterben als Nirva¯na. Dabei wirkt das letztere als Lö˙ sung des ersteren Problems. Es handelt sich um eine entscheidende Umkehrung, die mit der grundsätzlichen Auflösung des geschlossenen und verschlossenen, an sich haftenden Ich-bin-ich zusammenhängt. 124 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

Der Tod im Zen-Buddhismus

Wie dies möglich ist, soll nun unten nach und nach an konkreten Beispielen gezeigt werden. Auf die Frage, die ein Jünger dem Buddha stellte, ob die Seele unsterblich oder sterblich sei, schwieg Buddha, d. h. der Buddha antwortete mit Schweigen. Es kommt dem Menschen nach dem Buddhismus einzig darauf an, sein Ich zu lassen, seines Ichs gründlich zu sterben, allerdings nicht um in die Nichtigkeit zu entschwinden, sondern um die Wahrheit des ich-losen Selbst zu verwirklichen. Dazu soll der Ich-Mensch gründlich des Ichs sterben. Eine sogenannte Ko¯an-Aufgabe, die ein Zen-Meister seinen Jüngern häufig stellt, lautet: »Stirb gründlich deinen Tod und komme zu mir«. »Sterben« steht hier für die absolute Negation des Ichs als der Wurzel des Leben-Sterbens. Diese Negation wird vom Buddhismus der »große Tod« genannt (taishi – tai »groß«, shi »Sterben, Tod«). »Komme zu mir«, das ist wieder das Leben als ein konkretes Tun. Die Forderung des Meisters stellt also einen dynamischen Zusammenhang dessen dar, jetzt zu sterben, jetzt lebend zu sterben, d.h. zugleich aus dem Tod zu leben. So spricht der ZenBuddhismus ausdrücklich von der Auferstehung (yomigaeru). Es geht darum, jetzt das Leben-Sterben zu leben, aus dem Tode um so lebendiger zu leben in der Bereitschaft, das Leben-Sterben zu sterben, d. h. zu sterben, wenn die Zeit kommt. Ein Zen-Spruch lautet: »Leben, Sterben, Kommen, Gehen – so ist es mit dem wahren Menschen.« Im volkstümlichen Buddhismus wird ein Toter aufgrund seiner Ich-losigkeit oft als »Buddha« bezeichnet (in diesem Fall hotoke gelesen). Er ist nämlich vom Ich gereinigt, eingegangen in die Versenkung einer ungeheuren Stille ohne Boden. In den obigen Zitaten ist mehrfach die existentielle Forderung ausgesprochen worden, jetzt zu sterben, lebend zu sterben, d. h. vom Tod her zu leben, aus der Ich-losigkeit zu leben. Dafür steht sinnbildlich die Gestalt des wahren, vollkommenen Menschen, des sog. Bodhisattva, die sich im Maha¯ya¯na-Buddhismus nach und nach immer deutlicher herausgebildet hat. Dafür nämlich, nicht über den Tod hinaus, sondern vom Tod her, hier und jetzt lebendig, d. h. ich-los sich öffnend für leidvolle Menschen leben. »Vom Tod her leben«, dazu muss der Mensch »jetzt sterben«. »Sterben«, das meint hier die Auflösung des geschlossenen und verschlossenen Ich-bin-ich. Das meint die Negation des Ichs in das absolute Nichts hinein, wo weder Leben noch Sterben ist. Alles ist vergänglich. Das ist die Wahrheit, aber die Wahrheit, die vom Ich her erfahren wird. Ich-los dagegen wird die Wahrheit in ihrer 125 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

Der Tod im Zen-Buddhismus

schöpferischen Kraft erfahren, das heißt: alles kommt und geht, alles wird neu. Der Zen-Buddhismus hat für diese Erfahrung eine Formulierung gefunden, nämlich das »Leben-Sterben ledig des Leben-Sterbens«. Damit ist ein Begriff geprägt, in dem eine Zusammenfassung der zen-buddhistischen Auffassung unseres Problems erreicht ist. Er drückt sich dann aber in verschiedenen Variationen aus – wie z. B. in »die Freiheit vom Leben-Sterben zum Leben-Sterben«, oder in ontologischer Hinsicht: »das Einander-Durchdringen von Sein und Nichts«, das sich noch weiter entfaltet zu der Formulierung: »weder Sein noch Nichts, Sein und zugleich Nichts, Nichts und zugleich Sein«. »Weder Sein noch Nichts«, d. h. das absolute Nichts, und auf dessen Grund – eher: auf dem Un-grund des absoluten Nichts – wird nun zum »Sein und Nichts, Nichts und Sein«. Diese verschiedenen Formulierungen sind Beispiele für die Vollzugsweise des buddhistischen Beziehungsdenkens, das an der Stelle des Substanzdenkens wirkt. Von hierher wird verständlich, warum der Buddhismus, wenn es auf das letzte Unbedingte ankommt, vom absoluten Nichts spricht, nicht aber vom absoluten Sein, das sich leicht zu der höchsten Substanz verkörpert. Er spricht vom Nicht-Geboren-Werden, nicht aber von der Unsterblichkeit, die für den Buddhismus als Ausdruck des Versuchs einer kontinuierlichen Verlängerung des eigenen Lebens klingt. Er spricht ebenso vom »Leben-Sterben ledig des Leben-Sterbens«, wie wir hörten, nicht aber vom »ewigen Leben«. Es geht in Wahrheit um das Einander-Durchdringen von Sein und Nichts. Zu dessen Realisierung muss das Ich gelassen werden, das Ich nämlich, das sich immer und für immer am Sein halten will. So sagt ein ZenMeister streng zu den Jüngern: »Jetzt sterben!« Wie ist das aber überhaupt möglich? Es ist möglich, weil es die Wahrheit ist, weil es in der Wahrheit kein Ich als Ich-bin-ich gibt. Das Ich als geschlossenes Ichbin-ich wird im Buddhismus für einen Ich-Wahn gehalten. Deswegen spricht er vom »Erwachen«, nicht von der »Erlösung«. So ereignet es sich. Z. B. Meister Reiun Shigon (9. Jh.) kam in einem unerwarteten Anblick der vollen Pfirsichblüten bei einem Waldspaziergang zum Erwachen. Oder: ein Jünger fragte seinen Meister Daitoh (1282–1337): »Wie kann ich dem Leben-Sterben entkommen?« »Hier bei mir ist kein Leben-Sterben«, war die Antwort des Meisters. Ein anderes Mal antwortete der Meister auf dieselbe Frage eines anderen Jüngers: »Wozu willst du dem Leben-Sterben entkommen?« Es geht also um die Freiheit vom Leben-Sterben zum Leben-Sterben, und zwar aufgrund 126 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

Der Tod im Zen-Buddhismus

der Ich-losigkeit im absoluten Nichts, wo weder Leben noch Sterben ist. Die angeführten Antworten scheinen wörtlich etwas Verschiedenes zu sagen, sagen aber in Wahrheit dasselbe und sind in der jeweiligen Dialogsituation ein konkreter Anlass für den Jünger zum Lassen des Ich. So erwachte der Jünger jeweils selber zur Wahrheit des LebenSterbens ledig des Leben-Sterbens. Der Vollzug der Wahrheit soll nach dem Zen-Buddhismus im alltäglichen Leben realisiert werden. Ein Jünger fragte Meister Daizui (10. Jh.): »Das Leben-Sterben bedrängt mich. Wie kann ich ihm entkommen?« Darauf antwortete der Meister einfach: »Beim Tee trinken, beim Essen essen«. Wenn sich der Mensch auch in ein einfachstes, unauffälliges Tun wie z. B. in das Teetrinken ich-los sammelt, dann wirkt das Trinken bei dem gegenwärtigen Tun schon wie ein Schwert, das das Ich abschneidet, und ist zugleich ein höchst lebendiges Ereignis der Auferstehung. Aber auch das allereinfachste Atmen wird schon als Tod-Auferstehungs-Ereignis vollzogen. Ausatmen, d. h. sich selbst erschöpfend, restlos ausatmen aus sich selbst hinaus in das weit Offene – das ist schon ein Tod. Einatmen, d. h. das Weite wieder in sich tief hineinlassen – das ist schon eine Auferstehung. Unendlich weit von innen nach außen, unendlich tief von außen nach innen, Bewegung in Ruhe, Ruhe in Bewegung, Erfüllung in dem Nichts, Nichts in der Erfüllung. Das Ereignis Tod-Auferstehung, wie es sich schon im einfachsten Atmen verwirklicht, kreist zu immer größeren Kreisen, so dass es alles und jedes Tun und Lassen umfasst. »Tag um Tag«, so sagt Meister Shaku Soen (1859–1919), »abends zu Bett gehen und sich hinlegen, d. h. den Sarg betreten. Morgens aufstehen, das heißt: auferstehen.« So ist es Tag um Tag, Jahr um Jahr. Das ich-lose wahre Selbst geht durch das Ereignis von Tod-Auferstehung hindurch. Was sagt aber der Zen-Buddhismus zu dem faktischen Tod am Ende des Lebens eines jeden Menschen? Der Zen-Dichter und Mönch Ryo¯kan (1757–1831), der als ideales Modell des Zen-Mönchs noch heute eine der beliebtesten Gestalten bei Japanern ist, sagte einmal: »Es ist gut, beim Sterben zu sterben. Das ist die einzige Weise, dem Sterben zu entkommen, des Todes ledig zu werden.« Ein Mensch stirbt beim Sterben, wie er stirbt. Das ist alles. Er stirbt ganz. Er stirbt nicht nur des Lebens, sondern auch des Sterbens. Gerade damit entkommt er dem Sterben. Während es im Leben darauf ankommt, das Leben-Sterben zu leben, geht es nun beim Sterben da127 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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rum, das Leben-Sterben zu sterben. Beim Sterben zu sterben, d. h. sterben zu können, das galt Ryo¯kan als »gut sterben«. Von dem Buddha ist eine Sage überliefert: Als er starb, versammelten sich seine Jünger weinend in tiefer Trauer um den Sarg, auch viele Tiere waren dabei, wie es das bekannte Bild des »ins Nirva¯na eingehenden Buddhas« zeigt. Die Jünger weinten lange. Da hob sich plötzlich von alleine der Deckel des Sargs, und aus dem goldstrahlenden Sarg trat der Buddha hervor. Den Jüngern, die vor Freude außer sich gerieten, sagte er: »Alles ist vergänglich, Lebende müssen sterben. Alles vergeht so schnell, seid fleißig mit eurer Übung.« Nach diesen Worten kehrte er wieder in den Sarg zurück, er ging dahin. Der Buddha ist mit verschiedenen Titeln in seiner hohen Würde ausgezeichnet worden. Schon Buddha ist eine Auszeichnung: »der Erwachte«, d. h. derjenige, der zu der Wahrheit der Ich-losigkeit, zu der Wahrheit des Lebens und des Sterbens erwacht ist. So ist er auch als sugata ausgezeichnet worden, d. h. als derjenige, der »gut gegangen« ist, hier also der »gut Dahingegangene«. Der Buddha starb, wie er starb, und durch das so Sterben-Können bezeugt er »das Leben-Sterben ledig des Leben-Sterbens«. Eine Vollzugsweise des »guten Sterbens« zeigt das sogenannte yui-ge (yui »hinterlassen«, ge »kurzes Zen-Gedicht«). Unter den ZenLeuten ist es eine Sitte, auf dem Sterbebett ein kurzes Gedicht zu verfassen. Dieses Gedicht heißt im Terminus yui-ge, »hinterlassenes Gedicht«. Dabei handelt es sich nicht um ein Testament, nicht um den letzten Willen, die letzten Wünsche, sondern um die letzten Abschiedsgrüße des Sterbenden mit der Zusammenfassung des Ganzen seines Lebens. Dem Sterbenden ist gerade im gegenwärtigen Sterben das Leben in seiner Ganzheit abschließend und gesammelt spezifisch gegenwärtig. Im Sterben gefasst, fasst er dieses Ganze zu seinem eigenen Selbstgewahrnis in Gedichtworten zusammen, um es wie ein großes dichterisches letztes Ausatmen des ganzen Lebens zu lassen, wie es vom Tode hinweg genommen wird, und zugleich um das betreffende Gedicht als letzten Gruß den Verwandten, Vertrauten, Freunden und den anderen Mitmenschen zu schenken. Als ein Beispiel wollen wir hier das yui-ge von Ryo¯kan hören: Vorderseite, Rückseite – Herbstblätter fallen ab. Im Grunde genommen ist das yui-ge als Sterbebettgedicht nichts anderes als ein abschließender Nachvollzug dessen, was und wie bereits 128 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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im Leben, schon vor dem Tod, aber aus dem Tot-Sein heraus, gelebt worden ist. In Wahrheit gelten aber auch alle letzten Worte der Sterbenden als hinterlassene Gedichte, gleich ob sie in der vorgeschriebenen Gedichtform gefasst sind oder nicht. Das hinterlassene Gedicht ist zugleich der letzte Abschiedsgruß des Sterbenden an die zurückbleibenden Vertrauten. Für diese gilt das betreffende yui-ge als Auftrag bzw. als Aufgabe, die Grüße verantwortungsvoll ins eigene Leben aufzunehmen und sie auf eigene Weise zu erwidern. Nun taucht immer wieder die Frage auf, ob und wie es für den Menschen, den sterblichen und doch noch lebenden Menschen, überhaupt möglich sei, aus dem Tod zu leben? Als eine mögliche, nicht theoretische, sondern unmittelbare konkrete Antwort aus der Lebenserfahrung möchte ich hier ein Waka-Gedicht der modernen Dichterin Yosano Akiko (1878–1942) anführen: Im Gefühl, dass der Tag nah ist, an dem ich irgendwohin zurückkomme, stehen mir die Dinge der Welt näher. Die Dichterin lebt in der Welt, indem sie in Geist und Gefühl dem Tod nahe ist. Sie befindet sich dabei zugleich in der Welt und in dem »irgendwo«, das sie betritt. Sie wohnt in der Doppelwelt in der unsichtbaren Doppelheit 2 . Jetzt erscheinen ihr die Dinge der Welt näher und intimer aus der unsichtbaren Weit-Tiefe, nicht mehr als bloß innnerweltlich Vorhandene und Zuhandene. »Irgendwo« sagt die Dichterin, ohne es zu benennen. Sie braucht es nicht zu benennen, weil sie es bereits fühlt. Das Fühlen ist nämlich für solche Dinge das rechte Organ. Wenn es benannt wird, gehört es mit dem Namen als Erweiterung der Welt zu dieser Welt. Der Mensch stirbt, wie er in den Tod stirbt. Er ist tot. Im Tode waltet nun die Stille, die ungeheure, unergründlich tiefe Stille. Ein sino-japanisches Wort des Zen-Buddhismus für den Tod lautet ji-jaku (ji »zeigen«, jaku »tiefe Stille«), d. h. »Stille zeigen«, »tiefe Stille walten lassen«. Im Walten der Stille bleibt uns Hinterbliebenen, die von der Stille durchdrungen und gereinigt sind, die letzte Frage: »Wohin gehen die Verstorbenen, unsere lieben Toten? Was geschieht ihnen eiKapitel 3 »Das In-der-Doppelwelt-Wohnen. Der Ort des Menschen nach dem Zen«, S. 70 ff.

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gentlich nach dem Tode?« Darauf eine Antwort zu finden, bleibt für uns die Aufgabe unseres Lebens. Wir können darauf schließlich nur mit unserem eigenen »wohin« antworten. Wir sind Mitsterbliche. Der Tod, der durch das »wohin« für immer trennt, verbindet durch das »woher« am innigsten. Die Frage nach dem »wohin« taucht doch immer wieder auf. »Wohin« nach dem faktischen Tod am Ende des Lebens? Dazu äußert sich der Zen-Buddhismus nicht im Sinne eines Lehrprogramms, er verhält sich dem Beispiel Buddhas folgend, der auf die Frage schwieg, ob die Seele ewig sei oder nicht. Der Zen-Buddhismus weist weder auf das Reine Land hin, wie der Amida-Buddhismus, noch entwirft er eine Metaphysik der Seele über den Tod hinaus. Stattdessen stellt er einem jeden umso dringlicher direkt und konkret die Frage: »Wohin gehst du selbst?« In diesem Zusammenhang fragt ein Ko¯an: »Wo west dein Wesen in dem Augenblick, da dein Augenlicht erlischt?« Ein Mensch, der durch sein eigenes Leben die Wahrheit des Leben-Sterbens realisiert hat, stirbt beim Sterben, wie er stirbt, ohne zu fragen: Was? Wohin? Oder er stirbt zwar fragend, aber ohne eine Antwort zu erwarten, ohne eine Antwort erwarten zu müssen. Fragen ist dabei ein berührtes Erstaunen: »Sterben, oh Was?! Oh Wohin?!« Ein Mensch stirbt, wie er in den Tod stirbt. Das ist für den Sterbenden die einzige, ganze Wirklichkeit. Die einzige, ganze Wirklichkeit und doch das einzige letzte Fragen: »Wohin?!« – »Was dann?!« Aber hier handelt es sich nicht mehr um eine Frage, die nach einer Antwort sucht, sondern um die große Frage als ausatmende letzte Exklamation des ganzen Lebens. Es ist jedoch nicht so, dass es kein Wo, kein Wofür und kein Wohin gäbe. Nur überlässt der Zen-Buddhismus einem jeden als letzte Freiheit sein eigenes Wohin. Ein jeder stirbt seinen eigenen Tod. Ein jeder darf sein Wohin selber träumen. Ein jeder muss im großen Wissen um die Nicht-Wissbarkeit des »wohin« sein eigenes »wohin« selbst träumen können. Dies gehört zu seiner eigenen letzten Freiheit. Jeder träumt ganz individuell, d. h. er ist es selbst, kein anderer, der jetzt stirbt, genauso wie er es ist, der gelebt hat und niemand anderes. Doch hört jeder gerne den Traum eines anderen. Es ereignet sich eine Art Traumsymphonie im leeren Raum, in der unendlichen Offenheit. Einige Beispiele für Träume des Todes, des »Wohin« bzw. »Was dann«, bei Zen-Buddhisten:

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Ich verstreue mich überall im Kosmos, um den Menschen bei dem Abschied von dem irdischen Leben behilflich zu sein. Ich werde ein Ochs für den Nachbarn und mache gerne die Feldarbeit mit. Ich sterbe nicht. Bitte verstreut meine Asche auf dem Acker. Meine Asche düngt gut, wie ich hoffe. Dies alles könnte man für Traum halten, Phantasie, Märchen. Nun ist das aber unmittelbar angesichts des eigenen Todes doch eine Wirklichkeit oder vielmehr die Wirklichkeit angesichts des Nichts, umgriffen von Nichts, während das ganze gelebte Leben, auf das nun vom Nichts zurückblickt wird, in seiner Wirklichkeit doch als Traum im Nichts vergegenwärtigt ist. Traum als Wirklichkeit, Wirklichkeit als Traum. Das chinesische Schriftzeichen yume, »Traum« ist ein Lieblingsgegenstand der Zen-Kalligraphie. Oben war von dem »Traum« beim Sterben die Rede. In dieser Hinsicht sollte hier auch das »Geviert« beim späteren Heidegger in unsere Besinnung einbezogen werden. Das »Geviert« erscheint Heidegger auch im Zusammenhang mit dem Problem des Todes. Von dem tief angenommenen Tod des Menschen erscheint dem »Sterblichen« dessen »wo« als das »Geviert« wie ein Traum der Besinnung. Im Unterschied zum »Sein zum Tode« in dem früheren Hauptwerk »Sein und Zeit« (1927) sagt Heidegger später z. B.: »Der Tod birgt als der Schrein des Nichts das Wesende des Seins in sich« 3 . Dies sagt er in Bezug auf die »Einfalt des Gevierts von der Erde, dem Himmel, den Göttlichen und den Sterblichen«. Wegen der tiefen Zusammenhänge ist es angebracht, den ganzen Absatz zum »Tod« zu zitieren. Nachdem Heidegger die Erde, den Himmel und die Göttlichen nacheinander erläutert hat, schreibt er: Der Tod ist der Schrein des Nichts, dessen nämlich, was in aller Hinsicht niemals etwas bloß Seiendes ist, was aber gleichwohl west, sogar als das Geheimnis des Seins selbst. Der Tod birgt als der Schrein des Nichts das Wesende des Seins in sich. Der Tod ist als der Schrein des Nichts das Gebirge des Seins. Die Sterblichen nennen wir jetzt die Sterblichen – nicht, weil ihr irdisches Leben endet, 3

Heidegger, Das Ding, in: Vorträge und Aufsätze, Verlag Günther Neske, 1954, S. 177.

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sondern weil sie den Tod als Tod vermögen. Die Sterblichen sind, die sie sind, als die Sterblichen, wesend im Gebirg des Seins. Sie sind das wesende Verhältnis zum Sein als Sein. 4

Die »Metaphysik« bestimmt den Menschen als »animal rationale«. Dazu meint Heidegger: »Die vernünftigen Lebewesen müssen erst zu Sterblichen werden«. Dann erst erschließt sich den Sterblichen die Welt als das Geviert. Diese Welt hier ist anders als die Welt in dem »In-der-Welt-Sein« zur Zeit des Werkes »Sein und Zeit«. »Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen gehören von sich her zueinander einig, aus der Einfalt des einigen Gevierts zusammen« 5 . Dem Sterblichsein im Sinne Heideggers entspricht im Zen-Buddhismus das Leben aus dem Tot-Sein. Erst durch das Tot-Sein sollten die Sterblichen den »Schrein des Nichts« betreten und dadurch »wesend im Gebirg des Seins« werden. Deswegen kommt es dem Zen-Buddhismus nicht auf das »Sein zum Tode« an, auch nicht nur auf das »Sterblich-Werden«, sondern vielmehr auf das Sterben als solches. Allerdings handelt es sich dabei nicht um ein Zu-Ende-Gehen, nicht nur um ein »das-irdische-Leben-Beenden«, sondern um eine Radikalisierung des »den-Tod-als-Tod-Vermögen«. Eine grundlegende Aufgabe, welche Zen-Meister ihren Jüngern häufig stellen, lautet – wie oben einmal erwähnt: »Stirb gründlich deinen Tod und komme erst dann zu mir«. So sagte Meister Shidobunan (1603–1678): »Wer lebend gestorben, einen Grundtod gestorben ist und handelt, wie es ihm selber gefällt, der ist ein wahrer Mensch«. Und Meister Hakuin (1689–1768) sagte, »Junge Leute, wenn ihr nicht sterben wollt, sterbt jetzt! Falls ihr jetzt gestorben seid, sterbt ihr nicht, wenn ihr sterbt«. Sterben heißt, in Heideggers Worten, sich »in den Schrein des Nichts« aufgeben und im Nichts das »wesende Verhältnis zum Sein als Sein« realisieren. Auf diese Weise wirkt das »In-der-Doppelwelt-Wohnen« in der unsichtbaren Doppelheit 6 als Leben aus dem Tot-Sein, wobei es sich nicht nur um die sogenannte Lebenswelt, sondern auch um den »Schrein des Nichts« handelt, ja des Nichts, das in Wirklichkeit größer als »der Schrein«, vielmehr größer als »das Geviert« bei Heidegger ist. Das »InEbd. A. a. O., S. 178. 6 Kapitel 3 »Das In-der-Doppelwelt-Wohnen. Der Ort des Menschen nach dem Zen«, S. 70 ff. 4 5

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Der Tod im Zen-Buddhismus

der-Doppelwelt-Wohnen« bedeutet daher auch das Zusammenleben mit dem Toten. Wohin gehen die Verstorbenen? Wo sind meine Toten, meine Freunde oder mein Vater, meine Mutter oder meine Kinder, meine Lehrer oder die unbekannten Gefallenen? Darauf zu antworten ist eine Lebensaufgabe desjenigen, der die Toten liebt: antworten vielleicht schon in dankbarer Liebe – antworten vielleicht mit seinem eigenen Sterben. Wir sind mitsterblich.

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6 Erfahrung und Sprache in Hinsicht auf die Problematik »Glaube und Mystik« 1

Im folgenden Versuch geht es nicht direkt um religiöse Erfahrung, sondern um die Erfahrung als solche und zwar im weitesten und doch konkreten Sinne. Wir haben nämlich das Wort Erfahrung gewählt, um das menschliche Dasein als solches, wie es konkret lebt, umfassend zu bezeichnen. Für Heidegger ist das menschliche Dasein in seiner fundamentalen Struktur In-der-Welt-Sein. Das ist ein Terminus technicus, der schon eine bestimmte begriffliche Artikulation darstellt. Wir wollen von dem Dasein möglichst noch vor seiner ausdrücklichen Artikulation in seiner konkreten Lebenseinheit ausgehen. Unsere Bezeichnung Erfahrung soll das menschliche »Da-Sein« umfassend und konkret in einem Wort erfassen, wobei Da-Sein hier wesentlich mehr als In-der-Welt-Sein bei Heidegger besagt, wie oben anhand des Begriffes In-der-Doppelwelt-Wohnen erörtert worden ist 2 . Wir erwarten dabei, verschiedene Daseinsweisen als bestimmte Modifikationen der Erfahrung in einem Zusammenhang verstehen zu können. Unsere Aufgabe im folgenden Versuch ist es, zunächst das, was gewöhnlich Religion genannt wird, als eine Grundweise der Erfahrung im genannten Sinn zu verstehen, und dann Glaube und Mystik, die in der Religionsforschung als die zwei Haupttypen gelten, als weitere mögliche Differenzierungen der bestimmten Grundweise der Erfahrung zu verstehen. Der Gegenstand der Betrachtung ist, wie gesagt und wie wir nochmals betonen möchten, nicht die sogenannte religiöse Erfahrung, sondern die Erfahrung als solche im oben genannten Sinne. Wir wollen 1 Ursprünglich »›Glaube und Mystik‹ am Problem ›Erfahrung und Sprache‹«, in: Homo Medietas. Aufsätze zur Religiosität, Literatur und Denkformen des Menschen vom Mittelalter bis in die Neuzeit. Festschrift für Alois Maria Haas zum 65. Geburtstag, hrsg. C. Brinker-von der Heyde u. N. Largier, Bern/Berlin/Frankfurt 1999, S. 323–334. 2 Kapitel 3 »Das In-der-Doppelwelt-Wohnen. Der Ort des Menschen nach dem Zen«, S. 70 ff..

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Erfahrung und Sprache

dem Problem nachgehen, wo in der Erfahrung, an welcher Stelle im Strukturzusammenhang, in welcher Dynamik des Erfahrungsprozesses ein bestimmtes Phänomen, das wir gewöhnlich mit dem Namen Religion benennen und das wir darunter verstehen zu können glauben, von der primitiven Grundlage aus neu sichtbar wird. Im primitiven Lebenssinn haben wir zweierlei Sprachgebrauch von Erfahrung. Erfahren heißt zunächst im Allgemeinen: ›etwas tatsächlich erfahren und erfahrend zugleich gerade in der Weise des Erfahrens wissen, was und wie es erfahren ist‹. Erfahren heißt dann in einer betonten Weise: ›etwas Unerwartetes fast leibhaft erfahren und erfahrend nicht wissen, was erfahren ist und was wir dabei und dazu tun sollen‹, wobei das betreffende Nichtwissen zu einer neuen Überlegung bzw. einer Veränderung unseres Selbst führt oder auch manchmal zwingt. Der Erfahrungsbegriff ist unterschiedlich je nach Orientierung an dem allgemeinen oder an dem betonten Sprachgebrauch. Wir sind der Auffassung, dass die Erfahrung in sich gerade eine Dynamik darstellt, die den genannten zweifachen Sprachgebrauch braucht. Erfahrung in unserer Bezeichnung besteht aus einer Bewegung von dem ersteren zum letzteren und wieder von diesem zu jenem – und zwar in einer Spiralbewegung. Statt der Erhellung der ganzen Bewegung der Erfahrung müssen wir uns in unserem Versuch darauf beschränken, das Phänomen Religion aus der dynamischen Struktur der Erfahrung sichtbar zu machen. Wollen wir zunächst davon ausgehen, dass Erfahrung besagt: ›etwas erfahren (A) und erfahrend zugleich wissen (B), was und wie erfahren wird‹. Im Allgemeinen enthält Erfahrung (A) ihr eigenes Selbstverständnis (B). Erfahrung versteht jeweils irgendwie, was erfahren wird. Erfahrung (A) und ihr Selbstverständnis (B) bilden zusammen die Erfahrung als solche (A/B). Die Erfahrung (A/B) ist in A die Tatsache der Erfahrung, in B das Wissen (Erfahrungswissen). Erfahrung gibt sowohl die Tatsache als auch das Wissen. In der Erfahrung und gerade als die Erfahrung gehen die Tatsache und das Wissen ineinander über. Manchmal absorbiert das Wissen im Selbstverständnis der Erfahrung die Tatsache derselben Erfahrung bzw. die Erfahrung als Tatsache. So ist die Erfahrung in diesem Fall die erfahrene Erfahrung. Deswegen passiert es auch, dass die Tatsächlichkeit der Tatsache der Erfahrung ihrerseits das Wissen im Selbstverständnis übersteigt. Wird in diesem 135 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

Erfahrung und Sprache

Fall die Erfahrung im Durchbruch durch das Selbstverständnis gegeben, so ist die Erfahrung die erfahrende Erfahrung als ein Ereignis. »Erfahren heißt, die Tatsache so wissen, wie sie ist« (K. Nishida). Zur Erfahrung gehört das Wissen, was und wie erfahren wird. Das Wissen ist nicht möglich ohne irgendeine Verfassung des Wissens. Die Grundlage der Verfassung ist dabei von der Sprache bereitet. Die Erfahrung versteht sich durch die Sprache und in der Sprache. Die Erfahrung versteht so, was erfahren ist, wie die Sprache es sagt. So heißt es z. B.: »Ich sehe einen Berg.« Man denkt sich dabei, dass es sich um eine unmittelbare Erfahrung handelt. Auf diese Weise wird das Selbstverständnis, das zu der Erfahrung selbst gehört, mit Hilfe der Sprache vollzogen. Hier konstatieren wir eine besondere innere Verbindung und Verflechtung der Erfahrung mit der Sprache. Zugleich sehen wir gerade in dieser Verbindung auch ein problematisches Verhältnis. In ihr steckt nämlich eine mögliche, oft unbemerkbare Verschiebung von der erfahrenden Erfahrung zur erfahrenen Erfahrung bzw. eine Verschiebung von der Erfahrung, die sprachlich verstanden wird, zur sprachlich bestimmten, festgelegten Erfahrung. Die Erfahrung versteht dann, erfahren zu haben, was und wie die Sprache es sagt. Diese Verschiebung steigert sich fast unumgänglich zu einer Ansicht über die Erfahrung überhaupt, nach der Erfahrung selbst erst mit Hilfe von Sprache möglich sei. Diese Erfahrungsansicht führt auch manchmal in der philosophischen Reflexion zur ausdrücklichen Rechtfertigung der Sprache als transzendentaler Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung. Philosophen sprechen oft von der »Horizont-Struktur der Erfahrung«, wobei die Sprache als der fundamentale Horizont gilt. Das sollte heißen: Alles, was erfahren wird, wird immer schon in der Auslegung durch Sprache erfahren, so dass dem Menschen die sogenannte nackte, ursprüngliche Wirklichkeit ohne vorgängig einwirkende sprachliche Auslegung nie gegeben sein kann. Diese Ansicht führt weiter dazu, die sprachliche Auslegung der Erfahrung in der Erfahrung selbst zu einer Theorie zu steigern, die durch Reflexion aus verschiedenen Zusammenhängen einen höheren Zusammenhang entwirft, und sie führt dazu, eine theoretische Rekonstruktion der Erfahrung für ein höheres ausgearbeitetes Selbstverständnis der Erfahrung und eine solide Entfaltung der Erfahrung selbst zu halten. Diese Erfahrungsansicht sieht das A der Erfahrung (A/B) zwar als unentbehrlich, im Grunde aber nur als Materie bzw. Stoff für das B an, 136 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

Erfahrung und Sprache

was die Entscheidung über die Bildung der Erfahrung (A/B) in Anspruch nimmt. Für diese Ansicht gilt die Erfahrung (A B) in der Tat als die Erfahrung (a/B). Im Unterschied oder im Gegensatz zu dieser ersten Ansicht gilt auch eine andere. Für diese ist das Moment B zwar unentbehrlich, aber das Entscheidende der Erfahrung als solcher liegt in A, das durch die sprachliche Auslegung und Bestimmung nicht erschöpft werden kann. Da das Selbstverständnis der Erfahrung in der Sprache vollzogen wird, und da sprachliches Bestimmen eine Art Begrenzung ist, zumal in Wirklichkeit jeweils in einer bestimmten Muttersprache mit einem bestimmten Wortschatz und in einer bestimmten Artikulationsart, so kann das sprachlich auslegende Bestimmen die zu bestimmende Erfahrung A nicht vollständig absorbieren. Es bleibt immer und irgendwie etwas übrig in der Erfahrung A. Die auszulegende Erfahrung A ist immer irgendwie mehr als die sprachlich ausgelegte Erfahrung. Dank dieses Mehr in A, dank des unbestimmbaren, im Grunde unbegrenzten Überschusses in A, das in Wirklichkeit also ein AX ist, wird Erfahrung nach der zweiten Ansicht erst eigentlich Erfahrung. So ist das A als AX kein bloßer Stoff für das sprachliche Selbstverständnis der Erfahrung, kein Moment in der Erfahrung, sondern so viel wie Urerfahrung, die sich sprachlich artikuliert und zugleich mit der Artikulation den Überschuss wie etwas zwischen den Zeilen und wie einen breiten Rand duften lässt. So verhält es sich eigentlich mit der Erfahrung als solcher. Eine Erfahrung spricht sich aus, wie z. B. in »das ist eine Blume«. Dabei fühlt die Erfahrung selbst zugleich mit dem Aussprechen, und zwar gerade durch das Aussprechen, einen unerschöpflichen Überschuss in sich. Zu diesem Fall spricht die zweite Ansicht von der Erfahrung im vollen Sinne. Es ist eigentlich dieser übersprachliche Überschuss, der zum Wort werden wollte und sich gerade zwischen den Zeilen und am breiten Rande irgendwie spannungsgebend bzw. sanft duftend unsichtbar offenbart. Eventuell wird der Überschuss in einer höheren Ebene nochmals sprachlich artikuliert. Ein Dichter sagt z. B.: »In diesen Blumen wohnt Gott.« Für den Dichter war das aus Konvention naheliegende Selbstverständnis der Erfahrung, das sagt »das sind Blumen«. Diese Ebene des Selbstverständnisses versehen wir jetzt mit dem Zeichen B1 – gar nicht genügend, um die Erfahrung selbst verstehend zu Wort zu bringen. So artikulierte der Dichter einschließlich des Überschusses nochmals, d. h. zum weiteren Selbstverständnis B2 auf einer höheren Ebene, zwar wieder nicht erschöpfend, wie folgt: »In 137 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

Erfahrung und Sprache

diesen Blumen wohnt Gott.« Es ist dabei nicht so, dass das B1 (»das sind Blumen«) nicht mehr gilt, als ob die Blumen nicht mehr Blumen wären. Das B1 bleibt gültig auch dem Dichter – und zwar gerade als Grundlage für das B2. Erst auf der Grundlage »das sind Blumen« wird in einer höheren Ebene des B2 »in diesen Blumen wohnt Gott« sinnvoll ausgesprochen. Der Dichter kennt selber verschiedene Fälle, in denen er sich einfach damit begnügt, zu sagen »das sind Blumen«. Nur ist das Wort Blumen im B1 ein Zeichen, während dasselbe Wort im B2 ein Symbol ist. So wird das Selbstverständnis der Erfahrung in zwei qualitativ verschiedenen Ebenen vollzogen. Dieses Doppelselbstverständnis in zwei Ebenen zeigt eine Art Tiefe der Erfahrung. Zusammenfassend wollen wir das Wichtigste wiederholen. Die Erfahrung (A) und ihr eigenes Selbstverständnis (B), das in Sprache vollzogen wird, bilden die Erfahrung (A/B), die im Allgemeinen für Erfahrung gehalten wird. Dabei entstehen prinzipiell zwei extrem verschiedene Ansichten von der Erfahrung, die jeweils ihren Grund in der Erfahrung (A/B) selbst finden. In der ersten Ansicht ist das Entscheidende der Erfahrung (A/B), welches Erfahrung erst zur Erfahrung macht, das B, das durch Sprache vollzogen wird. Das A existiert zwar unentbehrlich, aber nur als Materie für das B. Für diese Ansicht gilt in diesem Zusammenhang die Sprache als der transzendentale Möglichkeitsgrund der Erfahrung überhaupt. Diese Ansicht hat ihren Grund in B in der Erfahrung selbst, das seinerseits seine transzendentale Rechtfertigung in dieser Ansicht findet. Diese Art kontinuierlicher Steigerung von B in der Erfahrung zur transzendental selbstbegründeten Ansicht über die Erfahrung ist nicht selbstverständlich und der Erfahrung (A/B) selbst nicht ganz angemessen. Wollen wir noch einmal betrachten, worum es bei der Erfahrung in der ersten Ansicht geht. Wenn es zum Selbstverständnis der Erfahrung heißt »dies sind Blumen«, so ist dabei zugleich das Subjekt anwesend, das sagt »ich sehe Blumen«. Kants Transzendentalphilosophie und auch die heutige Phänomenologie haben dieses Ich zu dem transzendentalen Subjekt gesteigert, das die Erfahrung mit bestimmten Kategorien bzw. mit der Sprache konstituiert. Wenn es heißt »ich sehe Blumen«, so bedeutet das aber nicht ohne Weiteres, dass es sich um einen unmittelbaren Ausdruck der betreffenden Erfahrung handelt, obgleich dies manchmal so gesehen wird. Es bleibt im Grunde fragwürdig, ob es bei der unmittelbaren Erfahrung schon das Ich gibt, das als Subjekt Blumen sieht. Es heißt »ich sehe Blumen«. Dabei ist es sicher, dass es das Ich als Subjekt gibt, das 138 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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sagt: »Ich sehe Blumen«.. Das Ich der Aussage »ich sehe Blumen« ist nicht direkt das Ich, das die Blumen sieht, sondern zunächst nichts anderes als das Ich, das sagt »ich sehe Blumen«. Es heißt »ich sehe Blumen«. Dabei ist das Ich nicht direkt das sehende Ich, sondern ein Ich-sagendes Ich, das dann sich in die Erfahrung zurück als das sehende Ich hineinstreckt. Erst so heißt es »ich sehe Blumen«. Es handelt sich um eine Rekonstruktion. Obgleich die Einsicht in die Unumgänglichkeit der Rekonstruktion leicht zu der ersten Ansicht führt, und gerade weil es sich um eine Konstruktion handelt, besteht noch die Möglichkeit einer anderen Ansicht, und zwar anhand des A als AX in der Erfahrung (A/B). Bei der Unentbehrlichkeit des B und der Unumgänglichkeit der Konstruktion sieht die zweite Ansicht in A mehr als die durch das B verstandene Erfahrung. Das A wird zum Selbstverständnis sprachlich artikuliert und doch von und in der Artikulation nicht erschöpft. Das A wird in der Wirklichkeit der Erfahrung als das AX erfahren. In dieser Hinsicht gilt das A, d. h. AX nicht als Materie für das B, auch nicht bloß als ein Moment der Erfahrung (A/B), sondern vielmehr als Ur-erfahrung. Zwischen dem AX und dem B öffnet sich dann eine gespannte Kluft, die die Erfahrung höchst dynamisch bewegt. So macht dieses Mehr, also nicht das B wie bei der ersten Ansicht, die Erfahrung (A/B) erst eigentlich zu Erfahrung. Manchmal wird das betreffende Mehr zum zweiten Mal – aber auf einer höheren Ebene – sprachlich artikuliert, wie wenn z. B. von Gott gesprochen wird. In diesem Fall wird die Erfahrung in zwei qualitativ verschiedenen Ebenen mit einer Tiefe erfahren. Wir haben exemplarisch zwei extrem verschiedene Ansichten von der Erfahrung (A/B) bestimmt, die beide jeweils auf eigene Weise ihren Grund in der Erfahrung selbst haben, nämlich die erste Ansicht in B und die zweite in A. Nun ist zu fragen, welche Ansicht der Erfahrung als solcher angemessener ist. Es ist auch zu fragen, welche Erfahrung ursprünglicher ist, die Erfahrung in der ersten oder nach der zweiten Ansicht? Wir haben das menschliche Dasein im Ganzen und in der Konkretheit als Erfahrung genommen. Nun halten wir das Da-Sein des Menschen nicht nur für das »In-der-Welt-Sein« im Sinne Heideggers, sondern vielmehr für das »In-der-Welt-Sein in der unendlichen Offenheit«. Die Welt ist als der umfassende Sinnraum, als die Bewandtnisganzheit im Sinne Heideggers wesentlich begrenzt. Als begrenzte Er139 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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schlossenheit befindet sich die Welt in der unbegrenzten Erschlossenheit, in der unendlichen Offenheit. Diese offenbart sich als das Wo der Welt. Wir Menschen wohnen in der Welt, die sich ihrerseits in der unendlichen Offenheit befindet. Wir sind »in der Welt in der unendlichen Offenheit«. Das Da-Sein zeigt sich als das doppelte In-Sein. Diese Grundstruktur des menschlichen Daseins könnten wir versuchsweise als das »In-der-Doppelwelt-Sein« bezeichnen, also nicht einfach als das In-der-Welt-Sein. »Erfahrung« wird nicht nur »in der Welt« erfahren, sondern vielmehr »in der Welt in der unendlichen Offenheit«. Für die Erfahrung (AB) ist die Welt der Sinnhorizont des B, während das Wo für das A nicht nur die Welt, sondern »die Welt in der unendlichen Offenheit« ist. In seinem ursprünglichen Wo wird das A zum AX, AXX, AXXX. 3 Wir sehen also die Erfahrung (AX/B) nach der zweiten Ansicht als ursprünglichere und erfüllte Erfahrung. Wir sehen darin auch die ursprüngliche Möglichkeit der Religion bzw. die Ur-religiosität des menschlichen Daseins. Nun differenziert sich die ursprüngliche Erfahrung als Ur-religiosität weiter in zwei Arten, in der Typenbezeichnung der Religionswissenschaft Glauben und Mystik. Diese Differenzierung geschieht wieder in der Sprache der Erfahrung (AX/B). Zunächst zum Glauben: Mit dem Vollzug des B(B1) wird zugleich das AX der Erfahrung als unbegrenzter Überschuss über B1 hinaus erfahren. Der betreffende Überschuss wird dann auf einer höheren Ebene wieder sprachlich zum höheren B2 gebracht. So wird das sprachliche Selbstverständnis der Erfahrung auf zwei Ebenen vollzogen, in B1 und in B2. Dabei wird aber AX selbst eigentlich von B2 nicht absorbiert. Das AX wird nämlich in eine Unendlichkeit zurückgelassen. Nur soll gerade das Zwischen der zwei Ebenen bzw. der Qualitätsunterschied der zwei Ebenen zueinander die Unendlichkeit des X im AX spiegeln. Der Glaube bezieht sich zwischen den zwei Ebenen des Selbstverständnisses der Erfahrung auf das Unendliche, das nun mit Wörtern wie Gott in B2 belegt wird. In dem Fall des Glaubens wird auf diese Weise das Selbstverständnis der Erfahrung auf den zwei verschiedenen Ebenen vollzogen. Trotz des Niveauunterschieds wird sowohl B1 als auch B2 gleichfalls sprachlich vollzogen. So wird zwischen beiden Ebenen wieder eine sprachS. Kapitel 3 »Das In-der-Doppelwelt-Wohnen. Der Ort des Menschen nach dem Zen«, S. 70 ff.

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liche Überbrückung versucht, die einen möglichen Zusammenhang der beiden Ebenen zueinander in Hinsicht auf die Sprache erörtert, wie z. B. die Logik der analogia im Mittelalter oder die Symboltheorie in der Gegenwart. So hat der Glaube in sich einen Ort für die Theologie. Diese gilt für den Glauben als eine notwendige Entfaltung seines Selbstverständnisses. Es liegt nahe, dass der Glaube sein Selbstverständnis in Anlehnung an irgendeine bestehende Metaphysik zu einer Dogmatik ausarbeitet. Der Glaube mit seiner Dogmatik glaubt dann, die Wahrheit des Glaubens in eine sprachlich richtige Formulierung wie in ein Credo bzw. in einen Grundsatz der Glaubenslehre bringen und an diesem bestimmten Glaubensgrundsatz als Kriterium die Rechtgläubigkeit der verschiedenen Glaubensaussagen der Gläubigen messen und nötigenfalls verurteilen zu können. Der Glaube rechtfertigt mit der Theologie sein inquisitorisches Verfahren, das sich oft gegen Aussagen mit mystischer Tendenz wendet. Der Mystik geht es ihrerseits um die Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit der Erfahrung. Es kommt der Mystik bei der gemeinsamen Grundlage mit dem Glauben, d. h. bei der Erfahrung (AX/B), auf eine andere Betonung aufgrund des X in AX an. Zur Mystik: Mit dem Vollzug des B in der Erfahrung wird in A der unbegrenzte Überschuss AX erfahren, der zugleich eine radikale Negation gegen das B bewirkt. Auch wenn dieses AX auf einer höheren Ebene zum B2 nochmals sprachlich artikuliert worden ist, wird dann wieder der unbegrenzte Überschuss AXX erfahren, der eine radikale Negation gegen das B2 bewirkt. In der Erfahrung der Vertiefung des Überschusses (AX–AXX–AXXX) mit der weiter greifenden Negation bewirkt der Niveauunterschied zwischen B1 und B2 keine Spiegelung des Unendlichen – wie beim Glauben. Das doppelte B(B1/B2) wird total verneint. Die via negationis, die negative Theologie, gehört wesenhaft dazu. Via negationis ist der Weg der Mystik. Dabei wird die immer weiter und tiefer greifende Negation zum Unendlichen offen. Diese fast unbegrenzt geöffnete Offenheit wird dann von dem Unendlichen erfüllt, die via eminentiae. Hier sehen wir die Mystik im vollen Sinne. Diese wird dann je nach der Betonung der unendlichen Erfüllung oder der unendlichen Offenheit eine andere Gestalt zeigen. Das erstere stellt die typische Mystik dar und das letztere sozusagen eine Nicht-Mystik, eine Mystik, die ihrer selbst immer wieder ledig wird. Nun ist die Mystik auch nicht einfach ohne Sprache. Das Werden der Mystik ist von der Negation der Sprache auf den Ebenen B1 und B2 vermittelt. 141 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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Das Unendliche, das die von der Negation eröffnete Offenheit erfüllt, fließt eben wegen der Unendlichkeit zurück in B2 und auch in B1, neu in die Sprache über. Es handelt sich dabei um von sich aus fließende, strahlende, blitzende, wehende Worte, die sich nicht an Dogmen und Regeln halten. Es geschieht dann, dass einmal gesprochene Worte immer wieder in der Gegenwart der Erfahrung, um der Unendlichkeit willen zurückgezogen werden, die dann wieder neue Worte gebiert. Oben haben wir den Glauben mit der Theologie und die Mystik mit der negativen Theologie als zwei Typen der Differenzierung aus der Ur-möglichkeit der Religion, der ursprünglichen Erfahrung (AX/ B), betrachtet. Es ist aber in der geschichtlichen Wirklichkeit nicht so, dass die beiden Formen in formaler Unterscheidung nebeneinander bestehen. Sowohl bei dem Glauben als auch bei der Mystik handelt es sich um die Hervorhebung je einer fließenden Tendenz in den geschichtlichen Gestalten der Religion. So enthält eine bestimmte geschichtliche Form der Religion, in der eine bestimmte Tendenz herrscht, in sich latent auch die andere, die entsprechend einer problematischen Situation in dem geschichtlichen Prozess irgendwie aktiviert wird. Im Fall des Glaubens mit Theologie, der zum Selbstverständnis in den beiden Ebenen (B1/B2) und auch zwischen dem B1 und dem B2 mit der Sprache verfährt, kann es geschehen, wie es tatsächlich oft der Fall war, dass die ganze Erfahrung, einschließlich des Überschusses, mit der Sprache durch und durch verwoben und steif verfestigt worden ist. Die Verfestigung ist dann umso stärker, gerade weil sie die Doppelebenen bedeckt. Da wird die Erfahrung, um tief zu atmen und um die ursprüngliche Lebendigkeit zu wiederholen, eine Mystik innerhalb des Glaubens hervorrufen. Im umgekehrten Fall, wo die Mystik einem falschen Pantheismus verfallen ist und die mit Unendlichkeit geladene Lebendigkeit verliert, wird ein Glaube in ihr akut, um die Mystik angesichts des Überschusses wieder gespannt werden zu lassen. Eigentlich wird die Mystik mit der durchgängigen Negation des Stehenbleibens bei B1 und B2 in der durch die Negation geöffneten Offenheit von dem Unendlichen erfüllt, um erst dann mit dem Überschuss zurück in B2 und in B1 überzufließen. Dabei kann es manchmal geschehen, dass man das Gefühl hat, bei B2 bzw. sogar bei B1 ohne Weiteres das Unendliche berühren zu können. So entsteht ein flacher, leichter Pantheismus mit mystischer Schwätzerei. »In diesem Berg wohnt ein Gott«, ein Spruch der Mystik, der eigentlich in der Negation die zwei Ebenen B1 und B2 übergreifend eine gespannte Tiefe darstellt, wird als gesprochenes 142 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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Wort zu einem Aussagesatz in einer und derselben Ebene nivelliert, der leicht zu dem Pantheismus ohne Transzendenz verführt. In dem ersten Fall handelt es sich um die Rettung des Glaubens, der wegen sprachlicher Festlegung in dem geschichtlichen Prozess starr geworden ist, mit Hilfe eines Momentes der Mystik, während es sich in dem letzteren Fall um die Rettung der Mystik handelt, die wegen der Diffusion der Unendlichkeit aus Mangel der Negation dünn und flach geworden ist, mit Hilfe eines Momentes des Glaubens. Hier sehen wir eine Dynamik in der Religionsgeschichte – eine Dynamik, die ursprünglich der Erfahrung als solcher angehört und sich in der Religionsgeschichte manchmal mit drastischer Auffälligkeit zeigt. Sowohl Glaube als auch Mystik wollen auf diese Weise in einem spezifischen Prozess die ursprüngliche Möglichkeit der Religion, d. h. die Ursprünglichkeit der Erfahrung, wieder lebendig zurückholen, die wir oben darin gesehen haben – nämlich die Erfahrung, dass in A das (A/B), der unbegrenzte Überschuss AX über das B, wahrgenommen wird. Es kommt darauf an, ob eine jeweilige Wirklichkeit der Erfahrung eine variierte Verwirklichung der Ursprünglichkeit der Erfahrung darstellt oder nicht. Wenn ja, dann wird das A mit dem Überfluss (AX) über das B die Qualität der ganzen Erfahrung entscheiden. Dann kann man erst richtig von Religion sprechen. Es ist nicht so, dass es ein besonderes Daseinsgebiet mit dem Namen Religion gäbe. Eine gegebene Erfahrung (A) und ihr Selbstverständnis (B), das seinerseits mit der Sprache vollzogen wird, bilden die Erfahrung (A/B). Die Erfahrung besagt A/B. Von hier aus haben wir gezeigt, dass die Urerfahrung, in der A nicht Materie für B (wie bei A/B), sondern mit dem Überschuss (AX) über das B hinaus eine ursprüngliche Erfahrung darstellt, zugleich auch die Grundlage für die Religion ist. In diesem Zusammenhang wollen wir zum Schluss kurz auch auf die Entfaltung der Philosophie aus der Erfahrung im Verhältnis zur Religion hinweisen. Erfahrung (A) und ihr Selbstverständnis (B) bilden die Erfahrung (A/B). Die Philosophie hat ihre primitive Wurzel im B der Erfahrung (A/B), während die Religion ihre primitive Wurzel im A hat. Wenn das Selbstverständnis (B) sich auf sich selbst bezieht und als reflexives höheres Selbstverständnis (BB) ausdrücklich und thematisch sich auch auf die ganze Erfahrung (A/B) bezieht, so entsteht die Grundweise der Philosophie (A/B)B, d. h. AB/B. Zu dieser höheren Reflexion (BB) der ganzen Erfahrung (A/B) kann auch ein Verständnis gehören, dass 143 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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im A ein Überschuss (AX) über das B enthalten ist, dass das ursprüngliche A, d. h. AX über den Horizont des B und auch des BB hinausgeht. In diesem Fall korrespondieren Philosophie und Religion miteinander und ergänzen sich gegenseitig. Es kann aber auch geschehen, was in der Tat meistens der Fall ist, dass das höhere reflexive Selbstverständnis (BB) die ganze Erfahrung einschließlich des A, das in der Religion als das gesteigerte AX erfahren wird, in sich als das nicht nur verstandene, sondern auch konstituierte absorbiert. In diesem Fall stehen Philosophie und Religion miteinander im Gegensatz bzw. Widerspruch. Zwischen diesen beiden extremen Fällen zeigen sich in der Geschichte viele Variationen der Beziehung zwischen Philosophie und Religion. Wir haben das menschliche Dasein im Ganzen und in seiner Konkretheit einfach als Erfahrung erfasst und von der primitiven Fundamentalstruktur der Erfahrung (A/B) ausgehend das Phänomen, das sonst Religion genannt wird, als eine Grund-Weise der Erfahrung erörtert. Das bedeutet nicht, dass wir die Religion als solche der menschlichen Erfahrung ohne Transzendenz immanent machen wollten. Wir halten vielmehr die Erfahrung selbst eigentlich für ekstatisch, d. h. in dem Sinne, dass das A in der Erfahrung (A/B) über das B hinausreicht (AX,AXX …). Allerdings hat die Erfahrung wegen des B eine Tendenz, sich im Rahmen des B zu schließen. Das B hat nämlich eine bestimmende Kraft, die Erfahrung (A/B) zu dem Erfahrenen festzulegen, wie es das B mit der Sprache so versteht. Die Erfahrung (A/B) legt sich dann fest zur Erfahrung (A/B). Deswegen kann es sich bei Gelegenheit ereignen, dass das AX bei der Erfahrung das festgelegte A/B zur ursprünglichen Erfahrung durchbricht. Nishida sagt z. B. von der »reinen Erfahrung«, »[i]m Augenblick des Sehens, des Hörens, da weder Subjekt noch Objekt ist«, da handelt es sich um ein solches Ereignis. Zur Erfahrung (A/B) als solcher gehört eine Dynamik, zum A/B geschlossen und dann durch den Durchbruch des X zum AX/B durchbrochen zu werden. Es handelt sich um eine Dynamik der sich verwandelnden Bewegung, nämlich: (A/B)–(A/B)–(AX/B). Entsprechend dieser dynamischen Struktur der Erfahrung selbst modifiziert sich das »Gleichzeitig-in-und-über-der-Sprache« im Prozess der Dynamik einmal zum »(gleichzeitig) in (und über)« der Sprache, ein andermal zum »(gleichzeitig in und) über« der Sprache, oder auch von jenem zu diesem, von diesem zu jenem. In der Modifikationsbewegung finden wir die ursprüngliche und volle Erfahrung »gleichzeitig in und über der Sprache«. 144 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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1. Das wahre Selbst als Problem der Sprache Unser Thema ist das »selbst-lose Selbst« in der zen-buddhistischen Perspektive, und zwar diesmal in seinem Zusammenhang mit dem Problem der Sprache. 2 Das selbst-lose Selbst vollzieht sich als Bewegung von sich selbst zu sich selbst. Diese Bewegung vollzieht sich auch als Befreiung von der Sprache hin zu der Sprache. Die Sprache reicht nämlich bis in den Kern des Selbstseins, weil unser Selbst- und Weltverständnis sprachlich verfasst ist. So ist auch die Grundumkehr als Ereignis des Durchbruchs durch das Ich-bin-ich hindurch zur Wahrheit des Selbst nichts anderes als ein ursprüngliches Wortereignis. Das selbstlose, wahre Selbst sagt dabei: »Ich bin, indem ich nicht ich bin, ich.« Um das zu verstehen, gehen wir vom Problem der Sprache aus. Jede Wirklichkeit, die wir erfassen, ist für uns bereits eine durch Sprache gedeutete Wirklichkeit. Die Sprache führt und lenkt mit den ihr eigenen Funktionen der Artikulation und Auslegung alle Erfahrungen und ermöglicht diese erst. In diesem Sinne ist unsere Welterfahrung von vornherein sprachlich verfasst, wie es Wilhelm von Humboldt und Ernst Cassierer in der klassischen Weise herausstellten. Durch das In-der-Welt-Sein wohnen wir zugleich in der sprachlichen Welt. Sprache gilt uns dann als Weltansicht im Sinne Humboldts. Sie zeigt sich in ihrer schöpferischen weltöffnenden Funktion. Wir müssen aber auch die Kehrseite der Welt als sprachlicher Welt klar ins Auge fassen. Sprache erschließt zwar eine Welt als Sinnhorizont, sie bestimmt und beschränkt diese aber auch. Allerdings täuscht

1 Ursprünglich »Schweigen und Sprechen im Zen-Buddhismus«, in: Die Macht des Wortes, hrsg. T. Schabert u. R. Brague, Eranos N.F. 4 (1993) 1996, S. 91–113. 2 Vgl. den Begriff des »selbst-losen Selbst« in Kapitel 4 »Was ist das Zen?«, S. 97 ff.

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der Erschlossenheitscharakter der Welt zunächst über diese Beschränktheit hinweg. Die Ambivalenz des Menschseins waltet bereits in seiner elementaren Sprachlichkeit. Die Sprache als solche kann durch ihre eigene Funktion auch gefährlich werden. So kommt es häufig vor, dass der durch die Sprache vorgezeichnete Verständnishorizont der Welt neue Erfahrungen erschwert, manchmal sogar unmöglich macht. Die Leistung der Sprache kann auch zur Entfremdung von der Wirklichkeit umschlagen. In der Tat ist die sprachlich verfasste Welt zunächst meist ein Weltnetz und Weltkäfig, in den wir eingesperrt sind. Der betreffende Umschlag geschieht – unbefangen und fatal zugleich – schon im primitiven Stadium der Erfahrung. Wir sagen unbefangen: »Wir erfahren etwas«. Und schon ist es geschehen. Denn meistens verstehen wir dabei, was wir erfahren. Dies zeigt sich daran, dass wir unsere Erfahrung immer schon sprachlich formulieren und zum Beispiel sagen können »ich sehe Blumen« – ob wir es aussprechen oder nicht. Bei der Erfahrung ist meistens ein derartiges Verständnis ihrer selbst durch die Sprache schon am Werk. Auf diese Weise erfahren wir, was wir verstehen, genauer: was wir verstanden haben. Das ist aber nicht die Erfahrung in dem ursprünglichen und eigentlichen Sinne. Um des wahren Selbst willen kommt es in der Ebene der Sprache auf die Befreiung von der Sprache hin zur Sprache an. Erst dadurch können wir uns aus der Gefahr der Sprache lösen, so dass unser Sprechen schöpferisch wird. Bei der Realisierung des wahren, selbst-losen Selbst geht es also zugleich um die Befreiung von der Sprache hin zu der Sprache. Da die Gefahr der Sprache nicht zufällig in ihr selbst liegt, geht es dem ZenBuddhismus nicht nur um jene Bewegung von der Sprache zur Sache selbst, um die Sache zur Sprache zu bringen, um das Gedachte zur Sprache zu bringen. Es geht auch nicht nur um jene Bewegung von der Sprache zum Geist, um diesen zur Sprache zu bringen. Alle diese Bewegungen, wie sie in der Tat oft vorkommen, finden aus der Sicht des Zen-Buddhismus immer noch im Bannkreis der Sprache statt. Deswegen geht es letztlich um eine extreme Bewegung vollkommen aus der sprachlichen Welt heraus und von da schöpferisch, das heißt: eine Welt erschaffend, wieder in die Sprache zurück. Ist aber eine solche extreme Bewegung dem Menschen, dessen Sein durch seine Sprachlichkeit ausgezeichnet ist, überhaupt möglich? Dies ist eine entscheidende Frage. Die extreme Bewegung ist zumindest denkbar. So spricht Merleau-Ponty von der Umwandlung des »ge146 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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sprochenen Worts« zum »sprechenden Wort«. 3 Nach seiner Sicht bewohnen wir eine Welt, in der die Sprache institutionalisiert ist. Der entscheidende erste Schritt des Sprechens ist demnach immer schon getan und vorbei. Um wirklich sprechen zu können, müssen wir also zu dem ursprünglichen Schweigen vor dem Geräusch des Wortes zurückgebracht werden. Wenn dann dieses ursprüngliche Schweigen durch ein anfängliches Sprechen gebrochen wird, dann wird erst wirklich gesprochen. Diese Umwandlung ist für Merleau-Ponty zugleich »eine Verwandlung meines Seins«. Er sieht ein gegenseitiges Bedingungsverhältnis zwischen dem Selbst und der Sprache, wie u. a. auch der Zen-Buddhismus. Dieser fragt, wie sich das ereignet, diese Umwandlung vom gesprochenen zum sprechenden Wort, welche zugleich eine Verwandlung des Menschseins bewirkt. Ereignet sich eine solche extreme Bewegung aber wirklich und wie? Wir können über sie nicht als unsere eigene Tätigkeit verfügen. Sie ereignet sich, wenn überhaupt, und zwar uns durchbrechend, uns wieder neu gebärend. Aber sie fällt uns keineswegs irgendwie und irgendwoher beliebig zu. Es geht vielmehr um eine Bewegung, die als solche auch eine Art Bereitschaft auf unserer Seite benötigt. Es ereignet sich dann, indem es unsere Bereitschaft zu nichts macht. So verhält es sich mit dem Ereignis. Deswegen müssen wir immer wieder fragen: Ereignet sich die betreffende Bewegung wirklich, und wenn ja, wie? Der Zen-Buddhismus antwortet: Ja, wirklich – und benennt dafür Beispiele. Da, wo es um die Grenze der Sprache geht, helfen uns nur konkrete Beispiele zum Verständnis. Hier ein Beispiel aus der Geschichte des chinesischen Zen. Ein Mönch konnte trotz eifrigsten Übens nicht zum Durchbruch gelangen. So geriet er in höchste Spannung und Verzweiflung. Eines Tages warf er bei der Gartenarbeit einen Stein am Boden beiseite. Der Stein traf zufällig einen Bambus, und bei diesem Geräusch geschah es. Der Mönch erwachte. Später wurde er ein Großmeister mit dem Namen Kyo¯gen. 4 Es gibt für das Erwachen jedoch

M. Merleau-Ponty, Phénoménologie de la perception, Paris 1945, S. 214 f. Hsiang-yen (Kyo¯gen Chikan nach der japanischen Lesung) ist ein chinesischer Großmeister aus der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts. Über ihn vgl. das 5. Beispiel in dem »Mumonkan« (Die Schranke ohne Tor), übersetzt und erläutert von H. Dumoulin, Mainz 1975. 3 4

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keinen bestimmten Anlass. Die Geschichte des Zen zeigt sehr verschiedene Beispiele. Beim einen Mönch war es ein Bündel Holz, welches zur Erde fiel, bei einem anderen war es ein singender Vogel, bisweilen ereignete es sich auch unmittelbar zwischen Meister und Jünger. Auf dem Weg der Übung erklingt oder leuchtet dem Betreffenden plötzlich und direkt ETWAS – unsagbar, unerfassbar, aber klar und gewaltig. ETWAS, was man sonst möglicherweise als Singen eines Vogels hören oder in einer religiösen Vorstellung bzw. Deutung als Orakel oder Wort Gottes empfangen würde. Doch in der gespannten Gegenwart des Ereignisses des ETWAS findet sich weder Raum für eine Deutung noch für eine Vorstellung. Dieses ETWAS in der Gegenwart – im Fall des Meisters Kyo¯gen ein Geräusch – durchbricht das Ich-bin-ich und damit seine geschlossene Welt als Sprachnetz in eine Offenheit. Befreiung und Erwachen. Bei jedem, bei dem es sich wirklich ereignet, war es dasselbe ETWAS. Das ETWAS war bei Kyo¯gen das Geräusch, der Urlaut, wie Rudolf Otto sagt: »Die numinose Ergriffenheit bricht mit urkräftigem, rohem Urlaut wie als eine Selbstentladung aus.« 5 Der Urlaut wird dann zu einem neuen Ursprung für das Wort. Oft gibt der Urlaut des Erwachens dann einen unmittelbaren Anlass zu einem kurzen Gedicht. Übrigens umfasst das Wort »Erwachen« im Zen-Buddhismus sowohl eine »Offenbarung« auf der objektiven Seite als auch eine Heilserfahrung auf der subjektiven Seite. Ein anderes, nicht speziell zen-buddhistisches Beispiel kann uns bei dem anschaulichen Verständnis des betreffenden Ereignisses weiterhelfen. Oft rufen wir nämlich aus: »Oh!« Es handelt sich um einen Ausruf, grammatikalisch um eine Interjektion. Meist gebrauchen wir dieses Wort konventionell, was gerade ein Zeichen für die Gefährlichkeit der Sprache ist. In einem Gedicht bedeutet es schon viel mehr, wie zum Beispiel am Beginn des bekannten Grabspruches von Rainer Maria Rilke: »Rose, oh!«. Es ereignet sich etwas bei dem Dichter, das ihn »oh!« ausrufen lässt und nach einem neuen Wort strebt. So heißt es dann: »Oh! Reiner Widerspruch«. Unsere Frage ist nun: Was geschieht, wenn wirklich ausgerufen wird: »Oh«? Welches Ereignis ist eigentlich das »oh!« im Moment des Ausrufens? Man könnte kurz vom »Oh!-Ereignis« sprechen. Eine Präsenz beraubt den Menschen

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Rudolf Otto, Das Gefühl des Überweltlichen, München 1932, S. 203.

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durch ihre Präsenzkraft der Sprache: »Oh!« Dadurch ist die sprachlich vorverstandene Welt durchbrochen und zerrissen. Sprachlos ist der Mensch selber zum »oh!« geworden. Zugleich ist eben dieses »oh!« der allererste Urlaut des Unsagbaren. Die sprach-beraubende, unsagbare Präsenz, in der der Mensch sprach-los »ent-wurde«, ist in diesem und als dieses »oh!« zum Ur-Wort geworden. Zwar gehört es noch nicht zur Sprache, es ist aber ein unwortliches Vor-Wort zur Sprache, das den Weg zu ihr wieder neu erschließt Kurz, das »oh!« ereignet sich als ein doppeltes Ereignis, als das sprachlose »oh!« und als das Urwort in einem, wenn es wirklich ausgerufen wird. So verstanden, ereignet sich mit dem »oh!« jene extreme Bewegung aus der Sprache heraus und zur Sprache zurück. In dem »oh!« und als dieses »oh!« schweigt die Sprache und spricht sich das Schweigen aus. Sie ist damit nichts anderes als »Tod und Auferstehung« des betreffenden, das heißt des betroffenen Menschen als eines sprachbegabten Wesens. Die Sprache des Zen-Buddhismus gilt nun in verschiedenen Formen und Ebenen als Selbstartikulation dieses Ereignisses. Darauf kommen wir später zu sprechen. Wegen der Nähe des Zen-Buddhismus zur Dichtung können wir uns hier einer Analogie zu dem Oh!-Ereignis im Bereich der japanischen Haiku-Poetik zuwenden. Es handelt sich nämlich um das so genannte Kire-ji, das »schneidende Wort« oder »Schneidewort«. Das Haiku stellt eine bestimmte Form des Kurzgedichtes dar. Es umfasst siebzehn japanische Silben in der Anordnung von 5–7–5, was für das japanische Ohr bereits wie eine Melodie wirkt. Das Kire-ji, wie z. B. das einsilbige ya oder das zweisilbige kana, gehört prinzipiell zu jedem Haiku-Gedicht. Ein Haiku von Basho¯ (1644–94) lautet: »Shizukasa ya / Iwa ni shimiiru / Semi no Koe.« Das Kire-ji ya könnte hier mit »oh« übersetzt werden. Dieses Haiku lautet dann etwa wie folgt: »Stille, oh / in den Felsen dringt / Zikadenstimme.« Ein Schneidewort hat im Haiku keine inhaltliche Bedeutung, sondern die entscheidende Funktion, zwischen Silbeneinheiten scharf zu trennen. Durch ein Kireji wird also der offene Raum für ein Haiku geöffnet. Damit wird nämlich das sprachliche Weltnetz, in welchem der Mensch irgendwie immer schon befangen ist, und in dem die Dinge in Bedeutungszusammenhängen festgesetzt sind, aufgeschnitten. In der neu erschlossenen Offenheit ergibt sich ein Seiendes bzw. ein Ereignis dem Dichter wie ein Echo klingend, wie es von sich selbst her klingt. Das gilt nicht nur für die Haiku-Dichtung. Es mag vielmehr zum Wesen der Dichtung 149 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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überhaupt gehören. Rainer Maria Rilke sagt in einem Gedicht: »Die Dinge singen hör ich so gern.« 6 In meiner Zusammenfassung wurde oben gesagt: In dem »oh!« und als dieses »oh!« schweigt die Sprache und spricht sich das Schweigen aus. Bei der Befreiung von der Sprache hin zu ihr, was im Grunde nichts anderes ist als die Verwirklichung der Wahrheit des selbst-losen Selbst, geht es also wesenhaft um das Schweigen. Nun wollen wir uns dem Problem des Schweigens zuwenden. Als Ansatz zur Erörterung zitieren wir jenen bekannten Schlusssatz von Ludwig Wittgensteins Abhandlung Tractatus logico-philosophicus: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.« 7 Bereits im Vorwort heißt es: »Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.« 8 Aber wie kann das, wovon man nicht sprechen kann, begrenzt werden? Wittgenstein glaubte seinerzeit, dies sei von innen durch das Sagbare möglich. Unter jenem Sagbaren verstand er dabei das, was sich klar sagen ließe, wie z. B. Sätze der Naturwissenschaft. Alles andere unterläge dem Schweigen. Hieran sehen wir einerseits, dass eine Bestimmung über das Sagbare allzu eng und abstrakt ist, und andererseits, dass jenes Unsagbare allzu eindeutig von dem Sagbaren her begrenzt ist. Eigentlich wäre es unmöglich, das Unsagbare vom Sagbaren her zu begrenzen, indem dieses Sagbare von vornherein innerhalb der Sprache definiert wird. Es ist eben nicht so, dass wir schweigen können, indem wir vorher wissen, was unsagbar ist. Das Unsagbare, Unaussprechliche ist erst das, was uns schweigen lässt. Wittgenstein muss das geahnt haben. Kurz vor dem Schlusssatz lesen wir: »Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.« 9 Wir fragen, was sich ereignet, wenn sich etwas unsagbar zeigt? Es heißt bei Wittgenstein: »Wovon man nicht sprechen kann, daDiese Verszeile ist in einem Gedicht mit dem folgenden Anfang enthalten: »Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort./ Sie sprechen alles so deutlich aus:/ Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,/ und hier ist Beginn und das Ende ist dort./… sie wissen alles, was wird und war;/ kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;/ …« Im Gegensatz dazu sagt dann Rilke: »Die Dinge singen hör ich so gern.« Aus: R. M. Rilke, Werke. Auswahl in zwei Bänden, Erster Band: Gedichte, Frankfurt 1957, S. 121.f. 7 L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus (7), in: Ders.: Schriften 1, Frankfurt/ M. 1969, S. 83. 8 Ebd., S. 9. 9 Ebd., S. 82. 6

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rüber muss man schweigen.« Wir Menschen als mit Sprache begabte Wesen können oder wollen vielleicht nicht schweigen, solange wir nicht sprach-los gemacht worden sind. Erst wenn das geschieht, dann wäre das Schweigen doch nicht das Letzte. Was uns schweigen lässt, kommt dann nämlich zur Sprache. Es ist eben nicht so, dass eine unaussprechliche Wirklichkeit irgendwo und irgendwie bestände, sondern jenes Ereignis ist wirklich, das uns zur Bewegung aus der Sprache heraus zur Sprache bewegt. Die obigen Darlegungen zum »oh!« sollten ein anschauliches Beispiel für dieses Ereignis sein. Es geht also nicht um eine über die Sprache hinaus bestehende Wirklichkeit, sondern um ein Ereignis. Wenn dem so ist, dann ist noch zu fragen: Wie und unter welchen Bedingungen ereignet es sich? Fällt ein Ereignis, über das der Mensch nicht verfügen kann, ihm nur zu? Wie ist es dann möglich, dass es den Menschen be-freit, ihm die Freiheit gibt, die eigentlich »von sich aus« beziehungsweise »von sich selbst her« bestehen sollte? Angesichts solcher Fragestellungen wollen wir zu der fundamentalen Struktur des menschlichen Daseins zurückkommen, um von da aus die betreffende Problematik zu erhellen. Wir bleiben dabei, die Sprache als Weltansicht bei dem In-der-Welt-Sein zu verstehen. Die Sprache artikuliert unser Welt- und Selbstverständnis jeweils im Umgang mit innerweltlich Seienden beziehungsweise anlässlich des Geschehens in der Welt. Was meint eigentlich das In-der-Welt-Sein? Im Anschluss an Heidegger – und wie allgemein angenommen wird – sehen wir die Grundverfassung des menschlichen Daseins in dem In-der-Welt-Sein. Die Welt gilt uns dabei als der umfassende Sinnraum, die Gesamtheit der Bedeutungszusammenhänge, in welchem Seiendes überhaupt Bedeutung für uns erhält. Nun ist die Welt wegen ihres Zusammenhangscharakters wesenhaft begrenzt. Sie ist als solche endlich und sie ist an der Grenze von der unbegrenzten Offenheit umfasst, ohne dass die Grenze verwischt würde. Wir wohnen in der wesenhaft begrenzten Welt, die ihrerseits vom Unbegrenzten begrenzt und an der Grenze von unbegrenzter Offenheit umfasst und irgendwie durchdrungen ist. Kurz: Wir wohnen in der Welt in der unendlichen Offenheit. Wir wohnen also in einer Doppelerschlossenheit, zum einen in der begrenzten Erschlossenheit, das heißt in der Welt, und zugleich in der unbegrenzten Erschlossenheit als der unendlichen Offenheit. Mit dem »In-der-Doppelerschlossenheit-Sein« modifizieren wir Heideggers »In-der-Welt-Sein« als die Grundverfassung des 151 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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menschlichen Daseins in einer entscheidenden Hinsicht. 10 Zu der Welt bei Heidegger gehört in ihrer Weise eine Doppelheit. Wenn Heidegger 1929 in seinem Vortrag »Was ist Metaphysik?« sagt: »Da-sein heißt: Hingehaltenheit in das Nichts« 11 , so sehen wir in dem »da« das »da in dem Nichts«, also eine Doppelheit. Die Welt existiert für uns in jener Doppelheit der Welt und in einer sie umfassenden un-endlichen Offenheit. Das Existenzsubjekt der Welt ist das Selbst, wie bei Heidegger. Das ek-sistente Subjekt der Doppelerschlossenheit, das sich in der Welt und dadurch zugleich auch in einer un-endlichen Offenheit befindet, ist das selbst-lose Selbst, denn in der un-endlichen Offenheit gibt es kein Selbst. Die Grundverfassung menschlichen Daseins sehen wir also in dem In-der-Doppelerschlossenheit-Sein. Diese Doppelheit jedoch ist unsichtbar, weshalb der Mensch eine eigentümlich fragwürdige, ambivalente Existenz führt. Diesen Umstand gilt es zu erhellen, da die betreffende Doppelheit den Seins-Charakter der Welt und die Seinsweise des In-der-Welt-Seins entscheidend bestimmt, wie wir noch sehen werden. Wir wohnen in der Welt in der unendlichen Offenheit, in einer als solcher unsichtbaren Doppelheit der Erschlossenheit. Bei einer Doppelheit von zwei Welten wäre dies anders. Sie wäre sichtbar, und so könnte man dann sagen, einer wohne in zwei Welten. Jene Doppelheit nun bedeutet, dass mit der Welt auch die unsichtbare, unendlich offene Offenheit als Raum für die Welt in Frage kommt. Die betreffende unsichtbare Doppelheit können wir vielleicht am Phänomen des Horizontes verstehen. Die gegenwärtige Philosophie spricht von der »Horizont-Struktur der Erfahrung«. Die Welt gilt dabei als Welthorizont der Erfahrung, als umfassender Sinnhorizont, und nur das, was innerhalb dieses Horizontes erscheint, wird uns zugänglich und gilt überhaupt als etwas. In diesem Zusammenhang erörtert die gegenwärtige Philosophie eingehend die Korrelation zwischen dem Horizont und dem (transzendentalen) Subjekt. Je nach dem Verhältnis werde die Welt auf verschiedene Weise konstituiert. Nun gehört zum Horizont unscheinbar, jedoch unmittelbar und notwendig, das unsichtbare Jenseits ebenso sehr wie das sichtbare Diesseits, das den offenen Raum für uns darstellt. Zwar ist das Jenseits keine Vorrausetzung für Kapitel 3 »Das In-der-Doppelwelt-Wohnen. Der Ort des Menschen nach dem Zen«, S. 70 ff. 11 M. Heidegger, Was ist Metaphysik? Frankfurt/M. 1975, S. 35. 10

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das Verstehen, das der Horizont erst ermöglicht. Aber es gibt keinen Horizont ohne Jenseits. Es entzieht sich zwar unserer Erkenntnis, das nicht-erkennbare Jenseits ist aber notwendig für die Erschließung eines Erkenntnisraumes. Wer diese Struktur des Welthorizontes in seinem eigenen Dasein, also im Da-Sein im Nichts, erkennt, dem wird das Jenseits des Horizontes sozusagen zum »anderen Horizont des Verstehens«. Dabei begreift der Mensch etwas, das ihm innerhalb des Welthorizontes begegnet, als etwas Bestimmtes in Bedeutungszusammenhängen: Zugleich jedoch weiß er, dass er nicht weiß, was dieses betreffende Etwas vom Jenseits des Horizontes her ist. Gerade dieses Nicht-Wissen aber bereitet ihm einen Zugang zur Unendlichkeit. Es ist das Verstehen im Wissen des Nicht-Wissens. Derart bildet uns eigentlich der sichtbare Horizont vor dem Hintergrund des unsichtbaren Jenseits eine Art von Doppelhorizont, welcher uns auch die Dimension der Tiefe erschließt. »Die Dinge singen« erst und nur aus der Tiefe des Doppelhorizontes, und nicht einfach im Welthorizont mit seinen Bedeutungszusammenhängen. Nun ist das Jenseits als solches eine unendliche Offenheit, die aber nicht nur dort offen ist, sondern auch das Diesseits umfasst. Es befindet sich in der unendlichen Offenheit, die auch das Jenseits umfasst. So kommen wir wieder zu der genannten Doppelerschlossenheit zurück. Da diese Doppelheit als solche aber unsichtbar ist, so passiert dem Menschen zunächst und zumeist Folgendes: Er sieht nur die Dinge innerhalb des Horizontes und geht darin auf ohne jede Ahnung vom unsichtbaren, aber zum Horizont gehörenden Jenseits. Auch wenn er sich des Horizontcharakters der Erfahrung gewahr wird, so beschäftigt er sich – nun als Subjekt der sichtbaren Welt – mit seinem Verhältnis zum Horizont und übersieht dabei das unsichtbare Jenseits. Diesem Menschen erscheint die Welt dann nicht mehr in der Doppelheit offen für die Unendlichkeit. Kurz: Man sieht zunächst und meist nur das Sichtbare und den sichtbar machenden sichtbaren Horizont, nicht aber das zu dem Horizont gehörende unsichtbare Jenseits. So kommt es zur Geschlossenheit der Welt, in welcher der Mensch die Welt zu seiner Welt macht und darin als deren Ich-Subjekt wohnt. Die Geschlossenheit der Welt und die Verschlossenheit des Selbst zum Ich-Selbst bedingen einander, sie gehören zusammen. Dieser Prozess des Verschließens geschieht gegen die Wahrheit der Welt und des Selbst, doch auch dann waltet diese Wahrheit irgendwie. Das Da-Sein des selbst-losen Selbst bleibt als solches das Da in 153 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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dem Nichts, auch wenn das Da zur geschlossenen Welt und das Selbst zum verschlossenen Ich-Selbst verkehrt sind. Nur wirkt das Nichts beim Da in dem Nichts gegen das geschlossene Da meistens negativ. Dies zeigt sich beim Phänomen der Angst in Heideggers »Sein und Zeit«. 12 Es wirkt aber auch in anderer Weise, manchmal mehr positiv. Auch wenn ein innerweltlich Seiendes in der geschlossenen Welt eine bestimmte Bedeutung für das Ich-Subjekt hat, so behält dasselbe Seiende doch eine mögliche Sinntiefe aufgrund der latenten doppelten Erschlossenheit. Beim Umgang des Ich-Selbst mit einem innerweltlich Seienden kann es sich ereignen, dass das mit Sinntiefe aufgeladene Seiende das Ich-Selbst in der geschlossenen Welt trifft, betrifft und durchbricht – nur unter der Bedingung, dass das Selbst an der Geschlossenheit leidet und in der Ahnung seiner eigenen Verkehrtheit eine Öffnung versucht. Es ist dabei nicht so, dass das eigene Streben die Offenheit ermöglichen könnte, sondern dass es die Bereitschaft bewirkt, durchbrochen zu werden. Die Geschlossenheit der Welt und die Verschlossenheit des Ich-Selbst müssen auf diese Weise von der Wahrheit der Welt und des Selbst zu der Wahrheit der Welt und des Selbst durchbrochen werden. Die Realisierung der Wahrheit der Welt und des Selbst ereignet sich; sie ist kein bloßes Werden in der Welt, kein bloßes Tun des Selbst. Der Mensch wohnt als das selbst-lose Selbst in dem Da in dem Nichts bzw. in der Welt in der unendlichen Offenheit. Die Welt ist dabei die sprachlich vorverstandene Welt, ist zugleich schon eine Art Sprachwelt. Die unendliche Offenheit ist dagegen nichts anderes als der Raum der unergründlichen Stille, des absoluten Schweigens. Sprechendschweigend wohnt der Mensch in der Welt in der unendlichen Offenheit. In diesem Zusammenhang können wir drei verschiedene Formen des Schweigens unterscheiden. In der japanischen Sprache gibt es dafür je ein anderes Wort. 1)

Das erste Schweigen heißt damaru und meint: »nicht sprechen, in der sprachlichen Welt nichts sagen«. So z. B. sagt jemand während einer Sitzung nichts zu einem bestimmten Thema. Das zweite Schweigen heißt chin-moku enthält die Teile chin »sinken« und moku »Schweigen« und meint: »schweigend durch

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Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 40.

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das Schweigen in die Tiefe sinken«. Es ist ein besinnendes Schweigen, zwar in der sprachlichen Welt, aber in der Ahnung der absoluten Stille der unendlichen Offenheit. Das dritte Schweigen heißt moku. Es ist ursprünglich ein buddhistisches Wort und meint das »Schweigen schlechthin«. Unergründliches Schweigen, das durch das Sprechen nicht gestört wird. Schweigend wirklich eingehen in das absolute Reich der unergründlichen Stille, welches durch das Sprechen nicht gestört, nicht gebrochen werden kann, das vielmehr dem Sprechen eine Sinntiefe gibt.

Mit anderen Worten unterscheiden wir: 1) Fehlen des Sprechens bzw. Schweigen als Nichtsprechen, 2) Schweigen gegen das Sprechen bzw. das besinnende Schweigen, das nicht-sprechend in ein tieferes Schweigen sinkt, und 3) ein Schweigen, das sprechend durch das Wort hindurch in die absolute Stille der unendlichen Offenheit hinein-schweigt. Diese dreierlei Schweigen entsprechen der Seinsweise des Menschen als In-der-Doppelerschlossenheit-Sein: 1) Schweigen in der Welt, 2) Schweigen in der Welt der unendlichen Offenheit, und 3) Schweigen in die unendliche Offenheit, worin sich doch die Welt befindet. Die Qualität des Wortes entscheidet sich daran, von welchem Schweigen aus gesprochen wird. Nun sind wir an dem Ort, an dem wir bereit sind zur Betrachtung der Sprache des Zen.

Die Sprache des Zen In diesem Teil soll das Charakteristische im Sprechen und in der Sprache des Zen-Buddhismus herausgehoben werden. In meinem EranosBeitrag »Die Bewegung nach oben und die Bewegung nach unten« wurde unter dem Titel »Das wahre Selbst« an einer Bildertriade seine selbst-lose Bewegung vom Nichts-Natur-Zwischen-Menschen entfaltet. 13 Dies geschah am Leitfaden der drei letzten Bilder der so genannKapitel 1 »Leere und Fülle – S´u¯nyata¯ im Maha¯ya¯na-Buddhismus. Zum Selbstgewahrnis des wahren Selbst«. Der Ochs und sein Hirte. Eine altchinesische Zen-Geschichte. Erläutert von Meister Daizohkutsu R. Ohtsu mit japanischen Bildern aus dem 15. Jahrhundert, übersetzt von K. Tsujimura und H. Buchner, Pfullingen 2. Aufl. 1958, 4. Aufl. 1981. D. T. Suzuki, »The Ten Oxherding Pictures I & II«, in: Manual of Zen Buddhism. New York 1960, S. 127–144, hier S. 11 ff.

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ten »Zehn-Ochsen-Bilder«. Entsprechend der Bildertriade wollen wir im Problembereich der Sprache unsere Aufmerksamkeit auf drei Aspekte richten, nämlich auf 1) das absolute Schweigen, 2) die Sprache der Natur, so wie sie vorläufig heißt, und 3) den a-dialogischen Dialog, die a-symmetrische Zwiesprache. Der Gesamtzusammenhang und die bewegliche Struktur des selbst-losen Selbst, wie es in der Bildertriade dargestellt ist, können in ihren Grundzügen von der Sprachseite her wiedergegeben werden. Jedes Bild des dreifachen »Selbstbildnisses« verweist auf eine eigentümliche sprachliche Relevanz und auf eine entsprechende sprachliche Vollzugsweise. Das erste Bild des absoluten Nichts zeigt so das absolute Schweigen (nicht nur nicht-sprechendes oder besinnendes Schweigen). Das zweite Bild der Natur zeigt sozusagen »die Sprache der Natur«, wie es in dem Begleitgedicht heißt: »Die Blumen blühen, wie sie von sich selbst her blühen.« Das dritte Bild des Doppelselbst zeigt die Zwiesprache als Frage-Erwiderung. Im Vollzug sind die drei Weisen dynamisch-lebendig miteinander verbunden, zum Beispiel in folgender Art: Aus dem Schweigen heraus wird in der Zwiesprache vom Selbst zum Selbst die Sprache der Natur gesprochen. Auch auf dem Weg der Übung bedeutet das Zazen, das dem ersten Bild entspricht, den Ort des Schweigen-Lernens. Das dem zweiten Bild entsprechende Angya, »Wanderung« ist der Ort des Hören-Lernens der Sprache der Natur. Ein Meister und sein Jünger wanderten gemeinsam auf einem Bergpfad. Der Jünger, welcher den Meister nach der höchsten Wahrheit fragte, erhielt daraufhin folgende Antwort: »Hörst du den Bergbach unten! Da ist der Weg in die Wahrheit.« – Das Sanzen, welches dem dritten Bild entspricht, ist der Ort für das SprechenLernen in einer gegenwärtigen Zwiesprache zwischen Meister und Jünger. Hier wirkt des Meisters zweischneidiges Schwert einmal als »Schweig!«, ein anderes Mal als »Sag schnell ein Wort dazu!« Im Folgenden werden wir nun jede Weise des Sprechens im Zen einzeln eingehender betrachten. 1) Über das absolute Schweigen kann nicht gesprochen werden. Um dem absoluten Schweigen zu entsprechen (vielleicht besser »entschweigen«), reicht es noch nicht aus, einfach zu schweigen. Statt dessen soll hier eine spezifische sprachliche Modifikation des Schweigens in Betracht gezogen werden, nämlich eine radikal durchgeführte Negation als Sprachvollzug. Es handelt sich dabei um etwas wie die soge156 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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nannte »negative Theologie« bzw. via negativa in der Tradition der christlichen Mystik. Nur wird die Negation im Zen entsprechend dem unendlichen Nichts »jenseits der hundertfachen Negation« radikaler und dynamischer durchgeführt. Während zum Beispiel Meister Eckhart, der innerhalb der christlichen Theologie die negative Theologie sehr radikal betrieb, sagte: »Gott ist ein Nichts« 14 , sagt der ZenBuddhismus einfach und unbedingt: »Nichts!« Mit seiner Aussage: »Gott ist ein Nichts« wollte Eckhart sagen: Gott ist, und zwar als ein Nichts für die menschliche Erfassung. Gott ist nämlich das Sein selbst, überseiendes Sein, ein lauteres Sein, so lauter, dass es über jede Bestimmung erhaben ist und eben daher ein Nichts für den Menschen. Das Wort Nichts ist bei Eckhart am Leitfaden einer doppelten Zweiheit gesprochen: »Sein-Nichts« und »Gott-Mensch«. Wenn der Zen-Buddhismus einfach Nichts sagt, so wird jede Zweiheit und jede Einheit zertrümmert und durchbrochen. »Offene Weite; Heiliges und Weltliches sind spurlos verschwunden.« 15 Ein solches unendliches Nichts artikuliert sich nun in einem Sprachgebrauch, in dem die radikale dynamische Negation sehr beweglich zum Ausdruck kommt: »Weder Sein noch Nichts, weder NichtSein noch Nicht-Nichts«. »Nirgends wohnen und zugleich in Nirgends-Wohnen auch nicht wohnen«. »Von allem abgeschieden und von der Abgeschiedenheit selbst abgeschieden«. Das Nichts artikuliert sich in seiner Unendlichkeit. Seiner Radikalität entsprechen konkrete praktische Vollzugsweisen, wie sie dem Zen-Buddhismus charakteristisch sind. Als ein Meister von einem Jünger gefragt wurde, was Buddha sei, hielt er mit seiner Hand dem Fragenden den Mund zu. Dies ist ein praktischer Vollzug der negativen Theologie bei einem konkreten Anlass. Die Negation gilt dabei nicht nur der Rede über den Buddha bzw. der Wahrheit, sondern auch dem Schweigen als bloßem Nicht-Sagen. So war das erste Wort eines Meisters bei jeder Begegnung mit einem Jünger stets: »Dreißig Stockschläge, wenn du etwas zu sagen hast! Dreißig Stockschläge, auch wenn du nichts zu sagen hast!« Ein 14 Vgl. die Predigt 37 in: Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate, hg. und übers. J. Quint, München 1955. 15 Vgl.: »Offene Weite – nichts von heilig« in dem ersten Beispiel des BI-YÄN-LU, übers. und erläutert von W. Gundert, München 1960. Vgl. auch »Mit einem Schlag bricht jäh der große Himmel in Trümmer. Heiliges, Weltliches spurlos entschwunden« in dem Lobgedicht zu dem 8. Bild des oben genannten Textes Der Ochs und sein Hirte, S. 42.

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anderes extremes Beispiel verdeutlicht dies noch anschaulicher. »Du predigst ja jeden Morgen den Mönchen bei der Versammlung. Warum predigst du denn überhaupt?« So gefragt erwiderte der Meister: »Bei mir gibt es keinen Zoll Raum zur Versammlung. Ich habe keine Zunge zu predigen.« Wenn die Negation auf diese Weise auch noch so radikal durchgeführt wird, so ist das Nichts doch nicht das letzte Wort des ZenBuddhismus. Wie in der christlichen Mystik via negativa und via eminentiae zusammengehören, so ist es auch im Zen der Fall. Nur wird die Bejahung wieder unmittelbarer und schlichter durchgeführt. Meister Eckhart sagt: »Wer ein Stück Holz im göttlichen Licht sieht, dem erscheint es als ein Engel.« 16 Das ist Eckharts Bejahung des Holzes, nicht aber eine Bejahung des Holzes als solchem, sondern als eines Engels. Im Zen-Buddhismus heißt es schlichter: »Berge Berge, Wasser Wasser, Langes lang, Kurzes kurz.« Es handelt sich um eine Art erfüllte Tautologie. Je radikaler das unendliche Nichts in seiner Negationsdynamik ist, desto einfacher und schlichter erfolgt die Bejahung. Wir sehen hier eine Zusammengehörigkeit von unendlichem Nichts und einfachstem Einfachen, von radikaler Negation und schlichter Bejahung. Mit dieser Bejahung befinden wir uns an dem Ort, an dem wir zu dem zweiten Aspekt, zu der »Sprache der Natur« übergehen können. 2) Die Sprache der Natur. Als Modell unserer Erörterung dient uns jene Verszeile aus dem Begleittext zum zweiten Bild des wahren Selbst: »Die Blumen blühen, wie sie blühen.« Hier kommt die »Sprache der Natur« zu Wort. Sie ist dabei zugleich die Sprache des Selbst, in der dieses vollkommen selbst-los ganz zum Ausdruck kommt. Dieses Verhältnis bedarf eigens einer Erklärung, denn das Selbst und die Natur können so angesehen werden – und das ist meistens auch der Fall, als seien sie jeweils verschiedenen Bereichen zuzuordnen. Wir fragen also nach der Seinsweise des Blühens der Blumen, wie sie blühen, und fragen damit zugleich nach der Existenzweise des Selbst, welches so spricht und sich selbst auf diese Weise selbst-los ganz zum Ausdruck bringt. Da hier von der Sprache der Natur die Rede ist, so erscheint eine Dieses Motiv kommt bei Eckhart wiederholt vor. Ein weiteres Beispiel dafür: »Nimmt man eine Fliege in Gott, so ist die edler in Gott als der höchste Engel in sich selbst ist.« In: Deutsche Predigten und Traktate, S. 215.

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Bemerkung über das Wort shi-zen »Natur« in der buddhistischen Sprache angebracht. Der sino-japanische Terminus des Buddhismus shi-zen (bzw. ji-nen in der spezifisch buddhologischen Lesung) entspricht nicht in jeder Hinsicht dem westlichen Begriff der Natur. Das Wort shi-zen oder ji-nen besteht aus zwei chinesischen Schriftzeichen. Das erste bedeutet im Zusammenhang mit dem zweiten »von sich selbst her«. Das zweite bedeutet »so sein« mit einer gewissen implizierten Bejahung. Dementsprechend besagt der Terminus, fast wörtlich übertragen, soviel wie »so sein, wie es von sich selbst her ist.« Dabei wird die Natur weder als Gegenstandswelt von Naturdingen gesehen, noch als eine bestimmte Region des Seienden im Ganzen, die sich von Gott, den Menschen oder der Geschichte unterscheidet. Gemeint ist hier vielmehr die Wahrheit des Seins alles Seienden, wie dieses in dem Sein »von sich selbst her« ist. Wenn es im Zen heißt »die Blumen blühen, wie sie blühen«, dann scheint zwar von einem Naturphänomen die Rede zu sein, die eigentliche Aussage liegt jedoch im »wie« oder »so-wie«, das unmittelbar auch den dies sagenden Menschen betrifft. In diesem Zusammenhang sagt der Spruch Folgendes: Wenn der Mensch in seinem Nichts (also nicht vom Ich her) Blumen so erfährt, wie sie von sich selbst her blühen – oder anders formuliert, wenn im Nichts des Menschen Blumen so blühen, wie sie von sich selbst her blühen, so ist der Mensch auch in seiner Wahrheit gegenwärtig. Damit entsteht auf Grund (auf Un-Grund) der Selbst-losigkeit des Menschen eine ganz spezifische Verbindung zwischen dem subjektiven Existenziellen und dem objektiven Sachlichen. Seine ganze Existenz wird also ursprünglich schon darin entschieden, wie ein Mensch beispielsweise Blumen sieht – und zwar unabhängig davon, ob dies dem Betreffenden nun bewusst ist oder nicht. In der »So-heit« sieht der Buddhismus den ursprünglicheren Wahrheitsbegriff noch vor seiner Differenzierung in Seinswahrheit einerseits und in Wahrheit von Sätzen bzw. Erkenntnissen andererseits. Dem Zen geht es im betreffenden Bild der blühenden Blumen nicht um eine Beschreibung eines Naturphänomens, sondern um eine Vergewisserung der Wahrheit. Wenn im chinesisch-japanischen Buddhismus die »Natur« eine solche Bedeutung der Wahrheit erlangt hat, so geschah dies auf Grund des gegenseitigen Durchdringens der »Natur« als »So-heit« und des unendlichen Nichts. Dieses Durchdringen äußert sich im »wie« und »so-wie«. Es heißt also: Die Blumen blühen, wie sie blühen. Um den Ort 159 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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dieses Zen-Spruches innerhalb der Geistesgeschichte der Weltreligionen bestimmen zu können, wollen wir zum Vergleich einen bekannten Vers von Johannes Scheffler (1624–1677) mit dem Dichternamen Angelus Silesius heranziehen. Er lautet: »Die Ros’ ist ohn Warum; sie blühet, weil sie blühet. Sie achtet nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet.« 17 Erst zur Zeit des Barock erlangte die Natur als solche langsam ihre eigene Realität. Es entstand damit eine Mystik, die im Geiste Meister Eckharts der Natur einen eigenen Stellenwert in der Einigungsbeziehung mit Gott anerkannte, wie besonders bei Angelus Silesius zu erkennen ist. »Die Rose, welche hier dein äußres Auge sieht, die hat von Ewigkeit in Gott also geblüht.« 18 Es heißt im Zen: Die Blumen blühen, wie sie (von sich selbst her) blühen. Bei Silesius heißt es: Die Ros ist ohn warum; sie blühet, weil sie blühet. – Die beiden gehören fast zu einer und derselben Geisteswelt. Beim genaueren Hinhören fühlen wir aber einen feinen Unterschied im Ton, und zwar an dem »wie« im Zen einerseits und dem »weil« bei dem deutschen Dichter andererseits. Das Blühen der Rose ist bei Silesius nicht mehr ein kreatürlich-natürliches Phänomen, sondern ein Ereignis in Gott, ein Ereignis Gottes. Die Rose hier »hat von Ewigkeit in Gott also geblüht«. Es ist nämlich das Leben Gottes, das da blüht. Das Ohne-Warum-Sein der Rose ist nichts anderes als Gottes Sein, wie es in sich sein eigener Grund ist. Bei Eckhart wird es deswegen mit dem »Ohne-Warum-Sein« stark ausgezeichnet. Nun wird die Rose, die in ihrem Sein bis zu Gott transparent ist und in Gott als dessen Leben ohne Warum blüht, auch mit den »äußeren Augen« gesehen. Dabei ist die sichtbare Wirklichkeit der Rose nichts anderes als eine Verwirklichung des Lebens Gottes, wie es in sich blüht. Der in sich »ohne Warum« blühende Gott ist »Fleisch geworden« und zeigt sich so den äußeren Augen. Im Zen klingt dies vergleichsweise schlicht: Die Blumen sind hier ganz bis zum Nichts transparent, indem auch das »ohne Warum« ins Nichts verschwunden ist. Gleichzeitig sind dieselben Blumen ganz Wirklichkeit geworden, auch ohne das »ohne Warum«. »Die Ros ist ohn warum.« In positiver Umschreibung heißt es dann bei Angelus Silesius: »Sie blühet, weil sie blühet.« Wie steht es eigentlich mit diesem »weil«, zumal im Vergleich mit dem »wie« im 17 18

A. Silesius, Cherubinischer Wandersmann, 1. Buch, S. 289. Ebd., 108.

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Zen-Vers? In seinem Werk »Satz vom Grund« (1957) erörtert M. Heidegger eingehend diesen Vers. Seine Interpretation bezüglich des »weil« kann dem Sinne nach wie folgt zusammengefasst werden: »Das Warum sucht den Grund. Das Weil bringt den Grund, die Rose ohne Warum, das heißt die Rose bleibt ohne die fragende, den Grund eigens vorstellende Beziehung zum Grund. Der Rose geschieht das Blühen, indem sie darin aufgeht. Ihr Blühen ist einfaches Aus-sich-Aufgehen. Aber Angelus Silesius will nicht leugnen, dass das Blühen der Rose einen Grund hat. Sie blühet, weil – sie blühet. Dieses Weil nennt den Grund, aber einen seltsamen und vermutlich ausgezeichneten Grund. Das Weil des Spruchs weist das Blühen einfach auf sich selbst zurück. Das Blühen gründet in ihm selbst, hat seinen Grund bei und in ihm selbst. Das Blühen ist reines Aufgehen aus ihm selbst.« 19

Wenn es sich also auf diese Weise um ein »einfaches, reines Aus-sichAufgehen« handeln sollte, dann findet das wohl seinen unmittelbaren, angemessenen Ausdruck eben in dem Zen-Spruch »blühen-wie-blühen«. In dem Ausdruck »blühen-weil-blühen« ist das Blühen schon mit dem Denken verwoben, nämlich durch »den antwortenden Hinweis auf den Grund, den das Warum sucht«. 20 Es handelt sich im Grunde genommen um ein schon Gedachtes, als ob das Blühen erst im Denken als Einfaches und Reines möglich wäre. In dem Zen-Spruch blühen die Blumen noch ohne Brechung durch das denkende »weil«. Dieses ist ein die Wirklichkeit durchdringendes, denkendes Wort, während das »wie« ein nicht-denkendes Wort der Wirklichkeit ist, in dem sich diese spiegelt, wie sie von sich selbst her ist. Es geht dem Zen aber nicht darum, das Denken überhaupt auszuschalten. Wohl wissend um die ungeheure Kraft des Denkens kommt es dem Zen entscheidend darauf an, wo es einsetzt, wie das zu Denkende dem Denken gegeben wird. Es gibt von der Gegebenheit her keinen Rückweg zu jenem Ereignis des Gegebenwerdens, das sich immer wieder neu ereignet. Dieses Ereignis gehört- mit einer denkwürdigen Wendung Heideggers – »zwar nicht in das Denken, aber vielleicht vor

19 20

M. Heidegger, Der Satz vom Grund, Pfullingen 1957, S. 70–73, 78–80. 101 f. Ebd., S. 70.

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das Denken«. 21 Wenn das Denken ohne irgendeine Ahnung von diesem »vor« einsetzt, dann geht alles im Denken auf. Dabei weiß es nicht, dass ihm das Einfache als das Unvordenkbare, das heißt zugleich gerade deswegen als das primär und wirklich zu Denkende, ereignishaft urgegeben wird. So denkt sich das Denken allmächtig, denkt, alles sei denkbar, und lässt alles in Gedachtes aufgehen – anstatt einfach die Rosen z. B. in ihrem Blühen, wie sie blühen, aufgehen zu lassen. Dieser Weg würde dann auch zum modernen Nihilismus führen. Anders ist es mit dem Ereignis des Gegebenwerdens und des Getroffenwerdens von dem Einfachen. Im ersten Teil haben wir dies am Modell »oh!« in Betracht gezogen. Wir wissen, jenes Ereignis artikuliert sich zunächst noch ohne Konstitution des menschlichen Denkens ganz einfach wie folgt: Die Blumen blühen, wie sie blühen. Wo ist dabei der Mensch? Ist dieser Spruch nicht schon in der menschlichen Sprache gesprochen, in der das Denken immer mitarbeitet? In Wirklichkeit und Wahrheit ist der Mensch da, indem er sagt: Die Blumen blühen, wie sie blühen. Nur zeigt er sich selbst nicht in dem Artikulierten, sondern er ist das Sprechen selbst. In dem Gesprochenen ist keine Spur des Sprechenden, er erscheint nicht darin. Auch reflektiert er sich nicht, schiebt seine Reflexion auf sich noch nicht in das Gesagte hinein. Das ist die Selbst-losigkeit des Menschen, wie diese das Nichts im ersten Bild radikal darstellt. Das Nichts als äußerste Selbst-losigkeit lässt die Blumen so blühen, wie sie blühen. Dieser Vorgang wurde zwar zum Menschenwort »die Blumen blühen, wie sie blühen«, jedoch noch ohne jede bearbeitende Durchdringung seitens des Menschen. So ist die Wirklichkeit von sich selbst her zum Wort geworden – und zwar durch ihre Selbstspiegelung im Nichts, so wie sie ist. Diese Art Sprache gilt als die Sprache der Natur, die im ZenBuddhismus gerne verwendet wird: »Ferne Berge, grenzenlos, Grün über Grün.« Der Mensch ist dabei nicht als Sprechender, doch als Sprechen eigentlich und wirklich da. Er ist sprechendes Da. Nach dem ZenBuddhismus stellt der Mensch die Eigenständigkeit seines Selbst nicht damit auf die Probe, dass er von sich selbst redet, sondern indem er eine neue, d. h. erst durch ihn erschlossene Artikulation vornimmt, beinahe wie es bei dem Dichter der Fall ist. 21

Ebd., S. 69.

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Deswegen fordert jeder Zen-Meister den Jünger angesichts einer gegebenen Situation heraus: »Sag schnell ein Wort dazu!« Der Mensch soll immer wieder von neuem sprechendes Da sein, wo das Nichts und das Einfache zusammengehören und sich gegenseitig durchdringen, und wo gerade deswegen unerschöpfliche Möglichkeiten der Artikulation bereitet werden. Um der jeweiligen Verwirklichung der Wirklichkeit willen und zugleich um der gegenwärtigen Realisierung des Selbst willen soll nun eine bestimmte situationsgemäße Artikulation angesprochen werden. Die Zusammengehörigkeit und das gegenseitige Durchdringen von Nichts und Einfachem bereiten gerade wegen des Nichts und des Einfachen unerschöpfliche Möglichkeiten der Artikulation. Ihre extreme Spannweite lässt sich durch zweierlei Grundartikulationen abstecken. Das Einfache artikuliert sich in dem betreffenden gegenseitigen Durchdringen – wie z. B. in »die Blumen blühen, wie sie blühen«. Dies ist die eine Grundartikulation (A). In demselben gegenseitigen Durchdringen ereignet sich zugleich eine Spiegelung des Nichts seinerseits in die nun erschlossene Artikulationsebene. Auf diese Weise wird die Möglichkeit der Festlegung des so Artikulierten (A) ins Nichts zurückgezogen. So kommt es, wie es im Zen häufig der Fall ist, zu paradoxen Aussagen: »Die blühenden Blumen blühen nicht.« Dies ist die andere Grundartikulation (B). Diese Aussage, die objektiv in sich widersprüchlich und an sich unmöglich ist, ist in Wahrheit mit der elementaren Kraft der Negation des unendlichen Nichts geladen, und zwar ganz konkret, weil die Negation hier unmittelbar auf die blühenden Blumen trifft, die »dein äußeres Auge« blühen sieht. Die Negation ist hier wegen dieser Art der Konkretheit noch stärker als in der sogenannten negativen Theologie. Ein weiteres Beispiel für die Artikulation (B) sagt: »Wenn ein Mensch über die Brücke geht, so steht der Fluss und fließt die Brücke.« »Die Blumen blühen, wie sie blühen.« – »Die blühenden Blumen blühen nicht.« Das Nebeneinander dieser beiden Aussagen ist logisch widersprüchlich. Und doch werden sie an demselben Ort des gegenseitigen Durchdringens als dessen Selbstartikulation notwendig und werden miteinander ausgesprochen, jedoch ohne dass die beiden jedes Mal zugleich ausgesprochen werden müssten. Das Grundverhältnis der Zusammengehörigkeit von Nichts und Einfachem braucht eine derartige Doppelartikulation, um sich zum Ausdruck zu bringen. Das Sich-zum-Ausdruck-Bringen (wegen des Einfachen) und das »In-sich163 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

7 Schweigen und Sprechen im Zen-Buddhismus

wieder-Zurücknehmen« des zum Ausdruck Gebrachten (wegen des Nichts) gehören dabei zur Dynamik dieser Zusammengehörigkeit. Das echo-artige Zusammenklingen der beiden Artikulationen A und B ist nichts anderes als die Artikulation des gegenseitigen Durchdringens des Einfachen und des Nichts. Zwischen diesen beiden extremen Grundartikulationen sind unerschöpflich viele Artikulationen möglich, so dass ein jeder seine eigene finden kann. Die Frage ist nur, ob das Selbst selbst-los so »Selbst« ist, dass dieses wirklich zu seinem eigenen Wort kommt. Von der notwendigen Doppelheit der Artikulation war bereits die Rede. In unserem Modell lauten die beiden extremen Aussagen: »Die Blumen blühen, wie sie blühen.« – »Die blühenden Blumen blühen nicht.« Stellen wir uns nun vor, dass jede Aussage von je einem anderen Menschen im Ich-Du-Gegenüber entworfen wird. Wenn dabei jeder Partner seine Artikulation im Raum des Gegenübers ausspricht, dann entsteht ein Zusammenklang der so verschieden artikulierten, a-symmetrisch aufeinander abgestimmten Sprüche konkret zwischenmenschlich-gemeinschaftlich. Erfolgt dieses Zusammenklingen, das die Stimme des unendlichen Nichts anklingen lässt, so befinden wir uns in dem eigentlichen Raum der Zen-Zwiesprache, wie sie sich in dem dritten Bild zeigt. Der eine sagt zum Beispiel als Herzensgruß zu dem anderen: »Die Blumen blühen, wie sie blühen.« Dieser erwidert dem ersteren als Gegengruß: »Die blühenden Blumen blühen nicht.« Da entsteht zwischenmenschlich wie in einem Chor ein merkwürdiger Zusammenklang zwar ganz a-symmetrisch, aber – oder gerade deshalb – in vollkommener Entsprechung. Indem wir der »Sprache der Natur« nachgegangen sind, befinden wir uns jetzt im Bereich der »Zwiesprache« des Ich-Du als des entfalteten Doppelselbst, wie dies im dritten Bild jener Bildertriade des wahren, selbst-losen Selbst thematisiert ist. 22

Zum Thema »Zwiesprache« im Zen-Buddhismus vgl. S. 17 ff., S. 32 ff., S. 57 ff., S. 112 ff.

22

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8 Reales und A-Reales im Sprechen des Zen Zu einem Gedicht eines Kindes

Das Gedicht eines Kindes, das ich etwa vor dreißig Jahren zufällig in einer Zeitung gelesen habe, hat mich tief beeindruckt und veranlasste mich zu immer weiterführenden Überlegungen darüber, was es eigentlich bei uns Menschen ist, Worte zu sagen, bzw. was für ein Ereignis es überhaupt ist, Worte zu sprechen. Das Gedicht des Kindes aus dem Gebirgsland Mitteljapans lautet wie folgt: 1) 2) 3) 4) 5) 6)

Zwischen dem Berg Kurohime und dem Berg Myoko sinkt die Sonne. Die Wolken in Mandarinenfarben ziehen glatt vor meinen Augen. Ereignisse des Tages tragend bewegen sich die Wolken. Ich lernte am Tage in der Schule. Ob die Wolken mich dann gesehen haben?

Dieses Gedicht wird erst durch die vierte Zeile »Ereignisse des Tages tragend bewegen sich die Wolken« zu einem Gedicht im eigentlichen Sinne. Die vorangehenden Zeilen stellen in einem Zusammenhang eine Szene dar, die – zwar schon in einer schönen Stimmung – zu der Erfahrung der alltäglichen Welt gehört. Die vierte Zeile zeigt aber in qualitativ verwandelten Verhältnissen, quasi in Fantasien, wie sich diese Wolken bewegen: »Ereignisse des Tages tragend.« Der Übergang von den ersten drei Zeilen zu der vierten scheint sich wie von selbst zu ergeben, vielleicht aufgrund desselben Ziehens der Wolken, und zwar so, dass in beiden Fällen das Ziehen der Wolken eben für dasselbe »ich« geschieht. Nur ziehen die Wolken in dem ersteren Fall vor »meinen Augen«, vor »mir«, während sie in dem letzteren Fall »mich« tragen. Dabei ist eine Umwandlung des »ich« vom sehenden Subjekt zum 165 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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getragenen Objekt sichtbar. Wie kommt es dazu? Es kann nicht auf einer Tätigkeit des »ich« beruhen. Im Gegenteil konnte es durch eine Vergessenheit des »ich« im »ich sehe« geschehen, dadurch nämlich, dass das »ich« in Anblick der Wolken sich vergisst, dass das »ich« existenziell verschwindet. In der Offenheit des Nicht-da-Seins des »ich« ereignet sich eine Umwandlung. Das Kind vertieft sich in den schönen Anblick der abendlichen Wolken, wird hineingezogen und vergisst sich. Mitten in dieser Selbstvergessenheit, existenziell in dem Nichtexistieren des »ich«, öffnet sich eine Weite, eine vom Horizont nicht begrenzte Offenheit, in der die Wolken als neues Subjekt gelten, das das Kind trägt, und das von dem Kind in der Schule gesehen wird. Die vierte Zeile, die als solche A-Reales darstellt, bildet den Gipfel des Dichterischen und verleiht den Zeilen die Qualität eines Gedichtes. Das Gedicht besteht aus der Beschreibung eines Realen und aus der Imagination eines A-Realen. Die letztere ist die Quintessenz des Dichterischen, verleiht den Zeilen eine einheitliche Qualität und macht sie zu einem Gedicht. Die Zusammengehörigkeit von Realem und A-Realem, die am Beispiel dieses Gedichtes gezeigt wurde, ist nun nicht nur diesem Gedicht eigentümlich, gehört vielmehr zur eigentlichen Welt der Sprache als solcher, im Grunde zum In-der-Welt–Sein, d. h. genauer zum Inder-Doppelwelt–Sein als Da-Sein des Menschen. Diese Verhältnisse sollten noch konkreter und genauer erhellt werden. Die Welt ist für den Menschen zunächst und zumeist nichts anderes als eine mit Sprache verstandene und gedeutete bzw. erschaffene Welt. Bei dem Gedicht des Kindes bringt die Sprache sowohl Reales als auch A-Reales zum Ausdruck. Was ist eigentlich bei dem sprachbegabten Menschen die Sprache, welche Reales und A-Reales zum Ausdruck bringen kann? Welche eigentümliche Leistung vollzieht die Sprache überhaupt bei dem und für den Menschen? Ein extremes Beispiel wird uns in der Erörterung des Problems helfen. Im Sprechen liegt nämlich eine Möglichkeit, Unmögliches zu sagen, z. B. ein Unmögliches, welches in der Wirklichkeit nicht existieren kann oder auf einem Widerspruch beruht, und zwar nicht in Form eines unbewussten Fehlers, sondern bewusst, manchmal sogar mit Absicht. In diesem Falle mag es sich, wie es scheint, um etwas handeln, was nur im Wort ein Dasein hat, was aber nicht das Wort selbst ist, 166 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

Reales und A-Reales im Sprechen des Zen

sondern doch etwas anderes. In dieser Hinsicht sollte es eigentlich etwas geben, was nur im Wort sein Dasein hat, aber qualitativ verschieden ist vom Wort. Damit ist das Wort in seiner spezifischen Tätigkeit ausgezeichnet. Das Wort bringt etwas zum Ausdruck. Dabei ist in Bezug auf dieses »etwas« prinzipiell zweierlei festzustellen, A) oder B): A) Das »etwas« wird zwar vom Wort gezeigt, ist aber nicht nur verschieden vom Wort, sondern hat einen nicht-wortlichen Zugang zu sich, wie z. B. das Wort Feuer und das wirkliche Feuer oder das Wort Regen und der wirkliche Regen. Zu diesen Verhältnissen sagt ein ZenSprichwort: »Auch wenn man ›Feuer‹ sagt, brennt der Mund nicht«. B) Es gibt »etwas«, das nicht nur vom Wort gezeigt wird, sondern auch sein Dasein nur im Wort hat, das aber doch verschieden vom Wort ist, wie z. B. die Zeile: »Die Wolken ziehen, mich in der Schule tragend.« Beim Sprechen des Wortes sind also zweierlei Tätigkeiten festzustellen, eine wirkende Tätigkeit des Realen und eine wirkende Tätigkeit des A-Realen. Dabei liegt in der letzteren die spezifische Eigentümlichkeit und Kraft des Sprechens. Wenn dem so ist, tauchen grundsätzliche Fragen auf. Was bedeutet es, dass das Wort als solches die zwei genannten Tätigkeiten des Sprechens leistet? In welchem Verhältnis stehen die beiden Tätigkeiten zueinander? Was für ein Ereignis ist es überhaupt, ein Wort zu sprechen? In welchem Zusammenhang steht das Sprechen des Wortes zu dem Menschen, der das Wort spricht? Welche Struktur hat der Mensch in sich, der das Wort spricht und auch schweigt? Kurz und einfach: Was für Ereignis ist das Sprechen des Wortes überhaupt? Und in eins damit: Was ist eigentlich das Menschsein? Angesichts dieser grundsätzlichen Fragen wollen wir nun mit der Erklärung der Fundamentalstruktur des Menschen anfangen und zwar nur kurz in Grundzügen. Im Anschluss an Heideggers »In-der-WeltSein« als fundamentaler Struktur des Menschseins, des »Daseins«, zugleich aber diese stark modifizierend möchten wir von dem »In-derDoppelerschlossenheit-Sein« sprechen. Genauer und konkreter wie folgt: Die Welt des Menschen als begrenzte Erschlossenheit befindet sich nämlich wegen ihrer Begrenztheit in einer unbegrenzten Erschlossenheit bzw. in einer un-endlichen Offenheit. Die Welt als solche ist ohne weiteres die Welt in der unbegrenzten Erschlossenheit. Die Welt 167 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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ist an sich die Welt und die umfassende unbegrenzte Erschlossenheit, wobei diese Doppelheit der Welt eigentlich unsichtbar ist, weil die die Welt umfassende unbegrenzte Erschlossenheit als solche wesentlich unsichtbar ist. In dem »wo« des Menschseins können also dimensional bzw. qualitativ vier Schichten unterschieden werden: 1) die Welt in sich, 2) die von der unbegrenzten Erschlossenheit umfasste Welt, 3) die die Welt umfassende unbegrenzte Erschlossenheit, 4) die unbegrenzte Erschlossenheit als solche. Nun ist es nichts anderes als die Sprache, die für den Menschen das Welt- und Selbstverständnis leistet. Das wird in Entsprechung zu den vier Schichten des »wo« weiter modifiziert, und zwar in folgende vier Arten und Qualitäten der Sprache: nämlich 1) Zeichen, 2) Symbol, 3) Sprache des A-Realen im Zusammenhang mit der Sprache der So-heit (Tathata¯) und 4) tiefes Schweigen. Zu 1): Innerhalb der Welt in sich wirkt die Sprache als Zeichen, das sich auf das Bezeichnete prinzipiell eindeutig in einer geraden Linie bezieht. Die Sprache der Technik z. B. wirkt in dieser Hinsicht als Zeichen. Diese Sprache bedarf manchmal einer Definition. Ohne diese Sprache können wir Menschen nicht in der Welt wohnen. Sie gilt aber nicht über diese Grenze (»innerhalb der Welt in sich«) hinaus, obgleich verschiedene Arten der Überschreitung in der Tat oft vorkommen, manchmal bei denen, die sich mit der Technik beschäftigen. Zu 2): In der Welt als Ganzer, umfasst von der unbegrenzten Erschlossenheit, wirkt die Sprache symbolisch. Die Sprache der Philosophie und auch der verschiedenen Künste gehört zu dieser Sprache. Innerhalb der Sprache der Dichtung gehört meistens auch die Sprache der Epik dazu. Die Sprache der Symbole bezieht sich auf das Symbolisierte nicht direkt mit der Eindeutigkeit einer Geraden wie beim Zeichen, sondern indirekt durch gewisse Brechungen zwischen der Welt und der unendlichen Erschlossenheit. Dabei kann die Brechung prinzipiell mehrfach sein. Je nach der Brechung ist die Bedeutung anders. Deswegen ist die Sprache der Symbole zweideutig und manchmal sogar mehrdeutig. Sie benötigt die Tätigkeit der Interpretation. Um eine entsprechende Bedeutung in einem gegebenen Fall zu bestimmen, ist es notwendig, verschiedene Kontexte heranzuziehen. Bei der möglichen Vielheit der Interpretationen gibt es keine endgültigen Kriterien. In dieser Hinsicht ist die Sprache der Symbole offen für ungeahnte Möglichkeiten neuer Bedeutungen. 168 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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Zu 3): Die Sprache in der die Welt umfassenden unbegrenzten Erschlossenheit ist eine Art Wortbild, und zwar entweder transparent im Hinblick auf die unendliche Erschlossenheit oder umgekehrt dicht konkretisiert aus der unendlichen Erschlossenheit. Die erstere, fast wie ein Regenbogen, könnte als die Sprache des A-Realen bezeichnet werden. Sie kann alles Mögliche ausdrücken, nicht nur traumhafte Fantasien und Einbildungen, sondern auch logisch Unmögliches, reine Paradoxa. Manchmal kommen sogar vorsätzliche Überschreitungen der logischen Verhältnisse vor. Kühne Worte werden manchmal dafür eigens gefunden. Die andere Art der Sprache in dieser Kategorie könnte als die Sprache der »So-heit« (Tathata¯) bezeichnet werden. Im Allgemeinen bringt die Sprache etwas zur Erscheinung. Im gegenwärtigen Fall handelt es sich insbesondere um dicht konkretisierte Erscheinungen aus der unendlichen Erschlossenheit. In dem Hintergrund der unendlichen Offenheit, d. h. nicht mehr im Hintergrund, sondern mitten in der unendlichen Offenheit erscheint »etwas«, eben als Konkretisierung der ganzen Offenheit: »So!« Da ereignet sich in der unendlichen Offenheit die einmalige und einzige Konkretion, wie sich die ganze unendliche Erschlossenheit kristallisierend sammelt. Das Reale des »etwas« wird auf diese Weise unendlich realer. Es handelt sich also sozusagen um ein großes »so!«. Wenn es im Zen-Spruch heißt: »Berg, Berg« bzw. »Wasser, Wasser«, so kommt es auf dieses »so!« an. »So ist es«, damit ist alles in Einem gesagt. Die charakteristische Qualität der Sprache der die Welt umfassenden unendlichen Erschlossenheit, der Sprache des A-Realen und der Sprache der So-heit zusammen, könnte formal zu der zwar abstrakten aber einheitlichen Formulierung gebracht werden, nämlich: »A ist A, und zugleich ist A nicht A«. Oder noch einfacher und schroffer: »A ist nicht A«. Es ist wichtig zu erkennen, dass es für uns Menschen notwendig ein »wo« gibt, im welchem »A ist nicht A« gilt, seien es traumhafte Fantasien, sei es die große So-heit der wirklichsten Wirklichkeit, beide als spezifische Leistung der Sprache. In dieser Art der Sprache, nicht also in der Sprache als Zeichen, nicht in der Sprache der Symbole, liegt das ausgezeichnet eigentümliche Schöpferische, das nur die Sprache leisten kann. Falls diese Sprache der unendlichen Erschlossenheit verdeckt oder angehalten wird, und zwar meistens wegen des Ich-bin-ich, so wird die 169 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

Reales und A-Reales im Sprechen des Zen

ganze Sprache einseitig, arm und verzerrt in eins damit, dass der Mensch selbst in seiner Existenz einseitig, arm und verzerrt wird. Nun kommt es schließlich zu Punkt 4): »tiefes Schweigen«. In der unbegrenzten Erschlossenheit (oder: Offenheit) herrscht das tiefe, ungeheure Schweigen, nicht nur still, sondern tief und immer tiefer. Die Stille kann gestört werden, aber dieses tiefe Schweigen kann nicht gestört werden. Bei dem Laut wird es immer tiefer, so dass auch der stärkste Laut in immer tieferes Schweigen verschwindet. Ohne dieses Schweigen wird die ganze Sprache zum Geräusch, wie Max Picard sagt. Dabei taucht sofort die Frage auf: »Wie können wir sprachbegabte Menschen an diesem tiefen Schweigen teilnehmen?« Wenn überhaupt eine Antwort möglich ist, würde die Antwort darauf so lauten: »Nur durch das Sterben!« So müssen wir Sterbliche uns selber fragen: »Wie können wir lebend selber sterben?« Jeder, der lebt, muss selber lebend zum Sterben kommen. Das heißt zugleich: jeder muss selber sterbend leben. Ob es möglich ist und wie, darauf sollte es nur eine Antwort geben: aufgrund eines Jeden und aufgrund seines eigenen Leben-Sterbens bzw. Sterben-Lebens. Nun zeigt unsere Existenz, dass es bei uns zunächst und zumeist nicht so geht, wie es gehen sollte, weil wir mehr oder weniger unter der Herrschaft des Ich-bin-ich stehen. Die Sprache, die zum Weltnetz, zum Weltkäfig geworden ist, und das geschlossene Ich stehen dabei in einem Bedingungsverhältnis. Die Erfahrung ist nämlich immer schon sprachlich rekonstituiert, indem das »ich« das so Erfahrene in die Hand nimmt und zu seinem Nutzen begreift. Ursprünglich und eigentlich übersteigt die Erfahrung als solche das, was in der Erfahrung mit Hilfe der Sprache gefasst ist. Um der wirklichen Erfahrung willen, d. h. zugleich um des wahren Selbstes willen, kommt es also auf die Auflösung der Verschlungenheit des »ich« mit der Sprache, d. h. letztlich auf die Auflösung des geschlossenen Ich-bin-ich an, auf die Befreiung von der Sprache hin zur Sprache.

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9 Meister Eckhart und Zen 1

Der Marburger Theologe und Religionsphilosoph Rudolf Otto, ein großer Kenner der ostasiatischen Religiosität, hat einen kurzen und bedeutenden Artikel über den Zen-Buddhismus verfasst. Die Veranlassung dazu war die Lektüre eines kleinen Zen-Textes, ›Der Ochs und sein Hirte‹, in der damaligen englischen Übersetzung und Erläuterung von D. T. Suzuki. 2 Der Artikel findet sich im Anhang von Ottos Buch West-östliche Mystik (1926) 3 , wo einerseits Meister Eckhart und andererseits S´añkara eingehend behandelt werden. Dort lesen wir: Suzuki müht sich, die seltsame Erlebniswelt einer Mystik von ganz eigenem Charakter, zu der man von uns aus höchstens von Eckhart her, und nur von einigen seiner seltensten und tiefsten Momente her, einigen Zugang gewinnen kann, uns Westlichen nahezubringen. 4 Das Erlebnis der alten Zen-Meister ist immer wieder, so hoch man auch steige, ›nach oben offen‹ und nicht einmal ein Ideogramm umschließt seine Offenheit. In dieser Hinsicht haben gerade sie viel mehr Ähnlichkeit mit unserer eigenen deutschen Mystik, wie sie uns Eckhart gegeben hat, als mit der des Veda¯nta (S´añkaras). Eckhart wird bei uns noch nach Plotin gedeutet, und seine höchsten Formeln sind auch plotinisch. Aber kommt die Seele bei Plotin in ihrer Flucht des ›Einsamen zum Einsamen‹ an beim Ewigen-Einen, so ruht sie und ist da. Bei Eckhart aber sinkt und sinkt sie in ewige Gründe und ist niemals ›da‹. Und auch sein ›das Eine‹ ist nicht der Ursprünglich »Zen-Buddhismus und Meister Eckhart«, in: Zen Buddhism Today. Annual Report of the Kyoto Zen Symposium 2 (1984), S. 91–107. 2 Vgl. S. 12 ff. 3 Rudolf Otto, West-östliche Mystik. Dritte Auflage, überarb. von G. Mensching, Verlag C. H. Beck, München 1971. 4 R. Otto, a. a. O., S. 269. 1

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Meister Eckhart und Zen

gerundete Kreis des Hen bei Plotin. Sondern es ist eine Unendlichkeit nach Innen. Eckhart ist gotischer, nicht griechischer Mystiker, und damit ist er dem Maha¯ya¯na ähnlicher. 5

Im Jahr 1948 erschien in Japan ein monumentales Werk von Keiji Nishitani über Meister Eckhart mit dem Titel Kami to Zettai-mu »Gott und das absolute Nichts«. 6 Zu diesem Titel schreibt Nishitani: Der Titel, den ich meinem Buch über Meister Eckhart und die deutsche Mystik im Mittelalter gegeben habe, mag unerwartet klingen. ›Das absolute Nichts‹ hat nämlich seinen Ursprung in der buddhistischen Tradition. Obgleich Eckhart seinerseits auch von dem ›Nichts‹ der Gottheit spricht, so liegt zwischen dem ›Nichts‹ bei Eckhart und dem buddhistischen ›Nichts‹ ein Grundunterschied, so viel Unterschied wie zwischen dem abendländischen und dem ostasiatatischen Geist, zwischen dem Christentum und dem Buddhismus. Die beiden ›Nichts‹ gehören je zu einer ganz anderen Welt. Nichtsdestoweniger gibt es bei Eckhart einen Berührungspunkt mit dem Buddhismus. Gerade weil Eckhart und der Buddhismus je zu einer anderen Welt gehören, dürfte dieser Berührungspunkt auf einer tiefen, grundlegenden Ebene liegen. Der Titel ›Gott und das absolute Nichts‹ soll auch zum Ausdruck bringen, dass Eckharts christliche Erfahrung eine Entsprechung zur buddhistischen Erfahrung in sich birgt. Für die gegenwärtige Situation scheint mir dies sehr wichtig zu sein. Wo die geschichtliche Bedingtheit dieser so verschiedenen Geisteswelten durchbrochen ist, offenbaren sich die Ansätze ursprünglichen religiösen Erlebens, wie es im menschlichen Wesen als solchem angelegt ist. 7

R. Otto, a. a. O., S. 271. Keiji Nishitani (1900–1991) ist Schüler und Nachfolger von Kitaro¯ Nishita an der Universität Kyo¯to. Eines seiner Hauptwerke Shu¯kyo¯ towa nanika »Religion – Was ist das?«, in dem Nishitani in der Auseinandersetzung mit der abendländischen Tradition der Philosophie und Religion seine eigene Philosophie entfaltet, liegt nun in deutscher Übertragung von Dora Fischer-Barnicol vor: »Was ist Religion?«, Insel Verlag, Frankfurt/Main, 1982. 7 K. Nishitani, a. a. O., S. 1 und S. 4 f. 5 6

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Im Vorwort des früheren Buches Kongenteki-shutaisei-no-tetsugaku »Philosophie der ursprünglichen Subjektivität« (1940) sagt Nishitani folgendes: Im Grunde des Lebens ist nichts, auf das wir die Füße setzen (oder uns stützen) können. Vielmehr müssen wir sagen: das Leben ist darum Leben, weil es sich darauf gründet, wo es nichts ist, auf dem das Leben sich gründen kann. Aus der Selbstgewahrnis des Ungründigen realisiert sich die neue Subjektivität des Selbst, die den spirituellen Intellektus, die Vernunft und das natürliche Leben durchfließt.

Angesichts dieser Zeilen erinnern wir uns an »das Leben ohne Warum« bei Eckhart. Wer das Leben fragte tausende Jahre lang: ›Warum lebst du?‹ – könnte es antworten, es spräche nichts anderes als: ›Ich lebe darum, dass ich lebe.‹ … darum lebt es (das Leben) ohne Warum eben darin, dass es sich selbst lebt. 8

Andererseits lesen wir bei Nietzsche, der im Nihilismus die Konsequenz der bisherigen Welt-Interpretation des Daseins sieht: Der Nihilismus steht vor der Tür: woher kommt uns dieser unheimlichste aller Gäste? … Was bedeutet Nihilismus? – Dass die obersten Werte sich entwerten. Es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das ›Warum‹. 9

Der radikale Nihilismus macht von vornherein alle mögliche Antworten auf das »warum« nichtig. Falls es uns um eine Überwindung des radikalen Nihilismus geht, so würde es vielleicht nur einen einzigen Weg geben, dass das nihilistische Fehlen der Antwort auf das »warum« von dem »ohne Warum« des Lebens schlechthin sprunghaft überholt 8 Die zugrunde liegenden Texte Eckharts sind: Meister Eckhart. Die deutschen Werke, hg. und übers. J. Quint, I., II. ,III. und V. Band, Stuttgart 1958–76. Im Folgenden abgekürzt DW. Die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf die jeweiligen mittelhochdeutschen Texte in demselben Band. 9 Friedrich Nietzsche Umwertung aller Werte. Aus dem Nachlaß zusammengestellt u. herausgegeben von Friedrich Würzbach, München, 1969, S. 469, 470.

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wird. Es geht also um eine Umkehr von dem negativen Fehlen des »darum« zum absoluten »ohne Warum«, von dem privativen Nichts zu dem erfüllten Nichts. Es könnte sein, dass die Gott-losigkeit bei Zarathustra erst in dem Leben ohne Gott bei Meister Eckhart ihre bejahende Erfüllung erfährt. Um dieselbe Umwendung vom negativen Nichts zu dem absoluten Nichts geht es dem Zen-Buddhismus, dessen »großes Sterben« bei Eckhart der »radikalen Abgeschiedenheit« entspricht. Im »Leben ohne Warum«, in dieser gelebten Freiheit, sehen wir eine wesenhafte Geistes- und Lebensverwandtschaft von Meister Eckhart und Zen. Unter den neuesten Eckhart-Forschungen sei in diesem Zusammenhang auf das Buch Meister Eckhart, Gedanken zu seinen Gedanken (1979) des Freiburger Theologen und Religionsphilosophen Bernhard Welte hingewiesen. In den Kapiteln »Der Durchbruch: Gott als das Nichts der Abgeschiedenheit« und »Die Dinge der Welt in Gott« zeigt er Analogien zwischen Meister Eckhart und bestimmten Bereichen des Zen-Buddhismus auf. Er ließ sich dabei von zwei der wichtigsten Zen-Texte in deutscher Übersetzung anregen: Der Ochs und sein Hirte 10 und Bi-yän-lu, Niederschrift von der Smaragdenen Felswand. 11 Welte schreibt: Es scheint mir von großer Bedeutung, dass hier aus voneinander ganz unabhängigen Ursprüngen, die geschichtlich und räumlich weit auseinanderliegen, analoge Bewegungen des Geistes erscheinen. In einer Zeit, in der die Kulturen mehr und mehr zusammenrücken, ist es wichtig zu sehen, dass sich solche Ursprünge ganz unabhängig voneinander gleichsam zuwinken können und dass Analogien sich andeuten, denen weiter nachzudenken sein wird. Vielleicht darf man den Meister Eckhart mit seiner kühnen Überwindung der Metaphysik auch als eine ausgestreckte Hand zu einer fernen Kultur und ihren höchsten Gedanken verstehen. Dann könnte er eine neue und große Bedeutung haben für das Selbstverständnis der Menschheit heute. 12 Der Ochs und sein Hirte. Eine altchinesische Zen-Geschichte. Übersetzt von Ko¯ichi Tsujimura und Hartmut Buchner, Neske, Pfullingen, zweite Auflage 1973. 11 Vgl. Bi-yän-lu, Niederschrift von der Smaragdenen Felswand. Verdeutscht und erläutert von Wilhelm Gundert, Band 1–3, Carl Hanser, München, 1960–73, Bd. I. 12 Bernhard Welte, Meister Eckhart. Gedanken zu seinen Gedanken. Herder, Freiburg/ Br. 1979., S. 110. 10

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Dieser Anregung folgend wollen wir nun Meister Eckharts Gedanken hinzuziehen, um das dem Zen Charakteristische anschaulicher bestimmen zu können. Das Existenzdenken Meister Eckharts ist von drei Grundgedanken durchdrungen: Erstens der Gedanke von der Rückkehr des Menschen zu seinem uranfänglichen Wesensgrund. Zweitens der Gedanke von der Lauterkeit und Bloßheit dieses Grundes, d. h. der äußersten Weiselosigkeit, Eigenschaftslosigkeit, Form- und Bildlosigkeit, wie es der radikalen Transzendenz und zugleich Nicht-Gegenständlichkeit des Grundes entspricht. Die Rückkehr in die Lauterkeit des Urgundes findet auf dem Weg der Verneinung, des »Lassens«, der »Abgeschiedenheit« statt. Drittens der Gedanke vom Ursprung des lebendigsten Lebens aus eben diesem Urgrund. Diese drei Grundgedanken finden sich ebenso im Zen-Buddhismus. Das wahre Menschsein liegt für beide im dynamischen Zug zurück zum Urgrund und wieder aus diesem heraus, auch wenn dies mit sehr verschiedenen Begriffen formuliert wird, die je dem betreffenden geistes- und kulturgeschichtlichen Hintergrund entspringen.

1. Der Durchbruch Wir wollen etwas näher auf die Gedankengänge Meister Eckharts eingehen, und zwar im Anschluss an R. Otto und B. Welte hauptsächlich am Thema »Durchbruch« und im Vergleich mit dem Zen-Buddhismus. Eckhart entfaltet das Ereignis des Durchbruchs auf der Grundlage der »Gottesgeburt in der Seele«. In seinen Predigten betont er wiederholt, dass Gott seinen eingeborenen Sohn in der abgeschiedenen Seele gebiert. Für Eckhart wird die Seele so zum göttlichen Leben erweckt, d. h. in das innergöttliche Leben erhoben – ein Thema, das er in seinen Predigten immer wieder betont. Die Gottesgeburt in der Seele, für deren Denken die christliche Trinitätslehre maßgebend ist, erfährt Eckhart als die sprunghafte Erfüllung des reinen, ursprünglichen Lebens, die dem Menschen durch das Aufgeben des Ich in der Abgeschiedenheit geschenkt wird. Dabei ist die Betonung der Ununterschiedenheit zwischen dem Sohn, den Gott in der Seele gebiert, und dem Sohn, den Gott in sich gebiert, für Eckhart sehr bezeichnend. Für ihn gebiert der Vater seinen Sohn in der Seele in derselben Weise, in der er ihn in der Ewigkeit, d. h. in sich selbst, gebiert. Er muss es tun, es sei ihm lieb oder 175 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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leid. … Alles, was Gott wirkt, ist Eins: darum gebiert er mich als seinen Sohn ohne jeden Unterschied.13 Oder an anderer Stelle sagt er: »Die Leute wähnen, Gott sei nur dort [bei seiner historischen Menschwerdung] Mensch geworden. Dem ist nicht so, denn Gott ist hier [= an dieser Stelle hier] ebenso wohl Mensch geworden wie dort, und er ist aus dem Grunde Mensch geworden, dass er dich als seinen eingeborenen Sohn gebäre und als nicht geringer.« 14 Das absolute Heilsgeschehen trifft also direkt jeden Einzelnen in aller Ursprünglichkeit, nicht erst über einen Vermittler. Wenn wir ihn so verstehen, dann steht Eckhart in dieser Hinsicht dem Maha¯ya¯na-Buddhismus, der philosophisch-religiösen Grundlage des Zen, sehr nahe. Dieser lehrt nämlich die Ursprünglichkeit des Erwachens bei einem jeden. Dasselbe Erwachen zu derselben Wahrheit mache einen jeden zu demselben Buddha, zum »Erwachten«. Zu dieser allgemeinen Übereinstimmung kommt noch eine tiefergehende Geistesverwandtschaft hinzu, die sich zeigt, wenn Eckhart vom Durchbrechen, vom »Durchbruch zum Nichts der Gottheit« spricht. »Ebenso wie er [Gott] mich durchbricht, so wiederum durchbreche ich ihn.« 15 Was aber meint Eckhart, wenn er sagt, dass ich Gott durchbreche? Er spricht von der Seele, die sich nicht damit begnügt, dass sie ein Sohn Gottes ist. »Wo Gott ausbricht in seinen Sohn, da bleibt die Seele nicht hängen.« »Es [das Fünklein in der Seele bzw. das Licht] will in den einfältigen Grund Gottes, in die stille Wüste, in die nie Unterschiedenheit hineinlugten, weder Vater noch Sohn noch Heiliger Geist.« 16 Ich habe von einer Kraft in der Seele gesprochen; in ihrem ersten Ausbruch erfasst sie Gott nicht, sofern er gut ist, sie erfasst Gott auch nicht, sofern er die Wahrheit ist: Sie dringt bis auf den Grund und sucht weiter und erfasst Gott in seiner Einheit und in seiner Einöde; sie erfasst Gott in seiner Wüste und in seinem eigenen Grunde. Deshalb lässt sie sich nichts genügen; sie sucht weiter danach, was das sei, das Gott in seiner Gottheit und im Eigentum seiner eigenen Natur sei. 17 In der abgeschiedenen Seele gebiert Gott seinen eingeborenen

13 14 15 16 17

Vgl. DW I, S. 454 (S. 109, 110). DW II, S. 657 (S. 98). DW II, S. 652 (S. 76, 77). DW II, S. 713 (S. 420). DW I, S. 470 (S. 171, 172).

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Sohn. Auf diese Weise »durchbricht mich Gott«. Durch die Gottesgeburt in der Seele ist die Seele in das innergöttliche Leben erhoben. Nun sucht die Seele in Gott weiter nach dem Grunde Gottes. Ausgehend von einer radikalen Interpretation der neuplatonischen Auffassung des Eins-Seins der reinen Substanz, erblickt Eckhart das Wesen bzw. den Grund Gottes hinter und über dem göttlichen Gott in der weiselosen, formlosen, undenkbaren und unsagbaren Lauterkeit schlechthin. Er unterscheidet zwischen Gott und der Gottheit, wobei er letztere als ein Nichts bezeichnet, für das »die Einöde«, »die Wüste« im obigen Zitat als Metapher steht. Das Wesen Gottes entzieht sich jeder Vergegenständlichung, jeder Vorstellung seitens des Menschen. »Gott und Gottheit sind soweit voneinander verschieden wie Himmel und Erde.« 18 Gott ist göttlich in seiner Hinwendung zur Kreatur. Wo Gott in sich selbst ist, jenseits jeglichen Gegenübers von Gott und Kreatur, ist Gott in seinem Wesen, in seinem Grund, schlechthin ein Nichts. Für Eckhart wäre der Gedanke »Gott« schon eine Verhüllung (»zuobedecken«) der bildlosen Lauterkeit. Eckharts Denken umfasst eine stufenweise Steigerung bis zum Nichts der Gottheit. Zunächst sagt er, »Gott ist gut« bzw. »Gott liebt mich«. Das ist eine Glaubensaussage. Es sind nicht wenige Predigten, die dieses Thema entfalten. Das ist aber nicht alles. Er sagt dann, »Gott muss gut sein, Gott muss mich lieben«. Das ist eine Erkenntnisaussage. In der Erkenntnis wird nämlich der Grund dafür, dass Gott gut ist, erschlossen. Schließlich sagt er aber, »Gott ist nicht gut« (d. h. in seinem Wesen). Diese Aussage gehört zur negativen Theologie, die von Eckhart sehr radikal durchgeführt wird und sehr existentielle Züge trägt. Die Radikalität der negativen Theologie bei Eckhart zeigt sich schon in solchen Wendungen wie: Gott ist ein Nicht-Gott, ein NichtGeist, eine Nicht-Person (»ein nit-got, ein nit-geist, ein nit-persone«) 19 oder »weder Vater noch Sohn noch Heiliger Geist«. Hier wirkt die Verneinung auch im Bereich der Trinität. Für die existentiellen Züge der Steigerung sei noch ein Beispiel angeführt: »Das Fünklein in der Seele … wird so ganz eins mit Gott und strebt so ganz ins Eine und ist in eigentlicherem Sinne eins mit Gott.« 20 Eins werden mit Gott ist die 18 Meister Eckhart. Deutsche Predigten und Traktate, hg. und übers. J. Quint, Carl Hanser Verlag, München 1955, S. 272. Unten verkürzt zu »Meister Eckhart (Q)« 19 DW III, S. 586 (S. 448). 20 DW I, S. 510 (S. 345).

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Vereinigung mit dem göttlichen Gott. Ins-Eine-Streben ist das Durchbrechen durch den göttlichen Gott hindurch, in eigentlicherem Sinne eins mit Gott sein – in Eckharts Worten »ein einic ein«, »eins sein mit dem einfaltigen lauteren Einen«. Die Seele ist eins mit dem einfältigen lauteren Eins aber nur dadurch, dass sie in sich selbst ein einfältiges, lauteres Eins ist. Die Seele, wie sie in diesem Zusammenhang in sich einfältig und lauter ist, bezeichnet Eckhart genau mit denselben negativ-theologischen Ausdrücken, die er für die Gottheit verwendet: namenlos, unergründlich, form- und bildlos, geistlos, weder-dies-nochdas u. a. Wenn er zur positiven Wendung kommt, dann wieder mit derselben Bezeichnung wie für die Gottheit: Die Seele ist »eins und einfaltig«, »ein lauteres eins«, »ledig und frei«. Bei Eckhart sind Gotteslehre und Seelenlehre bis zur letzten Konsequenz ineinander verschlungen: »Wo Gott ist, da ist die Seele, und wo die Seele ist, da ist Gott.« 21 Im Zen-Buddhismus, besonders auf dem Weg nach oben, ist eine weitgehende und genaue Übereinstimmung mit Eckhart zu konstatieren, was die radikal durchgeführte negative Theologie um der letzten Wirklichkeit willen und den dynamischen Zug der Steigerung sowohl hinsichtlich Gottes als auch der Seele, anbelangt. Das geht manchmal so weit, dass viele Zeilen in Predigten Eckharts ohne weiteres fast wörtliche Übersetzungen aus Zen-Texten sein könnten. In Bezug auf Meister Eckhart erhebt sich die Frage: Was kann das Nichts der Gottheit, wo Gott jenseits seines Gegenüber zur Kreatur, in sich ist, überhaupt für den Menschen bedeuten? Seine ganze Theologie beruht auf dem Gedanken, dass die Gottheit, der Grund Gottes, der Seele eigener Grund ist, so dass die Seele in ihrem eigenen Grund dasselbe ist, wie Gott in seinem Grunde ist. (Das bedeutet nicht, dass Seele und Gott identisch seien.) Die Unterscheidung zwischen Gott und Gottheit ist bei Eckhart nicht nur begrifflich, sondern wird auch in soteriologischer Hinsicht unmittelbar in die Seelenlehre einbezogen. Das erstere findet sich öfters in der Theologie. Die Verknüpfung mit dem Existentiellen aber ist das Besondere an Meister Eckharts Gedanken. Das Jenseits Gottes, das Nichts der Gottheit, ist für die Seele in nicht-gegenständlicher Weise der Grund der Seele selbst. »Als ich im Grunde, im Boden, im Strom und Quell der Gottheit stand, … Als ich

21

DW I, S. 471 (S. 173).

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[noch] in meiner ersten Ursache stand, da hatte ich keinen Gott, … hier stand ich Gottes und aller Dinge ledig. 22 Um zu diesem eigenen Urgrund zurückzukommen, muss die Seele Gott durchbrechen zum Nichts der Gottheit, indem »Gott entwird«. »Wenn ich zurückkomme in ›Gott‹ und [dann] dort [d. h. bei ›Gott‹] nicht stehen bleibe, so ist mein Durchbrechen viel edler als mein Ausfluss [aus Gott]. 23 Der Durchbruch vollzieht sich, indem die Seele Gott lässt, d. h. Gottes ledig, Gottes quitt wird, wie Eckhart es jeweils ausdrückt. 24 Das wiederum vollzieht sich, indem die Seele sich selbst lässt, wie sie mit Gott vereint ist. Damit meint Eckhart die äußerste Abgeschiedenheit, in der die Seele, wie sie mit dem göttlichen Leben lebt, vollkommen entbildet wird und sich ihrer selbst ganz entäußert. »Grundtod« nennt dies Eckhart. Parallel dazu heißt es im Zen »großes Sterben«. Gerade dadurch erschließt sich im Seelengrund die Urquelle des lauteren Lebens, das ohne warum (âne warumbe) aus sich selbst und von sich selbst her lebt. Wieder parallel dazu heißt es im Zen: »Kalte Asche fängt Feuer, ein dürrer Baum blüht.« Die Seele lebt nun aus ihrem eigenen Grund, nicht aus Gott, nicht mit Gott, und ist dadurch und darin eins mit Gott, wie er im Grunde eins ist. Hier ist Gottes Grund mein Grund und mein Grund Gottes Grund. Hier lebe ich aus meinem Eigenen, wie Gott aus seinem Eigenen lebt. Wer in diesen Grund je nur einen Augenblick lang lugte, dem Menschen sind tausend Mark roten, geprägten Guldes [soviel] wie ein falscher Heller. Aus diesem innersten Grunde sollst du alle deine Werke wirken ohne Warum. Ich sage fürwahr: Solange du deine Werke wirkst um des Himmelreiches oder um Gottes … willen, … so ist es wahrlich nicht recht um dich bestellt. … Ein solcher Mensch ist … das Leben selbst. Wer das Leben fragte tausend Jahre lang: ›Warum lebst du?‹ – könnte es antworten, es spräche nichts anderes als: ›Ich lebe darum, dass ich lebe.‹ Das kommt daher, weil das Leben aus seinem eigenen Grunde lebt und aus seinem Eigenen quillt; darum lebt es ohne Warum eben darin, dass es [für] sich selbst lebt. 25

22 23 24 25

DW II, S. 728 (S. 492). Meister Eckhart (Q), S. 273. Vgl. DW II, Predigt 52, S. 727–31 (S. 486–517). DW I, S. 450–51 (S. 90f).

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Ich lebe aus meinem eigenen Grund, wie Gott aus seinem eigenen Grund lebt. Das ist ein goldenes Wort Eckharts für die wahre Freiheit des Menschen. Eckhart lässt jetzt die Seele sagen: Als ich aus Gott floss, da sprachen alle Dinge: Gott ist; dies aber kann mich nicht selig machen, denn hierbei erkenne ich mich als Kreatur. In dem Durchbrechen aber, wo ich ledig stehe meines eigenen Willens und des Willens Gottes und aller seiner Werke und Gottes selber, da bin ich über allen Kreaturen und bin weder ›Gott‹ noch Kreatur, bin vielmehr, was ich war und was ich bleiben werde jetzt und immerfort. 26

Das ist für Eckhart die wahre Freiheit des Menschen, Freiheit ohne Gott (»âne got«), wobei in diesem »ohne Gott« das Nichts der Gottheit gegenwärtig ist. In diesem Sinne sagt Eckhart: »Mir wird in diesem Durchbrechen zuteil, dass ich und Gott eins sind [d. h. nicht vereint].« 27 Mit diesem Gedanken steht Eckhart jenseits bzw. diesseits des Gegensatzes von Theismus und Atheismus, jenseits bzw. diesseits des Gegensatzes von Personalismus und Impersonalismus. Im Leben »ohne Gott« in diesem Sinne verbindet Eckhart das Nichts der Gottheit unmittelbar mit seiner Auffassung der vita activa in der alltäglichen Welt- und Lebenswirklichkeit. In seiner charakteristischen Auslegung der Perikope von Maria und Martha (Lk 10, 38–42) sieht Eckhart die Vollkommenheit in Martha, die in der Küche für die Bewirtung der Gäste arbeitet, nicht aber in Maria, die zu Jesu Füßen sitzt und seiner Rede zuhört. 28 Martha arbeitet in der Küche. In der Küchenarbeit vollzieht sich der Durchbruch, in dem Gott als Nichts der Gottheit in Martha konkret gegenwärtig ist. Darauf komme ich weiter unten zurück. Wir sehen also bei Eckhart eine strukturierte Dynamik, nämlich: durch die radikale Verneinung zurück zum uranfänglichen Wesensgrund und von dort wieder in die vita activa, in die Welt- und Lebenswirklichkeit zurück. Diese Dynamik möchten wir als die Zusammengehörigkeit von Verneinung und Bejahung, von Nichts und dem Hier-Jetzt der Gegenwart, bezeichnen. Das wäre Eckharts Lösung der 26 27 28

DW II, S. 730 f. (S. 504–505). DW II, S. 731 (S. 505). DW III, Predigt 86.

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damaligen Glaubenskrise, die im Zeichen eines radikalen Aristotelismus einerseits und im Zeichen der Armut des apostolischen Lebens in der religiösen Volksbewegung andererseits steht. Dem Zen-Buddhismus geht es um die gleiche Zusammengehörigkeit. Nur ist dieser sowohl in der Verneinung wie auch in der Bejahung radikaler als Eckhart. Der Zen-Buddhismus bezeichnet den Weg der Verneinung als den Weg nach oben. Auf diesem Weg wird gesagt: »Wenn du dem Buddha begegnest, töte ihn.« »Geh schnell vorbei, wo Buddha ist, bleibe auch nicht stehen, wo Buddha nicht mehr ist!« Dies ist die Zen-buddhistische Parallele zu Eckharts Gott-Lassen. Es geht im Zen um die Unendlichkeit der Verneinung, um das unendliche Nichts »jenseits der hundertfachen Verneinung« – ohne Vorstellung irgendeiner Transzendenz. Jede Vorstellung vom Absoluten bedeutet für das Zen »Kleben an der Wahrheit«, eine subtilere und um so gefährlichere Form von Ich-Verhaftetheit. Die radikale Verneinung im Zen zeigt sich schon darin, dass es ihm auf das Nichts schlechthin ankommt, während bei Eckhart vom Nichts der Gottheit die Rede ist. Für Eckhart ist Gott in seinem Wesen ein Nichts. Im Substanzdenken gilt unbedingt der unantastbare, unwandelbare Grund-Satz, dass Gott ist. Im Sinne der negativen Theologie ist bei Eckhart »das Nichts« schließlich der Inbegriff aller negativen Bezeichnungen für die Lauterkeit des Wesens Gottes. Demgegenüber ist das Nichts im Zen ein Ausdruck für die entsubstantialisierende Bewegung und entspricht dem maha¯ya¯na-buddhistischen Beziehungsdenken. 29 Das Nichts im Zen ist nicht – wie bei Eckhart – eine andere Bezeichnung für das lautere Eine, sondern liegt jenseits bzw. diesseits des Einen – wie die Null. In verschiedenen Texten des Zen kommt zum Ausdruck, dass das bewegliche Nichts im Zen radikaler ist als das Nichts bei Eckhart. Bei ihm heißt es »von allem abgeschieden sein« (Abgeschiedenheit). Das Zen fügt gleich hinzu: »auch von der Abgeschiedenheit abgeschieden«. Auf diese Weise heißt es: »Nirgends wohnen und zugleich im Nirgendswohnen auch nicht wohnen«, »weder Sein noch Nichts, weder Nicht-Sein noch Nicht-Nichts.« Via negationis und via eminentiae gehören zusammen – sowohl Kapitel 1 »Leere und Fülle – S´u¯nyata¯ im Maha¯ya¯na-Buddhismus. Zum Selbstgewahrnis des wahren Selbst«.

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bei Eckhart als auch im Zen. Wenn Eckhart in der Umwendung zur Bejahung kommt, so kommt er mit Gott dazu als der ersten Bejahung. So heißt es bei ihm: »Nimmt man eine Fliege in Gott, so ist die edler in Gott als der höchste Engel in sich selbst ist. Nun sind alle Dinge in Gott gleich und sind Gott selbst.« Das ist Eckharts Bejahung der Fliege, und zwar als Fliege in Gott. 30 Im Zen heißt es unmittelbarer und einfacher: »Die Berge als Berge, Wasser als Wasser, Langes lang, Kurzes kurz.« So kommt das Zen geradewegs und unvermittelt zur vollen und schlichten Bejahung. Die Richtung der Bejahung bezeichnet der Zen-Buddhismus als den Weg nach unten. Auf diesem Weg heißt es: »Wasser schöpfen und Holz tragen.« »Wenn du hungrig bist, dann geh zum Essen. Wenn du müde bist, dann lege dich hin zum Ausruhen.« Ein Meister, der nach der höchsten Wahrheit gefragt wurde, sagte einfach: »Wollen wir eine Tasse Tee trinken.« Die freie Hin- und Rückbewegung zwischen der unendlichen Verneinung und der unmittelbarsten Bejahung des HierJetzt der Gegenwart ist für das Zen die Freiheit des selbst-losen Selbst. Für Eckharts Denken ist letztlich die Kategorie »Substanz« bestimmend. Eckhart fordert vom Menschen entsprechend seiner Auffassung der Bild- und Formlosigkeit der lauteren, einfältigen Substanz, die radikale Ent-bildung der Seele, die sich im unendlichen »Lassen« und als dieses vollzieht. Dieses »Lassen« gibt der Lehre Eckharts einen dynamischen Zug, der der Dynamik der Zen-buddhistischen Zusammengehörigkeit von Verneinung und Bejahung entspricht. Nur ist im Zen mit der radikalen Durchführung des maha¯ya¯na-buddhistischen Beziehungsdenkens die Spannweite dieser Zusammengehörigkeit größer als bei Eckhart. Diese Zusammengehörigkeit waltet existentiellpraktisch gleicherweise bei Eckhart und im Zen und bewirkt als solche jene Unendlichkeit, um die es in unserem Thema »nach oben und nach unten« geht. Von diesen vergleichenden Überlegungen ausgehend bietet ein Beispiel aus dem Werk Meister Eckharts die Möglichkeit, das oben Skizzierte zu konkretisieren, sowie das Zen auf seinem Weg nach oben und nach unten genauer zu bestimmen. Dadurch erhält das Zen eine schärfere Kontur. Als Beispiel wählen wir Eckharts Auslegung der Perikope von Maria und Martha im Lukas-Evangelium. Zunächst muss eine Vorfrage geklärt werden. Ist eine sinnvolle Führung unseres Lebens in der leibhaften Wirklichkeit dieser Welt 30

DW I, S. 477 (S. 199) und vgl. DW III, S. 549 (S. 247).

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überhaupt möglich, wenn wir Meister Eckharts Denken des Durchbruchs folgen? Es scheint manchmal, als werde Eckhart von seinen hochfliegenden Spekulationen über das lautere Eins-Sein Gottes in sich und über das Nichts der Gottheit fortgerissen. Aber das ist nicht der Fall. Die Beziehung zu unserer Lebens- und Weltwirklichkeit verschwindet nicht, denn im Gottesgedanken der Mystik ist im Allgemeinen Gottes Transzendenz mit seiner Immanenz aufs Engste verbunden. Auf Meister Eckharts Gedanken des ›Gott-Lassens‹ trifft dies ganz besonders zu. Das ›Gott-Lassen‹, das wir oben im Zusammenhang mit dem Durchbruch zum Nichts der Gottheit betrachtet haben, vollzieht sich von vornherein in Verbindung mit einer Richtung von Gott weg zur Wirklichkeit der Welt hin. Auf diese Verbindung verweist Eckhart in einer Predigt in Anlehnung an ein Paulus-Wort: Darum sagt Sankt Paulus: ›Ich wollte ewiglich geschieden sein von Gott um meines Freundes und um Gottes willen‹ (Röm 9, 3). Einen Augenblick von Gott scheiden, das ist ewiglich von Gott geschieden; von Gott scheiden aber ist höllische Pein. Was meint nun Sankt Paulus mit diesem Worte, das er sprach, er wollte von Gott geschieden sein? Nun stellen die Meister die Frage, ob Sankt Paulus da erst auf dem Wege zur Vollkommenheit oder ob er bereits in ganzer Vollkommenheit gewesen sei. Ich sage, dass er in ganzer Vollkommenheit stand; sonst hätte er dies nicht sagen können. Ich will dieses Wort, das Sankt Paulus sprach, er wolle von Gott geschieden sein, deuten. 31

Zweierlei können wir diesen Worten Eckharts entnehmen: Erstens, dass das »Geschieden-Sein von Gott«, das ›Gott-Lassen‹, erst auf Grund der Vollkommenheit des erreichten Eins-Seins mit Gott möglich ist; zweitens, dass im Gott-Lassen zwei zusammengehörende Anliegen zum Ausdruck kommen, wie Paulus bezeichnenderweise sagt, »um meines Freundes und um Gottes willen«. Auf dieser Grundlage beginnt Eckhart mit der Auslegung des Paulus-Wortes: »Das Höchste und das Äußerste, was der Mensch lassen kann, das ist, dass er Gott um Gottes willen lasse. (Daz hoehste und daz naehste, daz der mensche gelâzen mac, daz ist, daz er got durch got lâze).« 32 31 32

DW I, S. 477 (S. 195, 196). DW I, S. 477 (S. 196.).

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Sankt Paulus ließ alles, was er von Gott nehmen konnte, und ließ alles, was Gott ihm geben konnte … Als er dies ließ, da ließ er Gott um Gottes willen, und da blieb ihm Gott, so wie Gott in sich selbst seiend ist (got, dâ got istic ist sîn selbes), nicht in der Weise seines Empfangen- oder Gewonnenwerdens, sondern in der Seinsheit, die Gott in sich selbst ist (in einer isticheit, daz got in im selber ist). Er gab Gott nie etwas, noch empfing er je etwas von Gott; es ist ein Eines und eine lautere Einung (ez ist ein ein und ein lûter einunge). Hier ist der Mensch ein wahrer Mensch … ; wie ich schon öfter gesagt habe, dass etwas in der Seele ist, das Gott so verwandt ist, dass es eins ist und nicht vereint (daz etwas in der sêle ist, daz gote alsô sippe ist, daz ez ein ist und niht vereinet). 33

Das Gott-Lassen ist bei Eckhart nicht eine Vereinigung, sondern ein Eins-Sein mit dem lauteren Einen (eins und nicht vereint, unum et non unitum). Das lauter Eine, das Gott in sich selbst seiend ist, bezeichnet Eckhart wegen dessen bild-loser, unsagbarer Lauterkeit schlechthin als »ein niht«. Das Motiv des Durchbruchs in Eckharts Denken ist in den hier zitierten Zeilen zentral. Obwohl in dieser Predigt hauptsächlich der Aspekt des ›Gott-Lassen‹ »um Gottes willen«, d. h. der Durchbruch durch Gott hindurch zum Grund Gottes zur Sprache kommt, wird mit Paulus Worten »geschieden sein von Gott um meines Freundes und um Gottes willen« der andere Aspekt angedeutet. Eckhart spricht von einem wahren Menschen. »Mensch« in diesem Zusammenhang besagt mehr als Seele bzw. Seelengrund. Dieser steht bei Eckhart in unmittelbarer Verbindung mit dem Grund Gottes. Wenn er also von dem wahren Menschen spricht, so sieht er dabei nicht nur den Seelengrund, sondern auch zugleich die Rückkehr zur Welt- und Lebenswirklichkeit. Das bringt die Wendung zum Ausdruck »um meines Freundes und um Gottes willen«. Diesen Andeutungen folgend könnten wir, indem wir diesem »und« Aufmerksamkeit schenken, die beiden Richtungen etwa wie folgt beschreiben: Gott lassen um Gottes willen weist auf die entgegengesetzte Richtung von Gott weg zur Weltwirklichkeit zurück. (So gesehen, finden wir eine genaue Entsprechung zu dem »nach-oben-und-nach-unten« im Zen.) Das ›Gott-Lassen‹ in diesen beiden Richtungen vollzieht sich in einer Tat. Beim ›Gott-Lassen‹ kommt es auf das Nichts der Gottheit an und zugleich, 33

DW I, S. 477 (S. 196, 197.)

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eng damit verbunden, auf das »am-Ofen« bzw. »im-Stall« oder wie bei Martha, auf das In-der-Küche-Sein. Sie ist zwar im Nichts der Gottheit, aber zu gleicher Zeit auch am Ofen. Es handelt sich hier also nicht um ein Fortgerissensein zum weiten Einen, aber auch nicht um ein Verfallensein an die Weltlichkeit, da Martha nicht nur am Ofen, sondern zugleich auch im Nichts der Gottheit ist. Die eine Richtung des ›Gott-Lassen‹ zum Nichts der Gottheit spiegelt Eckharts spezifische Auffassung der vita contemplativa wider, wobei es auf das Durchleuchten des Grundes Gottes mit dem Seelenfünklein ankommt. Die andere Richtung des ›Gott-Lassen‹ zur Wirklichkeit der Welt hin zeigt seine Auffassung der vita activa, wobei es auf den »wohlgeübten Leib« ankommt, wie wir am Beispiel von Martha noch sehen werden. Die Eigenart seiner extremen Lehre von der vita contemplativa und der vita activa liegt darin, dass sie für ihn in ihrer letzten Konsequenz nicht die Wege zu Gott, sondern die Wege von Gott weg sind. Der Weg zu Gott ist für Eckhart nicht vita »Leben«, sondern einzig Tod, Abgeschiedenheit. In die abgeschiedene Seele gebiert Gott seinen Sohn. Das ist bei Eckhart die Grundvoraussetzung der vita contemplativa mit dem Seelenfünklein und der vita activa mit dem wohlgeübten Leib.

2. Gott-lassen und vita activa Eine andere Predigt über die Perikope von Maria und Martha (Lk 10, 38–42) 34 enthält weitere Ausführungen Eckharts zum ›Gott-Lassen‹ als Rückkehr zur Welt- und Lebenswirklichkeit. Wir zitieren die Perikope in Eckharts eigener deutscher Übersetzung: Sankt Lukas schreibt im Evangelium, dass unser Herr Jesus Christus in ein kleines Städtlein ging; dort nahm ihn eine Frau auf, die hieß Martha; die hatte eine Schwester, die hieß Maria; die saß zu den Füßen unseres Herrn und hörte auf seine Worte; Martha aber ging 34 DW III, Predigt 86. Das oben genannte Werk von Keiji Nishitani über Meister Eckhart (1948) ist, soviel ich weiß, die erste Eckhart-Forschung, die die betreffende Predigt eingehend interpretiert und sie in eine Gesamtinterpretation Eckharts integriert hat. Über den Inhalt dieser Predigt gibt es auch eine Monographie von Dietmar Mieth: Die Einheit von vita activa und vita contemplativa in den deutschen Predigten und Traktaten Meister Eckharts und bei Johannes Tauler. Untersuchungen zur Struktur des christlichen Lebens, Regensburg 1969.

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umher und diente dem lieben Christus. Nun sagt Martha: ›Herr, heiß sie, dass sie mir helfe‹. Da antwortet ihr Christus und sprach: ›Martha, Martha, du bis sorgsam, du kümmerst dich um vieles. Eines ist not! Maria hat den besten Teil erwählt, der ihr nimmermehr genommen werden kann.‹ 35

Sowohl die literarische Bedeutung als auch die Intention des Passus ist ziemlich eindeutig. Eckharts Auslegung kehrt die naheliegende Wertung von Maria und Martha vollkommen um, und er sieht die Vollkommenheit in Martha, nicht aber in Maria. Jesus nannte Martha zweimal mit Namen. Das ist für Eckhart die Bestätigung der zweifachen Vollkommenheit von Martha, nämlich der Vollkommenheit im zeitlichen Wirken und der Vollkommenheit zur ewigen Seligkeit. Martha »besaß vollends alles, was es an zeitlichem und ewigem Gut gäbe«. 36 Aus solcher Vollkommenheit sagt nun Martha: »Herr, sag ihr (Maria) doch, dass sie mir helfen soll.« Das heißt für Eckhart: »Heiß sie aufstehen und von dir gehen (heiz sie ûfstân und von dir gân).« »Martha stand ganz wesenhaft da (Marthâ stuont sô weselîche), daher sprach sie: Herr, heiß sie aufstehen.« Martha fürchtet, dass ihre Schwester im Wohlgefühl der Vereinigung mit Gott bei Gott verbleiben und nicht weiterkommen würde (niht vürbaz enkaeme). So sollte Maria sich aus der Vereinigung lösen, d. h. aufstehen und von Gott weggehen. »Heiß sie aufstehen, dass sie vollkommen werde!« Eckhart sieht also in Maria die Vereinigung mit Gott, in Martha aber eine spezifische Vollkommenheit, die im Aufstehen als Lösung aus der Vereinigung und im Weggehen von Gott besteht. Diese Umdeutung der Perikope hat ihren Ursprung in einer auf das Leben ausgerichteten Interpretation des Textes, die dem Gedanken des Durchbruchs entspricht. Das kommt noch stärker in der Auslegung der Antwort Jesu zum Ausdruck, der zu Martha sagt: »Martha, Martha, du bist besorgt um vieles.« Nachdem Eckhart von der zweifachen Vollkommenheit bei Martha gesprochen hat, fährt er anschließend weiter. »Daher sprach er (unser Herr): Du bist sorgsam.« Das Wort »daher« betont einen

Nach J. Quint »ist der Schrifttext nach dem alten Dominikaner-Missale dem Evangelium des Festes Mariä Himmelfahrt entnommen.« Vgl. DW III, S. 493. 36 Zu folgenden Kurzzitaten vgl. DW III, S. 593–98 (S. 482–91). 35

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Zusammenhang. Für Eckhart ist Martha auf Grund der Vollkommenheit um vieles besorgt. Wie versteht Eckhart das Um-vieles-besorgtSein? »Du bist besorgt um vieles« bedeutet für Eckhart »um vieles, nicht um Eines« (dû bist betrüebet umbe vil’, niht umbe eines); nicht um Eines nämlich, welches not ist, denn dieses Eine ist bei Martha schon da. Was ist das Eine, von welchem Jesus sagt: »Eines ist not«? Es ist das Eins-Sein mit Gott, welches Martha schon erreicht hat. Martha ist nicht mehr um das Eine als solches bekümmert. Erst deshalb kann sie sich um vieles kümmern, ohne davon am Eins-Sein behindert zu werden, ohne von vielem zerstreut zu werden. So ist Martha um vieles besorgt. »Besorgt« bedeutet nach Eckharts Auslegung in diesem Falle »bei der Sorge, nicht aber in der Sorge« und »bei den Dingen und nicht in den Dingen«. Danach wollte Jesus also sagen: »Du stehst bei den Dingen, nicht aber stehen die Dinge in dir, d. h. die Dinge behindern dich nicht.« Martha steht ganz nahe (vil nâhe) bei den Dingen und doch »unbehindert« (âne hindernisse). Auf diese Weise steht Martha bei der Sorge. Martha steht »in gereifter, wohlgefestigter Tugend und in einem freien Gemüt, ungehindert von allen Dingen«. Martha kann sich unbekümmerten Gemütes um vieles kümmern. Im Seelengrund steht Martha in unberührtem Gleichmut, ohne dass ihr dadurch Sorge, Leid und Weh verringert würden, denen die Menschen in der Weltwirklichkeit immer ausgesetzt sind. Unbekümmerten Gemütes sich um vieles kümmern ist kein gegebener, ein für allemal vollendeter Zustand. Der Mensch muss das lernen, immer wieder lernen, immer weiter üben, und zwar mitten in der Wirklichkeit der Welt und des Lebens. Eckhart spricht in diesem Zusammenhang von dem »wohlgeübten Leib«. Das Wirken in diesem Sinne nennt Eckhart auch »Übung der Tugend«. Es handelt sich um Ausübung aus dem lauteren Seelengrund im Nichts und zugleich Einübung der Tugend in der Lebenswirklichkeit. So umschreibt Eckhart Marthas Vollkommenheit: »Martha hat lange und recht gelebt.« Sie hat »lange gelebt«, d. h. sie ist mit den Dingen in der Welt- und Lebenswirklichkeit vertraut, so dass sie die Dinge zugunsten der anderen ordnen kann. Sie hat »recht gelebt«, d. h. aus dem Grund der Seele, in dem sie eins mit dem Einen ist. So steht Martha ganz »wesenhaft« da, wie Eckhart in seiner Predigt wiederholt betont. Wie verhält es sich aber mit Maria? Jesus sagt zu Martha: »Maria hat den besten Teil erwählt.« Diese Worte Jesu bedeuten für Eckhart: »Sei beruhigt, Martha, sie (Maria) wird selig werden wie du.« »Als 187 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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Maria zu Füßen unseres Herrn saß, da war sie noch nicht die wahre Maria«, sie musste noch »in die Schule und leben lernen«. »Heiz sî ûfstân und von dir gân«, diese Worte können wir also als die Grundworte in Eckharts Predigt zum Gedanken des Durchbruchs verstehen. Aufstehen aus der Vereinigung mit Gott und von Gott weggehen, sowohl durch Gott hindurch zum Nichts der Gottheit als auch von Gott weg zur Welt- und Lebenswirklichkeit. Hier sehen wir ein Zusammengehen von vita contemplativa und vita activa auf dem für Eckhart charakteristischen Weg. Aus dieser Umdeutung der Perikope ergibt sich die Frage, ob man Eckharts Auslegung als eine falsche Exegese einfach verwerfen, nicht ernst nehmen soll oder ob man Eckharts Auslegung irgendwie verkürzen und dem Wortlaut der Perikope anpassen soll. An einer anderen Stelle folgt Meister Eckhart der im Text enthaltenen Deutung des Verhältnisses von Maria und Martha wie folgt: Solange wir Gott unähnlich sind und die Geburt währt, auf dass Christus in uns gestaltet werde, sind wir in Unruhe und bekümmern uns mit Martha um vieles. Sobald aber Christus, Gottes Sohn, in uns gestaltet ist … dann ist in uns eine ganz vollkommene Freude … Das Geborensein ist immer eins, ist bleibend, ist dauernd und Erbe … Deshalb folgt: Maria hat den besten Teil erwählt, der ihr nicht wird genommen werden. 37

Wir müssen also annehmen, dass Eckhart bei voller Kenntnis der Predigt eine absichtliche Umstellung von Maria und Martha auf dem Weg der Vollkommenheit vorgenommen hat. Das kann nicht zufällig sein, denn die abweichende Auslegung entspricht genau seinem Gedanken des Durchbruchs. Hier ist nicht der Ort für eine Auseinandersetzung mit anderen Interpretationen. Es liegt mir daran zu untersuchen, welche Interpretation überhaupt möglich ist, wenn die sogenannten radikalen Aussagen bei Eckhart ohne Verkürzung in einen Gesamtzusammenhang integriert werden sollen. Hier sei nur darauf hingewiesen, dass Eckhart, vom Motiv der Geburt ausgehend, wie das Zitat oben aus der Exposition des Johannes-Evangeliums zeigt, die VollkommenMeister Eckhart, Die lateinischen Werke. Herausgegeben im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Dritter Band, Expositio 5. evangelii sec. Johannem. 1936 ff. Übersetzung von Karl Christ und Joseph Koch. Vgl. S. 112.

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heit in Maria sieht, während er vom Motiv des Durchbruchs ausgehend die Vollkommenheit in Martha sieht. Wir können nicht umhin, auf die immer wieder auftauchende Frage einzugehen, wie sich bei Eckhart das Geburts-Motiv und das Durchbruchs-Motiv zueinander verhalten. Beim Durchbruch handelt es sich für Eckhart nicht um eine rein metaphysische Umschreibung der Gottesgeburt in der Seele. Aus seiner Auslegung der Perikope geht hervor, dass er den Durchbruch weiter fasst. Anhand des so gefassten Motivs des Durchbruchs können wir einen Zugang zum Verständnis des Zen finden.

3. Das Nichts der Gottheit und die unendliche Offenheit Ein Gemälde des holländischen Malers Pieter Aertsen aus dem 16. Jh. stellt Jesu Besuch bei Martha dar. 38 Zwar entspricht der üppige Ton des Bildes kaum der Schlichtheit mittelalterlicher deutsche Mystik, doch lässt sich die Komposition ganz im Geist Meister Eckharts deuten. Wir dürfen eine solche Interpretation um so eher wagen, als der Geist Meister Eckharts in der Bewegung der Devotio Moderna in den Niederlanden weit verbreitet war. Im Folgenden soll versucht werden, die Komposition des Bildes aufgrund von Meister Eckharts Umdeutung der Perikope zu verstehen. Im Vordergrund des Gemäldes ist Martha in der Küche mit der Vorbereitung des Essens beschäftigt. Als Hauptfigur ist sie groß dargestellt, während Jesus und Maria zu seinen Füßen im Raum hinter Martha klein zu sehen sind. Martha arbeitet in der Küche. Das steht als Hauptmotiv im Vordergrund. Dass die Gestalt Jesu hinter Martha klein erscheint, weist darauf hin, dass es hier auf das Gott-Lassen, Aufstehen und Von-GottWeggehen ankommt. Martha hat Gott gelassen und ist zur Weltwirklichkeit zurückgekehrt. Jesus ist hinter ihr klein geworden. Marthas tätige Rückkehr zur Welt- und Lebenswirklichkeit ist zugleich der reale Vollzug des Durchbruchs durch Gott hindurch zum Grund, d. h. zum überbildlich-bildlosen Wesen Gottes, zum Nichts der Gottheit. Die Verkleinerung der Gestalt Jesu in diesem Gemälde bringt zum Aus38 Den Hinweis auf dieses Gemälde verdanke ich Ernst Benz. Es ist abgebildet in: Old Paintings 1400–1900. Catalogue of the Museum Boymans-van Beuningen, Rotterdam 1972, S. 35: und in R. H. Fuchs, Dutch Painting, London 1978, S. 27.

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druck, dass es hier um das Nichts der Gottheit geht. Es ist ein Zeichen dafür, dass das Nichts der Gottheit in diesem Gemälde gegenwärtig ist. Es ist der negative Ausdruck für die Gegenwart der bildlosen Gottheit. Diese hat ihren positiven Ausdruck in der Gestalt der Martha, die in der Küche für die Bewirtung der Gäste sorgt. Auf Grund des vollzogenen Durchbruchs ist sie eins mit dem Nichts der bildlosen Gottheit. In Martha und als Martha, so wie sie in der Küche arbeitet, ist das Nichts der Gottheit positiv gegenwärtig. Man könnte hier von der Menschwerdung des Nichts sprechen, in das Gott in der Rückkehr zu seinem Grund ent-worden ist. Es geht also um das Nichts und dessen Mensch-Werdung. Das veranschaulicht Martha in ihrer Arbeit in der Küche. Von dort her könnte die Gestalt Jesu auf dem Gemälde auch fehlen. Allerdings nicht im Sinne einer Eliminierung Jesu Christi, sondern im Gegenteil wegen des Nichts der Gottheit. Das meint Eckhart mit dem Paulinischen Wort »von Gott scheiden um Gottes und um des Freundes willen«. Dies wäre die zum äußersten durchgeführte Konsequenz des Gedankens vom Durchbruch. Wir können uns in Gedanken vorstellen, wie die Komposition dieses Gemäldes sich ändern würde, wenn der eine oder andere Aspekt des Durchbruchs zur äußersten Konsequenz durchgeführt würde. Es ergäben sich zwei Abwandlungen. Die erste Abwandlung des Bildes: Der faktische Vollzug des Durchbruchs lässt die göttliche Gestalt – auch die Gestalt Jesu – vollkommen ins Nichts ent-schwinden, in das auch Martha als ihren eigenen Grund vollkommen entschwindet. Auch Maria ist nicht im Gemälde, denn sie ist dort, wo Gott erscheint, hier aber ist Gott entschwunden. Hier ist nur das Nichts, in dem das Nichts der Gottheit in Bild- und Formlosigkeit schlechthin gegenwärtig ist. Auf diese Weise gelangen wir zur unendlichen Offenheit des Nichts, die das erste ZenBild, der leere Kreis, darstellt. Die erste Abwandlung bezeichnet ganz genau und konkret den Ort, an dem es im Zen-Buddhismus um den Weg nach oben im höchsten Sinn geht. Die zweite Abwandlung des Bildes: Martha kommt in dem Vollzug des Durchbruchs zum Nichts der Gottheit gleichzeitig zur unmittelbaren Welt- und Lebenswirklichkeit zurück, nämlich im gegenwärtigen Beispiel zur Küchenarbeit. Die Gestalt Jesu ist hinter ihr vollkommen verschwunden. Nur Martha und Maria sind als Schwestern wieder da – und zwar auf dem Hintergrund des Nichts, genauer: vom Nichts durchdrungen, nicht mehr in einem göttlichen Raum, son190 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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dern im Nichts-Raum, in der unendlichen Offenheit. Das wären also Martha und Maria in der unendlichen Offenheit ohne jede sichtbare göttliche Tönung. Auf diese Weise gelangen wir zur interpersonalen Begegnung des Doppel-Selbst, wie sie das dritte Zen-Bild darstellt. Die zweite Abwandlung bezeichnet ganz genau und konkret den Ort, an dem es im Zen-Buddhismus um den Weg nach unten im tiefsten Sinn geht. Die gedankliche Verwandlung des Bildes ist als Hilfe zur Ortsbestimmung der beiden Zen-Bilder gemeint. Es zeigt sich, dass eine kleine Abwandlung von Eckhart schon in den Bereich des Zen führen kann. 39 Im Zusammenhang mit Meister Eckhart sei noch eine Bemerkung zum Nichts der Gottheit hinzugefügt. Man spricht heute viel von der Krise des Glaubens. Der Glaube an den personifizierten Gott im Himmel sei in eine Krise geraten. Man sprach früher viel, vielleicht zu viel, von Glauben und von Gott. Heute spricht man wieder zu viel von der Krise des Glaubens und vom Tod Gottes. Das Gemeinsame liegt im Zu-viel-Reden, ob dies nun Gott oder den Tod Gottes betrifft. Gott ist aber – und entsprechend auch der Tod Gottes – nicht »dies und das, was man sprechen kann«, wie Eckhart sagt. Dem Nichts der Gottheit könnte nur das wirklich vollzogene, tiefste Schweigen entsprechen, so dass diesem Schweigen ein neues Sprechen entspringen könnte. Jedenfalls würde in einem Schweigen aus dem Nichts der Gottheit ein neuer Weg zum ursprünglichen Leben, auch im heutigen geistesgeschichtlichen Kontext, erschlossen werden. Die zweite Bildvariante zeigt Martha und Maria in einem offenen Raum ohne göttliche Tönung, wie sie in der ersten Variante erschlossen ist. Wenn nun Maria, der es um Gott geht, zu Martha, die im Vollzug des Durchbruchs in der Küche arbeitet, kommt und fragt, »was ist Gott?«, so würde Martha darauf aus ihrer Versenkung in die Arbeit unvermittelt erwidern können: »Drei Äpfel!« »Was ist Gott?« – »Drei Äpfel!«. Das kling fast wie ein Zen-Beispiel. Diese Erwiderung Marthas ereignet sich unendlich über Gott hinaus im Nichts und zugleich ganz hier in der Küche. Die unsichtbare, unendliche Spannweite zwi39 Man könnte sogar sagen, dass entweder Eckhart einen letzten Schritt vermissen lässt, oder dass das Zen einen Schritt zu weit gegangen ist. Wie dem auch sei, in unserem Zusammenhang sollten die Abwandlungen als methodisches Verfahren dazu verhelfen, einen Verständniszugang zum Zen im Sinne R. Ottos zu gewinnen.

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schen dem Nichts und der Küche ist für Martha in diesem Augenblick der eigentliche Raum der absoluten Freiheit in der Wirklichkeit. Hinund Rückweg Marthas im Nu in dem unendlichen Raum ist die konkrete Wirklichkeit des »Seelenfünkleins« und zugleich die transparente Bewegung des »wohlgeübten Leibes«. Es handelt sich um eine wirkende Zusammengehörigkeit von »nach oben« und »nach unten«. »Was ist Gott?« – »Drei Äpfel.« Die Frage nach Gott wurde in der unangemessenen Form von »was-ist« gestellt, und die Erwiderung schlägt Maria im selben Augenblick ins Gesicht. Diese große Verneinung zeigt ihr unmittelbar das Allerletzte, den Grund Gottes, das Nichts der Gottheit. Das geschieht in der konkretesten Weise in der Gleichzeitigkeit des Schweigens über das Allerletzte und der unmittelbar gegenwärtigen Wirklichkeit. Marias Frage nach Gott war einerseits dem Allerletzten zu fern und andererseits war sie mit dieser Frage zu weit weg von ihrer eigenen unmittelbaren Wirklichkeit. Das Beispiel: »Was ist Gott?« – »Drei Äpfel«, ist ein Frage-Erwiderung-Ereignis und ist als solches keiner Erklärung zugänglich. Im Zen würde einem solchen Beispiel wieder eine Frage entsprechen wie: »Für wen sind drei Äpfel zum Essen da?« Das aus Eckharts Interpretation abgeleitete, genauer gesagt: entworfene Frage-Erwiderungs-Ereignis: »Was ist Gott?« – »Drei Äpfel«, steht neben dem oben erwähnten Zen-Beispiel aus dem Bi-yän-lu: »Was ist der Buddha?« – »Drei Pfund Hanf«. Handelt es sich bei diesen zwei Beispielen um das Gleiche oder um Verschiedenes?

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10 Wer und was bin ich? Phänomenologie des Selbst in der Perspektive des Zen-Buddhismus 1

Zusammenfassende Wiederholung im Grundriss I Im Zen-Buddhisms kommt es darauf an, zur Wahrheit des Selbst zu erwachen und das wahre Selbst zu realisieren. Unter dem wahren Selbst versteht der Zen-Buddhismus das selbst-lose Selbst. Hierfür gibt es eine anschauliche Illustration in einer Bildertriade, die aus drei verschiedenen, sehr einfachen Bildern besteht. Ich meine die letzten drei Bilder einer Serie von zehn Bildern, welche das Selbst-Werden des Menschen stufenweise in sieben Stationen und dann die erreichte Vollkommenheit des Selbst in drei Modi darstellt. Es handelt sich um eine Art Selbst-Beschreibung des Selbst, wie das Selbst sich jeweils erscheint und wie das Selbst aufgrund seiner Selbst-Erscheinung zu dem wahren Selbst fortbewegt wird. Man könnte beinahe von einer Phänomenologie des Selbst sprechen. Charakteristisch ist dabei für den Zen-Buddhismus, dass der betreffende Text von der »Sprache« dreier Qualitäten oder Dimensionen Gebrauch macht. Zu jeder Station nämlich gehört als erste Sprache eine Zeichnung, also Bildersprache. Der Erklärung dient ein Gedicht, also dichterische Wortsprache. Die zweite Sprache ist also die dichterische. Drittens folgt ein kurzes Vorwort in quasi erklärender Begriffssprache. Wir sehen hier eine sprachlich dreidimensionale Beschreibung bzw. eine Beschreibung in dreierlei sprachlichen Horizonten, die der Sache entsprechen sollte: von einem Urereignis über dichterische Selbstgewahrnis zu einem sprachlichen Selbstverständnis. Ursprünglich »Phänomenologie des Selbst in der Perspektive des Zen-Buddhismus«, in: Philosophie der Struktur – ›Fahrzeug‹ der Zukunft? Für Heinrich Rombach, hrsg. G. Stenger u. M. Röhrig, Freiburg/München 1996, S. 19–42.

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In unserem Zusammenhang greife ich zunächst nur die letzten drei Bilder der Serie auf. Es handelt sich um eine dreifache Erscheinung des wahren Selbst – um ein dreifaches Selbstbildnis des wahren Selbst sozusagen, in welchem zugleich der Gesamtzusammenhang des Zen konkret zum Ausdruck kommt. Es geht zwar um ein Selbstbildnis, in Wahrheit aber um ein Selbstbildnis ohne Selbst – wie unten gezeigt werden soll. Zunächst möchte ich das Ganze kurz skizzieren. Das erste Bild ist ein leerer Kreis, in welchem nichts »gezeichnet« ist, also eigentlich kein bildhaftes Bild. Das Zen spricht von der »unendlichen Weite« oder der »unendlichen Offenheit«, und die moderne japanische Philosophie übersetzt das mit »absolutes Nichts«. Es handelt sich dabei um eine Erscheinung der Selbst-losigkeit schlechthin, der Selbst-losigkeit des wahren Selbst, als ob das Selbst sagen würde: »Die unendliche Offenheit des Nichts, das bin ich, indem ich nicht ich bin.« Das zweite Bild stellt einen blühenden Baum am Fluss dar, nichts anderes und nichts weiteres. Dazu wird gesagt: »Die Blumen blühen wie sie blühen, der Fluss fließt, wie er fließt.« Es handelt sich wieder um eine Erscheinung der Selbst-losigkeit des wahren Selbst. Das Selbst würde nämlich sagen: »Der Fluss fließt, wie er fließt. Das bin ich, indem ich nicht ich bin.« Das dritte Bild stellt dar, wie ein Greis und ein Junge auf der Weltstraße mit Fischläden und Weinlokalen sich begegnen. Dies ist zum dritten Mal eine Erscheinung des wahren Selbst in der Selbst-losigkeit. Das Selbst würde nämlich sagen: »Du und ich, das bin ich, indem ich nicht ich bin.« Das sind – ganz kurz dargestellt – die drei Bilder. Unsere Frage ist nun diese: Um welche Struktur des Selbst handelt es sich in der Selbstgewahrnis, wenn diese drei Erscheinungen, d. h. die unendliche Offenheit, die Natur und das Ich-Du, in einem Zusammenhang das dreifache Selbstbildnis darstellen? Was ist das Selbst überhaupt? Warum drei Erscheinungen? Warum ist vom wahren Selbst die Rede? Um diese Problematik zunächst auf einer allgemeinen Grundlage erörtern zu können, möchte ich nun eine philosophische Prägung des Selbst heranziehen, die dem Selbstgewahrnis des Zen entspricht. Ich meine die Prägung durch Nishida Kitaro¯. Er spricht von basho-teki jiko. Das Wort jiko bedeutet »selbst, Selbst«. Basho-teki jiko besagt also »basho-haftes Selbst«. Basho, ein ziemlich schwer zu übersetzendes Wort, bedeutet ungefähr so viel wie »Ort, Raum, Welt« – oder »das, worin sich der 194 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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Mensch befindet, worin der Mensch als Mensch wohnt«, also das »wo« des Wohnens des Menschen. Basho können wir sachgemäß mit dem Wort »Welt« im Kontext von Heideggers »In-der-Welt Sein« wiedergeben. Das Selbst ist nach Nishida als solches das basho-hafte Selbst. Ich möchte ein anschauliches Beispiel für die Basho-haftigkeit des Selbst im Zen-buddhistischen Selbstgewahrnis geben: Ein Meister ist von einem Berg angesprochen und angezogen worden, hat diesen Berg als sein »basho« bestimmt und hat dort gewohnt. Auf diese Weise machte er den betreffenden Berg zu seinem »basho« der Wahrheit, ja er nannte sich mit dem Namen des betreffenden Berges und er ließ sich von den Leuten so nennen, so dass ein Mensch und ein Berg denselben Namen trugen. Wir kennen z. B. einen Großmeister der chinesischen Tang-Zeit namens »Yakusan«. »Yakusan« ist eigentlich der Name des Berges. Darin zeigt sich konkret die Basho-haftigkeit des Selbst im Zen-buddhistischen Selbstwahrnis. Einen angemessenen Zugang zum Verständnis des basho-haften Selbst zeigt Heideggers Gedanke von dem »Selbst als dem In-der-WeltSein.« Das Dasein sei als Existenzsubjekt das Selbst, in seiner fundamentalen Struktur das In-der-Welt-Sein. Nun möchten wir in der Intention Nishidas sowohl den Begriff des »Selbst« als auch den Begriff der »Welt« in einer entscheidenden Weise modifizieren. Zunächst zum Thema der »Welt«. Die Welt ist im Sinne von Heideggers Bewandtnisganzheit in ihrer Seinsweise grundsätzlich begrenzt. Da ein Zusammenhang – auch ein unübersehbar komplexer – begrenzt und in sich beschränkt ist, ist die Welt als Zusammenhang begrenzt, anders gesagt, sie ist »end-lich«. Was heißt das eigentlich? Zum Begriff der Grenze gehören Diesseits und Jenseits der Grenze. Die Grenze ist beweglich, aber nicht beliebig und nicht unbegrenzt. Be-grenzt heißt im Grenzfall: vom Jenseits der Grenze, d. h. vom Unbegrenzten be-grenzt und eben an der Grenze vom Unbegrenzten umgriffen und unter Umständen auch vom Unbegrenzten durchdrungen, ohne dass die Grenze verwischt würde. Das soll eben beim Begriff des In-der-Welt-Seins der Fall sein. Die in ihrer eigenen Erschlossenheit begrenzte Welt ist in ihrer Begrenztheit vom Unbegrenzten begrenzt, und gerade dadurch von der unendlichen Offenheit umgriffen. Das Dasein wohnt auf diese Weise in der wesenhaft begrenzten Welt, die ihrerseits von der unbegrenzten unendlichen Offenheit umgriffen und durchdrungen ist. Gerade in der Welt wohnt das Dasein also zugleich in der unendlichen Offenheit, und zwar in 195 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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der Weise des Nicht-Wohnens bzw. des Nirgends-Wohnens, »nirgends« nämlich, da die unendliche Offenheit kein bestimmbarer Ort ist. In der Welt wohnen heißt: in der Welt wohnen und zugleich in der Unendlichkeit wohnen, d. h. nirgends wohnen; in der unendlichen Offenheit wohnen, d. h. nirgends wohnen und zugleich in der Welt wohnen. »Die Welt und die unendliche Offenheit«, dies sei als eine »Doppelerschlossenheit« bezeichnet, nämlich die be-grenzte Erschlossenheit, d. h. die Welt und die un-begrenzte Erschlossenheit, d. h. die unendliche Offenheit. Wir befinden uns in der Doppelerschlossenheit. Das ist die fundamentale Struktur des menschlichen Da-Seins. In diesem Zusammenhang wollen wir eine weitere Überlegung anstellen und zwar hinsichtlich des Phänomens des »Horizontes«. Die Welt als Bedeutungszusammenhang gilt in der Philosophie oft als der Gesamthorizont des Verständnisses dessen, was dem Dasein überhaupt begegnet. In der Philosophie ist oft von der »Horizontstruktur der Erfahrung« die Rede. Dabei scheint mir in der Phänomenologie hauptsächlich dem Phänomen der Korrelativität von transzendentalem Subjekt und Horizont Aufmerksamkeit geschenkt zu werden. Nun gehört aber zum Horizont als solchem das Jenseits des Horizontes ebenso wie das Diesseits, in dem sich die betreffende Korrelativität bewegt. Das Subjekt, das Diesseits des Horizontes, und dessen Jenseits gehören zusammen. Der sichtbare Raum der Korrelativität ist umgriffen von dem unsichtbaren un-endlichen Jenseits, wobei die unsichtbare Un-endlichkeit in Wahrheit sowohl das Diesseits als auch das Jenseits umgreift. Ohne Jenseits gibt es keinen Horizont, der die Bedingung für das Verstehen dessen ist, was im Horizont auftaucht. Wir vergessen zwar zunächst zumeist das Jenseits des Horizonts, indem wir im Umgang mit den Seienden aufgehen, die am Horizont auftauchen. Dieses Vergessen geschieht im Grunde im Interesse des eigenen Ichs und bedingt eine Verschlossenheit und Verkehrtheit der Existenz. Für denjenigen aber, der sich vielleicht aufgrund eines Durchbruchs durch die Verschlossenheit, der Voraussetzung des Horizonts, nämlich des Jenseits, in seinem eigenen Dasein gewahr wird, wird das Jenseits des Horizontes immer mit dem Verständnishorizont verbunden. Er weiß dann, dass das Jenseits des Horizonts zugleich mit dem Horizont ur-gegeben ist. Das Jenseits des Horizontes wird ihm sozusagen als der andere Horizont zum Verständnishorizont hinzugefügt. Er weiß dabei zwar nicht, was jenseits des Horizonts ist. Er weiß aber, dass er nicht weiß, was jenseits des Horizonts ist. Das heißt: er weiß zugleich, dass das nicht alles ist, was er 196 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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weiß. Im Wissen dieses Nichtwissens relativiert das Nichtwissen das Wissen in der Welt, wobei sich das Nicht-Wissen seinerseits zur unbegrenzten Offenheit er-weitert: Nichts wissen, offene Weite. Im Wissen des Nichtwissens wird der Horizont in der Weise des Doppelhorizontes zwar negativ, aber doch über den Welthorizont hinaus zum Jenseits des Horizonts erweitert. In der Welt wohnend ist der Mensch auf diese Weise zugleich gelöst von der Verschlossenheit in der Welt. Als Wissender des Nichtwissens wohnt er nicht nur in der Welt seines Verständnishorizonts, sondern – aufgrund seines Nichtwissens – zugleich auch schon in der unendlichen Offenheit, woraus eine Weise der Gelassenheit des In-der-Welt-Seins entsteht. Die unendliche Offenheit jenseits des Horizonts umgreift nämlich als die unendliche Offenheit in Wahrheit auch schon das Diesseits des Horizonts. Wir erinnern uns wieder an das In-der-Doppelerschlossenheit-Sein. Mit der Doppelerschlossenheit sind nicht zwei verschiedene Welten gemeint, sondern eine be-grenzte Erschlossenheit, die als die Welt charakaterisiert ist, und die unbegrenzte Erschlossenheit, in der sich die Welt als solche befindet. Die Welt heißt ohne weiteres die Welt, die sich ihrerseits in der unendlichen Offenheit befindet. Das »wo« für das Wohnen des Menschen ist auf diese Weise ursprünglich und eigentlich ein doppeltes, wenn sich auch das Selbst meistens gegen die unendliche Offenheit verschließt. In der Doppelerschlossenheit wohnend versteht nun das Dasein ein innerweltliches Seiendes als Zeug für den jeweiligen praktischen Gebrauch, wie z. B. einen Krug, und zugleich – ich unterstreiche dieses »und zugleich« in einem gewissen Unterschied zu Heidegger – begegnet ihm dasselbe Seiende nicht mehr als innerweltliches für einen praktischen Zweck, sondern als unnennbares aus der Sinntiefe jenseits des Horizonts, die sich unendlich in die unendliche Offenheit vertiefen kann. In diese Richtung geht unsere Erfahrung, dass wir auch im alltäglichen Leben einen Gebrauchsgegenstand wie einen Krug manchmal zugleich als ein Kunstwerk erfahren. Ein innerweltliches Seiendes als Zeug gebrauchend erfährt das Selbst das betreffende Seiende zugleich aus der Ferne jenseits des Horizonts, was viel mehr ist, un-endlich mehr als zuhanden, »mehr als zuhanden«, d. h. näher. Ein modernes japanisches Gedicht lautet: »Im Gefühl, dass der Tag nah ist, an dem ich irgendwo hingehe, stehen mir die Dinge der Welt näher und vertrauter.« Die Dichterin wohnt nämlich in der Welt und zugleich schon »irgendwo«, wohin sie sterbend geht, und zwar in der 197 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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Seinsweise des »Gefühls« der konkreten »Befindlichkeit«, um mit Heidegger zu sprechen. (Dagegen reicht das Verstehen nicht bis zum »irgendwo«.) In der Doppelerschlossenheit für das Wohnen sind die Dinge der Welt, die sonst Zuhandene sind, der Dichterin nun näher, d. h. näher als »zuhanden« und vertrauter als Verwandte. Auch in der Perspektive der Doppelerschlossenheit bleibt die Welt als solche die Offenbarkeitsdimension für Seiendes, wobei sich aber die Welt ihrerseits, wie gesagt, in der unendlichen Offenheit befindet. Diese unsichtbare Doppelheit der Welt spiegelt sich dem in der Doppelerschlossenheit befindlichen in der Welt und bereitet oder schenkt der Welt eine unendliche Tiefe, wie dies an dem sogenannten heiligen Ort bzw. an der heiligen Zeit innerhalb unserer zeit-räumlichen Welt erfahrbar ist, allerdings nur unter der Bedingung, dass das Gefühl dafür geweckt wird. In der Welt, d. h. zugleich außerhalb der Welt in der unendlichen Offenheit, gehören die Offenbarkeit und die Verborgenheit so zusammen, dass die Verborgenheit als verborgene zwar offenbar ist, gerade dadurch aber ungründig verborgen bleibt. Wenn die Welt auf diese Weise in der unsichtbaren Doppelheit genommen wird, wenn der Welthorizont in eins mit dem unsichtbaren Jenseits des Horizonts genommen wird, dann würde die Welt mit dem Horizontcharakter nicht einer nur die Welt der Menschen betreffenden Verschlossenheit verfallen, auch wenn die Welt als Offenbarkeitshorizont für das Seiende irgendwie von einer menschlichen Leistung konstituiert worden ist. Oben haben wir versucht, die Basho-haftigkeit des Selbst anhand des Weltphänomens zu erklären. Nun wollen wir dies anhand der Perspektive der Selbst-heit zeigen. Das Dasein existiert als Selbst. Das Selbst erweist sich nun dem In-der-Doppelerschlossenheit-Sein entsprechend als das selbst-lose Selbst, da das Selbst sich in der unendlichen Offenheit nur selbst-los »hingehend« befindet. Das Dasein befindet sich und wohnt als das selbst-lose Selbst in der Doppelerschlossenheit, d. h. in der Welt/unbegrenzten Offenheit, verkürzt: Welt/Offenheit. Das selbst-lose Selbst kann nicht eine in sich beharrende substanzartige Identität mit sich in sich sein, sondern ereignet sich als Bewegung aus sich selbst heraus zu sich selbst zurück. Die Doppelerschlossenheit (Welt/Offenheit) gehört dabei zu dem selbst-losen Selbst als das Basho für die Bewegung aus sich heraus zu sich zurück, während umgekehrt das Selbst, selbst-los geöffnet, zu demselben Basho gehört. Die betreffende Bewegung des selbst-losen Selbst wird oft mit 198 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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dem Symbol »Tod und Auferstehung« zur Darstellung gebracht. Diese Bewegung ist nichts anderes als die ursprünglichste Freiheit des Selbst, nämlich die Freiheit von sich selbst und Freiheit zu sich selbst, also Freiheit von sich zu sich. In dieser Bewegung aus sich heraus zu sich zurück ist die Identität mit sich zwar als ein wesenhaftes Moment enthalten, aber nur in der Spannung zur Negation der Identität mit sich um der Selbst-losigkeit willen. Es geht also um die Identität mit sich und die Negation der Identität mit sich in gegenseitiger Zusammengehörigkeit. Das wahre Selbst, d. h. das selbst-lose Selbst würde sagen: »Ich bin, indem ich nicht ich bin, ich«. Also doch, ich bin ich. Aber erst aufgrund eines Schnittes mit der Offenheit durch sich selbst hindurch bzw. aufgrund einer großen Reise sozusagen aus sich heraus zu sich zurück, wobei die genannte Doppelerschlossenheit den Ur-Raum der Reise bereitet. Nun wollen wir zum Thema des dreifachen Selbstbildnisses zurückkommen. Das selbst-lose Selbst erscheint dreifach: nämlich erstens als das unendliche Nichts in der Selbst-losigkeit schlechthin, zweitens als die Natur in einer Wirklichkeit der Selbst-losigkeit und drittens als Ich-Du in der Selbst-losigkeit des Selbst. Jedes Bild des basho-haften Selbst zeigt dabei doppeltes in einem: ein jeweiliges »wo« für das Selbst und in eins damit eine jeweilige Weise des Selbst, das selbst-los zu dem jeweiligen »wo« geöffnet und offen ist. Ein dreifaches »wo« für das Selbst und in eins damit entsprechend eine dreifache Weise des Selbst. Diese doppelte Drei-heit gehört zur Ek-sistenzweise des selbst-losen Selbst. Nun wollen wir einige weitere Erklärungen zu jedem Bild versuchen, und zwar in Hinsicht auf den beweglichen Zusammenhang der drei Bilder untereinander. Im ersten Bild, dem leeren Kreis, in dem nichts gezeichnet ist, zeigt sich das Selbst als das unendliche Nichts, zu dem es selbst-los durch das »große Sterben« ent-worden ist, das es überhaupt erst zur unendlichen Offenheit hin und als diese geöffnet hat. Es ist dabei aber in Wahrheit nicht so, dass das Selbst sich erst zur Offenheit geöffnet hätte, sondern es ist ursprünglich und eigentlich die Offenheit, die das Selbst selbst-los als das In-der-Doppelerschlossenheit-Sein möglich macht, während das Selbst seinerseits meistens sich verkehrt und verschlossen hat. »Durch das Nichts zur Offenheit geöffnet« im ersten Bild gilt also als ein sprunghaftes Zurück zur ursprünglichen Offenheit des Nichts und ein neues Auferstehen aus dem Nichts. Das »Nichts« im genuin buddhistischen Sinne ist nicht eine »Minus-Substanz«, son199 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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dern eine ent-substantialisierende Dynamik in der Weise des Nichts des Nichts. Mit diesem unendlichen Nichts ereignet sich nämlich eine Grundwendung wie bei Tod und Auferstehung. So kommen wir zum zweiten Bild, welches nichts anderes als einen blühenden Baum am Fluss darstellt. Es handelt sich nicht um eine äußere Landschaft, auch nicht um einen metaphorischen Ausdruck des inneren Seelenzustandes. Da im unendlichen Nichts der Dualismus in jeglicher Form einmal durchbrochen wurde, ist hier bei der Auferstehung aus dem Nichts ein blühender Baum am Fluss unmittelbar eine ungegenständliche konkrete Verkörperung der Selbstlosigkeit des wahren Selbst. Das Fließen des Flusses, das Blühen der Blumen, das ist dabei zugleich ein Spielen der selbst-losen Freiheit des Selbst. Aufgrund der die Selbst-losigkeit bewahrenden Verkörperungsrealität der Natur kommt nun im dritten Bild das selbst-lose »Selbst« zum Vorschein. Das Bild zeigt, wie sich ein Greis und ein Junge in der Welt begegnen. »Ein Greis und ein Junge«, das ist nun nichts anderes als die selbst-lose Selbstentfaltung des Selbst, das hier als ein Greis dargestellt ist. Das Selbst ist von dem absoluten Nichts selbst-los aufgeschnitten und so zu einem Doppelselbst geworden, wofür das Zwischen des Ich-Du nichts anderes als der eigene Spielraum des selbstlosen Selbst (im Bild als ein Greis dargestellt) ist. Das Befinden des Anderen wird jetzt dem Selbst in seiner Selbst-losigkeit ein eigenes Anliegen. In der Begegnung fragt der Greis den Jungen um dessen wahren Selbstes willen z. B.: »Siehst du die Blumen da blühen, wie sie blühen?« »Woher kommst du?« Oder »Wer bist du?« – um einige Beispiele aus der Geschichte des Zen zu nennen. Dadurch wird bei dem Anderen, dem Jungen, im gespannnten Zwischen des Ich-Du die Frage nach dessen wahrem Selbst geweckt: Woher, aus welcher Existenzheimat, aus welchem Grund bin ich eigentlich? Der Junge fängt an, selber auf dem Weg des Selbst zum Selbst zu wandeln. Auf diese Weise ereignet sich zwischen dem Greis und dem Jungen eine Überlieferung des Selbst vom Selbst zum Selbst. Diese drei Bilder durchdringen sich gegenseitig und zeigen in einem Zusammenhang die Bewegung des selbst-losen Selbst, die einen unsichtbaren Ex-sistenzkreis von Nichts-Natur-»Ich-Du« zeichnet. Sowohl ins Nichts spurlos ent-werdend wie beim Blühen der Blumen selbst-los mitblühend wie auch bei der Begegnung mit dem Anderen im Gegenüber sein anderes Selbst selbstständig selbst-los erkennend. 200 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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Dabei können die drei Erscheinungen vergegenständlicht werden wie in diesen drei Bildern. Die Bewegung als solche, auf die es eigentlich ankommt, ist nicht bildhaft fixierbar. Also wieder das absolute Nichts. Wenn im Zen von dem absoluten unendlichen Nichts die Rede ist, so ist dieser gesamte bewegliche Zusammenhang gemeint, wobei das unendliche Nichts als das Bewegende der Bewegung gilt. Die drei Bilder zeigen die dreifache Erscheinung des selbst-losen Selbst. Da sich dieses als das basho-hafte Selbst dem Raum des Wohnens, dem Raum der Bewegung vollkommen aufgeschlossen hat, so stellen die drei »wo« das Selbst dar. In dieser Hinsicht erklärt sich die betreffende Bildertriade wie folgt: Das erste Bild zeigt die äußerste form-lose Form der unendlichen Offenheit bzw. des unendlichen Nichts, »wo« das Selbst selbst-los hingeht. Das zweite Bild zeigt die Naturwelt, »wo« die Blumen blühen, wie sie blühen, der Fluss fließt, wie er fließt. Es geht dann um eine Konkretion der Offenheit in die Natürlichkeit, »wo« das Selbst als das Nichts aus dem Nichts aufersteht und in seiner selbst-losen Natürlichkeit mit den Blumen mitblüht. Das dritte zeigt die zwischenmenschlich dialogische Welt, »wo« sich das Selbst selbst-los zum Ich-Du als Doppelselbst aufschließt. Also: die unendliche Offenheit des absoluten Nichts, die Naturwelt in der selbstlosen Natürlichkeit und die zwischenmenschliche Welt des Doppelselbst. Wenn wir diese drei Bilder einzeln nehmen wollen, so scheint das erste Bild für die Transzendenz zu stehen, das zweite Bild für die Natur, das dritte für die Interpersonalität in der Zwischenmenschlichkeit. Dann können wir zu jedem Bild je eine Entsprechung innerhalb der europäischen Geistesgeschichte finden. Dem ersten Bild entspricht das Nichts der Gottheit bei Meister Eckhart in seinen Deutschen Predigten. Dem zweiten ein Gedichtspruch von Angelus Silesius, der lautet: »Die Ros ist ohn warum. Sie blühet, weil sie blühet«. Dem dritten das »Ich und Du« bei Martin Buber. Nur ist für die Selbstgewahrnis des Menschen, wie sie im Zen-Buddhismus geschieht, gerade der bewegliche Zusammenhang dreier Zu- und Ineinander sehr charakteristisch und von entscheidender Bedeutung. Wir haben oben wiederholt vom wahren Selbst gesprochen. Warum aber ist vom »wahren« Selbst in betonter Weise die Rede? Weil wir zunächst und zumeist in eine Verkehrtheit des Selbst geraten sind, aus der wir unbedingt umzukehren haben. Das wahre Selbst ist oben 201 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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als die Bewegung aus sich heraus zu sich zurück dargestellt. Eine Fehlentwicklung dieses »aus sich zu sich« kann dazu führen, dass »sich« und »sich« aneinander kleben, so dass aus dem selbst-losen Selbst das in sich geschlossene Selbst ent-steht. Dieses Selbst sagt ebenfalls »Ich bin ich«, aber jetzt nicht mehr aufgrund der selbst-losen Bewegung, sondern »Ich bin ich, denn ich bin ich«. Das »Ich« ist nicht mehr dadurch aufgeschnitten, dass ich nicht ich bin. Dieses in sich geschlossene Ich, das selbstsubstantialisierende Sich-selbst-Ergreifen, kurz, das Ichbin-ich, ist eine Grundverkehrung des ursprünglichen selbst-losen Selbst. In diesem »Ich-bin-ich« sieht der Buddhismus den Grund allen Unheils für die Menschen. Dies gilt sowohl für den einzelnen wie für die Menschen untereinander und auch für alles Seiende, welches der Ich-Mensch, einzeln wie im Kollektiv, für sich ergreift. Dieses Ich-binich bewirkt die sogenannte dreifache Vergiftung des Ich, nämlich Blindheit gegen sich selbst, Hass gegen den Anderen und Habgier. Dabei ist das Ich zugleich Ursache und Opfer dieses Giftes. Es handelt sich also um eine existentielle Selbstvergiftung, die auch die Anderen quält. In der eigenen Blindheit also die anderen Menschen hassen im Kampf um den Besitz der Natur und der Dinge, das ist der Grundmodus des menschlichen Unheils, das überall Unheil stiftet. So steht es mit der verkehrten Bewegung des selbstischen Selbst. Es kommt dem Buddhismus also wesentlich auf eine Umkehrung der Verkehrtheit an, auf die Auflösung des geschlossenen Ich um des wahren Selbst willen und zugleich um der Anderen und der Natur willen. Ist es aber für das geschlossene Ich überhaupt möglich, sich zur Umkehrung »auflösen« zu lassen? Es ist möglich, es sollte möglich sein, wenn ein Weg zum wahren Selbst erschlossen ist, und wenn wir selber den Weg wirklich wandeln. Der Weg zum wahren Selbst kann nur vom wahren Selbst erschlossen werden, das selber als eine Bewegung einen Weg geht und auf diesem wandelt. Der Weg, wie er von einem wahren Selbst durch seine Bewegung aus sich heraus zu sich zurück erschlossen ist, ist als der Weg des wahren Selbst erst der Weg zu dem wahren Selbst für uns. Zu der inneren Struktur des beweglichen Selbst gehört sowohl das Sichverkehren als auch dessen Umkehr. Für diesen Weg bietet der Zen-Buddhismus einen konkreten leibhaftigen Weg mit dreifacher Übung an. Erstens das sogenannte Zazen, »die Übung der Gelassenheit in und durch Stillsitzen«. Es geht im Grunde darum, sich von der unendlichen Offenheit für die unendliche 202 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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Offenheit aufschneiden und öffnen zu lassen. Zweitens Samu, »Dienst tun«, praktische Feld- bzw. Gartenarbeit, und Angya, »Wandern in der Natur«. Bei Samu und Angya geht es um die Übung in der und durch die Natur, um sich an der Natur mit der Natur vertraut zu machen und dadurch die eigene Natürlichkeit zu realisieren. Sanzen bedeutet »Frage-Erwiderung« in der Zwiesprache und Auseinandersetzung mit dem Meister. Es geht um die Übung des Doppelselbst in der Begegnung mit dem Anderen, um die dynamische Bewegung des selbst-losen Selbst im Zwischen des Doppelselbst. Die genannten drei Übungsweisen entsprechen, wie es schon ersichtlich sein mag, den drei wesenhaften Erscheinungen des wahren Selbst in seinem dreifachen Selbstbildnis. Deswegen ist die betreffende Übung in dreifacher Weise der Weg zu dem wahren Selbst, und zwar als der Weg des wahren Selbst. So ist die Übung als leibhaftes »auf dem Weg sein, des Weges wandern« schon die konkrete Bewegung des wahren Selbst. Soweit nun der Weg, den uns der Zen-Buddhismus anbietet. Ein Weg ist aber nur für denjenigen wirklich ein Weg, der ihn selber wandelt. Dieser Weg des Selbst ist nur für denjenigen von Bedeutung, der an seinem geschlossenen Ich selbst gelitten hat und mit allen seinen Bestrebungen und Versuchen doch an der Befreiung von seinem Ichbin-Ich gescheitert ist. Der Weg zwingt nicht, ist aber erschlossen und einladend offen. Ob einer wirklich den Weg wandelt, das hängt zunächst davon ab, ob er den Weg wandeln will. In diesem Zusammenhang wäre zu fragen, ob nicht ein eigener Willensentschluss notwendig ist, um sich auf den Weg zu machen, ob einer nicht vor allem selber den Weg wandeln wollen muss? Zunächst ja, der Betreffende muss sich selber entschließen, aber sogleich ist hinzuzufügen, dass es auf dem Weg eigentlich gerade auf die Überwindung des Willensprinzips ankommt. Der Entschluss, den Weg zu gehen, müsste in diesem Fall dann heißen: Willensentschluss zur Überwindung des Willensprinzips. Das scheint ein unmögliches Unterfangen zu sein. Wie ist es dennoch möglich? Dazu gibt gerade die betreffende Übung des Wegs ein mögliches Modell, und zwar insofern als in der genannten Übungsweise des Wegs zwei gegensätzliche, notwendige Momente in Verbindung gebracht sind. Nämlich der Entschluss zur Überwindung des Willensprinzips und zugleich die Gelassenheit, die auch den Willen zur Überwindung des Willens lassen lässt. Kurz und formal gesagt, es ist der eigene Entschluss notwendig, 203 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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den Weg zu wandeln, den Weg nämlich, der dann in die Gelassenheit führt. Im ersten Teil haben wir das Selbst anhand der Bildertriade in einem kleinen Zen-Text erhellt. Im Rückblick darauf sei hier eine Erklärung zum Sprachgebrauch von »Selbst« ergänzt. In einer Hinsicht können wir unter dem »Selbst« dasjenige (denjenigen) verstehen, das (der) sagt: »Ich bin ich«. Wer »Ich bin ich« sagt, der sei als das »Selbst« bezeichnet. Das Selbst in diesem Zusammenhang ist nicht ohne weiteres identisch mit dem »ich« in der Aussage »ich bin ich«, obgleich manchmal in der philosophischen Reflexion dieses »ich« zu jenem »Selbst« rückübertragen wird, und obgleich das Selbst auf diese Weise als »Ich« im sog. »transzendentalen« Sinn verstanden ist. Das »Selbst« ist mehr als »ich« und viel bescheidener als das »ich«, so konnte man sagen. Das »Selbst« ist mehr als »ich«, da es zugleich der Grund dafür ist, sagen zu können: »Ich bin ich«. Der Grund liegt dabei nicht nur in einer Vergegenständlichung des »Selbst«, sondern in der Selbstnegation »auf Un-grund« des absoluten Nichts, die erst eine un-endliche Entfernung von sich selbst öffnet, die dann ihrerseits die Vergegenständlichung des »Selbst« ermöglicht. So artikuliert sich das volle Selbstgewahrnis des Selbst, wie oben einmal formuliert: »Ich bin, indem ich nicht ich bin, ich.« Und dies geschieht gerade auf Un-Grund eines »Grundes«: »Indem ich nicht ich bin«. So ist das Selbst in einer Offenheit ek-statisch mit der Natur und den Mitmenschen verbunden. Das Selbst ist also mehr als »ich«. Zugleich ist das Selbst aber viel bescheidener als das Ich, da die Selbstnegation (»indem ich nicht ich bin«) dem Selbst wesenhaft ist.

II Im zweiten Teil wollen wir jeweils das Hauptthema der drei Erscheinungsbereiche des selbst-losen Selbst aufnehmen und zur Erhellung jeweils im Vergleich mit einem naheliegenden Gedanken der europäischen Geistesgeschichte näher erörtern. Zunächst zum Thema der »unendlichen Offenheit des absoluten Nichts« im ersten bild-losen Bild im Vergleich zu dem »Nichts der Gottheit« bei Meister Eckhart. Zum zweiten das Thema der Natur im zweiten Bild im Vergleich mit der »Rose ohne warum« bei Angelus Silesius. Zum dritten das Thema des

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Doppel-Selbst im dritten Bild im Vergleich mit dem »Ich und Du« bei Martin Buber. 1) Das Nichts meldet sich in radikaler Weise wenigstens zweimal in der europäischen Geistesgeschichte, nämlich bei Nietzsches »radikalem Nihilismus« und in dem »Durchbruch zum Nichts der Gottheit« bei Eckhart. Der Zen-Buddhismus sieht dabei im »Nichts« Eckharts eine mögliche Auflösung des »Nichts« des Nihilismus, dem die letzte Antwort auf das »warum« fehlt. Er sieht im »ohne Warum« des Lebens bei Eckhart eine mögliche Überwindung des »ohne Warum« des Nihilismus. Der Zen-Buddhismus sieht in der Gelassenheit im Nichts eine mögliche Überwindung der Verlassenheit im Nichts. Das »Nichts« bei Eckhart steht dem einfachen, unendlichen Nichts des Zen sehr nahe. Gerade dabei tritt aber ein feiner, aber entscheidender Unterschied in Erscheinung. Eckhart sagt: Gott ist (in sich selbst bzw. in seinem Wesen) ein Nichts. Dieses Nichts ist durch den Durchbruch im Grund der Seele gegenwärtig, wo diese auch eigentlich ein Nichts ist. Gott ist ein Nichts. Die Seele ist ein Nichts. Dabei soll es sich um ein und dasselbe Nichts handeln, das im Durchbruch realisiert wird. So hätte Eckhart auch von dem einfachen absoluten Nichts sprechen können, in dem weder Gott noch eine Seele ist. Er bleibt aber dabei, zu sagen: Gott ist in sich selbst ein Nichts; die Seele ist im Seelengrund ein Nichts. Dabei mag Eckhart selber für dieses »bleiben« erfahrungsmäßig-religiös wie auch christlich-theologisch seinen eigenen Grund gehabt haben. Eckhart sagt: Gott lassen um Gottes willen. Die Seele soll Gott lassen, und zwar um Gottes willen. Eckhart sagt: Gott wird und entwird. Dabei nennt er das Nichts, in das Gott ent-wird »Gottheit«. Das besagt, dass er das Nichts von Gott her als dessen Grund erfährt, obgleich das Nichts, so müsste es eigentlich sein, als solches eine Stellung nicht mehr bestehen lässt, von Gott her das Nichts als Gottheit zu bestimmen, da die bestimmende Seele dabei im Seelengrund auch ein Nichts ist. Eckhart sagt aber nicht einfach: das Nichts, sondern: Gott ist ein Nichts. Wenn es so heißt, dann richtet sich also die radikale Negation, die im »nichts« zum Ausdruck kommt, auf den Menschen, der Gott bestimmen will. »Gott ist ein Nichts«, ein Nichts nämlich für die menschliche Fassung. Das »Gott-ist« ist ein unantastbarer Grundsatz. Nur ist es so, dass das Sein Gottes so lauter ist, dass es über jede Bestimmung erhaben ist und eben daher für den Menschen ein Nichts. Das Nichts ist in diesem Fall ein Inbegriff der Negation aller möglichen 205 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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prädikativen Bezeichnungen. In einem radikalen Vollzug der »negativen Theologie« heißt es bei Eckhart: Gott ist ein Nichts. Das heißt: Gott »ist« (Gott ist das Sein selbst), und zwar als ein Nichts für den Menschen. Hier waltet eine doppelte Zweiheit: »Sein und Nichts« und »Gott und Mensch«. Auch das letzte Wort Eckharts über Gott, das Eine, das »ein einic ein« ist, ist in ontologischer wie auch existentieller Zweiheit gesprochen. Dem Zen-Buddhismus würde es, zwar in einem anderen geistesgeschichtlichen Kontext, dann aber gerade darauf ankommen, auch die letzte Zweiheit zu durchbrechen, wie in dem ersten Bild zeigt, das mit dem Titel »Doppeltes Vergessen« benannt ist. Es geht dabei aber nicht um die Einheit, die ihrerseits mit der Zweiheit wieder in der Zweiheit steht, sondern um die unbegrenzte Offenheit. Deswegen heißt es im Zen einfach: das Nichts. Oben haben wir den Rahmen erkannt, in dem Eckhart vom Nichts der Gottheit spricht. Nun finden sich in seinen Deutschen Predigten doch einige Stellen, an denen er seinen eigenen Rahmen zu überschreiten scheint. Ein Beispiel: »In dem Durchbrechen aber, wo ich ledig stehe meines eigenen Willens und des Willen Gottes und aller seiner Werke und Gottes selbst, da bin ich über allen Kreaturen und bin weder Gott noch Kreatur …« 2 Im Vollzug des Durchbrechens lässt Eckhart die Seele sprechen: »Ich bin weder Gott noch Kreatur«, also einfach ein Nichts. Hier sehen wir wieder einen direkten Zugang zu dem »Nichts« des Zen-Buddhismus. Wenn das »Ich-bin« in diesem »Nichts« ent-worden ist, da »ich ein Nichts bin«, so kommen wir zu dem Nichts des ersten Bildes. Wenn dann aus dem Nichts das »Ich-bin« aufersteht, und zwar zunächst noch zu dem frischen »bin« ohne »Ich«, zu der selbst-losen Wirklichkeit des Selbst, so befinden wir uns im Bereich des zweiten Bildes. 2) Nun kommen wir zu dem Thema der Natur. Wenn man das zweite Bild gelöst von dem beweglichen Gesamtzusammenhang nimmt, so könnte man sagen, es handle sich um Natur. Dabei würde man nie zu dem Gedanken kommen, es handle sich zwar um die Natur, aber um die Natur als ein Selbstbildnis des Selbst des Menschen. Was für ein Verhältnis herrscht hier eigentlich? Das Wort »Natur« (shi-zen bzw. ji-en) als sino-japanischer Terminus des Buddhismus besagt so viel wie: »so sein, wie es von sich selbst her ist«. Diese Formulierung Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate, hg. und übers. J. Quint, München 1963, 308.

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mag wie Heideggers Terminologie entliehen erscheinen. Es ist aber nicht so, sondern wir haben damit eine fast wörtliche deutsche Übersetzung von shi »von sich selbst her« und zen »so sein«. Dieser Begriff von Natur bedeutet dann also eigentlich »so sein, wie es von sich selbst her ist«, und besagt nicht »Natur als Gegenstand«, nicht »Natur« als bestimmte Region des Seienden, sondern die Wahrheit des Seins alles Seienden, wie das Seiende in dem Sein ist. Wenn der Mensch in dem Nichts, wie es im ersten Bild zum Ausdruck kommt, also nicht vom Ich her Blumen z. B. so erfährt, wie sie von sich selbst her blühen, oder anders gesagt, wenn im Nichts des Menschen Blumen so blühen, wie sie von sich selbst her blühen, so existiert auch der Mensch in eins damit in seiner eigenen Seinswahrheit. In diesem Verhältnis liegt aufgrund der Selbst-losigkeit des Menschen eine eigentümliche Verbindung des Subjektiv-Existenziellen mit dem Objektiv-Sachlichen vor. Der sino-japanische Begriff »Natur« im buddhistischen Sinne, die »So-wie-von-sich-selbst-her-heit«, ist auch gleichbedeutend mit dem buddhistischen Bergriff der Wahrheit, mit »Tathatâ« (Sanskrit). »Tathatâ« bedeutet wörtlich übersetzt »So-heit«, »So-wie-dies-heit«, wobei dieses »so« die Unverborgenheit der Präsenz wie beim »so-ist-es« und in eins damit die uranfängliche Vergewisserung wie bei »so-ist-es« ausdrückt. Es handelt sich hier also um einen ursprünglicheren Wahrheitsbegriff noch vor der Differenz von Seinswahrheit und Satz- bzw. Erkenntniswahrheit. Diese buddhistische Bedeutung der Wahrheit erlangt die »Natur« durch eine »Einander-Durchdrungenheit« mit dem Nichts, wie dies die Zusammengehörigkeit des ersten und des zweiten Bildes oben deutlich macht. Das Einfachste artikuliert sich dann in der unendlichen Offenheit des Nichts: »Die Blumen blühen, wie sie blühen, der Fluss fließt, wie er fließt«. Um den Ort dieses Zen-Spruches im Horizont der Weltgeistesgeschichte bestimmen zu können, wollen wir jetzt zum Vergleich einen bekannten Vers von Angelus Silesius heranziehen, der eine enge Verwandschaft mit dem betreffenden Zen-Spruch aufzuweisen scheint. Bei Angelus Silesius heißt es: »Die Ros ist ohn warum. Sie blühet, weil die blühet; Sie acht nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet.« 3 Im Zen heißt es: »Die Blumen blühen, wie sie blühen.« Bei Angelus Silesius heißt es: »Die Ros ist ohn warum. Sie blühet, weil sie blühet.« Die beiden gehören fast zu einer und derselben Geisteswelt. Bei ge3

Angelus Silesius, Der Cherubinische Wandersmann, Erstes Buch, Spruch 289.

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nauerem Zuhören fühlen wir jedoch einen feinen Tonunterschied, und zwar an dem »wie« im Zen einerseits und dem »weil« bei Silesius andererseits. Um welchen Unterschied kann es sich dabei eigentlich handeln? Man könnte es wie folgt andeuten. Im Vergleich zum Zen-Spruch »blühen-wie-blühen« wird sichtbar, dass das Blühen schon von Anfang an mit dem Denken verwoben ist, nämlich durch die Denkkategorie »weil«, d. h. wie Heidegger sagt, durch »den antwortenden Hinweis auf den Grund«4 , den das Warum sucht. Es handelt sich im Grunde genommen schon um ein Gedachtes, als ob das Blühen, zugespitzt gesagt, letzlich nur im Denken erst möglich wäre. In dem Zen-Spruch »blühen-wie-blühen« blühen die Blumen noch ohne Brechung durch das denkende »warum-weil«. Mit dem »wie« spiegelt sich das Blühen nur in der Offenheit. Es geht dem Zen zwar gar nicht darum, das Denken überhaupt zu eliminieren. Es kommt aber entscheidend darauf an, wo das Denken einsetzt. Es kommt vor allem darauf an, wie das zu Denkende dem Denken gegeben wird. Ohne das Ereignis des Gegebenwerdens gibt es die Gegebenheit nicht. Das Gegebene ist zwar als Empfangenes immer schon vom Menschen, vom Denken, von der Sprache mitkonstruiert. Gibt es aber keine Rückkehr von der Gegebenheit zu dem ursprünglichen Ereignis des Gegebenwerdens? Vielleicht nicht mehr von der Gegebenheit her zurück. Aber es ereignet sich doch jeweils von neuem. Wenn Nishida von der »reinen Erfahrung« spricht und es heißt: »Im Augenblick des Sehens und des Hörens, da ist es weder Subjekt noch Objekt«, dann kommt es ihm auf das ursprünglichste Ereignis des Gegebenwerdens an. Dieses Ereignis gehört, um eine denkwürdige Wendung Heideggers zu zitieren, »gewiß nicht in das Denken, aber vielleicht vor das Denken« 5 Wenn das Denken aber von sich aus einsetzt, ohne eine Ahnung von diesem »vor« zu haben und ohne zu wissen, dass ihm das Einfache als das Unvordenkbare, d. h. zugleich als das primär und wirklich Zu-Denkende ereignishaft ur-gegeben wird, dann geht alles im Denken auf. So denkt sich das Denken allmächtig, alles als denkbar zu denken und alles im Gedachten aufgehen zu lassen. Das würde dann vielleicht zum modernen Nihilismus führen. Anders steht es mit dem Getroffensein von dem Einfachen. Der 4 5

Martin Heidegger, Der Satz vom Grund, Pfullingen 1957, 70. Ebd., 69.

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Mensch ist dabei zu Nichts geworden, wie es das erste Bild zeigt. Das ist entscheidend. In der Offenheit des Nichts heißt es dann: »Die Blumen blühen, wie sie blühen.« Der Mensch erscheint dabei nicht. Es ist aber nicht so, dass er nicht mehr da wäre. Gerade umgekehrt. Aus dem Nichts auferstanden wird gesprochen: »Die Blumen blühen, wie sie blühen.« Der Mensch ist jetzt wieder wirklich da, nämlich indem er spricht: »Die Blumen blühen, wie sie blühen.« Es ist aber wiederum nicht so, dass er dabei der Sprechende wäre. Er ist der Vollzug des Sprechens als solcher. Er ist das Sprechen selbst. In dem Gesprochenen ist keine Spur des sprechenden Menschen. Das ist die Selbst-losigkeit des Menschen. Und diese Selbst-losigkeit lässt die Blumen so blühen, wie sie blühen. Aber der Mensch ist als Sprechen eigentlich und wirklich da. Diese Art Sprache, die der Mensch nicht schon als der Sprechende, sondern selbst-los als Sprechen schlechthin spricht, so dass die Natur sich selbst spricht, wie sie von sich selbst her ist, diese Art Sprache könnte als die Sprache der Natur bezeichnet werden. Ein weiteres Beispiel für die Sprache der Natur im Zen-Spruch lautet: »Ferne Berge, grenzenlos, grün über grün.« So ist in Hinsicht darauf, wie sich die Blumen da zeigen, ein zwar sehr feiner, aber doch entscheidender Unterschied zwischen wie und weil konstatiert. Das »weil« ist schon ein Wort des Denkens, während das »wie« der Sache selbst näher ist. Es ist beinahe so, als ob sich die Blumen von sich selbst her so artikulieren, wie sie blühen. »Die Blumen blühen, wie sie blühen.« Dabei verdoppelt sich zwar das Blühen der Blumen. Es handelt sich nämlich um das Sich-Zeigen des Blühens der Blumen. Die Verdoppelung ist aber nicht vom Denken vermittelt wie beim »Blühen-weil-blühen«, sondern das Blühen der Blumen spiegelt sich einfach in der unendlichen Offenheit, so dass die betreffende Verdoppelung wieder in das Einfachste transparent zurückgezogen wird. Die unendliche Offenheit wird nicht von der menschlichen Leistung erschlossen, sondern umgekehrt gehört der Mensch selbst-los zur unendlichen Offenheit, wenn überhaupt ihm, durch ihn hindurch, die unendliche Offenheit erschlossen ist. Wo die Blumen blühen, wie sie blühen, da existiert der Mensch gelassen selbst-los in der ursprünglichen Offenheit, in die der Mensch – getroffen von der Gegenwart des Blühens der Blumen – vom Nichts geöffnet ist. Erst auf dieser Grundlage soll das Denken einsetzen, da dem Denken dann richtig das Zu-Denkende gegeben ist. Die Eigenständigkeit des Selbst stellt der Mensch nach dem Zen nicht dadurch auf die Probe, dass er von sich 209 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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selbst redet, sondern indem er eine neue, d. h. erst durch ihn erschlossene Artikulation ausspricht. Deswegen fordert der Zen-Meister einen Schüler angesichts einer gegebenen Situation heraus: »Sag ein Wort dazu!« Was dieser dazu sagen kann, als das ereignet sich dann das Selbst des betreffenden Schülers. 3) Damit befinden wir uns im Bereich des dritten Bildes und kommen zu dem Thema »Doppelselbst«, das beim Zen praktisch durch und als »Mondô«, eine Weise der Zwiesprache, vollzogen wird (mon bedeutet »Fragen« und dô heißt in diesem Zusammenhang »erwidern«). Das Leben des Zen-Buddhismus wird also als Frage-Erwiderung lebendig und ereignishaft gelebt, als ein freies, einmaliges, bewegtes Ereignis zwischen einem Lebendigen und einem Lebendigen. Das eigentliche Anliegen des Zen-Buddhismus wird nicht so sehr in der Form der Lehre dargestellt, sondern kommt primär in realen Beispielen des Mondôs zu Wort. Die Hauptschriften des Zen-Buddhismus sind meistens Sammlungen derartiger Beispiele. So wird ein und dasselbe Thema ganz anders dargestellt, je nachdem ob es von der Lehre oder von der Frage-Erwiderung her angegangen wird. Nun wollen wir der elementaren Dynamik des Doppelselbst folgen, wie sie von der Zusammengehörigkeit des ersten und des dritten Bildes dargestellt wird. Es geht um die »Ich-Du-Begegnung und Kommunikation in der un-begrenzten Offenheit bzw. auf Un-grund des absoluten Nichts«, wie es in Hinsicht auf das Problem der Interpersonalität formuliert werden könnte. Zur vergleichenden Erhellung der betreffenden Dynamik sei zunächst Martin Buber mit dem Gedanken »Ich und Du« herangezogen. Buber sieht die elementarste Tatsache des Mensch-Seins im »Ich und Du«, das aber ins »Ich und Es«, vom Ich her verkehrt werden und entarten kann, wie dies zunächst und zumeist bei uns der Fall ist. Für Buber ist der tragende Grund für das wirkliche und wahrhafte »Ich und Du« das ewige »Du« in der verlängerten Linie des einzelnen »Du«. Jedes einzelne »Du« ist nach Buber ein Durchblick auf das ewige »Du«. Ohne diese Beziehung zu dem ewigen »Du«, das seinem Wesen nach nicht »Es« werden kann, wird das »Du« vom »Ich« her zu einem »Es« umgewandelt. Das »Ich« ist nämlich in seinem Vom-Ich-aus mit seiner Ein-seitigkeit so gewaltig, dass es alles vergegenständlichen und als Gegenstand zu seinem eigenen Gebrauch konstituieren kann. Das »Ich« muss in seiner Ein-seitigkeit von einem gewaltigen, erhabenen Begegnenden gestoppt und zurückgedrängt werden, damit überhaupt 210 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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Raum für die Ich-Du-Beziehung in voller Gegenseitigkeit erschlossen werden kann. Dieses gewaltig Begegnende ist für Buber das ewige »Du«, in religiöser Sprache Gott. Es kommt auf die Überwindung des Egozentrismus mit seiner gewaltigen Ein-seitigkeit an. Um des Ich-Du willen kommt es dem Zen-Buddhismus gleichfalls auf die Überwindung des Egozentrismus an, aber in einer anderen Weise als bei Bubers »ewigem Du«. Für den Zen-Buddhismus ist das »Zwischen« als solches nichts anderes als der Ort für die Negation des Egozentrismus der beiden Partner. Im Zwischen begegnen sich die beiden Partner in gegenseitiger Hinwendung. Wobei die gegenseitige Negation der beiden, die sich als der jeweils andere begegnen, in Analogie zu dem »Durchblick« im Sinne Bubers gesprochen, ein Durchgang zu dem absoluten Nichts ist, in dem weder Ich noch Du sind, und von dem aus Ich und Du in voller Gegenseitigkeit wieder aufstehen. Es handelt sich um das un-gründige Zwischen auf Un-grund des absoluten Nichts. So sieht der Zen-Buddhismus den tragenden Grund für das Ich-Du gerade im Zwischen von Ich und Du, und zwar in jenem Zwischen, das sich in der unendlichen Offenheit des Nichts befindet, bzw. das sich durch das absolute Nichts zur un-gründigen Grundlosigkeit vertieft. Statt sich bei der Begegnung unmittelbar an den Begegnenden zu wenden, versenkt sich jeder der beiden Partner zunächst einmal selbstlos ins Nichts der un-gründigen Grund-losigkeit des Zwischen, um erst dann von der Tiefe des Nichts aufstehend auferstehend sich in das IchDu des Einander-Gegenüber einzulassen. »Ich und Du« sind dann vom Weder-Ich-noch-Du im Nichts durchdrungen und im Zwischen in die Offenheit geöffnet. Auf diese Weise wird die Ein-seitigkeit des Egozentrismus gegenseitig im Nichts aufgelöst, so dass die Kommunikation in voller Dynamik entfaltet werden kann. Die Begegnung und Kommunikation, wie sie oben strukturell abstrakt geschildert wurde, könnte an der traditionellen Begrüßungsweise unter Japanern anschaulich illustriert werden. Zwei Japaner begegnen sich auf der Straße. Zunächst machen sie eine Verbeugung voreinander, manchmal sehr tief. Erst dann richten sich von da aus auf und wenden sich zueinander hin mit der Begrüßung: »Guten Tag! Schönes Wetter, nicht wahr?« – »Ja, schön!« Das ist eine unauffällige alltägliche Szene. Es handelt sich um die gebräuchliche Form der Begegnung und Begrüßung. Eine Form ist zwar zunächst und zumeist praktisch nur eine bloße Form, ist aber nicht von Anfang an nur formal. Eine Form der Begrüßung ist ursprünglich ein elementarer Aus211 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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druck und eine Vollzugsweise der Selbstgewahrnis des Menschen in seiner wesenhaften Zwischenmenschlichkeit. So ist hier zu fragen: Welche Selbstgewahrnis des Menschen in seiner Zwischenmenschlichkeit liegt einer solchen Form der alltäglichen Begrüßung zu Grunde? Die beiden Partner verbeugen sich zunächst tief voreinander. Es geht um mehr als nur »Höflichkeit«. Statt ohne weiteres in die Ich-DuBeziehung einzutreten, geht es bei der Verbeugung nämlich darum, sich zunächst einmal in die Tiefe der Grund-losigkeit des Zwischen zu tauchen, d. h. das »ego« brechend sich selbst vor dem Anderen gegenseitig zum Nichts zu machen. Es geht also um eine Art gemeinsamer Versenkung in die Grundlosigkeit des Zwischen, um eine Ent-werdung in die Tiefe des Nichts, wo es weder »Ich« noch »Du« gibt. Dann erst richten sie sich wieder auf, d. h. erstehen vom Nichts wieder auf, wenden sich einander zu und stehen sich jetzt in einer IchDu-Beziehung einander gegenüber. Das bewirkt gleichzeitig, dass die Ich-Du-Beziehung dabei vom Weder-Ich-noch-Du im Nichts durchdrungen wird. Es ereignet sich hier eine dynamische Zusammengehörigkeit der Ich-Du-Beziehung im Zwischen und des Weder-Ich-nochDu im Nichts, welche dann von beiden Partnern je und mit vollzogen wird. Mitten im Zwischen als dem Raum des Einander-Gegenüberstehens wird vom Nichts durchdrungen eine un-endliche Offenheit erschlossen. Jeder vom »Ich-Du« hat sich nun in der absoluten Ununterschiedenheit als das Weder-Ich-noch-Du im Nichts realisiert. In diesem offenen Zwischen kann jeder auf Grund der Ununterschiedenheit einmal die ganze Ich-Du-Beziehung als sein Selbst realisieren (es handelt sich dann um die absolute Selbstständigkeit), ein anderes Mal die ganze Ich-Du-Beziehung, in die er restlos aufgeht, dem Du völlig überlassen (es handelt sich nun um die Abhängigkeit schlechthin). Auf diese Weise kann ein und derselbe Partner die ganze Beziehung einmal auf der Ich-Seite vollziehen (d. h.: »Ich und Du«, das bin Ich zur absoluten Selbstständigkeit), ein anderes Mal dieselbe Beziehung ganz der DuSeite überlassen und von ihr vollziehen lassen (d. h.: »Ich und Du«, das bist Du zu meiner absoluten Abhängigkeit). Es geht um die Gegenseitigkeit im Wechsel der Rolle des »Herrn«, wie es im Zen-Buddhismus heißt. Erst dadurch werden die beiden Partner in der Ich-Du-Beziehung sowohl absolut frei als auch einander vollkommen gleichgestellt. Sich voreinander verbeugend in das un-gründige Nichts im Zwischen und sich vom Nichts wieder aufrichtend wenden sie sich einander zu. Diese Bewegung hat verschiedene Phasen und Momente. 212 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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A) Weder »Ich« noch »Du« im Nichts, im Ungrund des Zwischen. B) Ich-Du-Beziehung im Zwischen, und in dieser wiederum a) relatives Einandergegenüber als »Ich« und »Du« auf der Beziehungsebene und b) Zusammengehörigkeit der absoluten Selbstständigkeit und der absoluten Abhängigkeit in der von dem Nichts durchdrungenen Beziehung (gegenseitiger Wechsel in der Rolle des Herrn unter den beiden Partnern). Die Bewegung, die in ihren einzelnen Phasen und Momenten kompliziert erscheinen mag, aber in Wirklichkeit als Tat einfach ist, diese ganze Bewegung verwirklicht das selbst-lose Selbst in der zwischenmenschlichen Beziehung. Umgekehrt gesagt: das selbst-lose Selbst muss in der zwischenmenschlichen Beziehung die obengenannten Phasen und Momente frei durchlaufen können. Das selbst-lose Selbst ist als eine solche Bewegung weder eine immanente Identität in sich noch eine Selbstbewegung in sich. Es handelt sich um eine Bewegung aus sich heraus zu sich zurück. Aus sich heraustreten, und zwar ins Nichts und zugleich in die Beziehung zum Anderen im Einandergegenüber, diese ek-statische Bewegung gehört zur inneren Struktur des Selbst. Bezeichnet man diese Struktur des Selbst mit dem Terminus »Ek-sistenz«, so ist der Andere im Gegenüber nicht nur der Andere, sondern auch gerade in seiner Andersheit die Verleiblichung der »Ek«-heit der Ek-sistenz, der Außer-sich-heit des selbst-losen Selbst. Das Selbst und der Andere im Gegenüber, vom Nichts aufgeschnitten und geöffnet, fügen sich gegenseitig zusammen, so dass die beiden ineinandergefügt nun »weder zwei noch eins« sind. Das Ich und das Du sind dann zwei entgegengesetzte polare Perspektiven. Ich bin »Ich und Du«. Das gilt umgekehrt auch vom Du aus. Dieses bewegliche Verhältnis ist aber, wie oben gezeigt, erst möglich auf Ungrund des Zwischen, auf Grund des Nichts, in das jeder Partner bei der Begegnung ent-wird und aus dem jeder zur Kommunikation wieder aufsteht. So ist das betreffende Verhältnis kein ruhender Zustand, sondern jeweils ein Ereignis, das jedesmal nur konkret in der Begegnung und Kommunikation vollzogen und bewährt werden muss. Zwei Menschen begegnen sich auf der Straße. Sie verbeugen sich voreinander im Zwischen, in die Tiefe des un-gründigen Nichts im Zwischen, wo weder Ich noch Du ist (nichts anderes als das Thema unseres ersten Bildes), und von da aus dann sich aufrichtend und zueinander hinwendend (nichts anderes als das Thema unseres dritten Bildes) begrüßen sie sich: »Guten Tag! Schönes Wetter, nicht wahr!« – »Ja, schön!« (nichts anderes als das Thema unseres zweiten Bildes). 213 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

Wer und was bin ich?

Die Begrüßung ist also nicht nur ein Modell zur Illustration für die ek-sistierende Bewegung des selbst-losen Selbst, sondern auch im Grunde genommen schon eine wirkliche Vollzugsweise des selbst-losen Selbst. Es herrscht hier also die Ununterschiedenheit des Religiösen und Alltäglichen, auf die es dem Zen-Buddhismus ankommt. In diesem Zusammenhang spricht Nishida von dem »Ganzselbst«. Es ist für das Ganzselbst schon eine entscheidende Existenz-(Ek-sistenz)-Frage, ob es in Wirklichkeit und Wahrheit einen begegnenden Partner so grüßen kann. Seine »Religiosität« bewährt sich dabei restlos. In dieser Hinsicht ist es sehr bezeichnend, dass es in den drei Bildern des selbstlosen Selbst kein Zeichen für das Religiöse gibt. Man könnte beinah in Analogie zu Kierkegaards »Religiosität B« im Unterschied zu »Religiosität A« von der Alltäglichkeit B sprechen. »Mensch und Transzendenz«, »Mensch und Natur«, »Mensch und Mensch« – wenn man diese drei Themen so formuliert, dann scheint es sich um drei allgemeine Grundthemen der Menschheit zu handeln. Daran orientiert könnte man die Züge der Selbstgewahrnis des Selbst, wie dies in dem dreifachen Selbstbildnis des Zen-Buddhismus erscheint, zusammenfassend wie folgt charakterisieren. 1) Jeweils nicht zwei verschiedene Größen wie z.B. »Mensch« und »Transzendenz«, sondern jeweils eine ek-statische Ganzheit des selbst-losen Selbst auf Un-grund der Selbst-losigkeit. 2) »Mensch und Transzendenz«, »Mensch und Natur«, »Mensch und Mensch« – diese drei Themen sind nicht einzeln getrennt, sondern bilden einen zusammenhängenden Themenkreis, der als solcher erst die Dynamik des selbst-losen Selbst ausmacht: Selbst-losigkeit schlechthin / die Wirklichkeit der Selbst-losigkeit des Selbst / Doppelselbst als Wirklichkeit des Selbst in der Selbst-losigkeit. Das selbst-lose Selbst in diesem Kreiszusammenhang, das in der Wahrheit nichts anderes als das Selbst ist, sagt: »Ich bin, indem ich nicht ich bin, ich.« Dabei ist das Selbst durch das »indem-ich-nicht-ichbin« in der un-endlichen Offenheit des Nichts mit der Natur und mit dem Anderen wesenhaft verbunden. Nun passiert zunächst und zumeist, dass das Selbst selber von der Ich-Aussage ergriffen wird, da ich jetzt ich bin, und zwar in Vergessenheit des »indem-ich-nicht-ichbin«. So entsteht das Selbst als Ich-bin-ich. Formal gilt dann bei diesem geschlossenen Selbst auch das »indem-ich-nicht-ich-bin«, doch in verkehrter Weise, d. h. »indem ich nicht wahrhaft ich bin«. Das ist nichts 214 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

Wer und was bin ich?

anderes als der lautlose Rückruf zu dem ursprünglichen eigentlichen selbst-losen Selbst, das dann ruft. Dieses Selbst-Verhältnis von der Verkehrtheit und der Umkehrung gehört zu der inneren Dynamik des selbst-losen Selbst als Bewegung. Diese Dynamik des Selbst stellen die zehn Stationen der sogenannten »Zehn Ochsenbilder« dar. Die letzten drei Bilder davon haben wir oben eingehend betrachtet.

215 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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Nachwort

Neun Aufsätze dieses Buches sind aus Vorträgen bei verschiedenen Gelegenheiten hervorgegangen und stilistisch und inhaltlich überbearbeitet worden. Fünf Texte waren ursprünglich Vorträge bei Eranos-Tagungen in Ascona/Schweiz: Kapitel 1 »Leere und Fülle – S´u¯nyata¯ im Maha¯ya¯na-Buddhismus« (Eranos-Tagung 1976), Kapitel 2 »Die zenbuddhistische Erfahrung des Schönen« (Eranos-Tagung 1984, »Die Zen-buddhistische Erfahrung des Wahr-Schönen«), Kapitel 3 »Das Inder-Doppelwelt-Wohnen« (Eranos-Tagung 1987, »Der Ort des Menschen im Nô-Spiel«), Kapitel 4 »Was ist Zen?« (erste Hälfte des Vortrages der Eranos-Tagung 1981, »Die Bewegung nach oben und die Bewegung nach unten«) und Kapitel 7 »Schweigen und Sprechen im Zen-Buddhismus« (Eranos-Tagung 1993). Kapitel 5 »Der Tod im ZenBuddhismus« ist unter dem Titel »Hermeneutik des Weges durch den Tod« ursprünglich für den Sammelband Im Tod gewinnt der Mensch sein Selbst (1995) verfasst worden. Kapitel 6 »Erfahrung und Sprache« ist ein Beitrag mit dem Titel »›Glaube und Mystik‹ am Problem ›Erfahrung und Sprache‹« zu dem Sammelband Homo Medietas (1999). Kapitel 9 »Meister Eckhart und Zen« ist ursprünglich unter dem Titel »Zen-Buddhismus und Meister Eckhart« in Zen Buddhism Today (1984) erschienen. Kapitel 10 »Phänomenologie des Selbst« war ursprünglich ein Beitrag zu dem Sammelband Philosophie der Struktur – ›Fahrzeug der Zukunft?‹ (1996). Kapitel 8 »Das Reale bzw. A-Reale im Sprechen des Zen« ist eigens für dieses Buch geschrieben und gilt dem Verfasser als inhaltlicher Kern des Ganzen. Der Verfasser möchte seine dankbare Verbundenheit mit Lehrern und Stiftungen zum Ausdruck bringen. Der Alexander von HumboldtStiftung in Bonn und der Eranos-Stiftung in Ascona-Schweiz sagt er herzlichen Dank für Studien- und Forschungsaufenthalte und mehrere Vortragsreisen. Für langjährige freundliche Führung und Unterstützung ist der Verfasser seinen deutschen Lehrern sehr dankbar, ins217 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

Nachwort

besondere Ernst Benz (Marburg, Kirchengeschichte und Theologie der Religionen), Otto Friedrich Bollnow (Tübingen, Philosophie und philosophische Anthropologie) und Bernhard Welte (Freiburg i. Br., Religionsphilosophie in Grenzbereich von Philosophie und Theologie). Seinem japanischen Lehrer Keiji Nishitani (1900–1991), der die Studien und Arbeiten des Verfassers beinahe sechzig Jahre lang begleitet und unterstützt hat, verdankt er sein ganzes Leben in und mit dem Denken. Nicht zuletzt möchte der Verfasser Volker Beeh (Düsseldorf, Logik und Philosophie) herzlichen Dank für Hilfe und Unterstützung bei der Verwirklichung dieses Buchs zum Ausdruck bringen. Insbesondere möchte er ihm für sorgfältige Vorschläge zu stilistischen Verbesserung bei der Bearbeitung und Vermehrung der älteren Texte herzlich danken. Der Verfasser ist seit etwa dreißig Jahren mit Volker Beeh befreundet, seitdem dieser seinerzeit als Lehrer für Deutsch an der Universität Kyôto tätig war.

218 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

Veröffentlichungen in deutscher Sprache

Monographie Die Gottesgeburt in der Seele und der Durchbruch zur Gottheit. Die mystische Anthropologie Meister Eckharts und ihre Konfrontation mit der Mystik des Zen-Buddhismus, Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn, Gütersloh 1965.

Aufsätze 1)

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3)

4) 5)

6)

»Der Zen-Buddhismus als ›Nicht-Mystik‹«, in: Transparente Welt. Festschrift für Jean Gebser, hrsg. G. Schulz, Bern/Stuttgart 1965, S. 291–313 »Über den Sprachgebrauch Meister Eckharts: ›Gott muß …‹. Ein Beispiel für die Gedankengänge der spekulativen Mystik«, in: Glaube, Geist, Geschichte. Festschrift für Ernst Benz, hrsg. G. Müller u. W. Zeller, Leiden 1967, S. 266–277 »Der Buddhismus und das Problem der Säkularisierung. Zur gegenwärtigen geistigen Situation Japans«, in: Hat die Religion Zukunft?, hrsg. O. Schatz, Wien/Köln 1971, S. 255–275 »Das menschliche Selbst und die Lehre von Nichts. Philosophische Aspekte«, in: Universitas 30, Oktober 1975, S. 1047–1052 »Das denkende Nicht-Denken. ›Zen und Philosophie‹ bei K. Nishida unter besonderer Berücksichtigung seiner Frühphilosophie der reinen Erfahrung«, in: Denkender Glaube. Festschrift für Carl Heinz Ratschow, hrsg. O. Kaiser, Berlin, New York 1976, S. 331– 341 »Das ›Nichts‹ bei Meister Eckhart und im Zen-Buddhismus unter besonderer Berücksichtigung des Grenzbereiches zwischen Theologie und Philosophie«, in: Transzendenz und Immanenz, hrsg. 219 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

Veröffentlichungen in deutscher Sprache

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17)

D. Papenfuß u. J. Söring, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz, 1977, S. 257–266 »Leere und Fülle. S´u¯nyata¯ im Maha¯ya¯na-Buddhismus. Einheit und Verschiedenheit«, hrsg. A. Portmann u. R. Ritsema, in: Eranos 45 (1976) 1980, S. 135–163 »Un-Grund und Interpersonalität. Zum Problem des Personengedankens im Zen-Buddhismus«, in: Religionen Geschichte Oekumene. In Memoriam Ernst Benz, hrsg. R. Flasche u. E. Geldbach, Leiden 1981, S. 205–215 »Die Bewegung nach oben und die Bewegung nach unten. ZenBuddhismus im Vergleich mit Meister Eckhart«, in: Eranos 50 (1981) 1982, S. 223–272 »Das Erwachen im Zen-Buddhismus als Wort-Ereignis«, in: Offenbarung als Heilserfahrung im Christentum, Hinduismus und Buddhismus, hrsg. W. Strolz u. S. Ueda, Freiburg i. Br. 1982, S. 209–234 »Das Gespräch und das ›Mon-Doh‹ im Zen-Buddhismus«, in: Das Gespräch als Ereignis, hrsg. E. Grassi u. H. Schmale, München 1982, S. 45–57 »Materialien zu einer Theorie des Bildes und der Ritualisierung im Zen-Buddhismus«, in: Das Gespräch als Ereignis, hrsg. E. Grassi u. H. Schmale, München 1982, S. 159–170 »Die zen-buddhistische Erfahrung des Wahr-Schönen. Die Schönheit der Dinge«, hrsg. R. Ritsema, in: Eranos 53 (1984) 1985, S. 197–240 »Zen-Buddhismus und Meister Eckhart«, in: Zen Buddhism Today. Annual Report of the Kyoto Zen Symposium 2 (1984), 91–107 »Vorüberlegungen zum Problem der All-Einheit im ZenBuddhismus«, in: All-Einheit, hrsg. D. Henrich, Stuttgart 1985, S. 136–150 »Sein-Nichts-Weltverantwortung im Zen-Buddhismus«, in: Die Verantwortung des Menschen für eine bewohnbare Welt im Christentum, Hinduismus und Buddhismus, hrsg. R. Panikkar u. W. Strolz, Freiburg/Basel/Wien 1985, S. 37–58 »Meister Eckharts Predigten. Ihre ›Wahrheit‹ und ihre geschichtliche Situation«, in: Abendländische Mystik im Mittelalter, hrsg. K. Ruh, Stuttgart 1986, S. 34–48

220 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

Veröffentlichungen in deutscher Sprache

18) »Der Ort des Menschen im Nô-Spiel, Wegkreuzungen«, hrsg. R. Ritsema, in: Eranos 56 (1987) 1989, S. 69–103 20) »Das Religionsverständnis in der Philosophie Nishida Kitaro¯s«, in: Das Gold im Wachs. Festschrift für Thomas Immoos, hrsg. E. Gössmann u. G. Zobel, München 1988, S. 513–529 21) »Eckhart und Zen am Problem ›Freiheit und Sprache‹«. in: Luther und Shinran – Eckhart und Zen, hrsg. M. Kraatz, Köln 1989, S. 21–92 (Joachim Wach-Vorlesung der Philipps-Universität Marburg III) (Beihefte der Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte XXXI) 22) »Das absolute Nichts im Zen, bei Eckhart und bei Nietzsche«, in: Die Philosophie der Kyôto-Schule. Texte und Einführung, hrsg. Ryôsuke Ohashi, Freiburg/München 1990, S. 471–502 23) »Das Problem der Sprache in Meister Eckharts Predigten«, in: Probleme philosophischer Mystik. Festschrift für Karl Albert zum siebzigsten Geburtstag, hrsg. E. Jain u. R. Margreiter, St. Augustin 1991, S. 95–108 24) »Die Gelassenheit im Zen-Buddhismus«, in: Arbeit und Gelassenheit. Zwei Grundformen des Umgangs mit Natur, hrsg. E. Grassi u. H. Schmale, München 1994, S. 207–230 25) »Hermeneutik des Weges durch den Tod«, in: Im Tod gewinnt der Mensch sein Selbst. Das Phänomen des Todes in asiatischer und abendländischer Religionstradition, Arbeitsdokumentation eines Symposions, hrsg. G. Oberhammer, Wien 1995, S. 231–248 (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Phil-hist. Klasse, Sitzungsberichte, Bd. 624) 26) »Schweigen und Sprechen im Zen-Buddhismus«, in: Die Macht des Wortes, hrsg. T. Schabert u. R. Brague, Eranos N.F. 4 (1993) 1996, S. 91–113 27) »Phänomenologie des Selbst in der Perspektive des Zen-Buddhismus«, in: Philosophie der Struktur – ›Fahrzeug‹ der Zukunft? Für Heinrich Rombach, hrsg. G. Stenger u. M. Röhrig, Freiburg/ München 1996, S. 19–42 28) »›Glaube und Mystik‹ am Problem ›Erfahrung und Sprache‹«, in: Homo Medietas. Aufsätze zur Religiosität, Literatur und Denkformen des Menschen vom Mittelalter bis in die Neuzeit. Festschrift für Alois Maria Haas zum 65. Geburtstag, hrsg. C. Brinker-von der Heyde u. N. Largier, Bern/Berlin/Frankfurt 1999, S. 323–334 221 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

Veröffentlichungen in deutscher Sprache

29) »Gottesbegriff, Menschenbild und Weltanfang im Buddhismus«, in: Gottesbegriff, Weltursprung und Menschenbild in den Weltreligionen, hrsg. P. Koslowski, München 2000, S. 51–65 30) »Mythisierung und Ent-Mythisierung der Transzendenz als Entwurf ihrer Erfahrung im Zen-Buddhismus«, in: Mythisierung der Transzendenz als Entwurf ihrer Erfahrung, hrsg. G. Oberhammer u. M. Schmücker. Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien 2003, S. 169–183 In japanischer Sprache liegen bei Iwanami-Shoten, Tôkyô Ausgewählte Werke in 11 Bänden und Philosophische Schriften in 5 Bänden vor.

222 https://doi.org/10.5771/9783495860106 .

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