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German Pages [204] Year 2017
Poetik, Exegese und Narrative
Studien zur jüdischen Literatur und Kunst
Poetics, Exegesis and Narrative Studies in Jewish Literature and Art
Band 7 / Volume 7
Herausgegeben von / edited by Gerhard Langer, Carol Bakhos, Klaus Davidowicz, Constanza Cordoni
Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.
Friedemann Spicker
Wer hat zu entscheiden, wohin ich gehöre? Die deutsch-jüdische Aphoristik
Elazar Benyo[tz zum 80. Geburtstag
V& R unipress Vienna University Press
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-5200 ISBN 978-3-7370-0711-5 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de Verçffentlichungen der Vienna University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Gedruckt mit Unterstþtzung der Angelika und Friedemann Spicker-Stiftung. Lektorat: Dr. Angelika Spicker-Wendt 2017, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: »white forest«, Hazel Karr, Tochter der Malerin Lola Fuchs-Carr und des Journalisten und Schriftstellers Maurice Carr (Pseudonym von Maurice Kreitman); Enkelin der bekannten jiddischen Schriftstellerin Hinde-Esther Singer-Kreitman (Schwester von Israel Joshua Singer und NobelpreistrÐger Isaac Bashevis Singer) und Abraham Mosche Fuchs.
»Ist der Aphorismus eine jüdische Erfindung?« Günter Kunert »In den Sachen dieses Buches hat kein Deutscher Autorität.« Harald Weinrich an Elazar Benyo[tz, 3. 5. 1988, über »Treffpunkt Scheideweg«
Inhalt
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»Das Volk Gottes hat nie etwas getaugt«. Die Ausgangslage: das Zeitalter der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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»Wie kann ich aus meiner Haut, die aus Palästina stammt?« Das 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Gerhard Langer : Elazar Benyo[tz zum 80. Geburtstag Vorbemerkungen, Vorgehen
Rahel Varnhagen – Heinrich Heine – Ludwig Börne – Postemanzipatorischer Antisemitismus (Ludwig Daniel Jassoy) – Moritz Gottlieb Saphir – Jacob Bernays – Berthold Auerbach – Antisemitismus im Deutschen Reich (Heinrich von Treitschke, Eugen Dühring) – Nietzsche-Umfeld (Paul Re8, Paul Lanzky, Felix Hausdorff [Mongr8], Walter Cal8) – Ludwig Jacobowsky – Karl-Emil Franzos
»Wir Juden verwalten den geistigen Besitz eines Volkes, das uns die Berechtigung und Fähigkeit dazu abspricht.« Das 20. Jahrhundert . . »Bürger zweiter Klasse.« Die deutsch-jüdische Aphoristik um die Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Julius Stettenheim – Oscar Blumenthal – Moritz Goldschmidt – A. Jaff8 – Erwin Kalischer – Benedict Friedländer – Max Bernstein – George-Kreis (Friedrich Gundolf, Karl Wolfskehl, Georg Simmel, Edith Landmannn)
»Soviel man auch grübelt: es gibt keine Lösung der Judenfrage.« Die deutsch-jüdische Aphoristik vor 1933 zwischen Zionismus und Assimilation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Moritz Goldstein, R., Wien (Josef Unger, Paul Gersuny, Emanuel Wertheimer, Otto Weiß, Wilhelm Fischer, Richard Münzer, Peter Altenberg, Karl Kraus, Arnold Schönberg, Otto Stoessl, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Egon Friedell, Otto Weininger) – Prag (Franz Kafka) – Deutschland (Walter Rathenau, Rudolf Borchardt, Moritz Heimann, Emil Hohenemser, Ernst Lissauer, Ernst Mendelssohn, Jakob Wassermann)
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Inhalt
»Sind die Juden intelligent?« »Wenn ja, rettet Euch. Es ist höchste Zeit!« Deutsch-jüdische Aphoristiker im Zeichen von Holocaust und Exil .
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»Ich wäre kein Jude mehr, wenn der Antisemitismus nicht gewesen wäre.« Die deutsch-jüdische Aphoristik im Exil . . . . . . . . . . . . .
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»Es gibt uns nur noch hie und da, und da und dort, es gibt uns, deutsche Juden, in Wahrheit nicht mehr.« Die deutsch-jüdische Aphoristik nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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»Die Sprache meines Geistes wird die deutsche bleiben, und zwar weil ich Jude bin.« Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Quellen und Literatur
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Personenverzeichnis
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Paul Nikolaus Cossmann, Salomon Baer-Oberdorf – Hugo Marcus, Oscar Ewald, Arno Nadel – Georg Hermann – Kurt Eisner, Georg Davidsohn, Oskar Levy – Rudolf Leonhard, Kurt Hiller, Salomo Friedländer, Walter Serner, Alfred Grünewald, Hugo Sonnenschein, Paul Hatvani, Paul Baudisch, Hermann Kesser, Ludwig Goldscheider – Kurt Tucholsky, Walter Benjamin)
USA: Alfred Polgar, Richard Beer-Hofmann, Raoul Auernheimer, Anton Kuh, Felix Pollak, Franz Werfel, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Günther Anders, Ulrich Sonnemann, Ernst Bloch – England: Franz Baermann Steiner – Israel: Werner Kraft, Ludwig Strauß, Werner Bukofzer – Max Jacob Friedländer, Jakow Trachtenberg
Elias Canetti – Erwin Chargaff, Ludwig Marcuse – Hans Margolius, Otto Milo, Karl-Theodor Marx, Max Roden – Hans Weigel, Heinz Pol, Eugen Gürster, Anita Joachim-Daniels, Robert Ludwig Kahn, Kurt Bauchwitz, Friedrich Hagen, Arthur Feldmann – Paul Celan, Franz Wurm, Erich Fried, Ilse Aichinger, Günter Kunert, Gabriel Laub, Wolf Biermann – Elazar Benyo[tz – Moshe Zuckermann
Elazar Benyoëtz zum 80. Geburtstag
Porträt Elazar Benyo[tz, gestaltet von Herta Spiegel: www.schriftkunst.com
Dieses Buch beschäftigt sich mit der Entwicklung der deutsch-jüdischen Aphoristik von der Aufklärung bis heute. Sein Autor, Friedemann Spicker, kann mit Fug und Recht als berufenster Kenner aphoristischer Literatur im deutschen Sprachraum bezeichnet werden. Er begleitet Elazar Benyo[tz als Leser seit über 40 Jahren und hat sich seit 2004 in mehreren Veröffentlichungen mit dessen Werk befasst. Ihm ist für diesen wichtigen Band herzlich zu danken, der zeitgerecht zum 80. Geburtstag von Elazar Benyo[tz, des wohl wichtigsten zeitge-
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Elazar Benyoëtz zum 80. Geburtstag
nössischen Vertreters der deutsch-jüdischen Aphoristik, erscheint. Dieses Buch ist Elazar Benyo[tz in Dankbarkeit und höchster Wertschätzung zugeeignet. Elazar Benyo[tz wurde am 24. März 1937 in Wiener Neustadt als Paul Koppel geboren. Seine Familie flüchtete vor den Nazis nach Palästina. Noch heute lebt er in Tel Aviv und arbeitet in Jerusalem. Anfang der 1960er Jahre keimte in Gesprächen mit dem Literaturkritiker Max Rychner oder der bereits hochbejahrten Margarete Susman, die den damals 26jährigen Elazar als geistigen Enkel adoptierte, die Idee zu einer Bibliographia Judaica, einer einzigartigen Dokumentation der deutsch-jüdischen Literatur, die heute auf 21 Bände angewachsen ist. In diesem Zusammenhang führte Benyo[tz umfangreiche Briefwechsel mit einer Reihe von deutsch-jüdischen Intellektuellen, darunter Theodor W. Adorno und Max Brod. Benyo[tz gab bedeutende Werk- und Briefeditionen meist deutsch-jüdischer Dichter heraus bzw. übersetzte sie, so von Paul Engelmann oder Max Zweig. Obwohl Benyo[tz seine ersten Gedichtbände in Hebräisch schrieb, liegt seine große Bedeutung in seinem deutschsprachigen Œuvre. Neben seinen Gedichten hat sich Benyo[tz mit Aphorismen einen Namen gemacht, der in einem Atemzug mit Georg Christoph Lichtenberg, Friedrich Nietzsche, Karl Kraus oder Elias Canetti genannt wird. Der deutsche Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Harald Weinrich schrieb über ihn: »Es musste wohl einer von außen kommen, einer wie der deutsch-schreibende Israeli Elazar Benyo[tz, um den Aphorismus neu in die deutsche Literatur einzupflanzen, als ein zartes Gewächs, doch winterhart geworden in kalten Zeiten.« Für Robert Menasse ist Benyo[tz »mein Rabbi der deutschen Sprache«. Und Schalom Ben-Chorin schrieb einst: »In seinen Aphorismen setzt Elazar Benyo[tz auf heutige Weise die uralte Tradition der hebräischen Spruchweisheit der Proverbia in einem geschliffenen Deutsch fort, das am Kristall des Hebräischen scharf geworden ist. Benyo[tz heißt verdolmetscht: ›Ratgeber‹, das ist dieser Autor in einer ratlosen Zeit.« Seine erste große Aphorismensammlung trug den Titel Sahadutha (= Zeugnis), eine Erinnerung an den »Hügel des Zeugnisses« zwischen Laban und Jakob aus Gen 31,47. Zeugnis zu geben für die, die dazu nicht in der Lage sind, für die, die zum Schweigen gebracht wurden, ist ein wichtiger Beweggrund seines Schaffens. Benyo[tz, der über seine Rabbinerausbildung meist nobel schweigt, ist tief in der jüdischen Tradition, in Bibel und Talmud verwurzelt, und für ihn stellt die Bibel überhaupt die Keimzelle der Dichtung dar. Benyo[tz ist ein Sprachkünstler, der die Sprache selbst in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt, der ihre Funktion, ihre Bedingungen und Grenzen aufzeigt. So formulierte er beispielsweise: »Die Sprache erweitert die Sicht und begrenzt die Ansicht« (Worthaltung. Sätze und Gegensätze. München: Hanser 1977, S. 51). Die Künstlerin Herta Spiegel (www.schriftkunst.com) hat ein Porträt von
Elazar Benyoëtz zum 80. Geburtstag
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Elazar Benyo[tz entworfen, welches das Thema der Sprache (und der Schrift) zum Ausdruck bringt. Es ist diesem Vorwort vorangestellt. Das lyrische, aphoristische und essayistische Werk ist in über 50 selbständigen Buchausgaben erschienen. Hier seien nur die letzten genannt: Fraglicht. Aphorismen. Wien: Braumüller Literaturverlag 2010; Sandkronen, Eine Lesung. Wien: Braumüller Literaturverlag 2012; Olivenbäume, die Eier legen. Ein Nachbuch. Wien: Braumüller Wissenschaftsverlag 2012; Folgenichtig oder : Ich unterschreibe nicht. Wien 2014; Zeit ist Aufgabe. Worte Sahaduthas. (Hg. HansHorst Skupy). Fernwald: litblockin 2014; Auch Kürze hat ihre Maßlosigkeit. Eine Lesung. [Zusammen mit Friedemann Spicker/Jürgen Wilbert: Deutschsprachige jüdische Aphoristik. Ein Überblick im Dialog]. Mit Miniaturen der aus Algerien stammenden Frau von Elazar Benyo[tz, Ren8e, die sich Metavel nennt. Bochum: Brockmeyer 2015; Am Anfang steht das Ziel und legt die Wege frei. Eine Lesung. Mit CD. Berlin: Hentrich & Hentrich 2015; Das Feuer ist nicht das ganze Licht. Vier Lesungen. Mit neun Miniaturen von Metavel und Doppel-CD. Schaan: edition eupalinos 2015; Beteuert & Gebilligt. Eine Lesung. Mödling: Bellaprint Verlag 2016. Die Anerkennung für das Werk von Benyo[tz spiegelt sich in zahlreichen Würdigungen wider, darunter in der Verleihung des Adalbert-von-ChamissoPreises durch die Bayerische Akademie der Schönen Künste (1988), des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland für die Verdienste um die deutsche Sprache (1997), des Joseph-Breitbach-Preises (2002), des Österreichischen Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst I. Klasse (2008), des Theodor-Kramer-Preises (2010), des Ehrenpreises der Stiftung Bibel und Kultur, Berlin (2012). Im Namen des Herausgeberteams wünsche ich Elazar Benyo[tz »Mazel tow« und »7F 120« Gerhard Langer
Vorbemerkungen, Vorgehen
Einen Überblick über die Aphoristik jüdischer deutscher Autoren zweier Jahrhunderte zu vermitteln, macht im besonderen Maße eine Vorbemerkung notwendig. Jede gattungsgeschichtliche Eingrenzung unter nationalen oder regionalen Gesichtspunkten ist problematisch. Schon wenn man nur »deutsche« Aphoristiker zusammenstellt, muss man erklären, dass auch österreichische, Schweizer, Luxemburger oder rumäniendeutsche Autoren als »deutschsprachige« einzubeziehen sind. Schwieriger ist es, wenn man auf landsmannschaftliche oder regionale Gemeinsamkeiten aus ist und etwa »Westfälische Aphoristiker« zusammenzustellen versucht.1 Um wieviel problematischer sich die Eingrenzung »deutsch-jüdischer Aphoristiker« darstellt, ist unmittelbar einsichtig. Es bedarf größter Sensibilität, will man hier nicht unbewusst in Kategorien verfallen, die mit verdeckten Vorstellungen wie ›Halb- oder Vierteljuden‹ an die nationalsozialistische Ausgrenzungs- und Vernichtungspolitik erinnern könnten. Sich am Selbstverständnis ›der‹ deutschen Juden zu orientieren, hilft auch nicht. Sie selbst verstehen sich nämlich einerseits als »Deutsche jüdischer Konfession«, andererseits als Menschen »jüdischer Nationalität«. Die autobiographischen Quellen belegen, dass ihnen vielfach das Jüdischsein erst von außen aufgezwungen wurde. Auch bei den deutsch-jüdischen Aphoristikern finden sich die drei Tendenzen Assimilation, Zionismus, Diaspora. Auch bei ihnen wird ein breites Spektrum zu beobachten sein: Sie gehen wie selbstverständlich von einer Volkszugehörigkeit aus, sie betrachten sich als Mitglieder einer Glaubensgemeinschaft oder sehen sich in einer Schicksalsgemeinschaft verbunden. Der eine hat sich als Orientale empfunden, der andere ist Zionist, dem dritten hat
1 Ich habe diesen Versuch unlängst unternommen und dort eingangs die entsprechenden Vorüberlegungen angestellt, die schon damit begannen, dass wir den Band bescheiden »Der Aphorismus in Westfalen« genannt haben, um jeden Anschein falscher Landsmannschaftlichkeit zu vermeiden, die auf fatale Quellen zurückführt (Friedemann Spicker, Jürgen Wilbert (Hgg.): Der Aphorismus in Westfalen. Mit Illustrationen von Erich Krian. Bochum: Brockmeyer 2013 (dapha-drucke 5).
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Vorbemerkungen, Vorgehen
man gar Antisemitismus vorgeworfen, ein vierter hat es sich ausdrücklich verbeten, als Jude bezeichnet zu werden.2 Ist er überhaupt definitorisch zu fassen, der »deutsch-jüdische Aphoristiker«? Etwa in den Epitheta, die am häufigsten begegnen: zerrissen und entfremdet? Die tückische Gefahr, die bei der Festlegung der Gruppenzugehörigkeit droht, hat schon Zohn beschrieben; Schütz ist sich im Rückgriff auf ihn dessen bewusst: »Wer sich heute mit dem Thema ›deutsch-jüdische Literatur‹ befasst, könnte sich unter Umständen mit dem Vorwurf konfrontiert sehen, »›Rassenpolitik‹ mit umgekehrtem Vorzeichen zu treiben, als Juden geborene, aber dieser Religion nicht mehr angehörige Schriftsteller für das Judentum zu reklamieren und sozusagen in ein goldenes Ghetto hineinzuzwängen« (Zohn 1986, 9; zitiert bei Schütz 1992, 19). Da ist es ratsam, sich daran zu orientieren, wie die Literaturwissenschaft in Bezug auf Eingrenzungsfragen zur deutsch-jüdischen Literatur allgemein vorgegangen ist. Schon in den 60er Jahren hat Egon Zeitlin eine Anthologie »Jüdische Aphorismen« herausgegeben (Zeitlin 1963).3 Zu dem, was er unter »Aphorismus« versteht, verhält er sich sehr ungenau. Da findet man auch kurze Auszüge jüdischer Autoren wie Hermann Broch, Martin Buber, Sigmund Freud, Albert Einstein oder Jakob Wassermann, die man beim besten Willen nicht als Aphoristiker bezeichnen kann. Um so genauer geht Zeitlins Einleitung aber bei der Frage vor : »Was ist das ›Jüdische‹ an ihnen, was will damit gesagt sein?« (Zeitlin 1963, 8). Nach der negativen Bestimmung, jüdische Inhalte seien nicht ihr gemeinsamer Nenner, folgt eine positive: »Es handelt sich um Aphorismen, die von Juden geschrieben wurden« (Zeitlin 1963, 8). Sie fordert freilich weitere Erläuterungen, die auch gegeben werden. Wer ist das: ein Jude? Die Antwort: »Jude« sei hier nicht im streng konfessionellen Sinne gemeint. Gemeinsam sei den Autoren die Tatsache, dass »sie sich entweder zur jüdischen Gruppe zählten, oder doch aus ihr stammten und nicht länger als durch eine Generation von ihr getrennt waren« (Zeitlin 1963, 8). Und genauer : »Nicht die biologische Herkunft ist dabei entscheidend, sondern das kulturelle Milieu, der geistige Nährboden, die dabei entwickelten Denkgewohnheiten, die in der Gruppe gültigen Werte, die sich auf die Gruppenangehörigen deutlich auswirkten« (Zeitlin 1963, 12). Man hört: Der Herausgeber hat sich die Definition nicht leicht gemacht. Und sie ist seither nicht leichter geworden. Schütz bezieht sich für seine literarhistorischen Zwecke auf eine Definition Horchs und Shedlitzkys, nach der der Begriff »deutsch-jüdische Literatur« das literarische Werk jüdischer Autoren in deutscher Sprache umfasse, »in dem explizit oder implizit in irgendeiner Form jüdische Substanz erkennbar ist«, »im Sinn einer Auseinandersetzung mit jü2 Die Zusammenfassung wird dieses breit gefächerte Bild im Detail entfalten. 3 Zu den vollständigen Literaturnachweisen vgl. »Quellen und Literatur«, S. 183.
Vorbemerkungen, Vorgehen
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discher Tradition oder jüdischer Existenz« (Schütz 1992, 10). »Substanz«, »in irgendeiner Form«: Man sieht, auch Schütz macht sich die Sache alles andere als einfach, und absolute Trennschärfe können solche Formulierungen nicht bieten. Man orientiert sich in diesem Falle wohl am besten an den großen einschlägigen Lexika und Handbüchern. Unschätzbare Dienste leistet hier insbesondere das in 21 Bänden vorliegende »Lexikon deutsch-jüdischer Autoren«, zumal mit seiner festen Rubrik »Stellung zum Judentum«. Darüber hinaus sind die zahlreichen biographisch-historisch orientierten Sammelbände in vielen Einzelfällen nützlich (Grimm 1985, Moses/Schöne 1986, Stüben 1993, Zohn 1986, 1995, Gelber 1996 u. a.). Das »Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur«, das seit 2012 in aktualisierter und erweiterter Auflage vorliegt, ist, was das Jüdisch-Faktische betrifft, das wichtigste Referenzwerk (Kilcher 2012). Ferner ist neben Darstellungen wie denen von Reich-Ranicki (Reich-Ranicki 1977) und Schwarz (Schwarz 2014) vor allem die »deutsch-jüdische Literaturgeschichte im Überblick« (Schütz 1992) mit Gewinn heranzuziehen. Das »Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur« muss für die vorliegende Überblicksstudie auch in seiner Begriffsbestimmung richtungweisend sein; angesichts der Probleme wäre eine eigens entwickelte Definition weder nützlich noch möglich gewesen. Kilcher geht einen eigenen Weg. Zum Schluss seiner Einleitung, die das Problem historisch auffächert, kommt er zum Schluss, Aufgabe der Literaturwissenschaft sei es nicht, »selbst zu bestimmen, was deutsch-jüdische Literatur (oder Judentum) sei; es gehe nicht darum, selbst Bestimmungen vorzunehmen oder gar Normen und Kriterien wie Herkunft, Substanz, Stoffe, Motive, Sprache, Stil vorzugeben; dies wäre erneut objektivierend und totalisierend« (Kilcher 2012, XXVI). Statt einer solchen »begrifflichen Totalisierung der deutsch-jüdischen Literatur« will er »die mehr oder weniger expliziten Formationen und Perzeptionen des vielstimmigen Diskurses über das Judentum« sowie »die irreduzible Pluralität singulärer Interpretationsakte sichtbar machen« (Kilcher 2012, XXVII). Er stellt damit nicht nur definitorisch das wichtigste Hilfsmittel zur Verfügung. Gänzlich auf Momentaufnahmen »statt historiographischer Linearisierung« kann sich freilich eine Darstellung wie die folgende im Gegensatz zu einem Lexikon nicht zurückziehen. Die deutsch-jüdische Aphoristik zweier Jahrhunderte macht für ihre Darstellung methodische Flexibilität erforderlich. Für das 19. Jahrhundert ist vorrangig die Bewertung der Assimilation strittig, die einerseits als Selbstaufgabe und Verleugnung der jüdischen Identität (Gershom Scholem), andererseits als höchst bedeutender Beitrag zur deutschen Kultur gesehen wird (Peter Gay ; vgl. Bayerdörfer in Horch 1988, 208f.), einer Akkulturation als »Begegnung von Elementen verschiedener Kulturen und ihrer Synthese zu einer neuen Einheit in einem unstabilen Gleichgewicht von verschiedener Dauer« (Herbert Strauss 1985, zit. nach Schütz 1992, 10). Signifikant ist die breite Auffächerung nach
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Vorbemerkungen, Vorgehen
1900, als die Diskurse, die bis dahin ausschließlich von Assimilation oder Akkulturation in verschiedener Ausformung bestimmt waren, unter dem Druck wachsender gesellschaftlicher Ausgrenzung von Zionismus bis zu jüdischem Antisemitismus reichen. Auch die Gattungsgeschichte ist im 20. Jahrhundert von Verfolgung, Ermordung und Exil bestimmt. Dem hat die Darstellung in der Weise zu folgen, dass sie eine innerliterarische Gliederung zugunsten des Politisch-Individualgeschichtlichen zurückstellt. Erst unter dieser Perspektive wird das Unfassliche des Holocaust in der gattungsgeschichtlichen Fokussierung deutlich. Dabei ergibt sich historisch fortschreitend eine Gratwanderung. Der überproportional hohe Anteil jüdischer Literatur hat zahlreiche Erklärungsversuche motiviert, so die beruflichen Restriktionen und die »traditionell ungewöhnlich enge Beziehung zur Schriftkultur« (Schütz 1992, 18). Der hohe Anteil, den innerhalb dieser Literatur wiederum dem Aphorismus zukommt, ist höchst bemerkenswert; nicht zufällig zieren vier Leitautoren den Umschlag von Schütz’ deutsch-jüdischer Literaturgeschichte, die auch für die Gattungsgeschichte von großer Bedeutung sind (Varnhagen, Heine, Tucholsky, Kafka). Im 20. Jahrhundert ist der jüdische Anteil an der deutschsprachigen Aphoristik so hoch, dass zu großen Teilen eine Wiederholung der allgemeinen gattungshistorischen Aufarbeitung nötig wäre. Stattdessen ist in unserem Kontext weniger und zugleich mehr zu leisten. Es geht weder um eine Gesamtdarstellung des deutschjüdischen Autors, wie sie Kilcher lexikalisch, Schütz historiographisch vornimmt, noch um eine umfassende monographische Behandlung des Aphoristikers, sondern allein um den spezifischen Überlappungsbereich von Herkunft, Konfession oder Volkszugehörigkeit und Gattungsaspekt. Für eine aphoristische Gesamteinschätzung greife ich unter Vernachlässigung aller Details auf Vorliegendes zurück (Spicker 1997, 2004, 2007). Der ›jüdische Fokus‹ indessen setzt nicht nur andere Akzente, er erfordert auch die stärkere Berücksichtigung von Biographischem. Nicht-aphoristische Schlüsselwerke sind zumindest am Rande kurz einzubeziehen, um den Horizont zu beschreiben, in den sich die Aphorismen einordnen. Gibt es »›jüdische‹ Schreibmodalitäten wie Spott, Satire und Witz«, wie sie sein Lexikograph Börne attestiert (Chase in Kilcher 2012, 80), die eine ›aphoristische Disposition‹ begründen könnten? Kann man von einer grundsätzlichen Affinität dieser Schriftsteller zum paradoxalen Denken sprechen (das die Hinwendung zur Gattung begünstigte)? Wann sind etwa biblische Bezüge als implizit jüdisch zu begreifen? (Konkret: Ist jeder Sündenfall-Aphorismus schon ein jüdisches Indiz?). Ist der in und von der Doppelidentität Zerrissene die Leitfigur? (Es gibt aber doch die Autoren, die die Doppelidentität fruchtbar machen oder zumindest problemlos tragen). In Fragen wie diese fächert sich die Diskursvielfalt auf die Gattungsgeschichte bezogen auf. In jedem Fall ist Vorsicht
Vorbemerkungen, Vorgehen
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vor Stereotypen wie dem ›jüdischen Witz‹ geboten. Wer da mit einer historischen Reihe von Ludwig Börne bis Gabriel Laub operierte, dem wäre wohl spontan breite Zustimmung gewiss. Es würde aber dennoch genügen, ihm nur die Namen Berthold Auerbach, Arthur Schnitzler oder Franz Kafka entgegenzuhalten. Schließlich ist auch zu unterscheiden, wo Jüdisches explizit gemacht wird und wo es versteckt zur Sprache kommt oder, wie bei Kafka, parabolisch Ausdruck findet. Sich auf Explizites zu beschränken, wie es sich etwa bei Ludwig Börne, Franz Werfel, Elazar Benyo[tz und vielen anderen findet, wäre allerdings ein entschieden zu enges Vorgehen; das scheidet schon Zeitlin für seine Anthologie zu Recht aus. Eher noch schwieriger, als der Stellung zum Judentum nachzugehen, freilich auch im Prinzip ertragreicher ist der implizite Ansatz, also die Frage nach dem Jüdischen im Aphorismus selbst. Wie weit geht man mit der Interpretation des Impliziten? Was ist als Aktualisierung, Reaktion, Dialog zu werten? Auch solchen Fragen muss diese Studie in der Zusammenfassung konkret nachgehen. Ein Letztes: Zur Geschichte des deutsch-jüdischen Aphorismus gehören auch die ablehnenden oder gar verdeckt oder offen antisemitischen Texte ihrer nichtjüdischen Autoren. Es sind dabei immer auch die gattungstypischen Elemente dieses aufzeichnenden Augenblicksdenkens, etwa in seinen Widersprüchlichkeiten, zu berücksichtigen, umso mehr, wenn es wie im Falle Lichtenbergs vom Autor nicht zur Publikation vorgesehen war. Die Schlussbetrachtung wird auch solche Aspekte zusammentragen und im Lichte der historischen Befunde kritisch untersuchen müssen.
»Das Volk Gottes hat nie etwas getaugt«. Die Ausgangslage: das Zeitalter der Aufklärung
Mit der Aufklärung ging die Emanzipation der Juden in Deutschland im 18. Jahrhundert einher, ein Prozess, der von innen wie von außen seine Dynamik entwickelte. Von außen trug der Toleranzgedanke entscheidend dazu bei, von innen die jüdische Aufklärung, die Haskala, die es förderte, dass die jüdische Religion nicht mehr ausschließlich die jüdische Kultur bestimmte. Dadurch befreite sich das deutsche Judentum allmählich aus dem Ghetto der jiddischen oder hebräischen Sprache, das Deutsche wurde zur Umgangssprache. Moses Mendelssohn war der erste deutsche Jude, der in seinem Schaffen zur deutschen Sprache überging. Zugespitzt, aber sachlich tendenziell zutreffend schreibt Susman, er habe »für die deutschen Juden kaum weniger getan als die französische Revolution für die Frankreichs« (Susman 1931, 42). Erste deutschsprachige jüdische Lyrik und Prosa findet sich in dieser Zeit bei Ephraim Moses Kuh (Berthold Auerbach hat ihm eine Biographie gewidmet) und Isachar Falkensohn Behr, dessen »Gedichte von einem polnischen Juden« (1772) auch durch eine Rezension Goethes bekannter geworden sind. (Reich-Ranicki nimmt sie als »symptomatisch und exemplarisch« zum Ausgangspunkt einer Rede [ReichRanicki 1977, 12]). Zur Aufklärung im emanzipatorischen Sinne ›von außen‹ trug wohl maßgeblich Karl Philipp Moritz’ »Magazin zur Erfahrungsseelenkunde« bei, zu dessen Mitarbeitern Lazarus Bendavid und Salomon Maimon zählten. Dieser Begegnung jüdischer Autoren mit Moritz komme möglicherweise, so Wieckenberg, »die Bedeutung eines Schlüsselereignisses in der Geschichte der jüdischen Aufklärung zu« (Wieckenberg in Hahn/Isselstein 1987, 128–140, hier 137). Das epochemachende Buch »Über die bürgerliche Verbesserung der Juden« (1781) des Schriftstellers und Politikers Christian Wilhelm Dohm wurde nicht nur durch Mendelssohn angeregt und unterstützt, sondern auch durch seinen Freund Lessing, durch Friedrich Nicolai und Friedrich Heinrich Jacobi; es ist darüber hinaus aber auch eigenen Interessen an kulturellen Differenzen entsprungen, wie Detering gezeigt hat. Aufklärung, Vernunftreligion, Toleranz, »Unpartheylichkeit« (Dohm 1988, 84) sind seine Kernbegriffe. »Wenn ich nicht sehr irre, wird bey diesem Raisonnement der
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»Das Volk Gottes hat nie etwas getaugt«
Fehler begangen, daß man für die Ursache angibt, was vielmehr die Wirkung ist, und daß man das Uebel, welches die bisherige fehlerhafte Politick hervorgebracht hat, zur Rechtfertigung derselben anführt« (Dohm 1988, 76). Diese »Umkehrung des Verhältnisses von Ursache und Folge« ist als die »zentrale Denkfigur« (Detering 1997, 126) von größter Bedeutung: »Wir waren immer die herrschenden, uns lag es daher ob, dem Juden menschliche Gefühle dadurch einzuflössen, daß wir ihm Beweise der unsrigen gäben; wir mußten, um ihn von seinen Vorurtheilen gegen uns zu heilen, die eigenen zuerst ablegen. Wenn diese also noch itzt den Juden abhalten, ein guter Bürger, ein geselliger Mensch zu seyn, wenn er Abneigung und Haß gegen den Christen fühlt, wenn er sich durch die Gesetze der Redlichkeit gegen ihn nicht so gebunden glaubt: so ist dieß Alles unser Werk. […] Wir sind der Vergehungen schuldig, deren wir ihn anklagen« (Dohm 1988, 77). Die Schrift wird bis heute kontrovers diskutiert, als »Bibel der Emanzipation« einerseits, als Assimilationsaufforderung andererseits.4 Kontroversen begleiteten aber auch schon das Erscheinen von Dohms »Juden-Schrift«. So hat sich der Göttinger Orientalist und Theologe Johann David Michaelis als Dohms schärfster Kritiker den Ruf eines »Gründungsvaters der modernen Judenfeindschaft« erworben; in einer Rezension von Lessings Einakter »Die Juden« bezweifelt er, »ob sich ein edler Jude überhaupt finden lasse« (Schütz 1992, 40).5 Er unterschied, wie ihm Mendelssohn vorwarf, nicht zwischen Christen und Juden, sondern zwischen Deutschen und Juden, das vorausweisend antagonistische Argumentationsmuster überhaupt. Damit stand er innerhalb der Göttinger Professorenschaft nicht allein. Auf den Historiker August Ludwig von Schlözer sowie den Anthropologen Samuel Thomas von Soemmering, den Philosophen Christoph Meiners und deren wissenschaftlichen Gegner Johann Friedrich Blumenbach sei verwiesen, deren Forschungen sich auf rassische Merkmale der Menschen beziehen und damit wohl auch so etwas wie eine jüdische Rasse konstruieren wollen (ob man sie damit nun als »Vertreter proto-rassistischer Theoreme« [Schäfer 1998, 13] bezeichnen sollte oder nicht). Auch bei ihrem Kollegen Georg Christoph Lichtenberg gibt es in seinen späten Jahren genügend Zeugnisse, die eine antisemitische Interpretation zulassen oder gar fordern. Das ist allein deshalb besonders erwähnenswert, weil wir mit seinen Sudelbüchern, gewissermaßen der Inkunabel der Gattungsgeschichte, sogleich in deren frühem Zentrum sind. »Die Notizen fügen sich zu 4 Sie innerhalb der deutschen und europäischen Islam-Diskussion erneut zur Kenntnis zu nehmen, könnte übrigens nicht schaden: »Der, welcher seine Wahrheit aus einer noch höhern Quelle zu schöpfen glaubt, würde den nicht hassen, der nun einmal nach seiner Lage und Fähigkeiten sich von der Aechtheit einer solchen Quelle nicht versichern kann, und dieser würde jenen nicht anfeinden, weil er für die ihm auch so theure Wahrheit, noch neue und stärkere Beweise zu sehen glaubt« (Dohm 1988, 81). 5 Zur Kontroverse Lessing – Michaelis vgl. Mayer 1981, S. 333–339.
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einem widerspruchsvollen, ja heiklen Bild zusammen« (Promies 1990, 165). »Eben weil die Juden sich an nichts anschließen können und dürfen, als an sich selbst, so ist ihnen jede Art von Subsistenz erwünscht. Als Bonaparte in Ägypten landete, und man ihm allen Proviant abschnitt, waren es Juden, die ihm welchen verschafften, weil dabei zu gewinnen war. Ein solches Volk, das zu allem taugt, taugt eo ipso zu nichts« (Lichtenberg 1973; 1, 929; L 570). Da heißt es: »Das Volk Gottes hat nie etwas getaugt, sondern ist allezeit ein infames Volk gewesen. […]« (Lichtenberg 1973; 1, 672; J 128), da ist von »jüdischer Finesse« (Lichtenberg 1973; 1, 544; F 616), vom »Ungeziefermäßigen« (Lichtenberg 1973; 1, 903; L 358; vgl. L 661) die Rede. Das schmerzt. Man kann über solche Eintragungen nicht hinweglesen und hinweggehen, man kann auch nicht verschweigen, dass er zum Beispiel Schernhagen gegenüber in einem Einzelfall der Meinung ist, »daß man hier die Juden einschränken müsse«; es heißt indessen weiter : »Aber ihnen den Schutz auf einmal zu nehmen wie die Kläger wollen das wäre nicht allein grausam, sondern ist auch wohl gar nicht einmal im Ernst gemeint« (Bw 1, 390). Dass Lichtenberg mit seinen Notaten der »einigermaßen typische Repräsentant aufgeklärter Judenfeindschaft« sei, so Schäfers Resümee in seiner Arbeit über »Lichtenberg und das Judentum« (Schäfer 198, 159), hat scharfen und begründeten Widerspruch hervorgerufen und ist in dieser Einseitigkeit zweifellos nicht zu halten. Gegen Lavater, der Mendelssohn öffentlich aufgefordert hatte, sich taufen zu lassen (dazu Wieckenberg in Hahn/Isselstein 1987, 129–131), veröffentlichte er 1773 die ätzende Satire »Timorus, das ist, Vertheidigung zweyer Israeliten, die durch die Kräftigkeit der Lavaterischen Beweisgründe und der Göttingischen Mettwürste bewogen den wahren Glauben angenommen haben«. So ist in den »Sudelbüchern« auch folgender Eintrag zu lesen, der ganz im Sinne der Prinzipien steht, die Dohms Schrift prägen: Beim Anfang von Lavaters Antwort auf Herrn Mendelssohns Brief habe ich einen unbeschreiblichen Unwillen gespürt, es ist nichts Widerlicheres als einen Unvorsichtigen einen Fehler, der für ehrliche Leute höchst unangenehme Folgen hätte haben können, aus einem gewissen Kützel, und so zu reden aus einer Art von schriftstellerischen Mutwillen erst begehen und dann wieder gern bereuen zu sehen in Ausdrücken in denen er sich selbst zu gefallen scheint. Geh’ heilloser Schwätzer, hätte ich sagen mögen, und tändle mit deiner eignen Ruhe, aber laß andere Leute ungestört, die besser sind als du. […] Was muß Johann Caspar Lavater für ein Mann sein, dem bei Lesung einer schönen Gesinnung Mendelssohns der Wunsch aufstoßen kann: wär er doch ein Christ. Warum wünscht er ihm nicht bei der Gelegenheit auch das volle preußische Maß? Einem Süß hätte ich gewünscht, daß er ein Christ oder ein Jude wie Mendelssohn hätte sein mögen. Aber Mendelssohnen eben so wenig als ich ihm wünsche daß er doch ein Zürcher sein mögte« (Lichtenberg 1973; 1, 161; C 39).
Mit Dohm stand er schon 1775 in freundschaftlichem Briefwechsel (Bw 1, 278). In demselben Jahr berichtete er aus London, er habe Macklin die Figur des
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Shylock spielen sehen; das sei geeignet gewesen, »alle Vorurtheile der Kindheit gegen dieses Volk wieder aufzuwecken« (Bw 1, 294, S. 600), eine Bemerkung, mit der sich der erwachsene Briefschreiber bei allem Lob für den Schauspieler zweifellos von solchen auf einem kindlich unreflektierten Klischee basierenden »Vorurtheilen« abhebt. Auch sonst fehlt es an Signalen der Distanzierung nicht: »Die Türken begegnen den Christen so, wie die schlechtesten Leute bei uns den Juden« […]« (Lichtenberg 1973; 1, 193; C 187). Der Göttinger Professor setzte sich zudem mehrfach, wenn auch erfolglos, für seinen besonders fähigen, aber mittellosen jüdischen Studenten Theodor Salomon Anschel ein, der schon mit siebzehn Jahren eine hebräische Abhandlung Mendelssohns ins Deutsche übertragen hatte. Und er ließ sich auch den Blick nicht dafür trüben, dass diesem eine Auszeichnung der Akademie der Wissenschaften aus Gründen seiner Religion vorenthalten wurde (»vielleicht weil man das Volck Gottes nicht liebt, (dieses unter uns)«, Bw 4, 2505; Promies 1990, 161). Er verwies Anschel an den berühmten Professor und Hofrat Marcus Herz in Berlin.6 Anschel widmete ihm aus Dankbarkeit eine seiner Schriften. Später wurde er »der erste aus dem Judentum stammende Professor an einer Universität des 19. Jahrhunderts« (Promies 1990, 176) und ließ sich taufen. Auch Lazarus Bendavid, Mathematiker und Philosoph, war Lichtenbergs Student. 1791 war er mehrfach bei diesem zu Besuch; vier Jahre später wandte er sich brieflich wiederholt an den »Theuersten Lehrer« und legte ihm wissenschaftliche Arbeiten vor (Bw 4, 2571, 2588, 2614; vgl. Lichtenberg 1973; 1, 890f.; L 268). Lichtenberg äußert sich in seinen Aufzeichnungen abschätzig: »[…] Ein Berlinischer Jude (Bendavid) hatte einmal die Artigkeit mir bei einem Besuche ins Gesicht zu sagen, daß in dubio der Jude mehr Kopf habe als der Christ. Ich glaube sie haben eigentlich gar das nicht was man Kopf nennt […]« (Lichtenberg 1973; 1, 942; L 661). – Im Ganzen ein ambivalentes Bild also, das im Einzelnen zu entwickeln hier zu weit führte.
6 Im Salon von dessen Gattin Henriette Herz lernte Friedrich Schlegel Dorothea Veit kennen. Auch der Philosoph Salomon Maimon verkehrte dort.
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Die rechtlichen Grundlagen für die Gleichstellung der Juden waren in Österreich das Toleranzedikt von 1782 und in Preußen als Nachwirkung der französischen Revolution das Emanzipationsedikt von 1812. Die gesellschaftliche Gleichstellung oder gar Integration war aber damit längst nicht erreicht; der emanzipierte, großbürgerliche, gebildete und reiche Jude erscheint als die Ausnahme. Man darf wohl Dohm, der die Großen seiner Zeit kennengelernt hat, nicht nur mit Lichtenberg in einen Wirkungszusammenhang bringen, sondern auch mit Goethe und Jean Paul. Für Goethe, den er mehrfach getroffen hat und mit dem er in Briefwechsel stand, ist die »Juden-Schrift« »ein unschätzbares Werk« (vgl. Detering 1997, 117). Ohne auch hier ins Einzelne gehen zu können, kann man mit Kilcher festhalten: »Während der junge Goethe in seiner Rezension von Behrs Gedichten jüdische und deutsche Kultur getrennt wissen wollte, wurde das Weltliteratur-Modell des alten Goethe anschlussfähig für die jüdischen Intellektuellen der Wissenschaft des Judentums und ihr neues Modell einer jüdischen Literatur, das wesentlich auf Transkulturalität, Übersetzung und Austausch beruhte« (Kilcher 2012, IX). Die beginnende jüdische Emanzipation – David Friedländer, gewissermaßen Mendelssohns »Nachfolger«, Gründer und Leiter der »Jüdischen Freischule« Berlin, und sein Nachfolger Lazarus Bendavid gehörten zu ihren Protagonisten – hatte ein Zentrum in den Berliner Salons großbürgerlicher jüdischer Damen. »Den Berlinern merkt man ewig an, daß ihre Bildung von Franzosen und Juden ihren Anfang genommen hat.« So beobachtete es Franz Grillparzer in räumlichem wie zeitlichem Abstand.7 Diese ›Berliner Salonkultur‹, wie sie genannt wird, verdankte »ihre einzigartige soziale Zusammensetzung offenbar einer Neutralisierung der Standesunterschiede« (Feilchenfeldt in Hahn/Isselstein 1987, 152–163, hier 154). In ihr verkehrten »Ausnahmejuden« (Arendt 1959, 62). Dorothea Veit, die Tochter Mendelssohns, heiratete 1804 Friedrich Schlegel und 7 Franz Grillparzer : Sämtliche Werke. Hist.-krit. Gesamtausgabe. Hg. von August Sauer. II. Abteilung. Wien: Schroll 1914–1930. Bd. 12, S. 18.
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ließ sich vier Jahre später taufen.8 Henriette Herz war die Gattin von Dr. Marcus Herz, dem ehemaligen Kant-Schüler, dem »als Muster für geglückte Emanzipation« (Schütz 1992, 54) berühmten Arzt und Philosophen. Rahel Varnhagen als die nicht nur aus der Perspektive der Gattungsgeschichte bedeutendste, kommt hinzu; alle drei waren in konkurrierender Bekanntschaft miteinander verbunden.9 Diese Emanzipationsbestrebungen lösten zum einen innerjüdisch heftige Auseinandersetzungen aus, zum andern hatten sie auf der Gegenseite nicht nur eine unreflektierte Assimilationserwartung zur Folge, sie ließen als Gegenbewegung sogleich auch vielfach antijudaistische Ressentiments erkennen. Der Berliner Justiz-Kommissar Karl Wilhelm Friedrich Grattenauer (»Wider die Juden. Ein Wort der Warnung an alle unsere christlichen Mitbürger«, 1802), der Historiker Friedrich Rühs (»Über die Ansprüche der Juden auf das deutsche Bürgerrecht«, 1815) und der Philosoph Jakob Friedrich Fries (1773–1843) mit seiner Schrift »Über die Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden« (1816) nahmen darin einen besonderen Rang ein. (Auch Johann Gottlieb Fichte ist hier zu nennen). Fries charakterisierte Juden als »Gewürm« und befürwortete wie vor ihm auch Rühs, dass sie sich durch ihre Kleiderordnung von der deutschen Bevölkerung unterscheiden sollten. Elazar Benyo[tz zitiert ihn im Kapitel »Identitäuschung« seines Bandes »Allerwegsdahin«: »›Nicht den Juden, unsern Brüdern, sondern der Judenschaft erklären wir den Krieg. Wer den Pestkranken liebt, muß der nicht wünschen, daß er von der Pest befreiet würde? Die Judenschaft ist ein Überbleibsel aus einer ungebildeten Vorzeit, welche man nicht beschränken, sondern ganz ausrotten soll‹. Das ist der bedeutendste Satz, der mir in der deutschen Literatur über Brüderlichkeit je begegnete« (Benyo[tz 2001, 134). Das Offiziöse, das Emanzipationsedikt von 1812, und das Faktische, der wachsende Antisemitismus,10 etwa auch bei den Autoren der deutschen Romantik, laufen gegeneinander. Der Assimilationswille der deutschen Juden im frühen 19. Jahrhundert schlug sich in der Gattungsgeschichte sogleich nieder. Während sich in der ersten Blütezeit des deutschen Aphorismus, zur Zeit Lichtenbergs, Goethes, Jean Pauls und der Frühromantiker Novalis und Friedrich Schlegel, noch keine deutschjüdischen Aphoristiker finden, änderte sich das im frühen 19. Jahrhundert so8 Zu Friedrich Schlegels Verhältnis zum Judentum vgl. Helmut Schanze: Dorothea geb. Mendelssohn, Friedrich Schlegel, Philipp Veit – ein Kapitel zum Problem Judentum und Romantik. In: Horch 1988, S. 133–150, hier S. 139–147. 9 Zeitlin nimmt nicht nur Rahel Varnhagen, sondern auch Henriette Herz in seine Aphorismensammlung auf (Zeitlin 1963, 36). 10 Der Antisemitismus des späten 19. Jahrhunderts ist streng genommen von dem ihm vorangehenden Anti-Judaismus zu unterscheiden. Ich benutze den Begriff hier für die Gesamtheit antijüdischen Ressentiments und Kampfes.
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gleich deutlich: mit Rahel Varnhagen von Ense, mit Heinrich Heine und vor allem mit Ludwig Börne. Alle drei haben sich gekannt – Börne und Heine haben sich auch bekämpft – , alle drei haben sich taufen lassen. Einen »Salon« wie Veit und Herz führte auch Rahel Varnhagen (1771–1833), Tochter eines »Schutzjuden« Friedrichs II. und Berliner Bankiers. Zwischen 1790 und 1806 und noch einmal (in eingeschränkter Weise und anderer Form) zwischen 1819 und 1833 war er der Mittelpunkt des literarischen Lebens der preußischen Metropole, »eine intellektuelle Oase in einer ungeistigen Wüste« (Scurla 1980, 79). »Literaturformen wie Aphorismus oder Anekdote, die zeitgleich auch in der verschrifteten Literatur, nicht zuletzt durch Mitglieder von Salongesellschaften, ihre ›klassische‹ Formgebung erhielten, fanden in den Salons einen oral-gesellschaftlichen Entstehungskontext« (Seibert in Hahn/Isselstein 1987, 164–172, hier 169). Was die gattungsspezifischen Wechselwirkungen betrifft (für deren Erhellung noch einiges an Arbeit zu leisten ist), so verkehrten hier nicht nur Heine und Börne, sondern auch der Fürst Charles Joseph de Ligne (Ligne 2007)11. Es war »jene kurze Zeitspanne, da der alte Judenhaß wirklich abgetan und der moderne Antisemitismus noch nicht geboren war, da Antisemitismus wirklich, und nicht nur in den Köpfen der Juden, als eines gebildeten Menschen unwürdig galt« (Arendt 1955, 104). Varnhagen lebte in einem sozialen Umfeld, in dem, wie Susman schreibt, »die Kultur weithin zum Ersatz der Religion geworden war« (Susman 1931, 85). »So blieb ihr vom Judentum nur das soziale Ausgeschlossensein« (Susman 1931, 85). Eine gesellschaftlich verordnete Minderwertigkeit im doppelten Sinne war für sie zeitlebens bestimmend: neben ihrem jüdischen Erbe ihre Rolle als Frau. »Ihr Judentum empfand sie zeitlebens als eine schmerzhafte Wunde« (Schütz 1992, 65). Das muss hier nicht ausgebreitet werden; insbesondere jüdische Autorinnen des 20. Jahrhunderts, Margarete Susman (Susman 1931), Hannah Arendt (Arendt 1959, dazu Nordmann in Hahn/Isselstein 1987, 196–207), auch Käte Hamburger (in Varnhagen 1983; X, 179–204), haben den jüdischen Aspekt biographisch entfaltet und sich dabei – auf verschiedenste Weise – in ihr gespiegelt (Feilchenfeldt in Hahn/Isselstein 1987, 187–195). Arendt hat ihn schon im Titel ihrer Biographie akzentuiert: »Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik«.12 11 Auch wenn er auf Französisch schreibt, ist der Fürst de Ligne (1735–1814) eine Anmerkung wert, als österreichischer Diplomat, als Autor von »Gedanken und Fragmenten« im Geiste der Moralistik und nicht zuletzt einer »Denkschrift über die Juden« (Kobler 1984, 169–171); vgl. Die Französischen Moralisten. Neue Folge. Hg. von Fritz Schalk. Leipzig: Dieterich 1940, S. 91–122. 12 Arendts prononcierte Ansicht zur Assimilation: »Es gibt keine Assimilation, wenn man nur seine eigene Vergangenheit aufgibt, aber die fremde ignoriert. In einer im großen Ganzen judenfeindlichen Gesellschaft […] kann man sich nur assimilieren, wenn man sich an den Antisemitismus assimiliert« (Arendt 1959, 208).
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In Varnhagens Briefen und Tagebüchern sind oftmals Reflexionen über Jüdisches (Kobler 1984, 171–191, bes. 181–184) mit solchen über ihre Situation als Frau verknüpft. Sie wollte den Makel abstreifen, den ihre jüdische Herkunft für sie bedeutete, und damit auch dieser männlich orientierten Ordnung entkommen. Zwei Jahre, nachdem Preußen den Juden die volle staatsbürgerliche Gleichstellung zuerkannt hatte, ließ sie sich taufen und heiratete den preußischen Diplomaten Karl August von Varnhagen. Auch wenn die gesellschaftlichen Kreise, die in ihrem Salon verkehrten, äußerst unterschiedlich waren und von höchsten preußischen Adligen bis zu Künstlern reichten, konnte ihr aber das Misslingen dieser Assimilation nicht verborgen bleiben. Besonders eindrucksvoll ist in diesem Zusammenhang ein Brief an den Bruder Ludwig nach den antisemitischen Ausschreitungen 1819 in Karlsruhe. Da heißt es: »Ich bin gränzenlos traurig: und in einer Art wie ich es noch nicht war. Wegen der Juden. Was soll diese Unzahl Vertriebner thun. Behalten wollen sie sie: aber zum Peinigen und Verachten; zum Juden mauschel schimpfen; zum kleinen dürftigen Schacher ; zum Fußstoß, und Treppenrunterwerfen. Die Gesinnung ist’s die verwerffliche gemeine, vergiftete, durch und durch faule die mich so tief kränkt, bis zum herzerkaltensten Schrek. Ich kenne mein Land! Leider« (Varnhagen 2001, 243; Varnhagen 1983, IX, 582f.). In seinem Vorwort zu »Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde« überliefert Varnhagen eine Äußerung aus den letzten Lebenstagen seiner Ehefrau: »Was so lange Zeit meines Lebens mir die größte Schmach, das herbste Leid und Unglück war, eine Jüdin geboren zu sein, um keinen Preis möcht’ ich das jetzt missen« (Varnhagen 1983, I, 43). Man darf Varnhagen »zweifellos« eine »bedeutende Aphoristin« nennen, auch wenn sie im strengen Sinne keine selbst autorisierten, kotextuell isolierten Aphorismen geschrieben hat: »Rahel Levin Varnhagen ist bisher weder als Tagebuchschreiberin, noch als die bedeutende Aphoristin, die sie zweifellos ist, wahrgenommen worden« (Isselstein 1993, 159). Ihre Stellung und Bedeutung in der Gattungsgeschichte wurden erst mit der Öffnung des in Krakau bewahrten Nachlasses nach und nach sichtbar. Das war in den ersten Jahrzehnten nach ihrem Tode noch anders gewesen: 1853 konnte »Meyer’s Groschen-Bibl. der Deutschen Classiker für alle Stände« eine schmale Auswahl ihrer Texte ohne weiteres unter dem Titel »Aphorismen« sammeln. Schon hier sind Kernsätze aufgenommen wie »Wir sind eigentlich, wie wir seyn möchten, und nicht so, wie wir sind« (Varnhagen 1853, 23; Varnhagen 2011; 5, 13) oder »Es ist ganz einerlei, wie man ist, sobald man nicht seyn kann, wie man will« (Varnhagen 1853, 29; Varnhagen 2011; 3, 341), die zwar generalisieren (und im Grundsätzlichen verbergen), sich aber dem vollen Verständnis erst auf dem Hintergrund ihrer jüdischen Herkunft öffnen (»nicht so, wie wir sind«; »nicht seyn kann, wie man will«). Spätestens seit 1816 ordnete sie Teile ihres Werkes so selbst- wie gattungsbewusst in eine Tradition ein, in der sie Lichtenberg und Novalis als
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Vorläufer sah. Ein Jahr nach ihrem Tod stellte ihr Ehemann im »Buch des Andenkens für ihre Freunde« Tagebuchauszüge zusammen, die in der zeitgenössischen Kritik als Aphorismen rezipiert wurden. In einem Gespräch mit Karl Gustav von Brinckmann heißt es ganz im Geiste Lichtenbergs: »Auf das Selbstdenken kommt alles an« (zit. bei Arendt 1959, 20). Und im August 1814 an denselben Adressaten: »Entschuldigen Sie sich doch nicht wegen Sentiments, Witz, Wortspielen und so etwas, Sie wissen, wie ich das liebe« (Varnhagen 2011; 1, 99). Das Selbstdenken, mehr noch: das Selbsterleben und -erleiden ist die Quelle dieses Werks. Der Dialog, ob im Brief, ob als diaristisches Selbstgespräch, ist inspirierend. Die Verbindung zur Salon-Kultur der Franzosen bzw. Französinnen ist dabei ebenso bemerkenswert wie die Rolle der Selbstbeobachtung und der Zusammenhang von Tagebuch und Brief, spezifisch weiblichen literarischen Ausweichmöglichkeiten, mit dem Aphorismus. »Ich kann nur Briefe schreiben; und manchmal einen Aphorism« (Varnhagen 2011; 3, 343) schrieb sie am 7. Januar 1816 an Ignaz Paul Vital Troxler, den bedeutenden, ganzheitlich im Sinne des 18. Jahrhunderts als Anthropologe und Philosoph agierenden Arzt, der im selben Jahr »Bruchstücke aus Briefen und Denkblättern« von ihr veröffentlichte. Auch die Geburt des Aphorismus aus Exzerpt und Glosse lässt sich bei ihr besonders gut beobachten; ihre Randnotizen wachsen sich zuweilen zu selbstständigen, in der produktiven Auseinandersetzung entstandenen Aphorismen aus. »Buchstäblich wahr« findet sie etwa ein La BruyHre-Zitat, ehe sie es weiterdenkt: »Indem man eine Thorheit begeht, weiß man es schon; erhitzt führt man sie schon aus, und das Bewußtsein, es ist eine Thorheit, erhitzt noch mehr« (Varnhagen 2011; 4, 316). Sie ist Autorin, sie schafft ein Werk; gleichwohl liegen ihr die Begriffe ›Werk‹ und ›Autorschaft‹ fern. 1829 veröffentlichte Friedrich de la Motte Fouqu8 anonym Texte von ihr unter dem Titel »Aus Denkblättern einer Berlinerin«. In einem Brief an Friedrich von Gentz (Oktober 1830) schreibt der in mehrfacher Hinsicht ausgegrenzte und inferiorisierte »Rebell« (so in demselben Brief an Troxler) dazu: Mit dem ersten Kourier erhalten Sie zwei gedruckte Hefte von mir ; worin alle Aphorismen von mir sind; genannt: aus Denkblättern einer Berlinerin. Auf diesen Blättern steht nicht, bei weitem nicht das Meiste, von dem, was ich litt und dachte: aus vielen meiner Lebensjahre genommen: für mich destillirte Essenzen meist aus Lebensschmerzen. Interessant auch für einen, der mich nicht kennt; wenn es nur ein mit einem höhern Verständniß Begabter ist (Varnhagen 2011; 5, 360f.).
Denselben Grundgedanken einer produktiven Rezeption, vom direkten Widerspruch bis zur Bestätigung, äußert sie auch Novalis’ »Aphorismen« gegenüber : 13. 3. 1824: »Um Novalis Aphorismen zu verstehen, muß man außerordentlich viel Einfälle gehabt haben: und sie sehr gehandhabt haben. Sonst ist’s
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nicht möglich« (Varnhagen 2011; 4, 463). Das Bewusstsein einer doppelten Randexistenz, als Jüdin, als Frau, eröffnet dabei besondere Einsichten. »Wer sich ganz aufgiebt, der wird gelobt: so wollen sie uns« (Varnhagen 2011; 5, 13). Ob dieser Satz eher aus der Erfahrung der Frau oder der der Jüdin formuliert ist, kann offen bleiben, geäußert wird er jedenfalls im Zusammenhang mit einer jüdischen Freundin. Für die Disposition zum Aphorismus mag diese Briefstelle nicht ohne Aussagewert sein: »Diese Woche habe ich erfunden, was ein Paradox ist. Eine Wahrheit, die noch keinen Raum finden kann sich darzustellen; die gewaltsam in die Welt drängt, und mit einer Verrenkung hervorbricht. So bin ich leider! – hierin liegt mein Tod!« (Varnhagen 2011; 2, 92). Und wenn man sich auch hüten sollte, jede ihrer Äußerungen unter diesem Blickwinkel zu sehen, so ist ein tiefgreifendes Verständnis ohne diesen Aspekt doch oft nicht möglich: Es schwert beinah auf jedem Menschen eine Verdammniß; sie begreifen sie aber nicht; sie fühlen sie beinah nicht. Ich kenne meine, und es thut mir nicht leid. Unheilbar! (Varnhagen 2011; 1, 380). Verdammt sein, sich zu verdammen (Varnhagen 2011; 4, 404).
Auch wenn Heinrich Heine (1797–1856) in der Gattungsgeschichte nur eine Rolle am Rande spielt (Spicker 2007, 92f.), muss er als deutsch-jüdische Schlüsselfigur hervorgehoben werden. Die Familie lebte ihren Glauben nicht besonders streng, Heine lernte nur in Grundzügen, so nebenbei, Hebräisch und Jiddisch. In Göttingen wurde der Student aus antisemitischen Gründen aus der Burschenschaft ausgeschlossen, ein einschneidendes Erlebnis, das die Ausbildung einer ungebrochenen deutschen Identität verhinderte und vielleicht seinen ›doppelten‹ Blick, den von innen wie von außen, erklärt, so, wenn er von der »Sklaverey der Deutschen« (Heine 1988, 195) spricht oder feststellt: »Deutsche – werden nicht besser im Ausland, wie das exportirte Bier –« (Heine 1988, 195). Er sah sich als Außenseiter ausgegrenzt, hat sein Judesein zum Teil aber auch kreativ nutzen können. In Berlin schloss er sich 1822–23 dem »Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden« an, einer Reaktion auf die verstärkte Judenfeindschaft nach 1819, und verkehrte in Rahel Varnhagens zweitem Salon, seine jüdischste Phase gewissermaßen. Es entwickelte sich eine zeitweise enge, wenn auch nicht konfliktfreie Beziehung. So heißt es etwa in einem Brief an Karl August Varnhagen von Ense vom April 1828: »Wie befindet sich Frau von Varnhagen? Wie befindet sich ihr liebes, witziges Herz?« (Börne, Heine 1997, 8). Arendt schreibt, gewiss perspektivisch äußerst zugespitzt: Nicht Marwitz und nicht Varnhagen haben in einem ernsten geschichtlichen Sinn ›das Bild ihrer [Rahel Varnhagens] Seele‹ gerettet, sondern nur Heine, der versprach, ›für die Sache der Juden und ihrer bürgerlichen Gleichstellung enthusiastisch‹ zu sein: ›in schlimmen Zeiten, die unausbleiblich sind, wird der germanische Pöbel meine Stimme
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hören, daß es in deutschen Bierstuben und Palästen hallt.‹ Über diesem Versprechen kann sie ruhig wegsterben. Sie hinterläßt einen Erben, dem sie viel zu vermachen hat, die Geschichte eines Bankrotts und ein rebellisches Herz (Arendt 1959, 211).
Vor der Promotion in Göttingen 1825 ließ Heine sich taufen. Die erhoffte staatliche Anstellung bekam er damit aber trotzdem nicht. Die Bindung an seine Familie und jüdische Freundes- und Künstlerkreise blieb erhalten. Antisemitismus bestimmte auch die Kontroverse mit August von Platen, die von beiden Seiten her höchst unappetitlich war. Zwei Außenseiter bekämpften sich hier (Mayer 1981, 207–223). Platen bezeichnete Heine mit Begriffen wie »Samen Abrahams« oder »Petrark des Lauberhüttenfests«, Heine denunzierte Platen als homosexuellen Versager. Sein jüdisches Bewusstsein wurde im Alter stärker ; davon zeugen etwa die »Hebräischen Melodien« (Rosenthal 1973, 290–312) und das Fragment »Der Rabbi von Bacharach« (Rosenthal 1973, 153–218), zur Zeit seiner Mitgliedschaft im »Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden« begonnen und nach der sog. Damaskus-Affäre, einer internationales Aufsehen erregenden Ritualmordanklage, nach 1840 weitergeführt. In die eine oder andere seiner nachgelassenen Notizen mag man sogar einen autobiographisch gefärbten Doppelsinn hineinlesen können: »Es giebt Leute welche den Vogel gz genau zu kennen glauben, weil sie das Ey gesehen woraus er hervorgekrochen –« (Heine 1988, 202). Rosenthal arbeitet im Einzelnen heraus, »wie sehr Heine zwischen dem Judentum als Religion und als Volk zu unterscheiden wusste und wie er sich von ersterem zuweilen distanzierte, um desto stärker seine Zugehörigkeit zu letzterem zu bekräftigen« (Rosenthal 1973, 329): »Wie kann ich aus meiner Haut, die aus Palästina stammt, und welche von den Christen gegerbt wird seit achtzehnhundert Jahren! Das Taufwasser .. hat daran nichts verbessert« (zit. nach Rosenthal 1973, 337). In die Literaturlexika ist er als »Verkörperung deutsch-jüdischer Symbiose« eingegangen (vgl. Kobler 1984, 215–231). Heine hat, auch wenn ihm eine »rühmliche Vorliebe für aphoristische Prägnanz« (Reich-Ranicki 1977, 48) bescheinigt wird, keine Aphorismen veröffentlicht. Er hat aber annähernd 400 Einfälle, Bemerkungen oder Skizzen hinterlassen, so das auf einem Gesprächsbeitrag von 1825 beruhende berühmte Diktum »Der Taufzettel ist das Entre Billet zur Europäischen Kultur« (Heine 1988, 246; Heine 1993, 313). Was ihre formale Einschätzung betrifft, so sind sie ausgiebig und kontrovers diskutiert worden. Die Literaturwissenschaftler haben sie einmal terminologisch aufgewertet als »Aphorismen« (Koopmann 2013), dann wieder als zweitrangige Notizen und Paralipomena angesehen. Nachdem schon die Säkularausgabe das notizhaft Vorläufige durch ihre Textgestalt deutlicher hervorgehoben hatte, etwa bei einer solchen Notiz: »J = sie wahren die einzigen die bey der Christlichwerdg Europas sich ihre Glaubensfreyh bhpteten –« (Heine 1988, 193), betrat die historisch-kritische Düsseldorfer Ausgabe nach eigenem
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Bekunden Neuland. Klassische Heine’sche ›Aphorismen‹ wie »Weise erdenken die neuen Gedanken und Narren verbreiten sie« (Heine 1993, 322) oder »Das Oehl, das auf die Köpfe der Könige gegossen wird, stillt es die Gedankenstürme?« (Heine 1993, 331) wird man als solche hier überhaupt vergeblich suchen. Letztlich wird man die Einfälle oder Bemerkungen also schwerlich als vollgültige Aphorismen auffassen können. Von einem Aphoristiker Heine im eigentlichen Sinne kann man deshalb kaum sprechen. Es findet sich viel Vorläufiges, Unfertiges, später zu Nutzendes in diesen Notizen, so wenn er festhält: »Niemals von jüdischen Vhältnissen sprechen […]« (Heine 1988, 196; Heine 1993, 319). Die Religionen sind dort nicht selten Gegenstand seiner Reflexion, mehrfach thematisiert er das Judentum seiner Zeit, etwa mit dieser bitteren Notiz über die »tragische Geschichte der neuern Juden«: »Tragische Geschichte die Geschichte der neuern Juden und schrieb man über dieses Tragische, so wird man noch ausgelacht – das ist das allertragischste –« (Heine 1993, 330; Heine 1988, 230). Und an anderer Stelle: »Ein Jude sagte zum andern: ›ich war zu schwach.‹ Dies Wort empfiehlt sich als Motto zu einer Geschichte des Judentums« (Heine 1988, 250). Auch auf Friedrich Rühs reagiert er hier, der in seinem Pamphlet von 1815 den Juden das deutsche Bürgerrecht absprach, falls sie nicht konvertierten: »Der Judenhaß beginnt erst mit der romantischen Schule (Freude am Mittelalter, Katholizismus, Adel) gesteigert durch die Teutomanen – Rühs –« (Heine 1993, 331, Erläuterung 959; Heine 1988, 231). Der grassierende Antisemitismus in Preußen bringt auch ihn in seinen Nachlass-Notizen zum Grübeln (»Die J. wenn sie gut, sind sie besser als die Chr. Wenn sie schlecht, sind sie schlimmer?«; Heine 1988, 233) und zum Vergleichen (Heine 1988, 248). Im Ganzen lässt er ein ambivalentes Verhältnis zum Judentum erkennen. Es finden sich Notizen, die seine gefühlsmäßige Zugehörigkeit bezeugen: »Das Porzellan das die J einst in Sachsen kaufen mußten – die welche es behielten, können dafür jetzt den hundertfachen Werth bezahlt bekommen. – Am Ende wird Israel für sein Opfer entschädigt, durch die Anerkennung der Welt, durch Ruhm und Größe –« (Heine 1993, 329; vgl. 324; Heine 1988, 248). In anderen Notaten distanziert er sich von diesem »Stamm«: »B. = wenn ich von dem Stamm wäre, dem unser Heiland entsprossen, ich würde mich dessen eher rühmen als schämen – [.] A. = ach! das thät ich auch wenn unser Heiland der einzige wäre der diesem Stamm entsprossen – aber es sind demselben soviel Lumpengesindel ebenfalls entsprossen, daß diese Verwandtschaft anzuerkennen sehr bedenklich –« (Heine 1988, 230). Und weiter : »Schöne Geschichte die jüdische – Aber die jungen Juden schaden den Alten – die man weit über die Griechen u Römer setzen würde – ich glaube gäbe es keine J. mehr und man wüßte es befänden sich noch irgendwo ein Ex von diesem Volk, man würde 100 Stund reisen um es zu sehen, u ihm die Händ zu drücken – u jetzt weicht man uns aus« (Heine 1988, 230; Heine 1993, 330). Hochschätzung des Judentums
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generell, Abwertung der »jungen« Juden um ihn herum, jedenfalls aber Bekenntnis der Zugehörigkeit (»uns«), dann erneut Distanz: »Die Juden, das VolkGespenst, das bey seinem Schatze unabweißbar wachte, dsr Schatz war die Bibel – / ist ihre Mission geendigt?« (Heine 1988, 230). Und Heines Antwort jenseits jeder Religion: »Glaube wenn der weltliche Heiland kommt: Industrie, Arbeit, Freude«. Schließlich diese dunkel orakelnde Vision: »Ich sah einen Wolf, der lekte an einem gelben Stern, bis seine Zunge blutete –« (Heine 1988, 238).13 Für Moritz Goldstein, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur mit seinem berühmten Aufsatz »Deutsch-jüdischer Parnass« von 1912, sondern auch mit seinen »Aphorismen zur Gegenwart und Zukunft der deutschen Juden« eine Schlüsselrolle spielte, ist er der Referenzautor : »Mag man gegen Heine sagen, was man will: er war doch der erste, der das europäische Judenproblem in seiner ganzen Tragik erlebte, dem das Gefühl der Zwiespältigkeit bis in die Fingerspitzen hinein weh gethan hat. Damit allein schon war er ein besserer Jude als Moses Mendelssohn« (Goldstein 1997, 107). Und weiter : »Heine litt am Judentum und gestand es ein. Darum verkennen ihn die Juden am meisten; denn zu glauben, daß man am Judentum leiden könne, verbietet ihnen ihr Stolz, d. h. ihre Dummheit« (Goldstein 1997, 108). Schließlich mit Bezug auf sein eigenes Konzept: »Heines Judentum ist Resignation: das unterscheidet ihn ein für alle Mal von uns Nationaljuden. Aber er hatte als einer der ersten Mut und Ehrlichkeit zu seinem Judentum: das macht ihn zu einem Vorkämpfer der jüdischen Zukunft« (Goldstein 1997, 112). Ludwig Börne (1786–1836) wuchs als Löw Baruch in Frankfurt auf, in einer wohlhabenden Familie zwar, aber in der drangvollen Enge des Ghettos, das seit über 300 Jahren nicht erweitert worden war und das die Juden nur unter strengen Restriktionen verlassen durften. Marcuse schildert dieses mit drei Toren abgeschlossene »Neu-Ägypten« plastisch (Marcuse 1977, 11–24). Erst nachdem 1796 eine Feuersbrunst das Ghetto verwüstet hatte, konnten sich die Juden auch anderswo in der Stadt ansiedeln. Börne erlebte die Fortschritte und Rückschritte in Bezug auf die Emanzipation der Juden aus nächster Nähe. 1791 verkündete die französische Nationalversammlung für alle Juden die staatsbürgerliche Gleichberechtigung. Sie galt im Gefolge der Napoleonischen Kriege auch in Frankfurt. Das Medizinstudium bot den Juden – so Anschel, so Herz und anderen – traditionell als einziges Berufsaussichten. Börne kam zu Marcus Herz14 und fand so auch Zugang zu dem Salon von Henriette Herz, die ihm zu 13 Die europäischen Juden mussten seit dem 11. Jahrhundert besondere Kennzeichen an der Kleidung tragen, in Portugal seit 1492 einen gelben Stern (wie es im Übrigen Fries und Rühs wieder forderten). 14 Vgl. oben S. 22.
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einer mütterlichen Freundin wurde. Es waren also jüdische Reformkreise, in denen sich Börne bewegte, wie Heine, wie später Moritz Saphir (Kobler 1984, 240–244). Durch die den Juden gewährte Rechtsgleichheit konnte er 1811 im öffentlichen Dienst Polizeiaktuar werden. Er beschäftigte sich mit kritischen Studien zu Fragen des Judenbürgerrechts. In seinem kurzen Essay »Juden in der freien Stadt Frankfurt« (Börne 1977; 2, 237–240) spricht er höchst ironisch von den »Auszeichnungen«, die den Juden vor dem »Revolutionsschwindel, der sich von Frankreich her nach Deutschland verbreitet hatte«, zuteil wurden. »Darauf maßten sie sich an, Doktoren, Schuhmacher und Schneider zu werden; sie trieben Wissenschaften und die ganze Technologie, sprachen Deutsch wie Adelung und aßen mehrere Sorten Wurst.« »Mit der neuen Ordnung der Dinge [nach der Schlacht bei Hanau im Oktober 1813] kehrten die Juden in die alte zurück« (Börne 1977; 2, 239). Nach dem Wiener Kongress (dazu Kobler 1984, 194–199), als die Stadt Frankfurt den Juden das Bürgerrecht wieder entzog, wurde er entlassen. In seinem Pass galt er als »juif de Francfort«. 1818 wechselte er mit der Taufe seinen Namen. Das Verhältnis zu Heine, das sich von Freundschaft zu erbitterter Gegnerschaft wandelte, ist ein eigenes Kapitel der deutschen Literaturgeschichte und muss hier nicht nachgezeichnet werden (Marcuse 1977, 236–246). Beide Autoren spielten in dieser Auseinandersetzung vielfach, auch beliebig metaphorisiert, auf ihre Herkunft an. »Er hat nur Sinn für Witz, das heißt, fürs Feuerschlagen. […]. Er ist ein Jude, nur ohne Geld, aber mit Geist« (Börne, Heine 1997, 43). So Börne über Heine an seine Freundin Jeanette Wohl. Und öffentlich: »Herr Heine, der als Jude geboren und nach mosaischem Gesetz erzogen ist, und der nun als Nachfolger Luthers und als die solideste Stütze des Protestantismus auftritt!« (Börne, Heine 1997, 84). »Ludwig Börne war […] seiner Natur nach ein geborener Christ« (Börne, Heine 1997, 223). So Heine in »Ludwig Börne. Eine Denkschrift«, worin er unter anderem einen Gang mit Börne durch das »Judenquartier« Frankfurts schildert (»hier versammelt sich der edle Handelsstand und schachert und mauschelt«; Börne, Heine 1997, 117–255, hier 134) und auf neuerliche antisemitische Veröffentlichungen eingeht. Für Goldstein sind Heine und Börne »die beiden begabtesten Juden des 19. Jahrhunderts«, und beide sind für ihn »abgefallen« (Goldstein 1997, 105). Börnes Aphorismen sind in zwei 1808 bis 1811 geschriebenen Quartheften erhalten, und er veröffentlichte auch Einzelnes daraus in Zeitschriften und Sammelbänden, etwa als »Nachzügler« in seiner 1818 bis 1820 erschienenen Zeitschrift »Die Wage«, als »Ein- und Ausfälle« in den von ihm redigierten »Zeitschwingen« von 1818/19 oder in dem Sammelband »Die Spende« (1823). Für seine »Gesammelten Schriften« stellte er 1829 eine Aphorismensammlung zusammen, und »Fragmente und Aphorismen« sind auch Teil des Nachlassbandes von 1845.
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Die jüdische Herkunft war für Börne nicht viel mehr als eine zufällige Nebensache; er engagierte sich für die Emanzipation der Juden als Teil der Liberalisierung der deutschen Gesellschaft. Mit diesem Ansatz geht er sozialistischen jüdischen Denkern bis zu Ferdinand Lassalle und Rosa Luxemburg voraus. »Dann habe ich öfter gegen die Judenverfolgungen geeifert, weil ich mir keine Freiheit denken kann ohne Gleichheit, und weil ich der Richtigkeit meiner Ansicht um so mehr trauen durfte, da ich an den Juden keine hinreißende Liebenswürdigkeit finde, die mein Urteil zu ihrem Besten hätte bestechen können« (Börne 1977; 2, 378). Explizit stellt er diesen Zusammenhang in seinem Bericht über eine schikanöse Begebenheit in Bornheim bei Frankfurt her. »So weit betrifft diese Sache ›den Juden‹ und wird daher bei manchem Leser keine Theilnahme finden«, heißt es da, ehe er das Skandalöse auf den Begriff bringt, das darin liegt, ohne richterliche Anordnung ins Gefängnis eingeliefert werden zu können, und schließt: »So liegt doch vielleicht etwas hierin, was auch das Gefühl der Judenhasser empören kann« (Börne 1845; 2, 169; nicht in den »Aphorismen und Miszellen«, vgl. Börne 1977; 2, 372). Seine scharfe Kritik hatte eine antisemitische Gegenkampagne zur Folge, andererseits zeugen seine satirischen Porträts auch von seiner zweideutigen Haltung gegenüber dem Jiddisch sprechenden Ghetto. So heißt es in seinen »Aphorismen und Miszellen«: Das europäische Gleichgewicht wird von der Judenschaft erhalten. Sie gibt heute dieser Macht Geld, morgen der andern, der Reihe nach allen, und so sorgt sie liebevoll für den allgemeinen Frieden. […] Sie stellen sich wie die Feigen in der Schlacht tot an, daß man sie nicht töte. Sie wissen recht gut, daß sie, gleich dem Rasen, um so frischer grünen, je mehr sie getreten und geschlagen werden (Börne 1977; 2, 307f.).
Und selbst in seiner polemischen Rezension gegen den Judenhasser Holst räumt er freimütig ein: »Ich habe die Handelswelt nicht zu verteidigen, deren Judentümlichkeit […] mir in der tiefsten Seele verhaßt ist, sie mag in der Gestalt eines Hebräers, eines Muselmannes oder eines Christen mir entgegentreten«, um dann freilich mit der Erörterung der Frage fortzufahren: »Aber ist diese Judentümlichkeit nur allein der Juden Schimpf und Schuld?« (Börne 1977; 2, 512). An anderer Stelle treibt er diese antijüdische Generalisierung auf die Spitze: »Die jüdische Nation gleicht einer Mumie, die ohne Leben den Schein des Lebens trägt und als Leiche doch der Verwesung widersteht« Börne 1977; 1, 163). Sein Biograph Ludwig Marcuse drückt es treffend so aus: Er kämpfte »gegen die Deutschen, weil sie immer dienten; gegen die Juden, weil sie immer schacherten« (Marcuse 1977, 23). Die Kritik an den Juden geht mit der genauesten Beobachtung ihrer unzeitgemäßen Unterdrückung einher : »Aus Neufchatel will man die Juden vertreiben. Sonderbar. Dort werden jährlich 130000 Stück Uhren verfertigt, und dennoch wissen die Herren des Landes nicht, welche Zeit es ist!« (Börne 1977; 2, 339f.; vgl. zu Ausschreitungen in Heidelberg Börne 1845; 2,
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170f.). Am schärfsten kommt das in der längeren Rezension von 1821 zum Ausdruck, in der er sich unter dem Titel »Der ewige Jude« vordergründig mit Ludolf Holsts Schrift »Das Judenthum in allen dessen Theilen« kritisch auseinandersetzt (Börne 1977; 2, 494–538), in die er in Wirklichkeit aber, wie er bekennt, »einige Ansichten über die verwetterte Judensache in Form einer Rezension eingekleidet« habe (495). Sie wächst sich zu einem flammenden Plädoyer für die Bürgerrechte der Juden aus. Hintergrund waren die pogromartigen Unruhen, zu denen es zwei Jahre zuvor in mehreren deutschen Städten, so in Würzburg, Bamberg, Heidelberg, Hamburg und Düsseldorf, als Reaktion auf die Emanzipationsgesetzgebung gekommen war. Börne schreibt hier : »Der Judenhaß ist einer der pontinischen Sümpfe, welche das schöne Frühlingsland unsrer Freiheit verpesten« (498). Und in bitterstem Zynismus: »Dr. Holst will die Juden totschlagen und wenn sie sich zur Wehre setzen, wendet er sich zum Kreise seiner Zuschauer und spricht: Da sehen Sie, meine Herren, wie recht ich habe, wenn ich die Juden beispiellos frech nenne; sie wollen nicht dulden, daß man ihnen noch so wenig den Kopf abschlage, und mucksen!« (503). Für die literarischen Vorbilder des jungen Schriftstellers ist einmal an Lichtenberg zu denken, den er kannte und schätzte; daneben kommen vor allem die französischen Moralisten in Betracht, deren Muster er politisch zuspitzt: »Die Polizei müßte ein wachsames Auge auf die Moralisten haben, sie sind das für die Seele, was die Quacksalber sind für den Leib« (Börne 1977; 1, 148). Die Themen des frühen Börne sind ebenso wie die Formen, speziell etwa Proportion, Antithese und Chiasmus, die im Sinne der Menschen-Kunde klassischen: das Glück, Tugend und Laster, die Liebe und die »Weiber«, auch Philosophie und Geschichte. Aber sie werden nicht einfach reproduziert, sondern produktiv weitergeführt. Charakteristisch sind darüber hinaus zwei politische Themen: die produktive Reibung an den Deutschen und die Reflexion seiner jüdischen Herkunft in Bezug auf eine kosmopolitische Geist-Konzeption: »Eins ist, was mir Freude macht: nämlich dass ich ein Jude bin. Dadurch werde ich zum Weltbürger und brauche mich meiner Deutschheit nicht zu schämen« (Börne 1977; 1, 145). Was Börne zehn Jahre später in seinen Zeitschriften veröffentlichte und was er dann auch 1829 in Buchform versammelt sehen wollte, ist von den frühen Aphorismen in der Gesamtheit sehr verschieden, ohne dass es seine Herkunft verleugnete. Die geheime Verbindung aller Texte ist der politische Impetus: der unermüdliche, sprachlich inspirierende Kampf gegen die Zensur, für Öffentlichkeit und öffentliche Meinung sowie generell für republikanische Freiheiten. Den Mut, »nicht witzig zu sein«, hat er dabei anders als »die Deutschen« ganz entschieden nicht (Börne 1977; 1, 142). Gewalt und Aberwitz sind nur zu besiegen, indem man sie verlacht: Das ist sein Credo, und das ist auch das Neue, das er – zumindest so prononciert – in die Gattungsgeschichte einführt:
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Im alten Frankreich machte der Witz auch Bürgerliche hoffähig und ward dadurch zur Nadel, durch die man den geistigen Faden zog, welcher den dritten Stand mit dem Adel verknüpfte. Auf diese Weise wurde die Revolution herbeigeführt. Die Regierungen unseres Landes können also ruhig bleiben; denn unsere grobe Packnadel zerrisse nur die feingewebte Seele der Weltleute – wir werden uns nie vereinigen und befreunden. Aber welch ein großer Mißverstand ist es, politischen Schriftstellern Grobheiten zu untersagen und Feinheiten zu verstatten! Man sollte gerade das Gegenteil tun (Börne 1977; 2, 199).
Der Witz dient mit dem konsequent durchgeführten Bild von Nadel und Faden nicht nur der Verbindung des dritten Standes mit dem Adel, nicht nur der Erklärung der Revolution, auch der Kontrastierung des eigenen Landes mit dem glücklicheren Nachbarn und schließlich der Selbsterhöhung, indem der Autor den »Mißverstand« der Behörden rügt, solche – seine! – »Feinheiten zu verstatten«. Überhaupt ist Börnes Witz nicht zu zeigen, seine politische Intention nicht darzustellen, ohne dass man auf die Rolle des literarischen Bildes zu sprechen kommt. Die konsequente Anwendung von Beispiel und Vergleich gehört zu den hervorragenden Mitteln des Autors: »Vernunft verhält sich zum Verstande wie ein Kochbuch zu einer Pastete« (Börne 1977; 1, 157; 2, 233). Sein Aphorismus ist in seiner Bildlichkeit plastisch (»Reichtum macht das Herz schneller hart als kochendes Wasser ein Ei.«; Börne 1977; 2, 197), gibt sich wohl zuweilen auch seinem literarischen Spieltrieb hin (»Eine Geliebte ist Milch, eine Braut Butter, eine Frau Käse.«; Börne 1977; 2, 196), bleibt dabei aber nie unverbindlich poetisch-beschreibend, sondern ist von konsequentem politischdidaktischen Nutzwert, auch dort, wo er historische Vergleiche heranzieht und dann ausführt (»Eine ähnliche bürgerliche Bestimmung hat das deutsche Volk.«; Börne 1977; 2, 212) oder wo er Anekdoten, »diese Henkel der großen Seelen, wodurch sie faßlich werden für den Hausgebrauch« (Börne 1977; 2, 245), kommentiert: »›Wann wird Ihre Frau entbunden?‹ fragte Ludwig XIV. einen Hofmann. ›Quand il plaira / votre majest8‹, antwortete dieser mit tiefer Verbeugung . . . So schmeichelt man noch heute den Fürsten, sie könnten die Stunde bestimmen, in welcher die Zeit ins Kindbett kommen soll« (Börne 1977; 2, 223). Er lehrt zwar nicht »Kinder Moral in Beispielen«, ansonsten lässt er uns mit dem folgenden Aphorismus schon einen Blick in seine Werkstatt tun: »Um Kinder Moral in Beispielen zu lehren, dazu gebraucht man die Geschichte. Das heißt, ihnen Schwert und Lanze als Messer und Gabel in die Hände geben« (Börne 1977; 1, 161; 2, 285). Seine witzigen Vergleiche (»Minister fallen wie Butterbrode: gewöhnlich auf die gute Seite.«; Börne 1977; 2, 193), Wortspiele (»Die Deutschen lassen sich leicht unter eine Hut bringen; aber unter einen, schwer. Sie sind nur einig, wo es etwas zu leiden gibt, wo zu tun, niemals.«; Börne 1977; 2, 286) und Sprachglossen weisen auf Karl Kraus voraus, etwa dort, wo er die deutsche Philosophie satirisch
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vernichtet (»Alles, was ist, ist gut.«; Börne 1977; 2, 193–195), oder dort, wo er von dem eben als dümmlich erwiesenen Begriff des »Preußentums« aus über Hessentum, Badentum usw. ein ganzes »Thumrecht« entwickelt (Börne 1977; 2, 340f.) Er besteht dabei jederzeit auf subjektiver Redlichkeit und Wahrheit: »Was ich immer gesagt, ich glaubte es«; und er setzt in zwei Richtungen auf die Kraft der Emotion: Was ihn bewegt (»Man würde lachen, wenn man wüsste, wie bewegt ich bin, wenn ich die Feder bewege.«), das hat ihn zu schreiben bewogen: »Ich suchte zu bewegen« (Börne 1977; 2, 332f.). Sein schriftstellerisches Credo fasst der Satiriker in eine überraschend ›positive‹ Trias: Klarheit, Recht, Liebe: »Soll man die Menschheit beweinen oder über die Menschen lachen? Jeder, wie er will: es ist eines wie das andere. Ob wir spotten oder ernst sind, kriechen oder hüpfen, zaudern oder fortstürmen, hoffen oder fürchten, glauben oder zweifeln – am Grabe begegnen wir uns alle. Doch eins ist, was nützt: die Klarheit. Eins ist, was besteht: das Recht. Eins ist, was besänftigt: die Liebe« (Börne 1977; 2, 323f.). Börne war im Ganzen ein wortkräftiger Verfechter des Assimilationsstrebens, auch wenn sich sein Glaube an die völlige Integration der Juden in die deutschnationale Gesellschaft in den späteren Jahren abschwächte. Sein persönliches Resümee in dieser Hinsicht bietet auch sofort eine soziologische Erklärung: Die einen werfen mir vor, daß ich ein Jude sei, die andern verzeihen mir es; der Dritte lobt mich gar dafür ; aber alle denken daran. Sie sind wie gebannt in diesem magischen Judenkreise, es kann keiner hinaus. Auch ich weiß recht gut, woher der böse Zauber kommt. Die armen Deutschen! Im untersten Geschosse wohnend, gedrückt von den sieben Stockwerken der höheren Stände, erleichtert es ihr ängstliches Gefühl, von Menschen zu sprechen, die noch tiefer als sie selbst, die im Keller wohnen. Kein Jude zu sein tröstet sie dafür, daß sie nicht einmal Hofräte sind (zit. nach Zeitlin 1963, 38).
Mit der Emanzipation der Juden geht ein postemanzipatorischer Antisemitismus einher, wie er sich mit seinen Stereotypen von der Täuschung und der scheinhaften Assimilationsbereitschaft schon bei Lichtenbergs Kollegen Michaelis andeutete, wie er mit den Pogromen nach 1819 und der Damaskus-Affäre 1830 bei Varnhagen, Heine und Börne schon zur Sprache kam und wie er sich später in Richard Wagners »Das Judentum in der Musik« (1850) ausprägte (vgl. Kobler 1984, 323–331).15 Ein frühes antisemitisch-aphoristisches Beispiel ist der Frankfurter Rechtsanwalt Ludwig Daniel Jassoy (1768–1831), der wenig bekannt ist, aber mit sechs Bänden unter dem Titel »Welt und Zeit«, veröffentlicht zwischen 1815 und 1828, der wohl produktivste Aphoristiker zumindest der ersten Jahrhunderthälfte war. Dieses »antijüdische Ressentiment« in seinen Aphoris15 So verfasste der Germanist Friedrich Heinrich von der Hagen eine Polemik gegen den Typus des Ewigen Juden in Person von Börne, Heine, Saphir und ihre »höchste Stufe der Gottesund Kreuzeslästerung« (Hagen 1832, 5): »Er gibt sich dabei überall für einen Deutschen aus, wie er denn auch deutsch schreibt« (11).
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men ist auch Sangmeister nicht verborgen geblieben (Jassoy 2009, 52). Dabei ist seine Biographie, so weit sie rekonstruierbar ist, in dieser Hinsicht alles andere als eindeutig. Nach seinem Studium, unter anderem bei Schlözer in Göttingen, war der höchst erfolgreiche Anwalt auch Rechtsberater der Frankfurter Rothschilds, war möglicherweise sogar in ihrem Auftrag auf dem Wiener Kongress, »um dort den judenfeindlichen Bestrebungen entgegen zu treten.« »Daß die Juden, besonders die Frankfurter Judenschaft, stark hinter den Kulissen des Wiener Kongresses gearbeitet haben, […] ist bekannt. Sie stützten sich dabei außer auf ihre offizielle Abordnung unter Führung von Jacob Baruch, dem Vater L. Börnes, auf geheime Agenten und Mittler, auf den Einfluß der Rothschilds« (Wicht 1950, 21). Bei den Wahlen für das Jahr 1818/19 zur Frankfurter Gesetzgebenden Versammlung »wurde er nicht wieder in den Gesetzgebenden Körper gewählt, weil er als Advokat mehrerer jüdischer Häuser im Ruf stand, ein Judenfreund zu sein« (Wicht 1950, 33). In der Anmerkung dazu schreibt Wicht: »Ein großer Teil der Frankfurter Bevölkerung war judenfeindlich eingestellt und wollte die Juden am liebsten wieder in das Ghetto einsperren. Die Hep-HepUnruhen im August 1819 waren ein deutlicher Ausbruch dieser judenfeindlichen Stimmung.« Er kommt im Ganzen zu einer ambivalenten Einschätzung: »Natürlich mußte Jassoy von seinen liberalen Ansichten aus den auf Aberglauben, Vorurteilen und Eigennutz beruhenden Judenhaß ablehnen und die Verweigerung der bürgerlichen Gleichberechtigung für die Juden […] als einen Rest der Barbarei des Mittelalters ansehen. Andererseits macht er aber aus seiner Abneigung gegen gewisse Fehler und Schwächen der Juden keinen Hehl« (Wicht 1950, 33f.). Jassoy bleibt mit seinem politisch-literarischen Kampf gegen den Adel und die »Pfaffen« in der politisch zugespitzten Spätaufklärung. Was seine Haltung den Juden gegenüber betrifft, so ist eine Ambivalenz im Sinne Wichts wohl nicht zu verkennen, die Abneigung wird aber doch in allen Bänden von »Welt und Zeit« explizit. So heißt es schon im zweiten Band: Der Handel hat die Juden, und die Juden haben den Handel verdorben! (Jassoy 1817; 2, 114). Wenn ein Jude zu empfangen hat, kommt er immer eine Stunde zu früh, und wenn er bringen soll, wenigstens eine Stunde zu spät (Jassoy 1817; 2, 117).16
Auch die Angst vor zuviel jüdischer Emanzipation spricht aus ihm: Würde auf einmal das Judenthum in Deutschland herrschend; so ließen sich gewiss unter hundert unserer Convertiten neun und neunzig sogleich beschneiden (Jassoy 1817; 2, 107). 16 Man darf hier allerdings nicht vergessen, dass er dieses Ressentiment gegen die Handelsjuden sogar mit Börne und Heine teilt.
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Das Ressentiment insbesondere gegenüber dem getauften Handelsjuden setzt sich im dritten Band fort: Ein neugebackener Baron und ein getaufter Jude sind bei ihrer ersten Erscheinung in der Gesellschaft in gleicher Verlegenheit (Jassoy 1818; 3, 61). Nichts ist anmaßlicher, als ein Jude, wenn er Etwas zu bedeuten glaubt, oder zu befehlen hat (Jassoy 1818, 3, 62). Das Geld ist der Verstand der Kaufleute und das Blut der Juden (Jassoy 1818; 3, 63).
Im vierten Band begegnet in diesem Zusammenhang die erst späterhin allbekannte syntaktische Figur, die auf eine pflichtgemäße Salvierung per Negation (Niemand wird…; Ich habe nichts gegen…) die eigentlich entscheidende Einschränkung mit »aber« folgen lässt: Niemand wird den Israeliten überhaupt Geist, Witz und eine eigene Lebhaftigkeit absprechen; Niemand läugnen, daß es unter ihnen interessante, angenehme Menschen giebt; aber die wissenschaftliche Unterhaltung eines ästhetischen Handelsjuden erregt bei mir immer den nemlichen Widerwillen, als wenn ich in einen stark überzuckerten Schaafkäse beißen sollte. – (Jassoy 1819; 4, 172).
Einem Exzerpt aus einer Frankfurt Stadtchronik, das zum einen Vergehen und Verbrechen von Juden, zum andern pogromartige Ausschreitungen sammelt, stellt er im fünften Band diese eigenartige, wohl ironisch zu verstehende Einleitung voraus: »Die armen deutschen Juden haben in den alten Zeiten sehr schlechte Geschäfte gemacht. Ein Auszug aus Lersners Chronik der Stadt Frankfurt mag solches beweisen und der gewachsenen Humanität zum Lobe dienen. Auch diese Barbarei gehört zu den Herrlichkeiten des Mittelalters!« (Jassoy 1822; 5, 165).17 Auch dort heißt es wieder, gegen die Handelsjuden gerichtet: »Wer die Juden aus dem Handel zum Ackerbau treibt, ist ihr wahrer Messias!« (Jassoy 1822; 5, 361). Und noch in den »Aphorismen über bürgerliche Gesetzgebung und Rechtspflege« von 1826 schreibt er : »Die Juden geben uns den deutlichsten Beleg dazu, was aus einem Volke werden muss, wenn sich dasselbe ausschließlich mit dem Handel beschäftigt und immer seine Kinder dazu erzieht –« (Jassoy 1826, 85f.). Ebenfalls in Frankfurt gab Börne 1818 seine kulturell wie politisch orientierte Zeitschrift »Die Wage« heraus. Dem starken Ressentiment gegen die Juden, das aus Jassoys Schriften spricht, könnte auch jeder Hinweis auf den jüdischen Kollegen Börne – im Sinne von Totschweigen – zum Opfer gefallen sein.18 Oder 17 Achilles Augustus von Lersners (1662–1732) Chronik erschien in zwei Bänden 1706 und 1734. 18 Die wechselseitigen Abhängigkeiten müssen noch deutlicher geklärt werden. Wicht spricht vom »Vorbild Jassoys« und sieht im Einzelnen »die direkte Abhängigkeit Börnes wenigstens in formaler Hinsicht« (Wicht 1950, 178).
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sollte gerade dieser den Stoßseufzer bewirken: »Wenn sich doch unsere frommen Christen den politischen Verstand und die Kraft der gottlosen Heiden anschaffen lernten; so würde es auch um das Christenthum selbst besser stehen« (Jassoy 1817; 2, 107)? Sollte Börne hier ungenannt gemeint sein: »Die Juden sind jetzo die Schooßkinder der Christenheit. Sie allein sollen die reine Muttermilch der Freiheit und Aufklärung aus den Brüsten der Zeit trinken, während die Christen selbst kaum mit Wasser und Milch groß gezogen werden« (Jassoy 1815; 1, 143)? Fürsprecher der Assimilation wie Heine und Börne, dazu neben den beiden der Prototyp eines als böse und zersetzend angesehenen jüdischen Witzes und gleichzeitig der Prügelknabe der deutschen Antisemiten: das ist Moritz Gottlieb Saphir (1795–1858). Saphir wurde zum Rabbiner ausgebildet, wandte sich aber vom orthodoxen Judentum seiner Familie ab. In den »Lebenden Bildern aus meiner Selbstbiographie« heißt es: Ich wurde vom Schicksal zum Juden bestimmt, von meinen Eltern zum Handelsmann, von meiner Erziehung zum Dorfrabbiner, von den Verhältnissen zum armen Teufel, von dem Zufall zu seinem Fangball, und trotz diesen Bestimmungen bin ich jetzt so ein ehrlicher und aufrichtiger Christ, wie nur ein ehrlicher und aufrichtiger Christ sein kann. (Saphir 1900; 1, 1; Saphir 1978, 7)19
Und in »Meine Memoiren«: Ich bin nämlich von Geburt ein – Jude. Ich könnte sagen, ein »Israelite« oder »mosaischer Religion«, aber »Hühneraugen« bleiben »Hühneraugen«, auch wenn sie unter dem Namen »Leichdörner« unter die Leute gehen. Als Jude geboren werden ist jetzt, nachdem die Fackel der wahren Aufklärung von Kamschatka bis weit über HessenKassel hin leuchtet, bloß ein »Geburtfehler«; vor 25 Jahren war es noch ein »Geburtlaster«, und vor 60 Jahren war es ein »Geburtsverbrechen«! (Saphir 1900; 1, 22; Saphir 1978, 10).
Saphir fand in einem Umfeld von Kurzformen, neben Aphorismen Rätseln, Gedichten und Dialogen, in dem satirischen, von der Mehrheit seiner Leser als typisch »jüdisch« angesehenen Witz sein journalistisches Betätigungsfeld. Damit geht er den massenhaften witzigen Gedankensplittern der Jahrhundertwende voraus. Zu der Affinität des Jüdischen zum Witz hat schon der Zeitgenosse Hebbel hellsichtig bemerkt: Das Specifische in Saphir hat eine tiefe nationale Wurzel und dürfte leicht mit ihm verlöschen. Es ist nicht zufällig, daß gerade die jüdischen Schriftsteller der neueren Zeit bis jetzt so witzig waren, und es ist, wie die Bibel beweis’t, wahrlich nicht auf Palästina zurück zu führen. Wer immer gebückt und geduckt gehen, wer den Kopf immer zwi19 Er ließ sich, um Hoftheaterintendanzrat werden zu können, taufen.
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schen den Schultern tragen muß, und nur blinzeln darf, dem verschieben sich die reinen runden Linien des Universums ganz von selbst zum scharfkantigen Zickzack, doch das nimmt mit der Ursache selbst natürlich ein Ende.
Was die Zukunft betraf, hat er sich allerdings getäuscht, wenn er fortfährt: »Die Emancipation wird den Juden in der Beziehung zum Heil gereichen, aber ihrem Witze wird sie schaden.«20 Saphir wirkte ab 1825 in Berlin, später in München. In Paris 1830 verkehrte er unter anderem mit Börne und Heine; über beide hat er sich wiederholt geäußert (Saphir 1900; 2, 222–237; Saphir 1978, 42–46). So heißt es über Börne: »Sie bewiesen, daß nicht der Schriftsteller in ihm ein Rebell ist, sondern der Jude; sie bewiesen sogar, daß nicht der Schriftsteller in ihm witzig und geistreich ist, sondern auch bloß der Jude« (Saphir 1900; 2, 230); und zusammenfassend: »Der Refrain jeder Beurteilung hieß: ›Es sind Juden!‹ All ihr bißchen Gehirn und Mutterwitz brachte keinen anderm [!] Streitkolben als diese Altweiberwaffe auf, die freilich noch imer die wohlfeilste ist, und in dem Zeughause der deutschen Litteratur zu ihrer Schande und zu ihrer Dummheit noch immer gang und gäbe ist« (Saphir 1900; 2, 230f.). Ab 1837 gab er in Wien die Zeitschrift »Der Humorist« heraus. Er hielt humoristische »Vorlesungen« in ganz Deutschland; gegen die demokratischen Tendenzen der Zeit zog er polemisch zu Felde. Börne schreibt im Dezember 1831 an Jeanette Wohl: »Daß ich den Saphir ›als einen geistreichen Mann hingestellt‹ (was ich doch übrigens weder gewollt noch getan), können sie mir gar nicht verzeihen. Von so einem miserablen Menschen dürfe man gar nicht öffentlich sprechen« (Börne, Heine 1997, 35). Mit seiner opportunistischen und manchmal skrupellosen Art machte es Saphir seinen zahlreichen Gegnern leicht. Indem er den humoristischen Stil von Jean Paul und Börne nachbildete, entwickelte der Schnellschreiber von krankhaftem Geltungsbewusstsein das Wortspiel zur Virtuosität. Sein vielerprobter Ausgangspunkt ist die Verbindung von Frage und Antwort, »Stilmittel, wie er sie bei seinen Studien im Talmud kennen und benutzen gelernt hatte« (Barthel in Saphir 1978, 169), also die im Witz sich auflösende Rätselfrage: »Warum ist der Tod der beste Doktor? – Weil er nur eine Visite macht« (Saphir 1998, 263, vgl. 262, 264 u. ö.). Saphir selbst sieht das Talmud-Studium nicht so eindeutig positiv. In seinen Memoiren widmet er ihm einen Exkurs: Wenn man diesen Wust von Gelehrsamkeit und Unwissenheit, von Scharfsinn und Borniertheit, von Weisheit und Frivolität, von unerforschlicher Geistestiefe und unglaublicher Schalheit durchstöbert, so erstaunt man über die Gesetzlosigkeit der Gesetze des Denkens, über die Vereinbarung der höchsten Intelligenz mit der tiefsten 20 Friedrich Hebbel: Sämtliche Werke. Hist.-krit. Ausgabe. Hg. von Richard Maria Werner. 11. Bd. Berlin: Behr 1903, S. 360.
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Finsternis, über den Mißbrauch des tiefsten Scharfsinns, der angehalten wird, die krasseste Dummheit zu beleuchten (Saphir 1900; 1, 37; Saphir 1978, 75).
»Scharfsinn«, »Weisheit«, »Geistestiefe«, »höchste Intelligenz«: die eine Seite dieses Studiums kann jedenfalls auch eine aphoristische Schulung sondergleichen sein. Alles biegt Saphir konsequent in die vordergründig-pointenorientierte Witzform um, die auf Einverständnis spekuliert, und dies ist literarisch ebenso wie ökonomisch motiviert: »Die Ehe ist das Grab der Liebe, und die Frau ist sogleich das Kreuz darauf!« (Saphir 1998, 273). Eine dialektische Argumentation fällt dabei nur in seltenen guten Fällen wie nebenher ab: »Arbeit macht Hunger, darum gibt man den Menschen keine Arbeit, damit sie nicht hungrig werden!« (Saphir 1998, 203). Die besondere Affinität der Juden zum Witz kann diesem jüdischen Witzemacher selbst nicht verborgen bleiben: Es ist wahr und bleibt auffallend, daß die Juden den Witz fast ausschließlich wie den Handel an sich gebracht haben. Das »Warum?« und »Wieso?« liegt vielleicht nicht so fern, als man glaubt. Schon darin erstens, weil man durch die Zensur den Witz fast überall beschneiden läßt, hält er sich selbst für einen Juden und hält sich zu seinen Glaubensgenossen. Aber auch in dem hochtragischen Schicksal dieser Nation liegt die Essigmutter ihres Witzes. […] Die Juden haben zu dem Witz gegriffen, weil das jener Waffendienst ist, bei dem sie es mit der Zeit bis zum Offizier bringen können, bevor ein Armeebefehl den Taufschein und nicht das Verdienst in Betracht zieht (Saphir 1900; 2, 231; Saphir 1978, 35f.; vgl. Kobler 1984, 255–257).
Mit diesem Witz hat er in seiner Zeit durchaus befreiend gewirkt. In der Furchtlosigkeit seiner Satire ist er Avantgarde; Zensur und polizeiliche Verfolgung sind politische Realitäten für ihn, und seine Texte werden politisch rezipiert. Anders ist das Bonmot nicht zu verstehen: »Der Saphir ist ein Edelstein, der nur von der Polizei richtig gefasst werden kann.« Wenn man allerdings weiß, dass es wahrscheinlich von ihm selbst stammt und somit als eine Art ReklameGag intendiert gewesen sein und gewirkt haben dürfte, dann ist man wieder zurückgeworfen in eine diffuse Mitte zwischen politischem Impetus und der privaten Literatenlust am gewinnbringenden Skandal. Das Urteil eines zeitgenössischen Literarhistorikers kennzeichnete ihn lange Zeit zur Genüge: »Er ist der incarnirte Wortwitz; das ist seine Bedeutung in der Literatur. […] Im Grunde ist der Wortwitz spitzig, polemisch, scandalsüchtig, klopffechterisch, herausfordernd – und wie der Witz, so sein Autor. […] Tiefere Ideen werden zum Glücke selten von diesen hin und her spielenden Wortmaschinen zerrieben« (Gottschall 1861, 123f.). Kraus erledigte ihn literarisch noch verstärkt in dem Willen, sich gegen den allfälligen Vergleich zur Wehr zu setzen: »Er legte dem Publikum keine Gedanken in den Weg und störte es durch keine Gesinnung. Seine Einfälle waren ein Aufstoßen, seine Poesie war Schnackerl« (Kraus 1986,
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124). Heute sieht man allerdings auch »nicht zu leugnende Gemeinsamkeiten« (Mieder in Saphir 1998, 28), und es gibt es Bestrebungen, einen Teil seines Werkes zu ›retten‹. Der große Rest aber verdankt sich zweifellos essenzloser Wortspielvirtuosität. Die Spaltung innerhalb der deutschen Judenschaft in der Folge der Aufklärung bildet sich auch innerhalb der Gattungsgeschichte ab. Jacob Bernays (1824– 1881), als klassischer Philologe Schüler Friedrich Wilhelm Ritschls, bekannte sich anders als Börne oder Heine zeitlebens zum orthodoxen Judentum und weigerte sich, zum Christentum zu konvertieren, um eine Karriere als Hochschullehrer antreten zu können. So konnte er erst dann Professor in Bonn werden, als es mit der Gründung des Norddeutschen Bundes 1866 zur endgültigen rechtlichen Emanzipation der Juden gekommen war (vgl. Kobler 1984, 289–294). Seine aphoristischen »Auszüge und Einfälle«, ca. 2000 Aphorismen, Bemerkungen, Anekdoten und Beobachtungen, sind bis auf wenige Abschriften verloren gegangen. Sein Editor hält sie für eine »Aphoristik, die in ihrem eignen Rang erst noch zu entdecken ist« (Bernays 1988, 132), und je genauer man sich auf sie einlässt, desto freudiger teilt man dessen Urteil. Sie rechtfertigen eine relativ breite Betrachtung auch deshalb, weil sie in der Gattungsforschung unberücksichtigt geblieben sind. Dabei sind sie moralistisch im besten Sinne, und das sowohl inhaltlich (»Ein verstandener Irrtum ist besser als eine geglaubte Wahrheit.«; Bernays 1988, 134) wie formal. Die Paradoxie handhaben sie so unaufdringlich wie überlegen: Die zwei langlebigsten Dinge sind tote Religionen und tote Sprachen (Bernays 1988, 146). Der Starke ist am fürchterlichsten [,] wo er fürchtet (Bernays 1988, 139).
Von Selbstkritik nicht freie Skepsis leitet sie: »Jeder gescheite Mensch hat Tage und Wochen, in denen er nur aus Erinnerung weiß, dass er kein Dummkopf ist« (Bernays 1988, 137). Zum Vergleich stellen sich wie von selbst nur die größten Autoren der Gattung ein. Man wird an Ebner-Eschenbach erinnert: »Es gibt Bücher, die mit dem Menschen wachsen (Bibel, Homer), andere, zu denen er hinaufwachsen muss« (Bernays 1988, 134). Vor allem scheint – bei einem Geistesverwandten, nicht einem Epigonen – Lichtenberg durch. Es ist dessen besondere Ironie, die auch bei Bernays etwa im kritischen Blick auf die Deutschen gefällt: »Der größte Beweis von der unverwüstlichen Langmut der Deutschen ist, dass sie Goethe nicht gesteinigt haben« (Bernays 1988, 140). Man meint geradezu den Älteren zu hören: »Es gibt Leute, auf die es so wenig ankommt, dass man ihnen im Gespräch nur deshalb Recht gibt, weil es nicht die Zeit wert ist, die es kosten würde, sie von
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ihrem Unrecht zu überzeugen« (Bernays 1988, 150).21 Das reicht bis in stilistische Details: »Manche Dinge muss man erst selbst getan haben, um sie mit Fug geringschätzen zu können; z. B. ist es so mit dem Bücherschreiben« (Bernays 1988, 141).22 Neben vielen Bemerkungen zu Philologie, Geschichte und Politik enthält das schmale Konvolut pointierte Urteile, so über Lessing, Goethe, Pascal, Schopenhauer, Niebuhr ; Ranke und Treitschke werden scharf abgeurteilt, aber auch Mendelssohn: »Wer keinen Sinn für Geschichte hat, der versteht vom Judentum, das seinem Wesen nach durch und durch Geschichte ist, so viel wie ein Stück Holz« (Bernays 1988, 133). Mit Mendelssohn ist schon der in unserem Kontext entscheidende Akzent gesetzt: Naturgemäß nimmt die Reflexion über jüdische Fragen einen so relativ breiten Raum ein, dass sie hier nur exemplarisch wiederzugeben ist. Dabei geht der orthodoxe Jude im Grundsatz apologetisch vor. 1844 heißt es: »Das Judentum ist Altertum, das graueste und bestäubteste, aber auch das ursprünglichste« (Bernays 1988, 133). Und zwölf Jahre später : »Wenn die Juden nichts weiter wären als lebendige Glossare für den hebräischen Bibeltext, so hätten sie immer noch ein weltgeschichtliches Recht der Existenz« (Bernays 1988, 141). 1860: »Das Heidentum hat krassen Götzendienst [,] aber Freiheit von Dogmen; die besseren christlichen Sekten haben keinen krassen Götzendienst, aber dogmatische Knechtschaft; zugleich von Götzen und Dogmen frei ist nur der Jude« (Bernays 1988, 144). Zweierlei ist damit verbunden. In seinen Urteilen über die christlichen Konfessionen ist er alles andere als zurückhaltend: »Der Protestantismus ist zu einer verschämten Lüge geworden, und der Katholizismus war von jeher eine unverschämte Lüge« (Bernays 1988, 147). Und Abstand, wenngleich anderer Art, hält er auch im Blick auf die konkrete jüdische Gegenwart. So heißt es 1854: »Auch nachdem der jetzige welterneuernde Krieg entschieden worden ist, werden die Juden bleiben, wie sie sind. Denn die Welt wird nie so neu werden, dass der Handel mit alten Hosen aufhören müsste« (Bernays 1988, 140). Und im Jahr darauf: Unter den jetzigen Juden ist aus Mangel jedes politischen Sinns das Familiengefühl so heftig geworden, dass es bei den gewöhnlichen Menschen jede individuelle Selbständigkeit, also jede wahre Persönlichkeit erstickt, die Stärkeren aber zwingt, sich mehr als 21 Zum Vergleich: »Es gibt Leute die nicht sowohl Genie als ein gewisses Talent besitzen dem Jahrhundert oder wohl gar dem Dezennium seine Wünsche abzumerken, noch ehe es sie tut« (D 422); »Es gibt Leute, die glauben, alles wäre vernünftig, was man mit einem ernsthaften Gesicht tut« (E 286); »Es gibt Leute, deren Lippen mit gleicher Breite um den ganzen Mund herumgehen, der dadurch das Ansehen von einem Feuerstahl erhält. Mit denen ist selten viel anzufangen« (F 336); vgl. auch E 172, F 550, F 779, F 1108, L 582 u. a. 22 »[…] Auch habe ich bei andern Gelegenheiten bemerkt, daß man über gewisse unschädliche Ungezogenheiten sich erst ärgern muß, um sie hernach erträglich zu finden […]« (J 108).
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unter normalen Verhältnissen billig wäre, von der Familie loszumachen. Im Wesentlichen sind die Juden noch jetzt Nomaden (Bernays 1988, 141).
Es nimmt nicht wunder, dass der politisch äußerst reflektierte und urteilsstarke Gelehrte nicht nur generelle Aussagen zur jüdischen Thematik macht, sondern auch sehr konkret die Entwicklungen seiner Zeit beobachtet, innerhalb des Judentums wie in seinem Verhältnis zur Gesamtgesellschaft. Für den Orthodoxen ist »die jetzige jüdische Reform ein abortativer Balg« (Bernays 1988, 133). Was die Emanzipationsbestrebungen betrifft, da weiß er im besonderen Maße, wovon er redet. So hält er sie für unausführbar bei den Gebildeten, denn »noch mehr als bei den Ungebildeten behaupten die Antipathien ungeschwächt ihre Kraft« (Bernays 1988, 144). An seine optimistischer gesinnten Glaubensgenossen gerichtet heißt es: »Das Pochen der Juden auf ihre ›Rechte‹ fördert ihre Gleichstellung nicht; der Staat muss das Bedürfnis haben, die Juden zu verwenden« (Bernays 1988, 146). Zu latentem Judenhass nimmt er eine dialektisch besondere Position ein, wenn er den nachteiligen Einfluss erkennt, den dieser auf die Bildung der Juden hat: »Sie können die vox populi nicht mehr als vox Dei betrachten« (Bernays 1988, 134). Bernays nimmt – die wenigen Proben belegen es – in der deutschen Gattungsgeschichte einen bisher übersehenen nicht unbedeutenden, in der deutsch-jüdischen Aphoristik zwischen Börne und Auerbach aber den zentralen Platz ein. Wieder eine andere Facette als Saphir oder Bernays verkörpert Berthold Auerbach (1812–1882), auch was das deutsch-jüdische Verhältnis betrifft (vgl. Kobler 1984, 265–272). Dem Humoristen Saphir, der sich einer staatlichen Anstellung wegen taufen lässt, und dem orthodoxen, jüdisch-selbstbewussten und thematisch expliziten Bernays steht der assimilatorisch ›verborgene‹ späte Auerbach gegenüber. Nach einem abgebrochenen Rabbinerstudium fand er als liberaler kleindeutsch-preußischer Patriot in der deutschen Literatur seine neue säkulare Religion; das Judentum verstand er als Konfession, nicht als Nation. In einem Essay »Das Judentum und die neueste Literatur« von 1836 sowie in seinem im Jahr darauf erschienenen Roman »Spinoza« setzte er sich mit deutsch-jüdischen Themen im Sinne von Reform und Assimilation auseinander. Er plante darüber hinaus eine ganze »Reihe historischer Zeit- und Sittenbilder aus dem Leben der Juden« unter dem Titel »Das Ghetto« (Auerbach 2014, 268f.). Sein »Tagebuch aus Wien« (1849) ist eine lange Zeit unausgeschöpft gebliebene Quelle zur antisemitischen Verfolgung der Juden um die Mitte des 19. Jahrhunderts und ihrer Verflechtung in die Revolution von 1848 (Kapp 2012). Es zeigt auch, dass Auerbach bewusst als Jude für eine demokratische Verfassung kämpfte. Großen Erfolg hatte er mit den »Schwarzwälder Dorfgeschichten« (ab 1842), die mit ihren jüdischen Nebenfiguren als Modell deutsch-jüdischer Harmonie dienen
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sollten und die Integration auf der Basis humaner Vernünftigkeit bewusst fördern wollten. Aber selbst er, der so deutsch fühlende volkstümliche Erzähler, erlebte den Zwiespalt zwischen seiner deutschen und seiner jüdischen Seele, wie es sein Lexikograph formuliert (Horch in Kilcher 2012, 14–17). Die auf einer Kindheitserinnerung beruhende Erzählung von der Kreuzigung eines Juden beispielsweise ist unvollendet geblieben und erst 2014 gedruckt worden (Auerbach 2014, 259–264); den »inneren Widerspruch« von Auerbachs Konzeption arbeitet auch sein Herausgeber Twellmann heraus (Auerbach 2014, 295). 1875 veröffentlichte Auerbach unter dem Titel »Tausend Gedanken des Collaborators« eine Aphorismensammlung, deren fiktiver Autor ihm als Sprachrohr seines konservativ-liberalen Programms dient. Es ist verbunden mit einer idealistischen Volksnähe, bei gleichzeitiger Skepsis gegenüber der Sozialdemokratie und jeglichem Klassenkampf. »Vom Staat« (Auerbach 1875, 117–138) weiß Auerbach, der in frühen Jahren als Burschenschaftler verhaftet wurde, der 1848 Mitglied der Frankfurter Paulskirche war und 1871 die deutsche Einheit feierte, gewiss einiges zu sagen. Komponenten seines ideologischen Grundgerüstes sind: der Glaube an die Mächte von Natur und Geschichte, an ewige Wahrheit und ewige Schönheit im Sinne Goethes, die Versöhnung von Idealismus und Realismus sowie an einen mythischen Volksbegriff, der moderne soziale Kategorien ausblendet und unangemessen organisch-harmonisch ist: »Im Volke lebt man wie im Wald – jeder Baum für sich und doch zusammen Wald« (Auerbach 1875, 58). Hinzu kommt der tiefe Argwohn gegenüber jeder Form aphoristischen Witzes: »Tiefere poetische und philosophische Naturen sind selten oder nie Bonmotisten. Diese sind vielmehr die Sprudel- und Schaumgeister« (Auerbach 1875, 249). Das Klischee vom jüdischen Witz verfängt denn auch bei ihm ganz und gar nicht: »Den Witz als ständige Geistesnahrung betrachten, das heißt Sauerteig als Brod backen wollen. Nur im guten, süßen Teig ist er richtige Triebkraft [,] aber nicht Nahrungsstoff an sich« (Auerbach 1875, 249). Es ist nicht so, dass er keinen seiner »Tausend Gedanken« auf das Jüdische verwendete. An einer Stelle lässt er sogar Empathie durchblicken: »Die Juden sind Kinder des Mitleids, sie verstehen Leid zu tragen, zu lindern, weit besser, als Freude zu schaffen; die Erinnerung vergangener Gedrücktheit macht sie verständnisvoll für alles Leiden« (Auerbach 1875, 71). Allerdings ist hier betont von »vergangener Gedrücktheit« die Rede, die Gegenwart ist ausgeblendet. Auerbach erhebt sich zu einer Objektivität, einer Relativierung, die über den Religionen steht: »Unsere drei großen Kirchen (Judenthum, Katholicismus und Protestantismus) müssen in unserer, von gewissen Erkenntnissen durchsetzten Gesellschaft doch noch Solche haben, die an ihren Glauben glauben, sonst beständen die Kirchen nicht« (Auerbach 1875, 123). Man ist berechtigt, daraus ein rhetorisches Muster abzulesen. Drei Völker, heißt es, hätten »der alten Welt
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Weitwirkendes gegeben: die Juden die Bibel, die Griechen den Homer und die olympischen Göttergestalten und die Römer das corpus iuris« (Auerbach 1875, 223). Und an anderer Stelle, wiederum gewissermaßen unangreifbar objektiviert: »Die reine, die geläuterte Religion! Der Jude meint damit sein reines, geläutertes Judenthum; der Katholik den wahren Katholizismus; der Protestant den reinen Protestantismus. […] Aber das, was man durch die Bildung aus der Religion herausdestillirt, ist eben diese Religion nicht mehr« (Auerbach 1875, 284). So wie er hier auf der gleichartigen und gleichwertigen Dreiheit rekurriert, so dienen ihm auch die Griechen zur Relativierung: »Griechen und Juden gingen als staatliches Gemeinwesen zu Grunde und wurden dann die wirkungsvollsten Bildner der Allgemeinheit« (Auerbach 1875, 224). Am Ende seines Lebens waren auch seine Hoffnungen auf eine Integration der Juden als deutsche Bürger zunichte geworden (Auerbach 2014, 292f.). In Zeitlins Anthologie wird er mit folgendem »Aphorismus« (aus einem Brief an seinen Vetter vom 19. März 1880; Kobler 1984, 270f.) zitiert: »Es ist zum Verzweifeln. In den Freiesten steckt ein Hochmut und Widerwille gegen die Juden, der nur auf Gelegenheit wartet, um zu Tag zu kommen. Und was soll denn das, dass die Juden sich gut bewähren sollen? Ist das nicht eine Art Inquisition?« (Zeitlin 1963, 61; vgl. Auerbach 2014, 289). Gleich nach seinem Tode kam es zu einer regelrechten »Demontage« (Regenbogen 2012), und Auerbach ist – als zu Lebzeiten international berühmtester deutscher Schriftsteller! – erst seit den 1980er Jahren überhaupt wieder zur Kenntnis genommen worden. Auerbachs Lebensdaten 1812 und 1882 stehen für »Beginn und Niedergang der deutsch-jüdischen Weggemeinschaft«, 1812 die ersten preußischen Emanzipationsgesetze, 1882 der Höhepunkt des sogenannten frühen Antisemitismusstreits. So stellt es Horch treffend fest (Horch in Kilcher 2012, 14), der einmal mehr das desillusionierende Fazit aus einem Brief vom November 1880 zitiert: »Vergebens gelebt und gearbeitet!« Auerbachs aufklärerische Utopie einer versöhnten Gesellschaft ist als trivialisierend und verschleiernd scharf kritisiert worden; am Ende seines Lebens ist sie nur noch anachronistisch. Heinrich von Treitschke, der ihn als »Hofjuden« und »Salontiroler« verunglimpfte und ihm »Confessionslosigkeit« vorwarf, löste mit seinem 1879 veröffentlichen Aufsatz »Unsere Aussichten« den Berliner Antisemitismusstreit aus.23 Der Kernsatz daraus »Die Juden sind unser Unglück« wurde und wird häufig zitiert; im Nationalsozialismus wurde er geradezu zum Schlagwort. Treitschkes entschiedenster Gegner war übrigens der berühmte Althistoriker Theodor Mommsen, und mit ihm wiederum eng befreundet war Jacob Bernays, um das weite Feld nur anzudeuten, in das sich die deutsch-jüdische Gattungsgeschichte einordnet. 23 Vgl. Kurt Lenk: Der Antisemitismusstreit oder : Antisemitismus der »gebildeten Leute«. In: Horch 1988, S. 23–34.
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Treitschkes Angriff hatte auch zur Folge, dass sich, vor allem durch Karl Marx’ 1879 erschienenes Pamphlet »Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum«, die kämpferisch besetzte Opposition Semitismus – Antisemitismus terminologisch durchsetzte. Zwei Jahre nach Treitschkes Attacke gegen Auerbach versuchte Eugen Dühring in seiner Kampfschrift »Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage« die sog. »Judenfrage« als Ausdruck eines unaufhebbaren Rassengegensatzes wissenschaftlich zu begründen. Eine breite Bewegung zur Begrenzung der Judenemanzipation war die Folge. Die im August 1880 eingeführte Antisemitenpetition sollte die Juden von allen hohen Staatsämtern ausschließen und eine angebliche jüdische Einwanderung stoppen. In Frankreich entwickelte sich parallel dazu nach der Verurteilung des Hauptmanns Alfred Dreyfus 1894 wegen angeblichen Landesverrats die Dreyfus-Affäre. Eckertz hat in einem zweiteiligen Aufsatz von 1908 »Der Aphorismus in Deutschland« mit Heine auf das Engste Nietzsche in Verbindung gebracht, unterscheidet allerdings auch klar zwischen beiden. Heine habe »etwas Undeutsches«, »undeutsch wenigstens im Gegensatz zur deutsch-aphoristischen Art Nietzsches« (Eckertz 1908, 391). Nietzsche ist nicht nur für Eckertz die Zentralgestalt. Sein nicht zu überschätzender Einfluss lässt sich auch an der deutschjüdischen Aphoristik erkennen, schon in seinem persönlichen Umfeld. Zu ihm selbst, der nicht nur die Literatur nach ihm, auch das Gattungsbewusstsein wie kein anderer geprägt hat,24 schreibt Kobler, der auch für ihn Briefzeugnisse sammelt (Kobler 1984, 334–396), 1935 pathetisch: »Kein Denker des Abendlandes hat für das Judentum […] schönere Worte gefunden, keiner tieferen Glauben an die Sendung und geistige Erhöhung Israels gehegt als Friedrich Nietzsche« (334).25 Und für den Antisemiten Bartels ist er »Judenfreund aus reinem Widerspruchsgeist.«26 1875 ließ Nietzsches Freund Paul R8e (1849–1901), Protestant jüdischer Herkunft, seine »Psychologischen Beobachtungen« anonym erscheinen, Aphorismen »Ueber Bücher und Schriftsteller«, »Ueber Weiber, Liebe und Ehe«, »Ueber Glück und Unglück« und anderes, die Nietzsches Beifall fanden. Nietzsche und R8e wohnten und arbeiteten im Winter 1876/77 in Sorrent gemeinsam. R8e ist lange Zeit von seinem Dreiecksverhältnis mit Nietzsche und 24 Vgl. dazu Spicker 2004, 23–55. 25 Zum Beleg nur ein Aphorismus aus dem Buch »Morgenröte«: »Vom Volke Israel« (F. N.: Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 2., durchgesehene Auflage. München: Deutscher Taschenbuch Verlag; Berlin, New York: de Gruyter 1988 (= KSA). Bd. 3, S. 180–183 (»Morgenröte« 3, Nr. 205). 26 Adolf Bartels: Die deutsche Dichtung der Gegenwart. Die Jüngsten. Leipzig: Haessel 1921, S. 87.
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Lou Salom8 her gesehen worden und hat stets in deren Schatten gestanden; erst in jüngster Zeit findet er von sich aus mehr Beachtung. Sein Unfalltod oder Selbstmord in den Alpen hat, von Theodor Lessing befeuert, zu mancherlei Spekulationen über den »jüdischen Selbsthass« Anlass gegeben (R8e 2004, 46– 51). Seine Einsichten, an der Lektüre Schopenhauers und der Moralisten geschult, bleiben indessen vergleichsweise blass, sie sind weder gedanklich originell noch stilistisch bemerkenswert, etwa zu den Frauen (»Gefahren und Weiber dürfen, wie Nessel, nicht zaghaft angefaßt werden.«; R8e 2004, 88) oder zu Hoffnung und Glück: »Unsere Hoffnungen beglücken, solange sie nicht in Erfüllung gegangen sind« (R8e 2004, 116). »Ueber die menschlichen Handlungen und ihre Motive« (R8e 2004, 65–88) erfährt man meist nicht viel Neues; auch dafür sollte man zu den Werken des kompromissloseren und schärferen Freundes greifen. »Ueber religiöse Dinge« (R8e 2004, 110–113) äußert sich R8e religionskritisch im allgemeinen Sinne und auf jede Konfession bezogen: Die Orthodoxen hassen die Freigeister, weil sie von ihnen für dumm gehalten zu werden fürchten (R8e 2004, 111). Die Geistlichen erhalten die Religion, weil die Religion sie erhält (R8e 2004, 113).
Der Herausgeber der »Gesammelten Werke« zitiert gegen mögliche Einwände eine spezielles Argument: »Zugunsten von R8e ließe sich allerdings anführen, daß dieser als Jude mit dem Status des ›ewigen Fremdseins‹ bestens vertraut war, somit aus der Grenzerfahrung des ›marginal man‹ (R. E. Park), ›der an zwei Kulturen teilhat, ohne einer wirklich anzugehören‹ (Park), Nutzen ziehen konnte« (R8e 2004, 395). Zeitlin hat auch ihm ein kleines Kapitel mit allgemeinen moralistischen Einsichten gewidmet (Zeitlin 1963, 63–65). Paul Lanzky (1852–1935) lernte Nietzsche 1883 persönlich kennen; seiner Aphorismensammlung »Abendröte« wegen, deren Titel Nietzsche als anmaßlich empfand, kam es 1887 zum Bruch. In seinen »Aphorismen eines Einsiedlers« (1897) sind inhaltliche und formale Abhängigkeit unübersehbar. Sie atmen mit Kapiteln wie »Der Freie«, »Der Erkennende« oder »Der Einsame« ganz den Geist des »Zarathustra«. Diese »Gedankenlyrik in Aphorismenform«27 tut Janz zu Recht kurz als »Epigonenliteratur«28 ab. Auch wenn sie sich im Untertitel noch stärker an das Vorbild anschließen, bewahren sich hingegen die Aphorismen »Sant’ Ilario. Gedanken aus der Landschaft Zarathustras« (1897) ihre geistige Unabhängigkeit. Ihr Autor, der nachmalige große Bonner Mathematiker Felix Hausdorff (1868–1942), trat unter 27 Curt Paul Janz: Nietzsche. Biographie. 3 Bände. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1981 (= dtv 4383). Bd. 2, S. 252. 28 Ebd., S. 253. Ob Lanzky jüdischer Abstammung war, konnte ich nicht mit letzter Gewissheit klären.
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dem Pseudonym Paul Mongr8 auch als Philosoph und Schriftsteller hervor. Hausdorff schreibt über sein Erstlingswerk an Peter Gast: »Ihrem musikalischen Ohr wird meine enge Zugehörigkeit zu Nietzsche ebensowenig entgehen wie meine behutsame Zurückhaltung von Nietzsche« (zit. nach Hausdorff 1992, 79). Das Buch entstand bei einem Aufenthalt an der ligurischen Küste um Genua; in derselben Gegend verfasste Nietzsche die ersten beiden Teile von »Also sprach Zarathustra«. Der jüdische Hochschullehrer sah sich schon nach der Jahrhundertwende an der Universität Leipzig starkem Antisemitismus ausgesetzt. Er wurde 1935 emeritiert und durfte die Hochschule nicht mehr betreten. 1942 nahm er sich das Leben, um der Verschleppung ins Vernichtungslager zu entgehen. In seinem Abschiedsbrief heißt es: »Wenn Sie diese Zeilen erhalten, haben wir Drei das Problem auf andere Weise gelöst – auf die Weise, von der Sie uns beständig abzubringen versucht haben. […] Was in den letzten Monaten gegen die Juden geschehen ist, erweckt begründete Angst, dass man uns einen für uns erträglichen Zustand nicht mehr erleben lassen wird« (Hausdorff 1992, 11).
Natürlich, darf man fast sagen, beginnt die Vorrede zu seinem Aphorismenband mit Nietzsches Diktum »Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit.«29 Hausdorffs dialektisches Denken kommt besonders den kurzen »Splittern und Stacheln« darin zugute: Gewohnheit ist schon Verwöhnung; auch das harte Lager muss man wechseln (Hausdorff 1897, 249). Egoist: Einer, der es mit sich gut meint; Altruist: Einer, der will, dass Andere es gut mit ihm meinen (Hausdorff 1897, 256). Wer mich treffen kann, schuldet mir einen Pfeil (Hausdorff 1897, 279).
Dass Benyo[tz dem »Verfasser eines reichen, weitreichenden Aphorismenbuches, des geistvollsten in der Nachfolge Nietzsches und eines der schönsten Bücher seiner Zeit überhaupt«, derart huldigt, empfiehlt es gewiss erneuter prüfender Lektüre (Benyo[tz 1995, unpag., Anm. zu S. 40). Auch für Walter Cal8 (1881–1904) war Nietzsche der geistesgeschichtliche Scheitelpunkt. Der angehende Philosophiedozent nahm sich früh das Leben und hinterließ ein schmales Tagebuch, das von Januar bis Mai 1904 reicht (Cal8 1907, 317–398). Seine über 300 Aufzeichnungen setzen sich, an Hebbel orientiert, vor allem mit Philosophie, Ästhetik, Literatur, speziell dem Drama auseinander. Sie sind im Zusammenhang der Gattungsgeschichte und insbesondere unter dem 29 Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 2., durchgesehene Auflage. München: Deutscher Taschenbuch Verlag; Berlin, New York: de Gruyter 1988 (= KSA). Bd. 6, S. 63 (Götzendämmerung, Sprüche und Pfeile Nr. 26).
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Aspekt zu betrachten, wie weit die eigene Tagebuch-Aphoristik den theoretischen Überlegungen entspricht. Dies sind, bedingt durch den frühen Freitod des Autors, alles nur Spuren. Zu Fragen von Religion und Herkunft äußert sich der Sohn eines jüdischen Berliner Kaufmannes im gedruckten Nachlass nicht. Auch an ihn hat schon Zeitlins Anthologie erinnert (Zeitlin 1963, 66–67). Ein Teilmotiv für Cal8s Freitod ist der klassische deutsch-jüdische Konflikt, wie ihn Ludwig Jacobowski (1868–1900) in seinem Roman »Werther der Jude« 1892 gestaltet hat. Der Held scheitert zwischen dem eigenen Wunsch nach Assimilation und der nicht zu unterdrückenden Verwurzelung in seiner jüdischen Herkunft sowie an dem erstarkenden Antisemitismus: jenseits des Aphorismus ein weiterer hochinteressanter Baustein im Gebäude der deutsch-jüdischen Literatur (Schütz 1992, 143–145). Denn damit nicht genug: Seine »Bedeutung« fasst die Wikipedia-Biographie so zusammen: »Die Verschmelzung jüdischer und abendländischer Kulturimpulse führten [!] zu einem außergewöhnlich reichen Schaffen auf verschiedensten gesellschaftlichen Gebieten. […] Seine Mitarbeit im 1890 gegründeten Verein zur Abwehr des Antisemitismus schlug sich auch in seinem Werk nieder.« Und Schütz weiß von seiner »qualvoll-prekären Doppelexistenz als Deutscher und Jude« (Schütz 1992, 144) zu berichten; seine Anschauungen, so zitiert er aus dem Vorwort zur dritten Auflage von 1898, zeigten »immer nur die eine Wegrichtung: Restloses Aufgehen in deutschen Geist und deutsche Gesittung.« Auch ein anderes Schlüsselwerk in diesem Zusammenhang kann nur mit einem Seitenblick bedacht werden. Karl-Emil Franzos (1848–1904), bekennender Jude sephardischer Herkunft aus Galizien, war als Wiener Student Mitglied einer deutsch-nationalen Burschenschaft, die er enttäuscht verließ, als er ihre antisemitische Gesinnung nicht mehr übersehen konnte. In seinen Feuilletons und Reisebildern aus dem Osten der österreichischen Monarchie, vor allem auch in seiner Novellensammlung »Die Juden von Barnow« (1877), die jüdische Stetlgeschichten vereint, argumentierte er für eine stärkere Anpassung der Juden an die deutsche Kultur, weshalb er einigen Attacken jüdischer Zeitungen ausgesetzt war. Er rechtfertigte sich damit, dass er als erster Jude die Juden realistisch und ohne jegliche Schönfärberei gezeichnet habe. Auch »Der Pojaz«, der Entwicklungsroman eines galizischen Juden (1905, entstanden 1893), ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert (Schütz 1992, 136–139; Schwarz 2014, 107–129). Während das 18. Jahrhundert für die Gattungsgeschichte des deutsch-jüdischen Aphorismus die sozialen Grundlagen legt, entwickelt sie sich im 19. Jahrhundert sehr schnell zu vereinzelten, je verschiedenen Höhepunkten: bei Börne und Saphir ebenso wie bei Bernays und Auerbach. Der Begriff der Entwicklung darf
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in keiner Weise suggerieren, dass es dabei um so etwas wie eine fortschreitende Weiter- und Höherentwicklung ginge. Die Kernfragen der Emanzipation und Assimilation bilden sich biographisch wie literarisch in divergierenden Formen ab; sie verschärfen sich nach 1880 durch den verstärkten Druck von außen in vorausweisender Art. Zu einem qualitativ wie quantitativ geradezu überwältigenden Strom gestaltet sich diese Geschichte, ein im doppelten Sinne kleiner Teil der allgemeinen Literaturgeschichte, aber erst im 20. Jahrhundert, so kurz es infolge von Ermordung und Emigration für diesen Sektor auch ist. Die Kurve, mathematisch gesprochen, schnellt nach oben. Auch hier wird nach den Gründen zu fragen sein.
»Wir Juden verwalten den geistigen Besitz eines Volkes, das uns die Berechtigung und Fähigkeit dazu abspricht.« Das 20. Jahrhundert
Die Wende zum Zwanzigsten Jahrhundert steht für das deutsch-jüdische Verhältnis im verschärften Gegensatz von Antisemitismus und Zionismus. Für Geiger sind es die »beiden traurigen Schmarotzerpflanzen des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts«. Sie »können in mir die Überzeugung nicht vernichten, daß der deutsche Gelehrte und Schriftsteller jüdischen Glaubens voll und ganz in Sprache und Gesinnung ein Deutscher ist« (Geiger 1910, 11). Was den Antisemitismus betrifft, so kam Adolf Bartels in der Literaturwissenschaft nach 1903 und bis in die zwanziger Jahre hinein zur unseligen Geltung mit seinem Konzept der reinlichen Scheidung von Deutschtum und Judentum (»Das Judentum in der deutschen Literatur«, 1903; »Judentum und deutsche Literatur«, 1910/1912; »Jüdische Herkunft und Literaturwissenschaft«, 1925). Ludwig Geiger ist ihm sogleich energisch entgegengetreten (Geiger 1910, 4–6). Das alles kann hier nur kurz angedeutet werden. Auf den Aphorismus bezogen heißt es jedenfalls aus diesem Klima heraus in Eckertz’ Artikel von 1908 deutlicher: »Dem scharf antithetischen Lapidarstil der Bibel kommen bezeichnenderweise am nächsten die Juden Heine und Börne und, in der knappen Klarheit wenigstens, auch die Aphorismen des Juden R8e«, wie überhaupt »die jüdische Rasse den günstigen Boden für den biblischen Aphorismus« bilde (Eckertz 1908, 381). Innerhalb des Judentums verschärfte sich die Spaltung in (mehrheitlich) Liberale und Orthodoxe (als kleine Minderheit), Tendenzen zur Säkularisierung und – den christlichen Konfessionen analog – Konfessionalisierung sind erkennbar. Die seit 1871 rechtliche Gleichstellung (mit geringen Ausnahmen wie dem Militär) und die tatsächliche soziale Gleichstellung der deutschen Juden waren absolut inkongruent.30 1897 fand in Basel der 1. Zionistenkongress unter Führung Theodor Herzls statt (Schütz 1992, 127–128).31
30 Man vergleiche dazu die mit Zahlen gestützte soziologische Einschätzung von Schütz, der auch die Positionen von Scholem, Gay und Volkov vergleicht (Schütz 1984, 105–112). 31 Kobler stellt auch hier briefliche Quellen zusammen (Kobler 1984, 354–377).
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»Bürger zweiter Klasse.« Die deutsch-jüdische Aphoristik um die Jahrhundertwende Quer zu der Gemengelage zwischen Antisemitismus, Assimilation und Zionismus stehen verschiedene Strömungen, die sich nur aus der Gattungsgeschichte erklären und in die sich auch die deutsch-jüdischen Aphoristiker zum größeren Teil einordnen lassen: so um die Jahrhundertwende neben einer klassisch-moralistischen Tradition in die witzige Gedankensplitter-Aphoristik. Es ist bezeichnend, dass sich für die dritte Ausprägung, eine in Irrationalismus und deutscher Innerlichkeit schwelgende Aphoristik des Herzens, keine deutschjüdischen Autoren finden.32 Ein früher Vertreter des witzorientierten Aphorismus war der Vortragsreisende und Berufshumorist Julius Stettenheim (1831–1916), der in der Nachfolge Saphirs zu sehen ist. Im Titel des Witzblattes, dessen Redakteur er war, lässt sich die für den Aphorismus typische Metaphorik des Stechend-Verletzenden noch erkennen: »Die Wespen«. Stettenheims »Nase- und andere Weisheiten« von 1904 beuten mechanisch die Möglichkeiten aus, die vor allem Wortspiel (»Ich traf neulich eine Blondine, deren ich mich dunkel erinnerte.«; Stettenheim 1904, 36) und Wellerismus (»Mich trifft der Schlag! stöhnte die Pauke.«; Stettenheim 1904, 80) einem Lachbereiten bieten: Dass er mit viel Geschick Die Aphorismen, die als Lesebeute Er hat behalten, in die Sätze streute: Wahrlich, das nenn’ ich ein erl es enes Stück (Stettenheim 1904, 115).
Aber der Witz war nicht alles: Die Zeitschrift des »Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens«, der, 1893 gegründet, für die Mehrheit der assimilierten bürgerlich-liberalen Juden sprach, widmete ihm einen Nachruf, in dem es heißt: »Der kürzlich im hohen Greisenalter von 85 Jahren verblichene geniale Humorist Julius Stettenheim begleitete die politischen Ereignisse mit aller Aufmerksamkeit und beleuchtete sie mit dem scharfen Glanz seines Witzes.«33 Hier schließt die relativ schmale Aphoristik des Lustspielautors und Kritikers Oscar Blumenthal (1852–1917) an. Blumenthal, Sohn einer orthodoxen Rabbinerfamilie, war der meistgespielte Bühnenautor seiner Zeit (»Im weißen Rössl«). Eine Auseinandersetzung mit dem Judentum findet sich in seinem Werk nicht; die Frage der jüdischen Identität erübrigte sich für ihn mit der Emanzipation. In 32 Vgl. Spicker 2004, S. 66–69. 33 Adolph Kohut: Julius Stettenheim gegen den Antisemitismus. In: Im deutschen Reich. November 1916, Heft 11–12, S. 264–269.
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den Aphorismen, die er neben seinen zahlreichen Versen, Skizzen, Glossen, Epigrammen und Kurzessays verfasste (»Vom Hundertsten ins Tausendste«, 1876; »Wellenringe«, 1912), repetiert er nur das seit je Geläufige, die mitproduzierende Aktivität des Lesers, hübsch verkleidet: »Man macht den Aphorismen mit Unrecht ihre zu dehnbare Allgemeinheit zum Vorwurfe. Aphorismen sind Summen – das Exempel muss der Leser hinzudenken. Aphorismen sind gegebene Endreime – an dem Leser ist es, sich einen Vers daraus zu machen« (Blumenthal 1876, 109). Und in den satirischen Versen der »Klingenden Pfeile« (1904) heißt es: Einem Aphoristiker Aus Zahm und Bissig, Alt und Neu Stopft mancher einen Band voll Doch trennt man Weizen von der Spreu, So bleibt nicht eine Hand voll (Blumenthal 1904, 159).
Exemplarisch für diesen witzigen Gedankensplitter kann Moritz Goldschmidt (geb. 1865) mit »Splitter und Balken!« von 1910 und den »Stichworten« von 1913 gelten. Seine Aphorismen sind in einem primär politikfreien Raum angesiedelt und bevorzugen bewährte Effekt-Formen wie Antithese oder Definition. Der Witz versteht sich hier als pointensicheres Wortspiel und wohlfeile, augenzwinkernde Menschenkenntnis. Goldschmidts Markenzeichen ist der stauende Gedankenstrich, der auf die Pointe vorbereitet, als die sich noch die kleinste überraschende Abweichung versteht; er ist recht eigentlich das Vorsignal: »Die Emanzipation der Frauen ist so alt wie – Eva!« (Goldschmidt 1910, 75). Er erzeugt Scherze von der Art: »›Papa!‹ lautet die erste Lüge sehr vieler Kinder« (Goldschmidt 1910, 14) und Definitionen (»Moral, so heißt die Brandmauer zwischen den Geschlechtern, die noch nie einen Brand verhindert hat.«; Goldschmidt 1910, 30), die vor allem die Klischees von Liebe und Ehe immer wieder noch einmal festigen. Das ist altersloser Witz, der sich auf diesem Niveau von Saphir her immer gleich bleibt: »Sprichwörter sind Aphorismen der Volksseele« (Goldschmidt 1910, 94). Das Paradox ist einschichtig und sofort durchschaubar : »Das versteht die Frau viel besser als der Mann: h o c h zu sinken« (Goldschmidt 1910, 41). Unter den Autoren, die um 1900 die klassische Moralistik fortführen, sind an erster Stelle Emanuel Wertheimer, Paul Nikolaus Cossmann und Salomon BaerOberdorf zu nennen.34 Daneben sind auch A. Jaff8s »Gedanken und Gleichnisse« (1904) und Erwin Kalischers »Aphorismen« (1907) von moralistischem Gepräge 34 Sie werden später zu Wort kommen. Von Wertheimer ist im Wiener Zusammenhang zu sprechen. Cossmann und Baer-Oberdorf wurden von den Nazis ermordet; beide werden deshalb in einem gesonderten Kapitel behandelt, das dokumentiert, wie der Holocaust selbst die Gattungsgeschichte im 20. Jahrhundert dominiert.
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in engerem Sinne. Für Jaff8 waren Goethes »Maximen und Reflexionen« das Vorbild. Seine Texte sind durchgehend (geschichts- und staats-)philosophisch und kunsttheoretisch orientierte kurze, aber argumentativ umständlich breite Reflexionen, in Abteilungen wie »Allgemeines«, »Kunst«, »Philosophie« oder »Politik« gesammelt, oft in thematisch gleichen Reihen und ganz professoral bestimmt. Jaff8 äußert in dem umfangreichen Band jeweils eine Meinung zu einer ganzen Palette philosophischer Fragestellungen, von der Ästhetik, detailliert aufgefächert, bis zur Politologie. Für Kalischer (1883–1951) war die Bewahrung einer aufgeklärten jüdischen Religion der zentrale Gesichtspunkt. Im unbeirrten Glauben an das Zusammenwirken von Religion und Kunst zur moralischen Entwicklung der Menschheit bedenkt er die traditionellen Themen in meist schlichter Aussage ohne Pointenbrillanz noch einmal. Seine Vorstellung von Kultur und Kulturanstrengung steht häufig in Verbindung mit der Lichtmetaphorik: »Lasst Religion und Menschlichkeit nebeneinander flammen und die Welt wird hell und warm werden!« (Kalischer 1907, 38). Im Übrigen sind die bilderreichen Texte schwächlich, dabei gattungsbewusst. Bei den »Aphorismen« Benedict Friedländers (1866–1908), eines Berliner Zoologen, Sexualwissenschaftlers, Soziologen und Ökonomen, erschienen 1911 »aus dem Nachlass meines Bruders«, handelt es sich hingegen um unvollendete Manuskripte aus seinen diversen Forschungsgebieten, um »erste aphoristische Aufzeichnungen« (Friedlaender 1911, 3), so heißt es z. B. »Aphoristische Betrachtung über den Einfluss der Verpflanzung« (Friedlaender 1911, 61) oder »Einstweilen in Aphorismen« (Friedlaender 1911, 63). Friedlaenders Bruder folgt mit seiner Titelgebung dem älteren wissenschaftlichen Aphorismus-Begriff, der das Vorläufige, Unvollendete betonen will, wie er vereinzelt bis ins 20. Jahrhundert hinein weiterlebt.35 Wenn sie damit auch gattungsgeschichtlich nicht weiter von Belang sind, so sind sie in unserem speziellen Kontext doch eine Nebenbemerkung wert durch ihren Bezug auf Eugen Dühring, den vielseitigen Nationalökonomen und Philosophen und einflussreichen militanten Antisemiten, der den absoluten Rassengegensatz wissenschaftlich begründen wollte. Friedländer hat Dühring dennoch Marx gegenüber geradezu in den Himmel gehoben: »steht so hoch über dem Vertreter des Staatskommunismus Marx, dass man beide beinahe kaum in demselben Satze nennen mag« (Friedlaender 1911, 88). Das hindert ihn nicht, den Antisemiten Dühring in einer Notiz »Betreffs Dühring« scharf anzugreifen. Ein längeres Zitat aus dieser entlegenen Schrift
35 Vgl. Friedemann Spicker : Der Aphorismus. Begriff und Gattung von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1912. Berlin: de Gruyter 1997 (Quellen und Forschungen zur Literaturund Kulturgeschichte 11), S. 144–148.
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möge den von Treitschke ausgelösten Antisemitismusstreit im Deutschen Reich veranschaulichen: Die Judenrasse zu einem Träger der Reaktion stempeln zu wollen, ist eine parteiische Ungerechtigkeit; es geht nicht an, Marx und die ›Marxer‹ der ganzen Rasse in die Schuhe zu schieben. […] Der Versuch, grundsätzlichen Radikalismus und grundsätzliche Judenfeindschaft mit einander zu verkoppeln, ist nur von Dühring […] gemacht worden, aber vergeblich. […] Den Juden ganz singuläre Ausbeutungsneigungen zuzuschreiben, geht in der Aera der arischen hinter Schloss und Riegel sitzenden Hofbankiers […] selbst einem Dühring nicht mehr recht von statten; denn selbst dieser große Judenhasser hat hin und wieder zugestehen müssen, dass gar viele arische Elemente nicht sonderlich besser als die Juden seien. […] Mit dem ›Verschwindenlassen‹ oder dem ›Ausmerzen‹ wird es wohl nichts werden, und man würde in einem solchen Falle bei den Juden auch nicht Halt machen, um so weniger, als ja die neue indirekte ›Judenerkennung‹ die bequemste Handhabe bietet, jedermann zum Juden zu stempeln: früher kam es auf die Abstanmmung an, jetzt genügt alles mögliche, z. B. auch die Schreibart (Friedlaender 1911, 100f.).36
Am Rande ist hier auch Max Bernstein (1854–1925) zu erwähnen, der als Theater- und Kunstkritiker in der Tradition Heines, als Organisator, Anreger und Förderer vieler Schriftsteller und Künstler sowie als Anwalt der literarischen und politischen Opposition eine zentrale Gestalt des literarischen Lebens im Deutschen Reich war. Seine Bedeutung ist weniger in seinem literarischen Werk als in seinen zahlreichen literatur- und kulturhistorisch relevanten Tätigkeiten zu sehen. Aphoristiker im engeren Sinne ist er zwar nicht, aber es gibt Anlass, »die Geburt des Aphorismus aus dem Geist der Rede« dieses berühmten Vortragsredners und Anwalts zu beobachten (Joachimsthaler 2002). Die ursprünglich isolierten Aphorismen hat er wohl erst nachträglich in seine Lustspiele und Reden hineinmontiert; der Nachlass, der Auskunft geben könnte, ist verloren. Nicht mehr als eine Fußnote innerhalb der Gattungsgeschichte ist die Aphoristik der »Blätter für die Kunst«, der Zeitschrift des George-Kreises. Unter den (anonymen) Autoren sind aber immerhin neben George selbst und Ludwig Klages auch der Literaturwissenschaftler Friedrich Gundolf (Friedrich Leopold Gundelfinger ; 1880–1931) und Karl Wolfskehl (1869–1948), beide aus hoch angesehenen Darmstädter jüdischen Familien.37 Von Wolfskehl, der über die Schweiz 36 Vgl. oben S. 46. Man beachte die Anspielung auf Bartels, vgl. oben S. 53. 37 »Stefan George hat nachhaltig Juden beeinflusst und geprägt. Seine Gedichte fanden bei ihnen einen Resonanzraum wie bei niemandem sonst. Zur engsten Umgebung des Dichters gehörten, neben Wolfskehl, Friedrich Gundolf, Richard Perls, Georg Simmel, Georg Bondi; zum weiteren Kreis zählen Ludwig Strauß, Ernst Kantorowicz, Werner Kraft, auch Walter Benjamin und insbesondere Rudolf Borchardt« (Sparr in Kilcher 2012, 552).
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nach Italien floh und in Neuseeland starb, finden sich hier auch namentlich gezeichnete Aphorismen »Blicke und Blitze«, klassisch kurze, eher raunende Texte im hohen Ton: Gehört euch voll an, denn ihr müsst euch ganz verlieren. Weihet euch zur feier der fülle (Wolfskehl 1986, 23). Ein altar ist eine jungfrau, auf dem sich alle spenden läutern. Jungfräulich ist echte kunst, in sich geborgen. Keiner ist dem sie diene und alles geschehen verklärt ihr licht (Wolfskehl 1986, 23).38
Er gilt »als der bedeutendste Repräsentant der jüdischen George-Rezeption, die eine Symbiose von Deutschtum und Judentum anstrebte« (Sparr in Kilcher 2012, 552). Die akademische Karriere des großen, wirkmächtigen Soziologen Georg Simmel (1858–1918), der zum Berliner Kreis um George zählte, ist vielfach durch den grassierenden Antisemitismus behindert worden. Seine »Fragmente« (1923) sind tatsächlich letzte unvollendet gebliebene Texte »Aus einem nachgelassenen Tagebuche«.39 Der wissenschaftliche Hintergrund ist dabei unverkennbar : »Alles was man beweisen kann, kann man auch bestreiten. Unbestreitbar ist nur das Unbeweisbare« (Simmel 1923, 4). Im Übrigen gleichen sie sich in ihrer Prägnanz durchaus gelegentlich den bewusst als Aphorismen formulierten Texten an, so antithetisch-chiastisch, so definitorisch: »Naturwissenschaft geht auf die mögliche Notwendigkeit, Religion auf die notwendige Möglichkeit« (Simmel 1923, 8). Und auch thematisch lassen sie von deren Weite nichts vermissen, etwa in Texten zu Jugend und Alter oder ganz allgemein dem, was den Menschen ausmacht: Die Jugend hat in der Regel unrecht in dem, was sie behauptet; aber recht darin, daß sie es behauptet (Simmel 1923, 29). Das Entscheidende und Bezeichnende des Menschen ist, wo seine Verzweiflungen liegen (zit. nach Hindermann 224).40
Auch Edith Landmanns (1877–1951) »Gesprächsäußerungen« von aphoristischer Qualität stehen in losem Zusammenhang mit der Gattung innerhalb des
38 Vgl. auch Hugo von Hofmannsthal: Bildlicher ausdruck. Dichter und leben. In: Blätter für die Kunst. 4. Folge, I.–II. Bd., S. 13–14. Zu Wolfskehls Deutung des Judentums zusammenfassend Sparr in Kilcher 2012, 552–553. 39 Eine Anthologie deutscher Aphorismen räumt ihnen zwischen Nietzsche und Schnitzler ungewöhnlich viel Platz ein: Federico Hindermann, Bernhard Heinser (Hg.): Deutsche Aphorismen aus drei Jahrhunderten. 2. Auflage. Zürich: Manesse 1987, S. 222–231. 40 Vgl. Benyo[tz’ Zitate, u. a. aus Michael Landmanns (und Kurt Gassens) »Buch des Dankes an Georg Simmel« in Benyo[tz 2012, 232, 366, 369. Vgl. unten S. 160.
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Kreises. Sie sind des bescheidenen Titels ungeachtet von genuin aphoristischer Qualität: Revolutionen kommen von denen, die das Alte nicht mehr verstehen (Landmann 1980, 143). Die verdummende Vorherrschaft des Verstandes (Landmann 1980, 147).
Jeder Religion stehen sie skeptisch gegenüber : Einen Grund gibt es immerhin, an Gott zu glauben: dass man jemanden hat, dem man sagen kann, wie dankbar man ist (Landmann 1980, 142). Je kleiner ein Schädel, desto mehr Wissen ums Jenseits geht hinein (Landmann 1980, 142).
»Soviel man auch grübelt: es gibt keine Lösung der Judenfrage.« Die deutsch-jüdische Aphoristik vor 1933 zwischen Zionismus und Assimilation Einen frühen Markstein der Gattungsgeschichte im 20. Jahrhundert bildet Moritz Goldstein (1880–1977), der bei dem berühmten Germanisten Erich Schmidt41 promoviert worden war, sich vergeblich eine Karriere als Dramatiker erhoffte und Journalist wurde. Markstein ist er weniger durch seinen Aufsatz »Deutsch-jüdischer Parnass« von 1912 (Schütz 1992, 112–113; Voigts 2014)42 als durch die 1907 begonnenen »Aphorismen zur Gegenwart und Zukunft der deutschen Juden«. In seinem aufsehenerregenden Aufsatz propagierte er als dritten Weg gegenüber der Alternative Assimilation oder Zionismus eine deutschsprachige jüdische Nationalliteratur. Die Juden sollten vorerst noch in der Diaspora bleiben und dort die Heranbildung einer nationalen Identität vorbereiten. Der Antisemit Bartels nahm die Auseinandersetzung mit ihm in seinem Überblick über die jüngste Literatur zum Ausgangspunkt seines Kapitels über den »Sensationalismus und die Herrschaft des Judentums«.43
41 Adolf Bartels nennt ihn denn auch einen »richtigen ›Pater Iudaeorum‹, er habe »dem Deutschtum ganz unendlich geschadet« (Adolf Bartels: Die deutsche Dichtung der Gegenwart. Die Jüngsten. Leipzig: Haessel 1921, S. 81). 42 »Kein normaler politischer Text«, »kein normaler literarischer Text«; »Der Text ist beides: Literatur und Politik« (Voigts 2014, 157). Voigts hat sich von einer affirmativen Einstellung gegenüber Goldstein nach seinen jüngeren Forschungen entfernt. Dort arbeitet er die »offensichtlichen Widersprüche in seiner Argumentation« (171) sowie »die politische Indienstnahme des Kunstwart-Aufsatzes« (194) heraus. 43 Bartels 1921, zu Goldstein S. 73–75 und 77–78. Seine manische Suche nicht nur nach Juden und Jüdischem, sondern auch nach mit Juden Liierten und unter ihrem Einfluss Stehenden,
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Goldsteins wenig bekannte »Aphorismen« befassen sich in den Worten der Herausgeberin »mit Fragen der kulturellen Selbstwahrnehmung deutscher Juden und dem Versuch einer historischen Bestandsaufnahme des Judentums« (Goldstein 1997, 81). Er hat sie nicht zu veröffentlichen versucht, weil er zu Recht fürchtete, sich damit zwischen alle Stühle zu setzen. Sie sind erst 1997 in der Zeitschrift »Aschkenas« publiziert worden.44 Schon im Untertitel wird Nietzsches Einfluss deutlich: »Umwandlung aller jüdischen Werte« (Goldstein 1997, 89). Goldstein schwankt zwischen der Hoffnung auf Integration und Anerkennung einerseits, zynischer Ablehnung alles Deutschen andererseits. In den eigenen Worten seiner »Erinnerungen«: »Ich sah mich in einer Doppelheit, die mich in zwei Hälften zu zerreissen drohte. Die logische Folge wäre gewesen, mich für eine der beiden Seiten zu entscheiden, ganz jüdisch oder ganz deutsch zu werden, aber dazu konnte ich mich nicht entschließen« (Goldstein 1997, 81). Und in den »Aphorismen« allgemein formuliert: »Wer die Doppelheit von Judentum und Deutschtum in sich als quälend empfindet und mit seinem Verlangen nach innerer Einheit [Ernst] macht, der muss eines von beiden aus sich herausreißen« (Goldstein 1997, 91). In vielen Sätzen umkreist er das unlösbare Verhältnis von Juden und Deutschen. Im »Deutsch-Jüdischen Parnass«: »Wir Juden verwalten den geistigen Besitz eines Volkes, das uns die Berechtigung und Fähigkeit dazu abspricht« (Goldstein 1997, 82);45 in den »Aphorismen«: Du fühlst dich ganz deutsch? Aber sie fühlen dich ganz undeutsch – was willst du nun machen? (Goldstein 1997, 92).46 Das Verhältnis der Juden zu Deutschland aber ist das einer unglücklichen Liebe (Goldstein 1997, 92).
In Kernsätzen wie den folgenden propagiert er eine jüdische Nation: Gelingt es dir nicht, im Judentum eine Nationalität zu sehen – oder zu fühlen, so findest du keine Beziehung zu ihm und wirst dich taufen lassen (Goldstein 1997, 104). Die Ungläubigen können nicht dem Judentum zuliebe religiös werden und müssen im Judentum eine Nation sehen, wenn sie bei ihm bleiben wollen (Goldstein 1997, 104).
Auf der anderen Seite ist er auch kosmopolitischen Ansichten nicht abgeneigt: »Wir sind nicht nur Juden, auch nicht vor allen Dingen Juden, sondern Europäer« (Goldstein 1997, 95). Es heißt einerseits selbstbewusst: »Die Idee des nach »Judenfreunden« und Autoren, die »so gut wie ein Jude« sind, muss man unbedingt zur Kenntnis nehmen, wenn man den Antisemitismus im Kaiserreich verstehen will. 44 Auf die Rolle, die Heine darin spielt, bin ich schon eingegangen, vgl. oben S. 31. 45 Dazu Voigts 2014, 146f., 158–160. Um den antisemitischen Zeitgeist zu illustrieren, Bartels’ Gegenthese: »Die Juden bilden sich ein, den geistigen Besitz des deutschen Volkes zu verwalten, obwohl sie ihn nur jüdisch umwandeln und dadurch zerstören« (Adolf Bartels: Die deutsche Dichtung der Gegenwart. Die Jüngsten. Leipzig: Haessel 1921, S. 78.) 46 Voigts 2014, 162: »Diese Aussage ist in ihrer Allgemeinheit falsch.«
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Nationaljudentums leistet, was wir im Augenblick brauchen« (Goldstein 1997, 110). Andererseits ist er nicht frei von Pessimismus: »Soviel man auch grübelt: es gibt keine Lösung der Judenfrage« (Goldstein 1997, 115). Nicht unerwähnt bleiben dürfen im explizit jüdischen Rahmen die wenigen Aphorismen »Juden (Apophthegmata)« in der Zeitschrift »Pan« von 1912. Ein Autor unter dem Pseudonym R. veröffentlicht hier acht apologetische Kurztexte zur »Judenfrage«: »Sie ist […] eine Frage des Fortlebens einer Denkform und Weltanschauung« (R. 1912, 888). Weder gedanklich noch stilistisch ragen sie heraus: Bei Pogroms werden die Juden zu Hunderten totgeschlagen. Hierzulande wird ihnen bloss unter die Nase gerieben, dass sie Gäste sind. Ein zivilisiertes, unausgesetztes Memento Moritz!« (R. 1912, 888). Auch der Antisemitismus hat sein Gutes. Er bewahrt die Juden vor Verblödung. Zu Staatsruheposten werden sie nicht zugelassen (R. 1912, 888).
Wien spielte von jeher für das deutsche Judentum eine besondere Rolle. Nicht von ungefähr widmet Schütz dem »jüdischen Wien« ein großes eigenes Kapitel, das hier nur in einigen Sätzen angerissen werden kann (Schütz 1992, 177–204, vgl. Schwarz 2014, 7–32, vgl. Zohn 1986, 15–19). Bis zur Jahrhundertwende war das liberale jüdische Bürgertum Wiens unangefochten; einzelne Familien wurden geadelt und stiegen in die höchsten Kreise auf. Assimilation und Taufe waren fast üblich. Durch den Antisemitismus und Pogrome in den östlichen Teilen des Landes kam es sodann zu einem vermehrten Zuzug von Ostjuden, die von der alt-jüdischen Bevölkerung als fremd empfunden wurden. So hatte Wien um 1910 nach Warschau den zweitgrößten jüdischen Bevölkerungsanteil. In der deutschnationalen Bevölkerung wurde dadurch der Antisemitismus geschürt, aus dem als zentrale Figuren der berüchtigte Bürgermeister Lueger und schließlich auch der junge Hitler herausragen. Aber auch Theodor Herzl und der Zionismus gründeten hier (Kobler 1984, 369–377; vgl. Zohn 1986, 43–57). In Schnitzlers Autobiographie »Jugend in Wien« bekommt man einen exemplarischen Einblick in das jüdische Wien der Jahrhundertwende. Auch für den deutsch-jüdischen Aphorismus spielt die Stadt die überragende Rolle. Die Reihe altösterreichisch-jüdischer Aphoristiker, die so lang und von solcher Bedeutung ist, dass ohne sie von der österreichischen Aphoristik dieser Jahrzehnte fast nichts mehr bliebe, beginnt mit den Älteren, noch im 19. Jahrhundert Wurzelnden, Josef Unger (geb. 1828) und Robert Gersuny (geb. 1844), und hat schon vor Kraus, mit Emanuel Wertheimer (geb. 1846), Wilhelm Fischer (geb. 1846), Otto Weiß (geb. 1849) und Richard Münzer (geb. 1864), einen ersten Schwerpunkt. Ihr Zentrum reicht von Peter Altenberg (geb. 1859), Karl Kraus (geb. 1874) und Otto Stoessl (geb. 1875), alle miteinander befreundet, über Arthur Schnitzler (geb. 1862) bis zu Egon Friedell (geb. 1878) und schließt
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noch den Prager Franz Kafka (geb. 1883) ein. Vor allem aber führt sie, von dem 1866 geborenen Richard Beer-Hofmann bis zu dem 1899 geborenen Paul Baudisch, direkt in das Vernichtungslager der Nazis oder ins Exil:47 bei Oscar Ewald, Ludwig Goldscheider und Raoul Auernheimer, bei Franz Werfel, Paul Hatvani, Hugo Sonnenschein und Alfred Grünewald, bei Alfred Polgar und Anton Kuh, bei Franz Baermann Steiner und Felix Pollak, Feuilletonisten und Literatur- und Theaterkritikern, Journalisten, Literaten, Wissenschaftlern oder mehreres davon in einer Person vereint. Der bedeutende Wiener Jurist Josef Unger (1828–1913) – 1852 trat er vom jüdischen zum katholischen Glauben über – veröffentlichte am Ende seines Lebens, 1911, eine Sammlung von Anekdotischem und Aphoristischem unter dem Titel »Mosaik. Der ›Bunten Betrachtungen und Bemerkungen‹ dritte Auflage«. Sie gehören aber ihrem Geist nach ganz dem 19. Jahrhundert an. Man kann Unger nicht eben die glücklichere Hand bescheinigen, wenn er sich hier statt auf Ebner-Eschenbach auf Auerbach bezieht: »Berthold Auerbach (dessen Leben Anton Bettelheim vor kurzem trefflich beschrieben hat) hat ein Buch geschrieben: ›Tausend Gedanken meines [!] Kollaborators.‹ Tausend Gedanken! Man muß Gott danken, wenn man ein paar eigene Gedanken hat« (Unger 1911, 6). Ohne großen Formehrgeiz werden Gemeinplätze geboten, so zu Jugend und Alter, Politik und Rhetorik. Die Gattungstradition von Epiktet über La Rochefoucauld und La BruyHre bis zu Nietzsche steht dem gebildeten Juristen zur Verfügung. Goethe und insbesondere dessen »Maximen und Reflexionen« bilden dabei den Mittelpunkt. Die Texte bleiben dennoch ganz in der professoralen Blickwinkelverengung: »Wie das Lehren ist das Lernen eine Kunst: auch das Lernen muß man erst erlernen« (Unger 1911, 7). Mitunter lassen sie bei einem fachlich doch offensichtlich überaus kompetenten Autor ein erstaunliches Maß an Selbstkritik vermissen. Unsägliche Wortspiele tun ein Übriges, dass man sich dem Urteil von Karl Kraus anschließt, der sich »diese Geschwätzigkeit«48 von Ungers »Mosaik« nicht gerne bieten lassen wollte. Seine Verdienste sind entschieden eher auf seinem Fachgebiet zu suchen. Aus der Wiener Universität hat sich neben dem älteren Juristenkollegen Unger und dem Philosophen Oscar Ewald, der später den Nazis zum Opfer fiel,49 auch ein Arzt als Aphoristiker im Nebenberuf betätigt. Der zu seiner Zeit berühmte Chirurg Robert Gersuny (1844–1924) stand nicht nur ausdrücklich in der Nachfolge Feuchterslebens, sondern war auch mit Marie von EbnerEschenbach persönlich bekannt und verehrte sie. Mit seinem »Bodensatz des Lebens« (1906; in dritter vermehrter Auflage 1919) legte er eine heterogene 47 Vgl. unten S. 113–120. 48 Die Fackel Nr. 301–302 v. 3. 5. 1910, S. 52. 49 Vgl. unten S. 90f.
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Sammlung von Epigrammen, pointierten Einzelsätzen und kleinen, mit Überschriften versehenen Abschnitten vor. Die Aphorismen darin traktieren vor allem die klassischen moralistischen Themen von Ehre, Eitelkeit, Wahrhaftigkeit, wie sie schon bei Ebner-Eschenbach noch einmal im Mittelpunkt standen, indem sie einen hohen ethischen Standard mit gemessener Lebenserfahrung in glanzloser Form verbinden. Sie putzen die Sekundärtugenden wiederholt superlativisch auf und belehren uns mit dem hinlänglich Bekannten: »Pflichtgefühl ist die edelste Form des Ehrgefühls« (Gersuny 1919, 35). Der bedeutendste unter den Autoren um 1900 ist gewiss Emanuel Wertheimer (1846–1916). Er ist in Wien aufgewachsen, hat aber nach einem Studium der Philosophie und Astronomie, von längeren Reisen unterbrochen, als Journalist und Literat in Berlin gelebt. Die Wirkung, die er mit seinen »Aphorismen« (1896; 2. Auflage als »Buch der Weisheit« 1920) erzielte, ist bemerkenswert. Sie wurden ins Französische und Spanische übersetzt, der deutschen Ausgabe ist ein Vorwort von FranÅois Copp8e beigegeben. Altenberg und Kraus brachten ihm Wertschätzng entgegen, und noch Ernst Jünger hat ihn in »Autor und Autorschaft« anerkennend und zustimmend zitiert.50 Die Thematik seiner am Gehalt orientierten, aufs Äußerste verknappten Aphoristik wird von der klassischen Moralistik bestimmt, im Großen, den Stichworten Mensch, Leben und Welt, wie im Kleinen, eben typisch moralistischen Themenbereichen wie Jugend und Alter, Tugend und Laster, Liebe und Ehe, Eitelkeit und Eigenliebe oder Gesellschaft und Einsamkeit. Nachfolge schließt dabei Eigenständigkeit nicht aus. Sein an Schopenhauer geschultes zutiefst pessimistisches Welt- und Menschenbild ist geradezu erschreckend desillusionierend und decouvrierend: »Erwarte alles vom Mitleid, nur keine Hilfe« (Wertheimer 1920, 28). Hinzu kommt als ein – zumindest in dieser Akzentuierung – neues Thema das entschiedene soziale Engagement, nicht sentimental, sondern (gedanklich) scharf: »Es gibt Gesetze, die auf die Anklagebank gehören« (Wertheimer 1920, 53). Entscheidend aber ist, wie die Wendung zu Eigenem zustande kommt. Es ist ein qualitativ neuartig verschärftes dialektisches Denken, das in den besten Fällen diese Innovation ermöglicht. Das Aussprechen im Verschweigen, das Emporschwingen »bis zu dieser Erniedrigung« zeigen es deutlich: Man verschweigt selten, dass man ungern von seinen Wohltaten spricht (Wertheimer 1920, 18). Gewiss, man raubt den Tugenden die Moral, wenn man sie zu Nützlichkeitsbegriffen herabsetzt, aber wie wenige können sich selbst bis zu dieser Erniedrigung emporschwingen! (Wertheimer 1920, 49).
50 Ernst Jünger : Autor und Autorschaft. Stuttgart: Klett-Cotta 1984, S. 121.
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Es gestaltet Paradoxien und formuliert Ambivalenzen: »Die Wissenschaft erweitert unsre Kenntnisse immer mehr von dem, was wir nie wisssen können« (Wertheimer 1920, 154). Auch das ist in der Aphoristik zunächst einmal nicht ungewohnt, wird aber doch hier in einzelnen Fällen so zugespitzt, wie es ansonsten durchweg erst im 20. Jahrhundert begegnet: »Unsre Erzieher warnen uns erst vor Lügen, dann vor Wahrheiten« (Wertheimer 1920, 77). Und er ist seiner Zeit damit im mehrfachen Sinne voraus: »Der Fortschritt sollte auch darin bestehen, Entbehrungen zu erfinden« (Wertheimer 1920, 148). Umkehrungen sind damit verbunden, die denen bei Kraus nicht nachstehen: »Die Logik ist so fortgeschritten, dass sie alles widerlegen kann – sogar sich selbst« (Wertheimer 1920, 28). Zu Fragen des Judentums äußert er sich nicht; das 14 Seiten lange Stichwortverzeichnis hat keinen Eintrag dazu. Dagegen lassen verschiedene Hinweise zur Religion durchaus entsprechende Schlüsse zu. Jeder »Kirche« steht er kritisch gegenüber : »Die Kirche ist eine gar eifrige Pädagogin; dank ihrer verlernt man schon seit frühester Jugend an – das Denken« (Wertheimer 1920, 156). Jede Konfessionsgebundenheit scheint er zugunsten einer Naturfrömmigkeit hinter sich gelassen zu haben: Macht die Kirche abtrünnig, führt die Natur zu Gott zurück (Wertheimer 1920, 140). Die Theologie macht Atheisten, die Astronomie bekehrt sie (Wertheimer 1920, 155).
Von dieser Grundlage her hat er in Aphorismen wie den folgenden wohl auch den hasserfüllten Antisemitismus im Blick: Viele erinnern nur noch durch ihren Haß, daß sie einer Religion angehören (Wertheimer 1920, 29). Die verschiedenen Religionen scheinen den Menschen gegeben, um einander zu hassen (Wertheimer 1920, 55). In einer Beziehung haben die Religionen ihren Einfluß noch ganz bewahrt: als Vorwand gegenseitiger Verfolgung (Wertheimer 1920, 65). Es gibt Völker, die sich gegenseitig dulden – sogar lieben! … aber Religionen? (Wertheimer 1920, 131).
Auch der aus Budapest stammende Wiener Feuilletonist Otto Weiß (1849–1915), der eine andere aphoristische Farbe vertritt, war mit seinen beiden Bänden »So seid Ihr!«, 1906 und 1909 erschienen, ungewöhnlich erfolgreich. Nicht nur schreibt Georg Brandes, der dänisch-jüdische Literaturkritiker, der für Nietzsches Durchbruch entscheidend war, eine Vorrede zum ersten Band, die keine Geringeren als La Rochefoucauld und Lichtenberg als Vorgänger bemüht, die zeitgenössische Rezeption war auch überaus lebhaft und kontrovers. Weiß wurde sogar die Ehre zuteil, von dem eine Generation jüngeren Konkurrenten
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Kraus, der gleichzeitig seinen Band »Sprüche und Widersprüche« herausgab, in einer Weise abgefertigt zu werden, die den Neid allzu deutlich durchschimmern lässt.51 Noch in internationalen zeitgenössischen Anthologien schlägt sich diese Popularität nieder. Weiß bezieht sich nicht nur auf die moralistische Tradition; er hat auch nicht nur den Anspruch, zu diesen Denkern ohne System zu gehören. Er versucht aufs Ganze gesehen, die Vorgänger mit seinen Lebensregeln in materialistisch fundiertem Realitätssinn und mit dem Anspruch wirklicher neuer Menschenkenntnis noch zu übertreffen: »Befolgst du von diesen Regeln nur wenige oder gar keine, so wisse: die Welt zählt dich dann nicht nur zu den Besten, sondern auch zu den Dümmsten« (Weiß 1907, 156). Nicht selten ist damit allerdings eine Wendung nicht nur zu zynischem Realismus, auch zur Oberflächlichkeit verbunden. Ihr Autor ist nach seiner eigenen Definition mehr Spaßmacher als Aufklärer. In seinen Texten basiert eine mechanische und oft zum Selbstzweck gewordene Paradoxie, auch syntaktisch stereotyp, auf der Umkehrung des Erwarteten: »Sei wahrheitsliebend: das heißt, lüge nicht mehr, als zur Täuschung anderer nötig ist« (Weiß 1907, 155). So sehr sie damit in scheinvirtuoser Weise die Form des Aphorismus erfüllen, so sehr bleiben sie, am gedanklichen Gehalt gemessen, bei allem aufklärerischen Anspruch letztlich dem Typus des witzigen Gedankensplitters verhaftet: »Irgendein Schriftsteller sprach einmal von der ›Poesie der Armut‹. Der Mann muß viel Geld gehabt haben!« (Weiß 1909, 38). Demgemäß findet Politik hier nicht statt, geschweige denn, dass man Deutsch-Jüdisches reflektiert fände. Thema sind vielmehr in erster Linie die Frauen und die Gesellschaft sowie die Felder, in denen er in besonderem Maße zuhause ist: Kunst, Theater und Presse. Wilhelm Fischer (1846–1932) und Richard Münzer blieben in ihrer Wirkung Wertheimer und Weiß gegenüber zu Recht weit zurück. Auch sie sind wie Unger und Gersuny noch überwiegend an der Aphoristik des 19. Jahrhunderts orientiert. Fischer wurde in Kroatien geboren, an der Universität Graz promoviert und war dort Bibliotheksdirektor. 1922 konvertierte er. Für seine Aphorismen »Sonne und Wolke« von 1907 ist der Einfluss Marie von Ebner-Eschenbachs bestimmend.52 Christlich-konservatives Pflicht- und Arbeitsethos, idealisiertes Bildungspathos und Gesinnungsgüte prägen sie dementsprechend, in ihrem Idealismus, der von Marx und den Folgen nichts gehört hat oder nichts hören will, ebenso naiv wie dort: »Schätze die Arbeit, und du darfst dich selber schätzen« (Fischer 1907, 268). Zuweilen ist das Vorbild sogar gegenüber solcher gedankenlos realitätswidriger Predigt skeptischer : »Willst du niemals Ungerechtigkeit erleiden, so mache Gottes Willen zu dem deinen« (Fischer 1907, 3). Viele überaus fragliche Implikationen und Leerstellen in seinen Maximen sind 51 Die Fackel Nr. 290 v. 11. 11. 1909, S. 15. Vgl. Spicker 1997, S. 250–254. 52 Vgl. die Nachweise im Einzelnen bei Spicker 2004, 131–132.
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nichts als fraglos-gefestigte ideologische Rudimente: »Seinem Wesen gemäß leben ist das Schwerste, weil es das Beste wäre« (Fischer 1907, 4). Fischers Aphoristik führt die Vorläuferin mit seinen künstlerischen Mitteln aus und weiter, indem er das harmonistisch Gütige bei ihr vereinfacht und vereinseitigt. Die jüdische Thematik allgemein, erst recht jeder Anflug von antisemitischer Problematik verbietet sich in diesem Kontext: »Sei eine harmonische Einzelgestalt und du bist eine Welt« (Fischer 1907, 3). Der aus Galizien stammende österreichische Jurist, Bühnenschriftsteller und Erzähler Richard Münzer (1864–1930) lehnt sich in »Tausend und Ein Aphorismus« (1914) schon formal mit der schlichten Gliederung in Hunderter-Reihen an Ebner-Eschenbach an. Münzer ist der typische Epigone, vielleicht gar aus zweiter Hand, der in klassischer Kürze von einem Satz oder wenig mehr und unter weitgehendem Verzicht auf wortspielerische Effekthascherei, Paradoxa oder ähnliche Mittel die gängigen moralistischen Themen, von menschlichen Eigenschaften wie Eitelkeit, Eifersucht oder Geduld bis zu Liebe, Eigenliebe (amour propre), Freundschaft und Religion repetiert, nicht selten in Form mehr oder weniger gelungener Definition. Münzer wiederholt die Tradition und sich selbst: »Auf ihrem Wege zur ›Wahrheit‹ tauschen die Menschen fortwährend e i n e Art Irrtümer für eine andere ein« (Münzer 1916, 37). La Rochefoucauld und Vauvenargues schimmern allzu deutlich durch; Variation des Bekannten ist ganz im Sinne der Theorie des Epigonalen ihr Element. Schon der Titel erinnert an Auerbach. Die Texte sind geprägt von einem aphoristischen Relativismus, der hier zum Deckmantel des Nichtssagenden wird: »Dem einen klären sich durch Worte die Gedanken, dem anderen werden sie durch Worte verschwommener« (Münzer 1916, 106). Das vielfach Gedachte und Formulierte, zu Verstand und Gefühl, Erwartung und Enttäuschung und anderen ›ewig-menschlichen‹ Themen, wird noch einmal – und entscheidend: nicht besser und absolut ohne Esprit-Verdacht – formuliert: Freuden, denen man nachjagt, verscheucht man (Münzer 1916, 40). Freundschaft ist ohne Wechselseitigkeit nicht denkbar (Münzer 1916, 96).
Eine Erkenntnis wie: »Eigentliche Erfahrungen kann man nicht weitergeben; die muß jeder selber machen« (Münzer 1916, 78) lässt sich schwer bestreiten. Seine Aphoristik ist durchweg trocken, so wenig falsch wie belangvoll oder neu: »Wer mit der menschlichen Unbeständigkeit rechnet, rechnet richtig« (Münzer 1916, 94). Sie endet auf einer Ebene, die auch zum Lachen keinen Anlass bietet: »Für ihr Lachen sollten die Menschen so sorgen wie für ihre Gesundheit« (Münzer 1916, 172). Er ist politisch konservativ ; ein Aphorismus wie der folgende ist im Jahre 1914 allerdings nicht selbstverständlich: »Die verbreitetste Massensuggestion: der Patriotismus« (Münzer 1916, 162).
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Mit Peter Altenberg (1859–1919), auch wenn er noch zu der älteren Generation zählt, ist der Kreis um Karl Kraus eröffnet.53 Altenbergs Verhältnis zum Judentum ist hochgradig ambivalent; er konvertierte und wurde katholisch begraben. Eine Skizze »Semitische Rasse« in »Was der Tag mir zuträgt«, unter »Ganz kleinen Sachen« versteckt, lautet: Es wird soviel herumphilosophirt – – – und es ist doch so einfach! Sie haben eben die perfide Lebens-Sehnsucht! Sie wünschen es, dass dieses Kapital »Leben« sich mit 100 Prozent verzinse! Die Anderen begnügen sich mit 3! (Altenberg 1919, 275).
Für Caspary ist diese Skizze mit ihrer »halb verächtlichen, halb stolzen Selbstbezichtigung« ein Schlüsselzitat (Caspary in Kilcher 2012, 10). Es gibt von »Wie ich es sehe« (1896) bis »Mein Lebensabend« (1919) kein eigentliches Aphorismenbuch Altenbergs, vielmehr ist gerade eine Mischung von Gattungen und Gattungselementen für ihn typisch. Aphorismen gehören aber, meist unter der bekannten Bezeichnung »Splitter«, immer dazu. Vom medizinisch-diätetischen Kernbereich aus berühren seine Texte allgemeinere Themen und wenden sich etwa Fragen der Erotik, der Kunst und Literatur zu, ein nur noch kurioses Sammelsurium, das sich gattungsmäßig zwischen Kurzgeschichte, Anekdote, Aphorismus, Feuilleton und Szene bewegt. Kürze als Extrakt sowie Selbstbewusstsein sind dabei die – durchaus komplementären – Randbestimmungen: »›Herr Peter, ihre kleinen Sachen—.‹ ›Sie meinen wohl meine k u r z e n Sachen— […]‹« (Altenberg 1915, 185). Das System wird, wie es gattungsgeschichtlich vertraut ist, als Gegenbegriff bestimmt: »Erkenntnisse in ein System bringen ist, einige wenige lebensfähige Wahrheiten in einem toten Meer von Lüge ertränken wollen!« (Altenberg 1906, 127). Von einem Gattungsbegriff ausgehend, der mit Extrakt, Anti-System und Essay-Nähe im gewohnten Umfeld bleibt, das Gefühl betont und auf einem stark verengten Lebens-Begriff rekurriert: so lassen sich die Besonderheiten des Altenbergschen Aphorismus beschreiben. Das subjektive Element verselbstständigt sich und verdichtet sich zur Selbststilisierung. Die Maxime, rezeptiv bestimmt und bis zum schieren Rezept hin ausgeweitet, ist Ausdruck des einen bestimmenden Elementes, des didaktischen. Die Aphorismen wollen auf eine durchaus naive Weise »helfen«: »Aphorismen sind doch keine Aphorismen, um Gotteswillen! Es ist doch nur, um Euch im Leben rasch kurz zu helfen ! Sie können doch daher weder geistreich noch blöd sein. Wie die Medizinen, die können doch auch weder 53 Die persönlichen Verbindungen sind eng. Kraus druckt den kompromisslosen Bohemien wiederholt in der »Fackel«, seine Rede zum 50. Geburtstag und die Rede am Grabe Altenbergs sind rühmende Porträts, er gibt eine Auswahl aus dessen Büchern heraus. Über Altenberg finden auch Stoessl und Kraus näher zueinander; vgl. Spicker 2004, 164–166.
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geistreich noch blöd sein, sondern helfen oder nicht helfen!« (Altenberg 1916, 23). Das andere ist die Spontaneität, die die Texte allen einschränkenden Bemerkungen zum Trotz offenbaren. Es geht Altenberg (auch) um Stimmung statt Erkenntnis. Er entzieht sich der Kritik und jeder Nachprüfbarkeit, indem er sich auf die ewige dichterische »Erleuchtung« und das moderne »Unterbewusstsein« zugleich zurückzieht. Dieses Spannungsverhältnis begründet die große unterschiedliche Qualität der Texte. Gerade diese Polarität aber bezeichnet Altenbergs Aphorismus am genauesten. Albert Ehrenstein hat in Gustav Krojankers Sammelband »Juden in der deutschen Literatur« (1922) das Jüdische in Altenbergs Leben und Werk auf den Begriff zu bringen versucht. Es bleibt aber bei Leerformeln und bei Vorgegebenem, dem Typus Ahasver, dem Propheten, dem Witz: Er war ein Jude. Ahasverisch lief sein Leben von Hotelzimmer zu Hotelzimmer, von Caf8 zu Caf8. Sein Witz war jüdisch, antithetisch, umfallend, sich preisgebend – aber sein Zorn war prophetisch, sein Grimm alttestamentarisch. Peter Altenberg war ein starker Beweis für die Konstanz der jüdischen Rasse. Sein Wort ist unvergänglich wie das irgendeines biblischen Dichters. Daß er in einem Kirchhof begraben liegt und nicht in einem alten Judenfriedhof, war sein letzter blutiger Witz (Krojanker 1922, 196f.).
Das aphoristische Schaffen von Karl Kraus (1874–1936) umfasst die Jahre 1906 bis 1919. Es wächst aus der Glosse und verwandten journalistischen Formen heraus und mündet in die gebundene Form des Epigramms. »Sprüche und Widersprüche«, zusammengestellt aus »Fackel«-Aphorismen, erschien im März 1909. Für einen zweiten Band legte sich Kraus schon ab April 1910 auf den Titel »Pro domo et mundo« fest; im Februar 1912 erschien er als vierter Band der »Ausgewählten Schriften«. Ab November erschienen unter dem Titel »Nachts« wieder regelmäßig Aphorismen in der »Fackel«. Als Buch kamen sie erst Anfang 1919 heraus. Danach veröffentlichte Kraus – abgesehen von kleineren Ausnahmen – keine Aphorismen mehr. Seine Haltung zum Judentum ist höchst komplex; auch in Einzeluntersuchungen ist man ihr nachgegangen (Kohn in Grimm, Bayerdörfer 1985, 147– 160); sie kann hier keinesfalls erschöpfend dargestellt werden. Brand beginnt seinen Lexikonbeitrag mit Kraus’ Erklärung, »daß ich nicht nur glaube, sondern wie aus der Erschütterung eines Offenbarungserlebnisses spüre, daß mir nichts von allen den Eigenschaften der Juden anhaftet« (zit. nach Brand in Kilcher 2012, 302). (In ihrer Apodiktik, die sich auf eine unhinterfragbare Letztbegründung zurückzieht, fordert sie erst Recht Skepsis und Widerspruch heraus.) In den Aphorismen ist diese widersprüchliche Haltung – im Gegensatz zu den übrigen Beiträgen in der »Fackel« – aber nicht reflektiert, weshalb sie hier auch nur kurz referiert wird. Ab 1899 war er, aus einem assimilierten Elternhaus stammend, konfessionslos, 1911 konvertierte er und war – für zwölf Jahre – insgeheim katholisch. Theoretisch forderte er im Gefolge Weiningers die Assimilation, aber
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er verhielt sich – auch hier – widersprüchlich. Dem angepassten Westjudentum zog er das authentische Ostjudentum vor. Herzl kritisierte er ; die Zionisten bezichtigte er des jüdischen Selbsthasses, eine Kategorie, die viele Interpreten zuvörderst und mit besten Argumenten auf ihn selbst anwenden.54 Zur Zeit des Ersten Weltkriegs äußerte sich Kraus in einer Weise, die als antisemitisch verstanden wurde. 1934 bekannte er sich als Reaktion auf die politischen Entwicklungen wieder explizit zum Judentum. Kraus erweist sich als originell weniger durch die Themen, nach denen er seine drei Bände wie üblich zusammenstellt, als durch das Ganze, das mehr ist als die Summe seiner Teile, und durch die persönliche Färbung, die kein Akzidenz ist, sondern alle Themen bis in die Tiefe durchwirkt. Was er sagt, verbindet ihn in großem Maße mit der durchschnittlichen Aphoristik, wie er es sagt, hebt ihn in größerem Maße aus ihr heraus, wenn sich auch durchaus im Einzelfall Parallelen etwa zu Goldschmidt oder Weiß herstellen lassen. Die klassischen Mittel des Aphorismus sind immer wieder auch speziell zu ihm zusammengestellt worden: Vergleich, Definition, Antithese, Chiasmus, Paradoxon, Oxymoron, Wortspiel, Amphibolie, Paronomasie, Sprichwortvariation, Zitat. Er handhabt diese Mittel meisterhaft, aber ein Aphoristiker von hohen Graden ist er mindestens so sehr durch das, was er sagt und wie er es sagt, als durch das, was er nicht nicht sagt, aber doch ungesagt lässt: »Auch ein anständiger Mensch kann, vorausgesetzt, daß es nie herauskommt, sich heutzutage einen geachteten Namen schaffen« (Kraus 1986, 67). Selbstreferentialität und Sprachgebrauchskritik fallen letztlich in seinen Aphorismen zusammen. Ihnen gegenüber sind alle anderen Themen untergeordnet. Ihre Zahl und ihre Art ist fast mit Zahl und Art seiner Gegner identisch: Presse und Feuilleton (erst recht das jüdische, das »jüdelnde«), Österreich und insbesondere Wien, in gewissem Sinne auch das »Weib«, schließlich die Moderne: »Die Entwicklung der Technik ist bei der Wehrlosigkeit vor der Technik angelangt« (Kraus 1986, 421). Die aphoristische Reflexion des eigenen Schreibens ist schon quantitativ so bedeutend wie kaum jemals sonst und gerät zu einer ganzen Poetologie. Oft ist dabei das Schlichte gegenüber dem KnalligParadox-Effektvollen und dadurch auch immer wieder Zitierten gehaltvoller und ertragreicher. Für Kraus steht unumstößlich fest: »Die Phrase und die Sache sind eins« (Kraus 1986, 229). Diese Aphorismen entwickeln ein Gattungsverständnis, das Kunstcharakter und Weltanschauung, Ästhetik und Ethik in engste Verbindung bringt. Es ordnet sich einer Sprachkunst-Auffassung ein, die von der Satire her auf Kernbegriffen wie Gedanke, Erlebnis und Persönlichkeit ba54 Zohn untersucht in Bezug auf Kraus die Frage, »ob zwischen jüdischem Selbsthaß und Erzjudentum wirklich ein so großer Unterschied besteht« (Zohn 1986, 65). Vgl. besonders auch seine Diskussion Viertels und Lieglers (Zohn 1986, 66–67).
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siert. Man darf und muss Kraus einen Erlebnis-Aphoristiker nennen; sein Erlebnis ist ganz und gar »Spracherlebnis« (Kraus 1986, 328): »Die Erlebnisse, die ich brauche, habe ich vor der Feuerwand, die ich von meinem Schreibtisch sehe. Da ist viel Platz für das Leben, und ich kann Gott oder den Teufel an die Wand malen« (Kraus 1986, 297). Einen, wenn nicht den zentralen Platz innerhalb der selbstreferentiellen Themen besetzt natürlich die Satirekonzeption. Gegen Stoff oder Anlass ist auf Kunst und Form zu bestehen. »Durch sich selbst wertvoll« sind die allermeisten seiner satirischen Aphorismen, weil sie den Leser immer noch und immer wieder durch Kunstgenuss mit dem »Schmerz darüber, dass es Übel gibt« (Kraus 1986, 131), versöhnen. Kraus’ Hass aber ist nicht ohne seine Liebe zu sehen. Sie äußert sich direkt nur sparsam und schlicht, etwa in der Verbindung von Wort und Wesen. Indirekt durchwirkt sie das ganze aphoristische Werk. Neben dem durchweg dominierenden Satirisch-Kämpferischen ist die diaristische Wurzel seiner Aphoristik nicht zu übersehen. Ferner ist die verwechselbare Nähe mancher Texte zu Anekdote und Glosse unverkennbar. Wo das Narrative bis auf den Trägersatz zurückgedrängt ist, berühren sich Aphorismus, Anekdote und dramatisch-kabarettistische Kleinstszene. Man findet Texte, die in ihrer Verbindung von aphoristischem Kopfsatz und nachfolgenden Erläuterungen die Nähe zu essayistischen Formen suggerieren. Der Kraus’sche Aphorismus ist beileibe nicht so einheitlich kürzest-pointiert, wie die Aphorismen glauben machen wollen, die sich eben aufgrund ihrer Knappheit bevorzugt als Zitate anbieten und dadurch das Bild verschieben. Die künstlerische Mitte, aus der heraus er produktiv wird, ist mehr noch als die Satire die Sprach(gebrauchs)kritik. Aus diesem existenziellen Grund heraus ist nicht nur alles, was sich selbstreferentiell zu seiner Person und (also) seiner Kunst zusammentragen lässt, untrennbar mit ihr verknüpft: »Ich beherrsche nur die Sprache der andern. Die meinige macht mit mir, was sie will« (Kraus 1986, 326). Auch alle Themenfelder, von der Presse bis zum Krieg, durchzieht sie im Kampf gegen eine (sprachlich und also denkerisch und also »persönlich«) falsche Ornamentik, die noch im Krieg, wenn sie zum Gas greift, »zum Schwerte greift« (Kraus 1986, 440). Diese äußerste Sprachsensibilität als der Ausdruck seiner Liebe zur Sprache liegt allen Formen seines Sprachspiels zugrunde. Nirgendwo anders als in dieser ihm eigenen Sprach-Sache hat auch die nicht geringe Gegnerschaft von Kraus ihren Grund. Der andere Aspekt, der seine Aphoristik auszeichnet: sie ist »geschriebene Schauspielkunst« (Kraus 1986, 284), ist von der Schmiere des Kalauers bis zum Staatstheater seiner unsterblichen Findungen von Effekt und Pose bestimmt: »Ich bin vielleicht der erste Fall eines Schreibers, der sein Schreiben zugleich schauspielerisch erlebt« (Kraus 1986, 334).
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Zu Kraus’ Freundeskreis gehörten unter anderem der Musiker Arnold Schönberg (1874–1951) und der Kritiker Otto Stoessl (1875–1936). Schönberg hat literarisch nach eigenem Bekunden von Kraus gelernt, so auch in ZeitschriftenAphorismen, die sich keineswegs nur mit Musik befassen (»Komponierende Wunderkinder sind Menschen, die in frühester Jugend schon so schlecht komponieren, wie andere erst im reifen Alter.«; Schönberg 1909, 159), im Ganzen eher konventionell sind (»Mit dem ersten Gedanken entsteht der erste Irrtum.«; Schönberg 1909, 160), bisweilen aber dem Vorbild in nichts nachstehen (vgl. Zeitlin 1963, 106): »Ich will ja gar nicht, daß man mir schmeichelt, wo ich es verdiene, sondern nur, daß man mich lobt, wo ich es nicht verdiene« (Schönberg 1909, 162). Stoessl, Sohn einer jüdischen Arztfamilie, lernte Kraus 1897 kennen und war von 1905 bis 1911 regelmäßiger Mitarbeiter der »Fackel«. Die beiden trafen sich gelegentlich auch privat zum Meinungsaustausch, besonders um 1909, dem Erscheinen der »Sprüche und Widersprüche«.55 Um 1925 ist die Freundschaft einer freundschaftlichen Gesinnung gewichen (Kraus, Stoessl 1996). Für den Aphoristiker Stoessl ist der Einfluss des Freundes nur mit größeren Einschränkungen zu konstatieren. Insgesamt bleiben seine Texte zwar im Umkreis der Kraus’schen Themen Gesellschaft, Erotik, Sprache und Literatur. Sie sind auch hin und wieder in ihrem Ethos wie in der Form, dem aggressiven Unbedingtheitsanspruch wie auch bei Paradoxie und Umkehrung, fast verwechselbar : Gesinnung ist Denken nach Geschmack (Stoessl 1933, 305). Auch was ich mit mir geschehen lasse, tue ich (Stoessl 1933, 283). Man muß verstehen, die Früchte seiner Niederlagen zu ernten (Stoessl 1933, 310).
Zum Thema Frau steht er nicht weniger als Kraus unter dem Einfluss Weiningers: »Der Mann erschafft die Liebe, die Frau wohnt in ihr« (Stoessl 1933, 287). Insgesamt sind seine Aphorismen aber keine Kopie der Kraus’schen. Sie heben auf Themen wie das Tragische oder das Gewissen ab und haben durchweg auch eine andere Art von Paradoxie, eine stillere, darum nicht minder wirkungsvolle: Gäbe es nichts Unsagbares, so gäbe es auch keine Worte (Stoessl 1933, 294). Erst die Töne lehren schweigen (Stoessl 1933, 298).
Was bestimmend wirkt, sind neben dieser unaufdringlichen Paradoxie einfache Bilder, die überraschende Perspektiven aufreißen: »Die Wahrheit ist der Horizont der Wirklichkeit« (Stoessl 1933, 303). »Solange Worte töten, werden Hände 55 Die Einzelheiten bei Spicker 2004, 140f.
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morden.« Dieser Aphorismus lädt sich, in der Anthologie »Jüdische Aphorismen« (Zeitlin 1963, 129) zitiert, mit besonderer Bedeutung auf. Hugo von Hofmannsthals (1874–1929) »Buch der Freunde« (1922 erschienen und 1929 geringfügig erweitert), das in der Goethe-Nachfolge steht, entwickelt auf der Grundlage eines zeitlosen Denkens, das eben »Freunde« in allen Epochen sucht, im Miteinander von Eigenem und Fremdem Überlegungen zu den Bedingungen dichterischer Produktion. In der deutsch-jüdischen Aphoristik ist sein Autor ein besonderer Fall. Das »Lexikon des Judentums« (Oppenheimer 1967) hat ihn aufgenommen, jüngere literarische jüdisch-deutsche Lexika verzeichnen ihn nicht. Sein jüdisch-orthodoxer Urgroßvater wurde als erfolgreicher Industrieller 1835 geadelt. Der Sohn konvertierte zum katholischen Glauben. Hofmannsthal verstand sich ganz als österreichisch-katholischer Aristokrat; es sind sogar judenfeindliche Bemerkungen von ihm überliefert. Grab vereinnahmt ihn deshalb unter der Kategorie »jüdischer Selbsthass« (Grab 1991, 156–159). Dennoch wird er häufig als jüdischer Intellektueller apostrophiert. Für den Literaturkritiker Willy Haas fungierte er 1922 gar als »repräsentativer Jude« (Grab 1991, 158). Auch Werfel führte ihn 1938 noch als »Geschenk Israels an die Menschheit« an (Werfel 1975, 327). Sein bedeutender Beitrag zur Gattung kommt hier aber dennoch eher nicht in Betracht. Dagegen gehören seine Freunde Richard Beer-Hofmann (1866–1945) und Arthur Schnitzler (1862–1931) im Vollsinne zur deutsch-jüdischen Aphoristik.56 Schnitzler hat das Dritte Reich und den »Anschluss« Österreichs nicht mehr erleben müssen. Er machte sich früh von Bindungen an die religiöse Tradition frei und erlebte den durch die Dreyfus-Affäre belebten europäischen Antisemitismus in besonderem Maße. In den Notizen zu seiner Autobiographie »Jugend in Wien«, einer hervorragenden Quelle für das jüdische Wien, entstanden 1915–1918, schreibt er : In diesen Blättern wird viel von Judentum und Antisemitismus die Rede sein, mehr als manchem geschmackvoll, notwendig und gerecht erscheinen dürfte. Aber zu der Zeit, in der man diese Blätter möglicherweise lesen wird, wird man sich, so hoffe ich wenigstens, kaum mehr einen rechten Begriff zu bilden vermögen, was für eine Bedeutung, seelisch fast noch mehr als politisch und sozial, zur Zeit da ich diese Zeilen schreibe, der sogenannten Judenfrage zukam. Es war nicht möglich, insbesondere für einen Juden, der in der Öffentlichkeit stand, davon abzusehen, daß er Jude war, da die andern es nicht taten, die Christen nicht und die Juden noch weniger (Schnitzler 1981, 322). 56 Harry Zohn: Arthur Schnitzler und das Judentum. In: Zohn 1986, 25–34. Der Emigrant BeerHofmann muss wie auch Schnitzlers Freund Raoul Auernheimer später zur Sprache kommen.
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Er berichtet dort unter anderem vom Antisemitismus in Hochschule und Klinik; eine eigene Vornotiz dazu ist erhalten (Schnitzler 1981, 152–155, 323). Herzl kannte er persönlich; es gibt zwischen 1892 und 1900 einen regen Briefwechsel, in dem hier besonders seine Hinweise zu Herzls Stück »Das neue Ghetto« von Belang sind.57 1918 wurde in Wien ein jüdischer Nationalrat gebildet. Schnitzler trat nicht bei. »Wer hat zu entscheiden, wohin ich gehöre? Ich allein.«58 Das alles ist in der Fokussierung auf die Gattung nur anzudeuten. Wenn Schnitzler auch resistent gegenüber allen zionistischen Bestrebungen war, so hielt er doch nicht nur lebenslang an einem »bewusst säkularen Judentum« (Horch, Schüller in Jürgensen, Lukas, Scheffel 2014, 28) fest, sondern hat das jüdische Thema auch vielfach in seinem Werk behandelt, so in dem Drama »Professor Bernhardi«, in dem eine antisemitische Kampagne in all ihren verdeckten Verästelungen entwickelt wird. Schnitzler verarbeitete darin Erfahrungen seines Vaters, eines Klinikdirektors; das Werk wurde von der Zensur verboten. In seinem Schlüsselroman »Der Weg ins Freie« (1908) entfaltete er ein Gesellschaftsbild seiner Zeit, in dem der jüdische Sozialist und der assimilatorische Anpassler nicht fehlen. In dem Schriftsteller Heinrich Bermann und dem Zionisten Leo Golowski klingen aphoristische Tendenzen an, um dann aber sofort selbstironisch aufgehoben zu werden (Schwarz 2014, 51–73). Es gibt Paralipomena, die beweisen, dass Schnitzler die aphoristische Neigung beider Figuren ausarbeiten wollte.59 Aphorismen schrieb er seit seinem siebzehnten Lebensjahr. Sein »Buch der Sprüche und Bedenken« (1927) ist die sorgsam komponierte Auswahl aus seinem gesamten aphoristischen Werk. Schnitzler greift über Kraus als die Vollendung des sprachspielerischen Aphorismus hinweg auf die älteren Traditionen zurück, die sich in Moralistik und Aphoristik bewahrt haben, und ist damit in den wesentlichen Aspekten dessen eigentlicher aphoristischer Antipode. Jüdisches wird hier so wenig explizit wie bei jenem. Schon mit dem Titel ist die Grundhaltung, die Spannung zwischen Geltungsanspruch und (Selbst-)Skepsis, aufgenommen. Er führt den Aphorismus auf den Kern zurück, die künstlerische Form eines Gedanken-Erlebnisses, die rational-emotionale Integration: »Ich glaube deine Weisheit nur, wenn sie dir aus dem Herzen, deine Güte nur, wenn sie dir aus dem Verstande kommt« (Schnitzler 1967, 130). Der durchgängig 57 Arthur Schnitzler : Briefe. Hg. von Therese Nickl und Heinrich Schnitzler. Frankfurt/Main: Fischer 1981, S. 237–239. Hier nur soviel: Schnitzler rät Herzl in Bezug auf den Schlusssatz »Juden, Brüder, man wird euch erst wieder leben lassen, wenn ihr zu sterben wißt« zu einer mehrdeutigeren Implizität: »Lassen Sie ihn lieber wortlos sterben.« 58 Tagebuch, 27. 11. 1918. 59 Schnitzler 1967, S. 171–173 u. ö. Vgl. Giuseppe Farese: Individuo e societ/ nel romanzo »Der Weg ins Freie« di Arthur Schnitzler. Rom: Bulzoni 1969 (Paralipomena zu »Der Weg ins Freie«: 216–221).
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analytische Ansatz entspricht seiner skeptisch-ambivalenten Haltung und erinnert an die ärztliche Diagnostik: »Das Beste, was Liebende im Laufe der Zeit einander werden können, das ist: Surrogate ihrer Träume oder Symbole ihrer Sehnsucht« (Schnitzler 1967, 67). Dieser Arzt ist unerbittlich in seiner Diagnose und äußerst skeptisch, was die Therapie betrifft. Er befasst sich mit dem Menschen in seinem skeptisch-analytischen Zugriff auf das Einzelne weit über das Organische hinaus und da erst recht, und er tut dabei alles andere, als von sich abzusehen. In seinem dialektischen Sezieren geht er unbedenklich bedenklich weit: »Aus einem bestimmten Anlaß betrügen, heißt beinahe schon treu sein« (Schnitzler 1967, 66). In dieser Form vertritt er nicht nur gegenüber Kraus, auch gegenüber Hofmannsthal eine ganz eigene Varietät des Aphorismus im 20. Jahrhundert. Skepsis ist auch in Fragen der Religiosität leitend; wirklich maßstabgebend ist das Ethos der Arbeit: »Wer Gott glaubt, mag zu ihm beten, wer ihn weiß, dessen Andacht heißt Arbeit« (Schnitzler 1967, 19). In ruhigem Durchdringen bis auf die dialektischen Wurzeln werden der Glaube im Zweifel, der Zweifel im Glauben erkundet: »Wenn du vor den Altar der Wahrheit trittst, so wirst du dort Viele auf den Knieen finden. Doch auf dem Wege dahin wirst du immer allein gewesen sein« (Schnitzler 1967, 29). Auch der Zweifler ist nicht über allen Zweifel erhaben. In Zeitlins Anthologie leitet dieser Text aus dem Kapitel »Ahnungen und Fragen« seinen aphoristischen Beitrag ein: »Es stünde besser in der Welt, wenn nicht jeder Fromme sich an Seelenadel über den Zweifler, – nicht jeder Zweifler an Klugheit über den Frommen sich erhaben fühlte. Auch der Zweifler kann ein Dummkopf, der Fromme ein Schuft sein – und beide – beides« (Zeitlin 1963, 92; Schnitzler 1967, 22). Wenn Schnitzler in übertragenem Sinne davon spricht, jemandem »einen gelben Fleck anzuheften, wie man es zu verschollenen Zeiten mit den Juden getan hat« (Schnitzler 1967, 90), ist man geneigt, ihn im Sinne Friedrich Schlegels »einen rückwärtsgekehrten Propheten« zu nennen. Wer im Übrigen explizit Jüdisches aus den Aphorismen herauslesen wollte, müsste sich von ihm sagen lassen: »Erst jenseits der sogenannten Glaubenskonflikte und Grenzstreitigkeiten, also jenseits der Religion und Politik fängt das Denken, das Arbeiten und das Leben an« (Schnitzler 1967, 84). In den »Aphorismen und Betrachtungen aus dem Nachlass« gibt es allerdings eine Aufzeichnung aus dem Januar 1915, in der sich Schnitzler nacheinander »als Jude (als einer, der der jüdischen Rasse entstammt)«, »als Deutscher, als Angehöriger des deutschen Volkes«, als »Abkömmling jüdischer Rasse, ein Österreicher« bezeichnet und in der die Frage »Warum kennt ihr uns nicht? Warum wollt ihr uns nicht kennen?« (Schnitzler 1967, 198) zu einem geradezu verzweifelten Leitmotiv wird. Egon Friedell (1878–1938), wie Schnitzler in Wien verwurzelt, stammte aus einer jüdischen Familie und trat aus Überzeugung zum Protestantismus über.
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Der Alternative Exil oder KZ entzog er sich: Nach dem sogenannten »Anschluss« 1938 nahm er sich aus Angst vor einer Verhaftung das Leben. In seiner großen »Kulturgeschichte der Neuzeit« (1927) lastete er in einer Verknüpfung von Modernitätskritik und Antisemitismus sein Unbehagen an der Moderne den Juden an, die für ihn zu den negativen Mächten in der Geschichte gehören. Deshalb wurde er auch als jüdischer Antisemit bezeichnet (Kilcher 2012, 149; Grab 1991, 159–162). Seine Beziehung zur aphoristischen Tradition, speziell zu Novalis und Lichtenberg, ist eng und vertraut. Das aphoristische Werk des Polgar und Kuh vergleichbaren pointenorientierten Feuilletonisten selbst ist aber nur schmal. Zu Lebzeiten sind zwei Bände erschienen, »Steinbruch« 1922 und »Kleine Philosophie« 1930, beide mit dem Nietzsche nachgebildeten Untertitel »Vermischte Meinungen und Sprüche«. »Steinbruch« ist ihm eine erste Bilanz; gleichzeitig sind in dem Band die Kristallisationspunkte für seine spätere Kulturgeschichte zu sehen. Kurze Prosastücke und Feuilletons wechseln mit Aphorismen ab. Im glücklicheren Falle werden wir da an Kraus erinnert (»Es wäre der größte Leichtsinn, Schulden zu machen, wenn man die Absicht hätte, sie zu bezahlen.«; Friedell 1922, 44), im weniger geglückten ist das Milieu von Feuilleton und Kabarett unverkennbar : Die meisten unserer heutigen Wahrheiten haben so kurze Beine, daß sie gerade so gut Lügen sein könnten (Friedell 1922, 23). Die Frauen sind keine Menschen. Das macht sie so anziehend (Friedell 1922, 83).
Aus aphoristischer Sicht ist auch Otto Weininger (1880–1903) einen Seitenblick wert. Weininger, zum Protestantismus konvertiert, ist in seinem ebenso erfolgreichen wie aufsehenerregenden Hauptwerk »Geschlecht und Charakter« (1903) ebenso extrem juden- wie frauenfeindlich eingestellt.60 Seine Wirkung lässt sich bei allen österreichischen Aphoristikern von Altenberg bis Kraus, darüber hinaus auch bei Baer-Oberdorf und Nadel nachweisen. In dem nachgelassenen Band »Über die letzten Dinge« (1904) finden sich Texte, die in ihrer aphoristischen Gestalt zur Wirkung kommen. Sie spitzen die extremen Thesen des Buches weiter zu, auch in der jüdischen Komponente: »Das Judentum ist das Böseste überhaupt« (Weininger 1980, 190; vgl. Zeitlin 1963, 77–78 und Mayer 1981, 118–126). Aus Prag stammen nicht anders als aus Wien zahlreiche deutsch-jüdische Aphoristiker (Schütz 1992, 205–216). Prag besaß schon im 11. Jahrhundert eine 60 In der Kurzfassung des Lexikons: »Weininger, der selbst Jude war, meint, daß das Judentum ebenso tief unter dem Christentum steht wie die Frau unter dem Mann« (Kindlers Neues Literaturlexikon. Hg. von Walter Jens. Band 17. München: Kindler 1992, S. 492). Vgl. Mayer 1981, 118–126.
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bedeutende Judengemeinde. Unter Joseph II. begann die Emanzipation, für die Juden Böhmens mit dem Edikt von 1781. Vollständige rechtliche Gleichstellung erreichten sie in der Verfassung von 1849, die sie auch von wirtschaftlichen Zwängen befreite. In zukunftsweisenden Bereichen gewannen sie eine führende Stellung. Ihr Aufstieg wird als jüdisches Wirtschaftswunder bezeichnet. Man musste im k. u. k. Österreich der deutschen oder tschechischen oder ungarischen Nation angehören. Die Prager Juden galten als Angehörige des deutschen Kulturbereichs. Um 1900 waren fast alle sog. Vier-Tage-Juden, die die höchsten religiösen Feiertage (und Kaisers Geburtstag) begingen, ansonsten aber ihrer Religion weitgehend entfremdet waren, so auch die Eltern Franz Kafkas und Max Brods. Da die Juden sich zu den Deutschen zählten, sah der tschechische Nationalismus in ihnen seinen Hauptfeind. Der Antisemitismus wuchs auch hier. Um 1900 gab es deutsche Massenversammlungen, die antitschechisch und antisemitisch zugleich waren. Die Juden zogen sich ins Privatleben zurück und hofften auf den verehrten Kaiser; einige sahen im Zionismus ihre Zukunft. Mit Kriegsbeginn kamen Tausende ostjüdischer Flüchtlinge nach Prag; sie blieben für die Prager deutschen Juden bei aller Hilfsbereitschaft fremd (vgl. Binder 1979, 21–31; Kilcher 2008, 194–198; Zohn 1986, 19–23). Franz Kafka (1883–1924), der einem assimilierten jüdischen Elternhaus entstammte, hat sich stets als entwurzelt, traditions- und zukunftslos betrachtet. In dem Universum der Sekundärliteratur über ihn, das selbst in den Teilbereichen des Aphorismus und des jüdischen Elementes kaum zu überblicken ist, ist nicht nur sein Verhältnis zum Judentum generell untersucht worden (Robertson 1988, Grözinger 1992, Baioni 1994 und andere), es wurden auch spezielle Aspekte wie das jiddische Theater und sogar »Jüdische Motive in Kafkas Aphorismen« (Cavarocchi Arbib in Grözinger, MosHs, Zimmermann 1987) erforscht. Kilcher resümiert: »Kontroverser könnten die Positionen hier kaum sein, wenn er den einen rundweg als zionistischer Autor gilt, während andere seine Texte entschieden ohne jeden Bezug zum Judentum verstehen« (Kilcher 2008, 194). Das gesamte Umfeld, in dem seine Aphorismen stehen, ist hier nur kurz zu umreißen. Durch Jizchak Löwys Theatertruppe, die er 1910 kennenlernte, deren Vorstellungen er 1911/12 regelmäßig besuchte und von der er begeistert war, gewann er Einblicke in die Geisteswelt des Ostjudentums. Eine der Folgen war die »Rede über die jiddische Sprache«. Nach Bubers »Drei Reden über das Judentum« 1909/1910 in Prag (Schütz 1992, 129–132) – Kafkas Schulfreund Hugo Bergmann hatte ihn eingeladen – führte er mit seinem zionistischen Freund Max Brod und den anderen Prager deutsch-jüdischen Schriftstellern intensive Diskussionen zu diesem Thema. Der Sammelband »Vom Judentum«, 1913 herausgegeben vom »Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba« und bei Kurt Wolff, dem expressionistischen Verleger, erschienen, nahm sie auf. Er enthält
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Beiträge unter anderem von Moritz Heimann, Moritz Goldstein, Ludwig Strauß, Karl Wolfskehl, Jakob Wassermann, Arnold Zweig, Gustav Landauer, Margarete Susman und eben auch Max Brod. Kafka veröffentlichte ab 1915 unter anderem auch in Bubers Monatsschrift »Der Jude« (»Bericht für eine Akademie«)61 und in der Prager zionistischen Wochenschrift »Selbstwehr« (zum Beispiel »Vor dem Gesetz«, 1915); mit ihren Redakteuren stand er in freundschaftlichen Beziehungen. Er vertiefte seine Kenntnisse des Chassidismus durch persönliche Begegnungen, näherte sich, gegen die Assimilation der Vätergeneration, dem Zionismus und begann, Hebräisch zu lernen. 1913 besuchte er sogar den 11. Zionistischen Weltkongress in Wien. Mit seiner Braut Felice Bauer schmiedete er Reisepläne nach Palästina. Die Auswanderungspläne verstärkten sich, als er über Dora Diamant, die Partnerin seiner letzten Lebensjahre, die aus einer ostjüdischen Familie stammte, noch mehr Einblick in diese Sphäre erlangte. Typisch für sein Schreiben sei dennoch, so der Schluss seines Lexikographen, die Formulierung seiner deutsch-jüdischen Doppelbindung in vier Unmöglichkeiten: nicht zu schreiben, nicht deutsch zu schreiben, anders (also hebräisch) zu schreiben, die westjüdische Unmöglichkeit (Kilcher 2008, 207; Kilcher 2012, 256). Aphorismen hat Kafka nicht veröffentlicht, er hat auch keine Texte hinterlassen, die er mit diesem Gattungsbegriff bezeichnet hätte. Seine Aufzeichnungen sind aber teilweise unbestreitbar von dieser Art. In Zürau stellte er 1917/ 18 unter dem Eindruck der diagnostizierten Tuberkulose und der unausweichlichen Trennung von Felice Bauer eine unbetitelte, nummerierte Aphorismensammlung zusammen (abschließend in den Krisenmonaten August bis Oktober 1920). Als »Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg« wurde sie 1931 in dem Nachlassband »Beim Bau der Chinesischen Mauer« veröffentlicht. Dort ist auch eine zweite, in den Tagebüchern vom 6. Januar bis zum 29. Februar 1920 im Einzelnen datierte Reihe von Aphorismen herausgehoben und unter dem Titel »Er« abgedruckt; heute finden sich die Texte wieder richtig in ihrem diaristischen Zusammenhang. Es sind Dokumente von Lebenskrisen, und sie wurzeln fest im Biographischen. Es lässt sich aber beobachten, wie sie aus diesen Zusammenhängen herauswachsen. Die Aphorismen erschöpfen sich also nicht im Diaristisch-Autobiographischen, und sie sind im Vergleich zu den episch-fiktionalen Ergebnissen seines Schreibens auch nicht als dessen nicht-fiktionale Reflexionen zu verstehen. Die jüdische Thematik kommt allerdings hier nur in parabolischer Form zum Ausdruck, explizit dagegen im Tagebuch sowie in den Briefen. Um den Rahmen nur exemplarisch anzudeuten: Im Tagebuch setzt er sich 61 Zum Metaphernkomplex ›Assimilant als nachahmender Affe‹ mit Bezug auf Rathenau Kilcher 2008, 202.
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besonders 1911/12 im Zusammenhang mit Löwy wiederholt mit dem Ostjudentum auseinander ; die Briefe an Felice, etwa am 16. September 1916, stehen äußerlich im Zusammenhang mit dem Jüdischen Volksheim (in dem Felice in ihrer Freizeit, von Kafka ermuntert, arbeitete), innerlich in Verbindung mit dem Vater-Sohn-Konflikt und der Psychoanalyse.62 Auch 1920 in seinen Briefen an Milena Jesensk/ geht er das Thema grundsätzlich an, Erfahrung und Reflexion verbinden sich, wenn er ansetzt: »Dann das Judentum.«63 Hervorzuheben ist schließlich die grundsätzliche Überlegung im Anschluss an Kraus in seinem Brief an den Freund Max Brod im Juni 1921: Weg vom Judentum, meist mit unklarer Zustimmung der Väter (diese Unklarheit war das Empörende), wollten die meisten, die deutsch zu schreiben anfingen, sie wollten es, aber mit den Hinterbeinchen klebten sie noch am Judentum des Vaters und mit den Vorderbeinen fanden sie keinen neuen Boden. Die Verzweiflung darüber war ihre Inspiration.64
Die Aphorismen sind sämtlich theologisch orientiert und stehen nicht nur insofern deutlicher in einem inneren Zusammenhang. Die auch für diesen Teil seines Schreibens überreiche Sekundärliteratur hat sich unter anderem intensiv der Einflussfrage gewidmet. Die Gattung samt ihrer Geschichte ist für Kafka ohne besonderen Belang. Da ihm Autobiographie und Tagebuch ungleich wichtiger sind als der Aphorismus, ergeben sich Berührungspunkte von Bedeutung etwa bei Hebbel und Kierkegaard. Vor allem ist aber hier an Pascal als den Sonderfall innerhalb der Gattungsgeschichte zu denken. Das bedeutet nicht, dass es nicht traditionelle thematische Berührungspunkte gäbe, so etwa bei Wahrheit und Lüge. Dennoch erweist sich Kafka als Aphoristiker, der die Gattung eher grundlegend erneuert denn erfüllt. Das aphoristische Bild ist es, das sich über jede moralistische Annäherung, über Imperativ oder Er-Aphorismus hinweg, als das für ihn eigentlich Markante und Auszeichnende zu erkennen gibt. Wie sehr der reine Bildbereich mit dem verwoben ist, was man philosophische Erörterung genannt hat, das lässt sich an der für ihn eigentümlichen Figur der Zurücknahme am besten erweisen: »So fest wie die Hand den Stein hält. Sie hält ihn aber fest nur um ihn desto weiter zu verwerfen. Aber auch in jene Weite führt der Weg« (Kafka 1992, 118, Nr. 21). Die damit verbundene kasuistische Erörterung verrät die juristische Schulung, indem sie sie in Extreme 62 Franz Kafka: Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Hg. von Erich Heller und Jürgen Born: Frankfurt: Fischer 1976, S. 699f. 63 Franz Kafka: Briefe an Milena. Erweiterte und neu geordnete Ausgabe. Hg. von Jürgen Born und Michael Müller. Frankfurt: Fischer 1983, S. 24 (30. 5. 1920). »Die ganzen Nachmittage bin ich jetzt auf den Gassen und bade im Judenhaß« (ebd., S. 288, November 1920). »Wir kennen doch beide ausgiebig charakteristische Exemplare von Westjuden, ich bin, soviel ich weiß, der westjüdischeste von ihnen« (ebd., S. 294, November 1920). 64 Franz Kafka: Briefe 1902–1924. Frankfurt/Main: Fischer 1975, S. 337.
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treibt. In der Zirkelstruktur, die in der Regel eine Unentrinnbarkeit und Ausweglosigkeit konstituiert, zeigt sie sich am reinsten: »Er frißt den Abfall vom eigenen Tisch; dadurch wird er zwar ein Weilchen lang satter als alle, verlernt aber oben vom Tisch zu essen; dadurch hört dann aber auch der Abfall auf« (Kafka 1992, 129, Nr. 73). Diese für Kafka zentrale Bild- und Argumentationsstruktur ist als existenzielles Paradoxon zu interpretieren. Auch Kafka durchbricht im aphoristischen Denken den falschen, den »gegenteiligen Schein« jeweils, auch er ist auf »Entlarvung« aus – allerdings in existenziellen, nicht in sozialen Fragen: »Zwei Aufgaben des Lebensanfangs: Deinen Kreis immer mehr einschränken und immer wieder nachprüfen, ob Du Dich nicht irgendwo außerhalb Deines Kreises versteckt hältst« (Kafka 1992, 134, Nr. 94). Der moralistische Ansatz führt nicht zur Erkenntnis, sondern kommt zunehmend in Verwirrung und öffnet den Weg zu alogischen Schlüssen. Das ist einerseits genuin aphoristisch, andererseits ist damit die entscheidende Wende zur denkbestimmenden Subjektivität bezeichnet. Besonders wichtig und erkenntnisfördernd in dieser Analyse seiner Stellung innerhalb der Gattungsgeschichte ist der Gegensatz zu Kraus’ Paradoxie. Kafkas Ich bleibt demgegenüber nie bloß erkennend, sondern es unterwirft sich diesem Erkenntnisprozess stets auch selbst. Gerade von ihm, der in seinen Texten denkbar unbekümmert um alles Gattungshafte vorgeht, empfängt die Gattung die entscheidenden neuen Impulse. Mit ihm ist nicht nur das Ende aller Lebensweisheit bezeichnet. Auch und vor allem geht mit einem neuen autonomen Bild-Aphorismus eine in der Subjektivität wurzelnde »Denkverschiebung« als das Ende des auflösbaren Paradoxons einher. Diese besondere Struktur mit Zirkelbildung, Metaphorik und unauflösbarem Paradoxon ist auch der Grund dafür, dass man die Texte innerhalb einer großen Interpretationsvielfalt nicht eindeutig auf jüdische Fragen beziehen kann. »Der wahre Weg geht über ein Seil, das nicht in der Höhe gespannt ist, sondern knapp über dem Boden. Es scheint mehr bestimmt stolpern zu machen, als begangen zu werden« (Kafka 1992, 113, Nr. 1). So sucht Binder für diese erste der »Betrachtungen« als Parallele eine chassidische Geschichte im »Jüdischen Echo«, die er wiedergibt, um fortzufahren: »Kafka verändert das Bild.«65 Cavarocchi Arbib formuliert nicht von ungefähr mit einem Vorbehalt: »Der 62. Aphorismus ist, interpretiere ich ihn recht, das Zentrum der Meditationen Kafkas und auch seines Judentums« (Cavarocchi Arbib in Grözinger 1987, 125).66 Sie hat in Parallelen zur Kabbala, beispielsweise zu Fragen der Schuld, des Nichts und des 65 Hartmut Binder : Kafka Kommentar zu den Romanen, Rezensionen und zum Brief an den Vater. München: Winkler 1976, S. 408f. 66 Er lautet: »Die Tatsache, daß es nichts anderes gibt als eine geistige Welt, nimmt uns die Hoffnung und gibt uns die Gewißheit« (Kafka 1992, 127, Nr. 62)
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Bösen, die jüdischen Motive in seinen Aphorismen zu eruieren gesucht. Für Robertson sucht Kafka in den Zürauer Aphorismen neue Geborgenheit in einer religiösen Gemeinschaft. Die Kluft zwischen Sein und Bewusstsein und der Gegensatz von Gemeinschaft und moralisch-spirituellem Integritätsanspruch des Einzelnen finden über die Darstellung mystischen jüdischen Gedankengutes zu einer Lösung (Robertson 1988). Von Kraus wie von Kafka gehen die entscheidenden Einflüsse auf die Aphoristik des gesamten 20. Jahrhunderts aus, insbesondere auch auf ihren deutschjüdischen Anteil, zumal im Exil, so bei Franz Baermann Steiner, Felix Pollak und Werner Kraft. Unter den deutsch-jüdischen Aphoristikern im Deutschland der ersten drei Jahrzehnte, die den Nazis nicht auf die eine oder andere Weise zum Opfer fallen, gibt es neben den ›Großen‹ noch eine Reihe weiterer Autoren, die ihre Schwerpunkte zum Teil auf verschiedensten Gebieten haben, so Politik, Literaturkritik oder Musik. Walter Rathenau (1867–1922), der Sohn Emil Rathenaus, des späteren Gründers der AEG, war selbst einer der führenden Industriellen des Deutschen Reiches. »Die traumatisch erlebte Kluft zwischen Zugehörigkeit zur Elite und gleichzeitiger Diskriminierung begleitete ihn und bestimmte sein Handeln und Denken sein Leben lang.«67 In dem streitbaren Essay »Höre Israel!« (1897) setzte er sich in eklatantem Widerspruch zu Herzl kompromisslos für eine in seinem Sinne richtige, eine geistige Assimilation ein. Kilcher erläutert die Wirkung der Schrift: Verstörend war nicht nur die Adressierung der Juden als Fremdkörper, die Erklärung des Judenhasses als selbstverschuldet und darauf aufbauend die eindringliche Forderung weitestgehender Assimilation, sondern auch der Umstand, dass er dies teilweise in der Sprache des Diskurses der »deutschen Judenfrage« (Treitschke) formulierte (Kilcher 2012, XV).68
In »Staat und Judentum. Eine Polemik«, drei ausführlichen »Erwiderungen« von 1911, schreibt Rathenau: In den Jugendjahren eines jeden deutschen Juden gibt es einen schmerzlichen Augenblick, an den er sich zeitlebens erinnert: wenn ihm zum ersten Male voll bewußt wird, daß er als Bürger zweiter Klasse in die Welt getreten ist, und daß keine Tüchtigkeit und kein Verdienst ihn aus dieser Lage befreien kann. Gleichzeitig aber erfährt er, daß 67 Martin Sabrow, zit. nach Wikipedia. 68 Der Essay sei, so schreibt er 1901 an Herzl, »von einzelnen Lesern des Antisemitismus geziehen worden. In Wahrheit verfolgte er diese Tendenz nicht, ebenso wenig wie ich selbst dazu berechtigt wäre: Denn ich bin ein Jude« (Kobler 1935, 386). Vgl. auch die bei Kilcher ausgeführten Verbindungen zu Geiger und Bartels.
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ein Glaubensakt, gleichviel ob innerlich gerechtfertigt oder äußerlich herbeigeführt, seine Abstammung zu verdunkeln, seinen Makel zu tilgen, seine bürgerlichen Nachteile zu beseitigen vermag (Rathenau 1918, 188f.).
Die Vorstellungen, die der Judenpolitik als »dem letzten Ausdruck der gegen Unzünftige gerichteten Interessenpolitik der beiden herrschenden Kasten« (Rathenau 1918, 197) zugrunde lägen, seien »rückständig, falsch, unzweckmäßig und unsittlich« (Rathenau 1918, 190). Einerseits heißt es dort: »Ich sehe Schatten aufsteigen, wohin ich mich wende« (Rathenau 1918, 206), andererseits prophezeit er so hoffnungsvoll wie falsch: »Noch ehe ein Jahrzehnt vergeht, wird der letzte Schritt zur Emanzipation der Juden geschehen sein« (Rathenau 1918, 191). Das brutale antisemitische Klima schon der frühen zwanziger Jahre konzentrierte sich besonders auf ihn, den auf vielen Feldern Einfluss- und Erfolgreichen.69 1922 wurde er als Außenminister der Weimarer Republik ermordet, eine Tat von größten politischen Auswirkungen. Die Hintergründe wurden nach 1945 detailliert untersucht; er gilt als erstes Opfer des Dritten Reiches. Koblers Sammlung zu »Juden und Judentum in deutschen Briefen« von 1935 endet mit Auszügen aus seinen Briefen (Kobler 1984, 385–396). Rathenau war neben seiner unternehmerischen und politischen Arbeit immer auch wissenschaftlich-literarisch tätig. Sein aphoristisches Werk lässt sich von der moralistischen Fortführung im Verein mit einer besonderen weltanschaulichen Bindung her begreifen. Er verfasste neben den zwischen 1903 und 1908 aufgezeichneten Aphorismen seiner Notizbücher die daraus erwachsenen »Ungeschriebenen Schriften« (in den »Reflexionen«, 1908). Die Aphorismen sind hier zu Reihen geordnet, die ihren inneren Zusammenhang im Kreisen um Zentralbegriffe wie Gesetzmäßigkeit oder Transzendenz deutlich machen und »Weltanschauung« im engeren Sinne sein wollen. Von daher nähern sie sich dem Denken und Charakter des Menschen und handeln im Rahmen des Ausgangsgedankens »In höchster natürlicher Gesetzmäßigkeit leben, ist höchstes Leben« (Rathenau 1908, 212) im zweiten Teil Themen der klassischen Moralistik ab. Die Notizbücher enthalten die Keime zu den später erschienenen großen geschichtsphilosophischen und kulturkritischen Werken im Umkreis der Lebensphilosophie, besonders der »Mechanik des Geistes«. Geistige Grundvorstellung ist einmal mehr die »ideelle Verarmung« (Rathenau 1953, 38) der Zeit. Im Miteinander von Einzelsätzen und kurzen Erörterungen durchdenkt er Kernbegriffe wie Seele, Liebe, Religiosität und legt seine Grundgedanken nieder, beginnend mit: »Der Inbegriff meiner Philosophie ist die Beseitigung des
69 Man muss wohl zur Illustration dieser Gesinnung den folgenden Hass-Vierzeiler zitieren; ich tue es nicht ohne Selbstüberwindung: »Auch Rathenau, der Walther, / Erreicht kein hohes Alter, / Knallt ab den Walther Rathenau, / Die gottverdammte Judensau!«
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Zweckhaften« (Rathenau 1953, 38). Auf Probleme des Judentums geht er hier nicht ein. Die gewissermaßen extreme Linie der Assimilation setzt sich von Rathenau aus mit Egon Friedell und am Rande der Gattungsgeschichte auch mit Rudolf Borchardt (1877–1945) fort. Borchardt hat es sich grundsätzlich verbeten, als Jude bezeichnet zu werden. An Werner Kraft schrieb er 1933: »Was am Juden jüdisches Volk ist, ist mir völlig fremdartig.« Und daran ändere auch nichts, »dass die Juden, die mich immer aufs bitterste gehasst haben, mich für sich beanspruchen.«70 In einer Schrift »Zur deutschen Judenfrage« beschäftigte er sich um 1943 mit Nadlers antisemitischer Literaturgeschichte in der Weise, dass er die Auseinandersetzung auf ein anderes Feld führte: »Solche irrigen geschichtlichen Kartenbilder haben mit Juden und Nichtjuden, Antisemitismus und Judenverhimmelung nichts zu schaffen. Soweit sie irrig sind, sind sie wissenschaftlich irrig und nichts anderes« (Borchardt 1973, 380f.). Mit aller Distanz spricht er von der »versuchten und verhinderten Eindeutschung dieses hochbegabten und unglücklich gestellten, bald lächerlich umschmeichelten, bald wütend gehaßten Volkes« (Borchardt 1973, 372). Im August 1944 wurde er, der seit Jahrzehnten in Italien lebte, dort von der SS verhaftet und konnte nach seiner Freilassung untertauchen. Innerhalb des umfangreichen essayistischen Werkes spielt der Aphorismus aber nur eine ganz untergeordnete Rolle. In den »Münchener Neuesten Nachrichten« erschienen 1929 acht Texte unter dem Titel »Erfahrungen und Gesetze«. Eine etwas erweiterte Fassung, immerhin »ein paar Seiten Sprüche, an denen mir viel liegt« (Borchardt 1990, S. 601[Anmerkung]), schickte er 1939 an Max Rychner für das Feuilleton des Berner »Bund«. Sie wurden indessen erst 1954 veröffentlicht. Bei grundsätzlicher Kritik an ihrer Zeit äußern sie sich zu Fragen der Interdependenz zwischen Seelenleben und dichterischen Gattungen. Zusammengehalten werden sie durch den Ton souveräner Einsicht: Der Weg ist weiser, als der ihn geht (Borchardt 1990, 371). Nichts bezahlt man teurer als Geschenke (Borchardt 1990, 375).
Moritz Heimann (1868–1925) hat sich wie Rathenau, wie Borchardt, wie Georg Hermann, Jakob Wassermann und viele andere explizit zu seiner deutsch-jüdischen Identität geäußert. Im Gegensatz zu Borchardt führt er in Bezug auf sein Judentum eine mittlere Linie fort. Er wuchs in der einzigen jüdischen Familie eines Dorfes in der Mark Brandenburg auf. Als Cheflektor bei S. Fischer spielte er über dreißig Jahre lang eine Schlüsselrolle im literarischen Leben Deutschlands. »Er akzeptierte seine doppelte Identität als Jude und Deutscher, christlichen, 70 Rudolf Borchardt: Briefe 1931–1935. Text. Bearbeitet von Gerhard Schuster (Briefe 6). München: Edition Tenschert bei Hanser 1996, S. 241 (Brief vom 13. 4. 1933).
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jüdischen und aufklärerischen Quellen gleichermaßen verpflichtet« (Schütz 1992, 253). In einem Aufsatz »Judentaufen« von 1912 griff er die Frage auf, »welche der drei Eventualitäten wünschenswert erschiene, ob die Assimilation, oder der Zionismus, oder keines von beiden« (Heimann 1918; 1, 75). Er erwog hier – gegen »Stockjuden« wie »Unjuden« (Heimann 1918; 1, 79), aber auch gegen die eine oder die andere Taufe – die Möglichkeit des »Dissidentismus« unter Anschluss »an die allgemeine Kultur des Volkes« (Heimann 1918; 1, 83). In »Zionismus und Politik« (1917) legte er seine Vorstellungen einer deutsch-jüdischen Verbindung im Rückblick auf seine Familiengeschichte nieder : »Es ist nichts Unnatürliches darin, seine Bahn mit zwei Mittelpunkten zu laufen« (Heimann 1918; 1, 202). Sein Werk ist insgesamt etwas vernachlässigt. Er ist nicht nur als Kritiker und Essayist hervorgetreten, sondern hat auch Aphorismen von klassischer Kürze verfasst. Renate von Heydebrand, deren Aufsatz sich in erster Linie mit dem Literaturkritiker beschäftigt, aber auch für den Aphoristiker von Bedeutung ist, kommt zu dem besonders in unserem Zusammenhang bedeutsamen Schluss, sein Werk lasse sich »mit seinen Vorstellungen im Prinzip, wenn auch nicht im Rang der Gestaltung, mit den verkappten Mystikern und Theologen unseres Jahrhunderts vergleichen, Juden fast alle: mit Musil, Benjamin, Adorno, Canetti« (Heydebrand 1984, 216). Sie entwickelt für ihn ein »Weltbild«, »das derart auf eine ›coincidentia oppositorum‹, aufs Paradoxon gestellt ist, bei dem es auf Einsicht in den Prozeß der Bewegung zwischen Gegensätzen und auf die Erkenntnis des Einmaligen in seiner Einzigartigkeit ankommt« (Heydebrand 1984, 184). Gerade dieses paradoxale Denken ist dem Aphorismus nicht fremd, und es ist nicht ganz abwegig, darin eine Disposition Heimanns zur Gattung zu sehen, wie sie auch aus seinen deutsch-jüdischen Reflexionen erwächst. Heimann geht es nicht um Gattungsreinheit und überhaupt nicht um die Gattung, es geht um den treffenden Gedanken. Er hat so genau und intensiv wie kaum jemand sonst über die Geburt von Gedanken nachgedacht. Unter dem Titel »Was ist das: ein Gedanke?« (Heimann 1969, 278–280) gibt er am Beispiel seines Aphorismus »Die Wahrheit liegt in der Tat zwischen zwei Extremen, aber nicht in der Mitte« einen seltenen Einblick in dessen nächtlichen Entstehungsprozess. Bedingungslos, wenn auch nicht leichten Herzens (»so leid es einem tut«) ordnet er die Form dem Gehalt unter : »Und dennoch, so leid es einem tut, und so schwer diese Einsicht wird: ein Beweis für die Wahrheit ist auch der beste Stil nicht« (Heimann 1918; 3, 97). Entscheidend bleibt allemal der ›schwere‹, der starke Gedanke: »Ist ein schwacher Gedanke schlimmer als ein falscher? – Gewiß; denn einen ganz falschen gibt es nicht« (Heimann 1918; 3, 97). Das mag man bestreiten, und auch andernorts wird man bisweilen zu spontanem Widerspruch verleitet: »Man kann befähigt sein, ein Ding zu beurteilen, das man zu verstehen
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nicht befähigt ist« (Heimann 1918; 3, 128). Aber die schlechteste Wirkung eines Aphorismus ist das bekanntlich nicht. Der in Mannheim gebürtige freie Schriftsteller und Übersetzer Ernst Hohenemser (1870–1954), der seit den zwanziger Jahren in Rom lebte, veröffentlichte 1918 einen Band »Aphorismen« mit allen Symptomen typisch epigonaler Aufschwellung. In 1630 Aphorismen auf 327 Seiten werden hier nicht nur alle möglichen Themen säuberlich abgearbeitet, es kommt auch innerhalb der Kapitel zu einer sozusagen gewissenhaften aphoristischen Auflistung, einer Serienfertigung, die von einer Eigenschaft zur nächsten übergeht. Statt eines frappierenden Bildes ermüdet Bilderfülle; Redundanz ist beinahe Prinzip. Im besseren Fall ist das Bekannte wenigstens originell formuliert. Die Form ist engstmöglich an das klassisch-französische Modell angelehnt: ein Satz, selten mehr. Schon die Menge der selbstbezüglichen Aphorismen im ersten Kapitel »Pro domo« spricht für eine epigonal verspätete Summe. »Die menschliche Seele ist der interessanteste Gegenstand auf Erden. Wer sie kennt, kennt die Welt. Wer kennt die Welt?« (Hohenemser 1918, 22): Unter dieser nicht eben neuen Voraussetzung werden Grundvorstellungen in der Art La Rochefoucaulds wiedergeschaffen. Zu »Kunst und Cultur« sind alle Künste trefflich versammelt, alle einschlägigen Aspekte berücksichtigt. Es liegt dem allen ein Kunstverständnis zugrunde, wie es am besten eine seiner zahlreichen Definitionen selbst wiedergibt: »Der Sehnsuchtsruf aus der Seelennot der Einsamkeit, das ist die Kunst« (Hohenemser 1918, 76). Auf der Seite des Rezipienten bestimmt »gläubiger Genuss« Kunst und Kultur. Es herrschen Maß, Ordnung und Reinlichkeit: »Das Maß der Cultur ist – das Maß« (Hohenemser 1918, 116). Auch zu Philosophie und Kritik scheut er sich nicht, Originalitäten von der Art zu bieten: »Der Weise lernt aus einer dummen Frage mehr, als der Tor aus einer klugen Antwort« (Hohenemser 1918, 205). Hohenemser gibt sich klar als religionsfern und deutschnational zu erkennen. So heißt es zu dem einen Aspekt: »Glaube ist Schwäche, auf Autorität gestützt« (Hohenemser 1918, 250). Und: »Die Religion verdirbt mindestens ebensoviele Charaktere, als sie bessert« (Hohenemser 1918, 250). Und zum andern vertritt er eine Realpolitik von der Art: »Die Deutschen werden solange die schlechteste Politik unter den Großmächten treiben, als bei ihnen Moral der letzte und höchste Trumpf bleibt« (Hohenemser 1918, 278). Noch kurz vor Kriegsende weiß er : »Deutschland ist sich erst durch den Krieg der ganzen Größe seiner Macht bewusst geworden« (Hohenemser 1918, 295). Demokratie und Rechtsstaat existieren für ihn nur im Irrealis: Demokratie wäre eine herrliche Sache, wenn es nur unter den Menschen – Demokraten gäbe! (Hohenemser 1918, 285). Der Rechtsstaat! Das müsste ein netter Staat sein, in dem Recht wirklich vor Macht ginge (Hohenemser 1918, 288).
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Das deutsch-jüdische Thema berührt er allenfalls am Rande: Für die Ideologie einer »Rasse«, wie sie die Diskussion schon in diesen Jahren bis in die Texte Altenbergs und Schnitzlers hinein beherrscht, hat er nur Spott übrig: »Wenn Rasse wirklich ein naturwissenschaftlicher Begriff ist, dann muss Naturwissenschaft Mystik sein« (Hohenemser 1918, 314). Im Ganzen mangelt es in Hohenemsers »Aphorismen«, die formal wie inhaltlich so etwas wie eine Summe der moralistischen Tradition bilden, an eigenem Gehalt mehr denn an der Möglichkeit zur Gestaltung, es mangelt bei aller Konzision im Einzelnen an Reduktion und Konzentration. Mit diversen kurzen Aufzeichnungen in dem Sammelband »Festlicher Werktag« (1922), datiert 1914–1921, schreibt sich auch der Lyriker Ernst Lissauer (1882–1937) in die Gattungsgeschichte ein. In seiner Familie galt das Jüdische als etwas Minderwertiges. Den Wunsch der Eltern, sich taufen zu lassen, lehnte er aber ab. Er begründete dies anfänglich damit, er wolle den Glauben nicht um gesellschaftlicher Vorteile willen wechseln. Später meinte er, er hätte einen Wechsel als »Verrat am Judentum« empfunden.71 Zum Juden wurde auch Lissauer primär von seiner Umwelt gemacht. Er wollte schon in der sog. »Kunstwart-Debatte«, die Moritz Goldstein mit seinem Aufsatz »Deutsch-jüdischer Parnass« auslöste,72 im Widerspruch zu Goldstein, für den die Integration eine Illusion war, und gegen Ludwig Strauß deutsch-nationales Bewusstsein und die aufgezwungene jüdische Existenz verbinden. Für seine chauvinistische Kriegslyrik bekam er nicht anders als Walter Flex und Rudolf Alexander Schröder einen hohen Orden.73 Seine Aufzeichnungen aus der Weimarer Zeit sind im Wesentlichen der späte und im Grunde hilflose Versuch, an einem in Klassik und Romantik beheimateten Dichter-Mythos weiterzuwirken. Das vertrauliche Du, in dem hier ein väterlicher Freund, wenn nicht ein höheres Wesen Rat erteilt, ist von der Herzensaphoristik her vertraut: »Du hast Zeit im Kleinen, im Tag, im Jahr. Du hast keine Zeit im weiten Bogen deines Lebens, in der Ewigkeit, von der dir ein winzigstes Stückchen zugeteilt ist« (Lissauer 1922, 100). Man sollte glauben, dass nach dem Ersten Weltkrieg nicht nur an Deutschlands »Wesen« nichts mehr genesen konnte, aber der Autor lässt es im ständigen Rekurs auf etwas arational Bedeutendes nach wie vor »wesen«: »Einem wesenhaften Menschen wird alles Wesen« (Lissauer 1922, 82). Aus ganz anderen Zusammenhängen kommt der Kirchenmusiker Arnold Mendelssohn (1855–1933), weitläufig verwandt mit Felix Mendelssohn Bartholdy, der letzte Vertreter der deutsch-jüdischen Gattungsgeschichte in Deutschland, dessen Biographie nicht durch den nationalsozialistischen Terror 71 Zit. nach Wikipedia. 72 Vgl. oben S. 59. 73 Vgl. dazu Georg Hermanns Kritik, unten S. 96.
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in KZ oder Exil endete. Er führte von 1912 bis zu seinem Tode ein aphoristisches Tagebuch. Eine Auswahl aus den ca. 4000 Eintragungen erschien unter dem Titel »Gott, Welt und Kunst« 1949. In Mendelssohn begegnet der assimilierte jüdische Konservative der Weimarer Republik, der Determinismus, Pessimismus, Rationalismus ebenso wie den ordinären, gleichmacherischen Sozialismus ablehnt. Luther, Bach, Kant und Goethe sind ständige Bezugsgrößen seiner Aufzeichnungen, die alles nur Geistreiche, wie es für ihn vor allem Nietzsche verkörpert, verurteilen: »Geistreicheln ist beim Manne dasselbe wie Putzsucht beim Weibe: wahre Schönheit bedarf beider nicht. Nietzsche!« (Mendelssohn 1949, 331). Dem ganz entsprechend verfasste er in der Privatheit seines Tagebuchs Aphorismen, die im Glauben gegründet sind (»Wir brauchen einen beschränkten Gott, um tätig, einen unendlichen, um selig sein zu können.«; Mendelssohn 1949, 270), aber deshalb noch kein schwärmerisch-idealistisches Menschenbild vertreten: »Die sogenannte Treue ist oft nichts als Phantasielosigkeit« (Mendelssohn 1949, 327). 1930 fragte er sich nicht ohne drängenden Anlass: »Wer ist deutsch? – Jeder, der an der Verwirklichung der Idee mitarbeitet, die die Bestimmung, das Grundwesen der Nation ist« (Mendelssohn 1949, 319). Das ist hilflos, privat; die ›führenden‹ Antworten gaben längst andere. Die antisemitischen Äußerungen, wie sie vermehrt seit der Jahrhundertwende zu vernehmen und in den Schriften Rathenaus, Borchardts oder Heimanns, in den Lebenserinnerungen von Schnitzler bis Ernst Toller74 dokumentiert sind, wurden immer hasserfüllter. 1921 legte Jakob Wassermann, der in den 1920er Jahren meistgelesene Autor, in »Mein Weg als Deutscher und Jude« eine repräsentative Fallstudie seiner Doppelexistenz als Deutscher und Jude vor. Der jüdische Glaube war ihm fremd, dem Zionismus konnte er nichts abgewinnen, aber er ließ sich auch nicht taufen, denn er fühlte sich einer Leidensgemeinschaft zugehörig. Sein Buch spricht von Anfeindungen und Kränkungen, von »der Feuersbrunst des Hasses«, »deren Schauplatz zur gegenwärtigen Stunde Deutschland ist« (Wassermann 1987, 123), und mündet in einer Litanei der Vergeblichkeit (Wassermann 1987, 128f.).75 Das scheinbar Fremde im Aphorismus wurde gegenüber dem Volkstümlichen strikt abgelehnt, und zu dem Fremden gehörte neben dem Französischen auch das Jüdische im eigenen Volk. Der protestantische »Eckart« vollzog 1929 eine 74 Ernst Toller : Gesammelte Werke. Bd: 4: Eine Jugend in Deutschland. Hg. von Wolfgang Frühwald und John M. Spalek. München: Hanser 1978, S. 20f., 227f. et pass. 75 In vieler Hinsicht aufschlussreich sind besonders die breit ausgeführten Diskussionen mit einem nichtjüdischen Freund (Wassermann 1987, 47–58, 98–102) sowie die Schilderung der Wiener Verhältnisse (107–114). Vgl. auch innerjüdisch kontrovers Kurt Tucholsky : Die QTagebücher 1934–1935. Hg. von Mary Gerold-Tucholsky und Gustav Huonker. Reinbek: Rowohlt 1978, S. 176–179.
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strikte Zweiteilung in volksmäßig-bodenständiges Dazugehöriges und Auszugrenzendes, nämlich Jüdisch-Großstädtisch-Amerikanisches. Im Original-Ton (gegen den Kritiker Alfred Kerr): »Nein: D i c h hören wir mauscheln; natürlich, d a s ist’s. Jesus Sirach Kerr!! Asphaltierte, vom Bazillus der Großstadt in prickelnde Gärung versetzte, jüdische Kaustik, d a s sind Kerr-Aphorismen« (Maurer 1929, 209).76 Bei Bartels hieß es 1921 knapp: »Karl Kraus, Jude«,77 ohne dass die drei Aphorismenbände auch nur genannt würden. Nicht anders verfuhr Josef Nadler später in seiner großen, vierbändigen Literaturgeschichte mit dem »böhmischen Juden Karl Kraus«.78 Im Geschichtsverständnis des Nazi-Aphoristikers Richard Euringer konnten seinem Reich »die verjudeten Demokratien«79 kein Vorbild sein. In der Aphoristik des Dritten Reiches wurde bevorzugt der Begriff »Spruch« gebraucht, um dem mit zersetzendem Witz und häufig spezifisch jüdischem Intellekt assoziierten »Aphorismus« etwas im Ursprung Germanisches, Bedeutungsschweres entgegenzusetzen.80 Eine gattungsnationalistische Betrachtungsweise bereitete die literarische und dann auch physische Ausgrenzung der deutsch-jüdischen Aphoristiker vor.
»Sind die Juden intelligent?« »Wenn ja, rettet Euch. Es ist höchste Zeit!« Deutsch-jüdische Aphoristiker im Zeichen von Holocaust und Exil Die deutsch-jüdische Aphoristik des 20. Jahrhunderts ist in ihrem Kern durch die Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus von Exil und KZ her zu bestimmen. Nur relativ wenige Autoren entgingen dieser politisch-existenziellen Zäsur durch ihren Tod noch in der Weimarer Republik. Der letzte von ihnen, Mendelssohn, ist am 19. Februar 1933 gestorben. In Österreich sind Münzer 1930, Schnitzler 1931, Kraus 1936 verstorben. Hausdorff und Friedell entzogen 76 Aphorismen im strengen Sinne hat Kerr, einer der wirkmächtigsten Kritiker bis zu seiner Emigration 1933, nicht geschrieben. Wohl ist sein prägnanter, pointenreicher Stil aufs beste geeignet, aphoristische Sätze aus ihm zu exzerpieren. Deshalb nimmt ihn wohl auch Zeitlin in seine Anthologie auf (Zeitlin 1963, 98). Vgl. unten S. 155. 77 Adolf Bartels: Die deutsche Dichtung der Gegenwart. Die Jüngsten. Leipzig: Haessel 1921, S. 167f. Vgl. dazu oben S. 47, Anm. 26. 78 Josef Nadler : Literaturgeschichte des deutschen Volkes. Dichtung und Schrifttum der deutschen Stämme und Landschaften. 4 Bde. 4., völlig neubearbeitete Auflage. Berlin: Propyläen 1939–41. Bd. 4, S. 198. 79 Richard Euringer : Aphorismen. Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt 1943, Nr. 240. 80 Vgl. Friedemann Spicker : Der deutsche Aphorismus in der Zeit des Nationalsozialismus. In: F. S.: Studien zum deutschen Aphorismus im 20. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer 2000, S. 54–109.
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sich der Einlieferung ins KZ durch Selbstmord.81 Analog zur »Gnade der späten Geburt«, wie sie ein deutscher Bundeskanzler formulierte, könnte man – Rathenau ausgenommen – von der Gnade des frühen Todes sprechen. Die Reihe der Aphoristiker, die den Nazis auf die eine oder andere Art zum Opfer fielen, beginnt schon mit dem 1866 geborenen Richard Beer-Hofmann und dem ein Jahr jüngeren Max Jacob Friedländer, die beide emigrieren mussten, und setzt sich mit Felix Hausdorff (geb. 1868), Paul Nikolaus Cossmann, Karl Wolfskehl (beide geb. 1869) und Salomon Baer-Oberdorf (geb. 1870) fort, um nur die Ältesten zu nennen. »Im Zeichen von Holocaust und Exil« werden damit hier Texte in einen Zusammenhang gerückt, die von der Jahrhundertwende bis Anfang der dreißiger Jahre entstanden. Unter streng chronologischen Gesichtspunkten handelt es sich dabei um so etwas wie einen zweiten Durchlauf. Er ist in unserem besonderen Kontext aber nicht nur gerechtfertigt, sondern aufs Höchste angezeigt, weil nur so unabweisbar zu dokumentieren ist, wie der Holocaust selbst die Gattungsgeschichte im 20. Jahrhundert dominiert, und das, wie sich bei Günter Kunert und Moshe Zuckermann zeigen wird, bis in die Gegenwart hinein. Was für »die deutsch-jüdische Aphoristik im Exil« gilt,82 das gilt allerdings auch hier : Das Leben, auch das literarische, lässt Zäsuren, die sich von einer ideellen Methodik her verstehen, nur sehr bedingt zu. Wie und wo ließe sich etwa das Werk des Expressionisten Franz Werfel, das schon seit 1917 auch Stellungnahmen zu jüdischen Themen umfasst, das aber für den aphoristischen Anteil schwerpunktmäßig 1942 bis 1944 entstand, in letzter Klarheit zuordnen? Paul Nikolaus Cossmann (1869–1942) gehört mit seinen »Aphorismen« (1898; 2. Auflage 1902) zu den Autoren, die, wie Emanuel Wertheimer oder Salomon Baer-Oberdorf, die klassische Moralistik weiterführten. Er wurde als Sohn eines jüdischen Musikers geboren, konvertierte 1905 zum Christentum und ließ sich katholisch taufen. Bis 1933 war er der Herausgeber der »Süddeutschen Monatshefte«, dann wurde er von den Nazis in sog. Schutzhaft genommen und kam 1942 in Theresienstadt um. Mit einem Chamfort-Motto stellt sich Cossmann ausdrücklich in die Reihe der Moralisten. Wenn er für sich das Paradoxon formuliert: »Geistreich sein = ernsten Witz haben« (Cossmann 1902, 13) und am Ende beteuert: »Ernst sein ist Alles« (Cossmann 1902, 143), so untermauert er damit den moralistischen Anspruch seiner meist in einen einzigen Satz gefassten »Aphorismen«. Diesem Anspruch können sie allerdings nicht ganz gerecht werden. Sie richten sich gegen einen geistlosen Positivismus und Materialismus, eben gegen die »Modernen«, und lassen dabei die klassischen In81 Vgl. oben S. 49 und S. 74. 82 Vgl. die Bemerkungen zur Gruppierung der deutsch-jüdischen Aphoristik im Exil und nach 1945, S. 112f. und S. 136f.
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gredienzen des Genres erkennen: die Skepsis, das Selbstdenken, den produktiven Widerspruch. Oft sind es Maximen oder Definitionen, die Bekanntes bebildern (»Im Buche des Lebens hat fast jedes Blatt einen Trauerrand.«; Cossmann 1902, 22); ein satirischer Impetus und ein verdeckt-ironisches Sprechen zeichnen sie aus. Sie erinnern mit ihrer gefällig konsumierbaren Gesellschaftsund Wissenschaftssatire und in ihrem lockeren Zynismus zum einen in der burschikosen Art der Definition (»Kunst ist der Sport der Weiber.«; Cossmann 1902, 85) an die Gedankensplitter-Aphoristik. Zum andern erscheinen sie aber auch manchmal schon wie Vorläufer Kraus’scher Aphorismen: »Die sogenannten Jugendsünden werden nicht deshalb im Alter unterlassen, weil man sie nicht mehr begehen will, sondern weil man sie nicht mehr begehen kann« (Cossmann 1902, 130). In den »Aphorismen« des Münchner Mediziners Salomon Baer-Oberdorf (1870–1940), unter dem Titel »Wetterleuchten« 1909 erschienen, triumphieren wie bei vielen seiner Zeitgenossen treuherzige Ideale und gute Gesinnung über sprachliche Gestaltungskraft und originelle Idee: »Von manchen geistreichen Wahrheiten ist das Gegenteil ebenso geistreich und wahr wie jene« (BaerOberdorf 1909, 94). Ihr Motto lautet: »Am Ende all unserer Weisheit steht eine Frage und keine Antwort« (Baer-Oberdorf 1909, vor 1). Die Texte stellen geradezu das Muster einer Moralistik der Lebensweisheit in einem Satz dar, die sich thematisch eng auf einem mittleren Niveau bewegt und im Wesentlichen wiederholt. Die Bemerkungen zum Gegensatz von »Arm und Reich« etwa bleiben auf einer zeitlos-beschreibenden Ebene: »Wenn Arm und Reich intim mit einander verkehren, muss immer der Arme die Kosten bezahlen« (Baer-Oberdorf 1909, 69). Seine Misogynie ist selbst in einem traditionell frauenfeindlichen Umfeld von seltener Schärfe. Signifikanter in unserem Kontext ist es, dass sich die Kritik an einem fraglos vorhandenen deutschen Nationalcharakter durchzieht: Der Deutsche meint noch immer, um sich Ruhe zu verschaffen, ist es das Beste – dreinzuhauen (Baer-Oberdorf 1909, 32). Der Deutsche singt seine schwermütigsten Lieder, wenn er anfängt, angeheitert zu werden (Baer-Oberdorf 1909, 80).
Sein Blick von außen (»Des Deutschen Vaterland ist so weit und groß und schön, und seine Vaterlandsliebe so eng und klein und häßlich.«; Baer-Oberdorf 1909, 14) sieht aber nicht nur die Deutschen schärfer. Er wendet sich auch gegen jedwede erstarrte Orthodoxie: »Die Orthodoxen von heute sind Reformer gewesen vor hundert Jahren – ; auch die Religionen entwickeln sich, blühen, reifen
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und fallen ab« (Baer-Oberdorf 1909, 111). 1940 ist Baer-Oberdorf in dem südfranzösischen Internierungslager Gurs verstorben.83 Zur philosophisch geprägten Weltanschauungsaphoristik sind die Bände von Hugo Marcus, Oscar Ewald und Arno Nadel zu zählen. Marcus (1880–1966), als Sohn jüdischer Eltern geboren, verfasste während seines Philosophiestudiums in Berlin (unter anderem bei Dilthey und Simmel) aphoristische »Meditationen« (1904), in denen er sich zu verschiedenen Fragen seines Faches wie auch zu Ästhetik, Kunst- und Literaturpsychologie äußert. Mit seinem selbstreferentiellprogrammatischen Vorwort stellt sich der Verfasser bewusst in die Gattungsgeschichte. Er will die »vorwiegend wissenschaftlichen« Aphorismen von denjenigen »mehr poetischer Färbung« unterschieden wissen (Marcus 1904, 5). Auch die prägnanteren unter seinen Texten sind freilich alles andere als »poetisch«. Wo sich die Texte der schützenden Hülle einer konventionell akademischen Argumentation begeben und ins Allgemeine zielen, offenbaren sie ihre erstaunliche gedankliche und sprachliche Blöße. Da hilft auch eine solche Selbstverpflichtung nicht: »Man muss nicht verschmähen, einen Gedanken so oft zu denken, bis er trivial wird und so weit, bis er ins Triviale mündet. Man lernt dabei« (Marcus 1904, 68). Oft bleibt es bei »schöner«, aber kaum mitteilenswerter wissenschaftlicher Emphase: »Schöner als alle Weisheit – der Drang zur Weisheit« (Marcus 1904, 91). Im Grunde lassen die Aphorismen nur das philosophische Misstrauen ihres Verfassers gegen das von ihm gewählte Genre erkennen. Marcus’ weiterer Lebensweg ist besonders bemerkenswert. Er konvertierte zum Islam, war 1930 als Präsident der »Deutsch-Muslimischen-Gesellschaft« in Berlin Verfasser einer Koranübersetzung und wurde 1938 in das KZ Sachsenhausen eingeliefert. Nach kurzer Zeit auf Fürsprache eines Scheichs freigelassen, konnte er im folgenden Jahr ins schweizerische Exil fliehen. 83 »Fritz erkannte den betagten Vater einer Cousine aus der Baden-Badener Gegend, einen Arzt. Fritz hatte ihn in einem schwierigen Verfahren, das ihm die Nazis angedreht hatten, verteidigt. Die Bevölkerung hielt zu ihrem langjährigen, bewährten Arzt. Das war sein Unglück geworden. Er wurde gezwungen, seine Praxis einem jungen unfähigen Naziarzt abzugeben. Er war einer von Fritzens letzten, grossen Sorgenkindern in der Anwaltspraxis gewesen, die Sache war erfolgreich zu Ende geführt. Der alte Mann erkannte Fritz sofort. Er sagte nur mit ersterbender Stimme: ›Herr Doktor, könnten Sie mir nicht wenigstens eine Decke besorgen, ich friere so entsetzlich!‹ Erschüttert sah Fritz Sigmund an. Sie hatten ja selber keine! Fritz sprach dem Greis Mut zu. Dieser Arzt war ein bekannter Aphorismenschreiber gewesen. Fritz zitierte ihm einiges aus seinen mehrbändigen Werken. Ein glückliches Lächeln huschte über seine vergrämten Züge. Er sagte: ›Ich mache es nicht mehr lange mit, ich sehe alles nur in grau.‹ Fritz versprach, alles zu tun, um ihm beizustehen. Aber die Zeit drängte, man musste in der Kilometerstadt den Onkel, Sigmunds Mutter und Schwester finden. Dem Arzt nur einen Händedruck und das Versprechen, das Möglichste zu tun. […] Als Fritz in aller Frühe die Decke in das vis-/-vis gelegene Ilot brachte, war der alte Mann tot. Schon weggetragen.« (Mail von Gad Freudenthal, 12. Mai 2014; mit der Beschreibung des Lagers. Sie ist den in der 3. Person geschriebenen Erinnerungen von Fritz Rosenfelder entnommen).
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Oscar Ewald (1881–1940), Sohn des Religionshistorikers Moritz Friedländer, lehrte nach dem Studium der Rechtswissenschaften und der Philosophie als Privatdozent an der Universität Wien.84 In seinem 1909 in zwei Bänden veröffentlichten und sogleich hochgepriesenen Werk »Gründe und Abgründe. Präludien zu einer Philosophie des Lebens« suchte er wiederholt den Anschluss an Nietzsche. Es ist von daher nur konsequent, dass der erste Band in die Aphorismen der »Reflexe und Reflexionen« ausläuft. Sie glänzen nicht unbedingt durch Originalität; man erkennt vielmehr, dass dem Hochschullehrer die gesamte Tradition seit der Antike zur Verfügung steht: »Lebensweisheit: Alle Lebensweisheit kommt im letzten Grunde auf ein würdiges Sterben hinaus« (Ewald 1909, 531). Aber sie blenden auch nicht durch fragwürdigen sprachlichen Oberflächenputz. Seine besten Texte sind in jedem Falle nachdenkenswert und für eine vernichtende Kritik nicht geeignet: »Sehnsucht: Wonach man sich am meisten zurücksehnt, ist dasjenige, was man niemals besessen« (Ewald 1909, 550). Dennoch wären sie so vergessen wie das ganze Werk, wenn Kraus sie nicht auf seine spezielle Art durch seine Schmähungen für die Gattungsgeschichte bewahrt hätte: »Herr Ewald ist so sprachfern, daß er sich von der Leichtigkeit, ein tausendseitiges Buch zu schreiben, verführen ließ und vor der Schwierigkeit nicht zurückschrak, Aphorismen draufzugeben.«85 1938 wurde Ewald in das KZ Dachau eingeliefert; ein Jahr später wurde er wieder freigelassen und konnte nach England fliehen. Tief im Judentum verwurzelt sind die wenigsten der deutsch-jüdischen Aphoristiker. Der Maler, Dichter und Musiker Arno Nadel (1878–1943), im Ostjudentum beheimatet, gehört zu dieser Minderzahl.86 Im Gegensatz zu Marcus und Ewald lebt er in größeren Literaturlexika noch fort. »Die in Nadel erneuerte Mystik des Judentums« wird dort notiert, von der »Ideenwelt einer esoterischen Gottesvorstellung« und »den mystischen Erfahrungen des Ostjudentums«87 ist die Rede. Nadel war Kantor und Organist an Berliner Synagogen und lebte ganz der jüdischen Volkslied- und Kirchenmusik, auch als Herausgeber und in theoretischen Beiträgen, in denen er von der »Judenheit als Nation« spricht. Er war mit Buber befreundet und teilte mit ihm sein Interesse am Chassidismus (Kilcher in Kilcher 2012, 385). Sein Aphorismenbuch »Aus vorletzten und letzten Gründen« (1909) wurde in der zeitgenössischen Kritik im84 Zu Wien und den Wiener Aphoristikern, die den Nazis nicht mehr auf die eine oder andere Weise zum Opfer fallen, s. oben S. 61ff. 85 Die Fackel Nr. 303/304 v. 31. 5. 1910, S. 42. 86 Unter anderen Vorzeichen wäre es sicherlich gewinnbringend, Leben und Werk des ostjüdischen Musikers Nadel und des assimilierten westjüdischen Musikers Mendelssohn kontrastiv zu beleuchten. 87 Gerhard Bolaender in: Walther Killy (Hg.): Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Bd. 8. Gütersloh, München: Bertelsmann 1990, S. 326f.
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merhin mit den gleichzeitig erschienenen »Sprüchen und Widersprüchen« von Kraus verglichen. »Kraus, eine blendende Polemikernatur – Nadel, ein stiller, weiser Genießer, dem die Güte selbst die Feder führt: schwer sind krassere Gegensätze denkbar.«88 So resümierte der Freund Felix Stössinger. Er charakterisiert den Autor dabei so schonend wie zutreffend: »Nadel schreibt sehr vorsichtig, mit Verantwortlichkeitsgefühl, das dem Aphoristen am leichtesten fehlt, aber wenig plastisch und schlagkräftig.«89 Auf die Aphorismen selbst beziehen sich die lexikalischen Kurzcharakteristika insoweit, als sie auch als eigenwillige Ausformung mystischen Einheitsverlangens zu verstehen sind: »In den letzten Gründen, da ist vielleicht Einheit« (Nadel 1909, VII). An Explizitheit ist Nadels Konzept einer »neueren Mystik« nicht zu übertreffen; es wird wiederholt thematisiert: Es bleibt aber bei beschwörenden Wiederholungen und verwirrenden Begriffsspielen (Nadel 1909, 156, 167f., 174, 178 u. ö.).90 Die Aphorismen entwickeln sich vom Nachvollziehbaren, auch Trivialen in den Kapiteln wie »Religion Moral« oder »Von Weisheit und Kunst« immer stärker zur Spekulation und schließlich zum philosophischen Gedicht. Nadels Denken endet in einem »Kreis«, in den ein Außenstehender nicht eindringt: Aus einer neueren Mystik. Das Sein ist ein gewordenes und ist ein Erkennen, und das Erkennen ist ewig, und ist es nicht hier, so ist es dort. Doch ist nur das Sein im Sein ein Erkennen, nicht aber auch das große Sein, welches kein Gewordenes, sondern eben ein Sein ist und welches noch als Bewegung ein Sein ist (Nadel 1909, 167f.).
Neben dem übermächtigen Nietzsche ist es Schopenhauer, der im Hintergrund steht; Goethe ist für Nadel der Fixstern. Seine Anthropologie ist in eigenartigem Widerspruch zu seinem eigens erklärten Optimismus tief pessimistisch; Menschenkenntnis und Ekel stehen für ihn in engem Zusammenhang. Seine Einleitung gibt in Umrissen ein geistiges Gesamtkonzept vorweg; in Erläuterung des Titels heißt es: »P h i l o s op h i e ( D e f i n i t i on ) . Die Philosophie ist die Darstellung der Beziehungen zwischen Kosmos und Chaos: zwischen vorletzten Gründen und letzten Gründen« (Nadel 1909, 213). (Wenn Stössinger vorsichtigst formuliert: »Vielleicht liegt es an mir, daß ich ihm nicht immer in die vorletzten und letzten Gründe, in den Kosmos und das Chaos folgen konnte.«91, dann ist er 88 Felix Stössinger : Spruchweisheit. In: Literarisches Echo 12, 1909/10, Sp. 183–189, hier Sp. 188. In Stössingers Verlag erschienen auch einige Werke Nadels. Über seinen Lebensweg vor 1933 und seine Flucht über Prag und Nizza in die Schweiz unterrichtet Wikipedia. 89 Ebd., Sp. 189. 90 Friedemann Spicker : Mystik und Aphorismus. Mystik-Modelle des 20. Jahrhunderts in aphoristisch bestimmten Mischgattungen der Moderne. In: Kleine Prosa. Theorie und Geschichte eines Textfeldes im Literatursystem der Moderne. Hg. von Thomas Althaus, Wolfgang Bunzel und Dirk Göttsche. Tübingen: Niemeyer 2007, S. 315–328. Kurzfassung, im Ms. ausgeführt. 91 Stössinger, ebd.
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damit tatsächlich beileibe nicht allein). In dieses Konzept fügen sich die 729 Aphorismen dieser Weltanschauungsaphoristik ein. Auch ihre Sprache ändert sich. Zunächst bleiben sie nach solcher Einleitung auch thematisch überraschend konventionell. Schwerpunkte sind Kunst und Literatur, Religion und Moral sowie der Mensch und seine Psychologie. Nadels Ästhetik umkreist den Gedanken der Originalität und das ›Wesen‹ der Kunst und formuliert KunstDefinitionen, selten überraschend: »Kunst kommt her von Müssen und nicht von Können« (Nadel 1909, 74). »Die wichtigste Aufgabe des Schaffenden ist: Die Rettung der menschlichen Ideale. […]« (Nadel 1909, 249) heißt es ›idealistisch‹. Das zentrale Kapitel »Von Weisheit und Kunst« mit seinen Leitfiguren des Schaffenden und des Weisen schließt: »D e r H ö h e re . Über dem Schaffenden steht noch immer der Weise« (Nadel 1909, 104). Wo er sein eigenes Denken reflektiert, heißt es: »G e d a n ke n - J ä g e r. Wer Gedanken nachjagt, wird sie nie anders als tot nach Hause tragen« (Nadel 1909, 19). Spezifisch Jüdisches begegnet allenfalls in Spurenelementen: in den Bezügen auf das Alte Testament (Nadel 1909, 53, 103 u. ö.), einem Talmud-Zitat (Nadel 1909, 172) oder dieser Lesefrucht: »Eine Neugierde. – Neben all den Dingen, die ich gerne wissen möchte, möchte ich auch noch das wissen, warum Lichtenberg sich ›ausdrücklich‹ die Übersetzung seiner Werke ins Hebräische gewünscht hat« (Nadel 1909, 19).92 Ein Aphorismus wie »Rassenfanatiker« lässt besonders aufhorchen: »Rassenfanatiker. – Die Rassenfanatiker kommen mir so vor, als wenn sie etwas Selbstverständliches predigten. Wenn ich höre: liebet euere Rasse, fördert euere Eigenart, suchet die Reinheit euerer Gattung zu erhalten, dann ist es mir, als hörte ich: liebet euere Eltern, liebet euere Kinder, liebet euere Freunde« (Nadel 1909, 137; vgl. »Rassen-Psychologie«, Nadel 1909, 34). Auf den aktuellen Antisemitismus geht Nadel hier nicht ein, er dringt auf Generelles. Er will dieses Rassenkonzept zugunsten eines allgemein Menschlichen überformen: »Wer ewig nur an seine Eigenart denkt, der fördert seine Eigenart am schlechtesten. Wer aber den Menschen in sich fördert, fördert seine Eigenart am besten.« Nachdem er von Engländern, Römern und Griechen gesprochen hat, heißt es: »Und wer waren die großen Juden? – Moses, Christus und Spinoza. Und sie waren es nicht deshalb, weil sie Lehrer der Juden waren, sondern weil sie Lehrer der Menschen waren. Was lag diesen Männern an den Juden? Sie kümmerte der Mensch.« 1938 wurde Nadel, der von der jüdischen Gemeinde Berlins aus an einer siebenbändigen Anthologie der Synagogenmusik arbeitete, ins KZ eingeliefert. Er kam wieder frei (wenigstens insofern, als er zu Zwangsarbeit 92 Anspielung auf Lichtenbergs Sudelbücher L 594. Der Aphorismus beruht auf einem Lesefehler des Lichtenberg-Editors Leitzmann, der »erbitte« statt »verbitte« las. Vgl. Ulrich Joost: »erbitte« oder »verbitte«? Ein editorisches Problem und seine Weiterungen. In: Photorin 2, 1980, S. 29–35.
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verpflichtet wurde), konnte sich aber nicht zur Auswanderung entschließen. 1943 wurde er in Auschwitz ermordet. Ausschließlich zum Krieg machte der Antimilitarist Georg Hermann (1871– 1943) seine 1914–1917 datierten und 1919 erschienenen »Randbemerkungen«. Hermann war als Autor beileibe nicht unbekannt. Er war, zum Beispiel mit »Jettchen Geberts Geschichte« (1906–1909), die 1927 in der 120. Auflage erschien, das, was man heute einen Bestsellerautor nennen würde, und gilt einigen Kritikern als »jüdischer Fontane«. Seine Bücher wurden im Mai 1933 mit denen anderer Autoren verbrannt. Er ging ins holländische Exil, wurde 1943 nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet. Im New Yorker Nachlass finden sich auch Bemerkungen zu seinem Judentum: Er habe es nie nach außen gekehrt, ich hatte es immer als eine Weste getragen [,] die man unter dem zugeknöpften Rock hat, die warm gibt und die selbstverständlich ist…. hervorgekehrt hatte ich es nie, und es wäre mir nie eingefallen, wie das heute internationale Mode ist, die Weste über den Rock zu tragen. Trotzdem habe ich mein Judentum weder vergessen, noch je verleugnet und verachtet [,] wie die andern es taten. […] Das Judentum ist mir die Weste unter dem Rock des anständigen Europäers gewesen. Trotzdem war es mir bis heute auch nicht ein Hundertstel des europäischen Kulturgutes wert (zit. nach Liere 1974, 180).
Verborgen, als das Eigene geachtet und geschätzt, aber gegenüber dem europäischen Gedanken auf das Stärkste relativiert: so darf man diese Bemerkungen wohl zusammenfassen. Hermann hat 1926 in einem Band mit dem Titel »Der doppelte Spiegel« über sein Leben und seine Stellung als deutsch-jüdischer Schriftsteller sowie über die Lage der deutschen Juden vor und nach 1914 Rechenschaft gegeben. Man sollte ihn neben Wassermanns fünf Jahre zuvor erschienenes Buch »Mein Weg als Deutscher und Jude« halten; er ist aber weit weniger beachtet worden. Darin heißt es: Ich hatte mir alles ganz geschickt ausgesucht. Ich war Deutscher, liebte die deutsche Sprache. […] Und ich hatte außerdem noch das große Glück: Jude zu sein. Wie Fontane das Glück hatte, deutschsprechender Franzose zu sein. Das heißt, ich hatte das Glück, hineingeboren zu sein in den Herzensmittelpunkt des damaligen Deutschlands, und zugleich Distanz zu haben (Hermann 1926, 6f.).
Er legt die Situation der Juden vor dem Krieg aus seiner Sicht dar : »Wenn wir also den deutschen Juden als Ganzes betrachten, so war er zuerst Deutscher, zu zweit ein Kind seiner engeren Heimat« (Hermann 1926, 42). Er will beweisen, dass der Antisemitismus »in Deutschland wenigstens immer nur in den letzten Jahrzehnten ein ad hoc gemachtes Kunstprodukt gewesen ist, dem auch volkspsychologisch die Unterlagen fehlen« (Hermann 1926, 49). Im Hauptteil ist der Band eine dezidierte Auseinandersetzung mit Aufsätzen aus dem Sonderheft der Zeitschrift »Der Jude« über Antisemitismus; sie mündet in eine schon rührend
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anmutende Gegendarstellung (»Es ist nicht richtig…; »Richtig ist…«): »Es ist also nicht richtig, daß es ›ein deprimierendes Gefühl ist, Jude zu sein‹. Es ist aber richtig, daß es für den Juden in einer nur noch auf Mord eingestellten Welt ein deprimierendes Gefühl ist, Mensch und auch Deutscher zu sein« (Hermann 1926, 88). Nussbaum hat die »Randbemerkungen«93 inhaltlich im Detail ausgewertet: »Die Aufzeichnungen werden im Laufe der Kriegsjahre merkbar radikaler. An die Stelle von Beschämung und Trauer treten Verbitterung und umstürzlerische Gesinnung« (Nussbaum 1999, 158). Als Aphorismen sind sie unbeachtet geblieben, obwohl sie im Vorwort ausdrücklich auf die Gattung Bezug nehmen: Der dritte Grund, warum er, wie ursprünglich beabsichtigt, keinen großen Essay geschrieben habe: »weil ich mir jetzt und heute eine stärkere propagandistische Wirkung von eben dieser aphoristischen Form verspreche« (Hermann 1919, 3). Diese Entscheidung wiederum begründet er leider nicht. Hat er Kenntnis von einschlägigen Publikationen dieser Jahre, Rudolf Leonhards »Äonen des Fegefeuers« (1917), Ernst Hohenemsers und Moritz Heimanns »Aphorismen« (1918), Oscar Levys »Kriegsaphorismen« (1918), Salomo Friedlaenders (Mynona) Aphorismen (in: »Schöpferische Indifferenz«, 1918), Christian Morgensterns »Stufen« (1918), Karl Kraus’ »Nachts« (1919) oder gar von den zahlreichen Gattungsbeiträgen in Zeitschriften wie »Der Friede«, die ihn zu der Aussage »jetzt und heute« bringen? Er ist jedenfalls auf das Weiteste von ihnen entfernt. Hermanns Aphorismen sind immer ehrenwert, in der Artikulation seiner Gesinnung sehr redundant und damit inhaltlich wie formal bis auf wenige Ausnahmen extrem weit sowohl von einem Expressionisten wie Rudolf Leonhard als auch von einem Kraus der »Letzten Tage der Menschheit« entfernt: »Das einzige, das man in Berlin noch kriegt – sind nasse Füße« (Hermann 1919, 156). Mit ähnlichem satirisch-sarkastischen Furor misst er den prozentualen Anteil Gefallener an der hohen Aristokratie, nämlich zwei Prozent: »Wer zweifelt noch, dass sich hier, während doch andere Berufe bis 20, 40 Prozent verloren haben, Gottes Gnade sichtbarlich bewährt, so dass wir mit Recht von unsern Fürsten von Gottes Gnaden reden können« (Hermann 1919, 159). Sie sind dabei nicht ohne prophetischen Instinkt: Es fragt sich, wie lange es noch einen Kaiser von Deutschland geben wird! (Hermann 1919, 81). An diesem Krieg interessieren mich nur die Revolutionen, die er im Gefolge haben wird (Hermann 1919, 138). 93 »Der doppelte Spiegel« greift viele Motive aus den »Randbemerkungen« auf (Nussbaum 1999, 166). Auch aus den späten dreißiger Jahren sind Aufzeichnungen erhalten. Hermann berichtet am 7. Januar 1937 von »einem ganzen, leidlich dicken Buch ›Randbemerkungen‹ zu den letzten Jahren, aber nicht so aphoristisch« (zit. nach Nussbaum 1999, 173).
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Er sucht zwischen Nationalbewusstsein und Kosmopolitismus einen mittleren Weg (»Ich bin Dissident der N a t i o n a l i t ä t nach. Wir müssen endlich lernen, die Menschheit über die Nationalität zu stellen.«; Hermann 1919, 14), wendet sich aber energisch gegen eine besonders prononcierte Art von Deutschtum (»Ich liebe Deutschtum sehr, aber ich liebe Menschtum mehr. Die ›blonde Bestie‹ mit ihrer erlogenen Gemütstiefe ist mir stets ein Greuel gewesen.«; Hermann 1919, 6) und sieht das als sein jüdisches Erbe: »Es gibt nur einen Stamm von Weltbürgern bis heute – und das sind die Juden« (Hermann 1919, 147). Dabei bedient er sich einer ihrerseits höchst anfechtbaren »Rassen«-Argumentation, wie er überhaupt politisch eher in Allgemeinplätzen bleibt: »Ich gehöre als Jude einer zu alten Rasse an, um den Massensuggestionen zu verfallen. Worte wie Volk, Krieg, Staat sind für mich farb- und klanglos. Für mich haben nur die Worte Mensch und Leben Klang, aber einen K l a n g von einer Hoheit und Fülle, den zu empfinden die andern Rassen anscheinend noch zu jung sind« (Hermann 1918, 151). Zur Lage der Elsass-Lothringer entnimmt er seinem spezifischen Erfahrungsschatz einen für die meisten Deutschen seiner Zeit anstößigen Vergleich: »Was würde die Welt sagen, wenn Russland zwei Millionen Juden heute zwangsweise taufte« (Hermann 1919, 112). Auch sonst werden spezifisch jüdische Aspekte reflektiert. Mit einem doppelten Angehörigkeitsgefühl hat er prinzipiell keinerlei Problem: »Ich möchte gern Däne, Schwede, Schweizer, Amerikaner sein. … Ich bliebe zwar dabei immer Jude, hätte ein zum mindesten ebenso schönes Geschenk der Sprache, wie ich jetzt habe, und hätte die Überzeugung, einem Staat anzugehören, der nicht gegen das Volk, sondern mit dem Volk regiert wird« (Hermann 1919, 98). Seine Zweifel am deutschnationalen assimilierten Glaubensgenossen artikuliert er mit einer Exempelgeschichte, die von der Tagespolitik ausgeht: »Die M o d e r n i t ä t des Juden, die letzte Quelle seines Wertes beruht zu zwei Dritteln im P e r h o r r e s z i e r e n des Staatsgedankens. Das soll nun anders werden – und man glaubt, es wird auch anders werden… Wir haben ja tausend jüdische Offiziere bekommen!« (Hermann 1919, 31f.). Es folgt eine Anekdote von dem Galizier, der auf seinen Reisen »statt der ewigen Judenmädchen einmal eine Nonne haben wollte« und enttäuscht wird: »Die Tür ging auf und siehe da, eine Nonne stand vor ihm und sagte: ›Gut Schabbes – ich bin die Nonne!‹« Und er endet: »In welchen Rock sie sich auch stecken werden, sie werden immer sagen: ›Gut Schabbes ich bin die Nonne!‹« (Hermann 1919, 32). Namentlich Lissauer mit seinem »Hassgesang auf England« von 1914 wird – selbstverständlich im Verein mit den antisemitischen Strömungen in Deutschland – kritisiert: »Der arme kleine Belastungszeuge Lissauer. Damals sang er Hass aus der Stimmung aller heraus […], und man jubelte ihm zu. – Nun schämt man sich des Hassens und spuckt auf ihn. […] Man möchte ihn gern verschwinden lassen« (Hermann 1919, 66).
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Neben Hermann sind mit Kurt Eisner, Georg Davidsohn und Oskar Levy Autoren zu erwähnen, die sich in ihren Aphorismen gleichfalls ausschließlich mit dem Weltkrieg befassen, in der Gattungsgeschichte aber nur Randfiguren sein können. Obwohl diese Autoren wie Hermann noch der älteren Generation der um 1870 Geborenen angehören, bewegt sie sich mit ihnen schon im Umkreis des Expressionismus. Kurt Eisner (1867–1919), Sohn eines jüdischen Textilfabrikanten in Berlin, war in der Zeit des Kaiserreiches einer der führenden SPD-Journalisten, wandte sich bei Kriegsbeginn aber gegen die Mehrheit seiner Partei und gehörte zu den Begründern der USPD in Bayern. Er stand 1918 an der Spitze der Münchner Revolutionsregierung und wurde im Jahr darauf erschossen. Als »Allerlei Kriegsgedanken« druckte »Die Aktion« aus dem Nachlass schlichte, journalistisch geprägte und von der Sache geleitete Überlegungen, hier mit einem überraschenden Einstieg: »Der Krieg ist in der Tat die Schule des Altruismus: Niemals denkt man so ausschließlich nur an die a n d e re n und hört nur von den a n d e re n : von der Zahl ihrer Toten, Gefangenen, Verwundeten, von ihren Völkerrechtsverletzungen und ihren Greueln.«94 Sein Nachfolger beim »Vorwärts«, Georg Davidsohn (1872–1942), veröffentlichte im letzten Kriegsjahr Aphorismen »aus dem Felde«. Für sie stellt der Krieg allerdings nur die Kulisse für gar nicht mehr so »Ausgefallene Einfälle« dar : »Charaktere machen nicht Karriere« (Davidsohn 1918, Sp. 359). Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde er wie so viele andere aus politischen wie rassischen Gründen verfolgt, konnte aber untertauchen. Zu seinem Tode weiß das Bundesarchiv nur: 1942 unter ungeklärten Umständen im jüdischen Krankenhaus verstorben.95 Der Krieg bestimmt auch die »Kriegsaphorismen eines Europäers« (1917) von Oskar Levy (1867–1946) schon im Titel. Levy, der 1892 nach England auswanderte, gab dort in den Jahren 1909 bis 1913 die noch heute vollständigste Nietzsche-Ausgabe in englischer Sprache heraus. Seine Aphorismen sind schwache, von der richtigen Gesinnung getragene formale Nachahmungen: »Ungleiche Brüder, gleiche Kappen« (Levy 1917, 14). Sie verstehen sich – ungleich entschiedener als Hermann – als »Versuch zur geistigen Mobilisierung« gegen den Chauvinismus in allen Staaten: »Mit einer Handvoll Aphorismen eine so lange ausgebaute, eine so schwer verschanzte, eine so energisch verteidigte Festung sturmreif zu machen und nehmen zu wollen – es erscheint wie Wahnsinn, und einer von der Sorte ohne Methode« (Levy 1917, 6). In 114 mit Nietz94 Kurt Eisner : Allerlei Kriegsgedanken. In: Die Aktion 10, 1920, Sp. 386–388. Wiederabdruck: Kriegsgedanken eines überflüssigen Zeitungsschreibers, in: Eisner 1926, 60–62. 95 Die Aphorismen des Redakteurs und Archivars Ludwig Davidsohn (1886–?) »Aus meinem Notizbuch« (1921) sind in den deutschen Bibliotheken nicht aufzutreiben. Eine »List of German Jews, murdered between 1933–1945« im Internet verzeichnet auch seinen Namen.
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sche’schen Titeln versehenen Aphorismen gibt er Kommentare zu aktuellen Themen auf der Grundlage eines unerschütterlichen Glaubens an den – supranationalen – Geist: »1. Was ist ein Realpolitiker? – Ein Realpolitiker ist ein Mann, der die grössere Hälfte der Realien in der Politik vergisst, nämlich – den Geist« (Levy 1917, 13). Die literarische Avantgarde in den Jahren nach dem Krieg verkörpert eine jüngere Generation. Für den Expressionismus allgemein darf der Einfluss, den Oskar Goldberg (1885–1953) mit seinen kabbalistisch-antiaufklärerischen Ideen (»Die Wirklichkeit der Hebräer«, 1925) auf Autoren wie Jakob van Hoddis und Georg Heym hatte, zumindest nicht unerwähnt bleiben. An der von ihm gegründeten Diskussionsgruppe beteiligten sich unter anderem Bertolt Brecht, Walter Benjamin, Gershom Scholem, Alfred Döblin und Robert Musil. Goldberg arbeitete später an Thomas Manns Exilzeitschrift »Maß und Wert« mit und konnte über Frankreich in die USA emigrieren. Aphorismusspezifisches ist hier allerdings nicht zu eruieren. Hingegen ist der Aktivismus um die Freunde Kurt Hiller (1885–1972) und Rudolf Leonhard (1889–1953) ein Gravitationszentrum des expressionistischen Aphorismus; beide sind Juden, beide 1918 Mitglieder des »Politischen Rates geistiger Arbeiter«. Leonhard, der einer jüdischen Rechtsanwaltsfamilie entstammte, ist zweifellos der wichtigste Aphoristiker des Expressionismus. Er entwickelte sich vom Kriegsfreiwilligen 1914 zum aktivistischen Pazifisten und Revolutionsteilnehmer 1918 und beanspruchte, als Sozialist Individualist zu sein. 1917 erschien »Äonen des Fegefeuers«, mit der schärfsten Distanzierung von einer ersten Fassung »Tanz auf der seidenen Leiter« im Vorwort, drei Jahre später »Alles und nichts!« Selbstvertrauen und Verzweiflung, Schwäche und Stärke, Glück und Unglück, welche Pole auch immer : ein Denken vom jeweiligen Gegenteil her macht Sicherheiten und Stabilitäten des Polaren schwankend und beweglich. Dialektik beherrscht die Denkbewegung, Gegenteiliges wird konsequent zusammengedacht. Das Paradox wird in höchster Selbstverständlichkeit zur aphoristischen Logik erhoben und pathetisch aufgeladen. Diese Denkbewegung richtet sich zunächst und hauptsächlich auf ihr Fundament, auf »die Irrationalität der Vernunft« (Leonhard 1920, 13). Sie zielt dabei nicht auf nebengeordnete Gleichrangigkeit, sondern auf eine strukturelle Integration (»Exaktheit der Intuition«), die auf das ›Mentale‹ in seiner Gesamtheit dringt (»Mut«): »Trage die Konsequenz der Exaktheit, wenn du dem Mute zur Intuition nachgegeben hast; ja habe doch den Mut zur Exaktheit der Intuition!« (Leonhard 1920, 126). Aus dieser umfassenden Integrationsbemühung heraus stellt sich das Vorwort zu »Alles und Nichts!« die rhetorische Frage: »Fühlen, Denken und Wollen: wann und wo waren sie getrennt?« (Leonhard 1920, 9). Und in »Äonen des Fegefeuers« heißt es: »Der Gedanke ist der gefährliche, der gefährlichste Weg
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vom Gefühl zur Phantasie« (Leonhard 1917, 15). Von hier aus erschließt sich der Titel von Leonhards zweitem Aphorismenband. Er verbindet solch interpolierendes Denken mit dem Wir-Gefühl und dem sprachlichen wie gestischen Pathos des Expressionisten: Es mag ein Wagnis gewesen sein, alles oder nichts zu fordern. Nicht in Leichtigkeit, aber im Ernste der gefährlichen, nicht zu erschütternden Heiterkeit; mit offner Stirn nicht nur vor dem Furchtbaren, sondern auch vor dem Schmutze – rufen wir um Alles und Nichts –; darum so hell, weil es uns bis zur Verständnislosigkeit gegen das Wort Wagnis natürlich ist (Leonhard 1920, 10).
Die beiden Bände umkreisen, von solcherart Pathos und Paradoxie geprägt und durchsetzt von dialogischen Parabeln und Denkbildern, unter einem präzisen philosophisch-politischen Horizont in locker zusammenhängenden Gruppen die verschiedensten Themen, Ästhetik und Philosophie, Kunst und Wissenschaft, Religiosität, Staat, Politik und Geschichte, daneben auch Aspekte klassischer Moralistik wie Freundschaft, Liebe und Eros, Leid und Tod. Leonhard spricht von Katholizismus und Protestantismus (Leonhard 1917, 42), nicht aber vom Judentum. Religion in welcher Form immer ist ihm eine Form der Gefühlsintensität: »Religiosität ist nicht so sehr ein Gefühl als eine Intensität aller Gefühle« (Leonhard 1917, 23). Als solche gesteht er ihr ihren Wert zu: »Geht Ihr durch die Provinzen des Geistes? Die Religion – noch nicht formal geworden – liegt immer inmitten« (Leonhard 1920, 46). Die unpointiert-aphoristische Erörterung schreitet einen weiten gedanklichen Raum aus, der in Pazifismus und revolutionärem Republikanismus seine Mitte hat und bei aller Wiederaufnahme im jüngeren Band stärkeren ManifestCharakter annimmt. Ihr Autor ist auch der Kronzeuge für den kurzen Weg des expressionistischen Aphorismus vom Erlebnis zur Mystik und zum Mystischen: »So ist es nicht meine Aufgabe«, schreibt er im Vorwort zu dem ersten Band, »das Recht zwischen Mystik und Wissenschaft auszumachen, um so weniger, als ich behaupte, daß sie einander nicht stören können. Aber daß ich des mystischen Erlebnisses teilhaftig wurde, berechtigt zum Ausspruch; daß es eine, nehmen wir einmal an, mystische Gehirnanlage gibt, verpflichtet zur Prüfung und zum Anerkenntnis« (Leonhard 1917, 8).96 Im zweiten Band horcht man auf, wenn er sich fragt: »Wie steht es um die Berechtigung des Antisemitismus – und aller ähnlichen ›Belange‹?« Seine anekdotische Antwort ist alles andere als eindeutig Stellung beziehend: Nicht anders als um ihre Gerechtigkeit. Es gab eine gescheite Dame, die ganz gern antisemitische Reden führte, aber sich vor Wut anrötete, als sie einen Juden nur dahingestelllt lassen sah, ob antisemitische Vorwürfe nicht einen Schein von Recht hätten. 96 Vgl. oben S. 92, Anm. 90.
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Sie war neben vielen andern Juden mit einem befreundet, der Gesellschaften, in denen ihm zuviel Juden waren, verließ, aber einen Antisemiten, der das Gleiche tat, forderte und niederschoß (Leonhard 1920, 150).
Leonhard übersiedelte 1928 nach Frankreich, wo er sich literaturpolitisch betätigte und von 1939 bis 1944 interniert war. Er konnte flüchten, lebte als Mitglied der Widerstandsbewegung im Untergrund und zog 1950 nach Ost-Berlin um. In Hillers Elternhaus spielte das Judentum kaum eine Rolle. Er sei in erster Linie »der Denker meiner Gedanken«, »in zweiter Linie Deutscher, in dritter Europäer und allenfalls in vierter von jüdischer Abkunft. Aus ihr eine Wichtigkeit zu machen, lehne ich ab. Sie überhaupt zum Gegenstand des Nachdenkens zu erheben, nötigt mich einzig die Bestienherrschaft in Deutschland« (zit. nach Rolf von Bockel in Kilcher 2012, 222). So der streitbare Pazifist, Sozialist und Homosexuelle bei einer Diskussionsveranstaltung über »Die Judenfrage« 1942 in London. Hiller hat sich in den großen Essays auch nie explizit zum Judentum geäußert. In den beiden Bänden seiner kämpferischen »Zeit- und Streitschrift« gegen die Literatur der Jahrhundertwende »Die Weisheit der Langenweile« von 1913 publizierte er zwischen Essays, Aufsätzen, Porträts, Polemiken und Glossen immer wieder Aphorismen, etwa »zur Denkkultur«. Konsequenter noch finden seine 284 durchnummerierten »Sätze« in »Der Aufbruch zum Paradies« (1922) in »Aphorismus« oder »These« die adäquate Form für den von ihm propagierten »Aktivismus«. Hier hat er in einem Kurzessay den Typus des »Radauantisemiten« kreiert und in Anspielung auf das Alte Testament (2. Buch Moses 32) eine Unterscheidung getroffen, die Schule gemacht hat: die zwischen Moses-Juden und Aaron-Juden: Ich nenne Radauantisemiten den, der, statt mit gewissem Recht den jüdischen BürgerAusbeuter, den Typus des jüdischen Händlers, Geldmachers, Geschäftemachers, auch intellektuellen Geschäftemachers, zu berennen, sich an dessen Gegenpol: dem religiöspolitischen, dem revolutionären, dem geistigen Typus des Juden vergreift (Hiller 1952, 64). Die Verhöhnung und Verächtlichmachung der Juden, die seit Jahrtausenden diese Peitsche schwangen: gegen ihre Blutsverwandten, ihre Blutsfeinde, …die Beschimpfung der Mosejuden, der geschworenen Widersacher aller das goldene Kalb umtanzenden Aaronjuden, ist kein Verstoß mehr gegen schlichte Gerechtigkeit, sondern ein Verstoß gegen den heiligen Geist, weil er aus Juden wirkt, nenne ich ihn Radauantisemitismus (Hiller 1952, 67).
Und mit letzter Schärfe formuliert der jüdische Jurist Hiller hier : Gibt es Widerlicheres als den Konfektionsjuden, den Börsenjuden, den Feuilletonjuden, den Kriegsauslieferungsjuden, den jüdischen Lebensmittelwucherer oder, ich erklimme den Gipfel, den assimilierten, das heißt dem arischen Rennplatzbesucher und Reserveoffizier assimilierten, jüdischen Rechtsanwalt? (Hiller 1952, 65).
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Damit setzte er den Klassengesichtspunkt in für ihn typischer Überspitzung höher als so etwas wie Volks- oder Konfessionszugehörigkeit.97 Mit mäßiger Pointe lauten zwei andere Stücke: 283. Es gibt nur eine einzige Gruppe Menschen, bei der man soviel Schurken antrifft wie bei den Juden; das sind die Nichtjuden. 284. Die meisten Juden taugen nichts und gleichen darin den meisten Christen (Hiller 1952, 156).98
Nach 1933 wurde er dreimal ins KZ eingeliefert und dabei schwer misshandelt, bevor er über Prag nach Paris flüchten konnte. Zwei Exkurse seien nachgetragen: In seinem Lichtenberg-Porträt von 1942 »Ein ›jüdischer‹ Arier« zog er, metaphorisierend und mythisierend, gewagteste Verbindungslinien (Lichtenbergs Buckel ist nicht selten in ähnlicher Weise misshandelt worden): Seit der Zerstörung des Tempels durch Titus trug der Jude sein Judentum als seelischen Buckel – eine erworbene Eigenschaft, die sich sogar vererbte. An diesem Punkt leuchtet die Verwandtschaft lichtenbergischen Geistes mit dem, was man jüdischen Geist nennt, auf … Die, denen es gut geht auf Erden, haben weniger Grund zum Geist.99
In den »Thesen zur Judenfrage« trat er unter den gänzlich veränderten Bedingungen von 1948 für eine »dualistische Lösung« ein: »Für den Nationaljuden Zion: für den Juden mit nichtjüdischem Nationalbewußtsein die Einschmelzung. Unter gegenseitiger Achtung« (Hiller 1966, 223). Salomo Friedländer (1871–1946), der ›lachende Philosoph‹, der unter anderem mit Martin Buber und Else Lasker-Schüler befreundet war und unter dem Pseunoym Mynona seine Grotesken veröffentlichte, fasste seine aphoristisch formulierte Lehre von der Polarität 1913 in seinem Buch »Schöpferische Indifferenz« zusammen. Man muss seine Definitionen darin wohl als solipsistisch und schwer zugänglich bezeichnen, seiner Definition gemäß (»[…] Definieren bedeutet p o l a r definieren, bedeutet e r s c h a f f e n .«; Friedländer 1917, 324): Der Weg ist das Prinzip, und Polarität die Exekutive der persönlichen Magie (Friedländer 1918, 322). 97 Tucholsky greift diese Unterscheidung später auf: Kurt Tucholsky : Gesamtausgabe. Band 19: Briefe 1928–1932. In Zusammenarbeit mit Dirk Baldes hg. von Sabina Becker. Hamburg: Rowohlt 2005, S. 139 (An Alfred Herz, 30. April 1929): »Moses-Juden und Aaron-Juden, wie sie Kurt Hiller trefflich benannt hat.« 98 Man vergleiche auch die Verteidigung Saphirs (»es steckt ein Stück altjüdischen Prophetentums in diesen (wenn auch leicht nach Sippen-Enge und Lavendel duftenden Worten«) (Hiller 1952, 185) sowie die Erörterung des »jüdischen Antisexualismus« (Hiller 138–141). 99 Kurt Hiller: Ein »jüdischer« Arier. In: K. H.: Köpfe und Tröpfe. Profile aus einem Vierteljahrhundert. Hamburg, Stuttgart: Rowohlt 1950, S. 225.
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Eigne Göttlichkeit ist die lebendige Sonne der ganzen Welt; aber Gott selber ist Atheist (Friedländer 1918, 322). Der Mensch ist der Schmarotzer seiner eigenen Göttlichkeit (Friedländer 1918, 324).
Sein Judentum hat er weder geleugnet noch hervorgekehrt: »Als Kantianer bekämpfe ich alle Konfessionen, auch die jüdische« (zit. nach Thiel in Kilcher 2012, 152). Sein Biograph sieht ihn so von Zionismus und Assimilation ebenso weit entfernt wie von jüdischem Selbsthass in Weiningers Verständnis. Er wolle das Judentum zu einer höheren Bestimmung transformieren (Thiel in Kilcher 2012). 1929 lieferte sich Friedländer eine scharfe Kontroverse mit Tucholsky aus Anlass von Remarques »Im Westen nichts Neues«. Kurz nach der Machtübernahme der Nazis emigrierte er nach Paris, wo er 1946 starb. Walter Serner (1889–1942) verfasste mit dem »Manifest dada« »Letzte Lockerung, ein Handbrevier für Hochstapler und solche die es werden wollen« von 1920 eine der bedeutendsten programmatischen Schriften des Dadaismus, nicht nur radikale Abrechnung mit allen Wertewelten von der Kunst bis zur Psychologie, sondern auch zynische Zerstörung alles Maximenhaften und ›Regelrechten‹, besonderen Aspekten des Aphorismus durch seine Geschichte hindurch. Schon im Jahr des Abiturs änderte er seinen Namen und trat zum Katholizismus über. Das »Handbrevier« hat die Form eines Leitfadens in kurzen selbstständigen Abschnitten; seine Formreflexion zu Regel und System, seine vielfältigen sprachspielerischen Versuche, sein wilder Gestus der Totalzertrümmerung verbinden sich mit höchst kontrolliertem Hinarbeiten auf eine Reihe von Thesen als Abschluss eines Kapitels, die als Definition verkleidet ein assoziatives Feuerwerk entfachen: »Venusblicke sind das einzig Sichere. Dämonie ist ein Rindslendenstück. Bettgeisttrompeten sind Barbaraien. Die Seele ist kein Brückengeländer. Die Liebe eine Schwanerei« (Serner 1964, 38). Mit dem zweiten Teil von 1927 kehrte Serner zwar formal stärker zur traditionellen Form des Aphorismus als Regel zurück, konnte insgesamt aber, eher in Serie variierend, das literarische Niveau des ersten Teils nicht halten. Das Buch stand 1933 auf der Liste des schädlichen Schrifttums. Serner wurde nach Theresienstadt verschleppt und in einem KZ des Ostens ermordet. Sein Biograph kommentiert: »Dass Serner als Jude ermordet wurde, ist ein geradezu aberwitziges Paradox, da er sich nicht als Jude verstand und sich seit seiner Konversion nicht mehr zur Frage seines Judentums geäußert hat.« Sein Judentum sei ihm Schicksal, nicht Identität gewesen (Drews in Kilcher 2012, 466). Die bedeutendste Autorin des Expressionismus, Else Lasker-Schüler, kommt für den Aphorismus nicht in Betracht; zu erinnern ist gleichwohl nicht nur an ihre »Hebräischen Balladen« von 1913, auch an das rührende Schicksal der 1933 in die Schweiz emigrierten und auf ihrer dritten Reise nach Palästina 1945 in
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Jerusalem, ihrem märchenhaft-phantastischen Sehnsuchtsort, gestorbenen Lyrikerin, für die das Jüdische in allen Teilen ihres Werkes traumhaft bedeutend ist. Das Viertel, in dem sich die meisten Juden aus dem Osten, die ihn Wien eintrafen, zunächst niederließen, war die Leopoldstadt, auch die »Mazzesinsel« genannt. Hier ist auch Alfred Grünewald (1884–1942) aufgewachsen. Mit 25 Jahren ließ er sich taufen und galt als gläubiger Christ. Er studierte zunächst Architektur. Eine Jugendgruppe, zu der auch Canetti gehörte, besuchte Lesungen von Karl Kraus und diskutierte darüber. Auch an literarischen Zirkeln um Stefan Zweig nahm er teil. Als Lyriker und Dramatiker erzielte er trotz gelegentlicher Erfolge keinen rechten Durchbruch. Die »Ergebnisse« von 1921 sind erst 1996 überhaupt wieder ins Bewusstsein gerückt worden. Es sind Aphorismen eines einzelgängerischen Lyrikers, wesentliche Nebenprodukte eines ebenso sprachbewussten wie kritisch geschärften Beobachters in gewissermaßen klassischer Gestaltung, frei von formalen Innovationen, weitgehend konventionell thematisch gegliedert und kreisförmig von der »Antithesis des Künstlers« bis zur »Antithesis des Lebens« aufgebaut. Der Autor schreibt hier seine »Gebrauchsanweisung«, bevor er sich den Leuten verschreibt: »Als ich erkannte, dass man sich den Leuten nicht gut ohne Gebrauchsanweisung verschreiben kann, entschloss ich mich zum Aphorismus« (Grünewald 2016, 100). Was sich aus ihrer Lektüre als erstes erschließt, ist die Angst vor Nähe, die einsamkeitsstolze Gesinnung des als Jude wie als Homosexueller mehrfach Ausgegrenzten. Der solipsistische Lyriker zeigt sich hier als Gesellschafts- und Moralkritiker. In Bezug auf Kraus ist dabei eine wirklich substanzielle literarische Beeinflussung auszumachen. Die Parallelen lassen sich bis ins Einzelne zeigen. Sie gelten in Bezug auf Kunst und Sprache (»Ungeschehenes geschehen machen – das Werk des Dichters.«; Grünewald 1996, 10) ebenso wie auf den geistigen Aristokratismus oder die Wortgläubigkeit (»Der Dichter erlöst verwunschene Worte.«; Grünewald 1996, 77) und erst recht auf formale Elemente wie die Umkehrung, etwa als Umwendung von Redensarten: »Wenn man mir die ganze Hand gibt, will ich gleich den kleinen Finger« (Grünewald 1996, 32).100 Die Vielzahl der Parallelen kann aber nicht über den Unterschied zwischen dem eher introvertierten Lyriker und dem streitbaren Satiriker hinwegtäuschen. Bei der Frage, ob Grünewald nun über den minderen Rang eines schieren Kraus-Epigonen hinauskommt und worin gegebenenfalls das Eigene besteht, ist, neben der erotischen Thematik, darauf zu verweisen, dass er anders als Kraus die Aphorismen zur Selbstverständigung über sein dichterisches Schaffen nutzt und dass
100 Vgl. Friedemann Spicker : Studien zum deutschen Aphorismus im 20. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer 2000, S. 28–32.
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Elitarismus sowie Kunst- und Geist-Gläubigkeit in dieser Zeit durchaus nicht auf diese beiden Autoren beschränkt sind. Der Autor publizierte nach 1921 weiterhin Aphorismen in den verschiedensten Organen in Wien, Berlin, später Prag und Bern. Von einer »großen Aphorismensammlung« ist aber leider nichts erhalten; eine Auswahl des verstreut Gedruckten oder nachgelassenen Werkes wurde in jüngster Zeit publiziert (Grünewald 2016, 115).101 Sie bietet nichts prinzipiell Neues, weder thematisch noch formal. Sie entwickelt eine Sprache, die in ihrer knappen Konzentriertheit dem Schweigen am nächsten kommt. Noch immer und immer stärker ist Grünewald skeptisch gegenüber den ›führenden‹ Tendenzen der Gegenwart, noch immer schaut er »mit offenen Augen ins Vergangene« (Grünewald 2016, 44). Aber eine neue Farbe ist in den spätesten Texten dann doch wahrzunehmen. Es sind zum Teil ergreifende Aphorismen zur Exilsituation, die für sich sprechen und zugleich einen weiten Raum bitterster Erfahrungen öffnen: ›Wenn Sie wüssten,was ich alles verloren habe!‹ – ›Sagen Sie mir lieber, was Sie sich bewahrten.‹ Bange Frage: Wohin? – Bangere Frage: Wozu? Besonders in einer Schicksalsgemeinschaft erkennst du leicht jene Menschen, mit denen du nichts gemein hast (Grünewald 2016, 50).
Sein Weg nach 1938 zeichnet »klassische« Leidensstationen nach. Am Tag vor dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Österreich beging er einen Selbstmordversuch (Friedell stürzte sich in dieser Lage zu Tode). In der »Reichskristallnacht« wurde er von der Gestapo aus seiner Wohnung verschleppt, schwer misshandelt und ins KZ Dachau eingeliefert. Nach der Freilassung gelang es ihm erst im fünften Anlauf, die Grenze zur Schweiz illegal zu überschreiten. Über Italien kam er nach Südfrankreich und über das Sammellager Drancy nach Auschwitz, wo er ermordet wurde. Seine schriftstellerische Tätigkeit war den bedrohlichsten, kärglichsten Umständen nicht nur abgetrotzt; es scheint, dass sie dadurch teilweise sogar gefördert wurde. »Trotz alledem« heißen die Aphorismen im Berner »Bund«, September 1939, »Von Alfred Grünewald, Nizza«. Hugo Sonnenschein (1889–1953) ist als »Judenjunge, Slovakenkind, Kulturbastard« im Judenviertel einer mährischen Kleinstadt aufgewachsen, schlug sich nach Wien durch, gehörte anfangs zum Lumpenproletariat und spielte nach dem Krieg, mit Werfel und Ehrenstein befreundet, eine Nebenrolle im Literaturbetrieb der Stadt: »Der Antisemitismus hat nationale Formen. Ich selbst bin durch antisemitische Äußerungen meiner Kameraden in die deutsche Sprache ge101 Das biographische Vorwort Bühns beruht auf seiner Monographie (Bühn 2016), Spickers Nachwort ordnet das Werk in das literarische Leben der Zeit wie in die Geschichte der Gattung ein.
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flüchtet; manche Juden sprechen tschechisch, mir fehlt das Jüdeln, das mich anheimelt« (Sonnenschein 1988, 182f.). Von der Literatur führte ihn der Weg stärker in die Politik: als kommunistischer Delegierter, »Linksabweichler« und Mitbegründer der kommunistischen Partei der Tschechoslowakei 1921. Aphorismen und Definitionen sammelte er in den dreißiger Jahren in »Terrhan oder Der Traum von meiner Erde«, zusammen mit Erinnerungen, Anekdoten und Reflexionen, Zitaten und Briefauszügen, mit Impressionen und bloßen Sinneswahrnehmungen, Tagebuchaufzeichnungen und Ich-Erkundungen, Gedichten und politischen Bekenntnissen. Es sind allesamt Materialien zu einer Autobiographie, persönlich zusammengehalten von der selbst zugewiesenen Rolle eines charismatischen Vagabundenführers Sonka, thematisch verknüpft durch einen aus Judentum, Christentum und Sozialismus gespeisten Utopismus.102 »Die Hoffnung auf das Kommen des Messias, die S. im Ghetto von Gaya kennengelernt hatte, wandelt sich zur Hoffnung auf die Revolution«, so bringt es sein Biograph auf eine kurze Formel (Wallas in Kilcher 2012, 473). Die Aphorismen bleiben als politische und poetologische Reflexionen im gedanklich Konventionellen (Spicker 2004, 217–219). Wenn Serke im Nachwort schreibt, das Buch sei »die Topographie einer bis zum Zerreißen angespannten Konstellation von Widersprüchen« (323), so gilt das insbesondere auch von dem starken jüdischen Strang, der sich durch die Aufzeichnungen hindurchzieht.103 Da ist die verklärte jüdische Herkunft einerseits: Freitag abend. Ich bin erschüttert von der Melodie der Jahrtausende: Dies Jahr hier, übers Jahr in Jerusalem. Vom Nomaden bis zum Ackerbauer. Emigration, die Jahrtausende überdauert. Es ist nur ein Augenblick seit der Tempelverbrennung (110). Das freudige Lied des lecho daudi lekraskale klingt in dieser Stunde in vielen Orten der Welt: ein solches Volk kann und wird nicht untergehen. Es ist mächtiger als alle Völker der Erde, die Land und Erde besitzen: Gott ist sein Land, die große Illusion, die große Realität. – In Dir hat mein Volk seine Zelte aufgeschlagen (181).
Das reicht bis zu zionistischen (»Würdest Du mit mir nach Palästina gehen?«; 171) und messianischen Signalen (mit »jüdelndem« Verzicht auf die NebensatzInversion): »Was wird sein, wenn Meschiach wird kommen?« (52). Dem steht andererseits der Hass auf die wohlhabenden Juden gegenüber, das bei den linken deutsch-jüdischen Aphoristikern – Hiller, Tucholsky – übliche Muster :
102 Friedemann Spicker : Hugo Sonnenschein. In: F. S.: Deutsche Wanderer-, Vagabunden- und Vagantenlyrik 1910–1933. Wege zum Heil – Straßen der Flucht. Berlin: de Gruyter 1976, S. 221–247. 103 Er kann hier nur auszugsweise dokumentiert werden, da er über die Grenzen der Gattung weit hinausgeht.
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Man hätte ihn gewonnen, wenn man den Krieg den Juden verpachtet hätte (46). Die Juden adelt das Geld (58). Juden, die andere benachteiligen und sei es nur durch ihre größere Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit, die wie Talent aussehen, aber nur Schlampigkeit des Blutes und Unverantwortlichkeit sind. Die ernste und wichtige Emigration. Das Geschmeiß, das wieder das Geschäft machen will und nichts anderes. Interessiertheit der Juden und zwar materielle und keineswegs ideelle. […] (65). […] Die Deutschen sind schwerfällig. Die Juden korrupt. Die Berliner Juden machen in Bolschewismus und Revolution. Wo war dieses Gesindel, als es Kampf galt, noch gefährlich war und nichts eintrug? (133).
Und auch Notizen der kalten Distanz fehlen nicht: Juden, übt Selbstkritik, geht in Euch! Kritisch sein gegen sich selbst, objektiv gegen die Deutschen (24). Es gibt Nationen, die sich an ihrem »Geist« begeilen. /Juden/ (47).
Ein letztes Zitat, auf diesen Beginn eines Heine-Gedichts kann man einfach nicht verzichten: Heine Das deutsche Volk ist doch verjudet. Ach, es ist schändlich und gemein, Daß sich ein großer deutscher Dichter Den Scherz erlaubt, ein Jud zu sein […] (294).
Der Vagant und Sozialist schwankte zwischen der Stilisierung zur einsamen Dichterfigur und einer politischen Führungsaufgabe. Er wurde 1939 von den einrückenden Deutschen in Prag verhaftet und kam ins Konzentrationslager Auschwitz. Nach der Befreiung lebte er wieder in Prag, wurde als Nazihelfer denunziert und zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt. Dort starb er 1953. Wenn Sonnenschein zu seinem Grund- und Lebensthema, der Reibung der Illusion an der Wirklichkeit, bemerkt: »Aus zerstörten Illusionen wachsen schöne Wirklichkeiten« (184), dann sehen wir heute leider klarer, dass er auch damit nur wieder eine Illusion formulierte. Paul Hatvani (1892–1975) wurde wie Grünewald erst spät wieder entdeckt, vor allem als früher Theoretiker des Expressionismus. Er gehört zu den vielen, die zeitlebens nachhaltig von Kraus geprägt wurden. Haefs’ Ergebnis der Untersuchung von »Prosaisches Weltbild« (1920) lautet denn auch: »Die Sprachauffassung von Kraus ist deutlich in den Text eingegangen, vor allem im ausdrücklichen Verweis auf den ›Schlupfwinkel des Aphorismus‹, in dem ›ein Rest
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unabhängiger Sprachform vegetierend erhalten geblieben‹ sei.«104 Hatvani publizierte bis etwa 1921 in expressionistischen Zeitschriften Österreichs wie Deutschlands, vor allem als Theoretiker. Die den Essays zu literarischen Themen, unter anderem zu Lichtenberg, und den Skizzen in »Salto mortale« von 1913 angegliederten Aphorismen sind kunsttheoretisch orientiert und zuweilen expressionistisch überspannt formuliert: »Der Dichter spricht: Ich bin das Bewusstsein, die Welt ist mein Erlebnis« (Hatvani 1913, 73). In den zwanziger Jahren ist er literarisch verstummt. 1939 emigrierte er nach Australien. Der Wiener Schriftsteller und Übersetzer Paul Baudisch (1899–1977) und der Schweizer Dramatiker und Erzähler Hermann Kesser (1880–1952) gehörten neben Hatvani und Grünewald zu den Autoren der Zeitschrift »Der Friede«; Baudisch (Zohn weist auf ihn hin; Zohn 1986, 196) sammelte seine aphoristischen Zeitschriftenbeiträge, »Worte in den Wind« oder »Anmerkungen«, eine kleine Anzahl von Aphorismen, wie sie sich zu seiner Zeit durchschnittlich präsentieren, neben Essays 1920 in dem Band »Fragmente«. In »Ethnographie« unterscheidet er höchst eigenwillig zwischen dem Europäer, dem Inder und dem Juden: »Der Europäer schließt den Pakt zwischen Himmel und Hölle. Der Inder verrinnt in sich bis zum Ursprung des großen Meeres. Der Jude zieht die irdische Bilanz aus dem Nirwana« (Baudisch 1920, 61). Baudisch lebte 1933 in Berlin und floh nach Wien; das KPD-Mitglied musste 1938 auch von hier emigrieren, über Frankreich nach Schweden. Kessers Beitrag zur Gattungsgeschichte wie auch sein Lebensweg sind ähnlich. Er emigrierte 1933 in die Schweiz und 1938 in die USA. Er ist auch als Essayist hervorgetreten und sammelte in dem Band »Vorbereitung« (1918) nebenher ganz ähnlich wie Baudisch seine verstreut erschienenen Aphorismen: »Die Fortschrittlichen denken an einen Weg, die Rückständigen an einen Ausweg« (Kesser 1918, 33). Schon Zeitlin hat ihn in seine Anthologie aufgenommen (Zeitlin 1963, 110). Der Wiener Kunsthistoriker, Lektor, Herausgeber und Verleger Ludwig Goldscheider (1896–1973) musste 1938 nach England emigrieren, wo er den von ihm gegründeten Phaidon Verlag erfolgreich weiterführte. Die »Aphorismen und Schlußreime« in seinem 1924 erschienenen Band »Ruhe auf der Flucht« sind vor allem Kunst- und Literaturreflexion in aphoristischer Form. Kunst als die höhere Wirklichkeit: das ist sein Dogma. Daneben wendet sich sein von der Antithese bestimmtes Denken der Sexualität sowie einzelnen philosophischen Fragen wie der nach Raum und Zeit zu. Die aphoristischen Muster tradiert er 104 Wilhelm Haefs: »Der Expressionismus ist tot…Es lebe der Expressionismus.« Paul Hatvani als Literaturkritiker und Literaturtheoretiker des Expressionismus. In: Klaus Amann / Armin A. Wallas (Hg.): Expressionismus in Österreich. Die Literatur und die Künste. Wien, Köln, Weimar : Böhlau 1994, S. 453–485, hier S. 469.
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nicht ungeschickt, so das Paradoxon (»Die Öffentlichkeit ist eine Privatangelegenheit des Künstlers.«; Goldscheider 1924, 12), die Proportion (»Erotik verhält sich zu Sexualität, wie Geruch zu Geschmack.«; Goldscheider 1924, 29), die Umkehrung (»[…] Der Gedanke ist oft der Vater des Wunsches.«; Goldscheider 1924, 37). Jenseits des Expressionismus sind für die Zeit der Weimarer Republik zwei höchst bedeutende, dabei ganz unterschiedliche deutsch-jüdische Aphoristiker zu nennen: Kurt Tucholsky und Walter Benjamin. Tucholsky (1890–1935) ist zum einen die wichtigste Stimme im politisch-satirischen Aphorismus der Linken in der Weimarer Republik, zum andern formulierte er seine Position zum Judentum in so polemischen Stellungnahmen, dass er zur schärfsten innerjüdischen Auseinandersetzung provozierte und in der Folge auch zu spezieller literaturwissenschaftlicher Aufarbeitung herausforderte (Hepp 1996). Sie kann hier – nicht anders als bei Kafka, Kraus oder Werfel – nur skizziert werden. Seine grundsätzliche Haltung kommt wohl in einem Brief von 1929 am besten zum Ausdruck: »Eine der stärksten Grenzen läuft zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten – quer durch alle Religionen und die Rassen, und meine Arbeit gilt den Wehrlosen, unbekümmert darum, was die Juden oder sonst eine Rasse dazu sagen.«105 1918 ließ er sich evangelisch taufen. Schon früh lehnte er in seiner Publizistik die nationalgesinnten, kaisertreuen assimilierten Juden scharf ab. Ohne sich zum Anwalt der Juden zu machen, zog er auf der anderen Seite den Antisemitismus ins Lächerliche und kritisierte ihn ebenso scharf. Für seine Beiträge in der »Weltbühne« bediente er sich in zunehmendem Maße und mit dem Höhepunkt um 1932 auch der literarischen Kleinformen um den Aphorismus, meist als »Schnipsel« oder »Schnitzel« bezeichnet. Höchste Verehrung brachte er Lichtenberg entgegen, nach dessen Muster er von Januar 1928 bis zum Dezember 1935 ein »Sudelbuch« führte: Sie sprach so viel, daß ihre Zuhörer davon heiser wurden (Tucholsky 1993, Nr. 2657). Ganz Deutschland ist in Deutschland auf Flaschen gezogen (Tucholsky 1993, Nr. 501).
1929 bekannte er in einem Brief an Hans Reichmann, einen Mitarbeiter des »Centralvereins«: »Mich hat die Frage des Judentums niemals sehr bewegt. Sie ersehen aus meinen Schriften, daß ich höchst selten diesen Komplex überhaupt berühre: meine Kenntnisse auf diesem Gebiet sind nicht sehr groß, und ich weiß 105 Kurt Tucholsky : Gesamtausgabe. Band 19: Briefe 1928–1932. In Zusammenarbeit mit Dirk Baldes hg. von Sabina Becker. Hamburg: Rowohlt 2005, S. 139 (An Alfred Herz, 30. April 1929). Man wird an die exakt gleiche Grundeinstellung Börnes – unter völlig anderen Zeitumständen – erinnert.
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nicht, ob die Zionisten recht oder unrecht haben, und ich schweige.«106 Nach Judenthematischem wird man dementsprechend in den Aphorismen vergeblich suchen. Dafür ist man eher auf die Briefe und die Q-Tagebücher sowie auf kürzere Artikel zu konkreten Anlässen angewiesen.107 Und weiter : »Mit den jüdischen Radikalen werde ich mich sehr rasch verständigen; mit den andern kaum – wir sprechen wohl zwei Sprachen.«108 Es ist die für ihn übergeordnete politische Auseinandersetzung im Sinne seines Briefes an Herz, die sich auch in den Aphorismen abbildet: »Der Sozialismus wird erst siegen, wenn es ihn nicht mehr gibt« (Tucholsky 1993, Nr. 724). Tucholsky besaß zusammen mit der genauen Kenntnis der europäischen Aphoristik in hohem Maße die sprachliche Kreativität, diese Muster für die Zwecke seines täglichen journalistischen Kampfes gegen Reaktion und Militarismus zu adaptieren, blieb aber nicht bei epigonaler Nachahmung stehen. Seine Aphoristik ist in ihrer Form so vielgestaltig wie in ihrer Stoßrichtung eindeutig. Er ist weit mehr als nur ein Tendenzschriftsteller. Bestimmend in seiner Aphoristik ist vielmehr das zugrunde liegende Gleichgewicht zwischen der politisch-satirischen Intention und den Impulsen aus der Sprache selbst: »Mein Weltbild ist mir fast von der Wand gefallen« (Tucholsky 1993, Nr. 632). Tucholsky ist, darin Kraus nicht unähnlich, ein Meister des Enthymems; er versteht es, das Implizite zu meinen, wo er etwas ganz anderes Explizites sagt: Wegen ungünstiger Witterung fand die deutsche Revolution in der Musik statt (Tucholsky 1993, Nr. 632). In Europa ist viel über den Krieg nachgedacht worden. Die Engländer taten es vorher, die Franzosen während des Krieges, die Deutschen nachher (Tucholsky 1993, Nr. 1456).109
106 Kurt Tucholsky : Gesamtausgabe. Band 19, S. 139–142, hier S. 140 (4. Mai 1929). 107 Etwa »Der jüdische Untertan.« In Tucholsky 1960; 1, 214f. (1914), »Hepp Hepp Hurra!« In Tucholsky 1960; 2, 425f. (1920) oder »Herr Adolf Bartels.« In Tucholsky 1960; 3, 144–148 (1922). Eine Auseinandersetzng mit Tucholskys Auseinandersetzung mit Bartels wäre besonders lohnend. Es heißt dort zwar : »Die Judenriecherei dieses Mannes darf grotesk genannt werden« (145), und er suche »sich seine Juden bis ins dritte und vierte Glied, und wenn er keine findet, dann macht er sich welche« (146), aber es ist nicht der Antisemitismus, den Tucholsky, betont »unvoreingenommen«, Bartels, dem »Clown der derzeitigen deutschen Literatur« (146) mit seinem »liederlichen, törichten und unwissenschaftlichen Geschmier« (148), in erster Linie vorwirft: »Ich kann mir sehr wohl denken, daß es durchaus lohnend und fesselnd zugleich wäre, die Rolle der Juden in der deutschen Literatur antisemitisch oder philosemitisch oder unvoreingenommen aufzuzeigen« (145). 108 Ebd., S. 141. Vgl. dazu auch »Mich hat die Frage des Judentums nie bewegt.« In: »Entlaufene Bürger«. Kurt Tucholsky und die Seinen. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar. 1990, S. 463–479, hier S. 463–464. 109 Vgl. dazu Spicker 2004, S. 295.
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In Liebermann personifiziert sich dabei sein Hass gegenüber den reichen assimilierten Juden: »Max Liebermann wäre auch ohne Hände ein großer Bankier geworden« (Tucholsky 1993, Nr. 1639). Die berühmte Figur des Herrn Wendriner ist der literarische Typus dieses jüdischen Berliner Bourgeois. Tucholskys Abschiedsbrief aus dem schwedischen Exil an Arnold Zweig in Haifa fasst sein Verhältnis zum Judentum zusammen. Er beginnt: »Ich bin im Jahre 1911 ›aus dem Judentum ausgetreten‹, und ich weiß, daß man das gar nicht kann. […] Ich habe es getan, weil ich noch aus der frühsten Jugendzeit her einen unauslöschlichen Abscheu vor dem gesalbten Rabbiner hatte. […] Antisemitismus habe ich nur in den Zeitungen zu spüren bekommen, im Leben nie.«110 Und etwas später : »Das Judentum ist besiegt, so besiegt, wie es das verdient – und es ist auch nicht wahr, daß es seit Jahrtausenden kämpft. Es kämpft eben nicht. Die Emanzipation der Juden ist nicht das Werk von Juden. Diese Befreiung ist den Juden durch die französische Revolution geschenkt worden – sie haben nicht dafür gekämpft.«111 Eine dezidierte Ansicht, die verständlicherweise stärksten Widerspruch hervorgerufen hat und im Sinne von Selbsthass und jüdischem Antisemitismus interpretiert wurde.112 So hart Tucholsky kritisiert, so hart wird er seinerseits kritisiert. Für Walter Benjamin gehört er zur »proletarischen Mimikry des zerfallenden Bürgertums«.113 Benjamin (1892–1940) stammte aus einer weitestgehend assimilierten, liberalen Familie und war mit seinem Freund Gershom Scholem in der zionistischen Jugendbewegung aktiv. Auch für ihn waren dabei Bubers »Drei Reden über das Judentum« (1911) anfänglich von größter Bedeutung. Er knüpfte an den Neukantianer Hermann Cohen an, für den »das Judentum fundamental, 110 Kurt Tucholsky : Gesamtausgabe. Band 21: Briefe 1935. Hg. von Antje Bonitz, Gustav Huonker. Reinbek: Rowohlt 1997, S. 470–478, hier 471 (15. Dezember 1935). Über die frühen (Teil-)Publikationen des Briefes, auch in der NS-Presse, und die Rezeption in den dreißiger Jahren unterrichtet der Kommentar, S. 800–806. Vgl. auch die ähnlich lautenden Passagen in dem Brief an den Bruder Fritz vom 5. Dezember 1935 (S. 451–456, hier 455f.; vgl. Bernhard/Müller : »Kurt Tucholsky – Arnold Zweig. Eine literarische Freundschaft.« In: Hepp 1996, 151–169. Vgl. auch Hepp 1996, 11: »natürlich stimmt die Aussage nicht« und 13: »Tucholsky wurde von der Rechten ausdrücklich als Jude diffamiert und attackiert«. 111 Ebd., S. 472. 112 Für Gershom Scholem zum Beispiel ist er »einer der begabtesten und widerwärtigsten jüdischen Autoren, dem es vorbehalten war, auf höchstem Niveau das zu leisten, was die Antisemiten selbst nicht fertigbrachten« (zit. nach Stefanie Oswalt, in Kilcher 2012, 508). Zu Friedländers Reaktion auf den Brief an Zweig vgl. Hepp 1996, 16; vgl. oben S. 102. Zum jüdischen Selbsthass bei Tucholsky Walter Grab: Kurt Tucholsky und die Problematik des jüdischen Selbsthasses. In: Hepp 1996, 31–44. Grab lehnt diese Charakterisierung dezidiert und wohlbegründet ab (S. 42). 113 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt: Suhrkamp 1982. Bd. III, S. 280.
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universal ethisch« ist, und entwarf in vier Briefen an Ludwig Strauß 1912 das Konzept eines Kultur-Zionismus (vgl. Astrid Deuber-Mankowsky in Kilcher 2012, 50–54). Dabei distanzierte er sich von Buber und einem zionistischen Nationalismus, auch gegen eine deutsch-jüdische Symbiose wandte er sich; er spricht von einem »Zweigeist«. Im September 1912 heißt es wörtlich: Wenn wir zweiseitig, jüdisch und deutsch, sind, so waren wir das bis jetzt mit all unsrem Bejahen auf das Deutsche eingestellt; das Jüdische war vielleicht oft nur ein fremdländisches (schlimmer : sentimentales) Aroma, in unserer Produktion und in unserem Leben. Auch wird kein Einzelner, er sei denn Künstler, diesen Zweigeist gleichmäßig aus[zu]tragen (zit. nach Rübner in Horch 1995, 98).
Er wollte bewusst »zweiseitig« bleiben, so auch in seinem Verhältnis zu Scholem und Brecht zwischen Judentum und Marxismus-Materialismus. Der Bezug auf das Jüdische ist das Zentrum der frühen kritischen Arbeit, noch in dem späten »Passagen«-Werk will er eine »Philosophie des Judentums« geben, von der schon 1923 die Rede war. In Aufsätzen zu Kafka wie zu Kraus hat er deren jüdisches Erbe herausgearbeitet. Seit 1933 lebte er im Exil in Paris. Er wurde interniert und wollte 1940 über Spanien in die USA emigrieren; beim Grenzübertritt in den Pyrenäen nahm er sich das Leben. »Einbahnstraße« ist seit 1924 entstanden und 1928 erschienen, kam aber erst seit 1955 zu rechter Wirkung. Das Buch hat einen Mischcharakter : Es ist von Emblem, Fragment oder Traktat, am überzeugendsten vom Denkbild her gedeutet worden. Damit wird auch der Aphorismus zu einer zentralen Kategorie, zumal Benjamin schon seit 1916 Aphorismen geschrieben hat und noch am Ende seines Lebens die Form aufnahm. Überdies hat er das Buch auch mehrfach in Briefen unter diesem Gattungsbegriff angekündigt, und auch die Kritik hat es so rezipiert.114 Das Gattungsumfeld, in das es sich einschreibt, ist breitest und – das kann nicht verwundern – von jüdischen Autoren bestimmt: Zu Altenberg, Stoessl, Hiller, Leonhard, Friedländer, Schnitzler, Heimann gibt es kritische Äußerungen oder Verbindungen welcher Art immer. Vor allem wären hier die aphoristischen ›Signalautoren‹ Kraus, Kafka und Hofmannsthal, der wohl an der Vermittlung des Buches zu Rowohlt beteiligt war, zu nennen. Deren »Aphorismen« spielten aber aus unterschiedlichen Gründen keine Rolle für die »Einbahnstraße«. Während der Arbeit erkannte der Autor, dass er sich von den vorliegenden Ausprägungen der Gattung fortschreitend weiter entfernte, auch wenn oder gerade weil er sie in ihren Repräsentanten aus besonderer Nähe studieren konnte. Zu den Leitbegriffen des Buches gehören Allegorie und Allegoriker, Aura und Flaneur, Markt, Ware und Labyrinth, Begriffe, die für 114 Vgl. Friedemann Spicker : Benjamins Einbahnstraße im Kontext des zeitgenössischen Aphorismus. In: Daniel Weidner, Sigrid Weigel (Hgg.): Benjamin Studien 2. München: Fink 2011, S. 295–308.
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Benjamin seit je im Zentrum seines Denkens standen. »Die Aktualität als den Revers des Ewigen in der Geschichte zu erfassen und von dieser verdeckten Seite der Medaille den Abdruck zu nehmen«,115 so beschrieb er in einem Brief an Hofmannsthal selbst den Anspruch, den er mit dem Buch erhob. Es kennzeichnet die Verbindung von Anschauung und Reflexion, Bild und Begriff, als Bild der Straße selbst, im bildlich vergleichenden Denken allerorts und im Besonderen dort, wo beides, ineinander gewirkt, den Text überhaupt erst entwickelt: »Das Werk ist die Totenmaske der Konzeption« (Benjamin 2009, 34). Wo es etwa auf ein Straßenschild anspricht und zugleich von ihm wegspringt, bestimmt es den Anspruch an die eigene Schreibarbeit und ist gerade auf sie selbst zurückzubeziehen: »Achtung Stufen. – Arbeit an einer guten Prosa hat drei Stufen, eine musikalische, auf der sie komponiert, eine architektonische, auf der sie gebaut, endlich eine textile, auf der sie gewoben wird« (Benjamin 2009, 29). Er bringt Metaphysik und Materialismus, Jüdisches und Marxistisches zusammen, er denkt immer theologisch und historisch-materialistisch zugleich, explizit ist Jüdisches aber nicht Thema der »Einbahnstraße«. Seine Position hat man als jüdisches Denken in einer Welt ohne Gott bezeichnet: weder theologisch noch säkular.
»Ich wäre kein Jude mehr, wenn der Antisemitismus nicht gewesen wäre.« Die deutsch-jüdische Aphoristik im Exil Mit Tucholsky, der sein Sudelbuch bis zu seinem Tode im schwedischen Exil 1935 führte, aber mit dem Großteil seiner aphoristischen Produktion in die Zeit vor der nationalsozialistischen Machtergreifung fällt, mit Benjamin, nach dessen »Einbahnstraße« von 1928 noch am 15. November 1933 »Denkbilder« unter dem Pseudonym Detlev Holz in der »Frankfurter Zeitung« erschienen, ist die Grenze zum deutsch-jüdischen Aphorismus im Exil bezeichnet. Wenn ich ihr im Folgenden Tucholskys Kollegen Alfred Polgar und Polgars Kollegen Anton Kuh aus dem Kreis um Altenberg und Werfel zurechne, so zeigt sich einmal mehr : Strenge Zäsurierung ist nicht möglich.116 Die Aphoristik deutsch-jüdischer Autoren stellt einen überproportional großen Anteil an der Aphoristik des Exils, und sie steht in besonders engem Zusammenhang untereinander. Zu denken ist an die persönlichen Beziehungen der langjährigen Freunde Werner Kraft und Ludwig Strauß, an die literarischen Franz Baermann Steiners zu Franz Kafka, Felix Pollaks zu Karl Kraus, Krafts zu 115 Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. Hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Frankfurt: Suhrkamp 1995ff. Band III, S. 331 (An Hugo von Hofmannsthal, 8. 2. 1928). 116 Vgl. oben 87f.
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Kraus wie Kafka, an den Einfluss Elias Canettis auf Baermann Steiner, auch an Baermann Steiners Verbindung zu Erich Fried um 1950, ebenso zu Tuvia Rübner, der wiederum das Werk Strauß’ mit herausgibt (auch dessen Briefwechsel mit dem Schwiegervater Martin Buber). Über diesem Beziehungsgeflecht darf man das breite Spektrum in Bezug auf das jüdische Bewusstsein nicht übersehen; es reicht von Baermann Steiner, dem gläubigen Juden, der sich als ein im Westen geborener Orientale fühlt, bis zu Kraft, der nie richtig Hebräisch gelernt hat. Der überproportionale Anteil Österreichs an der deutsch-jüdischen Aphoristik wiederum, wie er schon mit Altenberg, Kraus, Schnitzler und vielen anderen zu dokumentieren war, die den »Anschluss« an Nazi-Deutschland nicht mehr erleben mussten, zeigt sich erst recht mit den Autoren, die nach 1938 ins Exil getrieben wurden, angefangen bei Alfred Grünewald. Und das Exil reicht über 1945 hinaus. So ist auch eine Unterteilung in die deutsch-jüdische Aphoristik im Exil und diejenige nach 1945 zum einen unmöglich, zum andern aber durchaus sinnvoll und angebracht. Franz Werfel (geb. 1890) steht mit seinen »Theologumena« aus den Exiljahren 1942–1944 eben in ganz anderen Zusammenhängen als etwa Günter Kunert (geb. 1929), dessen in der Bundesrepublik entstandenes aphoristisches Werk bis ins 21. Jahrhundert reicht, oder Gabriel Laub, der 1968 nach Deutschland emigriert. Ich habe mich deshalb in der Darstellung für diese Kapiteleinteilung entschieden, muss dann allerdings in Kauf nehmen, dass zum Beispiel das Werk Franz Baermann Steiners, bis zu seinem Tode 1952 in England entstanden, und das seines Freundes Elias Canetti, das aus dem gleichen Kontext heraus spätestens 1942 einsetzt, an je anderer Stelle abgehandelt wird, weil dieses nicht nur bis an das Ende des Jahrhunderts reicht, sondern dann auch nicht mehr vom Exil her zu begreifen ist. Die Vereinigten Staaten waren das größte Aufnahmeland auch für die deutschsprachigen jüdischen Aphoristiker, die aus Wien oder aus Prag stammen. Alfred Polgar (1873–1955), der schon vor dem Ersten Weltkrieg im Kreis um Peter Altenberg, Egon Friedell und Anton Kuh verkehrte, ist wie Friedell als Feuilletonist stil- und pointensicher. Seine Herkunft bestimmen typische Eckpunkte: assimilierte Familie, Wien, Leopoldstadt. In seinem Selbstverständnis hatte es der Theater- und Musikkritiker, der unter anderem auch als Kollege Tucholskys von Berlin aus für die »Weltbühne« schrieb, nicht nötig, zwischen Deutschem und Jüdischem zu unterscheiden, bis ihn die Nazis ins Exil trieben. Seine Lexikographin resümiert: »Wie zahlreiche seiner Kollegen aus dem pazifistischliberalsozialistischen Milieu thematisiert er in seinen Skizzen keine jüdischen Fragen« (Stefanie Oswalt in Kilcher 2012, 407). Und weiter tendenziell so, wie es linke Aphoristiker seit Börne zum Ausdruck brachten: »Darin manifestiert sich ein Selbstverständnis, das eine Unterscheidung von Deutschem und Jüdischem obsolet macht, weil sich die Frage angesichts zu bekämpfender Klassenunter-
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schiede nicht stellt.« Über Prag, Wien, Zürich, wohin er nach dem Krieg zurückkehrte, und Paris emigrierte er in die USA. Er nahm gelegentlich vereinzelt Aphorismen, »an den Rand geschrieben«, in die Bände auf, in denen er seine verschiedenartigen Kurztexte, Feuilletons, Kritiken, Anekdoten, Erzählungen, sammelte. Es sind oft en passant erfundene witzige Definitionen und Bonmots, vornehmlich aus dem Umkreis seiner Theaterwelt. Sein Wortspiel ist nicht von der platten effekthascherischen Art, es reicht durchaus an das von Kraus heran: Der treffende Aphorismus setzt den getroffenen Aphoristiker voraus (Wort als Stigma der gedanklichen Passion) (Polgar 1984; 3, 409). Der große Satiriker zieht, was er ins Lächerliche zieht, mit dem gleichen Griff auch ins Ernsteste (Polgar 1984; 3, 410).
Schon 1921 hieß es so metaphorisch wie prophetisch: »›Der Mensch ist gut‹, sagte die Bestie, als sie ihn fraß« (Polgar 1982; 1, 330). In einer Glossen-Reihe »Der Emigrant und die Heimat«, aus Artikeln aus dem »Aufbau« zusammengestellt, schrieb er nach dem Krieg zunächst versöhnlich: »Niemand wird den dummen Mut haben, ihnen [den nicht Emigrierten] zu verübeln, daß sie geblieben sind.«117 Das hinderte ihn aber nicht daran, bei den Daheimgebliebenen genau zu differenzieren und die schnelle »Rückverwandlung von Nazis […] in Nicht-Nazis« »im Sinn-Umdrehen«118 zu registrieren. Auf die Juden als besondere Emigrantengruppe ging er hier in Nebenbemerkungen (etwa in einer Anspielung auf Heinrich George und den antisemitischen Propagandafilm »Jud Süß«) ein: »Glaubt irgendwer, jener berühmte deutsche Schauspieler hätte sich lange geziert, Star des Films zu sein, in dem die Ausrottung der Juden gefeiert worden wäre?«119 Sein Fazit für die alte Heimat: »Die zufällig nicht umgebracht wurden, müssen ihren Frieden machen mit denen, die zufällig nicht mehr dazu gekommen sind, sie umzubringen.«120 Und ganz pointiert und dementsprechend an den Schluss der Reihe gesetzt ist das Fazit des jüdischen Emigranten: »Emigranten-Schicksal: Die Fremde ist nicht Heimat geworden. Aber die Heimat Fremde.«121 Richard Beer-Hofmann (1866–1945) setzte sich als einziger aus der Literatengruppe »Jung-Wien« nach der Jahrhundertwende konsequent mit dem Judentum auseinander, in einer Stadt, in der nicht nur alle Denkrichtungen der deutschsprachigen Juden zwischen Assimilation (wie bei Hofmannsthal) und 117 Alfred Polgar : Der Emigrant und die Heimat (Eine Glossen-Reihe) 1945/1947. In: A. P.: Anderseits. Erzählungen und Erwägungen. Amsterdam: Querido 1948, S. 219–233, hier S. 222. Zeitlins Anthologie zitiert einige Exzerpte daraus als Aphorismen (Zeitlin 143–147). 118 Ebd., S. 227. 119 Ebd., S. 231. 120 Ebd., S. 225. 121 Ebd., S. 233. Werner Bukofzer zitiert es auch (Bukofzer 1968, 89; vgl. unten S. 134).
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Zionismus (Herzl) eng und intensiv aufeinanderstießen, sondern in der auch der Antisemitismus (Karl Lueger, der junge Hitler) in besonderer Weise grassierte. Das »Schlaflied für Mirjam«, entstanden 1897, als seine erste Tochter geboren wurde, machte den bis dahin Unbekannten auf der Stelle berühmt.122 Jenseits von Sprachkrise und großbürgerlichem Ästhetizismus fand er zu einem Projekt, die biblischen Erzählungen in heutiger Weltsicht zu reformulieren und trug damit zu einem neuen jüdischen Selbstverständnis bei (Hanna Delf von Wolzogen in Kilcher 2012, 41). Das österreichische Element ist gleichwohl ebenso stark, so dass er sich nicht zu einer Auswanderung nach Palästina entschließen konnte, sondern 1939 über die Schweiz in die USA emigrierte. In der Gattungsgeschichte spielt er allerdings mit seinen 1927 bis 1945 datierten Kurztexten »Vom Dichter – Dramaturgisches – Aphoristisches« (Beer-Hofmann 1963) nur eine Nebenrolle. Es sind verstreute, einzeln datierte Notizen, die von einer Eigen-Mächtigkeit der Sprache getragen sind, wie wir sie schon von Kraus her kennen (»Das Wort ist immer älter und weiser als der, der es gebraucht. […]«; Beer-Hofmann 1963, 638) und die sich mit der Gattung nur ausnahmsweise berühren: »Kein Regenschirm. – Frömmigkeit ist kein Regenschirm, nur dazu da, um bei schlechtem Schicksalswetter aufgespannt zu werden« (Beer-Hofmann 1963, 634). Dasselbe gilt mehr oder weniger auch für die Texte des Burgtheaterkritikers und Redakteurs Raoul Auernheimer (1876–1948). Auernheimer, »Vater arisch, Mutter von Haus aus jüdisch« (Auernheimer 1948, 22), »der Kontrapunkt des Blutes, der mein ganzes Leben beherrscht und bewegt hat« (Auernheimer 1948, 33), identifizierte sich nicht mit der Wiener jüdischen Gesellschaft (»because his father was German«): »Auernheimer himself possibly would have disagreed with this classification [als Jude]« (Daviau, Johns 1972, 13). In seinen Erinnerungen von 1948 »Das Wirtshaus zur verlornen Zeit« finden sich unter anderem persönliche Blicke auf Theodor Herzl, einen Neffen der Mutter : »Bart des Propheten« (Auernheimer 1948, 33–45), den Wiener Antisemitismus sowie auf Beer-Hofmann (»ein selbstbewußter Jude und nicht abgeneigt, sein Volk, solange nicht das Gegenteil bewiesen wurde, für das auserwählte zu halten«), der sich entschuldigte, als er erfuhr, »daß auch ich nicht rasserein, in seinem Sinne, wäre« (Auernheimer 1948, 101). Auernheimer verfasste Gesellschaftskomödien, die auf pointierte Dialoge hin angelegt sind, und folgte darin dem Freunde Schnitzler. Jüdische Fragen ignorierte er in seinen Schriften weitestgehend (Daviau, Johns 1972, 12). Er hatte auch keinerlei Sorgen um seine Person, als die Nazis in Wien einmarschierten, kehrte sogar aus der Schweiz zurück, wurde aber dessen ungeachtet noch 1938 ins KZ Dachau eingeliefert. Seine Verhaftung und seinen Aufenthalt in Dachau schildert er in seinen Erinnerungen anschaulich 122 Für Zohn ist es »das schönste jüdische Gedicht in deutscher Sprache«, alles an ihm sei »typisch für das Lebensgefühl der österreichisch-jüdischen Symbiose« (Zohn 1986, 38).
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(»Gastspiel in der Hölle«; Auernheimer 1948, 225–249). Es gelang ihm dann die Flucht nach New York. Aus dem Nachlass wurde 1972 eine schmale Auswahl seiner Aphorismen veröffentlicht. Eine Sammlung »In Worten« hatte er noch vor der Emigration zusammengestellt, der zweite Teil, »Was ich sagen wollte«, ist zwischen 1939 und 1943 entstanden. Mit zwei Themen beschäftigte er sich vorrangig: zum einen mit dem Schreiben, zum andern mit Frau und Gesellschaft: »Pessimistisch angesehen ist die Gesellschaft die Gesamtheit Jener [!], die etwas gegeneinander haben und die trotzdem miteinander verkehren müssen, ja sogar wollen« (Auernheimer 1972, 123). Die Texte lassen den geübt-pointierten Dialogschreiber erkennen, der auf das wirkungsvolle Bonmot aus ist: »Die Frau ist eine Falle, in der sie selbst der Speck ist« (Auernheimer 1972, 92). Ein Aphorismus »Juden und Christen« im ersten vor 1938 entstandenen Teil transportiert lediglich das antijüdische Vorurteil in einer Weise, dass er damit fast der kleinen Zahl jüdischer Antisemiten zuzuzählen ist: »Wenn es Christen zuweilen widerfährt, daß sie im Bett beten, so den Juden nicht minder häufig, daß sie im Bett rechnen. Es ist ihre Art zu beten« (Auernheimer 1972, 103). In den Texten aus dem Exil geht es zuweilen auch um Österreich und die politischen Auswirkungen, die er leidvoll erfährt: »In der Emigration werden die Charaktere durchsichtig. Darum, unter anderm, ist sie so schwer zu ertragen« (Auernheimer 1972, 130). Anton Kuh (1890–1941) entstammte einer alteingesessenen jüdischen Familie in Prag; sein Vater war der Chefredakteur des »Neuen Wiener Tagblatts«, Emil Kuh. Die Verbindungen mit Kafka, Werfel, Brod und in Wien u. a. mit Altenberg und Polgar waren zahlreich. Mit Werfel war er befreundet, Hiller bekämpfte er politisch und Kraus persönlich. Kuh kritisierte, darin Tucholsky ähnlich, »das bourgeoise Verhalten der Assimilationsjuden. Nicht in der Kapitalanhäufung, sondern in der ›geistigen Revolte‹, im ›Frondieren‹ lag für Kuh der Auftrag des Judentums« (Ruth Greuner in Kuh 1981, 506). Der Essay »Juden und Deutsche« von 1921, die Zusammenfassung seiner improvisierten und vieldiskutierten Reden zum Judentum, steht unter dem Motto Börnes: »Die Juden sind der Freiheit viel näher als die Deutschen. Sie sind Sklaven, sie werden einmal ihre Ketten brechen, und dann sind sie frei. Der Deutsche aber ist Bedienter, er könnte frei sei, aber er will es nicht« (Kuh 2003, 71). Er propagierte dort ein Judentum der Befreiung von nationalen und gesellschaftlichen Zwängen – dafür steht neben Börne Nietzsche – und interpretierte die jüdische Moderne als einen Vater-Sohn-Konflikt, wie er etwa bei Kafka zu beobachten ist.123 Kuh polemisierte gegen den Zionismus, aber nicht vom Standpunkt der Assimilation aus, die er als ein falsches Streben ansah. Auch den jüdischen Selbsthass attackierte 123 Zur genaueren Analyse und zur Rezeption des Essays vgl. das Vorwort Kilchers (Kilcher in Kuh 2003, 20–65) sowie den Anhang zu diesem Band.
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er als paranoide Fixierung auf alles Jüdische. Seine Editorin konstatiert hingegen diesen Selbsthass bei ihm selbst: »Gelegentliche Symptome jüdischen Selbsthasses deuten auf einen traumatischen Nachvollzug des Ghettos« (Ruth Greuner in Kuh 1981, 502). Sein Ideal war ein Diaspora-Judentum, das in die Befreiung von allen traditionellen Werten und in Kosmopolitismus hinüberführt (vgl. Kilcher 2012, 312). Der Essay hatte breiteste innerjüdische Diskussion zur Folge. Legendär wurde Kuhs gegen Kraus, den »satanischen Talentsproß des jüdischen Hauses« (Kuh 1931, 200), gerichtete Rede von 1925 »Der Affe Zarathustras« (Kuh 1981, 153–201): »An Kraus, seinem Paradebeispiel des ›ewig pubertierenden‹ jüdischen Sohnes, diagnostizierte K. die ›Psychose‹ des Selbsthasses« (Kilcher 2012, 313). Kuh wurde zivilgerichtlich verfolgt und übersiedelte nach Berlin, wo er für Jacobsohns und Tucholskys »Weltbühne« schrieb. Nach 1933 – Kuh lebte wieder in Wien – warnte er immerzu vor dem Nationalsozialismus und einem möglichen Anschluss Österreichs: »Faschismus: der Militarismus der Zivilisten« (Kuh 1963, 297; auch bei Zeitlin 1963, 140). Auch mit seinen »Aussprüchen« »Physiognomik« (1931), in ähnlicher Form zuerst 1922 als »Essays in Aussprüchen« »Von Goethe abwärts« erschienen, mag sich der streitbare und jederzeit pointensichere »Sprechsteller«, der Stegreifredner und Kritiker, im Prinzip an Börne orientieren, von dem er im selben Jahr eine Auswahl »Börne der Zeitgenosse« publizierte. Ihre Effekte schlagen sie aus bedingungslosen Wortspielen, die »meuchlings loben« (Kuh 1981, 291) und »aus dem Leumund« riechen (Kuh 1981, 290), zwischen journalistischem Bonmot bis hin zum Kalauer und gerade noch vermiedener Zote sowie einer pointiert satirischen Aphoristik changieren, die Kraus wenig nachsteht. Über die Formgefallsucht führen sie dabei nicht immer hinaus, so in dieser Definition: »Gewissensbisse sind das erste Symptom der schwindenden Männerkraft« (Kuh 1931, 265). In dieser Weise wendet er sich gelegentlich auch dem deutsch-jüdischen Thema zu: Juden und Deutsche, die beiden tragischen Wörtlichnehmer der Schöpfung (Kuh 1931, 23). Der Jude hat vor dem christlichen Gefreiten mehr Respekt als vor dem jüdischen General; denn diesem schaut er ins Gedärm, jenem nicht einmal hinters Auge (Kuh 1931, 111).
Er tut das durchaus distanziert und abschätzig: Die drei gebräuchlichsten Worte des jüdischen Jargons: positiv, effektiv und kolossal (Kuh 1931, 18). Ich möchte wissen, ob der christliche Taubstumme den Akzent hört, wenn ein jüdischer mit den Händen redet (Kuh 1931, 123).
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Zwei Wochen vor dem Anschluss, dem Einmarsch deutscher Truppen in Österreich, fragte er in seiner letzten Wiener Stegreifrede: »Sind die Juden intelligent?« und appellierte: »Wenn ja, rettet Euch. Es ist höchste Zeit!« (Kuh 1981, 522). Er floh über Prag nach New York, wo er 1941 verstarb. Franz Werfel (1890–1945) ist ein weiterer deutsch-jüdischer Autor, der, aus einem assimilierten Prager Elternhaus stammend, zwischen den beiden biographischen Polen regelrecht zerrissen worden ist. Sein biographisches Thema ›Juden und Christen‹ nahm zeitlebens einen so großen Raum in seinem Schaffen ein, dass es hier nur kurz umrissen werden kann. Die jüdische Geisteswelt blieb ihm weitgehend verschlossen. Er stilisierte sich zu einem christlichen Dichter, hielt aber zeitlebens am Judentum fest. Einen christusgläubigen Juden hat man ihn genannt (Wallas in Kilcher 2012, 540). In Essays hat er seit 1917 zu den Fragen von Zionismus und Assimilation Stellung bezogen: »Wohin also soll ich? Dort wo ich bin, gehöre ich nicht hin. Das, wohin ich gehöre, liebe ich nicht« (zit. nach Wallas in Kilcher 2012, 541). Max Brod trat ihm in »Der Jude« polemisch entgegen (vgl. Leuenberger 2007, 150–154). Eine Palästinareise 1925 stürzte ihn nur in weitere Verwirrung. Im »Ägyptischen Tagebuch« von Januar/Februar 1925 hielt er fest: Die Juden haben heute für mich an Reiz verloren. Welch ein starker Automatismus der Rasse, wenn man sie aus der Nähe sieht. Allerdings dieser Automatismus (jüd. Gesten, Vorsichhinsingen und Niggen) hat das Volk gerettet. Der Assimilant kämpft einen verzweifelten Kampf gegen diesen Automatismus, der uns in den Gliedern steckt (Werfel 1975, 707).
Das distanzierte »die Juden« wechselt mit der identifikatorischen ersten Person Plural auf kürzeste Distanz. 1926 dann antwortete Werfel auf eine Anfrage des »Israelitischen Wochenblatts« entsprechend: »Ich bin nicht getauft! Ich habe niemals vom Judentum fortgestrebt, ich bin im Fühlen und Denken bewußter Jude« (Werfel 1975, 595). Er emigrierte 1938 über Südfrankreich und Portugal in die USA und wurde amerikanischer Staatsbürger (Schwarz 2014, 75–89). In demselben Jahr hatte er noch im »Neuen Tage-Buch« (Paris) einen Artikel »Das Geschenk Israels an die Menschheit (Eine Liste mit Kommentar)« – die Liste reicht von Moses bis Kafka – veröffentlicht, der nicht mehr als eine apologetische, hilflose Bitte ist. In dem biblischen Teil der Liste führt er unter anderem an: »Der Verfasser des Kohelet, der die Form der Aphoristik begründet und als Vorbild illusionsfreier Lebensweisheit in die Zeiten hinauswirkt, von Mark Aurel bis Nietzsche« (Werfel 1975, 322). In seinem »Glaubensbekenntnis« für den »Jewish Digest« (New York 1941) argumentiert er zunächst gegen zwei »böswillige Legenden« an: die Juden seien »hervorragend reich« und »hervorragend intelligent« (Werfel 1975, 887), um
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den Holocaust dann zu einer »Ausrottung des jüdischen Geistes« »auf allen Kontinenten« zu generalisieren (Werfel 1975, 890). »Der jüdische Geist ist ein paradoxer Geist. Er will den Naturmenschen von der Knechtschaft der Natur befreien und ihn emporheben, auf daß er das Ebenbild dessen werde, was ihm als das über alles Gute und Heilige vorschwebt« (Werfel 1975, 889). Es ist für ihn »ein heiliger Krieg«: »Wir heutigen Juden […] kämpfen Gottes Kampf für die Erlösung der Welt« (Werfel 1975, 891). Sein Aphorismenbuch »Theologumena – Eine Engelsbrücke für Agnostiker« ist aus dieser Gedankenwelt heraus zu verstehen. Es ist als viertes Hauptstück des geistigen Rechenschaftsberichtes »Between Earth and Heaven« (1944) größtenteils zwischen 1942 und 1944 im amerikanischen Exil entstanden. Man hat es zur »wahrscheinlich bedeutendsten« Aphorismensammlung der Exilliteratur erklärt (Weissenberger 1992, 68). Das bedeutendste aphoristische Werk zu den Fragen von Judentum und Christentum ist es zweifellos. Auch auf der Gattungsebene ist es mit dem Hinweis auf Kohelet und den »paradoxen« jüdischen Geist vorbereitet. Seine frommen Reflexionen erinnern zum Teil an die »Tagund Nachtbücher« Theodor Haeckers; als Leitbilder sind Pascal und Kierkegaard herangezogen worden. Die Aphorismen sind gegen »die innere Lüge des historischen oder dialektischen Materialismus« (Werfel 1975, 188) wie gegen »die Snobs des nihilistischen Intellektualismus« gerichtet und stellen der »eisigen Banalität des Materialismus« die »mystischen Wahrheiten« gegenüber (Werfel 1975, 145). Zur Zeit der versuchten ›Endlösung‹ ist ihm der Antisemitismus »ein metaphysisches Phänomen« (Werfel 1975, 153); seine Betrachtungen werden zunehmend ahistorisch und nur einem Gläubigen mit mystischer Begabung nachvollziehbar. »Von Christus und Israel« heißt das Kapitel, das eine gewagte Synthese versucht: Die Juden sind […] das fleischliche Zeugnis für das Wort vom ›Eckstein, den die Bauleute verworfen haben.‹ (Werfel 1975, 150). Was wäre Israel ohne die Kirche? Und was wäre die Kirche ohne Israel? (Werfel 1975, 155; vgl. Weissenberger 1997, 155).
»Israel« und »der Messias« sind hier die zentralen Elemente eines sehr privaten Glaubens- und Denkgebäudes: Der Jude ist durch Taufe und Glaube allein nicht heilbar (Werfel 1975, 151). Ein Jude, der vors Taufbecken tritt, desertiert in dreifacher Hinsicht (Werfel 1975, 155).124
Es sind Erwägungen, es sind bewusst Fragen mehr denn Antworten: »Zu welch raffinierter Ausweglosigkeit hat Gott jene Geschöpfe verurteilt, deren ewige 124 Vgl. auch »Zu Christus und Israel« (Werfel 1975, 811–812).
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Bevorzugung der Abraham verheißen hat?« (Werfel 1975, 162). Das Kapitel schließt mit einer hoffnungsvollen Prophetie in der Apostrophe: »Zwischen deinem Gott und dir bleibt offene Rechnung, und sie wird beglichen werden zu deinen Gunsten, wenn die Gnade dereinst die Summe gezogen hat« (Werfel 1975, 164). In den »Profanen Nachträgen« wird auch das Exil religiös überhöht: »Vielleicht ist es gottgewollte Erziehung durch das Exil, daß die unabänderlich Emigrierten Heimat nur mehr in der Form des Heimwehs besitzen dürfen. […] Das Exil aber, als Gleichnis der Seele gesehn, ist ein Zustand, in dem es kein Zurück mehr gibt, denn der Wegweiser, auf dem geschrieben steht ›Nach Hause‹, zeigt immer nur vorwärts« (Werfel 1975, 191). Mit dem Wiener Felix Pollak (1909–1987) tritt eine jüngere Generation von Aphoristikern auf den Plan, deren Werk ganz in die Zeit des Exils fällt. Auch für ihn war sein Judentum vor 1938 ohne Bedeutung, im Elternhaus spielte es keine große Rolle. Auch für ihn wurde es nach 1938 existenziell. Er gelangte, ohne Heimat, Beruf, Freunde, ohne Sprache und ohne Bücher nach New York und fand erst über den Holocaust zu seiner jüdischen Identität zurück. Das Exil wurde für ihn nach typisch harten Anfangsjahren eine der seltenen Erfolgsgeschichten, auch wenn er das Verlorene ergreifend reflektiert: »Mit Grund glücklich sein kann man überall. Aber nur wo man grundlos glücklich sein kann, dort ist Heimat!« (Pollak 1992, 47). Er arbeitete als Bibliothekar und war später sogar mit englischsprachiger Lyrik recht erfolgreich. Daneben verfasste er, in beiden Sprachen, Aphorismen. Für den Band »Lebenszeichen« (1992), der als druckfertiges Manuskript »Aus der Luft gegriffen« schon 1953 vorlag, sind drei Aspekte besonders zu akzentuieren, und über allen dreien schwebt der mächtige Schatten von Kraus: »Karl Kraus: Er war so groß, daß er sogar den Kleinen gewachsen war« (Pollak 1992, 115). Er zeigt sich neben dem starken Gewicht, das die Selbstreferenz einnimmt, besonders in der überwachen Sprachbewusstheit: »Die Kenntnis jeglicher Sprache beginnt mit der Erkenntnis, daß es keine Synonyme gibt« (Pollak 1992, 13). Gerade wo er sehr einfach wird, ist er auch von wertvoller distinktiver Schärfe: »Gefühl ist immer schamhaft. Sentimentalität immer schamlos« (Pollak 1992, 20). Hinzu kommt, dass Lyrik und Aphorismus hier einander eng verbunden sind, jedenfalls soweit es um Sprachbewusstheit und Formbeherrschung geht, nicht aber, sofern man eine mögliche lyrischmetaphorische Weiterentwicklung des aphoristischen Genres im Blick hat. Jüdisches ist hier nicht reflektiert, selbst eine »Ethno-Charakterologie« (Pollak 1992) kommt ohne es aus; auch in der kurzen Autobiographie (Pollak 1992, 159– 179) wird sein Judentum nur äußerst beiläufig erwähnt, wenn er den jungen Amerikanern betont sachlich erklärt: »Juden wie ich mußten, so mühsam es war, aus ihrer Vaterstadt und Heimat flüchten, bloß um das nackte Leben zu retten« (Pollak 1992, 160).
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Eine besondere Rolle spielt der Aphorismus bei den vom Marxismus bestimmten Denkern, neben Walter Benjamin, dessen »Einbahnstraße« in den zwanziger Jahren entstand, vor allem bei Theodor W. Adorno, am Rande aber auch bei Max Horkheimer, Günter Anders, Ulrich Sonnemann und Ernst Bloch, Juden und Emigranten auch sie. Theodor W. Adorno (1903–1969) und Max Horkheimer (1895–1973) sind die Begründer und Hauptvertreter der Kritischen Theorie. Adorno wuchs in Frankfurt auf und lehrte dort bis zum Lehrverbot 1933 und erneut nach den Jahren der Emigration in den USA. Seine »Minima Moralia«, über viele Jahre ein Kultbuch der Linken in der Bundesrepublik, stehen in ihrem Mischcharakter am Rande der Gattung (Spicker 2004, 389–395). Ihr Tenor ist eine nichtreaktionäre Kulturkritik, die die alles umfassende Zweckhaftigkeit und Versachlichung aller Beziehungen: die Auslöschung des Subjekts analysiert. Entstanden sind sie in den Jahren 1944 bis 1947 in der amerikanischen Emigration. Auch explizit ist ihnen ein Stück ihrer Entstehungsbedingungen eingeschrieben: »In der Erinnerung der Emigration schmeckt jeder deutsche Rehbraten, als wäre er vom Freischütz erlegt worden« (Adorno 1973, 56). 1951 gedruckt, kamen diese »Reflexionen aus dem beschädigten Leben« in den sechziger und siebziger Jahren zu unvergleichlicher Wirkung. Sie insistieren auf der individuellen Erfahrung, ohne den Totalitätsanspruch des Systems aufzugeben, und betonen ihren Versuchscharakter. »Das Ganze ist das Unwahre« (Adorno 1973, 57). Adorno bezweifelt in der »Zueignung« in dieser Umkehrung Hegels den »Primat des Ganzen«, ohne etwas unbedingt dagegenzusetzen. Dass er das Unvermittelbare zu vermitteln sucht, verdeutlichen auch die Texte selbst; es macht ihren spezifischen Zwittercharakter aus: unsystematisch und unverbunden von der einzelnen Erscheinung ausgehend und zu pointierten Definitionen und Vergleichen findend: Der Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden (Adorno 1973, 141). Fremdwörter sind die Juden der Sprache (Adorno 1973, 141).125
Emigration, Holocaust und Antisemitismus werden mehrfach thematisiert, stehen aber nicht im Vordergrund: »Vielleicht ist der gesellschaftliche Schematismus der Wahrnehmung bei den Antisemiten so geartet, daß sie die Juden überhaupt nicht als Menschen sehen« (133). In »Regressionen« ist der Jude ikonographisch der Inbegriff des Fremdlings (265). Wo in »Unmaß für Unmaß« die Judenvernichtung zur Sprache kommt (»In den Konzentrationslagern und Gaskammern wird gleichsam der Untergang von Deutschland diskontiert.«; 132), da steht auch in diesem Kontext der Gedanke der »imperialistischen 125 Vgl. dazu die Interpretation Gilmans (Gilman 1993, 20).
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Konkurrenz« im Vordergrund. In »Der böse Kamerad« reflektiert Adorno eine Kindheitserinnerung und fragt in Bezug auf seine Klassenkameraden als Angehörige der bürgerlichen Klasse, »deren Hallo kein Ende nahm, wenn der Primus versagte«, rhetorisch suggestiv : »Haben sie nicht grinsend und verlegen den jüdischen Schutzhäftling umstanden und sich mokiert, wenn er allzu ungeschickt sich aufzuhängen versuchte?« (256). Der Essay endet pointiert, wie es die Regel ist: »Im Faschismus ist der Alp der Kindheit zu sich selber gekommen« (257). Horkheimers »Notizen in Deutschland« erschienen unter dem bezeichnenden Titel »Dämmerung« 1934 in Zürich, nachdem die Nazis das Frankfurter »Institut für Sozialforschung« geschlossen hatten und Horkheimer als sein Direktor über die Schweiz in die USA emigrieren musste. Sie stehen insgesamt zwar als eine Sammlung diverser Mischformen eher außerhalb der Gattungsgrenzen. Joachim Günther freilich, ein wahrhaft gewichtiger, wenngleich vielleicht etwas ›parteiischer‹ Zeuge, hat kein Problem, ihn damit als Aphoristiker zu apostrophieren, Pascals »Pens8es« heranzuziehen und insbesondere den Vergleich mit Adorno anzustellen.126 »Doppelte Moral« stellt das beste Beispiel einer solchen Zwischenform dar, ist die aphoristische Ambivalenz hier doch in geradezu mustergültiger Weise auseinander- und nebeneinandergelegt: Leitspruch für den Freund der bestehenden Ordnung: ›Weh dem, der lügt‹. Er kann nach, mit, von seiner Gesinnung leben. Leitspruch für den, der über die bestehende Ordnung erschrickt: ›Weh dem, der nicht lügt‹. Er kann nach, mit, an seiner Gesinnung zu Grunde gehen (Horkheimer 1934, 263; 1974, 349).
Nicht ohne Berechtigung spricht Schmidt in der Einleitung des öfteren einfach von »Aphorismen« (Horkheimer 1974, XXXIV, LXX). Schopenhauers Aphorismen stehen fraglos im Hintergrund ebenso wie die genaue Kenntnis der »Maximen und Reflexionen« Goethes (Horkheimer 1974, 214; 1974, 326). Im Kreis um Horkheimer und Adorno lebte nach 1936 auch Günther Anders (1902–1992), der Sohn der Psychologen William und Clara Stern. Antisemitische Erfahrungen schon in der Schulzeit prägten ihn. Der erste Ehemann Hannah Arendts floh 1933 nach Paris und verbrachte zunächst in Frankreich harte Exiljahre, ehe er sich mit großer Mühe als Emigrant in den USA behaupten konnte. Eine Professur, die Bloch ihm nach der Gründung der DDR für Halle anbot, lehnte er ab und nahm 1950 seinen Wohnsitz in Wien. Sein schriftstellerisches Werk ist von zwei Ereignissen bestimmt: Auschwitz und Hiroshima. Er führte bewusst ein Leben zwischen Philosophie und Literatur. Unter seinen vielfältig ›gemischten‹ Texten (»Philosophische Stenogramme«, 1965) spielt der 126 Joachim Günther : Rez. Horkheimer, Notizen 1950–1969 und Dämmerung. In: Neue Deutsche Hefte 22, 1975, S. 200–204.
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Aphorismus eine untergeordnete Rolle. Die Nähe zur Gattung ist gleichwohl in einzelnen Elementen vielfach zu erkennen: in den Porträts, den Imperativen, der Umkehrung. Nur gelegentlich treibt er das Stenogrammartige dort aber bis in den regelrechten Aphorismus hinein: »Vokabelkorrekturen. ›Störenfriede‹ sollen wir sein? Kriegsstörer sind wir« (Anders 1993, 61). Den Holocaust interpretiert er als »Asymmetrie« mit den schrecklichsten Folgen, ausgehend von der »Auserwähltheit«: »Die Juden wollten seine [des Vertrages] Günstlinge bleiben. Und das war natürlich ein unerträglich asymmetrischer Zustand. Der sich fürchterlich gerächt hat« (Anders 1993, 40). Die »Juden« dienen ihm nicht anders als Adorno in seiner »Philosophischen Anthropologie« als das biographisch naheliegende Vergleichswort: »Die Menschen – das kosmisch auserwählte Volk, die Juden unter den Tieren. Soviel Chancen wie Leiden« (Anders 1993, 29). Das gilt auch für »jüdische« Details. In »Die Goldzähne der Sprache« konstatiert er : »Nichts erfüllt mich mit tieferem Grauen als die Verwendung der jüdischen Jargonwörter«, um diese extreme Wertung im Vergleich zu begründen: »Und genau dasselbe ist nun mit den Jargonwörtern geschehen. Auch sie, die ausgebrochenen Goldzähne der ermordeten Sprache, sind nun zu Schmuckstücken verarbeitet worden« (Anders 1993, 52f.). Das biblische »Salz der Erde« (Matthäus 5, 13–16) dient ihm mehrfach als Grundmetapher für das Judentum: Salz und Mehl. Es gibt keine Tüte Salz, die sich nicht zuweilen, überwältigt durch die imponierende Wucht der Mehlsäcke, lächerlich gefühlt, und die nicht darum gebetet hätte, auch einmal ›ein Mehl‹ sein zu dürfen. – Dies das Unglück des modernen Judentums. Auch des zionistischen (Anders 1993, 41, vgl. 124).
Auch der Psychologe Ulrich Sonnemann (1912–1993) floh über die Schweiz und Frankreich in die USA. Auch er, dem um 1970 eine Rolle als Wegbereiter der studentischen Protestbewegung zuwuchs, kommt nur mit dem geringsten Teil seines Werkes in Betracht, und das auch nur am äußersten aphoristischen Rande. Die vereinzelten Aphorismen, die er selbst in isolierter Form aus seinem Werkheft zitiert, dokumentieren den Abstand zu Amerika (»Der Kindheitstraum Amerikas ist die Errichtung eines Drugstores auf dem Mars.«; Sonnemann 1965, 88) und formulieren seine Grundpositionen besonders konzise (»Es gibt nichts Widerwärtigeres als einen Konservativismus, der nichts mehr zu bewahren hat als sich selbst.«; Sonnemann 1965, 91) oder in pointiert metaphorischer Form: »Die Ideologien sind die Gummistrümpfe der alternden Ideen« (Sonnemann 1965, 90). Darüber hinaus ist Sonnemann durch seine freundschaftliche Verbindung mit Elazar Benyo[tz seit 1957 für die Gattungsgeschichte von Bedeutung. So stellt er in einer Rezension zu »Worthaltung« unter dem Titel »Glückserfahrung einer Wortwerdung« (in Benyo[tz 2012, 98– 100) 1977 eingangs allgemeine Reflexionen an, die den Aphorismus an die Kritische Theorie anschließen: »Der Aphoristiker widersteht damit dem
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Tauschprinzip, dessen Herrschaft über die Gesellschaft inzwischen so sehr bis in ihren Umgang mit Sprache reicht, daß kein Sturz dieser Herrschaft gelingen wird, wo ihr schon der eigene Sprachgebrauch unterliegt.« Der Aphorismus als Revolutionär im Kampf gegen den herrschenden Sprachgebrauch: Das schließt an apologetische Argumentationsmuster an, die von Gattungsautoren vielfach ähnlich gebraucht werden, lässt indessen – gerade im Blick auf den rezensierten Autor – auch die skeptische Frage entstehen, ob die Gattung damit nicht überfrachtet und überfordert und nicht einer ihrer Stränge, der der Kritik, verabsolutiert wird. Der Autor, heißt es weiter, bewahre sich »durch die Ungebrochenheit einer religiösen Überlieferung, die es seit je mit dem Wort hält«, »in seiner Erfahrungswelt mit zwei polaren Brennpunkten« (99). Was Benyo[tz seinerseits mit der Kritischen Theorie Sonnemanns verbindet, hat er in einem Festschriftbeitrag so zum Ausdruck gebracht: »Das Gebrechen der Aufklärung – ihre Übereinstimmung mit der Natur des Menschen. Man kann den Menschen (und dies immer mehr) über das Böse aufklären, nicht über das Gute.«127 Wie der Freund ihn von seiner Theorie her, so hat er Sonnemann dort seinerseits vom Jüdischen her interpretiert: »Jüdisch gedacht: der Glaube soll nicht nur in den Himmel ragen, sondern auch immer Boden gewinnen, denn er muß stand halten. Standhaft ist mehr als beflügelt, auch wiegt der Beständige mehr als der Beschwingte.«128 Auch den letzten in dieser Reihe, den Philosophen Ernst Bloch (1885–1977), der aus einer großbürgerlichen Familie aus der Pfalz stammte, führte die Emigration über die Schweiz und Prag in die USA. Nach 1945 lehrte er in Leipzig (DDR), nach 1961 in Tübingen, so die äußerst dürren Daten im bewegten politischen Lebenslauf des Marxisten Bloch. Vor 1933 war er unter anderem mit Adorno und Benjamin befreundet. Seine schon 1930 entstandenen (und späterhin um zahlreiche Texte vermehrten) »Spuren« sind in ihrer Verbindung von narrativen und reflektierenden Elementen nur an einzelnen Stellen der Gattung benachbart; die aphoristische Nähe bleibt episodisch.129 127 Elazar Benyo[tz: Was nicht zündet, leuchtet nicht ein. Ein Büchlein vom Menschen und seiner Ausgesprochenheit. In: Spontaneität und Prozess. Zur Gegenwärtigkeit kritischer Theorie. Hg. von Sabine Gürtler. Ulrich Sonnemann zum 80. Geburtstag. Hamburg 1992, S. 251–263. Vgl. Christoph Grubitz: Benyo[tz als Beiträger zur Festschrift für Ulrich Sonnemann. Portrait einer Freundschaft. In: Christoph Grubitz, Ingrid Hoheisel, Walther Wölpert (Hgg.): Keine Worte zu verlieren. Elazar Benyo[tz zum 70. Geburtstag. Herrlingen 2007, S. 157–162. Vgl. auch das Porträt Sonnemanns im Brief an Christoph Grubitz (Benyo[tz 2009, 164) und das »Erinnerungsstück Natur« für Ulrich Sonnemann 1982 (Benyo[tz 1990, 137f.). Soeben erschienen: Was nicht zündet, leuchtet nicht ein. Ein Büchlein vom Menschen und seiner Ausgesprochenheit. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Andreas Steffens. Wuppertal: Nordpark 2016. 128 Benyo[tz, wie Anm. 127, S. 260. 129 Zur Begrifflichkeit zwischen Montage, Anekdote, Denkbild und Fragment vgl. Spicker 2004, S. 394–395.
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Mit dem Prager Franz Baermann Steiner (1909–1952), der aus einer assimilierten Familie stammte, betreten wir nicht nur ein anderes Exilland, sondern auch eine in jeder Hinsicht völlig andere geistige Welt. Er spricht von einem »Wendepunkt« seines geistigen Lebens, einer »Erschütterung«, einem »Einsturz«, der sich für ihn als »einem jungen Menschen« an dem Tag ereignete, »als ich nicht mehr zwischen den drei Fähigkeiten unterscheiden konnte […]. Ergriffenheit, Denkgenauigkeit und die Stärke des Zweifels ließen sich nicht mehr gesondert erwähnen« (Steiner 2009, 21). Es ist eine gerade für den Aphoristiker bedeutsame Tatsache, dass er damit keinen Unterschied macht zwischen der »Denkgenauigkeit« und dem gattungsspezifischen Skeptizismus (»Stärke des Zweifels«) einerseits und der Frömmigkeit (»Ergriffenheit«) andererseits. Steiner war überzeugter Zionist, er lehnte das Westjudentum ab und begriff die Juden als ein orientalisches Volk. 1930 unternahm er eine Reise nach Jerusalem zu Hugo Bergmann, dem Direktor der Hebräischen Nationalbibliothek und späteren Universitätspräsidenten, dem Freund Kafkas, Brods und Felix Weltschs und wie diese früh von Buber geprägt; Bergmann war dort schon seit 1919 mit der Einrichtung der zentralen jüdischen Bibliothek beschäftigt. Steiners erste Biographin konstatiert, zur Sprache habe er als Jude eine geradezu mystische Beziehung, und Lyrik und Gebet seien bei ihm wie bei vielen jüdischen Dichtern kaum zu trennen: »Steiner blieb […] zumindest in der Weise spezifisch jüdisch religiös, dass ihm auch die hohe Bedeutung der Sprache Motiv und Hauptgrund zum Schreiben war« (Steiner 1988, 137). Steiner studierte Ethnologie. Sein zunächst wissenschaftlicher Aufenthalt in England – nach der Promotion in Prag 1935 – ging in die Emigration über ; von 1938 bis zu seinem frühen Tod 1952 lebte er in London. Dort begann er ein Jahr, nachdem sein Freund Elias Canetti seine regelmäßigen Aufzeichnungen aufgenommen hatte, auf dessen Anregung hin gleichfalls mit Aufzeichnungen, an denen er unter dem Titel »Feststellungen und Versuche« bis zum Tode festhielt. Für den regen brieflichen und persönlichen Gedanken- und Manuskriptaustausch der beiden sind dabei der Anthropologe und der Mythenforscher ebenso wie der beginnende Lyriker auf der einen Seite, der Dramatiker und Romanschriftsteller auf der anderen Seite bedeutsam. Zu dem Londoner Dichterkreis gehörten neben Canetti auch H. G. Adler (»Theresienstadt 1941–1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft«; 1955), Erich Fried und Tuvia Rübner, in Israel in späteren Jahren Schüler von Werner Kraft und Ludwig Strauß.130 Im Gegensatz zu Canetti wurde Steiner aber in England nie heimisch: »Ich habe meine Heimat verloren, wie man ein Buch verliert. Endlich habe ich festgestellt, dass es ein ganz seltenes Buch war. Also auf einen Neudruck warten« (Steiner 130 Marcel Atze: »Ortlose Botschaft«. Der Freundeskreis H. G. Adler, Elias Canetti und Franz Baermann Steiner im englischen Exil. Marbach 1998.
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2009, 256). Nennenswerten Erfolg hatte er auch nicht. Erst 1988 konnte eine kleine Auswahl (»Fluchtvergnüglichkeit«, Steiner 1988) die Vielfältigkeit seiner Arbeit zeigen; seit 2009 liegen die Aufzeichnungen 1943–1952 gesammelt vor. Die Spannweite der Texte ist ungewöhnlich groß. Sie umfasst Parabeldialog, Prosagedicht, Wellerismus, Traumbild ebenso wie die literarkritische Reflexion, die kurze Erörterung sprachlicher, also etymologischer, semantischer, übersetzungsproblematischer Befunde und den religionspsychologisch-anthropologischen Kürzestessay. Der Anthropologe, der Dichter und Aphoristiker sowie der moralistische Beobachter aus zionistischem Blickwinkel stehen nebeneinander. Konkret kommen die Facetten seiner Person etwa im Bezug auf Kohelet (Steiner 2009, 167) oder in der Disposition zum Epigrammatischen zusammen: »Ein Glück für die Menschheit, daß man die ersten Aufzeichnungen in Stein oder Holz geschnitten hat, so also, daß man mit sparsamen Ausdrücken umzugehen hatte« (Steiner 2009, 165). Zwischen einem herkömmlichen Diktum-Aphorismus »Es ist immer leichter, jemanden zur Einsamkeit zu überreden als zur Geselligkeit« (Steiner 1988, Nr. 40) oder einem nicht unüberraschenden, aber doch herkömmlich-paradoxen »Alles kann erfüllt werden, nur Wünsche nicht« (Steiner 1988, Nr. 57) finden sich Aphorismen einer anderen Art: »Die Wirklichkeit wohnt nur in den Rändern des Traums« (Steiner 1988, Nr. 38). Die Beispiele herkömmlicher Aphoristik führen in ihrer bekannten Plakativität oft nicht weiter : »Der längste Umweg kann sich schließlich als Abkürzung erweisen« (Steiner 1988, Nr. 486). Wirklich neues Erkennen, auf einer ganz anderen Ebene, ermöglicht dagegen die über die Moralistik hinausgeführte Bildlichkeit: »Die Überredung, die von den Türmen des Schweigens ausgeht…« (Steiner 1988, Nr. 549). Diese Aphorismen stammen nicht von Kraus, sondern von Steiner : Es ist ein Fehler, eine Frau besitzen zu wollen, ohne ihr vorher das Gefühl gegeben zu haben, einen zu besitzen (Steiner 1988, Nr. 376). Die Übernächstenliebe ist leicht (Steiner 1988, Nr. 386).
Diese Aphorismen stammen nicht von Kafka, sondern gleichfalls von Steiner : Im Anfang war Gesang. Das Zischen der Asche eines gelöschten Brandes? (Steiner 1988, Nr. 431). Vom Turmbau zu Babel ist es weder sinnvoll zu sagen, dass er gelungen, noch dass er misslungen ist (Steiner 1988, Nr. 320).
Der von der Formbrillanz bestimmte Aphorismus Kraus’scher Prägung nimmt den kleinsten Raum ein, das aphoristische Werk ist im Wesentlichen der Lyrik verwandt. Es zeigt im Hinblick auf die Aphorismustypen, wie sie bei Kraus
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einerseits, Kafka andererseits ausgebildet sind,131 eine echte Verschwisterung; sie erweist sich genau wie die Werner Krafts,132 aber mit einer gänzlich anderen Gewichtung, als ein Miteinander des von herkömmlichen Mitteln bestimmten, auf rationale Erkenntnisschichten zielenden und des neuen autonomen, in anderer Weise erkenntnishaft ansetzenden Bildaphorismus.133 Das Judentum ist in seinen Aufzeichnungen so vielfältig reflektiert, historisch-politisch wie autobiographisch, typologisch wie mythologisch, dass es eine eigene Untersuchung verdiente, die hier nicht geleistet werden kann.134 So spricht er von einem »Überrennen der Wirtsvolkeliten durch die Juden« (Steiner 2009, 187). Auch die »besondere Bedeutung der Prager deutschen Juden« (Steiner 2009, 150) interpretiert er aus seinem speziellen Blickwinkel, den nicht jeder wird einnehmen wollen; er sieht hier eine »fast volkliche Eigentümlichkeit«. Aphoristisch zugespitzt formuliert er : »Die getauften Juden sind die Janitscharen des Christentums« (Steiner 2009, 274). Seine erste Editorin hat dem Judentum in seinen Aphorismen schon ein gesondertes Kapitel gewidmet (Steiner 1988, Nrr. 269–271): »Gott hat dem Juden leicht gemacht, sein Volk, solange es in der Zerstreuung weilt, zu lieben, da es fast nur aus Leidenden besteht. Aber fast unmöglich hat Er es dem Juden gemacht, seinem Volk zu helfen« (Steiner 1988, 75). Als »jüdischen mythischen Denker« hat der Mythenforscher auch Kafka interpretiert. Steiner beobachtete und reflektierte den Holocaust intensiv und nicht ohne Sarkasmus, so, wenn er schreibt, dass »das Fähnlein der Aufrechten in Westeuropa besonders beunruhigt [hat], dass die deutsche Schreckensherrschaft so kaltblütig mechanisch mit ihren Opfern verfuhr. Drum atmete man erleichtert auf bei jeder berichteten Szene wahnsinniger Entmenschung: dies gab dem Fähnlein beinahe den Glauben an die Menschheit zurück« (Steiner 2009, 67). Auch in England bemerkte er einen starken Antisemitismus: »Der Judenhass der englischen Katholiken ist von einer besondren Sorte: sie hassen im Juden alle Züge, die sie bei der mächtigen puritanischen Mehrheit hinnehmen müssen« (Steiner 2009, 160). Andererseits kritisiert er die »Vorwortservilität« der deutsch-jüdischen Emigranten »beim Abfassen ihrer englischen Bücher« (Steiner 2009, 420). Mit besonderem Interesse beobachtete er die Entwicklung in Palästina nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Er stellt dabei größte Zusammenhänge her : »Es ist erstaunlich, wie die Engländer durch eine einzige Entscheidung – den Judenstaat in Palästina zu verhindern – ihr Imperium zerstörten. […] Das asiatische Gefühl der Juden ist erst in seinem antienglischen 131 132 133 134
Vgl. Spicker 2004, 379–381. Vgl. unten S. 129. Im Einzelnen ausgeführt bei Spicker 2004, 355–358. Vgl. z. B. Steiner 2009, 43 und 79f.: »Rückkehr der Juden nach Palästina«.
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Stadium entstanden. Es ist mit sechs Millionen Toten erkauft« (Steiner 2009, 127). Er war sicher, dass die Entwicklung zu einem jüdischen Staat führen würde: »Das Wiedererstehen des Tempels wollen die Europäer verhindern. So gleicht das Ende dem Anfang: Kampf in Palästina. Zu diesem Kampf werden die Juden gezwungen, sie führen ihn, ob sie wollen oder nicht. Sie werden siegen, auch wenn sie schwach sind, so ist die Geschichte« (Steiner 2009, 54). So notierte er im April/Juni 1946. Andererseits – das ist bis heute aktuell – sollte und durfte dieser Staat für ihn nicht homogen jüdisch sein; auch diese Argumentation bezieht einen historisch-typologisch weiten Horizont ein: »Der Wunsch nach einem modernen jüdischen Nationalstaat in Palästina, aus dem um seiner Homogenität willen die Araber vertrieben werden, verstößt gegen jüdische Grundprinzipien. […] Das Judentum steht und fällt […] mit dem ›Fremden in seiner Mitte‹« (Steiner 2009, 96f.). Im Januar 1947 – der Staat Israel war noch nicht gegründet – stellte er fest: »Immer, wenn die Juden ein Volk sein wollen, wie alle andren, hören sie auf ein Volk zu sein, oder wird ihr Volksein bedroht. Darin liegt auch die Entscheidung, die die modernen jüdischen Nationalisten scheuen« (Steiner 2009, 104). In Israel lebt ein Teil der deutsch-jüdischen Kultur fort, mit Martin Buber, Hugo Bergmann, Schalom Ben-Chorin, Gershom Scholem, Moscheh Ya’akov BenGavriÞl und anderen, so auch die deutsch-jüdische Aphoristik, vor allem mit Werner Kraft und Ludwig Strauß, auch mit Werner Bukofzer, später besonders eindrucksvoll mit Elazar Benyo[tz. Werner Kraft (1896–1991) war Bibliothekar und Literaturwissenschaftler in Hannover. Seine Familie, schreibt er in seiner Autobiographie »Spiegelung der Jugend«, sei mit dem Philosophen Hermann Cohen bekannt gewesen. Den Antisemitismus vor 1914 erlebte der Schüler an konkreten Fällen; er bemerkt lapidar : »Jeder wusste, dass es Antisemitismus gab, man wurde mit ihm fertig, er glitt ab« (Kraft 1973, 13). Er wurde 1934 entlassen und emigrierte nach Jerusalem. Auch ihn machte das Exil zum selbstbewussten Juden, ohne dass er je ein gläubiger Jude gewesen wäre: »Erst nach 1933 wusste ich endgültig und für immer, dass ich kein Deutscher war, dass ich ein Jude bin« (Kraft 1973, 14f.). Und weiter : »Ihm wurde nun von einer verbrecherischen Gewalt diktiert, dass die Juden dem deutschen Volk nur durch die Sprache angehören« (Kraft 1973, 15). Auf dieser Zugehörigkeit beharrte Kraft zeitlebens. 1972 resümierte er, das Exil sei ihm zur Heimat geworden, aber : »Ich schöpfte wie bisher aus den Quellen des deutschen Geistes und der deutschen Sprache« (Kraft 1973, 152). Das sind abgeklärte Einschätzungen aus der Distanz. Die Eintragungen in seinem Tagebuch aus den ersten Monaten des Exils zeugen – nicht ohne Selbstwidersprüche – von seiner ständigen unmittelbaren Reflexion:
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29. 4. 1934 Paris: »Assimilation ist unmöglich, weil sie sich zwangsmäßig allen denjenigen ideelichen Voraussetzungen assimilieren muß, deren Problematik der kritische Verstand als unassimilierbar erkennen mußte. So darf ich sagen: Ich bin Deutscher kraft Sprache und Geist, ich bin Jude kraft einer bestimmten Tradition, die zu realisieren ich nur innerhalb deutscher Sprache und Denkformen die bedingte aber durchaus beglückende und unproblematische Möglichkeit habe« (Drews 1996, 54). 18. 8. 1934 Jerusalem: »Deutsche Juden, die unter dem herrlichen Sternenhimmel Jerusalems die Loreley singen – widerlicher Eindruck!« (Drews 1996, 56). Am 8. 1. 1935 in bewusster Paradoxie: »Meine Assimilierung an den deutschen Geist ist so problemlos, daß ich mich frei und froh als Jude fühle, ohne die geringste seelische Belastung, anders als Borchardt, ja selbst als Kraus« (Drews 1996, 59). Und am 7. 6. 1935: »Konvention des deutschen Juden in Hinblick auf Palästina: Die Lüge der Heimkehr. – Ich bin nicht heimgekehrt« (Drews 1996, 61).
Sein intellektuelles Leben war reich an wichtigsten (und konträren) direkten Einflüssen. Mit Theodor Lessing, dem in völkischen Kreisen verhassten Philosophiedozenten in Hannover, der 1933 floh und in der Tschechoslowakei ermordet wurde, und mit Gershom Scholem war er bekannt. Walter Benjamin war sein Jugendfreund, im Pariser Exil trafen sie sich wieder. Eher als von Kraus ist von Rudolf Borchardt zu sagen, er habe geistig bestimmend gewirkt. Aufschlussreich für sein aphoristisches Werk ist neben dem Einfluss von Kraus, dem er zwei Untersuchungen widmete und auf den er immer wieder zurückkam, auch die Beziehung zu Kafka, zu dem er gleichfalls zwei Studien verfasste. Zu Ludwig Strauß, dem Freund und engen Nachbarn in Jerusalem, hatte er eine besondere Beziehung; er betreute dessen Werk. Den Band »Fahrt und Erfahrung«, in dem ursprünglich – unter dem Titel »Buch der Betrachtungen« – auch die Aphorismen »Wintersaat« erscheinen sollten, gab er 1959 heraus, eine Werkauswahl 1963. Und noch 1988 zitierte er Sätze aus »Wintersaat«, »alle wie zum erstenmal gesagt« (Kraft 1988, 25) und ihm geistig äußerst nahe. Zu Canetti äußerte er sich »als Jude« mehrfach distanziert: Elias Canetti, ein noch lebender Jude, hat in einem seiner Bücher den Satz drucken lassen: »Gott hat noch niemals einem Menschen geholfen.« Canetti ist ein bedeutender Schriftsteller und ein Mensch von tiefer Einsicht, ich sage nicht einfach, daß er Unrecht hat, aber ich bin als Jude für Wilhelm Kütemeyer (Kraft 1988, 24).135 So sagt Canetti auch: »Ich will mich so lange zerbrechen, bis ich ganz bin.« Das ist sehr stark. Aber der chassidische Satz, der bei Buber steht »Das zerrissene Herz muß ganz sein« ist noch stärker. Etwas fehlt bei Canetti in dem Maße des absoluten Anspruchs seiner Sätze (Kraft 1988, 48). 135 »Dieser Mann […] hat in meinem Leben Epoche gemacht« (Drews 1996, 145). So hat sich Kraft über den Zeitschriftenherausgeber (und späteren Militärarzt mit Verbindungen zum Widerstand) Kütemeyer geäußert.
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Damit nicht genug: Über Kraft führt der Weg vom deutsch-jüdischen Aphorismus zum deutschsprachigen Aphorismus Elazar Benyo[tz’ zwei Generationen später. Der Jüngere legt seine ersten Texte dem arrivierten Schriftsteller vor, der sie einzeln kommentiert (Benyo[tz 1992, 67–84). Aber aufs Ganze gesehen ist Kraft eher der Mann der Literaturbetrachtung denn der Literatur. »Aufzeichnungen«: so nennt er verschiedenartige kurze nichtfiktionale wie fiktionale Texte, Prosaminiaturen, Exempel-Geschichten, die Adornos »Minima Moralia« nahekommen, aber mehr vom Narrativen bestimmt sind, Parabeln, Sprachreflexionen, Traumerzählungen mit Titeln wie »Zeit aus den Fugen« (1968) oder »Wahrheitsfetzen« (1988). Innerhalb dieser Vielzahl kurzer Formen finden sich hier und da auch Texte, die dem Aphorismus nahestehen. Der spezifisch aphoristische Anteil ist in den Sammlungen »Zeitvertreib« und »Hoffnung« eigens herausgestellt (Kraft 1968, 213–234, 237–240), in »Sätze und Ansätze« (Kraft 1991) ist er ausschließlich bestimmend. Noch vor 1933 war Kraft in »Kleinen Denkversuchen in großer Zeit« ebenso verfahren: Besser das Falsche tun als das Richtige nicht wissen (Drews 1996, 39). Hitler glaubt an Gott (Drews 1996, 40).
In »Zeit aus den Fugen« liest man diese von bitterstem Erleben geprägte und in schwärzester Paradoxie formulierte Reflexion, bei der sich jeder Kommentar erübrigt: »Auch der Säugling, wenn er größer wird, muss zugestehen, dass er getötet werden musste, weil die Geschichte es so wollte« (Kraft 1968, 125). Und auch diese Anekdote verdient wohl, wenngleich am Rande der Gattung, in einem Text über den deutsch-jüdischen Aphorismus im 20. Jahrhundert festgehalten zu werden: Die neue Wirklichkeit. Als gejagt von Hitler die Juden nach Palästina kamen, kaum noch lebendiges Strandgut, war Ludwig Strauss in dem Kinderdorf Ben Schemen unter denen, die der Jugend Unterricht gaben. Einmal stellte er in einer Gruppe die Frage, ob jemand wisse, was Weimar sei, und erhielt blitzschnell die Antwort: »Eine Stadt in der Nähe von Buchenwald« (Kraft 1968, 157).
Der in Jerusalem lebte und wie bisher »aus den Quellen des deutschen Geistes und der deutschen Sprache« schöpfte, schrieb »Aphorismen, für den Computer unverdaulich, die Hoffnung eines Hinterbliebenen der Sprache« (Kraft 1991, 53). Ihre Analyse drängt den Schluss auf, dass auch sie zwischen dem maßgeblich von Kraus beeinflussten und dem von Kafka geprägten Typus anzuordnen sind. Zum einen sind die Mittel darin, von der Sprichwortvariation bis zum Paradoxon und zur Antithese, zwar so geläufig, dass man nicht behaupten kann, Kraft habe sie gerade von Kraus gelernt, aber im Einzelfall drängt sich der Vergleich dann doch deutlicher auf: »Ich hoffe, daß ich die Wahrheit sage, die ich
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nicht habe« (Kraft 1991, 50). Er entwickelt dasselbe Sprachpathos wie das Vorbild: »Aus jeder Falle, in die dich der Zweifel stürzt, erhebe dich. Es gibt keine andere Rettung als die Sprache, den Weg zur Wahrheit« (Kraft 1991, 47). Dann aber finden wir bei ihm »Sätze«, die alles andere als »Ansätze« sind, die sich in keiner Weise auf Kraus und die ganze hinter ihm stehende Tradition zurückführen lassen: »Dem Schein in die unergründlichen Augen sehen, bis sie sich schließen« (Kraft 1968, 239). Und in »Sätze und Ansätze«: Das Vergessen nimmt den Menschen in die Mutterarme des Gedenkens (Kraft 1991, 47). Die ungestörte Fortsetzung des Unglücks trocknet die Tränen (Kraft 1991, 51).
Hier begegnet uns der Bild-Aphorismus in der neuen Art, wie sie bei Kafka ausgebildet ist. So will es nicht als Zufall scheinen, wenn Kraft in »Zeitvertreib« auf Kafka Bezug nimmt, und zwar wieder nicht auf die relativ umfangreiche Erzählprosa, sondern wiederum auf einen der Aphorismen: »Das Gute ist in gewissem Sinne trostlos« (Kraft 1961, 218).136 Wenn jemand als der Aphoristiker des Zionismus zu bezeichnen ist, so Ludwig Strauß (1892–1953). Erst spät ist ihm eine begrenzte Resonanz in einem Sammelband zuteil geworden, der nicht nur seine Lebensstationen erhellt und sein breit gefächertes Werk samt seiner Kernideen analysiert, sondern auch die diversen politischen Aspekte zwischen Konservativismus, Sozialismus, Zionismus und Messianismus herausarbeitet und seine Position im Vergleich zu Gustav Landauer, Benjamin, Goldstein, Scholem sowie natürlich Buber und anderen erörtert, in seiner Zeit in Palästina zu Kraft sowie zur nächsten Generation, Tuvia Rübner und Dan Pagis etwa (Horch 1995). Der Schwiegersohn Martin Bubers war kulturzionistisch aktiv ; er wollte die Fixierung der Juden auf die deutsche Kultur durch Dissimilation revidieren (Horch in Kilcher 2012, 488). In diesem Sinne griff er auch in die »Kunstwart-Debatte« von 1912 ein. In einem Aufsatz in dem Sammelband »Vom Judentum« formulierte er 1913 prononciert: »Freie Juden können wir nicht werden, solange wir in einem fremden Kulturkreis stehen. Und unsere Entfremdung von dem uns umgebenden Volk, unsere kulturelle Geschlossenheit als Juden müssen wir […] mit allen Mitteln fördern« (zit. nach Shedlitzky in Horch 1995, 173). 1919 war er als Redakteur Zionist und Sozialist. In seinen Erzählungen aus der Zeit des Expressionismus war der deutsch-jüdische Diskurs der leitende Gesichtspunkt (Strauß 1998; 1, 575–576). Auch mit zahlreichen Übertragungen aus dem Jiddischen wurde er zum Vermittler. »Sprache war für ihn Zwiesprache, Zwiesprache von Jüdischem und Deutschem, von Hebräischem und Deutschem, von Deutschem und Jiddi136 Vgl. Kafka 1992, 119.
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schem« (Rübner in Horch 1995, 112). Was andere deutsch-jüdische Aphoristiker von Auerbach bis Hermann schmerzhaft als Zwiespalt erleben oder, wie Benjamin, als Zweigeist bejahen, formt er zur Zwiesprache.137 Auch er kam im Übrigen von der unseligen »Blut«-Metaphorik nicht los: »In Hugo von Hofmannsthal flossen deutsches, jüdisches und italienisches Blut zusammen« (Strauß 1998; 2, 103), so leitete er 1933 einen Hofmannsthal-Essay ein. Sein Gedichtband »Land Israel« »entstand zum letzten möglichen Zeitpunkt, zu dem eine wie auch immer geschichtlich vorbelastete Synthese deutscher und jüdischisraelischer Traditionen noch einen menschheitlichen Ausblick als Bastion gegen die nationalsozialistische Barbarei abgeben konnte« (Shedlitzky in Horch 1995, 173; dazu Strauß 1998; 2, 355–356). Der Aachener Privatdozent wanderte im gleichen Jahr 1935 (nach eigenem Verständnis) nach Palästina ein, das für ihn zur alt-neuen Heimat wurde; auch als Dichter war er ähnlich wie Pollak zweisprachig. Spätestens seit 1915 verfasste er auch Aphorismen und Sätze, vermehrt seit Mitte der dreißiger Jahre. Nach kleineren Teilpublikationen erschien »Ein Buch aus Sätzen« unter dem Titel »Wintersaat« noch im Todesjahr des Autors. Gleichzeitig reflektierte er in einem Aufsatz »Zur Struktur des deutschen Distichons« für die Zeitschrift »Trivium« die »Distichische Struktur im ProsaAphorismus« an Beispielen von Novalis und Goethe (Strauß 1998; 2, 71–75, 395– 396). Man mag seiner These von der »grundsätzlichen Übereinstimmung der Struktur vieler Prosa-Aphorismen mit der des distichischen Epigramms« (75) nach der schmalen Belegreihe noch skeptisch gegenüberstehen. Einen Beweis seines hohen Verständnisses für die metrisch-rhythmischen Qualitäten der Aphoristik, auch der eigenen, gibt er damit allemal. Von Goethe und Hofmannsthal herkommend, hält er sich in seinen Aphorismen von reinem Ästhetizismus wie von platter Indienstnahme der Kunst gleich weit entfernt und sucht seinen Platz zwischen Liberalismus und jüdischem Glauben, zwischen Schönheit und Gemeinschaft. Im Sinne des Zionismus sucht er nach Wegen, Gemeinschaft zu gestalten (Strauß 1998, 268), hat aber von George gelernt, »daß heute der Weg von der Schönheit zur Gemeinschaft nicht gangbar ist« (Strauß 1998; 1, 274). Strauß betont, von Buber her, den dialogischen Charakter religiöser Versenkung: »Wenn nicht mehr du siegst, sondern die Sache, so gibt es keinen Besiegten« (Strauß 1998; 1, 249). Das Verhältnis des Propheten zum Volk Israel wird insgeheim zum Vorbild für das Verhältnis des Dichters zu seinem Publikum. Spricht er hier von diesem »Volk«: »Ein Volk, sofern es einfach lebt, ist einfach liebenswert. Ein Volk, sofern es organisiert handelt, ist zu allem Großen und zu allen Greueln fähig« (Strauß 1998; 1, 263)? Oder, im zweiten Satz, 137 Gegen Benjamin setzte er sich in scharfen Widerspruch, vgl. Strauß 1998; 2, 341–344; die Erläuterungen mit weiterer Literatur 450.
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vom deutschen »Volk«? Insbesondere zwei der traditionellen formalen Vorbilder erfüllen die Aphorismen der »Wintersaat«: die Paradoxie und den Imperativ. Der Imperativ erscheint in sich widersprüchlich oder gar paradox gebrochen: »Flüchte dich nicht ins Geheimnis! Fliehe nicht aus dem Geheimnis« (Strauß 1998; 1, 278). Und er wird, wenngleich selten, ins Poetische weiterentwickelt: »Vergiß nicht das Fleisch überm Blut, das Blut überm Hauch, den Hauch überm Geist! Vergiß nicht den Geist überm Hauch, den Hauch überm Blut, das Blut überm Fleisch! Nur wo sich alle Strahlen begegnen, schwebt der wirkliche Stern« (Strauß 1998; 1, 257). Zu diesen zwei von der Gattung her gesehen klassischen Elementen treten als das Neue aphoristisch-lyrische Töne hinzu. Über die klassische moralistische Kürze hinaus führt der Weg zum absoluten BildAphorismus: »Es gibt Holz, das von Früchten träumt, und Holz, das von Flammen träumt« (Strauß 1988; 1, 244). Nicht nur thematisch, in Weg und Ziel, wird man dabei zuweilen an Kafka erinnert: »Dein Weg ist der in die Zeit hinaus sprießende und blühende Zweig deines ewigen Ziels« (Strauß 1998; 1, 284). Es ist dies lyrisch-aphoristische Verschwisterung nicht anders als vereinzelt bei Kraft und Baermann Steiner. Dieser neue Ton durchwirkt auch den Strauß eigenen biblisch-messianischen Aspekt, Metapher und Vergleich herrschen hier vor: Der siebte Tag siebt das Schaffen der sechs durch das Sieb der Ruhe (Strauß 1998; 1, 282). Die Welt ohne Gott hat viele Gesichter, aber kein Gesicht (Strauß 1998; 1, 289). Das biblische Gedicht ist ein lebendiger Raum, in den du eingehen kannst wie in den Schatten eines uralten, mit dem Wind des Himmels redenden Ölbaums (Strauß 1998; 1, 274).
Ganz im messianischen Sinne und in aphoristischer Überspitzung zugleich heißt es da: »Wer sich langweilt, hindert das Kommen der Erlösung« (Strauß 1998; 1, 283). Erlösung durch die Kunst und messianische Utopie kommen zur Deckung: »Im Reich Gottes geht alles Leben auf, alle Geschichte unter« (Strauß 1998; 1, 262). Gerade im (geglückten) Kunstwerk sieht Strauß einen messianischen Vorschein: »Die vollendeten Kunstwerke sind Inseln der messianischen im Meer der unerlösten Zeit« (Strauß 1998; 1, 267). Prophet, Erlösung: Das Konzept, mit dem Strauß in seinen Aphorismen Literarisches und JüdischMessianisches zusammenbringt, ist in dieser Konsequenz in der deutsch-jüdischen Aphoristik einzigartig. Und in Bezug auf den Holocaust formuliert er in der Interpolation von Vergessen und Erinnern einen Aphorismus, der für seinen Kommentator zu Recht »einer der eindrücklichsten Sätze« (595) ist: »Von all den Aufgaben, die das Gesetz des rechten Maßes uns stellt, ist dies vielleicht die schwerste: so weit vergessen können, daß wir noch zu leben vermögen, und doch
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so weit uns erinnern, daß wir die Botschaft des überstandenen Grauens an uns nicht verscherzen« (Strauß 1998; 1, 241). Der Schauspieler und Rezitator Werner Bukofzer (1903–1985) ist in Berlin geboren, wirkte nach 1933 beim Jüdischen Kulturbund und emigirierte 1939 ebenfalls nach Palästina, wo sich Max Brod seiner annahm; seine Verwandten wurden von den Nazis ermordet. »Ich war, als 1933 die Nazis an die Macht kamen, kein Zionist. Das Sichloslösen war für mich ein langer, schwieriger Prozess; der Assimilierungsprozess war schon weit fortgeschritten«, schreibt er (Bukofzer 1968, 31). Seine »Splitter« (1968) haben mit dem Gedankensplitter nichts gemein, sondern heben im Wesentlichen auf die fortdauernde biographische Verletzung des Emigranten ab. Zwischen kleinen »Betrachtungen, Bekenntnissen, Erinnerungen, Hinweisen, Träumen« ist das Aphoristische nur am Rande von Belang: Das ist uns noch geblieben: die Liebe kann man gottseidank nicht erzwingen (Bukofzer 1968, 11). Stehenbleiben ist bereits ein Rückwärtsgehen (Bukofzer 1968, 21).
Das Kapitel IV »Politisches« ist aber eine vorzügliche Quelle für die IsraelEmigration, von Auschwitz bis zum Sechstagekrieg 1967, die auszuwerten hier nicht der Ort ist (Bukofzer 1968, 83–102). Die USA, England und Israel sind die ›klassischen‹ Exilländer der vertriebenen deutschsprachigen Juden. Aber das Exil reicht bekanntlich bis nach Australien, Neuseeland und Brasilien. Speziell für die Aphoristiker sind dazu noch die Niederlande und die Schweiz zu nennen; die Schwelle des Jahres 1945 wird wie bei Bukofzer dabei schon überschritten. Die Aphorismen des Kunsthistorikers Max Jacob Friedländer (1867–1958) nehmen in einer Anthologie »Deutsche Aphorismen« zu Recht einen nicht unbedeutenden Platz ein.138 Friedländer emigrierte 1938 in die Niederlande. Das Vorbild, um das sie sich ständig bewegen, ist Schopenhauer, der – im Gegensatz zu Nietzsche – »nie geistreich auf Kosten der Wahrhaftigkeit« (Friedländer 1967, 23) gewesen sei. Dies ist auch die Maxime der eigenen Aufzeichnungsarbeit, die, weit über die Profession hinaus, in die klassischen moralistischen Themen, Eitelkeit, Mut, Jugend und Alter, ausgreift, zum Beispiel in der Form des ErAphorismus: »Er ist zu klug, um Ansichten zu haben, mindestens um an Ansichten festzuhalten, ihnen zu trauen« (Friedländer 1967, 16). Sie stellt sich den Literaten ›von Haus aus‹ ebenbürtig an die Seite: 138 Federico Hindermann, Bernhard Heinser (Hg.): Deutsche Aphorismen aus drei Jahrhunderten. Zürich: Manesse 1987, S. 244–249.
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Man soll halbe Wahrheiten nicht scheuen, zwei halbe Wahrheiten, die sich zu widersprechen scheinen, ergeben mitunter eine ganze (Friedländer 1967, 24). Humor fühlt das Lächerliche, Witz erkennt es (Friedländer 1967, 55).
Neben vielen Lektürekommentaren des Gelehrten ist natürlich die bildende Kunst eines der am meisten reflektierten Themen, in Bemerkungen zu einzelnen Malern wie im Grundsätzlichen. Aber die Aphorismen verraten insgesamt ebenso viel Sprach- wie Sehsensibilität. Ihre geheime Grundüberzeugung ist die vertraute antisystematische: »Wenn das System einmal da steht, pflegen sich die Fenster der Beobachtung zu schließen« (Friedländer 1967, 53f.). Friedländer lässt sich auch äußerst deutlich über die Exilsituation aus. Als Reflex auf die Zeit denkt er nicht nur über den Rasse-Begriff nach (»Je reiner die Rasse, umso geringer die geistige Beweglichkeit. Trifft auf Juden freilich nicht zu.«; Friedländer 1967, 32), sondern auch über sich, den Emigranten, und keineswegs in der erwarteten Weise: Der Emigrant hat den Vorteil, sich frei machen zu können von den Konventionen, Vorurteilen der Heimat, und sich fernhalten zu können von den Konventionen und Vorurteilen der neuen Heimat. In der Fremde leichter, das Eigene zu entwickeln, wenn anders Eigenes vorhanden. Man kann Emigrant sein, ohne das Geburtsland verlassen zu haben (Friedländer 1967, 36).
Und über das eigene Judentum lässt er die klassische Ambivalenz verlauten, die explizit oder implizit so viele deutsche Juden im 20. Jahrhundert nachvollziehen: »Antisemitismus hat das Judentum konserviert. Ich wäre kein Jude mehr, wenn der Antisemitismus nicht gewesen wäre« (Friedländer 1967, 39; vgl. 53 u. ö.). Eine Randfigur innerhalb der Gattungsgeschichte ist Jakow Trachtenberg (1882–1951), der sich 1945 in die Schweiz retten konnte. Er ist in Russland geboren, lebte bis 1934 in Deutschland und floh dann nach Wien, wo er 1938 verhaftet wurde. Er konnte erneut fliehen, diesmal nach Jugoslawien. Nach erneuter Inhaftierung verbrachte er fünf Jahre in deutschen Konzentrationslagern; dort entwickelte der Ingenieur eine Schnellrechenmethode, die ihn später berühmt machte. In der Schweiz veröffentlichte er 1952 »Ausgewählte Aphorismen«, datiert von Juni 1940 bis April 1945. »In einer Zeit der Vermörderung des Menschen« bewahrte er sich seinen unbedingten Glauben an Geist und Seele, die inneren Kräfte: Nur einen Helden erkenne ich an und knie vor ihm nieder : den des Geistes (Trachtenberg 1952, 44). Mit Drahtmauern beschütze dein Inneres vor der Aussenwelt. Es ist dein grösster Schatz (Trachtenberg 1952, 24).
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Seine moralistischen Grundsätze variieren das seit der Antike tradierte Spruchgut von einer Position umfassender Güte aus. Diese Innerlichkeit bekommt aber in einem Kontext von ständiger Verfolgung einen anderen Sinn, ist hier echte (Selbst-)Bewahrung. Im April 1942 notierte er : »Die Seele reißt auch die dicksten Gefängniswände nieder« (Trachtenberg 1952, 23). Die ständige Berufung auf die Seele ist auf eine besondere Art austariert durch die ebenso ständige Anwesenheit des Hungers: »Der leere Magen zehrt an der Seele« (Trachtenberg 1952, 37). Die Schweiz hat in unserem Zusammenhang mit dem Zürcher Kreis um Margarete Susman und Max Rychner zusätzliche Bedeutung. Beide stehen nämlich an vielen Stellen des deutsch-jüdischen Aphorismus im Hintergrund. Die Lyrikerin, Essayistin und Philosophin Susman (1872–1966) kommt hier nicht nur mit ihrem Buch über Rahel Varnhagen und ihrem einflussreichen Kafka-Essay in Betracht, in dem sie die Geschichte des jüdischen Volkes aus dem Buch Hiob erklärt, sondern vor allem auch mit ihrem Einfluss auf Paul Celan und ihrer ›großmütterlichen‹ Freundschaft zu Elazar Benyo[tz.139 Auch Max Rychner (1897–1965), der als Kritiker, Redakteur und Essayist über Jahrzehnte kulturpolitische Schlüsselpositionen innehatte, war unter anderem für Celan von Bedeutung, den er ›entdeckte‹ und förderte; Celans lyrische Aphorismen »Gegenlicht« erschienen 1949 in »Die Tat«, deren Kulturredaktion Rychner jahrzehntelang leitete.140 Auf der Suche nach den verschütteten deutsch-jüdischen Quellen suchte auch Benyo[tz ihn auf, wovon ein Briefwechsel zeugt (Benyo[tz 1996, 37–51; Benyo[tz 2001, 96–106; Benyo[tz 2009, 37, 39f.).141
»Es gibt uns nur noch hie und da, und da und dort, es gibt uns, deutsche Juden, in Wahrheit nicht mehr.« Die deutsch-jüdische Aphoristik nach 1945 Das Jahr des Kriegsendes bedeutete für die deutsche Exilliteratur und damit für die deutsch-jüdische Aphoristik nur sehr bedingt einen Einschnitt. Es gab keine schnelle Rückkehr, es gab auch kein Anknüpfen an 1933 oder 1938. Die in den Jahren vor 1945 begonnene Arbeit setzte sich zum Beispiel bei Elias Canetti oder 139 Vgl. unten S. 160. 140 Vgl. unten S. 149. 141 Gegen Ende seines Lebens veröffentlichte Rychner übrigens selbst Aphorismen, eingebettet in einen lockeren fiktionalen Rahmen: »Lavinia oder Die Suche nach Worten« (1962). Darin entwickelte er ein Weltbild, in dem Harmonie, Ordnung und Sprachzucht herrschen, das sich gegen Kollektivismus und Sozialismus, Utopismus und Nihilismus wendet, auf dem Vorrang der Tradition besteht und sich gegen die Moderne überhaupt skeptisch verhält. Vgl. Spicker 2004, 595–596.
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Werner Kraft im verstärkten Maße fort. Eine ausschließlich an der Chronologie orientierte Darstellung würde diese beiden Autoren (gestorben 1994 bzw. 1991) nicht in verschiedenen Kapiteln abhandeln. Ich habe mich dafür entschieden, in dem einen Fall den Zusammenhang mit Ludwig Strauß (gestorben 1953) herzustellen, im andern Fall den Zusammenhang mit Franz Baermann Steiner (gestorben 1952) zu vernachlässigen, weil Canettis Werk weit darüber hinauswächst. Sollte Erich Frieds lyrisch-aphoristisches Werk, das Israel thematisiert und extrem in die Bundesrepublik hineinwirkt, aus dem Umstand interpretiert werden, dass der Autor seinen Wohnsitz in England bis zu seinem Tode 1988 beibehielt? Eine konsequente Teilung ist nicht möglich.142 So orientiert sich das letzte Kapitel zwar auch noch lose an den Exilländern Großbritannien, USA, Frankreich, Israel, ist aber mit den zwei Höhepunkten Elias Canetti am Anfang und dem 1938 in Wiener Neustadt geborenen Israeli Elazar Benyo[tz am Ende im Prinzip eher ›dramaturgisch‹ aufgebaut.
Seit den siebziger Jahren kam Elias Canetti (1905–1994), der Nobelpreisträger von 1981, gerade auch mit seinen Aufzeichnungen zu einzigartiger Geltung. Seit 1973 (»Die Provinz des Menschen«) erschienen sie in diversen Auswahlbänden. Sie bilden im Konsens von Kritik und Forschung nach Lichtenberg, Nietzsche und Kraus den vierten Höhepunkt in der deutschsprachigen Gattungsgeschichte. Canetti wuchs in Bulgarien auf; die Muttersprache des sephardischen Juden war das judenspanische Ladino. Er stand von früh auf zwischen der Mutter, die die ostjüdische Tradition verachtete und die jüdischen Gebote außer Geltung setzen wollte, und dem orthodoxen Großvater. Mit dem Zionismus wurde er in der eigenen Familie konkret konfrontiert; das Kapitel »Der Redner« im zweiten Teil der Autobiographie »Die Fackel im Ohr« berichtet eindrucksvoll von der Auswanderungsstimmung. Er konnte dem Zionismus aber nichts abgewinnen, Fragen der Assimilation spielten eine viel wichtigere Rolle. Canetti ist aber auch nicht einfach ein Assimilant in der Tradition des liberalen Judentums. Alle historischen Lösungen (Zionismus, Assimilation, Orthodoxie) kamen für ihn als ungläubigen Juden nicht in Frage (Stieg in Kilcher 2012, 99). Der Kern seines Judentums liegt in der Bibel, als große Literatur, nicht als religiöses Gesetzeswerk verstanden. Zwischen 1912 und 1916 und nach 1924 lebte er in Wien, zwischenzeitlich auch in Deutschland. Kraus, dessen Vorlesungen er besuchte und den er zeitweise verehrte, ist für ihn der klassische Fall jüdischen Selbsthasses in der Interpretation Weiningers. 1938 musste er nach London emigrie-
142 Vgl. dazu die Eingangserörterung zum deutsch-jüdischen Aphorismus im Exil, oben S. 112f.
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ren; dort war er unter anderem mit Steiner und Fried befreundet. Nach 1945 lebte er meist in der Schweiz. In seinem gesamten Werk wird das Jüdische immer wieder thematisiert. Der groteske jüdische Zwerg Fischerle, den die Hauptfigur seines Romans »Die Blendung« (1936), Dr. Kien, für seinen einzigen Freund hält, ist als Widerruf der deutsch-jüdischen Symbiose zu verstehen. Ein Aspekt sei gesondert herausgehoben: In seiner Studie »Masse und Macht«, die erst 1960 erschien, gibt es im Kapitel »Masse und Geschichte« nach den Engländern, den Deutschen, den Franzosen und anderen Nationen auch einen kurzen Abschnitt zu den Juden. Der Jude beginnt ihn so: »Kein Volk ist schwieriger zu begreifen als die Juden.«143 Mit dem Anschein wissenschaftlicher Objektiviertheit zeigt er im Weiteren ihre Anpassung und ihre Variationsbreite: »Sie sind anders als die andern. Aber in Wirklichkeit sind sie, wenn man so sagen könnte, untereinander am meisten anders.«144 Dann berührt er die Frage der Assimilation: »Oberflächlich betrachtet, vom ordinären Standpunkt der Selbsterhaltung aus, sollten sie alles daransetzen, vergessen zu machen, dass sie Juden sind, und es selber vergessen. Aber es ist so, dass sie es nicht vergessen können, meist wollen sie es auch nicht.«145 Sein Schluss liegt auf der Linie seines speziellen Erkenntnisinteresses. Es sei der Auszug aus Ägypten, der die Juden zu Juden mache, und darin sieht er im Sinne seiner Untersuchung das »Massensymbol der Juden«.146 Canetti schrieb neben seiner zwanzig Jahre langen Arbeit an dieser Studie seit 1933 nahezu täglich Aufzeichnungen nieder, konsequent seit 1942, da er sich größere fiktionale Arbeiten in dieser Zeit verbat. Diese Praxis behielt er bis zum Ende seines Lebens bei. Besonders die frühen Aufzeichnungen der Jahre 1942– 1948 haben Judentum und Holocaust häufig zum Thema. Schon 1942 heißt es: »Es wird noch Juden geben müssen, wenn der letzte Jude ausgerottet ist« (Canetti 1965, 26). Und im August 1945 findet sich der eigenartige Eintrag im Stile typisch aphoristisch-konjunktivischer Überlegung: »Hitler müsste jetzt als Jude weiterleben« (Canetti 1965, 93). Dazu kommt die sonderbar distanzierte frühe Bilanzierung der Judenvernichtung; nicht zuletzt drückt sich hier auch der Machtanalytiker aus: Die Leiden der Juden waren eine Institution geworden, aber sie hat sich überlebt. Die Menschen wollen nichts mehr davon hören. Mit Staunen haben sie davon Kenntnis genommen, dass man die Juden ausrotten könnte; sie verachten, ohne es vielleicht selber zu merken, die Juden jetzt aus einem neuen Grund. Gas ist in diesem Krieg verwendet worden, aber nur gegen die Juden, und sie waren hilflos. Dagegen hat auch 143 144 145 146
Elias Canetti: Masse und Macht. 2 Bände. München: Hanser 1976. 1. Bd., S. 195. Ebd., S. 196. Ebd. Ebd., S. 197.
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das Geld, das ihnen früher Macht gab, nichts vermocht. Die Degradierung ist gelungen; bei den anderen, die es vernommen haben, werden die Spuren davon schwerer zu verwischen sein als bei den Juden selbst. Jeder Akt der Macht ist zweischneidig; jede Erniedrigung steigert die Lust dessen, der sich überhebt, und steckt andere an, die sich ebenso gern überheben möchten. Die sehr alte Geschichte der Beziehung anderer Menschen zu den Juden hat sich grundlegend verändert. Man verabscheut sie nicht weniger ; aber man fürchtet sie nicht mehr. Aus diesem Grund können die Juden keinen größeren Fehler begehen, als die Klagen fortzusetzen, in denen sie Meister waren und zu denen sie jetzt mehr als je Anlass haben (Canetti 1965, 96).
Er reflektiert dabei immer wieder auch seine Stellung zum Judentum, so 1944: Die größte geistige Versuchung in meinem Leben, die einzige, gegen die ich sehr schwer anzukämpfen habe, ist die: ganz Jude zu sein. […] Ich habe meine Freunde verachtet, wenn sie sich aus den Verlockungen der vielen Völker losrissen und blind wieder zu Juden, einfach Juden wurden. Wie schwer wird’s mir jetzt, es ihnen nicht nachzutun (Canetti 1965, 71).
Jüdische Vereinnahmung; das ist es, was er hier am meisten fürchtet. Ungeachtet der »neuen Toten«, die ihn darum bäten, erörtert er die vage Idee eines Weltbürgertums: »Soll ich mich den Russen verschließen, weil es Juden gibt, den Chinesen, weil sie ferne, den Deutschen, weil sie vom Teufel besessen sind? Kann ich nicht weiterhin allen gehören, und doch Jude sein?« (Canetti 1965, 71). Auch zu der Sprache, in der er schreibt, stellt er von seinem Judentum her Überlegungen an, die der Paradoxie nicht entbehren und ungeachtet der Gräuel Nazi-Deutschlands eine geistige Verbundenheit bezeugen. Er hatte das Deutsche weder als Muttersprache noch als gewöhnliche Umgangssprache, aber – so noch im Kriegsjahr 1944: Die Sprache meines Geistes wird die deutsche bleiben, und zwar weil ich Jude bin. Was von dem auf jede Weise verheerten Land übrig bleibt, will ich als Jude in mir behüten. Auch ihr Schicksal ist meines; aber ich bringe noch ein allgemein menschliches Erbteil mit. Ich will ihrer Sprache zurückgeben, was ich ihr schulde. Ich will dazu beitragen, dass man ihnen für etwas Dank hat (Canetti 1965, 73).
Durch die Einschmelzung des Gattungsmäßigen ins Eigene wird er zu dem großen neuen Vertreter der Gattung. An den beiden Aspekten, die im Mittelpunkt stehen, lässt sie sich klar erkennen: an der konzentrierten Kürze und an dem Antisystematischen. Kürze ist ihm unbedingte Forderung: »Eine Aufzeichnung muss wenig genug sein, sonst ist sie keine« (Canetti 1992, 120). Und mit eben dieser für die Gattung zentralen Forderung bringt er ein Leitmotiv seines Lebens zu bemerkenswerter Deckung: »Er will so knapp sein, als würde er im nächsten Augenblick abberufen. Er will so dicht sein, dass er nie mehr abzuberufen ist« (Canetti 1994, 172). Canetti will nicht nur jeweils »so knapp sein«, dass er zu keinem Zeitpunkt aus einem Zusammenhang herausgerissen
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werden kann, er will sich sogar des Todes durch die ›Dichte‹ seiner Aufzeichnungen erwehren. Erste Bedingung dafür, dass sie als »Pens8es gegen den Tod« gelten können, ist ihre bruchstückhafte Vereinzelung: »Pens8es gegen den Tod. Das einzig Mögliche: sie müssen Fragmente bleiben. Du darfst sie nicht selbst herausgeben. Du darfst sie nicht redigieren. Du darfst sie nicht einigen« (Canetti 1992, 117). Die Integration von gattungsgeschichtlichem Kernaspekt und biographischem Zentralmotiv zeigt sich in der Auseinandersetzung mit dem System in eher noch markanterer Weise. Aus dem klassischen Affekt des Aphoristikers gegen das System, der sich bei ihm über Jahrzehnte hinweg verfolgen lässt, geht der Aphorismus als die Form der Verwandlung hervor: »Die Abneigung gegen Systeme entspringt einem Verlust. Immer geht etwas verloren, wenn ein System sich schließt. […] Noch schlimmer ist es, dass sie [die Dinge] als Teil des Systems ihre Verwandlungsfähigkeit verlieren« (Canetti 1999, 28). Das der Aphoristik eigene lebendige Denken ist damit bei ihm nicht nur weitergeführt, sondern in der Form der Verwandlung wiedergeboren; die Gattung und ihr Autor sind schlüssig und unwiderruflich verknüpft. Er wählt sie als die notwendige Form seiner Weltanschauung. Von welcher Seite immer man sich Canettis Aufzeichnungen nähert, ob von Gattungsfragen her, ob von Motivuntersuchungen (die Mythen und die Tiere, Macht und Masse, Sprache, Tod und Todeshass) oder Formaspekten: man stößt in ein Zentrum vor, in dem sich lebendiger Einzelsatz und Verwandlung mit dem Hass auf den Tod als Hass gegen Systeme und Mythos zusammenfinden und in dem sich der Aphorismus als von unumstößlicher innerer Notwendigkeit erweist. Es ist vor allem die eigene Bildlichkeit, die das Besondere von Canettis Aphorismus ausmacht und zu wirklichen Neuschöpfungen führt. Die entschiedene Lösung vom aphoristischen Typus Kraus’ und die Nähe zu dem Kafkas ist dabei von Anfang an angelegt. Anders als bei Strauß ist sie aber mit der jüdischen Thematik nicht verknüpft, sondern bleibt in den Grenzen seiner Poetologie. Die Grenze zum Schweigen ist im aphoristischen Sprechen immer markiert. Bei Canetti ist darin eine neuerliche Zuspitzung, sprachlich-formal wie metaphorisch, zu beobachten. Er führt den Leser über ein ebenso starkes wie schönes Bild (»Aphorismen aus geschmolzenem Schweigen.«; Canetti 1996, 16) in eine Aporie: »Denk viel. Lies viel. Schreib viel. Äußere dich zu allem, aber schweigend« (Canetti 1987, 88). Das aphoristische Erlebnisdenken gewinnt eine eigene Beglaubigung durch eine unmittelbar körperliche Bildlichkeit, wie sie Leben und Erlebnis im Atmen ihrerseits lebendig macht: »Zwischen Erleben und Urteilen ist ein Unterschied wie zwischen Atmen und Beißen« (Canetti 1973, 48). In seinen Bildern bleibt der Erkenntnisgrund bestimmend. Gleichwohl dürfen sie als Erfindungen gelten, und Finden oder auch Erfinden, »eine meiner natürlichsten Verfassungen« (Canetti 1994, 199), sind so konstitutiv für seine
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Aufzeichnungen, dass der Begriff ›fiktionaler Aphorismus‹ für sie naheliegt. Ein Bilddenken eigener Art bestimmt Canettis fiktionalen Aphorismus insgesamt. Es ist eine Metaphorik, die vom Körperlichen ausgeht: »Der Alte beißt mit Jahren statt mit Zähnen« (Canetti 1999, 10). Sie wirkt nie hermetisch, sondern ist im Gegenteil bewusst einfach: »Von Zeit zu Zeit wäscht er die Fetzen seines Lebens« (Canetti 1992, 14). Wenn aber »die Metapher die sprachliche Urform der Verwandlung« ist (Lappe 1988, 203), dann ist der Grund für die innere Notwendigkeit dieses Bilddenkens ersichtlich. Es ist nichts als der genuine sprachliche Ausdruck einer Aphoristik, die gegen System und gegen den Tod auf Dichte, Lebendigkeit und also Verwandlung besteht. Canettis Rang innerhalb der Gattungsgeschichte begründet sich darin, dass er sich ihre Elemente und Motive an- und einverwandelt und sie durch diese Verwandlung lebendig macht. Im gleichen Jahr wie Canetti ist der Biochemiker und Essayist Erwin Chargaff (1905–2002) geboren. Parallelen auch sonst: der südosteuropäische Herkunftsraum, die Prägung durch Kraus, die Emigration und die Bindung an die deutsche Sprache; die Unterschiede sind freilich gravierender. Chargaff entstammte einer jüdischen Familie aus Czernowitz. 1914 besetzten die Russen die Stadt, die Familie ging nach Wien, das er als Heimatstadt betrachtete. In seiner Jugend hörte er Kraus Börne lesen, ein unvergesslicher Augenblick. Zwischen 1920 und 1928 verfolgte er fast alle Vorlesungen von ihm und bezeichnete ihn als seinen »einzigen Lehrer«.147 Auch er verließ Deutschland schon 1933 und emigrierte über Paris in die USA, wo er schon zuvor gelehrt hatte; 1930 erst war er zurückgekehrt, »der seltene Fall einer Ratte, die das sinkende Schiff betritt«.148 Bis zu seinem bitteren Abschied 1974 lehrte und forschte er an der New Yorker Columbia Universität. Dort schuf er die Grundlagen für das Doppelhelix-Modell der DNS (Watson und Crick bekamen den Nobelpreis dafür). 1981 sammelte er die »Bemerkungen« aus seinen Notizbüchern seit dem zwanzigsten Lebensjahr, 1993 schloss er »Nachträgliche Bemerkungen« für die Jahre 1981 bis 1993 an. Der Einfluss des Naturwissenschaftlers Lichtenberg liegt ebenso nahe wie der von Kraus. Natürlich kreisen Chargaffs aphoristische Überlegungen zuallererst um die moderne Leitwissenschaft der Biochemie und die Naturwissenschaft überhaupt. Es gibt keinen zweiten Forscher seines Ranges, der gleichzeitig über sein Schaffen in dieser Weise reflektieren und die Ergebnisse gedanklich und sprachlich dergestalt pointieren könnte. Hier hat er besondere, ja singuläre Autorität. Er ist aber niemals nur fachwissenschaftlich orientiert; er betreibt immer zugleich eine Lebensphilosophie, aber eine, die das 147 Erwin Chargaff: Das Feuer des Heraklit. Skizzen aus einem Leben vor der Natur. Stuttgart: Klett-Cotta 1979, S. 29. 148 Ebd., S. 72.
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Leben von der Zelle aus betrachtet: nicht von einer Idee her, sondern von der konkreten Materie aus: »Wir werden mit dem Tod im Zellkern geboren« (Chargaff 1981, 14). Die bis ins Apokalyptische getriebene Zivilisations- und Zeitkritik, wie sie die Essays gleichermaßen beherrscht, führt in den besten Fällen zu ebenso prägnanten wie einsichtsvollen Aphorismen, deren Analyse schlechterdings nicht weiter auf den Kern gebracht werden kann: »Was wir wissen wollen, können wir wissen; aber dann ist es nicht mehr, was wir wissen wollen« (Chargaff 1981, 64). So sind seine Aussagen über die Natur, wie sie sich durch die Jahre verfolgen lassen, von nicht zu überschätzendem Wert für das Gespräch zwischen den beiden Kulturen, den Natur- und den Geisteswissenschaften, zu denen er in gleich hoher Kompetenz beiträgt: »Die Natur entspricht unserm Wissen, weil unser Wissen der Natur entspricht« (Chargaff 1981, 72). Zu jüdischem Glaubensleben ist die Jahre hindurch eher Distanz zu erkennen; schon vor 1950 notierte er : »Warum sehen jüdische Tempel immer wie Bureaus aus, in denen Gott amtiert?« (Chargaff 1981, 10). Und ein Vierteljahrhundert später heißt es gleich distanziert: »Fünftausend Jahre sind die Juden ohne Beichte ausgekommen. Dann kam Freud, dann Hitler« (Chargaff 1981, 153). Auch die Erfahrungen des emigrierten Juden sind reflektiert, so zum Beispiel in einem Aphorismus vor 1950: »Es wird kein Haupt über Deutschland leuchten, das nicht mit einem vollen Tropfen seines eigenen Blutes gesalbt ist« (Chargaff 1981, 11). Und 1960 formulierte er mit einem Wortspiel, das nicht jedermann wird goutieren können: »Die Zeiten waren so, dass er sein Haus bauen musste an der Kreuzung von Witz und Auschwitz« (Chargaff 1981, 88). Noch gegen Ende seines Lebens hielt er das Leid des Exilierten fest: »Auswanderung ist immer eine Amputation; sie mag lebensrettend sein, aber man bleibt ein Krüppel« (Chargaff 1981, 331). Der Holocaust ist in Form von Signalen wie Buchenwald, Auschwitz oder Belsen präsent: »Wann immer die deutsche Sprache ihren schönen Mund für mich auftut, fallen die Goldzähne von Belsen heraus« (Chargaff 1981, 92). 1956 äußerte er eine Ansicht dazu, die, zumal unter Juden, mindestens diskussionswürdig ist: »Durch Leiden wurde das Judentum nicht bewahrt, sondern zersetzt; so wie der Essig den Leichnam des Friedrich Barbarossa nicht präservierte« (Chargaff 1981, 60). »Auschwitz« ist aber gegenüber der Amerika- oder Deutschlandkritik nachgeordnet; 1967 zog er eine direkte Linie von Auschwitz zu Vietnam: »Der Krieg in Vietnam: Auschwitz auf Ratenzahlung« (Chargaff 1981, 116). Deutlichere Distanz gegenüber dem jüdischen Staat meldete er 1981 an, nachdem Israel in der »Operation Opera« einen irakischen Kernreaktor zerbombt hatte: »Israel: Das gebrannte Kind schürt das Feuer« (Chargaff 1993, 307). Chargaffs Aphorismus gründet auf Logik und Wissenschaft und kritisiert sie mit den Mitteln der Literatur. Wenn er sich aus den Grenzen der Logik hinausdenkt, ergibt sich, von der Paradoxie ausgehend, ein dialektisches Irrlich-
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tern, das Teil und Gegen-Teil ineinander verwebt. »Als erstes vernichtet der Sturm seine Vorboten« (Chargaff 1981, 46). In dieser Denkfigur, die in sich selbst zurückläuft, sich auf das forschende Erkennen und Erklären richtet und es gleichzeitig übersteigt, verbinden sich der Naturwissenschaftler und der Aphoristiker : »Oft wird das Erklärbare erst durch die Erklärung zum Unerklärlichen« (Chargaff 1981, 126). Hier ist man im Zentrum von Chargaffs Aphorismus, der Innensicht und Außensicht verbindet. Hier ist auch die gemeinsame Quelle seiner Essayistik wie seiner Aphoristik freigelegt. Der Philosoph und Schriftsteller Ludwig Marcuse (1894–1971) stammte aus einer großbürgerlichen jüdischen Familie Berlins. Nach seiner Promotion über Nietzsche war er Theaterkritiker, unter anderem in Berlin und Frankfurt am Main, und musste 1933 nach Südfrankreich emigrieren. 1939 gelang ihm die Flucht in die USA, nach 1945 lebte er zeitweise in Deutschland. Er ist nicht nur mit Büchern über Börne,149 Heine und Nietzsche bekannt geworden, er hat auch Aphorismen verfasst. »Argumente und Rezepte« (1967) ist als »Wörter-Buch für Zeitgenossen« mit strengen Definitionen im aufklärerischen Sinne (»Friedensliebe. Ein Friedlicher ist einer, der sich totschießen läßt, um zu beweisen, daß der andere der Aggressor gewesen ist.«; Marcuse 1967, 42) das lesenswerteste unter den Wörterbüchern der sechziger Jahre; es dringt lapidar auf den Kern (»Von den Pazifisten geht viel Unfrieden aus« (Marcuse 1967, 94). Während diese ›linken‹ Wörterbücher in der Regel in ihrer Ideologiekritik eine neue ideologische Norm kreieren und in ihrem Kampf gegen den Konformismus alter Art ziemlich konform sind, ist Marcuse genau in dieser Dialektik heimisch, seinerseits aufs höchste selbstreflektiert und ständig auf einer zweiten Ebene operierend: »Jetzt aber ist es an der Zeit, die ironischen Gänsefüßchen in ironische Gänsefüßchen zu setzen« (Marcuse 1967, 43). Er ist mehr an Kraus als an Ambrose Bierce mit »The Devil’s Dictionary« (1911) orientiert: »Erinnerung. So richtig dabeigewesen ist man immer erst in der Erinnerung« (Marcuse 1967, 36). Sein Denken steht als Selbstdenken aus programmatischer Subjektivität in der subversiven Tradition der Gattung (»Demokratie. Du sollst auf dich mehr hören als auf die priesterlichen Stimmen der Zeit. […]«; Marcuse 1967, 23) und ist Ausdruck eines relativen Skeptizismus: »Grenzen der Skepsis. Jede Skepsis enthält den individuellen Umriß ihrer Grenze: wo ist ein Skeptiker nicht mehr skeptisch?« (Marcuse 1967, 52). Dieses Selbstdenken führt ihn unter anderem dazu, vor einem »europäischen Chauvinismus« zu warnen und die Floskel »Nach Auschwitz« zu den »Schoßhündchen des Zeitgeistes« (Marcuse 1967, 28) zu zählen, die es zu meiden gelte: »Auschwitz. Auschwitz im Geflügelten Wort ist ein Mangel an Ehrfurcht vor denen, die dort verbrannt wurden« (Marcuse 1967, 14). Auch zu einer besonderen Art von Emigranten hat er erfahrungsgesättigt 149 Vgl. oben S. 31.
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seine eigene Meinung: »Halbemigrant. Analog zum zwielichtigen Wort ›Halbjude‹ sollte man das ebenso zwielichtige Wort ›Halbemigrant‹ prägen« (Marcuse 1967, 53). In seinem Wörterbucheintrag zum Antisemitismus macht er auf einen speziellen Aspekt aufmerksam: »Antisemitismus. Der Antisemitismus ist unter anderem auch eine sexuelle Perversion: Lüsternheit und Jude wurden gleichgesetzt und miteinander verteufelt« (Marcuse 1967, 10). Dass Güte und Denken zusammengehören, ist – im Gegensatz zu Chargaff und Marcuse – das unbestreitbare ideologische Fundament für Hans Margolius (1902–1984), der bis 1937 Bibliothekar in Berlin war und 1939 in die USA emigrieren musste, wo er als Bibliothekar und Dozent für Ethik und Religionsphilosophie lebte und mit zahlreichen Aphoristikern und Wissenschaftlern, so mit den Mitemigranten Franz Mautner, Otto Milo und Karl-Theodor Marx, in Verbindung stand. Seine ethisch bestimmten Aphorismen gehen entschieden aus dem Bereich der Literatur in den der Lebenshilfe hinüber. Das ethische, keinesfalls aber das ästhetische »Güte«-Siegel ist ihr Markenzeichen: »Es gibt keine Freude am Leben ohne Glauben an die Macht des Guten in der Welt« (Margolius 1970, 24). Es geht, ohne jede Ambivalenz, ohne jedes Problem, ohne jede Differenzierung, um Bekenntnisse und um die Beschwörung von Werten wie Verstehen, Hoffnung, Mitleid, Dankbarkeit, Gerechtigkeit, Hingabe und Gemeinschaft: Liebe ruft Liebe hervor: unendliches Wachstum (Margolius 1957, 27). Jedes große Glück hat Heiligkeit (Margolius 1957, 96).
Diese Aphoristik ist zuvörderst weltliche Seelsorge; die Einsicht fördert nur, sofern und solange sie Trost zu spenden vermag. An diese ethischen Höhenflüge ragt kein Stückchen materialistischer Basis heran. Von einer Interpolation des Glaubens an das Gute mit der Erfahrung kann keine Rede sein: »Wer an das Gute im Menschen glaubt, den können trübe Erfahrungen nicht irre machen. Glaube ist stärker als Erfahrung« (Margolius 1970, 9). Damit setzt sich ihr Verfasser aber gegen Basiselemente der Gattung, Empirie und Skepsis, in Widerspruch. Wenn im Nationalsozialismus die »zersetzende« Kritik durch die Kunstbetrachtung ersetzt wurde, so weist der jüdische Emigrant Margolius auf gemeinsame Wurzeln in der über das Dritte Reich hinweggeretteten Innerlichkeit hin, die der Ideologiekritik allzu offen zutage liegen: »Zu viel Wissen verstellt den Blick. Zu viel Scharfsinn zersetzt die Welt« (Margolius 1970, 50). Unter ethischer Perspektive mag es stimmen: »Wer um Wahrheit bemüht ist, darf den Vorwurf nicht scheuen, daß er nichts Neues zu sagen hat. Wahres ist selten überraschend und neu« (Margolius 1977, 21); unter ästhetischer Perspektive trifft das gewiss nicht zu, und die Vorhersagbarkeit seiner edlen Aphoristik ist eher ermüdend. Eine
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besonders markante Figur in der Gattungsgeschichte des Aphorismus ist er aber dennoch allein durch die Fülle und Breite seiner Beiträge, mit Essays, Aufsätzen und Anthologien neben den zahlreichen Aphorismusbänden bis in die siebziger Jahre hinein.150 Die Aphorismen Otto Milos (1902–1980), Karl-Theodor Marx’ (geb. 1902) und Max Rodens (1881–1968) fügen sich der allein ethisch orientierten Auffassung ihres Herausgebers Margolius nahtlos ein.151 Milo, Kriegsteilnehmer in Italien, wurde 1955 amerikanischer Staatsbürger ; 1977 konnte der Professor für deutsche Literatur als aphoristische Summe seines Lebens »Aphorismen, Sinnsprüche, Gedanken, Einfälle und Eingebungen« unter dem Titel »Unterwegs« herausbringen. Sie bleiben, mit Themen zwischen Neid und Dummheit, mit Mann und Frau, Alter und Jugend im üblichen moralistischen Rahmen. Die gängigen aphoristischen Mittel wie Paradoxon und Antithese wenden sie nicht ungeschickt an: »Nicht das äußere Altwerden ist tragisch, sondern das innere Jungbleiben« (Milo 1977, Nr. 323). Auffällig neben der Anreicherung mit aktuellen politischen Bemerkungen ist allenfalls ihr Emigranten-Deutsch: »Die Brücke des Mißverständnisses zwischen Alt und Jung hat schon immer bestanden. Heute heißt sie Generationen-Gap« (Milo 1977, Nr. 268). Die Aphorismen von Marx, der schon 1923 ausgewandert ist und als Fabrikdirektor in Florida lebte, wurden 1943/44 in den USA (»Nachdenkliches«) und 1956 noch einmal in München publiziert (»Deutsch-amerikanische Aphorismen«). Es sind ebenfalls gedanklich konventionelle Lebensweisheiten von sprichworthafter Kürze und Bildlichkeit, gedanklich bis zur Langweiligkeit konventionell: »Ein Leben ohne Freunde gleicht einer Wüste ohne Oasen« (Marx 1944, 9). Hohe Arbeitsethik verbindet sich mit dem Preis innerer Seelenschönheit, hohem Pragmatismus und einem traditionellen Frauenbild. Der Emigrant fragt: »Heimat ist einmalig – oder gibt es Heimaten?« (Marx 1944, 9). Der Wiener Max Roden hat in seiner Heimatstadt schon seit 1906 vor allem Lyrik veröffentlicht. Zu seinem 70. Geburtstag erschienen 1951, gleichfalls in Wien, die aphoristischen »Spiegelungen« des Emigranten. Sie handeln vornehmlich von der Kunst, sind immer guten Glaubens und voller Herzensbildung, dabei im Denken gleichfalls kraftlos und konventionell: »Der ist verloren, der den Zusammenhang mit seinem Herzen verloren hat« (Roden 1951, 3). Das Zentrum nicht nur der eigenen Kurztexte, sondern auch der ganzen Gruppe aus dem Kreis um Margolius markiert das selbstverfasste Motto: »Kenne, erkenne, bekenne« (Roden 1951, 3), speziell in seinem dritten Element. 150 Vgl. dazu Spicker 2004, 368–371. 151 Hans Margolius (Hg.): Deutsche Aphorismen. Bern: Scherz 1953 (Parnaß-Bücherei 94); ders.: Was wir suchen, ist alles. Aphorismen der Weltliteratur. Bern, Stuttgart, Wien: Scherz 1958 (Parnaß-Bücherei 108); ders., Ernst Kobelt (Hgg.): Besinnung und Einsicht. Lebensziele – Lebenswege. Aphorismen des 19. und 20. Jahrhunderts. Zürich: Strom 1981.
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Der Literaturkritiker Hans Weigel (1908–1991), der die Jahre 1938 bis 1946 in der Schweizer Emigration verbringen musste, steht mit gelegentlichen AperÅus wie »Die Kinderkrankheiten der Seele brechen erst bei den Erwachsenen aus« (Weigel 1980, 158) ganz in der Tradition des österreichischen Feuilletons, das immer auch den Aphorismus zu den Formen seiner kritisch-satirischen Publizistik zählt: Polgars, Friedells und anderer. Zu denken ist bei ihm auch etwa an Alfred Kerr. Bei »Meta-Kulinarischem« (»Ente gut, alles gut.«; Weigel 1980, 225) und »Umschreibungen« der Art »Mißverhältnis: intime Beziehungen zu einer unverheirateten Engländerin« (Weigel 1980, 275; vgl. 227, 243, 274) ist allerdings auch nicht zu verkennen, dass er zu oft der Gefahr des Kalauers von kurzer, schaler Wirkung erliegt. Auch die Journalisten Heinz Pol und Anita Joachim-Daniel, den Dramaturgen Eugen Gürster und den Hochschullehrer Robert Ludwig Kahn hat es (zeitweilig) in die USA verschlagen. Der Berliner Journalist, Lyriker und Essayist Pol (1901– 1972) durchlief die typischen Stationen des Exils: Er flüchtete 1933 nach Prag, 1936 nach Paris und konnte vier Jahre später von dort in die USA emigrieren. Seine Aphorismen »Ansatz und Widerspruch« erschienen zwischen 1965 und 1971. Sie bewegen sich formal zwischen Aphorismus, zusammenhängender Kurzreflexion und tagebuchnaher Selbsterforschung, qualitativ zwischen trivialem Stoßseufzer, philosophischem Stammtisch und redlicher moralistischer Nachfolge. Dabei gelingt ihm die eine oder andere besonders treffende Formulierung, so wenn es zu einem anderen klassischen Thema heißt: »Halbwahrheiten sind das Vollkommenste, was wir erreichen können. Und wir sind schon sehr höflich, wenn wir diese nicht Halblügen nennen« (Pol 1965, 21). Sie heben sich von der Lebenshilfe-Güte des Margolius-Kreises angenehm ab: Sein Menschenbild lautet in kürzester Form: »Der Mensch denkt, und das Tier in ihm lenkt« (Pol 1965, 48). Wo er von Angst, Hass oder Barbarei spricht, assoziiert man seine besonderen Erfahrungen; wo er »die Welt, wie sie nicht sein sollte« (Pol 1966, 45–70), scharf analysiert, hört man den Emigranten (»Die Zeit heilt alles, außer den Wunden, die sie uns geschlagen.«; Pol 1965, 46) mit verständlicher Distanz zu »diesen chronischen Nachkriegsdeutschen« (Pol 1965, 53): »[…] Der Hitler ging, die Spenglers blieben« (Pol 1965, 56). Den jüdischen Emigranten mag man in seiner Talmud-Interpretation (Pol 1966, 29f.) vernehmen oder in seiner Bemerkung zu »Lichtenbergs Antisemitismus, der dann plötzlich von der Kette losbricht«. Er stamme »aus dem Arsenal des typischen Universitätsstadtspießers. Schade um die paar dunklen Wolken über diesem lichten Berg« (Pol 1966, 30). Eugen Gürster (1895–1980) konnte 1933 in die Schweiz emigrieren. Zu den zahlreichen Essays, die er dort unter Pseudonym veröffentlichte, unter anderem für Thomas Manns Zeitschrift »Maß und Wert«, gehört auch ein Band »Die
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Judenfrage – eine Christenfrage« (1939). Seit 1941 lebte er in den USA, nach Kriegsende als Essayist und Kulturkritiker in München und auf verschiedenen Posten im Auswärtigen Dienst. Seine »Narrheiten und Wahrheiten« (1971) pflegen den traditionellen, pointenorientierten Aphorismus und variieren durchweg die alten Themen in den alten Formen. Der Kulturkritiker reagiert aber auch auf moderne Inhalte, die Sexwelle, den Minirock, die H-Bombe; die spezifische Macht des Bildmediums reflektierte er früh: »Erst eine Fernsehaufnahme verwandelt eine Tatsache in ein Ereignis« (Gürster 1971, 114). Witz ist oberstes Gebot, aber die ernste Schicht darunter ist nicht zu verkennen: »Wer den Dingen zu sehr auf den Grund geht, kann daran zugrunde gehen« (Gürster 1971, 114). Die zahlreichen mit Initialen versehenen Porträts in der Tradition des Er-Aphorismus zeugen von scharfer Menschenbeobachtung: »Als ich Herrn M. beim Essen beobachtete, entdeckte ich, dass auch er echter Hingabe fähig ist« (Gürster 1971, 114). Gürsters Anthropologie gründet auf skeptischer Introspektion; er hat im Verlaufe seines Lebens, so in den frühen dreißiger Jahren, »tiefere Blicke« in das Innere des Menschen tun müssen, die ihm die vielbeschworene ›Güte‹ mehr als suspekt machen: »Der hat nie einen tieferen Blick in sein Inneres getan, der von der natürlichen Güte des Menschen überzeugt ist« (Gürster 1971, 36). Liegen nicht auch diesem Aphorismus die Erfahrungen des jüdischen Emigranten zugrunde: »Der Haß ist mühelos und jederzeit zu organisieren, die Liebe niemals« (Gürster 1971, 112)? Anita Joachim-Daniel (1902–1982) ist im heutigen Rumänien geboren. Sie war in den zwanziger und dreißiger Jahren als Journalistin in Deutschland und nach ihrer Emigration in den USA und in der Schweiz tätig. Neben Reisebüchern veröffentlichte sie in den späteren Jahren auch Aphorismen (»Ein bisschen Liebe…«, 1957; »Gedanken über dies und jenes«, 1971). Sie stellen – mit Kapiteln wie »Eleganz« oder »Chic«, »Zärtlichkeit« oder »Güte« – die elegante Variante der gütigen Frauenaphoristik dar,152 eine gewissermaßen mittlere Lebensklugheit bis hin zu Lebensplatitüden,153 formulieren gängige Paradoxa wie »Zum Naheliegenden führen sehr viele Umwege« (Joachim-Daniel 1971, 102) oder »Verlorene Zeit ist oft gewonnene Zeit« (Joachim-Daniel 1971, 142) und suchen ihre Pointen wo immer, im Sinne des Titels von 1957 etwa so: »Das einzig bombensichere Friedensprojekt für die Menschheit: ein bißchen Liebe« (Joachim-Daniel 1971, 34). Sie sind »takt«voll nicht anders als die Rodens (»Takt ist die Musik der Seele«; 152 Vgl. Friedemann Spicker : »Zur Männer- und Frauenfrage« oder Herrenwitz und Frauenbild. Weibliche und männliche Aphoristik im 20. Jahrhundert. In: Lichtenberg-Jahrbuch 2005, S. 98–155; vgl. Friedemann Spicker, Angelika Spicker-Wendt (Hgg.): Der Geist ist nicht männlich – nur sein Artikel. Aphorismen von Frauen. Mit Arbeiten auf Papier von Monika Tönnis-Littek. Bochum: Brockmeyer 2015 (dapha-drucke 6). 153 Margolius bietet ihnen in seinen Anthologien – von ihm her gesehen: zu Recht – beträchtlichen Platz.
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Joachim-Daniel 1971, 171); wenn sie ausnahmsweise einmal den Bereich der Politik berühren, dann so: »Politik schafft immer mehr Grenzen, und Grenzen schaffen immer mehr Politik« (Joachim-Daniel 1971, 145). Hier und da mag die Exilthematik durchscheinen: »Jeder Mensch besitzt sein privates verlorenes Paradies, auch der allerärmste« (Joachim-Daniel 1971, 9). Robert Ludwig Kahn (1923–1970), mehr als eine Generation jünger, gelangte mit einem Kindertransport 1939 nach England – die Eltern fielen den Nationalsozialisten zum Opfer – und über die Internierung auf der Isle of Man und in Kanada in die USA, wo er bis zu seinem Freitod die deutsche Abteilung der Universität Houston leitete. In seinem schmalen aphoristischen Oeuvre überwiegen die poetologischen und literarhistorischen Texte. Es reflektiert aber in einigen Fällen doch auf sehr eindringliche Weise die speziellen Erfahrungen, aus denen der jüdische Emigrant in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts denkt und schreibt: zur logos-frage: am anfang war der schrei (Kahn 1996, 264). tun ist lüge, nichtstun verrat (Kahn 1996, 265).
Die Deutschlandkritik zieht das eindeutige »fazit von drei europareisen: amerika, du hast es besser« (Kahn 1996, 282). Dennoch stellt er sich die Frage des Emigranten: »warum nicht nach deutschland zurück?« Seine Antwort, was immer sich hinter der Natürlichkeit verbergen mag, wirkt – aus der Perspektive des europäischen Lesers zumindest – erstaunlich: »weil ich natürlich leben möchte« (Kahn 1996, 286). Die Aphoristik des Lyrikers Kurt Bauchwitz (Roy C. Bates; 1890–1974), der über Japan 1940 in die USA emigrierte, ist hingegen noch ungedruckt. Sein literarisches Werk besteht neben Haiku und Tanka aus Vers-Epigrammen und Aphorismen in deutscher und englischer Sprache; ein Manuskript »Einsätze« (1951) liegt im Nachlass. Frankreich spielt im Exil deutsch-jüdischer Aphoristiker als Durchgangsland die größte Rolle, auf Dauer verblieben sind hier nur wenige, so Friedrich Hagen (1903–1979) und der eine Generation jüngere Arthur Feldmann. Hagen ist in Nürnberg aufgewachsen, emigrierte 1933 nach Frankreich und wurde nach 1945 mit seinen Kontakten zu den französischen Surrealisten und mit zahlreichen Übersetzungen zu einem der Kulturvermittler in sein altes Heimatland. Sein schmales aphoristisches Werk ist wenig ausgeprägt und weder gedanklich noch formal besonders bemerkenswert, etwa mit seiner (System-)Skepsis: »Wenn man aus den Widersprüchen nicht herausfindet, macht man daraus ein System« (Hagen 1978, 177). Es beruht vornehmlich auf den aus der Gattungsgeschichte entlehnten Techniken wie Wortspiel und Phraseologismus:
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Laßt uns die geflügelten Worte rupfen! (Hagen 1978, 181). Wer den Rücken krümmt, muß dafür gradestehen (Hagen 1978, 179).
Es bezeugt Antimilitarismus (»Den Krieg verhindern ist der einzige Sieg, dem keine Niederlage folgt.« Hagen 1978, 173) und Distanz zur eigenen Zeit: »Jede Epoche steckt den Kopf in einen anderen Sandhaufen« (Hagen 1978, 175). Arthur Feldmann (Andr8 Chademony ; 1926–2012) ist in Wien als Sohn ostjüdischer Eltern geboren und hatte schon in der Kindheit unter Antisemitismus zu leiden. 1939 emigrierte er nach Palästina (wo er übrigens Schüler von Ludwig Strauß war) und kam 1947 zum Studium nach Frankreich. Er, der im Alltag Hebräisch und Französisch sprach, wählte für seine literarische Arbeit die Sprache seiner Jugend. Seit 1974 veröffentlichte er gelegentlich Aphorismen in deutschen Literaturzeitschriften, ein selbstständiger Band »Kurznachrichten aus der Mördergrube oder Die große Modeschau der nackten Könige« erschien 1993. Konventionelles steht neben Skurrilem, das an die französische Tradition, etwa Max Jacob, erinnert, und Banalem bis hin zum Kalauer. Von Beginn an herrscht ein äußerst düsteres Menschenbild vor : »Jedes Wesen hat seinen Platz in dieser Welt im Rachen eines anderen« (Feldmann 1993, 7). Desillusionierung und metaphorisch-aphoristische Ich-Erforschung wechseln mit surrealistischen Naturbildern ab: »Der Weizen schüttelt bedenklich den Kopf, wenn er die wurzellosen Rehe im Wald verschwinden sieht« (Feldmann 1993, 39). Feldmann sagt selbst dazu: »Meine Gedanken brennen mir wie Pferde durch, wenn ich sie nicht mit der Feder zügle« (Feldmann 1993, 125). Es ist die Klage des Emigranten, die sich auf solche Weise artikuliert: »Ich habe einen Apparat, der Welt in Worte ummünzt, die aber nirgends als Währung anerkannt werden« (Feldmann 1993, 123). Ungleich bekannter geworden als diese ›kleinen‹ deutsch-jüdischen Aphoristiker sind Paul Celan (1920–1970) und Erich Fried (1921–1988), wenn auch als Lyriker. So verschieden sie in ihren Gedichten sind, Berührungspunkte zur aphoristischen Gattung haben beide, auch dabei höchst unterschiedliche. Wie Canetti, Chargaff, Joachim-Daniel stammt Celan aus den östlichen Gebieten des alten k. und k. Österreich, aus Czernowitz. Chalfen beschreibt die besondere Situation der Juden in dieser »jüdischen Stadt deutscher Sprache« sehr genau.154 Celans Vater war überzeugter Zionist. Die Eltern wurden nach der Besetzung durch die deutschen Truppen zunächst in einem Ghetto eingeschlossen und kamen in der Deportation um. Der Sohn kam in ein Arbeitslager, lebte 1944 wieder in Czernowitz, dann in Bukarest und floh schließlich über Ungarn und Wien nach Paris. In Zürich war er mit Rychner und Susman befreundet, dort traf 154 Israel Chalfen: Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend. Frankfurt: Insel 1979, S. 19.
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er auch mit Nelly Sachs zusammen, der Lyrikerin und späteren Nobelpreisträgerin, die 1940 im letzten Moment nach Stockholm entkommen konnte. Von besonderer Bedeutung für sein Verhältnis zu seinem Judentum wurde seine Israelreise 1969 (Koelle 1997, 235–268). Sein Verhältnis zum Jüdischen schließt alle Motive seiner Lyrik ein. Es sei nicht so sehr eine thematische als vielmehr eine pneumatische Angelegenheit, heißt es in einem Brief an seinen Verleger kurz vor seinem Freitod in der Seine.155 »Meine Gedichtbände implizieren mein Judentum« (Sparr in Kilcher 2012, 104). Sie sind hier nicht Gegenstand der Betrachtung, wohl aber seine lyrischen Aphorismen »Gegenlicht« von 1949.156 Diese arbeiten mit Umkehrungen nicht von der Art Kraus’, sondern von der Kafkas: »Es war Frühling, und die Bäume flogen zu ihren Vögeln« (Celan 1986, 163). Auch die Sprichwortvariation dient nicht der oft banalen Gegenführung, sondern der poetischen Verrätselung: »So lange geht der zerbrochene Krug zum Brunnen, bis dieser versiegt ist« (Celan 1986, 163). Spezifisch Jüdisches ist hier aber im Gegensatz zu seiner Lyrik nicht thematisiert.157 Zeitlins Anthologie zitiert indessen daraus u. a.: »Man redet umsonst von Gerechtigkeit, solange das größte der Schlachtschiffe nicht an der Stirn eines Ertrunkenen zerschellt ist« (Zeitlin 1963, 170). Der Schriftsteller und Übersetzer Franz Wurm (1926–2010) ist nicht nur als Freund Celans in unserem Zusammenhang erinnernswert. In seinem literarischen Werk finden sich auch unselbstständig publizierte, Ren8 Char zugeeignete Aphorismen »Tout d’une traite«. Wurm wurde in Prag geboren, kam 1939 wie Kahn mit einem Kindertransport nach England und lebte seit 1949 in der Schweiz, zeitweilig auch in Prag und Tel Aviv. Seine Bildaphorismen stehen ähnlich wie die Celans, Chars oder Ernst Meisters auf der Grenze zur Lyrik. Die Chiffren »brennen«, »Wunde«, »Schmerz«, »Asche« sind wohl nicht ohne die Erfahrungen des jüdischen Exulanten zu entschlüsseln: Diese Rose brennt dir die Augen aus. Laß die Wunde nieder in deine Brust. Bewohne sie. An ihren Rändern, wo der Schmerz am schärfsten ist, steckt das endlich erreichte Herz seine erste Saat (Wurm 1961, 853). Das Abendrot verbrennt den vergangenen Tag. Wir sammeln die Asche und halten sie heiß. Unser Hauch bewahrt ihre Glut. Trotzdem Asche (Wurm 1961, 855).
In einem der ersten Briefe Celans an Wurm (8. Juni 1963) heißt es bezogen auf ein frühes prägendes antisemitisches Erlebnis Wurms in der welschen Schweiz:
155 So schon brieflich während seiner Israelreise, vgl. Koelle 1997, 67. 156 Vgl. oben S. 136. 157 Vgl. dazu Koelle 1997, 66–69 et pass. Koelle wie auch Mayer 1969 gehen auf die wenigen Texte in »Gegenlicht« nicht ein.
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Es ließ mich ein weiteres Mal erkennen, wie sehr wir alle den Dingen und Erlebnissen unserer frühen und frühesten Zeit verpflichtet bleiben, wenn wir Gedichte zu schreiben versuchen; die »Krummnasigkeit« steht, Sie haben es durchaus richtig gesehen, für jenes Partikuläre, Persönliche – und lebenslänglich! – Individuelle, das auch aller Poesie eingeschrieben bleibt, und das man in dieser nur dem Anschein nach so »lyrischen« Zeit immer wieder Lügen zu strafen versucht. Es gibt einen tiefwurzelnden Haß auf die Poesie – wie es einen tiefwurzelnden Haß auf das Jüdische gibt; »neu« bzw. aktuell ist nur, daß die »Philo-Varianten« – sit venia verbo – grassieren. Vielleicht wäre es gut, wenn eine Zeitlang von den Juden geschwiegen würde – und auch von der Lyrik (Celan, Wurm 2003, 12f.).
Wurm geht in seiner Antwort vom 26. Juni auf die Gleichsetzung Hass auf die Poesie – Hass auf das Jüdische ein. Wenn er den zweiten Punkt aufgreift, nimmt er gleichzeitig das grundsätzliche Problem auf, das Zohn artikuliert und das sich auch dieser Studie eingangs stellte:158 Was Sie die Philo-Variante nennen, ist die Umarmung mit dem offenen Taschenmesser in der Hand. Umarmt wird der Begriff, u. nicht was er bedeutet, wofür er steht. Es sind Namen, welche man dem Andern anhängt, um ihn desto leichter dran aufknüpfen zu können. […] Drum möchte ich über den »Haß auf das Jüdische« nichts sagen, könnte es auch nicht. Ich weiß zwar, daß es ihn als einen vorgeblich solchen gibt, aber ich verstehe ihn schlecht, weil ich nicht weiß, was »das Jüdische« ist. Ich weiß nicht einmal, ob es »das Jüdische« überhaupt gibt: ich glaube eher nicht, – sondern daß es ein Name ist, wie »Lyrik«, wie »zuhause«, wie »Hans« oder »Karl« (und wie viele heißen Karl oder Hans!), auf dessen genaue Bedeutung man sich erst einmal einigen müßte (Celan, Wurm 2003, 16).159
Erich Fried, in Wien als Sohn einer assimilierten jüdischen Familie geboren und aufgewachsen, emigrierte im August 1938, nachdem sein Vater an den Folgen eines Gestapo-Verhörs gestorben war, nach London. In »Mitunter sogar Lachen« (1986) berichtet er autobiographisch von seinen »Heldentaten« im Zusammenhang mit dem Antisemitismus im Schulalltag, den Umständen der Emigration und den ersten Jahren seines Exils (Fried 1993; 4, 451ff.). Sein einziger Roman »Ein Soldat und ein Mädchen« (1960) nimmt die KZ-Thematik auf. Erst 1953 betrat er wieder deutschen Boden, zurückgekehrt nach Österreich oder Deutschland ist er nicht. In den sechziger Jahren wurde er mit politischer Lyrik, aber auch mit seinen Liebesgedichten, zu einem der populärsten und erfolgreichsten deutschen Lyriker nach 1945. Man hat in Bezug auf ihn von einer eigenen Gattung, dem aphoristischen 158 Vgl. oben S. 14f. 159 Er treibt das Prinzipielle über den Satz »Es ist so leicht, Begriffe, Namen zu erzählen, als ob es sie wirklich gäbe, als ob ihnen ein Leibhaftiges entspränge« noch ein Stück weiter ins Sprachwissenschaftlich-Philosophische hinein. Vgl. zu Wurm auch Dreyfus in Kilcher 2012, 553–554.
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Gedicht, gesprochen. In den pointiertesten Fällen (wie in »Sprüche und Widersprüche« nach Karl Kraus, in den »Warngedichten«, 1964) ist es nur durch die Versifizierung von Aphorismen zu unterscheiden: »Ausweg. / Es muß einen Ausweg geben / aus jenem Aberglauben / der immer meint / es muß einen Ausweg geben« (Fried 1993; 1, 338).160 In ihm verbinden sich etwa äußerste Einfachheit und scheinbares Wortspiel zu Fragen ganz im Sinne Brechts: »Nichterfüllung des Kunstsolls. / Was soll das / wenn etwas / nichts soll / als einfach / nichts sollen?« (Fried 1993; 2, 228). Es generiert eine Verunsicherung, die genau im Sinne des Aphorismus eigenständiges Denken in Gang setzen soll: »Späte Willensfreiheit. / Einmal / will ich / dann nur noch / tun / was ich will / / Aber / wenn ich soweit bin / was kann ich / dann / noch wollen?« (Fried 1993; 2, 537). Auch oder erst recht in seinen schwächeren Texten lässt Fried die Nähe seiner Gedichte zum Aphorismus deutlich werden, weil sie, an Sprichwort oder Redensart angeschlossen, erkennbar nach Regeln hergestellt sind, die schon dort nur durchschnittliche Produkte hervorbringen. Die Abwandlung einer Redensart ist nicht mehr als eine kleine Kunstfertigkeit: »Tierischer Ernst. / Auch auf einem Weg / der für die Katz ist / kann man auf den Hund kommen / wenn man nicht Schwein hat« (Fried 1993; 3, 186). Ganz in der Art aphoristischer Produktion, die sich oft aus einer Mischung von Weiterführung und Widerspruch ergibt, schließt Fried an das Sprichwort an, allerdings über Brecht, den er so variiert: »Politische Verleumdung. / Wer A sagt / dem sagt man / heut nach / dass er / auch B / gesagt habe« (Fried 1993; 2, 486). Das andere der allzu gängigen Mittel, das Wortspiel, steht oft in Verbindung damit: »Die ohne Stimme. / Was sich nicht / herumsprechen / durfte / das haben sie / mit der Zeit / und gegen die Zeit / herumgeschwiegen« (Fried 1993; 3, 349). Im aphoristischen Imperativ formuliert Frieds Lyrik Lebensregeln, auch hier freilich ist sie Ausdruck dialektischen, nicht sprichwörtlich einschichtigen Denkens: »Angst und Zweifel. / Zweifle nicht / an dem / der dir sagt / er hat Angst // aber hab Angst / vor dem / der dir sagt / er kennt keinen Zweifel« (Fried 1993; 2, 202). Umfassender Zweifel als Maxime läuft einem Denken nach festen sprichwörtlichen Regeln diametral entgegen. Wo er sich in seinen Gedichten zu Fragen des Judentums und zu Israel äußert, auch zur Frage der Schuld des Überlebenden, da stehen die Texte allerdings regelmäßig deutlich jenseits der lyrisch-aphoristischen Grenze.161 Identifiziert
160 Vgl. Friedemann Spicker : Studien zum deutschen Aphorismus im 20. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 79), S. 145– 151. 161 Dementsprechend kommt ihnen in unserem Zusammenhang nicht mehr als eine höchst kursorische Behandlung zu. Man vergleiche etwa »Sommer der Verjährung« mit seiner Montagetechnik, die die antisemitischen Parolen der Nazizeit (»müssen vernichtet wer-
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mit seiner jüdischen Abstammung hat sich Fried nur zur Zeit des Faschismus, nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmten Entfremdung und scharfe Kritik sein Verhältnis zum israelischen Judentum (Zeller 1986, 119). Die Auseinandersetzung vollzog sich schon seit 1946, also noch vor der Gründung des Staates Israel, in drei Stadien (Zeller 1986) und kulminierte während des Sechs-Tage-Krieges 1967. Zeller analysiert den Wandel zwischen 1946 und 1964 als »Enthistorisierung der Metapher« an dem Gedicht »Ägypten« und dem Gegengedicht »Bibelfest« (Zeller 1986, 97, 105). In dem Band »Höre Israel!« setzte sich Fried 1974 mit der israelischen Politik gegenüber den Arabern auseinander und agitierte »gegen den fast unmerklichen Rollentausch, der aus Verfolgten Verfolger macht« (Fried 1993; 2, 95). In der ausführlich rechtfertigenden Einleitung heißt es: Zionist war ich nie, religiös nur kurze Zeit als Kind, […] aber das Schicksal der Juden ist mir keineswegs gleichgültig. Ich hoffe sogar, auch ohne jüdisches Volksbewusstsein oder israelisches Nationalgefühl, sozusagen nebenher, ein besserer Jude zu sein als jene Chauvinisten und Zionisten (Fried 1993; 2, 94).
In der ersten Abteilung sammelt der Band die Gedichte zu »Judenfragen«, dann versifiziert er Zitate von Herzl bis Golda Meir zur Stützung seiner antiisraelischen Position. Dass er in seinem scharfen Antizionismus Begin mit Hitler vergleicht, ist nicht nur für viele Juden schwer erträglich. Aber er beharrt auf seiner Position: »Ein Jude an die Zionisten« (Fried 1993; 2, 138). 1988 richtete sich erneut »Ein Jude an die zionistischen Kämpfer«, »die »Hakenkreuzlehrlinge«, mit der Frage: »Wollt jetzt wirklich ihr die neue Gestapo sein / die neue Wehrmacht / die neue SA und SS / und aus den Palästinensern / die neuen Juden machen?« (Fried 1993; 3, 361). Bedingungslose Identifikation aus Mitleid: das ist sein radikales Schreib-Movens. Auch in die 68-er Studentenbewegung in Deutschland griff der hart Angegriffene und auch juristisch Verfolgte mit ein, indem er in seinem Band »Fast alles Mögliche« die Losung zitierte: »Die Studenten sind die neuen Juden« (Fried 1993; 4, 339). Im Gegensatz zu Canetti, Fried und Celan bringt man Ilse Aichinger und Günter Kunert gemeinhin nicht mit dem Judentum in Verbindung. Die eingangs mit Bezug auf Zohn formulierte Gefahr einer Vereinnahmung als »Rassenpolitik mit umgekehrtem Vorzeichen«162 zeigt sich bei ihnen also in besonderem Maße. Dennoch dürfen die Tochter und der Sohn jüdischer Mütter in einer Studie zum deutsch-jüdischen Aphorismus nicht fehlen. Ilse Aichinger, wie Fried 1921 als Tochter einer jüdischen Ärztin in Wien den«) in Bilder der Kindheitserinnerung hineinmontiert (Fried 1993; 1, 461f.). Vgl. Zeller 1986, 94–148 und Thunecke in Kilcher 2012, 146–148. 162 Vgl. oben S. 14.
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geboren (gest. 2016), galt nach den NS-Gesetzen als Halbjüdin. Der Vater ließ sich aus politischen Gründen scheiden, die Zwillingsschwester gelangte mit einem Kindertransport nach England, ihre Verwandten wurden im KZ ermordet. Aichinger selbst, die ihre Mutter versteckt und sich selbst verborgen hielt, entging diesem Schicksal. In ihrem einzigen Roman »Die größere Hoffnung« (1947) hat sie ihre autobiographischen Erfahrungen in der Figur des halbjüdischen Mädchens Ellen verarbeitet. Auch für sie ist die deutsch-jüdische Symbiose gescheitert. »Ihre doppelte Zugehörigkeit zum österreichisch-katholischen und -jüdischen Milieu lässt A. angesichts des Ungeheuerlichen verstummen« (Rosenberger in Kilcher 2012, 6). Wortkargheit und Einrichten in der Selbstnegation bestimmen auch ihre »Aufzeichnungen 1950–1985«, tendenziell enigmatische, absolut ichzentrierte Vergewisserungsversuche, die aus schwerster Melancholie zu einem minimalen Optimum an sprachlicher Gestaltung finden: »Die Landschaften des Herzens kontrollieren, ihre Beleuchtung, das Flackern, die Schwärze. Nicht aufhören damit« (Aichinger 1991, 69). Zum Teil sind die eindringlichen Aufzeichnungen, die Schreiben mit Atmen und Beten in Verbindung setzen, aus der Spiegelung an Kafka gewonnen: »Schreiben kann man wie Beten eigentlich nur, anstatt sich umzubringen. Dann ist es das Leben selbst« (Aichinger 1993, 44). Ihre Paradoxie ist eine existenzielle Paradoxie in der Art Kafkas, der das Untröstliche aus seinem Gegenteil erwächst: »Es sind zuletzt die Tröstungen, die uns untröstlich machen« (Aichinger 1993, 68). Die Tendenz zum Verstummen ist eindeutig: Während die fünfziger Jahre immerhin 25 Seiten füllen, gibt es ab 1965 Jahre ohne oder mit gerade einer Eintragung. Ihr Sprechen äußert sich aus einer Grenzsituation heraus, die von Angst, Trauer und dem Gefühl der Todesnähe als Ingredienzen der melancholischen »Schwärze« gekennzeichnet ist: Die Unfähigkeit zu leben bis zum Ende ausspielen (Aichinger 1991, 81). Aber sich dem Tod anzubiedern ist ebenso schwierig wie um die Gunst eines Reichen zu betteln (Aichinger 1991, 44).
Dass diese Lebensstimmung auch von den frühen Erfahrungen der verfolgten Halbjüdin vorgeprägt ist, scheint offensichtlich, muss aber Spekulation bleiben. Günter Kunert (geb. 1929) war in der Sprache der Nazis wie Aichinger »Mischling ersten Grades«. Aus seiner Schulzeit erinnert er sich an »das Gedicht eines ›unbekannten Dichters‹ mit dem Titel ›Die Loreley‹«: »Unter Garantie bin ich, außer dem alten Lehrer, der einzige hier, der den Unbekannten aus dem elterlichen Bücherschrank kennt. Der Unbekannte ist einer von uns. Ein ›I‹, wie meine Mutter abkürzend zu sagen pflegt, wenn sie jemand als jüdisch identifiziert hat. Der ist auch ein ›I‹.«163 »Die frühe Stigmatisierung […] war genauso 163 Günter Kunert: Erwachsenenspiele. Erinnerungen. München, Wien: Hanser 1997, S. 20f.
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prägend wie die Deportation der Verwandten aus Berlin. Beide Elemente wurden für den Dichter K. zu den Prinzipien seines Schreibens« (Kasper in Kilcher 2012, 317). Der Holocaust ist für ihn naturgemäß ein zentrales Thema, öffentlichem Eingedenken als Scheinharmonie steht er skeptisch gegenüber. Dass er allem Jüdischen zeitlebens besondere Beachtung schenkt, zeigt sich beispielsweise auch an einer etwas entlegenen Stelle: Sein Nekrolog auf Canetti ist ausschließlich diesem Aspekt gewidmet, während er dem Aufzeichner oder Autobiographen hier gar keine Beachtung schenkt: Mir jedenfalls wird immer aufs neue bewußt, sobald einer dieser weltlichen ›Rabbinen‹ verschwindet, was an Verlust dahintersteht – und was den Deutschen nie klar geworden ist. Selbst noch der Prosemit, über den Massenmord trauernd, kommt nie auf den Gedanken, was er selber verloren hat. Mir scheint auch die Vielfältigkeit von Canettis Arbeiten ein Kennzeichen des Jüdischen. […] An dem Solitär Canetti läßt sich ahnungsvoll absehen, was das europäische Judentum, wäre es am Leben geblieben, für die Völker des Kontinents, nicht zuletzt für das unsere, zu leisten vermocht hätte (Kunert 2001, 48f).
In seinen Aufzeichnungen von 2001 hat er sich sogar schon ansatzweise genau mit der Frage der vorliegenden Studie beschäftigt. Er fragt sich: »Ist der Aphorismus eine jüdische Erfindung?« Und er antwortet: Wohl nicht gerade Erfindung, doch immerhin eine literarische Form, die dem jüdischen Witz nahesteht. Die Widersprüchlichkeit der Realität auf den (ironischen) Punkt bringen, das vermochten auch der jüdische Witz und, nicht zuletzt, die jüdische Spruchweisheit, die den Aphorismus keimhaft in sich birgt. So zeigt sich mir das Sprichwort »Je länger ein Blinder lebt, desto mehr sieht er« als Aphorismus in Jünglingsgestalt. Zwar kenne ich keine Statistik, welche den jüdischen Anteil der Autoren unter den Aphoristikern auflistet, doch jene, die mir ad hoc einfallen, waren meist Juden: Karl Kraus, Lec, Felix Pollak, Tucholsky, Alfred Kerr. Geistesschärfe, Empfindlichkeit für den Zustand der Welt, für die Katastrophe des Daseins, die Hellsichtigkeit und Hellhörigkeit für das Falsche im nebbich richtigen Leben – all das waren die Geburtshelfer des Aphorismus, einer Gattung, die heute nahezu ausgestorben scheint (Kunert 2013, 306f.).
Es sind unter anderem die hier genannten Aspekte: Witz, ironische Pointierung, Geistesschärfe, Empfindlichkeit für die Katastrophe des Daseins, Hellhörigkeit für das Falsche, die uns abschließend werden beschäftigen müssen. Als Lyriker ist er unter dem Stichwort ›Lakonismus‹ ebenso wie Erich Fried oder Reiner Kunze an Brecht anzuschließen. Von Matt zählt ihn als »denkenden Dichter« »zu den wenigen genuinen Epigrammatikern der Nachkriegszeit« Das gesamte erste Kapitel (S. 9–87) ist von den Erinnerungen des (halb-)jüdischen Jungen geprägt; vgl. Kunert 2001, 60 und 2013, 71. In seinen Aufzeichnungen aus dem Jahre 2005 zitiert er eine Heine-Stelle, »prophetisch und im nachhinein erschütternd, da er so offensichtlich den Holocaust vorausgeahnt, vorausgesehen hat« (Kunert 2013, 168).
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(Durzak, Steinecke 1992, 15). Nähe wie Differenz in Bezug auf Lyrik und Aphorismus lassen sich ebenso gut wie an den Texten Frieds an den seinen erläutern. Pointe, Konzentration, auch die Metaphorik sind beiden eigen: »Empfehlung / sich nicht zu ducken: / Das Schiff liefe nicht vorwärts / stünde nicht aufrecht im Wind / das Segel.«164 »Von den Gedichten bin ich zur kleinen Prosa gelangt, eine Form, die nahezu ausgestorben ist. Mein Helfershelfer bei diesem Unterfangen war Charles Baudelaire« (Kunert 2013, 49): Kunerts Affinität zur Gattung belegen in besonderer Weise seine Aufzeichnungen: »Die Botschaft des Hotelzimmers an den Gast« (2004), eine Auswahl aus seinem kontinuierlich angewachsenen »Big Book«, das als sein »Opus magnum« bezeichnet wird, »Tröstliche Katastrophen« (2013), eine Auswahl aus den Jahren 1999 bis 2011 sowie die »Nachrichten aus Ambivalencia« (2001) als kleine Vorauswahl aus den Jahren seit 1979. »Die Geburt der Sprichwörter« (2011) sammelt Notizen seit 1964. Viele aphoristische Formen sind in dem Band von 2001 durchgespielt, so das Paradoxon (»Um reich zu werden, muß man viel Geld haben.«; Kunert 2001, 45), auch metaphorisch (»Eine schreiende Gleichgültigkeit.«; Kunert 2001, 45), das Wortspiel (»Wir gehen ins Potemkino, wo der Film das Leben ersetzt.«; Kunert 2001, 15), die Sprichwortvariation (»Wer Furcht sät, wird Haß ernten.«; Kunert 2001, 21) und die Parodie (»Das Leben ist der Konsumgüter höchstes nicht!«; Kunert 2001, 23). Zwei Zeugen ruft Kunert 2013 an: Hebbel und Montaigne, von Canetti setzt er sich klar ab. Er versteht sein Aufzeichnen im Gegensatz zu diesem als »Fundgrube«, »eine Art Grabstätte für zeitgeschichtliches Geschehen und zeitgeschichtliches Denken« (Kunert 2013, 308). Dementsprechend dringt die vielfach gefährdete Umwelt stark in diese Aufzeichnungen ein. Hinzu kommt eine Mischung von Traumnotizen, Zitaten, Reminiszenzen und kurzen Erörterungen, so »Über das Altern. Und wie es sich bemerkbar macht« (Kunert 2013, 12): schonungslose Selbstbeobachtung im Sinne seiner Vorbilder. Es sind Reflexionen im Wortsinne, die sich dann doch wieder der Metaphorik im Umkreis des Aphorismus bedienen: »Was mich zu diesen Notizen berechtigt? Daß sich auch im Scherben die Welt spiegelt« (Kunert 2013, 91). Die lesenswertesten Aspekte in diesen Aufzeichnungen sind aber viel eher im Poetologischen und Ästhetischen, im Autobiographischen und Zeitdiagnostischen zu suchen. Auch Gabriel Laub (1928–1998), so verschieden sein Lebensweg und sein Schicksal von den in Deutschland oder Österreich Geborenen auch ist, kommt in 164 Günter Kunert: Vor der Sintflut. Das Gedicht als Arche Noah. Frankfurter Vorlesungen. München, Wien: Hanser 1985, S. 39. Vgl. Friedemann Spicker : Studien zum deutschen Aphorismus im 20. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 79), S. 143–145 et pass.
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einer Geschichte des deutsch-jüdischen Aphorismus ein wichtiger Platz zu. Er floh 1939 mit seinen Eltern wegen der jüdischen Herkunft der Familie vor den Deutschen in die Sowjetunion, nach der Niederschlagung des Prager Frühlings emigrierte er nach Deutschland. Seit 1968 lebte er in Hamburg; seine Texte wurden zunächst ins Deutsche übersetzt (»Verärgerte Logik«, 1969), ab 1969 schrieb er auf Deutsch. Die Hinwendung zum leichten Effekt, in den späteren Bänden unübersehbar, mag mit kreativer Erschöpfung zusammenhängen, die die Gesetze des Marktes nicht zulassen. In seinen Aphorismensammlungen wie »Erlaubte Freiheiten« (1975) oder »Das Recht, recht zu haben« (1979) bekennt er sich ausdrücklich zu Stanislaw Jerzy Lec als zu seinem Lehrer (Laub 1975, 100), dem polnisch-jüdischen Aphoristiker, der über seine deutschen Übersetzungen in den sechziger und siebziger Jahren zu internationalem Ruhm kam.165 Auch Laub war als Aphoristiker und Satiriker ungewöhnlich erfolgreich. Seine Aphorismen als »Gedankensplitter, die ins Auge gehen« (Laub 1979, 57), sind von Kritik und Pointe bestimmt. Sein »Traum« schlägt eine Brücke über 150 Jahre zu Saphir : »Traum des Aphoristikers: daß seine Aphorismen noch hundert Jahre später auf Zensurschwierigkeiten stoßen« (Laub 1969, 94). Was den jüdischen Anteil betrifft: Wenn man die folgenden beiden Texte nebeneinander hält, könnte man ihn für einen »ehemaligen Gläubigen« und also religionsfern halten: Für diejenigen, die schon in den Atheismus hineingeboren wurden, ist es ein Glaube wie jeder andere. Ein wirklicher Atheist ist nur ein ehemaliger Gläubiger (Laub 1984, 39). Jede Religion mißt die Glaubensstärke ihrer Anhänger an der Bereitschaft, Holz für Scheiterhaufen herbeizuschleppen (Laub 1984, 41).
Der Exulant kann aus eigener Anschauung Ost und West genauso gut auseinanderhalten wie zusammensehen: »Systemunterschiede: Die einen vergewaltigen, die anderen prostituieren« (Laub 1979, 15). Der fremde Blick schärft die Beobachtung und dann auch die sprachliche Verarbeitung. Laub nutzt dazu konsequent die Mittel der Dialektik: »Wir haben kollektiv beschlossen, individuell zu denken« (Laub 1969, 13). Er denkt Gegensätze bis an ihren Umschlagspunkt (»Ein vernünftiger Mensch kann unmöglich an die Vernunft glauben«; Laub 1969, 49) oder verschränkt sie ineinander : »Sein Pessimismus war so groß, daß er sich für einen Optimisten hielt« (Laub 1959, 23). Gegenüber der Politik findet sein dialektisches Denkverfahren zu den besten Ergebnissen: Endet die Revolution mit dem Sieg, endet mit dem Sieg die Revolution (Laub 1975, 12). 165 Friedemann Spicker : Zur Rezeption von St. Jerzy Lec in der deutschsprachigen Aphoristik. In: Convivium 2005, S. 141–161.
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Das Verbot, ein Land zu verlassen, ist das Verbot, freiwillig in diesem Land zu leben (Laub 1975, 14).
Seine bevorzugte Denkfigur ist auf sich selbst rückbezogen: Klug und anständig sind die Menschen, die denken, daß wir klug und anständig sind (Laub 1975, 53). Die Wahrheit siegt immer. Denn immer ist das, was siegt, die Wahrheit (Laub 1969, 33).
Es ist über die Paradoxie hinaus Selbstaufhebung in höherer Potenz: »Unser Leben ist schwerer als das unserer Vorfahren, weil wir uns so viele Dinge anschaffen müssen, die uns das Leben erleichtern« (Laub 1969, 38). Damit zwingt er den Leser in eine aporetische Falle, die Denkanstrengung erfordert. Dass sich in seinem Aphorismus, »Sohn des Entsetzens und der Analyse« (Laub 1975, 101), auch Spuren des scharfsinnigen, am Studium des Talmud geschulten jüdischen Witzes erhalten haben, der ja immer eine Kritik enthält und eigenes Denken provoziert, sei sie philosophisch-religiöser, sei sie politisch-sozialer Art: das liegt mehr als nahe. Die entlarvende Frage ist hier der beste Beleg: »Wer wird die Welt von den Erlösern erlösen?« (Laub 1975, 33). Das vertrackt Dialektische im Philosemitismus kann man nicht kürzer auf den Begriff bringen: »Philosemit: Ein Antisemit, der die Juden mag« (Laub 1984, 104). 1969 hatte der Aphorismus noch so geheißen: » Der Philosemit: ein Antisemit, der die Juden trotzdem gern hat« (Laub 1969, 30). Gemäß seiner Theorie »Aphorismen entstehen nach dem gleichen Rezept wie Statuen: Man nehme ein Stück Marmor und schlage alles ab, was man nicht unbedingt braucht« (Laub 1984, 5), hat er noch etwas mehr ›abgeschlagen‹. Der folgende Aphorismus hingegen kommt über eine Umkehrpointe kaum hinaus: »An allem sind immer die Juden schuld. An allem ist immer der Ehemann schuld. Ein jüdischer Ehemann zu sein – welch ein Hochgenuß!« (Laub 1969, 26). Am Rande muss auch Wolf Biermann, geb. 1936, Sohn eines jüdischen Widerstandskämpfers gegen die Nazis, der in Auschwitz ermordet wurde, einbezogen werden.166 Er verfasste ein Reisetagebuch von einer Reise in die UdSSR im Juli 1992 (»Blechnäpfe«, Biermann 1992, 205–242).167 Als »Sudelbuch« (Bier-
166 Noch in seiner Autobiographie hebt Biermann wiederholt und durchgängig, von der ersten Seite an, auf sein Judentum ab (wobei es überhaupt keine Rolle spielt, dass er – anders als Aichinger oder Kunert, Kinder jüdischer Mütter – nach der Halacha nicht als Jude gilt): »unter dem Gelben Stern in Deutschland geboren«, »ein Judenkind« (W. B.: Warte nicht auf bessre Zeiten! Die Autobiographie. Berlin: Propyläen 2016, S. 7, 17, 76 et pass.). Eines der letzten Kapitel heißt: »Ich bleibe was ich immer war, halb Judenbalg und halb ein Goj. Jüdische Wahlverwandtschaften« (487). 167 Auch in unserem Zusammenhang muss wohl kurz an seine Ausbürgerung 1976 erinnert werden, die für die Künstler der DDR ein prägendes und im wahrsten Sinne des Wortes
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mann 1992, 205) in der Tradition von Lichtenberg und Tucholsky streift es zumindest nominell den aphoristischen Kontext. Hier geht er vielfach auf jüdische Themen ein; spielt mit jiddischem Sprachgut nicht nur im Titel (Eizes = Ratschläge) und verurteilt den dortigen Antisemitismus scharf: »Um solchen antijüdischen Dreck zu schlucken, muß ich doch nicht ins Flugzeug steigen! Das kann ich auch in Hamburg haben« (Biermann 1992, 208).168 Wolfgang Hildesheimer (1916–1991), als Sohn jüdischer Eltern in Hamburg geboren, emigrierte 1934 nach Palästina. 1946 war er Simultandolmetscher bei den Nürnberger Prozessen. Er wurde mit Prosawerken wie »Tynset« (1965) und »Mozart« (1977) berühmt und mit dem Büchnerpreis geehrt. Bei den Notaten, Zitaten, Wortspielen seiner »Nachlese« (1987) aus den Jahren 1964 bis 1984, in Form loser Zettel »ein Bodenrest des niemals Verwendeten und damit des zunehmend Unverwendbaren« (Hildesheimer 1987, 8), handelt es sich nicht um Aphorismen, auch wenn es ganz gelegentlich Überschneidungen mit der Gattung gibt. Kein Werk ist so ausschließlich von der jüdischen Tradition geprägt wie das von Elazar Benyo[tz, der 1937 in Wiener Neustadt (als Paul Koppel) geboren wurde und mit den Eltern zwei Jahre später nach Israel emigrierte. Seine Muttersprache ist das Hebräische, die Vatersprache ist Deutsch. Mit sechzehn Jahren nahm er das Selbststudium der deutschen Literatur auf; seit 1957 erschienen mehrere Lyrikbände, auch erste Aphorismen auf Hebräisch. Er wurde zum Rabbiner ausgebildet und war schon in jungen Jahren ein erfolgreicher israelischer Lyriker, ehe er 1963 für einige Jahre nach Deutschland ging, um dort vorwiegend wissenschaftlich-bibliographisch zu arbeiten. In Israel wurde er dafür stark angefeindet. Seit 1968 lebt er wieder in Jerusalem und Tel Aviv. Als zeitgenössischer Aphoristiker hat er, von Canetti abgesehen, das meiste interpretatorische Interesse geweckt, das auch vielfach die hebräischen Wurzeln analysiert, die Stellung des Autors zwischen der deutschsprachigen Aphoristik und der hebräischen Spruchdichtung zu bestimmen sucht und ihn theologisch genauer verortet.169 Zu den Fragen seiner literarischen Sozialisation hat sich Benyo[tz gelegentlich selbst geäußert. In Bezug auf seine Muttersprache heißt es da in poetischer Umschreibung: »Der Fluß der hebräischen Rede spülte mich weit weg vom sich ‹einschneidendes‹ Ereignis war und in der Geschichte des Niedergangs der DDR ein entscheidendes Datum darstellt. 168 An anderer Stelle in dieser Textsammlung zieht er eine direkte Linie von Saddams Kampf gegen Israel zur Ermordung seines Vaters und verteidigt so seine politische Position gegen ein Regime, »das fest versprochen hat, Israel auszulöschen« (Biermann 1992, 11): »Er [Saddam] wird also meinen Freund Walter Grab und seine Frau Ali in Tel Aviv das erste Mal im Leben vergasen und meinen toten Vater zum zweiten Mal« (Biermann 1992, 19). 169 Vgl. Grubitz 1994, Wittbrodt 2002, Dausner 2007, Spicker 2004, 768–807.
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verlierenden deutschen Ufer.« Und weiter : »Wenn ich in meinem Leben je etwas groß liebte, so war es die ganze hebräische Sprache, vom ersten Buchstaben an« (Benyo[tz 1990, 160). Auf der anderen Seite sagt er, kaum weniger emotional gefärbt: »Die mich heimsuchende deutsche Sprache bescherte mir Augenblicke eines hohen dichterischen Glücks« (Benyo[tz 1990, 162). Als Fazit seiner Doppelsprachigkeit sieht er eine gewisse Gespaltenheit: »Mein ganzes Bewusstsein ist gegen mich, und mit diesem gegen mich gerichteten Bewusstsein wehrte und wehre ich mich dagegen, ein deutscher Dichter zu sein« (Benyo[tz 1990, 162). »In memoriam Michael Landmann«170 stellt er sich die Frage: »Ob Vaterland, Heimat oder Aufgabe – Deutschland selbst war den Deutschen schon die Antwort, uns aber?« (Benyo[tz 2001, 65). So bestimmend die Erinnerung für den Autor ist, so ist sie in Bezug auf das Dritte Reich doch nicht hinreichend. Etwas Aktualisierendes, auf die Gegenwart Bezogenes muss hinzukommen: »Ich muß von mir so viel wissen, daß ich sagen könnte, was ich täte, lebte ich unter Hitler« (Benyo[tz 2001, 18). Sein Resümee ist einerseits nicht überraschend, andererseits und vor allem von einem neuartigen Zwiespalt geprägt: »Es gibt uns nur noch hie und da, und da und dort, es gibt uns, deutsche Juden, in Wahrheit nicht mehr. […] Ich bin Israeli, und mein Sohn versteht nicht mehr Deutsch« (Benyo[tz 2001, 155f.). Er schließt sich einerseits in die Bezeichnung »deutscher Jude« ein, er erklärt andererseits unmissverständlich: »Ich bin Israeli«. Als deutschsprachiger Aphoristiker debütierte Benyo[tz 1969 mit dem Band »Sahadutha« (Jakobs »Steinhaufen des Zeugnisses« als Symbol der Identität in einem fremden Sprachraum), der zum Teil noch aus hebräischen Tagebuchnotizen übersetzt ist. Es sind Aphorismen, die schon alle seine Lebensthemen vorführen, in denen er aber noch nicht durchweg zu seiner spezifischen Form findet. Der Autor wird dort als »ein Jude, der nicht brillant sein will, nicht pointiert, nicht geistreich und gescheit« (Benyo[tz 1969, 50), eingeführt; alle Bezüge werde »sicher nur der erkennen können, dem die jüdischen Glaubensüberzeugungen vertraut sind« (Benyo[tz 1969, 47), heißt es im Nachwort. In der Folge veröffentlichte der ebenso gattungsexklusive wie produktive Autor in regelmäßiger Folge Aphorismenbände. Sie erschienen bei Hanser, dem Verlag, in dem auch die diversen »Unfrisierten Gedanken« Stanislaw Jerzy Lec’ seit 1960, die Aufzeichnungen Elias Canettis seit 1965 und die Aphorismen Gabriel Laubs seit 1969 veröffentlicht wurden; als Gegenspieler von Lec hat sich Benyo[tz denn auch sehr bald empfunden. Die Kontakte nach Deutschland, Österreich und in die Schweiz, in Briefen oder auf (Lese-)Reisen, waren und sind vielfältig und eng.
170 Michael Landmann (1913–1984). Der Sohn Edith Landmanns und Ehemann Salcia Landmanns war Philosophieprofessor in Berlin; nach seiner Emeritierung siedelte er nach Haifa um. Vgl. Benyo[tz 2012, 163, 317, 362 et pass. Vgl. oben S. 58.
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Größere Briefwechsel gibt es u. a. mit Werner Kraft, Clara von Bodman, Annette Kolb, Margarete Susman, Michael Landmann und Max Rychner. Der Band »Treffpunkt Scheideweg« (1990) eröffnete eine Reihe neuartig strukturierter Bände, in denen neben Aphorismen tagebuchähnliche Kurzberichte, Lektürekommentare und literarhistorische Exkurse, Lyrik und Briefauszüge, Zitate und Selbstzitate zusammengestellt sind. Er hat ausschließlich die verloren gegangene deutsch-jüdische Symbiose zum Thema. Es ist ein Lesebuch mit – häufig kommentierten – Kernzitaten zum Verständnis und Selbstverständnis des deutsch-jüdischen Verhältnisses, zu Assimilation und Antisemitismus. Jüdische und nicht-jüdische Autoren werden in der ihm eigenen Art zu einem kaleidoskopischen Bild gefügt: von Mendelssohn, Falkensohn Behr und Rivarol über Kürnberger, Droste-Hülshoff (»Die Judenbuche«) und Nietzsche bis Morgenstern (»Die Juden sind der Gärungsstoff, den wir verdienen und brauchen.«; Benyo[tz 1990, 75), Gundolf und Susman (»Die deutschen Juden waren recht eigentlich der Don Quichotte der deutschen Wirklichkeit: sie sahen nicht, sondern sie liebten und träumten.«; Benyo[tz 1990, 20), als deren »Enkel« (Benyo[tz 1990, 118) er sich empfindet. Es kann hier bei weitem nicht erschöpfend behandelt werden. So heißt es bei Samuel Hirsch 1842 höchst prophetisch (»das Ende des Gedachten vorwegnehmend«, lautet Benyo[tz’ Kommentar): »Man duldet blos dasjenige, was man wegwünscht, aber noch nicht wegzubringen vermag; duldet der Staat blos unsere Religion, so fühlt er sich im Innersten seines Wesens verpflichtet, die Zeit herbeizuführen, wo er sie gar nicht zu dulden braucht [,] und also auf die Vernichtung des Judenthums hinzuarbeiten…« (Benyo[tz 1990, 24). Es ist nicht nur ein besonderer Blick, der die Zitate heraushebt. Auch seine aphoristischen Techniken setzt er dabei ein, so das Wortspiel (»Der Antisemitismus hat es leichter mit Juden als mit Wiedergutgemachten«; Benyo[tz 1990, 88), das auch vor Heikelstem nicht Halt macht (»vergojdet«, »Halbjüdisch – fragmentarisch«; Benyo[tz 1990, 90). Das paradoxe Umkreisen (»Der Jude schämte sich als Deutscher für die Deutschen, die sich seiner als Juden schämen zu müssen glaubten.«; Benyo[tz 1990, 37) fehlt so wenig wie seine Metaphorik (in Anspielung auf die Bücherverbrennung im Mai 1933: »Was im Feuer verbrennt, geht in den Flammen wieder auf.«; Benyo[tz 1990, 82). Sein aphoristischdialektisches Vorgehen, wie es das Werk bestimmt, gibt nicht nur einen Blick auf die »Dialektik der Assimilation« frei (»Kann man sich nicht gut bewähren, stellt man die andern auf die Probe«; Benyo[tz 1990, 35), diese spezifische Sprachsensibilität wendet sich auch (Abrahams und Isaaks gedenkend) energisch gegen den »Opfer«-Begriff: »Das grobschlächtige Verbrechen des Mordens wird durch die Bezeichnung ›Opfer‹ zur frevlerischen Tat, zu einer himmelschreienden Blasphemie. Doch ragt kein Mahnmal in den Himmel. Mit ›Opfern‹ werden die mildernden Umstände, die man sich im nachhinein sehnlich
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wünscht, hervorgezaubert, durch ihre Benennung legitimiert« (Benyo[tz 1990, 129; so auch »Opferlahm«; Benyo[tz 2001, 172). Der Reflexion auf die besondere Sprachsituation des deutschschreibenden israelischen Juden in Jerusalem mangelt es nicht. Sie hat zwei Seiten: »Ich darf unter keinem Umstand vergessen: Ein Jude, der heute deutsch schreibt, schreibt nicht mehr (auch) für Juden« (Benyo[tz 2001, 51). Und an anderer Stelle: »Hebräisch und Auschwitz vertragen sich nicht gut, deshalb musste ich mich ins Deutsche verbannen« (Benyo[tz 1990, 144). Andererseits: »Nie werde ich für andere schreiben, noch geschrieben haben können, als für die Überlebenden unter den Mördern meines Volkes und deren Kindeskinder« (Benyo[tz 1990, 141). Was er als »Buch« versteht, eine Mischform aus Zitat und Kommentar, Exzerpt und Exkurs, Vers und Prosa zeigt sich dabei exemplarisch: Der ins Deutsche eingehende Jude dachte nicht, er könne unverstanden bleiben. Er sprach schon (wieder) zu Juden, während Mendelssohn zu ihnen noch nicht sprechen konnte Und ich – ein Jude nach Auschwitz, ein Israeli in Jerusalem – auf Mendelssohn zurückgeworfen (Benyo[tz 1990, 90).
Die Sprache, nichts als die Sprache ist auch sonst sein gedankliches Zentrum, ob er die Übersetzungsleistung Rosenzweigs würdigt oder, in einer rührenden Utopie, bedenkt, »worin Juden und Deutsche zusammentreffen können. Nicht im Deutschsein, nicht im Judentum, nicht im Brüderwahn, sondern in dem ihnen gemeinsamen Erbe: im Jiddischen« (Benyo[tz 1990, 142). Das zweite Motto zu »Treffpunkt Scheideweg« ist Rosenzweig entlehnt: »Das Jüdische ist meine Methode, nicht mein Gegenstand« (Benyo[tz 1990, 5). Es gibt dem Leser die Frage auf, die auch dieser Studie jederzeit immanent ist: ob es eine jüdischaphoristische »Methode« gebe und wenn ja, worin sie bestehe. »Brüderlichkeit« (1994) und »Variationen über ein verlorenes Thema« (1997) entwickeln ihr (deutsch-)jüdisches Thema von den Geschichten des Alten Testaments her und knüpfen an »Treffpunkt Scheideweg« an. »Brüderlichkeit« wählt ein Gedicht Baermann Steiners zum Motto, das sich vom Verlust der deutsch-jüdischen Tradition, auch der aphoristischen her, aufschließt: »Mit verscheidendem lächeln / Ordnet seine schätze der schreitende, / Verschliffene reste vom vergangenen her«; es schließt: »Trümmer einst gerundeter seligkeiten« (Benyo[tz 1994, 5). Auch das Verständnis des Judenhasses wird theologisch begründet: »Der Hass, der dem auserwählten Volk gilt, gilt zuerst seinem Erwähler und ist schon darum nicht aus der Welt zu schaffen« (Benyo[tz 1994, 27). Der Autor mahnt gegen folgenlose Trauer : »Keine Träne zählt, die nicht von der
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Größe / eines Mahnmals ist« (Benyo[tz 1994, 17). Die »Variationen« bieten unter anderem Ansätze zur Diskussion der Besonderheit eines deutsch-jüdischen (oder deutschsprachigen jüdischen) Aphorismus, wie sie der Schluss unseres Überblickes in anderer Form leisten muss. »Allerwegsdahin« (2001) unternimmt mit dem an Wassermann anschließenden Untertitel »Mein Weg als Jude und Israeli ins Deutsche« eine autobiographisch orientierte Komposition, Autobiographie in seinem Sinne verstanden: »Die reine Autobiographie kann es nicht erzählerisch geben, nur aphoristisch« (Benyo[tz 2001, 45; Benyo[tz 2000, 115). Das geschieht einmal mehr unter Einbeziehung der deutsch-jüdischen Tradition von Salomon Maimon bis Wassermann, Gertrud Kolmar und Paul Celan (»Auf deutsch wird es mir möglich sein, zweihundert Jahre in dreißig durchzubringen«; Benyo[tz 2001, 68). Das bedeutet thematisch dreierlei: »Es sind drei große Themen im jüdisch-deutschen Verhältnis: der Judenhass der Deutschen, der Selbsthass der Juden; die Bedeutung beider in der Geschichte Deutschlands und für sie. Spitzenleistungen: das große Werk der Vernichtung auf der einen Seite, das große Werk des Überlebens auf der andern« (Benyo[tz 2001, 155). Einmal mehr geschieht die historisch-autobiographische Vergewisserung auch von der einzigartigen Bedeutung der Sprache her, poetologisch, autobiographisch als »Muttersprachkomplex« (»Mein Deutsch, im stechenden Glanz Jerusalems sich windend, hat seine rhein-jüdischen Quellen.«; Benyo[tz 2001, 10), historisch: In keiner Literatur manifestierte sich eine so große Liebe zu den Deutschen wie in der jüdischen (Benyo[tz 2001, 173). Das deutsche Volk und die deutsche Sprache. – Das Volk wollte die Juden nicht annehmen, die Sprache konnte nicht genug von ihnen haben. Keine Sprache ist so judenvoll wie die deutsche (Benyo[tz 2001, 174). Die deutsche Sprache spielte das jüdische Schicksal. Das Schicksal des jüdischen Volkes, von Jiddisch bis Auschwitz, ist deutsch geprägt (Benyo[tz 2001, 88).
Das deutsch-jüdische Thema, wie es sich in der eigenen Person verkörpert, findet sich vereinzelt bis in die jüngste Zeit; das sei nur mit einigen Zitaten belegt, so aus »Die Eselin Bileams und Kohelets Hund« (2007): Meine deutsche Dichtung platzt aus allen Nöten (Benyo[tz 2007, 49). Dass sie deutsch geschrieben sind, / macht meine Bücher schon zu jüdischer Mystik (Benyo[tz 2007, 59). Mir ist, als würde die eine Hälfte meiner Person für die andere Hälfte schreiben, ein Leben lang, das halbe Leben, das Halbe der einen Hälfte, die Hälfte eines Halben, halbhälft, hälfthalb (Benyo[tz 2007, 146).
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In »Finden macht das Suchen leichter« von 2004 erläutert er sein Diktum von 1973 so: »›Rom wie Jerusalem sind nur noch über Auschwitz zu erreichen‹ besagt, daß Jesus mit den Juden in Auschwitz war, und wer das nicht sehen kann, Jesus nicht sieht« (Benyo[tz 2004, 169). »Wir sind die letzten, / die noch wissen, / wovon sie schweigen« (Benyo[tz 2004, 172), heißt es dort. Und drei Jahre später merkt er wortspielerisch an, diesmal beispielsweise zu Conrad Ferdinand Meyer und Carl Jacob Burckhardt: »So erwachen zum 70. Geburtstag die wegbereitenden Namen aufs Deutschlichste, wenn auch schweizerisch gedämpft« (Benyo[tz 2007, 203). So wenig diese Erörterungen und Belege das Thema erschöpfen können, gerade auch in seiner theologischen Dimension, so ergänzungsbedürftig müssen die abschließenden Bemerkungen zu seiner Stellung innerhalb der Gattungsgeschichte bleiben.171 Als Literarhistoriker und intertextuell orientierter Autor ist Benyo[tz die Gattungstradition wie kaum jemandem sonst bis in ihre Verästelungen hinein vertraut, insbesondere die jüdische. Oft zitiert er entlegene Aphoristiker wie Ernst Hohenemser, Felix Hausdorff (Paul Mongr8) oder Franz Baermann Steiner, die Zeitgenossen von Margolius über Rychner bis Günther kennt er persönlich. Zu Kraus hält er Abstand. Er schreibt: »Rückwärtsgewandt tat ich so, als könnte ich Zeitgenosse meiner Sehnsucht sein, als würde ich meinen Platz zwischen Kafka und Kraus einnehmen können. Im letzteren habe ich mich geirrt, dabei aber die auf mich wartende Leerstelle gefunden« (Benyo[tz 1994, 42). Von Äquidistanz zu beiden kann keine Rede sein, insbesondere die Verbindungslinien zu Kafkas Aphoristik mit ihrer autonomen Bildlichkeit sind von Bedeutung und in diesem Gattungszweig auch die Beziehungen zu den jüdischen Exilaphoristikern Franz Baermann Steiner und Ludwig Strauß. Für die Erörterung des Verhältnisses zu Werner Kraft bietet »Satzspiegel. Dem Andenken an Werner Kraft gewidmet« mit seinen von diesem glossierten Texten eine einzigartige Quelle (Benyo[tz 1992, 67–84).172 Auch im Briefwechsel mit dem Jüngeren bleibt Kraus der Kronzeuge Krafts; so nimmt Benyo[tz geistig Abschied von diesem. Die Dominanz des »Du« in seiner Aphoristik kündet von der Wirkung des dialogischen Denkens von Martin Buber (neben Ferdinand Ebner). In zentralen Komplexen seines Werkes entwickelt Benyo[tz traditionelle Themen der Gattung fort, so an erster Stelle die sprachreflexive Genretradition, nicht nur mit dem Zusammenhang von Sprache und Denken, sondern vor allem dem von Sprache und Schweigen, der in die Mystik hinüberführt. Auch die gesamte Glaubensthematik ist zwar nicht ohne gattungshistorische Vorläufer, aber nicht nur ihre Dominanz ist singulär, auch die Tatsache, dass Benyo[tz 171 Ich verweise dazu auf die Literatur ; Anm. 169. 172 Vgl. oben S. 130.
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dezidiert aus dem jüdischen Glauben heraus schreibt. Auf dem Fundament »Ist Gott mit mir, ist es auch das ganze Alphabet« (Benyo[tz 1979, 84) reicht das von unaufschließbaren Reflexionen, die an Pascal erinnern, bis in die lyrische Gebetsmeditation und im Einzelfall bis zur reinen betenden Anrufung. Die konkreten alttestamentarischen Aspekte des Glaubens, Paradies und Sündenfall, sind als seine zentralen Sujets herausgearbeitet worden (Grubitz 1994, 89ff.); Abraham, Hiob, Jakob werden ihm zu Zeitgefährten. Seine Collagen sind auch in der Tradition der jüdischen Kommentarliteratur (Talmud) gesehen worden (Wittbrodt 2002), von jüdischer Moralistik hat man gesprochen,173 der Zusammenhang von Fragment und Messianismus ist erläutert (Dausner 2007). »Ein guter Aphorismus ist von erschöpfender, ein schlechter von ermüdender Kürze« (Benyo[tz 1981, 80): Von dieser Kürze ausgehend, verhält sich der Autor zum Aphorismus ambivalent. Einerseits will er dezidiert »nicht Aphorismen« schreiben, andererseits ist er gleichwohl derjenige Aphoristiker, der die Gattung unter diesem Begriff immer wieder aphoristisch reflektiert, innovativ und gehaltvoll. Die produktive Uneindeutigkeit zeigt sich im Innern seines Werkes auf drei Ebenen. Sein Aphorismus versteht sich als Dichtung und zielt als solche zentral auf Uneindeutigkeit in dem Sinne, dass es in der Sprache »nicht Genaues, / nur Bestimmtes« (Benyo[tz 2000, 101) gibt. Sein Aphorismus eröffnet sich auf mehrfache Weise einen Grenzbereich zwischen den Gattungen. Und in der späteren Werkphase kommt in diesem Zusammenhang ein Drittes als spezifisch und besonders bedeutsam hinzu. Aus einer bewussten Ambivalenz zwischen kotextueller Isolation sowie Zusammenhang und Einbindung als Teil eines Größeren entwickelt sich innovativ das Gattungsweitende und -überschreitende, das eine reine Aphorismensammlung übersteigt. Benyo[tz besteht gegenüber dem pointenorientierten Wortspielaphorismus und dem didaktisch-moralistischen Gattungstypus schlicht auf »Kunst« und sucht die Aphoristik als »Geistesart« (Benyo[tz 1990, 127) zu erneuern. Diese gattungsreflexiven Überlegungen erstrecken sich auf das gesamte Werk. Statt der Eindimensionalität von Aussagen steht gattungsgemäß dialektisches Interpolieren im Vordergrund. Dazu gehört, dass Konkurrenzbegriffe erprobt werden, vor allem Spruch und EinSatz. Den Spruch bringt Benyo[tz mit Glauben, aber auch mit Widerspruch in Verbindung, mit beidem knüpft er an älteste Traditionen an. Das Buch Kohelet, der Prediger Salomo, ist ihm Vorbild, wohl das einzige, das er so unumschränkt gelten ließe. An diese hebräische Spruchdichtung sucht er mit seinen »Sprüchen« und ihrer Autorität, ihrem »Machtanspruch«, anzuschließen: »Entfernt noch von der ersten Liebe, schickte ich 173 Allan Janik: Rez. Benyo[tz, Die Zukunft sitzt uns im Nacken. In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 19, 2000, S. 94–98, hier S. 96.
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mich an, die Sprüche Salomos zu kommentieren. Das war meine erste entschlossene Tat und somit der Anfang meiner Literatur« (Benyo[tz 2001, 24). Der Band »Worthaltung« steht unter einem Kohelet-Motto, das endet: »drum laß deiner Worte wenig sein« (Benyo[tz 1977, 5). Auf solche Weise verfolgt er das Konzept der Verbindung hebräischer Weisheitslehre und deutscher Aphoristik. Benyo[tz’ Haltung zur deutsch-jüdischen Frage kommt in dem verklammernden Neologismus »Identitäuschung« (Benyo[tz 1995, 2; Benyo[tz 2001, 69– 140) am besten zum Ausdruck. So überschreibt er den Text einer Lesung in seiner Geburtsstadt 1995. Er führt in seiner Literatur zusammen, was für immer entzweit ist. Uneindeutigkeit, und eine auf hohe und glückliche Weise produktive, tut sich auch darin kund, insofern er mit der Wahl der Sprache, aber auch durch die Intensität, in der er die deutsch-jüdische (Literatur-)Geschichte aufnimmt, etwas fortsetzt, was er für unwiderruflich abgeschlossen hält. Erinnerung steht innerhalb der herausragenden eigenen Themen an vorderster Stelle. Es ist zum einen der Angehörige eines Volkes, das einem Genozid unterlag, der sich da erinnert: »Wer auf Auschwitz baut, baut auf Asche, nicht auf Sand« (Benyo[tz 2001, 169); die Toten, die allein darin fortleben, sind immer gegenwärtig: »Erinnerung – Heimholung« (Benyo[tz 1975, 43). Zum andern ist es der Dichter, dessen Mittel allein die Sprache mit »der ihr innewohnenden Erinnerung« (Benyo[tz 1994, 83) ist. Das Judentum ist hier bei allen Fäden in die Geschichte der Gattung hinein schon allein deshalb entschieden eher als das in besonderer Weise Neue zu verstehen, weil mit Benyo[tz eben kein deutscher Jude mehr schreibt wie noch Strauß oder Kraft, sondern ein Israeli sich an deutsche Leser wendet: »An die Deutschen: Sammelt unsere Tränen, nicht unsere Witze!« (Benyo[tz 1993, [29]). Der Jude und die Wunde Deutschland: das zieht sich denn auch als Tenor durch die Rezensionen. Im Bewusstsein der gescheiterten Assimilation schreibt er die jüdische Überlieferung in deutscher Sprache fort, in der Tradition der Juden im 19. Jahrhundert, die einen dritten Weg zwischen Assimilation und orthodoxer Abgrenzung suchten. Den umgekehrten Weg ist der eine halbe Generation jüngere Moshe Zuckermann gegangen, der die Reihe der deutsch-jüdischen Aphoristiker (richtiger in seinem Fall: der israelisch-deutschen) beschließt. Zuckermann ist 1949 in Tel Aviv geboren, wo er ein Jahrzehnt lang lebte, ehe seine Familie 1960 nach Deutschland auswanderte. Seit 1970 lebt er als Universitätslehrer wieder in Israel. Seine Aphorismen »Zeit der Lemminge«, 2007 erschienen, sind in die zwölf Monate des Jahres 2001 gegliedert, mit dem Schwerpunkt auf dem 11. September. Dennoch steht auch er noch mehrfach in der Tradition der älteren deutschjüdischen Aphoristik. Den Gattungsbegriff als Untertitel legt er denkbar weit aus. Er reflektiert ihn in einem Vorwort selbst, das die Frage »Warum Apho-
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rismen?« so beantwortet: »Gerade weil er nicht der beschränkenden Strenge formaler, literarischer oder wissenschaftlicher Gesetze unterworfen ist, ermöglicht der Aphorismus eine (mehr oder minder) pointierte Behandlung« ohne »Integration in ein umfassendes System« (Zuckermann 2007, 11f.). Mit den ›formalen Gesetzen‹ setzt er auch die Pointierung außer Geltung. Wenn er sich auch unter anderem nicht nur ausführlich auf Heine (100–14) und Nietzsche bezieht, sondern auch deren »aphoristische Kürze« oder »aphoristisch pointierte Aussagen« betont, so nehmen seine eigenen »Aphorismen« doch einen gänzlich anderen Weg. Es sind Denkbilder in der Tradition Benjamins oder genauer Adornos, bei denen allerdings das Moment der Anschauung gegenüber der (Kurz-)Reflexion zu kurz kommt. Sein Ausgangspunkt ist Auschwitz, aber er geht auch auf die Anfänge Israels (»›In Basel gründete ich den Judenstaat.‹«; Zuckermann 2007, 45f.) und den Antisemitismus des 19. Jahrhunderts zurück. Es ist die Stimme der »zweiten Generation«,174 die hier spricht und die unabweisbare Kontinuität in Schmerz und Schuldgefühl formuliert: Es »ist einem die Last einer ›fremden Schuld‹ aufgebürdet, jener, die durch symbiotische Identifikation mit dem Leiden derer, die einen zur Welt gebracht und sich irgendwo in der Düsternis ihrer jung-alten Existenz das eigene Überleben nie verziehen haben, die eigene wurde« (Zuckermann 2007, 14). Der andere Strang: Auch in diesem Buch erweist sich Zuckermann als scharfer Kritiker der Politik Israels (»Staatsterror«; Zuckermann 2007, 48); er scheut sich nicht, mehrfach historische Analogien zu Hitler-Deutschland herzustellen. Das Land habe sich »in eine begeistert-kriegsfreudige (›let’s nuke them‹) monolithische Masse« verwandelt; »›Gleichschaltung‹ hieß es im nazistischen Faschismus unmittelbar nach seiner Machtübernahme in Deutschland« (Zuckermann 2007, 122). Selbst in dieser späten Umkehrform noch erweist es sich als sachgemäß, die Darstellung der deutsch-jüdischen Aphoristik des 20. Jahrhunderts vom Schnittpunkt Holocaust her vorzunehmen. In einer Kurzreflexion über »Jüdische Tradition« (Zuckermann 2007, 93f.) formuliert er Gedanken, die mit Begriffen wie der »Dialektik der Fremdheit«, dem »produktiven Spannungsverhältnis«, dem »Willen, dazuzugehören« einerseits, einer »grenzüberschreitenden, subversiven Tendenz« andererseits direkt in unsere zusammenfassenden Überlegungen hinüberführen und dort ihrerseits an den konkreten ›Fällen‹ der deutsch-jüdischen Aphoristik reflektiert werden müssen:
174 »Die zweite Generation« – ein an sich schon prekärer Begriff – nimmt noch an der grauenhaften Erfahrung der Elterngeneration in einer gewissen Weise teil« (»Vererbte Geschichte«, Zuckermann 1992, 74f.). Das führt aus unseren literaturwissenschaftlichen Zusammenhängen zu weit hinaus: Nur soviel: Zuckermann wendet sich hier gegen die deutsche »Schlussstrich«-Mentalität nicht weniger als gegen »die israelische Neigung, die ›vererbte Kollektivschuld‹ zu perseverieren.«
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Es gibt ein Verständnis von jüdischer Tradition, wonach die Authentizität von »JudeSein« sich nicht am Festhalten an jüdisch-religiösen Quellen, nicht an einer das Anders-Sein konstituierenden Auserwähltheit und ohnehin nicht an »nationaljüdischem Stolz« festmacht, welches die »Diaspora« nicht zu negieren trachtet, sondern sie als ein reales menschliches Sein von gewesenen Lebenswelten, die sich aus der Dialektik der Fremdheit speisen, anerkennt: als produktives Spannungsverhältnis zwischen realer Präsenz und Nicht-anerkannt-Sein; als eine Bewegung zwischen dem Willen, dazuzugehören, und der grenzüberschreitenden, subversiven Tendenz, die Bedingungen der Zugehörigkeit zu verändern. Das Denken eines Heine, eines Marx, eines Freud, revolutionärer Protagonisten einer universellen Befreiung des Menschen, ist eine deutliche Frucht dieser Tradition. Zugleich läßt sich behaupten, daß diese Tradition selbst ihren Ausdruck nicht zuletzt in großen Kulturverschmelzungen findet. […] (Zuckermann 2007, 93f.).
»Die Sprache meines Geistes wird die deutsche bleiben, und zwar weil ich Jude bin.« Zusammenfassung
Ein Resümee aus den vielerlei Biographien und Schreibweisen hat sich vor dem inhaltlichen Zugriff vor Augen zu halten, dass Behutsamkeit in mehrererlei Hinsicht gefordert ist, zunächst die Behutsamkeit des Nicht-Juden, insbesondere des Deutschen – im zweiten Motto zu dieser Studie ist sie formuliert –, dann aber auch die Behutsamkeit, in der jede Reduktion formuliert sein muss.175 Es wird zunächst explizit vorgehen, dann aber auch vor allem implizit nach den besonderen Kriterien eines deutsch-jüdischen Aphorismus suchen müssen. Unter der Perspektive der Explizitität bilden Goldstein und – auf sehr verschiedene Weise – Kraus und Kafka die äußersten Pole. Neben Goldstein ragen unter den Aphoristikern, die sich explizit äußern, Hermann, Werfel und Benyo[tz heraus. Auch in Baermann Steiners Aufzeichnungen ist das Judentum so vielfältig reflektiert, historisch wie autobiographisch, typologisch wie mythologisch, dass es eine eigene Untersuchung verdiente. Canettis Äußerungen in den »Aufzeichnungen« wie in »Masse und Macht« stehen neben dem einzigartigen jüdisch-messianistischen Konzept bei Strauß; auch Chargaff und Marcuse gehen in ihren Aphorismen vielfach auf das Judentum ein. Es ist nicht verwunderlich, dass die unterschiedlichen Tendenzen der deutsch-jüdischen Schriftsteller, sich zu definieren, auch innerhalb der Gattungsgeschichte erkennbar sind. Jeder Versuch eines Resümees muss auch hier von der Frage ausgehen, was Jüdischsein in jedem einzelnen Fall bedeutet. Bedeutet Judentum Glaubensgemeinschaft? Volkszugehörigkeit? Rassenzugehörigkeit? Schicksalsgemeinschaft? Größte Vielfalt, Uneindeutigkeit, Wandel in 175 Ansatzpunkte zur Diskussion der thematischen Besonderheit eines deutsch-jüdischen (oder deutschsprachigen jüdischen) Aphorismus bieten in jüngerer Zeit Wurm und Kunert, vor allem aber die Bücher Benyo[tz’ an vielen Stellen, vorzugsweise »Variationen über ein verlorenes Thema« und »Allerwegsdahin«, etwa mit der oben schon zitierten Zusammenfassung: »Es sind drei große Themen im jüdisch-deutschen Verhältnis: der Judenhass der Deutschen, der Selbsthass der Juden; die Bedeutung beider in der Geschichte Deutschlands und für sie. Spitzenleistungen: das große Werk der Vernichtung auf der einen Seite, das große Werk des Überlebens auf der andern« (Benyo[tz 2001, 155).
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der Einstellung zum Judentum: das lässt sich bei den Aphoristikern selbst beobachten. Autoren, die sich als deutsche Staatsbürger jüdischer Konfession empfinden, stehen neben solchen, die sich als Angehörige einer jüdischen Nation verstehen. Diese Uneindeutigkeit hat zur Folge, dass ungewöhnlich viel autobiographisch-essayistische Auseinandersetzung mit dem Jüdischen zu beobachten ist, von Auerbach, Schnitzler, Auernheimer, Rathenau, Hermann und Wassermann über Heimann und Kuh bis Kraft, Gürster, Fried und Zuckermann, auch wenn die Aphoristiker andererseits ihre Herkunft nicht ausstellen. Tucholsky hat »die Frage des Judentums niemals sehr bewegt«. Assimilation ist das vorherrschende Muster, bewusste jüdische Religiosität die Ausnahme. Oftmals verstehen sich die Autoren gar nicht als Juden, sondern werden von außen zu Juden gemacht, mehr noch: das Jüdischsein wird ihnen aufgezwungen, ein Modell, das uns verstärkt schon seit der Jahrhundertwende begegnete,176 so bei Rathenau, Lissauer und Borchardt, so bei Kraft (»Erst nach 1933 wusste ich endgültig und für immer, dass ich kein Deutscher war, dass ich ein Jude bin«), so bei Hiller: »Sie [die jüdische Abkunft] überhaupt zum Gegenstand des Nachdenkens zu erheben, nötigt mich einzig die Bestienherrschaft in Deutschland«. In der klassischen Formulierung heißt es bei Friedländer : »Ich wäre kein Jude mehr, wenn der Antisemitismus nicht gewesen wäre.« Am weitesten geht hier Wurm in den 60er Jahren, der über den Judenhass nichts sagen möchte, weil er nicht weiß, was »das Jüdische« ist: »Ich weiß nicht, ob es das Jüdische überhaupt gibt.« Damit zusammen hängt ein anderer Aspekt; noch in Wurms definitorischer Resignation deutet er sich an. Parallel zur deutsch-jüdischen Literatur- wie Gattungsgeschichte zieht sich der ausgrenzende Antisemitismus durch, von Michaelis und einzelnen Bemerkungen bei Lichtenberg über den frühen antiemanzipatorischen Antisemitismus (Grattenauer, Fries, Rühs) und den Antisemitismusstreit der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts (Treitschke, Dühring) bis zu Bartels’ manischer Suche nach Juden und »Judenfreunden« in der deutschen Literatur im frühen 20. Jahrhundert und zum Exzess im nationalsozialistischen Holocaust. Nicht erst nach dem Nationalsozialismus geht er schon bei der Art, wie sich die deutsch-jüdischen Schriftsteller jeweils verstehen, einher mit dem Phänomen der Spiegelung von außen, also durch die Mehrheitsgesellschaft. Das bis zum Klischee bösartig Verfestigte wirkt zurück auf das Selbstverständnis der ihm Unterliegenden. Das ist auch im Einzelnen zu beobachten, von der witzig-zersetzenden Intelligenz sogar bis zum Rassegedanken.
176 In der klassischen Formulierung bei Sartre: »Der Jude ist der Mensch, den die andern als solchen betrachten« (zit. nach Hepp 1996, 10).
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Solidarität mit dem Judentum, Abgrenzung von der Religion, Zerrissenheit mit der Tendenz zur kosmopolitischen Auflösung: auf diese drei Elemente lässt sich das Verhältnis der deutsch-jüdischen Aphoristiker zu ihrer Herkunft vielleicht reduzieren. Konkret bilden sich die drei grundsätzlichen Möglichkeiten für das Selbstverständnis der deutsch-jüdischen Schriftsteller innerhalb der Gattungsgeschichte im Zionismus, in den diversen Assimilationsbestrebungen sowie in einer Art Diaspora-Literatur ab. Solidarität mit dem Judentum äußert sich konkret seit 1900 im Zionismus, für den jede Assimilation eine Form des jüdischen Selbsthasses ist; Kafka nähert sich ihm zeitweise, Canetti lehnt ihn strikt ab. Solidarität im abstrakten Sinne, das bedeutet gleichzeitig oftmals eine konkrete Distanzierung von den Mitjuden oder einem Teil von ihnen, angefangen bei Heine mit seiner Ambivalenz von Solidarität und Fremdheit und Börne, selbst bei Bernays, der Handel und Familiengefühl der Juden angreift, ist sie auszumachen. Ambivalenz ist auch das durchgängige Muster im 20. Jahrhundert, so bei Lissauer, bei Altenberg oder Sonnenschein. Die Abgrenzung von der Religion ist mit dem Gedanken der Assimilation, des völligen Aufgehens in der deutschen Kultur, verbunden. Kompromisslos verfochten wird sie bei Rathenau, Borchardt und Friedell. Karl Kraus fordert sie theoretisch, aber bleibt auch hier widersprüchlich. Die allgegenwärtige Zerrissenheit führt unter anderem zum Denkmodell der Diaspora-Literatur, etwa bei Stefan Zweig, Albert Ehrenstein, Alfred Wolfenstein, Jakob Wassermann. Unter den Aphoristikern ist sie für Arthur Schnitzler wie für den Expressionismus, für Franz Kafka wie für Anton Kuh bestimmend. Das Spektrum reicht im 20. Jahrhundert von Goldstein mit seinen »Aphorismen zur Gegenwart und Zukunft der deutschen Juden« von 1907, dem überzeugten Kulturzionisten Ludwig Strauß, dem Palästina zur alt-neuen Heimat wird, von Beer-Hofmann und dem gläubigen Juden Franz Baermann Steiner, der sich als ein im Westen geborener Orientale fühlt, über ›klassische‹ assimilierte Juden aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wie Schnitzler und Rathenau sowie über Werner Kraft, der nie richtig Hebräisch gelernt hat, Hofmannsthal, der seine jüdischen Ahnen verleugnet, Lissauer, für den alles Jüdische minderwertig ist, und Franz Werfel, dem die jüdische Geisteswelt weitgehend verschlossen bleibt und der als christusgläubiger Jude bezeichnet wird, bis zu Rudolf Borchardt, der es sich verbittet, als Jude bezeichnet zu werden, und Auernheimer (rechnen sei ihre Art zu beten). Noch Egon Friedell gehört in dieses Spektrum, der nicht nur zum Protestantismus übertritt, sondern in seinen kulturhistorischen Werken antisemitisch argumentiert; er laste sein Unbehagen an der Moderne den Juden an, das Judentum gehöre zu den negativen Mächten in der Geschichte, so sein Biograph. Auerbach und Bernays in der Mitte des 19. Jahrhunderts laden mit einer
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geradezu verführerisch polaren Struktur zum Vergleich ein. Auerbach relativiert im Sinne dreier Konfessionen: Juden, Katholiken, Protestanten, Bernays hingegen argumentiert streng gegenüber dem Christentum und ist insgesamt jüdisch-apologetisch orientiert. Lässt sich daraus etwa eine erste typologische Grundfigur für den deutsch-jüdischen Aphorismus ablesen; einerseits scheinbare Neutralität, behutsame Andeutung des Jüdischen, das sich gewissermaßen assimilatorisch »verbirgt«, andererseits ersichtliche Parteinahme, jüdischselbstbewusste Orthodoxie, verbunden mit Explizitheit? Es zeichnen sich jedenfalls mehrere Konzepte ab. Da ist zum einen das Konzept der mehr oder weniger spannungsgeladenen Distanz, wie es sich schon bei Heine und Börne ausmachen lässt, dann auch bei Baer-Oberdorf, Hermann und Kuh (Äquidistanz zu den Juden und zu den Deutschen), bei Borchardt, Werfel und Sonnenschein. Signale der Distanz sind später auch bei Canetti und Chargaff zu erkennen. Für die Zeit nach den Zweiten Weltkrieg gewinnen sie eine besondere politische Qualität, so bei Hiller, vor allem in der strikten Verurteilung der israelischen Politik nach 1948 die Auseinandersetzung mit dem Staat Israel, wie sie besonders klar bei Baermann Steiner, Canetti, Fried, Bukofzer und zuletzt Zuckermann zu verfolgen ist. Für die Tatsache, dass der Holocaust Deutsche und Juden unauflöslich aneinander gebunden hat, ist oftmals der Begriff der »negativen Symbiose« gebraucht worden. Ein zweites Moment hängt damit zusammen, man könnte sagen: In die vertikale spielt eine horizontale Distanz hinein, als Lösung oder Scheinlösung eines Grundkonfliktes. Scheitern zwischen Assimilation(swunsch) und nicht zu unterdrückender Verwurzelung, die tragische Zerrissenheit und das Leiden daran, das ist eine biographische Grundfigur zwei Jahrhunderte hindurch, von Heine über Cal8, der den Freitod wählt, Goldstein mit seinem Schwanken zwischen Integrationshoffnung und zynischer Ablehnung alles Deutschen, Benjamin mit seinem »Zweigeist«, Heimanns natürlichen »zwei Mittelpunkten« und Werfel, der sich gleichfalls regelrecht zerrissen fühlt. Ambivalenz ist auch die Grundfigur bei Altenberg und Schnitzler. Zuckermann ordnet, ohne jeden Gattungsbezug, dieses »produktive Spannungsverhältnis« einem »Verständnis jüdischer Tradition« zu. Das reicht bis zu Benyo[tz, dem Sonnemann gleichfalls eine »Erfahrungswelt mit zwei polaren Brennpunkten« bescheinigt und der von einem neuartigen Zwiespalt geprägt ist: »Es […] gibt uns, deutsche Juden, in Wahrheit nicht mehr. […] Ich bin Israeli, und mein Sohn versteht nicht mehr Deutsch.« Er schließt sich einerseits in die Bezeichnung »deutscher Jude« ein, er erklärt andererseits unmissverständlich: »Ich bin Israeli.« Bis ins Wortspiel hinein treibt er seine zwei »Hälften«: »halbhälft, hälfthalb«. Diese bipolare Grundfigur, als harmonisch-doppelter Mittelpunkt wie – in der Regel – als Zerrissenheit erfahren, wird überwölbt durch das Konzept des Kosmopolitismus. Auch dass der deutsch-jüdische Aphoristiker (wie die deut-
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schen Juden vielfach überhaupt) die Lösung des Problems im Kosmopolitismus sucht, lässt sich durchgehend verfolgen, von Börne, der »Weltbürger« sein möchte, über Hermann, der »die Menschheit über die Nationalität […] stellen« will, und weiter bis zu Kuh und Canetti. Konkret zeigt sich das Konzept des Kosmopolitismus in zwei Ausformungen: dem europäischen Gedanken und dem Internationalismus. Auf der Linken überformt der Gedanke der sozialistischen Internationale die Zerrissenheit des deutsch-jüdischen Aphoristikers; es ist die horizontale Distanz innerhalb des Judentums selbst, die den Klassengedanken aufgreift, angefangen bei Börne, für den seine jüdische Abkunft nicht nur eine Nebensache ist, der seinen Kampf gegen den Antisemitismus auch mit größter Aversion gegenüber den »Schacher«-Juden verbindet und dem die »Judentümlichkeit« der Handelswelt verhasst ist. Virulent wird der sozialistische Internationalismus im deutsch-jüdischen Aphorismus dann im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, bei Levy und Eisner wie vor allem bei Leonhard und Tucholsky, für den die Grenze zwischen »Ausbeutern und Ausgebeuteten« entscheidend ist, und noch für Polgar, für den eine Unterscheidung von Deutschem und Jüdischem obsolet ist, »weil sich die Frage angesichts zu bekämpfender Klassenunterschiede nicht stellt«, mit besonderer Schärfe nach 1945 bei Hiller (»Gibt es etwas Widerlicheres als […] den Börsenjuden?«). Weniger stark ausgeprägt ist der europäische Gedanke als Auflösung des internen Antagonismus, so bei Goldstein, der schreibt: »Wir sind nicht nur Juden, auch nicht vor allen Dingen Juden, sondern Europäer.«, so bei Levy schon im Titel seiner »Kriegsaphorismen«, so bei Hermann, für den das Judentum nur mehr »die Weste unter dem Rock des anständigen Europäers« ist. Auch dieser Gedanke hat seine expliziten Gegenspieler : Bei dem ›Orientalen‹ Baermann Steiner ist das Konzept des Europäischen ausdrücklich kontrastiv gedacht: kein Europäer, auch bei Baudisch, der zwischen dem Europäer, dem Inder und dem Juden unterscheiden will, und noch bei Canetti (»Sie sind anders als die andern«). Im Zusammenhang damit stehen zwei Vorurteile als Spiegelung von außen, zum Teil natürlich kritisch-ablehnend, zum Teil aber auch bestätigend: die Juden seien besonders reich, und sie seien besonders intelligent.177 Für Werfel sind beides »böswillige Legenden«, Kuh nimmt sie in zynischer Weise auf (»Wenn ja, rettet Euch!«). Gegen das kosmopolitische Konzept, das das Gemeinsame des Weltbürgertums betont, steht – im lockeren Zusammenhang mit dem Zionismus – das Konzept Rasse. Das mag besonders überraschen, aber der Frage, ob und wie der »Rasse«-Begriff in das Denken der Autoren eindringt, muss auch ein besonderes Augenmerk gelten. Auch es ist als Spiegelung von außen zu verstehen. Das 177 Vgl. dazu Gilman 1996 (»Smart Jews«).
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Konzept wurde von antisemitischer Seite her im 18. Jahrhundert entwickelt (Schlözer, Meiners), erfuhr bei Dühring seine Ausfaltung und im Nationalsozialismus nur seine perverse Zuspitzung. Mehr oder weniger explizit bekennen sich Hermann, Brod, Altenberg (»Semitische Rasse«) und Ehrenstein, selbst Schnitzler und Tucholsky zu ihm, vor allem aber Nadel: »Die Rassenfanatiker kommen mir so vor, als wenn sie etwas Selbstverständliches predigten.« Für Beer-Hofmann ist Auernheimer nicht »rasserein«. Werfel erkennt einen »Automatismus der Rasse«, auch Friedländer reflektiert den Begriff der Rasse. Ausdrücklich als eine nicht ernstzunehmende Ideologie erscheint er nur bei Hohenemser. Ein letzter Aspekt innerhalb der Erörterung des explizit Jüdischen hat der Disposition für Biblisches zu gelten, überdeutlich bei Werfel und Benyo[tz. Es steht im Zusammenhang mit kontroversen Fragen, die den Rahmen einer gattungsorientiert angelegten Untersuchung weit überschreiten: innerjüdisch mit solchen der Orientierung in Westjudentum, wie es die Regel ist, oder Ostjudentum (so bei Nadel und Baermann Steiner), politisch bedeutet es die Spannung von Zionismus (z. B. Strauß) und Israelkritik (z. B. bei Fried). Schwieriger, aber auch wichtiger und anfechtbarer gleichermaßen ist es, implizit vorzugehen und das Jüdische im Aphorismus selbst zu untersuchen, d. h. es mit Formfragen zu verknüpfen. Schütz lässt uns da keine Hoffnung; er erklärt allgemein kategorisch: »Tatsache ist jedoch, dass es stilistische und formale Merkmale, die für deutsche Schriftsteller jüdischer Herkunft typisch wären, nicht gibt« (Schütz 1992, 20). Und er sieht sich dabei etwa von Reich-Ranicki gestützt, der, Feuchtwanger zitierend, gleichfalls absolut kein sprachliches Merkmal feststellen kann (Reich-Ranicki 1977, 30). Wenn man darüber hinauskommen will und Benyo[tz’ Rosenzweig entlehntes Motto ernst nimmt: »Das Jüdische ist meine Methode, nicht mein Gegenstand«, dann muss man fragen: Worin besteht die »Methode«? Gibt es eine spezifisch deutsch-jüdische Aphoristik, die sich formal wenn nicht bestimmen, so doch umschreiben lässt? Vereinzelte Hinweise finden sich schon zu Börne, wenn dort von den »jüdischen« Schreibmodalitäten wie Spott, Satire und Witz die Rede ist. Und für Kunert am anderen Ende der chronologischen Schiene ist er »eine literarische Form, die dem jüdischen Witz nahesteht.« Zunächst sind auch für den gattungsbedingten Ausschnitt zwei Stereotype zu diskutieren: der jüdische Selbsthass und – spezifischer – der jüdische Witz. Der Selbsthass, der mittelbar in die Gattung hineinspielt, und der Witz, der sie unmittelbar mit konstituiert: (wie weit) treffen sie zu?; (wie weit) haben sie formale Bedeutung für den Aphorismus? Der ›jüdische‹ Selbsthass, »eine bestimmte Art der Selbstverleugnung« (Gilman 1993, 11), »die Identifikation mit dem Wahnbild der Bezugsgruppe vom
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Anderen« (12), also die »Internalisierung antisemitischer Klischees, die dann abgespalten und auf andere Juden angewandt werden« (Brand in Kilcher 2012, 303; nach Gilman 1993), ist eine Kategorie, die als Schlagwort seit Weininger (»Das Judentum ist das Böseste überhaupt«), Anton Kuhs »Juden und Deutsche« (1921) und Theodor Lessings Buch mit dem gleichnamigen Titel von 1930 vielfach die Auseinandersetzung bestimmt. Lessing behandelt in seinem Buch als exemplarisch (neben Arthur Trebitsch und Maximilian Harden) mit Paul R8e, Otto Weininger und Walter Cal8 drei Autoren, die für die Gattung von Belang sind.178 Der Zionismus hat dieser kontroversen Kategorie politische Qualität zugesprochen, indem er ihr die Verantwortung für eine fatal empfundene Assimilation zuspricht. Für Kraus (unter anderem von Kuh und Canetti) nicht anders als für Hofmannsthal, Friedell und Rathenau, Tucholsky und Kuh (gegen ihn selbst gerichtet) ist sie verwandt worden (Grab 1991, 154–165). Der jüdische Selbsthass hat die Debatte bis in jüngere Diskussionen hinein (Arno Lustiger, Wolf Biermann) bestimmt, auch wenn die jüngere Forschung den Begriff durchweg als problematisch bewertet. Auch für Benyo[tz ist er eine Tatsache. Das Element der Selbstbeobachtung als Voraussetzung der Menschenbeobachtung ist, von den französischen Moralisten her und aus dem Pietismus erwachsend seit Lichtenberg, Jean Paul und Seume wesentlich für den aphoristischen Zugriff. Auch wenn es sich keineswegs als spezifisch ›jüdisch‹ darstellen lässt – dazu reicht der Hinweis auf die weitere Gattungsgeschichte mit Autoren wie Hebbel, Schopenhauer und Ferdinand Ebner bis in die Gegenwart mit Peter Handke –, so ist doch nicht zu leugnen, dass dort, wo man auf die Kategorie des jüdischen Selbsthasses zurückgreifen zu können meint, Selbstbeobachtung in außerordentlichem Maße begünstigend wirkt. Wo sie etwa bei Varnhagen zu konstatieren ist, da verbindet sie sich eindeutig mit Elementen jüdischen (und weiblichen) Selbsthasses. Bei Grünewald mag man in dem Zusammenhang von Elementen der Überkompensation sprechen. Ansonsten ist hier, für Kraus und Rathenau bis hin zu Kunert, vollends Raum für psychologische Spekulation, vielleicht auch weitergehende philologische Interpretation. Leichter scheint es mit dem ›typisch jüdischen‹ Witz zu stehen, wie er den satirischen Aphorismus prägt. Es lässt sich ja ohne weiteres eine lange Reihe von Autoren dazu zusammenstellen: von Börne, Saphir, Stettenheim und Blumenthal im 19. über Goldschmidt, Otto Weiß und Kraus im frühen 20. Jahrhundert bis zu Stanislaw Jerzy Lec, Laub und Gürster nach 1945. Man würde mit so etwas wie der prägenden Kategorie »jüdischer Witz« aber vorschnell in eine Klischeefalle tappen, wenn man sich nicht gleichzeitig eine Gegenreihe vergegenwärtigte, die von Rahel Varnhagen und Auerbach, der regelrecht Abneigung 178 Vgl. Mayer 1981, 414–421.
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artikuliert, über Schnitzler, Rathenau, Cossmann, Mendelssohn, Baer-Oberdorf, über Kafka und Benjamin bis zu Benyo[tz reicht. Schon Hebbel stellt einen Zusammenhang zwischen ›geducktem und gebücktem Gehen‹ und dem »scharfkantigen Zickzack« her, wie er aus der »neueren Zeit« resultiere. In ihrem Standardwerk zum jüdischen Witz nimmt Salcia Landmann nicht nur Bezug auf Autoren wie Heine, Kraus, Tucholsky und Schnitzler. Indem sie genauer erläutert, dass es sich dabei keineswegs um eine historisch alte Vorstellung handelt, sondern dass der jüdische Witz erst mit der Aufklärung und der damit einhergehenden Emanzipation zu beobachten und als Kritik an der feindlichen Umwelt wie auch der eigenen Tradition und als die Waffe ansonsten Wehrloser zu verstehen ist, bietet sie den Rahmen, in den auch der aphoristische Witz der deutsch-jüdischen Aphoristik einzuordnen ist: politisch-gesellschaftliche Opposition.179 In neuerer Zeit ist es Kunert, der solche »Hellsichtigkeit und Hellhörigkeit für das Falsche« als »Geburtshelfer des Aphorismus« reflektiert. Wie weit sich hier auch Spuren des scharfsinnigen, am Studium des Talmud geschulten jüdischen Witzes erhalten haben, der ja immer eine Kritik enthält, sei sie philosophisch-religiöser, sei sie politisch-sozialer Art: das muss wiederum der Spekulation überlassen bleiben. Exemplarisch mag hier der Name Saphir stehen, der eine Ausbildung zum Rabbiner gemacht hat (wie im übrigen auch Auerbach und Benyo[tz). Der jüdische Witz war der Triumph der Niederlage; die Überlegenheit der Misere; das Festland der haltlos Gewordenen; das letzte i-Pünktchen einer versinkenden Insel – und der Widerruf auch noch der Taufe. Der jüdische Witz – das längste Dasein im Untergrund. Im jüdischen Witz hält das Exil dem Paradies die Waage. Der Jude fällt leicht auf und taucht gern unter : Beides bringt der jüdische Witz zum Vorschein (Benyo[tz 2014, 18).
Besser und prägnanter und zugleich poetischer, als es Benyo[tz hier formuliert, ist das Besondere des jüdischen Witzes nicht zusammenzufassen. Natürlich ist in den Anfängen Heine immer wieder für diesen ›typisch jüdischen‹ Witz reklamiert worden. Nicht weniger zutreffend wäre es, den unbekannteren Börne, den gesellschaftskritischen Demokraten, dafür heranzuziehen. Mit Saphir beginnt eine Reihe von Autoren, mit der sich das 19. Jahrhundert 179 Nach dem – im Übrigen auch vehement kritisierten – Buch Landmanns bezeichnet der aus einer Berliner Tagung hervorgegangene Band »Der jüdische Witz« von 2015 (Meyer-Sickendiek, Och 2015) den neuesten Stand der Diskussion »zur unabgegoltenen Problematik einer alten Kategorie«.
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hindurch das Politische zugunsten der Pointenorientierung bis zur Unkenntlichkeit verflüchtigt. Als Projektionsfläche antisemitischen Hasses, der jetzt nicht mehr politisch motiviert werden kann, dienen sie gleichwohl vielfach. Nicht von ungefähr tritt in Auerbach, der ausdrücklich vor den »Bonmotisten« warnt, sogleich eine Gegenfigur auf. Solcherart Witz sei keine »ständige Geistesnahrung« und bedeute, »Sauerteig als Brod« backen zu wollen. Es ist müßig, den Witz bei den Autoren des 20. Jahrhunderts, von Kraus und Tucholsky bis Laub, im Detail zu zeigen. Nicht müßig ist es, sich den unterschiedlichen Anteil an gesellschaftskritisch-politischem Potential bewusst zu halten, bei Tucholsky einerseits, Polgar und Kuh andererseits und bei Lec und Laub gleichermaßen. Und alles andere als müßig ist es auch, sich die Gefahr von Stereotypen vor Augen zu halten, in der Intellekt gegen Seele, Kälte gegen Wärme, satirische (jüdische) Schärfe gegen gemütvolle (deutsche) Innigkeit ausgespielt werden. Es sind ja Argumentationsmuster, die apologetisch für die Herzensaphoristik der Jahrhundertwende wie, im Vorfeld des Nationalsozialismus, für den Gegensatz der gemütvollen deutschen zur französischen oder eben auch jüdischen Aphoristik angewendet worden sind, etwa für Gustav Frenssen und gegen Alfred Kerr.180 Landmann lässt es sich natürlich nicht entgehen, auch auf Freud hinzuweisen (Landmann 1960, 94). Und Freud ist auch der Kronzeuge für den Zusammenhang des Witzes mit oppositionellem, ja subversivem Geist. In seiner Ansprache an die Mitglieder des Vereins B’nai B’rith von 1926 heißt es: »Weil ich Jude war, fand ich mich frei von vielen Vorurteilen, die andere im Gebrauch ihres Intellekts beschränkten; als Jude war ich darauf vorbereitet, in die Opposition zu gehen und auf das Einvernehmen mit der ›kompakten Majorität‹ zu verzichten« (zit. nach Schultz 1978, 5): Dass die Reihe der ›einschlägigen‹ Aphoristiker sich hier nicht nur ebenso leicht aufstellen lässt wie beim Witz, sondern zum Teil, aber nur zum Teil, mit dieser deckungsgleich ist, belegt die enge Verbindung beider. »Der Rebell« Varnhagen eröffnet sie, der Gesellschaftskritiker Börne, für den sich jüdische Befreiungsfragen in einen größeren demokratischen Kontext einordnen, ist der entscheidende frühe Vertreter, aber eben auch der Achtundvierziger Auerbach gehört hierher (auch wenn er 1871 die deutsche Einheit feiert), Bernstein, der die Opposition im Kaiserreich geradezu verkörpert, Kraus natürlich, der gegen nicht weniger als alles opponiert, ebenso wie Kuh mit seinem »Frondieren«, Marcuse mit seinen subversiven Definitionen ebenso wie Sonnemann im Rahmen der Kritischen Theorie, Fried in seiner Opposition gegen den Westen, die USA, die Bundesrepublik, und auch gegen Israel, aber auch Canetti in seiner Opposition gegen den Tod und der Zeitkritiker Chargaff. Und noch Benyo[tz lässt sich hier auf eigene Weise zuordnen, wenn er sagt, das 180 Vgl. oben S. 86f.
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Judentum »wurzelt einzig im Pentateuch, weil darin Prophetie noch Granit ist und nicht Pergament. Ein Stein des Anstoßes, nicht ein Stein der Weisen. Darauf kann man bauen« (Benyo[tz 1997, 80f.). Etwas Ähnliches mag auch Marcel Reich-Ranicki, selber gern und nicht selten in der Rolle des Provokateurs, im Sinn haben, wenn er einen Band mit Aufsätzen und Reden über »Juden in der deutschen Literatur« (u. a. zu Heine, Friedrich Torberg, Jakov Lind, Jurek Becker und Ludwig Marcuse) »Über Ruhestörer« nennt. Die Tatsache, dass sie immer innerhalb einer Gesellschaft lebten, die sie als Juden betrachtete, hat unter Berufung auf Sartre seiner Überzeugung nach »ihr literarisches Leben in hohem Maße mitgeprägt« (Reich-Ranicki 1977, 9). Es ist nicht schwer, von der Intensität und dem »Hang zum Extremismus«, den er ihnen insbesondere im Intellektuellen und Ästhetischen bescheinigt (ebd., 13), eine Linie sowohl zur aphoristischen Verdichtung wie zur genuin aphoristischen Zuspitzung zu ziehen.181 Zu einem anderen Zusammenhang weist eines von Benyo[tz’ zahllosen Zitaten den Weg. Walter Tschuppik, Emigrant auch er, schreibt: »Die Juden waren, als sie noch abgeschlossen unter sich lebten, ganz und gar nicht als ein witziges Volk bekannt. Erst mit ihrer Zerstreuung wehte sie ein Hauch der Zerstreutheit an – ›der jüdische Witz ist ein Geschenk des Skeptizismus‹ – und ist seither für die Juden ebenso charakteristisch wie für die Griechen« (Benyo[tz 1990, 27). Der moralistische Skeptizismus ist spätestens mit Georg Christoph Lichtenberg, dem Gründungsvater des deutschen Aphorismus, gattungskonstitutiv : Ich kann nicht sagen, dass ich das Glück hätte daran zu zweifeln (Lichtenberg 1973; 1, 943; L 670). Zweifle an allem wenigstens Einmal, und wäre es auch der Satz: zweimal 2 ist 4 (Lichtenberg 1973; 2, 453; K 303).
Erinnert sei seine deutsch-jüdische Geschichte hindurch nur an den österreichischen Sprachskeptizismus der Jahrhundertwende, aus dem heraus so verschiedene Autoren wie Kraus, Hofmannsthal und Kafka gedeutet worden sind, des weiteren insbesondere an Schnitzler, für den Skeptizismus die Grundlage seiner ärztlich-aphoristischen Diagnostik und Therapie ist, an Wittgensteins philosophische Erkundung von Zweifel und Gewissheit, an Baermann Steiner (»Stärke des Zweifels«) wie an Fried mit seinem Imperativ : »Hab Angst / vor dem / der dir sagt / er kennt keinen Zweifel«, an Marcuse, der in zweiter Potenz fragt, wo der Skeptiker nicht mehr skeptisch ist, wie an Gürsters skeptische Introspektion. Selbst bei Benyo[tz ist es der Zweifel, »des Geistes Glaubwürde« (Benyo[tz 1979, 67), der zum Glauben oftmals in Spannung gesetzt wird: »Nicht 181 Wenn Reich-Ranicki im weiteren Verlauf seiner Argumentation von der andersartig-neuen Sicht der Außenseiter spricht, wird man allerdings nur schwer einen spezifisch aphoristischen Bezug herstellen können.
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der Glaube, der Zweifel macht uns hoffen« (Benyo[tz 1981, 99), und auch aller voreilig-vordergründigen Versöhnung steht der Autor skeptisch gegenüber. Noch ex negativo kommt dieser Zusammenhang deutlich zum Ausdruck, wenn im Nationalsozialismus die »Seele« oder das »Herz« den Intellekt ersetzen und eine ›gesunde‹ Gewissheit den Platz ankränkelnder skeptischer Unsicherheit einnimmt. Einschränkend ist zweierlei anzufügen. Zum einen: Der Zweifel ist nicht spannungsloses Prinzip. Auch Zweifel am allein seligmachenden Zweifel ist bei den deutsch-jüdischen Aphoristikern, etwa bei Baermann Steiner und Benyo[tz, zu beobachten. Zum andern: Er ist kein Alleinstellungsmerkmal für sie; eine ähnliche Beispielreihe ließe sich auch problemlos von Lichtenberg über Ebner-Eschenbach bis Hans Kudszus entwickeln. Der Zweifel ist vonseiten der umstandslos Bejahenden nicht selten in einen Zusammenhang mit dem Nihilismus gebracht worden. »Wa h r h e i t w i l l ke i n e G ö t t e r n e b e n s i c h . – Der Glaube an die Wahrheit beginnt mit dem Zweifel an allen bis dahin geglaubten ›Wahrheiten‹«:182 Nietzsche, aus dessen aphoristischer Philosophie sich der Zweifel geradezu als Konsequenz ergibt, ist in dieser Reihe bewusst noch ausgenommen, denn die Affinität der deutsch-jüdischen Aphoristiker zu diesem Denker der bezweifelnden Befreiung bedarf einer eigenen Akzentuierung. Die Reihe beginnt mit Re8 und Lanzky in seiner unmittelbaren Lebensumwelt, setzt sich in der nächsten Generation namentlich mit Mongr8, Ewald und Nadel fort, lässt sich über Levy, Friedell und Kuh weiter verfolgen und ist noch in der entschiedenen Gegnerschaft bei Canetti nicht ohne Signifikanz. Es sind aber nicht nur Zweifel und Befreiung, die diese spezifische gedankliche Nähe zu Nietzsche generieren, auch das Moment der Desillusion trägt wesentlich dazu bei. Die deutsch-jüdischen Autoren fallen früher oder später – die zahlreichen autobiographischen Zeugnisse belegen es – aus der Illusion der fraglosen und problemlosen Gleichartigkeit zu den Deutschen heraus. Der desillusionierende Blick, den Moritz Goldstein den Juden im Unterschied zu den Germanen zuschreibt, ist dementsprechend gleichfalls ein besonderes Element der Gattungsnähe (und Goldstein lässt sich den Verweis auf Nietzsche nicht entgehen). Desillusion beherrscht die gesamte autobiographisch-essayistische Literatur der enttäuschten Assimilanten, besonders schmerzlich etwa bei Auerbach. Aus gattungsspezifischer Sicht sind um 1900 Wertheimer und Weiss, Kraus mit seinem Kampf gegen die verräterisch-ornamentalen Sprachillusionen und nach dem Zweiten Weltkrieg Feldmann hervorzuheben. 182 Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 2., durchgesehene Auflage. München: Deutscher Taschenbuch Verlag; Berlin, New York: de Gruyter 1988, 2. Band (= KSA 2), S. 387 (Menschliches, Allzumenschliches II, 1. Abteilung, Nr. 20).
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Witz, Zweifel und Desillusion fließen in einem Kriterienpaar zusammen, das für den Aphorismus nicht nur mindestens ebenso konstitutiv wie der Skeptizismus ist, sondern auch unmittelbar formbestimmend wird, allerdings in einer breiten Skala von Varietäten, in Dialektik und Paradoxie. Das »überschärfte Talmuddenken«, wie es bei Landmann heißt (Landmann 1960, 97), wirkt darauf hin, dass der jüdisch-deutsche Aphoristiker in besonderem Maße in dialektischem Denken geschult und es anzuwenden gewohnt ist. Es kennzeichnet Hausdorffs Denken, für das Innovative von Wertheimers Moralistik ist es geradezu entscheidend, Schnitzlers Formulierungen schärft es. Bei Leonhard, der Gegenteiliges konsequent zusammendenkt, beherrscht die Dialektik die Denkbewegung förmlich. Sie führt Chargaff aus dem vergleichsweise planen naturwissenschaftlichen Denken heraus, Marcuse enthebt sie einer neuen Opposition, die in neuem Konformismus erstarrt. Fried generiert mit ihrer Hilfe bis in die Manier hinein seine aufklärerisch-kritischen Texte. Für Laub ist sie das Mittel seiner gesellschaftspolitischen Satire. Benyo[tz erlaubt sie nicht nur einen neuen Blick auf die Kernbegriffe Assimilation und Opfer, er macht sie auch insgesamt produktiv bis in das Wortspiel hinein (das weit über das Spiel hinausführt). Das dialektisch-paradoxale Denken, wie es die Gattung bevorzugt, muss bei Autoren auf eine besondere Affinität stoßen, die von ihrer Herkunft her grundsätzlich auf der Suche nach Elementen sind, in denen sich das Gegensätzliche zu einer Einheit findet. Für Werfels religiösen Aphorismus ist der jüdische Geist ein paradoxer Geist, denn: »Er will den Naturmenschen von der Knechtschaft der Natur befreien und ihn emporheben, auf daß er das Ebenbild dessen werde, was ihm als das über alles Gute und Heilige vorschwebt.« Ambivalenzen im Verhältnis zu Herkommen, Religion und Sitte sind jedenfalls das fast durchgängige biographische Muster. Goldsteins »Doppelheit«, Heimanns »eine Bahn mit zwei Mittelpunkten«, Benjamins »Zweigeist«: das muss sich sprachlich-formal auswirken und tut es auch. Die aphoristische Paradoxie kommt in den Texten der deutsch-jüdischen Aphoristiker zur Vollendung. Varnhagen personifiziert sich geradezu in dieser Figur, verstanden als »eine Wahrheit, die noch keinen Raum finden kann sich darzustellen; die gewaltsam in die Welt drängt, und mit einer Verrenkung hervorbricht«. Bei Börne wie bei Bernays wird sie, in höchst unterschiedlicher Form, fruchtbar gemacht. Bei vielen Autoren vor der Jahrhundertwende, etwa bei Goldschmidt, Weiß und Münzer, wird sie, zum Selbstzweck geworden, von Saphir her zum Muster ohne Wert. Bei Wertheimer eröffnet sie erkenntniserweiternde Ambivalenzen, Leonhard erhebt sie wie selbstverständlich zur aphoristischen Logik. Kraus handhabt sie unübertroffen, meister- wie vorbildhaft; in seiner Nachfolge wird sie für Stoessl, Grünewald oder Kraft höchst bedeutungsvoll. In Kafkas zentraler Bild- und Argumentationsstruktur ist sie im Hinblick auf die denkbestimmende Subjektivität als nicht auflösbares existenzielles Paradoxon erneuert; Strauß wie
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Aichinger sind ihm darin nahe. Bei Heimann ist sie Ausdruck eines Weltbildes, das auf den Bewegungsprozess zwischen Gegensätzen abhebt. Von ihr geht Chargaffs das forschende Erkennen und Erklären übersteigende Denken aus. Ohne sie zu bemühen, lässt sich Canettis Verhältnis zum Judentum nicht begreifen. Auch Benyo[tz ist innerhalb der aphoristischen Techniken, die er beherrscht, das paradoxe Umkreisen nicht fremd. Man muss sich angesichts der Paradoxie freilich wiederholen: Weder bestimmt sie alle jüdisch-deutschen Aphoristiker im gleichen Maße – für Rathenau, Steiner, Werfel etwa ist sie keine Kategorie von Bedeutung –, noch ist sie keineswegs nur bei ihnen anzutreffen. Sich von dem Vorurteil freizuhalten, der deutsch-jüdische Aphorismus sei in seiner Gesamtheit witzig-oppositionell, bedeutet auch, sich offenzuhalten für ein ganz anderes Element: seine Nähe zu Lyrik und Gebet. In der Gegenwart ist beides in der Person von Elazar Benyo[tz in hervorragender Weise präsent. Aber es zieht sich auch als Nebenstrang durch seine Geschichte zumindest im 20. Jahrhundert: bei Pollak, Baermann Steiner, Strauß ebenso wie bei Celan und Wurm. Opposition, Lyrik und Aphorismus gehen auf der anderen Seite in der Zeit nach Brecht bei Fried und Kunert eine Verbindung ein. Was alle diese gedanklichen und sprachlichen Figuren im Hinblick auf ihre besondere Bedeutsamkeit für die jüdisch-deutschen Aphoristiker überwölbt, das ist ihr von Tradition und Herkommen her besonderes Verhältnis zu Bildung, Schrift und Buch und damit zur Sprache. Wenn es noch eines besonderen Beleges dafür bedürfte, so findet auch er sich bei Benyo[tz: »Die Bedeutung der Sprache und der Sprachen, da ihnen in der Bibel, von allem Anfang an, eine so große Rolle zugestanden wird, steht im Zentrum jüdischen Denkens« (Benyo[tz 1997, 31). Das Bildungsdenken charakterisiert namentlich die jüdischen Aphoristikerphilosophen, etwa Unger, Ewald und Marcus; konkrete Hinweise auf das Selbstverständliche sind eher selten. Auch in dem besonderen Verhältnis eines Schriftstellers zu seinem Material wird man nicht ohne weiteres spezifisch Jüdisches entdecken wollen. Dennoch ist es nicht ohne eine gewisse Signifikanz, an das »Spracherlebnis« von Kraus, an Pollaks Sprachbewusstheit und Krafts Sprachpathos, an Grünewalds Wortgläubigkeit und Baermann Steiners »geradezu mystische Beziehung« zur Sprache zu erinnern, an Sonnenschein, der in die deutsche Sprache flüchtet, wie an den französischen Juden Feldmann und den Israeli Benyo[tz, die sich, was ihre Literatur betrifft, für die deutsche Sprache entscheiden. Spöttisch wird das Verhältnis bei Börne gesehen (»sie sprachen Deutsch wie Adelung«), hoch emotional bei Hermann (»ich liebte die deutsche Sprache«) wie bei Benyo[tz (»Die mich heimsuchende deutsche Sprache bescherte mir Augenblicke eines hohen dichterischen Glücks«), geradezu pathetisch bei Kraft (»Es gibt keine andere Rettung als die Sprache«), der in der Emigration »wie bisher aus den Quellen des deutschen Geistes und der deutschen Sprache« schöpft, klar konstatierend bei Canetti (»Die Sprache
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meines Geistes wird die deutsche bleiben, und zwar weil ich Jude bin«), mit spezifisch jüdischem Akzent bei Beer-Hofmann (»Das Wort ist immer älter und weiser als der, der es gebraucht«). Um die Zusammenfassung zu bündeln: Explizit bilden die deutsch-jüdischen Aphoristiker das Selbstverständnis der deutschen Juden in seiner ganzen widersprüchlichen Vielfalt ab, von westjüdischem Liberalismus bis zur Orthodoxie, von Solidarität bis zur Abgrenzung, von umstandsloser Assimilation bis zu Zionismus und jüdisch-israelischem Nationalbewusstsein. Eine gespannte, leidvoll erlebte Doppelheit ist die vorherrschende biographische Figur. Das Phänomen der Spiegelung von außen ist dabei nicht zu vernachlässigen. Was das Implizite betrifft, so ist der Aphorismus zweifellos »keine jüdische Erfindung« (Kunert). Dennoch treffen viele konstitutive Elemente der Gattung, wie wir sie hier im Einzelnen in den Grundzügen entwickelt haben, auf eine spezifische Disposition. Die aus der Aggression der Umwelt sich nährende Selbstbeobachtung, der provozierende Witz dessen, der sich zum Außenseiter gemacht sieht, Skeptizismus und Desillusionismus, Paradoxie und Dialektik ebenso wie das Verhältnis zu Schrift und Sprache: sie treffen bei den deutsch-jüdischen Aphoristikern aufgrund von deren biographisch-literarischer Konstitution in besonderer Weise zusammen.
Quellen und Literatur
Die häufig zitierte Literatur, im Text mit Autor und Jahreszahl in Klammern nachgewiesen, ist hier aufgeschlüsselt.
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Personenverzeichnis Autor(inn)en von Sekundärliteratur sind nur verzeichnet, wenn über die reine Quellenangabe hinaus auf sie Bezug genommen wird. »21, 22« verweist auf je einzelne, »22f.« auf eine zusammenhängende Erwähnung. Die wichtigeren Stellen sind kursiv gesetzt.
Abraham 165 Adler, Hans Günther 125 Adorno, Theodor W. 83, 121f., 124, 129, 167 Andreas-Salom8, Lou 48 Aichinger, Ilse 153f., 158 Altenberg, Peter 61, 63, 67f., 85, 111, 112, 113, 116, 171, 172, 174 Anders, Günther 121, 122f. Anschel, Salomon 22 Arendt, Hannah 25, 28, 122 Auerbach, Berthold 17, 19, 44–46, 47, 50, 62, 66, 132, 170, 171, 175 Auernheimer, Raoul 62, 115f., 170 Bach, Johann Sebastian 86 Baer-Oberdorf, Salomon 55, 88, 89f., 172, 176 Bartels, Adolf 47, 53, 57, 59f., 80, 87, 109, 170 Baruch, Jacob 37 Bauchwitz, Kurt (Roy C. Bates) 148 Baudelaire, Charles 156 Baudisch, Paul 62, 107, 173 Bauer, Felice 77, 78 Becker, Jurek 178 Beer-Hofmann, Richard 62, 72, 88, 113f., 171, 174, 182 Behr, Isachar Falkensohn 19, 23, 161 Ben-Chorin, Schalom 128 Bendavid, Lazarus 19, 22, 23 Ben-GavriÞl, Moscheh Ya’akov 128
Benjamin, Walter 57, 83, 98, 110–112, 121, 124, 129, 131, 167, 172, 176, 180 Benyo[tz, Elazar 17, 24, 49, 58, 123, 124, 128, 129, 136, 137, 159–166, 169, 172, 174, 175, 176, 177, 178, 179, 180, 181 Bergmann, Hugo 76, 125, 128 Bernays, Jacob 42–44, 46, 50, 171, 180 Bernstein, Max 57, 177 Bettelheim, Anton 82 Bierce, Ambrose 143 Biermann, Wolf 158f., 175 Binder, Hartmut 79 Bloch, Ernst 121, 122, 124 Blumenbach, Johann Friedrich 20 Blumenthal, Oskar 54f., 175 Bodman, Clara von 160 Börne, Ludwig 17, 25, 31–36, 38, 39, 40, 42, 50, 53, 108, 113, 116, 117, 141, 143, 171, 172, 173, 174, 175, 176, 177, 180, 181 Bondi, Georg 57 Borchardt, Rudolf 57, 82, 86, 129, 170, 171, 172 Brand, Alix 68 Brandes, Georg 64 Brecht, Bertolt 98, 111, 152, 155, 181 Brinckmann, Karl Gustav von 27 Broch, Hermann 14 Brod, Max 76, 77, 78, 116, 118, 125, 134, 174 Buber, Martin 14, 76, 91, 101, 110, 113, 125, 128, 129, 131, 132, 164 Bühn, Volker 104
198 Bukofzer, Werner 114, 128, 134, 172 Burckhardt, Carl Jacob 164 Cal8, Walter 49f., 172, 175 Canetti, Elias 83, 113, 125, 129, 136, 137–141, 149, 153, 155, 156, 159, 160, 169, 171, 173, 175, 177, 179, 181 Caspary, Arpe 67 Cavarocchi Arbib, Marina 79 Celan, Paul 136, 149f., 153, 163, 181 Chalfen, Israel 149 Chamfort, Nicolas-S8bastien Roch 88 Char, Ren8 150 Chargaff, Erwin 141–143, 149, 169, 172, 177, 180 Cohen, Hermann 110, 128 Copp8e, FranÅois 63 Cossmann, Paul Nikolaus 55, 88f., 176 Crick, Francis 141 Davidsohn, Georg 97 Davidsohn, Ludwig 97 Detering, Heinrich 19 Diamant, Dora 77 Dilthey, Wilhelm 90 Döblin, Alfred 98 Dohm, Christian Wilhelm 19f., 21, 23 Dreyfus, Alfred 47, 72 Droste-Hülshoff, Annette von 161 Dühring, Eugen 47, 56, 170, 174 Ebner, Ferdinand 164, 175 Ebner-Eschenbach, Marie von 42, 62, 63, 65, 66, 179 Eckertz, Erich 47, 53 Ehrenstein, Albert 68, 104, 171, 174 Einstein, Albert 14 Eisner, Kurt 97, 173 Epiktet 62 Euringer, Richard 87 Ewald, Oscar 62, 90, 91, 179, 181 Feldmann, Arthur (Andr8 Chademony) 148, 149, 179, 181 Feuchtersleben, Ernst Freiherr von 62 Feuchtwanger, Lion 174
Personenverzeichnis
Fichte, Johann Gottlieb 24 Fischer(-Graz), Wilhelm 65f. Flex, Walter 85 Fontane, Theodor 94 Fouqu8, Friedrich de la Motte 27 Franzos, Karl Emil 50 Frenssen, Gustav 177 Freud, Sigmund 14, 142, 168, 177 Freudenthal, Gad 90 Fried, Erich 113, 125, 137, 149, 151–153, 155, 170, 172, 174, 177, 178, 180, 181 Friedell, Egon 61, 74f., 82, 87, 104, 113, 146, 171, 175, 179 Friedländer, Benedict 56f. Friedländer, David 23 Friedländer, Max Jacob 88, 134f., 170, 174 Friedländer, Moritz 90 Friedländer, Salomo (Mynona) 95, 101f., 110, 111 Friedrich II. 25 Fries, Jacob Friedrich 24, 31, 170 Gassen, Kurt 58 Gay, Peter 15 Geiger, Ludwig 53, 80 Gentz, Friedrich von 27 George, Heinrich 114 George, Stefan 57, 132 Gersuny, Robert 61, 62f., 65 Goethe, Johann Wolfgang von 19, 23, 24, 43, 45, 62, 86, 92, 122, 132 Goldberg, Oskar 98 Goldscheider, Ludwig 62, 107f. Goldschmidt, Moritz 55, 69, 175, 180 Goldstein, Moritz 31, 32, 59–61, 77, 85, 131, 169, 172, 173, 179, 180 Grab, Walter 72, 110, 159 Grattenauer, Karl Wilhelm Friedrich 24, 170 Grillparzer, Franz 23 Grünewald, Alfred 62, 103f., 107, 113, 175, 180, 181 Günther, Joachim 122, 164 Gürster, Eugen 146f., 170, 175, 178
199
Personenverzeichnis
Gundolf, Friedrich (Friedrich Leopold Gundelfinger) 57, 161 Haas, Willy 72 Haecker, Theodor 119 Haefs, Wilhelm 106 Hagen, Friedrich 148f. Hagen, Friedrich Heinrich von der 36 Hamburger, Käte 25 Harden, Maximilian 175 Hatvani, Paul 62, 106f. Hausdorff, Felix (Paul Mongr8) 48f., 87, 88, 164, 179, 180 Hebbel, Friedrich 49, 78, 156, 175, 176 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 121 Heimann, Moritz 77, 82–84, 86, 95, 111, 170, 172, 180, 181 Heine, Heinrich 25, 28–31, 36, 39, 40, 42, 47, 53, 57, 60, 106, 143, 154, 166, 168, 172, 176, 178 Hermann, Georg 82, 94–96, 97, 132, 169, 170, 172, 173, 174, 181 Hermann-Röttgen, Marion 125, 127 Herz, Alfred 108f. Herz, Henriette 23, 25, 31 Herz, Marcus 22, 23, 31 Herzl, Theodor 53, 61, 69, 72f., 80, 115, 153 Heydebrand, Renate von 83 Hildesheimer, Wolfgang 159 Hiller, Kurt 98, 100f., 105, 111, 116, 146, 170, 172, 173 Hiob 165 Hirsch, Samuel 161 Hitler, Adolf 61, 115, 130, 138, 142 Hoddis, Jakob van 98 Hofmannsthal, Hugo von 72, 74, 111, 112, 113, 132, 171, 175, 178 Hohenemser, Ernst 84f., 95, 164, 174 Holst, Ludolf 33, 34 Homer 42 Horch, Hans-Otto 14, 133 Horkheimer, Max 121, 122 Jacob, Max 149 Jacobi, Friedrich Heinrich
19
Jacobowski, Ludwig 50 Jacobsohn, Siegfried 117 Jaff8, A. 55f. Jakob 165 Jassoy, Daniel Ludwig 36–39 Jean Paul 23, 24, 40, 175 Jesensk/, Milena 78 Jesus 93, 119 Joachim-Daniel, Anita 146, 147f., 149 Joseph II. 76 Jünger, Ernst 63 Kafka, Franz 16, 17, 62, 76–80, 108, 111, 112, 113, 116, 118, 125, 127, 129, 130, 131, 133, 136, 140, 150, 154, 164, 169, 171, 178, 180 Kahn, Robert L. 146, 148 Kalischer, Erwin 55f. Kant, Immanuel 24, 86 Kantorowicz, Ernst 57 Kerr, Alfred 87, 146, 155, 177 Kesser, Hermann 107 Kierkegaard, Søren 78, 119 Kilcher, Andreas B. 15, 16, 76, 80 Klages, Ludwig 57 Kobler, Franz 47, 81 Kolb, Annette 160 Kolmar, Gertrud 163 Kraft, Werner 57, 80, 82, 112, 113, 125, 127, 128–131, 137, 160, 164, 170, 171, 180, 181 Kraus, Karl 35, 41, 61, 62, 65, 67, 68–70, 71, 73, 74, 79, 80, 87, 89, 92, 95, 103, 106, 108, 109, 111, 112, 113, 115, 117, 120, 126, 130, 131, 137, 140, 141, 143, 150, 151, 155, 164, 169, 171, 175, 176,177, 179, 180, 181 Krojanker, Gustav 68 Kudszus, Hans 179 Kürnberger, Ferdinand 161 Kütemeyer, Wilhelm 129 Kuh, Anton 62, 112, 113, 170, 171, 172, 173, 175, 177, 179 Kuh, Emil 116 Kuh, Ephraim Moses 19
200 Kunert, Günter 88, 113, 153, 154–156, 158, 169, 174, 175, 176, 181, 182 Kunze, Reiner 155 La BruyHre, Jean de 27, 62 Landmann, Edith 58f., 160 Landmann, Michael 58, 160 Landmann, Salcia 160, 176, 177, 180 Landauer, Gustav 77, 131 Lanzky, Paul 48, 179 La Rochefoucauld, FranÅois de la 62, 64, 66, 84 Lasker-Schüler, Else 101, 102f. Lassalle, Ferdinand 33 Laub, Gabriel 17, 113, 156–158, 160, 175, 177, 180 Lavater, Johann Kaspar 21 Lec, Stanislaw Jerzy 155, 157, 160, 175, 177 Leitzmann, Albert 93 Leonhard, Rudolf 95, 98–100, 111, 173, 180 Lersner, Achilles Augustus von 38 Lessing, Gotthold Ephraim 19, 20, 43 Lessing, Theodor 48, 129, 175 Levy, Oscar 95, 97, 173, 179 Lichtenberg, Georg Christoph 20–22, 23, 24, 26, 27, 36, 42, 43, 64, 75, 93, 101, 107, 108, 141, 146, 158, 170, 175, 178, 179 Liebermann, Max 110 Ligne, Charles Joseph de 25 Lind, Jakov 178 Lissauer, Ernst 85, 96, 170, 171 Löwy, Jizchak 76, 78 Ludwig XIV. 35 Lueger, Karl 61, 115 Lustiger, Arno 175 Luther, Martin 86 Luxemburg, Rosa 33 Macklin, Charles 21 Maimon, Salomon 19, 163 Mann, Thomas 98, 146 Marcus, Hugo 90, 181 Marcuse, Ludwig 31, 33, 143f., 169, 177, 178, 180
Personenverzeichnis
Margolius, Hans 144f., 146, 147, 164 Mark Aurel 118 Marwitz, Alexander von der 28 Marx, Karl 47, 56, 65, 168 Marx, Karl-Theodor 144, 145 Mautner, Franz H. 144 Meiners, Christoph 20 Meir, Golda 153 Meister, Ernst 150 Mendelssohn, Arnold 85f., 87, 91, 176 Mendelssohn Bartholdy, Felix 85 Mendelssohn, Moses 19, 21, 22, 23, 31, 43, 161 Meyer, Conrad Ferdinand 163 Michaelis, Johann David 20, 36 Milo, Otto 144, 145 Mommsen, Theodor 46 Mongr8, Paul s. Felix Hausdorff Montaigne, Michel de 156 Morgenstern, Christian 95, 161 Moritz, Karl Philipp 19 Moses 93, 118 Münzer, Richard 61, 66, 87, 180 Musil, Robert 83, 98 Nadel, Arno 91–94, 174, 179 Nadler, Josef 82, 87 Napoleon Bonaparte 21 Nicolai, Friedrich 19 Niebuhr, Barthold Georg 43 Nietzsche, Friedrich 47, 58, 60, 62, 64, 75, 86, 92, 97, 116, 118, 143, 161, 166, 179 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 24, 26, 27, 75, 132 Nussbaum, Laureen 95 Pagis, Dan 131 Pascal, Blaise 43, 78, 119, 122, 164 Perls, Richard 57 Platen, August von 29 Pol, Heinz 146 Polgar, Alfred 62, 113f., 146, 173, 177 Pollak, Felix 62, 80, 112, 120, 155, 181 R. 61 Ranke, Leopold von
43
201
Personenverzeichnis
Rathenau, Emil 80 Rathenau, Walther 80–82, 86, 170, 171, 175, 176, 181 R8e, Paul 47f., 53, 175, 179 Reichmann, Hans 108 Reich-Ranicki, Marcel 15, 19, 174, 178 Remarque, Erich Maria 102 Ritschl, Friedrich Wilhelm 42 Rivarol, Antoine de 161 Robert, Ludwig 26 Robertson, Ritchie 80 Roden, Max 145 Rosenfelder, Fritz 90 Rosenthal, Ludwig 29 Rosenzweig, Franz 162, 174 Rübner, Tuvia 113, 125, 131 Rühs, Friedrich 24, 30, 31, 170 Rychner, Max 82, 136, 149, 160, 164 Sachs, Nelly 149 Salomo 165 Sangmeister, Dirk 37 Saphir, Moritz Gottlieb 32, 36, 39–42, 50, 101, 157, 175, 176 Sartre, Jean-Paul 170 Schäfer, Frank 21 Schernhagen, Johann Andreas 21 Schlegel, Friedrich 23, 24, 74 Schlözer, August Ludwig von 20 Schmidt, Alfred 122 Schmidt, Erich 59 Schnitzler, Arthur 17, 58, 61, 72–74, 85, 86, 87, 111, 113, 115, 170, 171, 172, 174, 176, 180 Schönberg, Arnold 71 Scholem, Gershom 15, 98, 110, 111, 128, 129, 131 Schopenhauer, Arthur 43, 48, 92, 122, 134, 175 Schröder, Rudolf Alexander 85 Schütz, Hans J. 14, 15, 16, 53, 174 Schwarz, Egon 15 Serke, Jürgen 105 Serner, Walter 102 Seume, Johann Gottfried 175 Shedlitzky, Itta 14
Simmel, Georg 57f. Sonnenschein, Hugo (Sonka) 62, 104–106, 171, 172, 181 Soemmering, Samuel Thomas 20 Sonnemann, Ulrich 121, 123f., 172, 177 Spengler, Oswald 146 Spicker, Friedemann 16, 104 Spinoza, Baruch de 93 Steiner, Franz Baermann 62, 80, 112, 113, 125–128, 137, 162, 164, 169, 171, 172, 173, 174, 178, 179, 181 Stern, Clara 122 Stern, William 122 Stettenheim, Julius 54, 175 Stössinger, Felix 92 Stoessl, Otto 61, 67, 71, 111, 180 Strauss, Herbert 15 Strauß, Ludwig 57, 77, 85, 112, 125, 128, 129, 130, 131–134, 137, 140, 149, 164, 166, 169, 171, 174, 180, 181 Süß Oppenheimer, Joseph 21 Susman, Margarete 25, 77, 136, 149, 160, 161 Toller, Ernst 86 Torberg, Friedrich 178 Trachtenberg, Jakow 135f. Trebitsch, Arthur 175 Treitschke, Heinrich von 43, 46, 47, 57, 80, 170 Troxler, Ignaz Paul Vital 27 Tschuppik, Walter 178 Tucholsky, Kurt 16, 101, 102, 105, 108–110, 112, 113, 116, 117, 155, 158, 173, 174, 175, 176, 177 Twellmann, Marcus 45 Unger, Josef
61, 62, 65, 181
Varnhagen, Karl August von 26, 27, 28 Varnhagen von Ense, Rahel 16, 24, 25–28, 36, 136, 175, 177 Vauvenargues, Luc de Clapiers, Marquis de 66 Veit, Dorothea 23, 25 Voigts, Manfred 59f.
202 Volkov, Sulamith
Personenverzeichnis
53
Wagner, Richard 36 Wassermann, Jakob 14, 77, 82, 86, 94, 162, 163, 170, 171 Watson, James 141 Weigel, Hans 145f. Weininger, Otto 68, 71, 75, 102, 175 Weiß, Otto 61, 64f., 69, 175, 179, 180 Weltsch, Felix 125 Werfel, Franz 17, 62, 72, 88, 104, 108, 112, 113, 116, 118–120, 169, 171, 172, 173, 174, 180, 181 Wertheimer, Emanuel 55, 61, 63f., 88, 179, 180 Wicht, Henning 37, 38
Wieckenberg, Ernst-Peter 19 Wohl, Jeanette 32 Wolfenstein, Alfred 171 Wolff, Kurt 76 Wolfskehl, Karl 57f., 77, 88 Wurm, Franz 150f., 169, 170, 181 Zeitlin, Egon 14, 17, 24, 46, 48, 71, 74, 87, 107, 114, 150 Zeller, Michael 153 Zohn, Harry 14, 107, 115, 151 Zuckermann, Moshe 88, 166–168, 170, 172 Zweig, Arnold 77, 110 Zweig, Stefan 171
Poetik, Exegese und Narrative. Studien zur jüdischen Literatur und Kunst Poetics, Exegesis and Narrative. Studies in Jewish Literature and Art Herausgegeben von Gerhard Langer, Carol Bakhos, Klaus Davidowicz und Constanza Cordoni Poetik – Exegese – Narrative versteht sich als eine wissenschaftliche Reihe mit kulturwissenschaftlicher Ausrichtung. In ihr wird jüdische Literatur von der Antike bis zur Gegenwart herausgegeben, analysiert, ausgelegt. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf Erzählungen im weiten Sinn, wozu auch Film und Medien gehören. Das Ziel ist es, Texte in ihrer literarischen und strukturellen Tiefendimension sowie ihrem über die Zeiten hinweg aktuellen Aussagegehalt zu verstehen und zu vermitteln, wobei die (sozial-)geschichtlichen, politischen und kulturellen Hintergründe mitbedacht werden. Die Reihe richtet sich an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, an Studierende und ein an Kulturund Literaturwissenschaft sowie an Jüdischen Studien interessiertes breites Publikum. Weitere Bände dieser Reihe: Band 6: Klaus S. Davidowicz Film als Midrasch Der Golem, Dybbuks und andere kabbalistische Elemente im populären Kino 2017, 155 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-8471-0673-9 € 35,– D / € 36,– A Band 5: Asher D. Biemann Michelangelo und die jüdische Moderne 2016, 185 Seiten mit 3 Abbildungen, gebunden, ISBN 978-3-8471-0599-2 € 35,– D / € 36,– A Band 4: Wolfgang Treitler Über die Verzweiflung hinaus Das Jahrhundert zwischen Stefan Zweig und Aharon Appelfeld 2015, 349 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-8471-0448-3 € 50,– D / € 51,50 A Band 3: Chiara Conterno Die andere Tradition Psalm-Gedichte im 20. Jahrhundert 2014, 355 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-8471-0351-6 € 50,– D / € 51,50 A Band 2: Constanza Cordoni / Gerhard Langer (Hg.) Narratology, Hermeneutics, and Midrash Jewish, Christian, and Muslim Narratives from the Late Antiquity through to Modern Times 2014, 349 Seiten mit einer Abbildung, gebunden, ISBN 978-3-8471-0308-0 € 50,– D / € 51,50 A
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