Wenn Rache der Vergebung weicht: Theologische Grundlagen einer Kultur der Versöhnung 9783666563003, 3525563000, 9783525563007


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Wenn Rache der Vergebung weicht: Theologische Grundlagen einer Kultur der Versöhnung
 9783666563003, 3525563000, 9783525563007

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V&R

Gewidmet der hochwürdigen Wiener Evangelisch-Theologischen Fakultät als Zeichen des Dankes für die Verleihung der Würde eines Ehrendoktors der Theologie der Universität Wien

CHRISTOPH KLEIN

Wenn Rache der Vergebung weicht Theologische Grundlagen einer Kultur der Versöhnung

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Reinhard Slenczka und Gunther Wenz Band 93

Die Deutsche Bibliothek -

CIP-Einheitsaufnahme

Klein, Christoph: Wenn Rache der Vergebung weicht: theologische Grundlagen einer Kultur der Versöhnung / Christoph Klein. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1999 (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie; Bd. 93) ISBN 3-525-56300-0

© 1999 Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen. Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen.

Inhalt

Vorwort

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Einleitung

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Erster Hauptteil: DAS ZEUGNIS VON DER VERSÖHNUNG

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1. Drei alttestamentliche Geschichten als Paradigmen menschlichen Zusammenlebens in Schuld und Versöhnung

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a) Die Grundsituation des von Gott entfremdeten Menschen: Der Bruderhaß (Kain und Abel - Gen 4) b) Die Überwindung der Entfremdung zwischen Brüdern: Die Versöhnung (Josef und seine Brüder - Gen 37-50) c) Wo gegenseitige Versöhnung nicht mehr möglich ist: Gottes Vergebung (David und Uria - 2. Sam 11-12) 2. Drei neutestamentliche Geschichten über Angebot, Verweigerung und Weitergabe von Versöhnung a) Einladung zur Versöhnung: das Gleichnis von den Vatersöhnen (Lk 15,11-32) b) Die verweigerte Versöhnung: das Gleichnis vom „bösen Knecht" (Mt 18,21-35) c) Die weitergegebene Versöhnung: das Gleichnis vom „klugen Verwalter" (Lk 16,l-8a) 3. Drei Aspekte des Versöhnungshandelns in der Bibel a) Der rechtliche Aspekt: Versöhnung als zwischenmenschlicher Ausgleich b) Der kultische Aspekt: Versöhnung als Sühnehandlung c) Der christologische Aspekt: Versöhnung als Handeln Christi an den Menschen

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41 46 52 58

58 62 68

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4. Drei Dimensionen der Versöhnung in der christlichen Dogmatik a) Die vertikale Dimension der Versöhnung: Versöhnung mit Gott b) Die horizontale Dimension der Versöhnung: Versöhnung mit dem Mitmenschen 1. Versöhnung mit dem Nächsten 2. Versöhnung innerhalb einer Gemeinschaft 3. Versöhnung in Gesellschaft und Welt c) Die subjektive Dimension der Versöhnung: Versöhnung mit sich selbst 5. Drei ethische Grundprobleme der Versöhnung a) Versöhnung und Gerechtigkeit b) Die Opfer-und Täterproblematik in der Versöhnung c) Versöhnung als Prozeß

76 78 82 82 83 85 89 93 94 101 109

Zweiter Hauptteil: DER DIENST DER VERSÖHNUNG

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1. Versöhnung als „weltliche" Konfliktlösung

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a) Konfliktbewältigung als psychologisches Problem b) Konfliktbeilegung als soziologisches Problem c) Konfliktregelung als Rechtsproblem 2. Der Versöhnungsdienst in der Kirche a) Konsensus in der Kirche angesichts des Pluralismus der Welt b) „Geschwisterlicher Streit" in der Kirche angesichts ihrer volkskirchlichen Gestalt c) Der Dialog in der Kirche angesichts ihrer Machtstrukturen 3. Der Dienst zur Versöhnung der Kirchen untereinander a) „Versöhnte Verschiedenheit" als ökumenisches Konzept b) Lebendige Versöhnung als Erfahrung in der gottesdienstlichen Begegnung c) Praxis ökumenischer Versöhnung 4. Der Versöhnungsdienst der Kirche in der Welt a) Die Entwicklung einer „politischen Theologie" aus dem Bußinstitut der Kirche b) Die soziale Dimension des Versöhnungsdienstes c) Die kosmische Dimension des Versöhnungsdienstes

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121 125 132 137 138 142 147 153 154 158 162 166

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Dritter Hauptteil: DIE FEIER DER VERSÖHNUNG

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1. Entstehung und Entwicklung der Versöhnungshandlung in der Kirche

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a) „Re-konziliation" innerhalb des Bußinstituts b) „Wiederholbare Rekonziliation" durch Entstehung der Privatbuße c) Die Erneuerung des Versöhnungsinhaltes im Bußwesen 2. Die Feier der Versöhnung im sakramentalen Handeln der Kirche a) Die Taufe als Bußsakrament b) Der Versöhnungscharakter der Eucharistie c) Die Buße als Versöhnungshandlung 3. Die Verkündigung des Wortes Gottes als Element des Versöhnungsgeschehens a) Erziehung zur Buße und Wiedergutmachung in der mittelalterlichen Kirche b) Neuordnung des Bußsakraments bei den Reformatoren c) Versöhnungspredigt als Verkündigung der Liebe und des Friedens 4. Das „Fest der Versöhnung" a) Das Wesen der Festlichkeit b) Versöhnungsfeste als Versöhnungskultur c) Der Gottesdienst als „Fest der Versöhnung"

208 210 214 219 219 222 228

234

235 238 240 250 250 254 261

Literaturverzeichnis

268

Sachregister

281

Namenregister

285

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Vorwort

Das Thema „Versöhnung" ist von großer Aktualität. Doch nicht die Aktualität des Themas ist der eigentliche Grund für die Entstehung dieser Arbeit, wiewohl ursprünglich geplant war, sie bis zur „Zweiten Ökumenischen Europäischen Versammlung" in Graz 1997 als Beitrag zur theologischen Vorbereitung fertigzustellen. Der Beginn meiner Beschäftigung mit diesem Thema geht auf die Zeit vor zwanzig Jahren zurück, als der angesprochene Problemkreis zwar auch wichtig war, aber längst nicht die Brisanz von heute hatte. Der Entschluß, die Ergebnisse einer jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit diesem Fragenkomplex in einem Buch zusammenfassend darzustellen und herauszugeben, beruht auf drei Gründen: Es ist mir - erstens - schon zu Beginn meiner akademischen Tätigkeit in Hermannstadt an der Evangelischen Fakultät des „Protestantisch-Theologischen Instituts mit Universitätsgrad" (mit Sitz in Klausenburg), also bereits vor dreißig Jahren, bewußt geworden, daß unser unverwechselbarer theologischwissenschaftlicher Beitrag aus den Quellen der reichen Tradition der siebenbürgisch-sächsischen Kirche schöpfen müsse und daß wir damit etwas Eigenes und Besonderes in den Gesamtschatz theologischer Forschung einbringen könnten. Wir haben in der 850jährigen Geschichte der Siebenbürger Sachsen ein unübersehbares „Sondergut" aufzuweisen an kirchen- und frömmigkeitsgeschichtlicher Erfahrung im Umgang mit Tradition und Erneuerung, als Gemeinwesen in einer fruchtbaren Spannung zwischen Ordnung und personaler Verantwortung sowie als Kirche zwischen synodalen und hierarchischen Amtsstrukturen. Wir haben uns bis in unsere Zeit hinein ein reiches gottesdienstliches Leben mit althergebrachten liturgischen und „paraliturgischen" Ordnungen und ein „genossenschaftliches Kirchenwesen" mit bruderschaftlichen Elementen und nachbarschaftlichen Formen erhalten, deren theologischkirchliche Bedeutung noch zu wenig beachtet und erforscht ist und die erst in unseren Tagen durch den Massenexodus der Deutschen aus Rumänien und dem damit zusammenhängenden Zusammenbrechen der althergebrachten Strukturen verlorengehen oder bereits in Verlust geraten sind. Diese „Besonderheiten" sind vor allem ausländischen Kennern und Erforschern unserer Kirche aufgefallen und haben zu „Erwartungen von außen an die Siebenbürger Sachsen" gefuhrt, wie hier den „Forderungen der Situation" entsprochen wird. So weist der Marburger Professor für Sozialethik an der Evangelischen Theologischen Fakultät der Philipps-Universität, Dietrich von Oppen, auf etwas hin, was viele

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Freunde und Begleiter unserer Kirche ausgesprochen haben, nämlich „daß das siebenbürgisch-sächsische Problemfeld im Grunde gar kein eigenes, fremdes und fernes ist, sondern nur eine hohe Verdichtung unseres eigenen Problemfeldes in dieser Zeit. Mit ungewöhnlicher Klarheit kann hier auf kleinem Raum abgelesen werden, was unser aller Schicksal und Aufgabe ist". Die Erwartung des „Außenstehenden" an die Siebenbürger Sachsen „in ihrem achthundertjährigen Wohngebiet und in ihrer heutigen geschichtlichen Lage" wäre in diesem Sinne, „mit den Lösungen, die sie finden und für die sie besondere Voraussetzungen besitzen, uns allen hilfreich zu sein bei der Suche nach Wegen, durch die Gegenwart hindurch in die Zukunft". 1 So war es auch gemeint, wenn ich gelegentlich meiner ersten Gastvorlesungen in Island, Dänemark, Deutschland und den USA, vor rund 20 Jahren, immer wieder das Thema „Versöhnung" wählte und nicht nur an meiner Fakultät in Hermannstadt, sondern auch während eines zweisemestrigen Aufenthaltes als Gastprofessor an der EvangelischTheologischen Fakultät der Universität Wien 1987-1988 im Sommersemester ein systematisches Seminar über „Versöhnung" hielt. Zu dieser Thematik war ich schon recht früh im Zusammenhang mit meiner theologischen Dissertation über die Beichte in der evangelisch-sächsischen Kirche Siebenbürgens gekommen, mit der die siebenbürgische Versöhnungsordnung eng zusammenhängt. Die Ergebnisse meiner Arbeit über das „Sondergut" der siebenbürgisch-sächsisehen Beichtordnung habe ich 1980 und die über die siebenbürgisch-sächsische Versöhnungsordnung 19933 in Buchform vorlegen können. Neben diesem akademisch-wissenschaftlichen Interesse an der Versöhnungsthematik soll - zweitens - ein persönlich-biographischer Grund genannt werden. Wer in einem Ort wie Hermannstadt (rumänisch Sibiu) in Siebenbürgen als deutscher Lutheraner mit andersnationalen und anderskonfessionellen Menschen - Rumänen, Ungarn, Juden, Zigeunern orthodoxer, römisch-katholischer, griechisch-katholischer, reformierter oder einer anderen protestantischen Konfession - aufgewachsen ist, bekommt unbewußt den Eindruck des selbstverständlichen „Natur"- oder Gott-gegebenen Zusammenlebens vieler Völkerschaften und Denominationen mit, unter denen sich geschichtsbedingt tolerante, vielleicht gar ökumenische Beziehungen ausbilden. Der Umgang mit verschiedenen Landessprachen, mit Menschen unterschiedlicher Kulturen und Sitten sowie religiösen und kirchlichen Traditionen ist für den Siebenbürger ' D. von Oppen, Forderungen der Situation. Erwartungen von außen an die Siebenbürger Sachsen, in: G. Möckel (Hg.), Siebenbürgisch-sächsische Geschichte in ihrem neunten Jahrhundert, München 1977, S. 129. 2

Chr. Klein, Die Beichte in der evangelisch-sächsischen Kirche Siebenbürgens, Göttingen

1980. 3 Chr. Klein, Die Versöhnung in der Siebenbürgisch-Sächsischen Kirche, Köln-WeimarWien 1993.

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eine Selbstverständlichkeit. Zeiten der Spannungen oder gar Zwistigkeiten und selbst gegnerische Auseinandersetzungen zwischen Menschen unterschiedlicher Art, verschiedener völkischer oder konfessioneller Gruppen sowie ethnische und religiöse Konfliktsituationen im eigenen Land oder irgendwo außerhalb machen den so Erzogenen und Aufgewachsenen dafür besonders sensibel. Die durch Veranlagung, Erziehung, Ausbildung, Lebensführung oder Tradition entstandene Neigung zur „Versöhnung der Gegensätze" oder - auf der anderen Seite - zu einem ethnischen und religiösen „Extremismus" bildet sich stärker als sonst heraus, weil eine vertiefte Kenntnis der Situation und eine betontere Gewichtung der Erfahrungen dieses bewirken. Denn hierzulande gibt es die besondere Fähigkeit zu Toleranz und Versöhnung, für die man immer wieder Siebenbürgen als Beispiel hingestellt hat, wo das älteste Toleranzgesetz Europas4 entstanden ist, wie auch besondere Tendenzen zu Unversöhnlichkeiten und extremem Nationalismus zu beobachten sind. Es kommt sehr darauf an, was die Politiker, die Kirchen und das Volk selbst dazu beitragen, damit das im Menschen angelegte und durch die Jahrhunderte angeeignete Bedürfnis nach Frieden und Ausgleich überwiegt. Die existentielle Bedeutung der „Versöhnung" in Kirche, Kultur und Gesellschaft liegt demnach auf der Hand. Dazu kommt, daß die bäuerlichen Strukturen des Zusammenlebens der Menschen hier seit dem Mittelalter von Konfliktsituationen gekennzeichnet sind, die immer wieder Vermittlung nötig machten und ohne die Einrichtung von Instrumenten und Methoden der Konfliktbeilegung sich schwer erhalten hätten. Diese aber besaßen die Siebenbürger Sachsen in ihrer Versöhnungsordnung. Nicht zuletzt damit, sowie mit der Tatsache, daß sie in ihrer gesamten Geschichte nie Angriffskriege, immer nur Verteidigungskriege gefuhrt haben, wird ihr blühendes geistiges, kulturelles und selbst wirtschaftliches Leben in Zusammenhang gebracht. So kommt es, daß Versöhnung nicht allein ein kontinuierliches theologisches Thema meiner akademischen Tätigkeit war und als ein roter Faden in meiner persönlichen Entwicklung zu erkennen ist, sondern - drittens - auch in meinem Beruf als Pfarrer und Seelsorger mir immer wieder Aufgaben dieser Art zugefallen sind. Angefangen von meiner ersten Gemeinde, wo ich des öfteren mit dieser Erwartung konfrontiert wurde, bis hin zu meiner Berufung als Stadtpfarrer von Hermannstadt, welche mich aus meiner eben begonnenen Tätigkeit an der theologischen Fakultät herausführte, um ein großes Versöhnungswerk in einer durch Streit gespaltenen und aufgewühlten Gemeinde zu übernehmen, hat dieser Auftrag mein Leben schrittweise geprägt.

4

Vgl. L. Binder, Grundlagen und Formen der Toleranz in Siebenbürgen bis zur Mitte des

17. Jahrhunderts, Köln-Wien 1976, S. 82ff.

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Nicht zuletzt ist es mein gegenwärtiges Amt als oberster Seelsorger der sehr geschrumpften, einstmals stolzen und starken siebenbürgisch-sächsischen Kirche, das mich in eine neue Dimension des Versöhnungsdienstes hineinstellt. Hier geht es darum, angesichts der räumlichen und auch geistigen Trennung unserer Glaubensgenossen zwischen den vielen, die aus Siebenbürgen ausgewandert sind, einerseits, und den wenigen Zurückgebliebenen andererseits, die hier neue Strukturen der Kirche aufzubauen hoffen und „Ausschau nach Zukunft" 5 halten, zu vermitteln und das Auseinanderstrebende zu versöhnen. Dabei handelt es sich nicht lediglich um die Überbrückung gegebenen Unterschiede zwischen Ost und West und um die allmähliche Überwindung der Barrieren, die seit dem Zusammenbrechen des Eisernen Vorhanges unsichtbar erhalten geblieben sind und nun Menschen und Länder trennen. Es geht vor allem um die Versöhnung von gegensätzlichen Konzepten über die Zukunft der Deutschen in Rumänien, über die Aufgaben einer Gruppe von Menschen, die über 850 Jahre lang etwas Unverwechselbares aufgebaut und erhalten hat, und um die Frage, ob die Rolle der deutschen evangelischen Christen in Rumänien als Brückenschläger zwischen hüben und drüben, als Vermittler von Sprache, Kultur und - nicht zuletzt - protestantisch-lutherischer Theologie und kirchlicher Tradition sich erübrigt oder - gerade jetzt - weiter von Bedeutung sein kann. Die gegensätzlichen Auffassungen, die quer durch unsere eigene Kirche und ihre Glieder hier und der im Ausland - vor allem in der Bundesrepublik Deutschland, aber auch in Österreich, in den USA und sogar Kanada - lebenden Glaubensbrüdern und -schwestern gehen, als „versöhnte Verschiedenheit" zu verstehen, theologisch zu begründen und viele fur die gemeinsam vor unseren Augen stehenden Ziele zu gewinnen, das war und bleibt ein wichtiges Anliegen in meiner Versöhnungsarbeit heute. Die vorliegende Arbeit beruht auf Vorlesungen, die ich im Winter- und Sommersemester 1997 in Hermannstadt an der Evangelischen Fakultät des Protestantisch-Theologischen Instituts vor Studenten und Gästen gehalten habe. Sie sind stark überarbeitet worden, doch mag man ihnen dies ursprüngliche Anliegen durch den allgemein verständlichen Stil und die Ausführlichkeit in der Behandlung einzelner Sonderprobleme noch anmerken. Zudem gründet das Manuskript dieser Vorlesungen auf Vorarbeiten, die bereits ein Jahrzehnt zurückliegen, wobei es bei der Ausarbeitung nicht möglich war, alle Detailfragen auf die Weiterentwicklung in der theologischen Forschung des zurückliegenden Jahrzehntes hin zu prüfen. Doch hoffe ich, daß dies der Gesamtdarstellung, um die es in diesem Buch geht, keinen Abbruch tut. Den Hörern dieser Vorlesungen bin ich durch ihr Interesse und ihre weiterführenden Fragen an

5

Vgl. Chr. Klein, Ausschau nach Zukunft. Die Siebenbürgisch-Sächsische Kirche im

Wandel. Erlangen 1998.

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dieser Stelle zu herzlichem Dank verpflichtet. Sie haben mich auch angeregt und ermutigt, die Ergebnisse durch die vorliegende Publikation der Öffentlichkeit anzuvertrauen. Besonderer Dank gebührt dabei Pfarrer Eginald Schlattner/Rothberg, der mich durch seine Diskussionsbeiträge und ungezählte gemeinsame Gespräche über diese Thematik zur Vertiefung mancher Fragestellungen angeregt hat. Danken möchte ich ebenso Herrn Professor D.Dr. HansChristoph Schmidt-Lauber/Wien für die Ermutigung zur Veröffentlichung dieser Schrift sowie Herrn Professor Dr. Reinhard Slenczka und Herrn Professor Dr. Gunther Wenz für die freundliche Aufnahme in die Reihe „Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie". Herrn Professor Dr. Gerhard Konnerth/Hermannstadt verdanke ich die gründliche Durchsicht des Manuskripts, Frau Karin Denghel die Erstellung der Register und der gesamten Druckvorlage. Für die verlegerische Betreuung danke ich der Leiterin des Verlags Vandenhoeck & Ruprecht Frau Reinhilde Ruprecht Ph.D. und Frau Renate Hartog. Ebenso bin ich Herrn Bischof Prof. Dr. Christian Zippert und der Evangelischen Kirche Kurhessen-Waldeck, der er vorsteht, für die freundliche Übernahme des Druckkostenzuschusses dankbar. Gewidmet ist das Buch der hochwürdigen Wiener Evangelisch-Theologischen Fakultät als Zeichen des Dankes für die Verleihung der Würde eines Ehrendoktors der Theologie der Universität Wien.

Hermannstadt, im Sommer 1998

Christoph Klein

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Einleitung

„Versöhnung" ist heute ein Modewort geworden, das in der Politik und Gesellschaft, in der Theologie und Kirche und ebenso in der Literatur und Presse fast schon zu häufig verwendet wird. Die Bedeutung und Notwendigkeit von Versöhnung auf allen Ebenen unseres Lebens wie in allen Schichten und Gruppierungen von Menschen ist unumstritten. Doch haftet diesem Begriff, vielleicht gerade wegen seiner vielfachen Verwendung, etwas Unscharfes, Mißverständliches, Vieldeutiges an, das immer wieder zu neuem Diskussionsstoff und einer Fülle von Publikationen geführt hat. Die Literatur zu diesem Thema ist in der Tat ins Unübersichtliche angewachsen. Auf dem Gebiet der Theologie und Kirche hat diese Problematik eine Spitzenstellung dadurch erlangt, daß sie als Thema der von den Christen Europas abgehaltenen „Zweiten Ökumenischen Europäischen Versammlung" in Graz im Juni 1997 ausgewählt wurde: „Versöhnung - Gabe Gottes und Quelle neuen Lebens." Die Vor- und Nacharbeit zu diesem ökumenischen Ereignis hat zu einer nie dagewesenen Beschäftigung mit dieser Frage gefuhrt. Wenn mit der vorliegenden Schrift trotzdem ein weiteres Buch über Versöhnung vorgelegt wird, so scheint das durch die Tatsache rechtfertigt, daß hier bestimmte Schwerpunkte gesetzt werden, durch die sich die vorliegende Arbeit von anderen Darlegungen über dieses Thema unterscheidet. Zunächst wird in diesem Buch der Versuch unternommen, eine umfassende Gesamtdarstellung der wichtigsten mit der Versöhnung zusammenhängenden theologischen Fragen vorzulegen. Es ist in der Tat so, daß über die Versöhnung bereits viel geschrieben wurde. Doch läßt sich feststellen, daß es sich dabei immer um Einzelaspekte, um spezielle wissenschaftlich-theologische oder kirchlich-praktische Sonderfragen handelt und es bislang keine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse der Versöhnungsproblematik insgesamt gibt, die die einzelnen Gebiete der Theologie einbezieht. Biblische und systematische, liturgische und praktische, kirchengeschichtliche und aktuelle sowie ökumenische Fragen sind bisher jeweils meist fur sich behandelt worden. Es gibt eine Reihe wertvoller biblischer Studien zur Versöhnung1 und ebenso beachtenswerte theo-

1 Besonders aufschlußreich für unsere Frage vgl. A. Schenker, Versöhnung und Sühne. Wege gewaltfreier Konfliktlösung im Alten Testament. Mit einem Ausblick auf das Neue Testament, Freiburg/Schweiz 1981; P. Stuhlmacher/H. Claß, Das Evangelium von der Versöhnung in Christus, Stuttgart 1979.

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logisch-systematische Darstellungen des Themas,2 die - was in der vorliegenden Arbeit das primäre Anliegen ist - über das in der Dogmatik viel verhandelte Problem der Versöhnung als Zentralbegriff des christlichen Heils3 hinaus, die Mehrdimensionalität dieses Begriffes in den Vordergrund gestellt haben. Gemeint ist der zwischenmenschliche, universale und selbst kosmische Aspekt der Versöhnung, der neben dem soteriologischen Aspekt, der das von Gott durch seine Versöhnungstat für den Menschen bewirkte Heil meint, jene wichtige Seite mitberücksichtigt, die in der Versöhnung zwischen Menschen oder Gruppen, in der Beziehung des Einzelnen mit andern wie in ihrem universellen-eschatologischen Charakter besteht und in der es um das Heil und die Rettung der ganzen Schöpfung Gottes überhaupt geht. Damit verwehrt man sich im Verständnis der Versöhnung sowohl dem „Rückzug in die Innerlichkeit" als auch der „Flucht ins Politische", die bisweilen den Umgang von Theologie und Kirche mit dieser Problematik gekennzeichnet haben. Inzwischen ist man auch mit dem geschichtlichen und liturgischen Aspekt dieser Frage ein gutes Stück weitergekommen. Die Ergebnisse dieser Bemühungen sind auf dem Elften Internationalen Kongreß der „Societas Liturgica" in Brixen im Jahre 1987 vorgetragen worden und liegen gedruckt vor.4 Daraus wird ersichtlich, daß die Einzelstudien über dogmengeschichtliche, liturgische und praktische Fragen immens sind. Des weiteren ist „Versöhnung" ein Schlüsselwort in der ökumenischen Theologie geworden. Die Formel von der „versöhnten Verschiedenheit" weist auf Versöhnung als den geeigneten Begriff im Suchen nach einem brauchbaren Konzept für die Einheit der Kirchen hin und hat zu weiteren Überlegungen in Richtung eines „Versöhnungsdenkens" geführt. Das hat sich in der Beschäftigung mit dieser Thematik bei der „Zweiten Ökumenischen Europäischen Versammlung" in Graz 1997 gezeigt, die theologisch allerdings nichts nennenswert Neues hervorgebracht hat. Nicht zuletzt sind es die Philosophie und Psychologie, in denen der zwi-

2 Die wichtigsten vgl. H. Alpers, Die Versöhnung durch Christus. Zur Typologie der Schule von Lund, Göttingen 1964; W. Dantine, Versöhnung. Ein Grundmotiv christlichen Glaubens und Handelns, Gütersloh 1978; J. M. Lochman, Versöhnung und Befreiung. Absage an ein eindimensionales Heilsverständnis, Gütersloh 1977; Chr. Stückiberger, Vermittlung und Parteinahme. Der Versöhnungsauftrag der Kirchen in gesellschaftlichen Konflikten, Zürich 1988; G. Müller-Fahrenholz, Vergebung macht frei. Vorschläge für eine Theologie der Versöhnung, Frankfurt a.M. 1996. 3

So vor allem K. Barth, dessen monumentales dogmatisches Lebenswerk, die „Kirchliche Dogmatik", eine Entfaltung der Lehre von der Versöhnung ist (Vgl. besonders: K. Barth, KD, Bd. IV, 1 Zürich 2 1966). 4

In: Studia Liturgica. An International Ecumenical Review for Liturgical Research and Renewal, Volume 18, Rotterdam 1988.

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schenmenschliche Begriff der Versöhnung eine wichtige Rolle spielt. Diese können hier jedoch nur am Rande berücksichtigt werden. Schließlich ist es der politische und gesellschaftliche sowie rechtswissenschaftliche und wirtschaftliche Diskurs der jüngsten Zeit, der im Bemühen um Konfliktbeilegung und Konsensfindung mit diesem Begriff arbeitet und deutlich macht, daß man in den Friedensbemühungen und Konfliktlösungen von Menschen, Gesellschaftsschichten, Völkern und Staaten schon immer auf diese im Grunde alte Vorstellung der „Versöhnung" zurückgegriffen hat, auch wenn sie im Laufe der Jahrhunderte zurückgetreten ist. Das hat zur Folge, daß der Zusammenhang von „weltlicher" zwischenmenschlicher Konfliktlösung und ihrem religiösen oder gar kirchlichem Aspekt deutlicher wird und immer häufiger in Erscheinung tritt. Es ist zudem heute bekannt, daß in den - gerade auch primitiven - Religionen der verschiedenen Völker Versöhnungszeremonien einen bedeutsamen Platz einnehmen, und damit erwiesen, daß es sich hier um ein urmenschliches Anliegen handelt, dem zu allen Zeiten und an allen Orten Rechnung getragen wurde. Erstes und Hauptanliegen der vorliegenden Schrift ist somit eine einheitliche systematisch geordnete Gesamtdarstellung, in der diese Gesichtspunkte berücksichtigt und die Ergebnisse aller Teilgebiete einbezogen sein wollen. Die Anordnung des reichhaltigen Stoffes erfolgt unter den drei neutestamentlichen Begriffen μαρτυρία, λειτουργία und διακονία, die in der theologischen Literatur des öfteren verwendet werden und aus dem Umkreis der evangelischen Michaelsbruderschaft stammen. Auf die Frage, wie sich die Gesamtheit des theologischen und kirchlichen Anliegens mit einer gängigen und griffigen Formel umschreiben ließe, gab zum erstenmal Oskar Planck, der erste Leiter des Bemeuchner Hauses in Kirchberg, mit dieser Trias eine Antwort und nannte sie eine „geeignete Kennzeichnung der dreifaltigen Einheit alles kirchlichen Denkens und Handelns". Mit der Wahl dieser drei Schlüsselworte für die Gliederung vorliegender Schrift über die Versöhnung soll jene innere Einheit zum Ausdruck gebracht werden, die auch die μαρτυρία, λειτουργία und διακονία kennzeichnet und sich in diesen drei Richtungen der Verkündigung, des Gottesdienstes und der dienenden Liebe entfaltet. Für uns bedeutet das die Entfaltung des Themas als Zeugnis - gemeint ist die Lehre über die Versöhnung, als Dienst - gemeint ist die Praxis - der Versöhnung und als Feier - gemeint ist der gottesdienstliche und überhaupt liturgische Vollzug der Versöhnung. Damit haben wir die Reihenfolge allerdings umgestellt, weil uns die „Feier der Versöhnung" der Höhepunkt und das Eigentliche, Wichtigste und alles Umfassende zu sein scheint.5 5 So übrigens die Anordnung bei W. Löhe, der eine Vorläuferin der Formel verwendete, wenn er 1844 seine „Drei Bücher von der Kirche" mit den Worten beschloß: „Laßt uns einig

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In den drei Hauptteilen wird dann - angesichts der Fülle des Stoffes - eine streng systematische Untergliederung in je vier Kapitel vorgenommen, die ihrerseits aus drei Abschnitten bestehen. Die Zusammenfassung der gesamten Arbeit unter dem Titel „Wenn Rache der Vergebung weicht" 6 soll das Anliegen dieser Schrift, Versöhnung als Prozeß zu verstehen, mit dieser treffenden bündigen Gebetsformel deutlich machen. Dabei schien dem Verfasser bei der Entscheidung fur diesen Titel aus dem „Hochgebet der Versöhnung" wichtig, daß die Gegenüberstellung von Rache und Vergebung das zentrale biblische Verständnis der Versöhnung als Prozeß treffend zum Ausdruck bringt. Das wird besonders aus den alttestamentlichen Beispielen ersichtlich, wo „immer wieder" die Rache der Vergebung weichen muß, gleichsam weil der Mensch „simul iustus et peccator" ist. Damit kommen wir zu einem weiteren Anliegen dieser Arbeit. Wenn Versöhnung als Prozeß immer neuer Vergebung verstanden wird, dann gehört dazu eine ,JCultur der Versöhnung", die christlich verstanden, im kirchlichen Leben verankert ist und in der Lebensordnung der Gemeinde praktiziert wird. Dieses Verständnis der Versöhnung und der dringliche Hinweis auf ihre „immerwährende" Übung kommt in jenen wichtigen Stellen im Sondergut7 des Matthäus zur Geltung, die die Praxis der Versöhnung regeln und von der „Versöhnung als Prozeß" handeln, der immer neu in Gang gesetzt werden muß. Das nennen wir hier „Kultur der Versöhnung in theologischer Perspektive", d.h. einer „immerwährenden" Versöhnung „unter den Augen Gottes", von der bei Matthäus in seiner Gemeindeordnung (18,21-22) die Rede ist. Demnach soll zum Aussein: Einerlei Wort und Lehre, einerlei Praxis der Lehrer, einerlei Lobgesang sei unter uns"' (H.-Chr. Schmidt-Lauber, Die Zukunft des Gottesdienstes. Von der Notwendigkeit lebendiger Liturgie, Stuttgart 1990, S. 39f). In der orthodoxen Theologie steht dagegen die Liturgie an erster Stelle; es folgt die Diakonie und schließlich die Martyria (Vgl. A. Yannoulatos, Christliches Zeugnis in einer gespaltenen Welt: Leiturgia - Diakonia - Martyria, in: L. Coenen/W. Traumüller [Hg.], Vancouver 1983, Zeugnisse, Predigten, Vorträge, Initiativen von der Sechsten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Vancouver, ÖR. B. 48, Frankfurt a.M. 1984, S. 124-128). 6 Es handelt sich um ein Wort aus der Präfation des „Hochgebetes der Versöhnung", das in der katholischen Kirche im Zusammenhang des heiligen Jahres 1975 eingeführt worden ist. Es lautet vollständig: „Wir danken dir, Gott, allmächtiger Vater, und preisen dich für dein Wirken in dieser Welt durch unseren Herrn Jesus Christus: Denn inmitten einer Menschheit, die zerspalten und zerrissen ist, erfahren wir, daß du Bereitschaft zur Versöhnung schenkst. Dein Geist bewegt die Herzen, wenn Feinde wieder miteinander sprechen, Gegner sich die Hände reichen und Völker einen Weg zueinander suchen. Dein Werk ist es, wenn der Wille zum Frieden den Streit beendet, Verzeihung den Haß überwindet und Rache der Vergebung weicht". (Vgl. Textbuch Gemeindemesse, hg. vom Deutschen Liturgischen Institut in Trier, Augsburg 1997, S. 645). 7 Vgl. H. Klein, Bewährung im Glauben. Studien zum Sondergut des Evangelisten Matthäus, Neukirchen-Vluyn 1996 (BThSt 26), S. 142ff u. 186ff.

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druck gebracht werden: Versöhnungspraxis muß geregelt sein, „regelmäßig" geschehen; sie kennt keine Grenzen und ist ein ständig sich neu vollziehender Prozeß. Denn geschehene Vergebung darf man nicht „zählen", wie es die Frage des Petrus erwartet: „Herr, wie oft muß ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben? Genügt es siebenmal?" Nach Jesus gilt bezüglich der Vergebung: „Ich sage dir: nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal". Die Parallelstelle Lk 17,4 spricht gleichfalls davon, daß, wenn der Bruder „siebenmal am Tage an dir sündigen würde und siebenmal wieder zu dir käme und spräche: Es reut mich!, so sollst du ihm vergeben." Die Zahl „sieben" ist eine kultische Zahl, die dem frommen Juden etwas Bestimmtes sagt. Denn siebenmal wirft sich Jakob vor Esaù zu Boden, um seine Vergebung zu erlangen (Gen 33,3), siebenmal sprengt der Hohepriester am großen Versöhnungstag mit seinem Finger gegen den Vorhang des Allerheiligsten das Blut des Opfertieres, das er bei der Schlachtung auffangen mußte (Lev 4,6f.l7f; 16,14f). Ebenso ist vom siebenfachen Rächen in der Bibel die Rede (Gen 4,15; Lev 26,18). Kain soll siebenfältig gerächt werden, aber Lamech siebenundsiebzigmal (Gen 4,15.24). Ebenso wird hier vom siebenfachen Vergelten gesprochen (Ps 79,12; Sir 35,13) wie auch vom siebenfachen Ersetzen (Spr 6,31). Es gibt eine Bewahrung der „sieben anderen" mit Noah (2. Petr 2,5). Jesus treibt „sieben böse Geister" aus (Mk 16,19; Lk 8,2). Auch von „sieben Greueln" ist die Rede (Spr 6,16f; 26,25), sieben Tage sollen die Priester die Versöhnung vollziehen (Ex 29,37). In Lev 25,8 ist davon die Rede, daß man „sieben Sabbatjahre", also siebenmal sieben Jahre zählen soll. Auch das Erlaßjahr (Dtn 15) soll alle sieben Jahre gehalten werden (Dtn 31,10). Ein „Gerechter" fällt siebenmal und steht auf (Spr 25,16). Der Fromme lobt den Herrn des Tages „siebenmal" (Ps 12,7; 119,164). Sowohl siebenmal am Tage als auch siebenmal innerhalb einer Handlung (des Priesters), aber auch siebenmal überhaupt meint: „viel, sehr oft, ständig". Denn sieben ist die Zahl der Vollkommenheit. Die Antwort Jesu „nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal" - also mehr als Lamech, wo schon siebenundsiebzig Ausdruck der Häufigkeit ist - meint „ständig". Die Zahl 490 ist nicht eine - wenn auch ungefähre - Angabe der gebotenen Zahl von Vergebungsgelegenheiten und Zusagen, sondern Ausdruck einer „ständigen Forderung" eines „immerwährenden" Handelns, eines Verständnisses von der Versöhnung als Prozeß, der immer wieder, ständig, regelmäßig gepflegt und bewirkt werden muß; sie ist somit Hinweis auf die Forderung einer „Kultur der Versöhnung". Das soll im Untertitel „Theologische Grundlagen einer Kultur der Versöhnung" angezeigt werden. Beim Begriff „Kultur" handelt es sich gewiß ebenfalls um ein viel verwendetes Wort, das auch in der Kirche „Karriere" gemacht hat („Kultur des Gebets", „Kultur der Nächstenliebe", „Kultur der Wahrhaftig-

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keit", „Vernehmens- und Verstehenskultur"). Wir betrachten „Kultur der Versöhnung" in erster Reihe als Gegenbegriff zur „Streitkultur". Diese schon als „Eristik" bei den Sophisten in der griechischen Philosophie bekannte „Kunst des Streitens" wird heute gern als „moderne Streitkunde" beschrieben, die „denen, die es interessiert", zeigen kann, „wie man mit Ehren fechten soll", und die „Kenntnis von den streithaften Regeln ... auch auf geistigem Gebiet" vermittelt, die „letzten Endes der Verträglichkeit und der Erhaltung des Friedens den Weg bereiten" will.9 Damit will gesagt werden, daß auch „streiten" gelernt sein will, und zwar nicht durch Technik und Methoden, sondern ebenso durch Einstellung und Gesinnung: in der Achtung des Gegenübers als Partner. Wo diese „Kultur der Achtung" und des ehrlichen Kampfes, ähnlich wie in den alten Disputationen in dem scholastischen Sic et Non, im Argumentieren geübt wird, da geschieht es zum Gewinn für beide Teile und es besteht Hoffnung, auf diese Weise einen „Konsens" zu finden. Doch in unserer Zeit wird nun auch von einer „Kultur der Versöhnung" gesprochen. Man hat auf vielen Gebieten unseres modernen (Zusammen-)Lebens erkannt, daß Konsens im Sinne von Einheit, Einigung, ja Klärung überhaupt, selten zu erreichen ist. Die Auffassung, „es darf bei aller Streitgewandtheit die Gewißheit nicht untergehen, daß hinter den verschiedenen Meinungen und Positionen immer die eine klare und unerschütterliche Wahrheit steht" 10 , ist heute in der pluralistischen Gesellschaft, in der wir uns befinden, so einfach nicht mehr aufrecht zu erhalten, aber vor allem angesichts des biblischen Wahrheitsverständnisses, das der „objektiven" die „existenzielle" und beiden die „theologische" Wahrheit entgegenstellt. Insofern ist „Eristik" eine Frage des Wahrheits-verständnisses. 11 Die „Kultur der Versöhnung" hat darum heute eher eine Zukunft als die „Streitkultur", ja sie ist in vielen Fällen unumgänglich. Dieses aufzuweisen, ist mit Anliegen dieser Arbeit. Dabei wird deutlich werden, daß „Streit um den Konsensus" nicht der Gegensatz zu Versöhnung ist, sondern daß „Konsensfindung" mit Hilfe des Konzeptes der „versöhnten Verschiedenheit" Teil der „Versöhnungskultur" sein kann, sich beide also nicht ausschließen, sondern komplementär ergänzen können. Das Wort „Kultur" verwenden wir in diesem Zusammenhang aber auch, weil es mit dem Wort „Kultus" zusammenhängt. Beide gehen auf das Lateinische „coleo, colere, cultus" zurück, das „pflegen" bedeutet. „Kultur" ist als ein „organisiertes Wissen und ein organisiertes Können" damit als der Stil, wie

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Vgl. H. von Hentig, Bildung. Ein Essay, München-Wien 1996, S. 114ff. W. Rother, Die Kunst des Streitens, München o. J., S. 1 lf. W. Rother, Die Kunst des Streitens, a.a.O., S. 150. Vgl. U. Mann, Theologische Religionsphilosophie im Grundriß, Hamburg 1961, S. 29ff.

man mit den Dingen umzugehen „pflegt", zu beschreiben, in der die Natur des Menschen, „eine Hemmung oder Bändigung seiner Natur" vollzieht und „einen „Überbau über sie zu errichten" trachtet. Sie ist also gleichsam geformte „zweite Natur", in die der Mensch erst hineinwachsen muß, während er in der ersten 12

Natur ursprünglich drinnen ist. Kultus dagegen ist die „Pflegendes Gottesdienstes" im Augustinischen Sinn des „fide, spe et caritate collendus est deus", nicht im Sinne der mittelalterlichen Tugendlehre als Gott geschuldeter Dienst, nach dem Verständnis Luthers.13 Kultus ist demnach ein Ausdruck, der - gerade im ursprünglichen etymologischen Sinn - weit über die enge Bedeutung des Gottesdienstes hinausreicht und das religiöse Verhältnis zu Gott bzw. die „Pflege dieses Verhältnisses" bedeutet, das gemäß Schleiermacher „seinem Wesen nach das gemeinsame religiöse Leben ist", dessen Zweck als „darstellende Mitteilung des stärker erregten religiösen Bewußtseins" definiert wird. Der Kultus tritt - wie es der große Theologe des 19. Jahrhunderts formuliert hat - in die „Pausen des wirksamen Handelns im Alltag ein, aus denen er sich als „Fest... erhebt und seine Anklänge im Leben nachhallen ... und wirksam sein" läßt. Wenn hier auch das reformatorische Verständnis des Gottesdienstes als Heilsgeschehen zurücktritt, so ist er doch als notwendige Funktion der Gemeinde erfaßt und hat seine heute wieder wichtige Bedeutung als Fest und Feier zurückgewonnen.14 Mit einer „Kultur der Versöhnung" ist also der „Kultus der Versöhnung" in diesem Sinne, aber auch mehr als nur die religiöse oder - speziell - die liturgische Dimension mitgemeint, weil es hier eine alte profane Tradition von Versöhnung und Vermittlung gibt und beide eng zusammengehören. Andererseits wissen wir heute, wie kritisch man sich der Kultur gegenüber einstellen kann. Nach der „Inkulturisation des Christentums" von zweitausend Jahren fehlen uns noch immer Grund- und Wesensmerkmale einer Kultur, was gerade im Problem der Versöhnung untereinander deutlich beobachtet werden kann. Der „Kult mit der Kultur" 15 wird darum zurecht hinterfragt. Lange Strecken hindurch war die Rolle der christlichen Kirche in bezug auf die Kultur fragwürdig. Es gibt nicht nur eine „Kulturfreundlichkeit", sondern auch eine „Kulturfeindlichkeit" des Christentums. W. Eiert hat beide Einstellungen mit den Begriffen „Diastase" und „Synthese" bezeichnet.16 Wie kompliziert das Problem ist, hat das Phänomen des „Kulturprotestantismus" erwiesen.

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W. Trillhaas, Ethik, Berlin 3 1970, S. 2 3 9 - 2 4 1 .

13

Vgl. H.-Chr. Schmidt-Lauber, Begriff, Geschichte und Stand der Forschung, in: H.-Chr. Schmidt-Lauber/K.-H. Bieritz, Handbuch der Liturgik, Leipzig-Göttingen 2 1995, S. 18. 14 H.-Chr. Schmidt-Lauber, Begriff, Geschichte und Stand der Forschung, a.a.O., S. 21. 15 Vgl. H. Schröer, Der Kult mit der Kultur, in: P. Stolt/W. Grünberg/U. Suhr (Hg.), Kulte, Kulturen, Gottesdienste. Öffentliche Inszenierung des Lebens, Göttingen 1996, S. 15-25. 16

W. Eiert, Der Kampf um das Christentum, 1921, bei W. Trillhaas, Ethik, a.a.O., S. 237.

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Wenn trotzdem der Ausdruck „Kultur der Versöhnung" fur diese im gottesdienstlichen wie auch im außerreligiösen Handeln gepflegte, immer neue, ununterbrochene, regelmäßige, geordnete Vergebung untereinander verwendet wird, so hat das seinen wesentlichen Grund darin, daß der Verfasser in dem, was er in der siebenbürgisch-sächsischen Kirche seit alters her als „Versöhnungsordnung" - früher sagte man häufig „Versöhnungsbrauchtum"17 - kennengelernt und erforscht hat, letztendlich eine „Versöhnungskultur" sieht. Denn die siebenbürgisch-sächsische Versöhnungsordnung - und das zu zeigen ist ein drittes und letztes Anliegen dieser Arbeit - ist nicht nur ein historisches Beispiel einer solchen „Versöhnungskultur", die einzigartig ist, weil es etwas Ähnliches in keiner anderen christlichen Kirche gibt. Sie ermöglicht uns auch, Entwicklungen in der westlichen Kirche, deren Erforschung heute noch lückenhaft ist, besser zu verstehen oder gar aufzuhellen. Die Ergebnisse der Forschungsarbeit des Verfassers über die Versöhnung in der siebenbürgischsächsischen Kirche wollen in der vorliegenden Schrift in den Gesamtzusammenhang der wissenschaftlichen Erkenntnisse über dieses Thema hineingestellt und für diese fruchtbar gemacht werden. Das ist der Grund, warum hier nicht nur das Bild einer „Kultur der Versöhnung" gezeichnet wird, sondern in der Darstellung historischer und liturgischer Problemstellungen zu dieser Frage Einzelkenntnisse aus der siebenbürgisch-sächsischen Versöhnungsordnung zur Erhellung offener Fragen ebenso einbezogen sind. Diese Bedeutung der siebenbürgisch-sächsischen Versöhnungsordnung geht auf die Tatsache zurück, daß diese Einrichtung bei der Einwanderung nach Siebenbürgen im 12. Jahrhundert zu einer Zeit mitgebracht wurde, als neben die Buße als Rekonziliation die spätere Form der Buße, die Ohren- und Privatbeichte, trat, die jene dort ein Jahrhundert später verdrängte, während sich in Siebenbürgen beide Formen nebeneinander als zwei verschiedene, sich ergänzende Bußordnungen erhielten. Die Einwanderer im Siebenbürgen des 12. Jahrhunderts brachten die Rechtsvorstellungen und die damit zusammenhängenden Lebensordnungen aus der westlichen Kirche mit. Diese Rechtsvorstellungen und Lebensformen stammten aus dem „germanisch geprägten Kirchenrecht", das sich gegenüber dem „römisch geprägten Kirchenrecht" durchgesetzt hatte. Denn die Kirche trat „als Römerin [...] in die Germanenwelt" ein, doch hat sie im Bereich der germanischen Stämme trotzdem die bodenständigen Rechtsvorstellungen und Lebensformen übernommen. Das war zu der Zeit, in der sich jene Rechtsvorstellungen und Lebensformen herausbildeten, die die Einwanderer nach Siebenbürgen mitnahmen. Hier sind sie zäh erhalten worden, obwohl in der „Urheimat" und

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Chr. Klein, Die Versöhnung, a.a.O., S. 107-200.

auf dem ganzen sonstigen Gebiet der katholischen Kirche kurz darauf eine andere Entwicklung einsetzte. Diese zielte auf die Bildung des einheitlichen päpstlich geleiteten „kanonischen" Rechts der Universalkirche des Abendlandes, das auf den von Gratian (um 1140) gesammelten und zusammengestellten Rechtsquellen beruht und seine äußere Zusammenfassung im „Corpus Iuris Canonici" fand (abgeschlossen 1317). Dieses ist für die Ausformung der katho18

lischen Einheitskirche des späten Mittelalters grundlegend geworden. Somit haben die Siebenbürger Sachsen in ihrem Kirchenwesen eine Rechtsform bewahrt, die sich dem kurialen Zentralismus der römischen Verwaltung weitgehend entzog. Es kann sein, daß gerade die bereits drohende Änderung der Rechts- und Lebensformen, die in der Urheimat schließlich nicht mehr zu halten waren - die aber der ungarische König (Geisa II., 1141-1162), der sie nach Siebenbürgen rief, gewillt war zu erhalten - , die Auswanderung begünstigte. Als „apostolischer König" konnte er sich diesbezüglich sogar dem Papst gegenüber durchsetzen und die Werbung für die Besiedlung der Ostgebiete mit besonderen Versprechungen wirksamer machen. In der Tat bestätigte der uns erhaltene sogenannte „Goldene Freibrief des Königs Andreas II. 1224 den sächsischen Siedlern die von seinem Großvater zugesicherten Rechte. Darin wurde auch versprochen, daß in allen kirchlichen Rechtsfragen nach „altem Gewohnheitsrecht" gehandelt werden darf. Das bedeutete konkret, daß die siebenbürgischen Gemeinden aufgrund dieses Rechtsdokuments ihre Pfarrer und Richter selber wählen durften, den Zehnten nicht dem Bischof sondern ihren Pfarrern gaben und eine eigene Gerichtsbarkeit besaßen. Die siebenbürgischsächsische Versöhnungsordnung konnte sich damit auf dem Boden einer Gemeindestruktur erhalten, die es in dieser Weise sonst nicht mehr gab. Sie ist durch Eigenverantwortung und Selbstregierung („Selfgovernment", wie der Engländer Charles Boner im 19. Jahrhundert sagte 19 ) gekennzeichnet - ganz im Unterschied zum hierarchischen Amtsverständnis in der katholischen Kirche und auch dem landesfürstlichen Regiment, das sich nach der Reformation in den evangelischen Kirchen herausgebildet hat. Zum besseren Verständnis ist weiter zu erwähnen, daß sich diese Lebensordnung der Siebenbürger Sachsen im Raum der Nachbarschaften und Bruderschaften entfaltete. Dank der Existenz der „genossenschaftlichen Gemeindekirche" war die Erhaltung dieser „Genossenschaftsformen des Mittelalters", als welche man die „Nachbarschaft" bezeichnete - nach Charles Boner waren sie eine „Art mittelalterlicher Bruderschaften" - gesichert. Nachdem diese auch „religiöse Funktionen" wahrnahmen und man davon ausgehen kann, daß sie bei der Einwanderung mitgebracht worden sind - sie gehen wohl auf die fränki-

18 19

H.-E. Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, Bd. I, Weimar 3 1955, S. 241. Ch. Boner, Siebenbürgen. Land und Leute, Leipzig 1868, S. 212.

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sehen Vorbilder des 11. und 12. Jahrhunderts zurück - kann als sicher angenommen werden, daß die Versöhnungsordnung als eine der wichtigsten religiösen Funktionen der Nachbarschaft zugleich mit dieser entstanden ist, diese also ebenfalls bei der Einwanderung schon vorhanden war. Zum besseren Verständnis soll darum auch etwas über die Praxis der Versöhnung in der siebenbürgisch-sächsischen Kirche gesagt werden. Hier gab es eine Vielfalt, die wohl mit den Veränderungen, Neuerungen und Ausweitungen ihrer Gestalt - besonders in Verbindung mit dem Heiligen Abendmahl - , denen sie im Laufe der Zeit ausgesetzt war, zusammenhängt. Auch waren die einzelnen Ordnungen immer auf die jeweiligen Gemeinden bezogen und darum von Ort zu Ort mehr oder weniger voneinander verschieden. Dazu haben sie sich, den unterschiedlichen Formen der Intensität entsprechend, in denen diese Versöhnung vollzogen wurde, vielgestaltig entwickelt: vom Händedruck mit dem Nachbarn, der neben einem steht, bis hin zur feierlichen, zeremoniellen Bitte um Vergebung an einen großen Kreis von Menschen innerhalb einer sehr genau vorgeschriebenen Ordnung. Die Versöhnungspraxis kann jedoch auch nach den verschiedenen Gemeinschaften unterschieden werden, innerhalb derer sie geübt wird: in der Nachbarschaft, der Bruder- bzw. Schwesternschaft (eine ähnliche Struktur des genossenschaftlichen Zusammenlebens wie bei der Nachbarschaft, die sich auf die Jugendlichen, nach ihrer Konfirmation bis zur Eheschließung bezieht; demnach der Verband aller unverheirateten männlichen bzw. weiblichen Jugendlichen), der Familie, der kirchlichen Körperschaften (Presbyterium, Gemeindevertretung, Landeskirchenversammlung), unter Konfirmanden, in den Studentengemeinden, Bibelkreisen u.a. Ferner können verschiedene Arten der Versöhnung nach den „Gelegenheiten", bei denen Versöhnung traditionell praktiziert wurde unterschieden werden: gelegentlich des „Sitt- und Richttages", beim „Zugang" der Bruder- und Schwesterschaft, vor dem Abendmahl bzw. vor dem Beichtgottesdienst und bei sogenannten „Übergangsriten" (Eheschließung, Begräb• \

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ms). Der Vorgang der Versöhnungshandlung - von ihrer Ordnung bei „Übergangsriten" abgesehen - kann etwa folgendermaßen beschrieben werden: Am Vortag oder unmittelbar vor dem Beicht- bzw. Abendmahlsgottesdienst versammeln sich die Nachbarn, Männer und Frauen, oft nur Männer, vereinzelt nur Jugend oder die Jugend gesondert, nach „Nachbarschaften" bzw. „Bruderschaften" geordnet, meist im Hause des „Nachbarvaters" bzw. die Jugendlichen im Hause des „Altknechtes", wo sie sich unter feststehenden Redens-

20 H.-A. Schubert, Nachbarschaft und Modernisierung. Eine historische Soziologie traditionaler Lokalgruppen am Beispiel Siebenbürgens, Köln-Wien 1980, S. 34-36. 21 Ausführlich darüber vgl. Chr. Klein, Die Versöhnung, a.a.O., S. 108ff.

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arten gegenseitig um Verzeihung bitten. Solche Redensarten sind heute noch wörtlich überliefert. Wenn einer mit einem anderen entzweit ist oder gegen einen anderen etwas vorzubringen hat, soll es genannt und geschlichtet werden. Die Vergebung untereinander erfolgt durch allgemeine Zustimmung, meist aber durch eine genaue Ordnung, nach der jeder jedem die Hand gibt und dabei Worte spricht wie etwa „Verzeihe (verzeiht) mir, wenn ich gefehlt habe" bzw. - als Antwort - „Es ist verziehen" (verbunden mit dem sogenannten Versöhnungshandschlag). Die Nachbarväter (die Vertreter der einzelnen Nachbarschaften) werden zum Pfarrer entsendet und überbringen die Nachricht, daß Versöhnung zustande gekommen sei. Oft ist es Brauch, daß sie sich zugleich im Namen aller Nachbarschaftsmitglieder mit der Pfarrfamilie versöhnen, mancherorts bittet der Pfarrer sie im Namen seiner Familie um Verzeihung. Sollte die Versöhnung nicht zustandegekommen sein, so muß der Pfarrer ins Mittel treten. Unversöhnten - was aber nicht so leicht der Fall ist - wird die Zulas22

sung zur Beichte bis zum endlichen Vergleich versagt. Wenn die Versöhnung unmittelbar vor dem Beicht- oder Abendmahlsgottesdienst stattfindet, ist der Pfarrer unter den versammelten Gemeindegliedern anwesend. In einigen Gemeinden gab es im Anschluß an die eben beschriebene Versöhnung der Nachbarn bzw. Jugendlichen einen gemeinsamen Gottesdienst, die sog. „Versöhnungskirche", auch „Versöhnungsgottesdienst" genannt. In diesen Versöhnungskirchen existieren ähnliche Riten der gegenseitigen Versöhnung durch Handreichen bzw. in der Weise, daß jeder zu jedem in einer vorgeschriebenen Reihenfolge gehen muß, um um Verzeihung zu bitten und die Vergebung zu erhalten. Gewiß bleibt die Frage offen, ob diese im mittelalterlichen Rechtsdenken und alter kirchlicher Gemeindepraxis verankerte Versöhnungsordnung, die erst mit dem Exodus der Siebenbürger Sachsen nach 1989 fast ganz abhanden gekommen ist, außer für unsere historischen Fragestellungen und die Erhellung

22 Hier ein Beispiel einer traditionellen Ordnung der Versöhnung von Jugendlichen in einer Landgemeinde: Zu Beginn spricht der „Altknecht" etwa folgende Worte: „Ihr lieben Brüder! Es wird Euch bekannt sein, daß durch unseren Herrn Pfarrer der heilige Beichtstuhl eröffnet worden ist. Darum habe ich Euch zusammenrufen lassen, uns brüderlich und christlich zu versöhnen. Zuerst bitte ich für mich und meinen Mitkameraden, wenn wir Euch mit etwas beleidigt haben." Darauf antworten die Brüder: „Es ist verziehen." „Ich bitte Euch zum zweitenmal." Antwort: „Es ist verziehen." „Ich bitte Euch zum drittenmal." Antwort: „Es ist verziehen." Hierauf der Altknecht: „Wenn zwei von Euch etwas miteinander gehabt haben, geht der Jüngere zum Älteren und der Ältere zum Jüngeren oder der Beleidiger zum Beleidigten und bittet ihn um Verzeihung." Es geschieht. Darauf bittet ein Mitglied der Bruderschaft den Altknecht: „Verzeiht auch Ihr uns, wenn wir Euch mit etwas beleidigt haben." Der Altknecht: „Es ist Euch verziehen. Von Herzen gern. Geht in Gottes Namen!" (Aus der Gemeinde Katzendorf bei Kronstadt; vgl. Chr. Klein, Auf dem anderen Wege. Aufsätze zum Schicksal der Siebenbürger Sachsen als Volk und Kirche, Erlangen 1986, S. 102).

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liturgischer Entwicklungen im Mittelalter tatsächlich auch als Paradigma einer „Kultur der Versöhnung" fur uns Heutige relevant sein kann. Mit der vorliegenden Arbeit wird jedoch nicht beabsichtigt, lediglich eine Gesamtdarstellung des Versöhnungsproblems oder einen Beitrag zu bestimmten liturgie-geschichtlichen Fragestellungen aufgrund der Kenntnis der siebenbürgisch-sächsischen Versöhnungstradition zu bieten. Sie will vielmehr Mut machen, heutige Formen einer „Kultur der Versöhnung" zu entwickeln, die auf alten Erfahrungen beruht und neue Ordnungen des Versöhnungsgeschehens herausbildet. Denn die Praxis der Versöhnung in der siebenbürgischen Geschichte zeigt, daß gerade nach dem Verfall, der Veräußerlichung und nun gar dem Verschwinden der traditionellen uralten Versöhnungsordnungen diese sich in neuen Formen weiter erhalten lassen und in der Folgezeit in das kirchliche und gemeindliche Leben hinein wirken können. In dem Maße als die Strukturen der Nachbarschaft, der Bruder- und Schwesterschaft und andere Weisen des gemeinschaftlichen Zusammenlebens sich auflösen, verlagert sich das Konfliktfeld. Es ist nicht mehr die Gemeinde oder Nachbarschaft von einst, sondern es sind Familie, Verwandtschaft, Freunde und die durch den Beruf gegebenen Mitmenschen. Aus der Verantwortung für den Nachbarn wird die Verantwortung fur den Nächsten überhaupt. So treffen die zwei Elemente zusammen: das Vorgegebene-Traditionelle und die neue Herausforderung. Auf diese Weise kann das Erbe, das die soziale Verantwortung kennt und stützt, sowie die personale Verantwortung, die neuartige Wege nötig macht, in Erziehung, Krankheit, Alter, Trauer, im täglichen Miteinander der Familie, der neuen Nachbarschaft, am Arbeitsplatz, beim Feste-Feiern und in der Partnerwahl nachwirken und sich neue Gestalten und Lebensformen schaffen. Das bedeutet für den Versöhnungsdienst, daß der alte Auftrag zur Versöhnung (Mt 5,23f), der in der siebenbürgisch-sächsischen Versöhnungsordnung Ausdruck gefunden hat und zu einer jahrhundertelangen Praxis geworden ist, unter den veränderten Umständen in neuen Formen wahrgenommen und ausgerichtet werden kann. Freilich wird diese Ordnung nicht mehr das ganze Leben und eine ganze Gemeinde im sozialen Sinn erfassen und bestimmen können. Die Beobachtung, daß die Versöhnung in der sehr geschrumpften, völlig neuen Herausforderungen ausgesetzten Diasporakirche trotzdem in anderer Weise weiter existiert, darf dazu ermutigen, daß „Kultur der Versöhnung" in der Kirche Jesu Christi auch heute möglich ist und in ihr Eingang finden kann, um so in die Welt hinausgetragen zu werden, „damit die Welt glaube" (Joh 17,21). Die Versöhnung wird in Zukunft in neuen, kleinen, spontanen Kreisen zu pflegen sein, wie in den Strukturen von Menschen, die zusammen leben und arbeiten, in den Jugend- und Bibelkreisen, bei Rüstzeiten, unter Studenten und Professoren, unter Pfarrern gelegentlich der Abendmahlsfeiern bei den Pastoralkonferenzen, Synoden u.ä. Auch sollte beachtet werden, daß sich die Ver-

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söhnung von der „Paraliturgie" zurück in die „Liturgie" verlagert: Aus den zusammengebrochenen alten Strukturen der Nachbarschaft, Bruderschaft und anderer gemeindlichen Verbände kommt sie wieder in den Gottesdienst, vor allem in die Abendmahlsfeiern, wo die bekannten Formen der Versöhnung vor der Kirchentür, im Chor der Kirche, im Kirchenschiff vor dem Hinzutreten zum Abendmahl immer üblicher werden. Die gegenseitigen „Zeichen des Friedens und der Versöhnung" - durch Handreichen, Umarmung oder den „heiligen Kuß" - können ausgebaut und in ihrem Sinngehalt vertieft werden. Die vorliegende Schrift will schließlich in Erinnerung rufen, daß Versöhnung ein gemeinsames ökumenisches Problem ist, in der nicht nur die wissenschaftlichen Erkenntnisse in einem interdisziplinären und interkonfessionellen Dialog ausgetauscht und gegenseitig fruchtbar gemacht werden sollen. Vielmehr kann ebenso die Praxis der einzelnen Kirchen und Denominationen untereinander anregend und hilfreich sein und solche Versöhnung auf diese Weise ein brauchbares „Modell" für ökumenische Gemeinschaft überhaupt und wegweisend fur das Konzept der Einheit sein. Daher werden in der vorliegenden Arbeit vereinzelt auch Informationen und Dokumente über praktizierte, erfahrene oder gelungene Versöhnung einbezogen. In keiner Hinsicht jedoch erhebt dieses Buch Anspruch auf Vollständigkeit. Im Gegenteil: Man darf sich angesichts der Fülle der Probleme und des darüber erschienenen Schrifttums dessen bewußt sein, daß hier ein „weites Feld" vor uns liegt und es noch mancherlei Kleinarbeit bedarf, um die eine oder andere Frage weiterer Klärung entgegenzuführen. Doch mögen uns die folgenden Ausfuhrungen einen Schritt weiter bringen auf dem gemeinsamen Weg des Zeugnisses, des Dienstes und der Feier der Versöhnung.

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Erster Hauptteil Das Zeugnis von der Versöhnung

1. Drei alttestamentliche Geschichten als Paradigmen menschlichen Zusammenlebens in Schuld und Versöhnung

Die Bibel enthält eine Fülle von Geschichten, anhand derer uns anschaulich vor Augen geführt wird, worum es bei der „Versöhnung untereinander" geht. Sie bietet uns gleichsam „Paradigmen", die für das Verständnis dessen hilfreich sein können, wie Rache der Vergebung weicht. Wir müssen dabei unsere Aufmerksamkeit zunächst auf die Tatsache lenken, daß die Frage der „Versöhnung mit dem Bruder" in der Bibel prototypisch dargestellt wird und darum alle anderen Dimensionen der „Versöhnung untereinander" - auch mit der Schwester - mitgemeint sind. Das Motiv der Beziehung zwischen Brüdern steht paradigmatisch für das Verhältnis unter Gleichgeordneten. Brüder - im Unterschied zu Paaren (die Beziehung Mann und Frau wird im Alten Testament an Adam und Eva, Abraham und Sara, Isaak und Rebekka, Jakob und Rahel dargestellt) - sind von Anfang an, nicht aber von Natur aus Rivalen. Eltern und Autoritäten bringen sie so lehrt uns die Psychologie - durch Liebesbevorzugung gegeneinander auf: Geschwisterhaß ist eine tragische - nicht schuldhafte - Folge der Liebe von Eltern. „Brüder", die als Hassende zusammenleben, müssen sich darum miteinander versöhnen.1 Im Folgenden wird zuerst ein Text herausgegriffen, der die Grundsituation des aus dem Paradies vertriebenen, also von Gott entfremdeten Menschen vor Augen führt, die sich im Bruderhaß auswirkt und der zum Verhängnis wird: Kains Brudermord an Abel. Sodann wird eine Erzählung kommentiert - die Josefsgeschichte - , in der Versöhnung unter den entfremdeten und verstrittenen Brüdern gelingt und darauf hingewiesen, welche Elemente der „Seelenführung" dabei im Akt der Versöhnung bedeutsam sind. Schließlich soll ein Beispiel dafür untersucht werden, was geschieht, wo gegenseitige Versöhnung nicht stattfinden kann, da der Geschädigte nicht mehr am Leben ist und Gott als der Verzeihende die Versöhnung selbst in die Hand nimmt: Davids Verbrechen an Uria und seine Schuld an Batseba.

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E. Herdieckerhoff, Kain und Abel. Text - Tradition - Erfahrung, in: E. HerdickerhofF u.a. (Hg.), Hassen und Versöhnen, Psychoanalytische Erkundungen. Göttingen 1990, S. 217.

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a) Die Grundsituation des von Gott entfremdeten Der Bruderhaß (Kain und Abel - Gen 4)

Menschen:

Diese Erzählung aus der biblischen Urgeschichte (Gen 4,1-16) redet von den Anfangen der Menschheit, wenn auch die Geschichte von dem bedeutungslosen Stamm der Keniter - ihres ruhelosen Lebens am Rande des Kulturlandes — dem Jahwisten den Stoff zu seiner Erzählung von Kain und Abel geliefert haben mag. Aus diesem Grunde ist diese Geschichte in ihrer jetzigen Gestalt eng mit der vorhergehenden vom Sündenfall verbunden. Hier haben wir das erste Bild des aus dem Paradies verwiesenen Menschen vor uns, das das Wesen des Menschen überhaupt meint, der ein Brudermörder war. Doch das Furchtbare der Sünde Kains ist - wie Gerhard von Rad hervorhebt - „daß sie ihm nicht etwa im Zustand seines totalen Gelöstseins von Gott unterläuft [...], sondern gerade da, wo er sich zu Gott erhebt, am Altar." 2 Man wird bei der Kommentierung dieses Textes davon auszugehen haben, daß hier ein „Urmodell" brüderlichen Zusammenlebens dargestellt wird, und zwar die Brüder als Rivalen. Von Natur aus sind sie gleiche Brüder des gleichen Vaters. Der „natürliche" Vater, Adam, tritt in dieser Geschichte jedoch nicht auf, dagegen der göttliche Vater Jahwe. Die natürliche Verbundenheit der Brüder wird durch die Liebesbevorzugung der Eltern oder Autoritäten aus dem Gleichgewicht gebracht, die allerdings auch meist mit der „personalen" und „positiven" Andersartigkeit der Brüder zusammenhängt. Die Entstehung von Geschwisterhaß ist also zunächst tragisch, nicht moralisch schuldhaft. Da ist die Mutter, Eva, die bei der Geburt des Erstgeborenen, Kain, sagt: „Ich habe einen Mann gewonnen mit Hilfe des Herrn" (Gen 4,1). Bei der Geburt des Abel sagt sie nichts; der Erstgeborene ist ihr Liebling (wie Esaù der Liebling Rebekkas war). Auf dessen Seite aber ist Jahwe: Er sieht das Opfer des jüngeren Bruders Abel gnädig an (wie bei Esaù im Motiv des gestohlenen Erstgeburtsrechts). Der Erstgeborene und Liebling der Mutter wird grimmig. Hinter diesem Grimm steht neben dem „personalen" Neid auch der „positionale" Neid. Kain ist „Ackersmann", Bauer; Abel Schäfer, Hirte. Die letztgenannte Position bringt offenbar mehr ein, auch wenn sie nicht dasselbe Ansehen hat; der „primitivere" Beruf des Bruders, den man schon deshalb verächtlich machen könnte, wird von Jahwe bevorzugt behandelt. Der „fortschrittlichere" Bauer muß zurückstehen. Der Haß ist tödlich.

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G. von Rad, Das erste Buch Mose, in: ATD, Bd. II-IV, Berlin 2 1956, S. 88.

Aber die Geschichte will über diesen gegebenen Zustand hinausführen. Versöhnung ist ein Erfordernis unter diesen Brüdern, gerade weil sie sich hassen. Der Bruder ist aufgerufen, seines „Bruders Hüter" (Gen 4,9) zu sein. Das ist eine Bedingung des Überlebens in dieser Welt, mehr noch: ein Auftrag zur Verantwortung für den, mit dem man zusammenlebt, und also zur Versöhnung. Diese Erzählung der „Urgeschichte" ist zunächst das negative Beispiel dafür, wie wenig sich das Gebot des „Vaters" auswirkt: statt Versöhnung untereinander folgt der Brudermord. Das Geschehen beginnt mit dem finsteren, gesenkten Blick des Kain. Der Herr versucht gütlich und freundlich, ihn versöhnlich zu stimmen. „Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür!" (Gen 4,7). Das heißt: Durch deine Frömmigkeit kannst du das Urteil Gottes annehmen und dann mit dir, deiner Position als Ackersmann, aber auch deiner Stellung vor Gott, versöhnt sein. Dann aber kannst du auch mit deinem Bruder versöhnt leben: auch ihn in seiner Position und in seiner Stellung vor Gott akzeptieren. Andernfalls „lauert die Sünde vor der Tür". Die Sünde bis hin zum Brudermord lauert in uns, um uns herum ( „ v o r unserer Tür"), wenn nicht etwas geschieht, oder etwas getan wird; wir könnten das hier - in einer etwas freieren Auslegung des Textes - die Arbeit an der Versöhnung nennen: eine innere, gottgegebene Einstellung, die Versöhnung will und dafür etwas aufbringt. Der, der den Bruder haßt, ist zugleich der „Hüter des Bruders". Er muß sich dessen bewußt sein und dafür etwas einsetzen. Der von der Sünde angefochtene und umlauerte Mensch „muß über sie herrschen" (Gen 4,7). Das sagt der Herr, Jahwe, von dem wir aus dem Zusammenhang dieser Geschichte wissen: Er ist wie ein Vater, der Röcke für Adam und Eva macht und sie ihnen anzieht (Gen 3,21). Dieser Jahwe, ein bedächtiger Patriarch, geht im Garten Eden spazieren, „als der Tag kühl geworden war" (Gen 3,8), und kümmert sich um sein von ihm geschaffenes Menschenpaar, als sie sich verstecken, und ruft Adam: „ W o bist du?" (Gen 3,9), trotz des nachherigen Fluches und der Vertreibung, die wegen ihren Übertretungen nicht ausbleiben. Das Fürsorgliche tritt bei Jahwe vor allem dort zutage, wo er den Mörder Kain, den er zwar straft und vertreibt, durch ein „Zeichen" auf dessen Bitte hin schützt (Gen 4,15). Dadurch sollen die Menschen vor der Illusion bewahrt werden, daß jemand - in der Meinung Gutes zu tun - Kain töten sollte, denn damit wird das Morden nicht beseitigt, sondern vermehrt, ja der Keim zum Krieg gelegt. „Siebenfache Rache" heißt, daß Jahwe dem „Mord- und Kriegsbeginn" durch die Tötung Kains ewige blutige Taten folgen lassen wird. Die „Urgeschichte" hat prototypische Bedeutung, und die Erzählung von Kain und Abel ist für uns bedeutsam, weil sie das Grundphänomen dar-

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stellt: den Bruderhaß. Diesen Prototyp des Bruderhasses stellt die Bibel noch oft heraus, wie etwa in der Erzählung von Jakob und Esaù und später durch die beiden Brüder im Gleichnis vom verlorenen Sohn. Die Geschichte sagt uns: Wo nicht über die Sünde geherrscht wird, wo der Gottferne, der Entfremdung vom Vater nicht entgegengewirkt wird, kommt es zum Ausbruch der Feindschaft, zum Brudermord, und damit verfehlt man seine Berufung durch Jahwe, den Herrn. Folge dieses tragischen und schuldhaften Konflikts ist Bestrafung und Vertreibung. „Verflucht seist du auf der Erde, die ihre Mitte aufgetan hat und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden!" (Gen 3,1 lf). So folgenschwer endet die Geschichte von den beiden ersten Brüdern. Die Ablehnung der Versöhnung führt zum Brudermord. Dieser hat Folgen für die ganze „Ökologie" des Unversöhnlichen: für seine Erde, seine Arbeit, für seine persönliche und berufliche Existenz. Er wird ein „Flüchtiger" auf Erden, ein Vertriebener in einem noch tieferen und umfassenderen Sinn als Adam und Eva. Nicht-Versöhnen hat Folgen, die sich negativ auswirken. Versöhnung hat Folgen, die sich zentral positiv auswirken. 3 Dies sehen wir in der Josefsgeschichte.

b) Die Überwindung der Entfremdung zwischen Brüdern: Die Versöhnung (Josef und seine Brüder - Gen 37-50) Wenn wir schon aus der Erzählung von Kain und Abel die Aufforderung zur Versöhnung herauslesen dürfen, so bestätigt sich in einer Reihe anderer Erzählungen des Alten Testaments, daß der Versöhnungsgedanke schon hier zu finden ist und nicht lediglich „Versühnung" oder „Sühne" da seine Wurzeln hat, wie man mitunter geneigt war, anzunehmen. Das zeigt in eindrücklicher Weise die Geschichte von Josef und seinen Brüdern. Die Josefsgeschichte (Gen 37-50) gehört zu den bekanntesten Erzählungen des Alten Testaments. Sie kann als eine alttestamentliche Parallele des Gleichnisses vom verlorenen Sohn betrachtet werden, obwohl sie eine „Vätergeschichte" darstellt und nicht, wie jene, eine erfundene (oder doch nicht erfundene?) Geschichte ist, die Jesus als Gleichnis seinen Jüngern erzählt. Der Gang der Geschichte vom Verbrechen an Josef bis zur Versöhnung mit den Brüdern, die Elemente und das Ziel - der „Skopus" - dieser Erzählung stellen zudem das Wesen der Versöhnung untereinander deutlich heraus. Der Vorgang der Versöhnung ist hier in einer solchen modellhaften Klar3

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E. Herdieckerhoff, Kain und Abel, a.a.O., S. 216-218.

heit wiedergegeben, daß daraus eine tiefe denkerische Durchdringung des Wesens der Versöhnung abgeleitet werden darf. Adrian Schenker, ein Bearbeiter dieses Textes, sagt darüber: „Ich kenne keinen anderen Text im Alten Testament, ja überhaupt in der Literatur, in dem Versöhnung in plastischerer Gestalt dargestellt und mit tieferer Einsicht erfaßt worden wäre als in dieser großartigen Novelle, die in so vollendeter knapper Form so viel an menschlicher Dramatik und Wahrheit offenbart." 4 Wir beobachten in dieser Erzählung bestimmte Züge, die Komponenten des Versöhnungsvorganges sind. Am Anfang steht das Unrecht, das von den Brüdern an Josef verübt wird. Es hat seinen Grund in der bevorzugten Stellung des Sohnes der Lieblingsfrau des Vaters: Josef war der Sohn der Rahel, die Brüder die Söhne der Lea. Dazu kommt seine bevorzugte Behandlung durch den Vater, der ihm den „bunten Rock" schenkt, ein „fürstliches Gewand", das sichtbare Zeichen der väterlichen Vorliebe, das die Investitur Josefs mit besonderen Vorrechten darstellt. Schließlich ist bei Josef selbst ein Bewußtsein von dessen Vorrang zu erkennen, das in seine Träume projiziert wird und den Haß der Brüder hervorruft, weil es auf Vorherrschaft hindeutet. Das Verbrechen der Brüder ist die direkte Ursache oder das Mittel für Josefs Erhöhung. In der Dogmatik wird diese Art der „gubernatio" (der „Führung" Gottes) „directio" („Lenkung") genannt. Gott stellt nicht nur sein volles Leben her, sondern „erhöht" Josef auch, indem er ihn zu hohen Ehren kommen läßt. Gott heilt nicht nur die Zerstörung des an Josef geschehenen Unrechtes, sondern läßt ihn auch dadurch reifen. Die Fähigkeit zum Verzeihen bahnt sich durch diese Erfahrung der „directio", der Lenkung Gottes, bereits an. Zumindest an diesem Punkt wird deutlich, daß wir es auch in dieser Erzählung mit drei Personen oder Darstellern der Handlung zu tun haben. Es sind nicht nur die beiden Gegner - Josef und seine Brüder - im Spiel, sondern hier ist auch Gott einbezogen. Theologisch von Versöhnung zu sprechen ist demnach nur dort möglich, wo mit Gottes Gegenwart und seinem Wirken - seiner „gubernatio" - gerechnet wird. Das wird in dieser Geschichte eindrücklich herausgearbeitet. Schon an dieser Stelle macht Josef Erfahrungen, die schließlich zu dem großen Ausspruch führen werden, die einen theologischen „Kulminationspunkt" darstellen: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott dachte es gut zu machen" (Gen 50,20).

4

A. Schenker, Versöhnung und Sühne, a.a.O., S. 38. Zum Ganzen vgl. W. Dietrich, Die Josephserzählung als Novelle und Geschichtsschreibung. Zugleich ein Beitrag zur Pentateuchfrage, Neukirchen-Vluyn 1989 (BthSt 14), passim.

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Obwohl also schon sehr früh bei Josef eine Bereitschaft zur Verzeihung gegeben ist, läßt er seine Brüder diese zunächst nicht erkennen. Die Brüder müssen erst die Grundhaltung des Hasses überwinden und davon befreit werden. Der Vergebung geht als Bedingung voraus, daß ein Gesinnungswandel beim Gegenüber, der das Unrecht getan hat, stattgefunden hat. Zur Verzeihung und Versöhnung gehört also beides: die Bereitschaft dessen, der das Unrecht erlitten hat, zu verzeihen, und die Änderung derer, die das Unrecht getan haben - hier das Freiwerden von ihrem Haß und Neid. In der biblischen Sprache heißt dies „Umkehr", in der kirchlichen Rekonziliationspraxis später „Buße". Es kann also keine „billige Versöhnung" geben. Die Umkehr erfolgt in zwei Schritten, die die Brüder bei ihrem ersten und bei ihrem zweiten Besuch in Ägypten tun müssen. Der erste Schritt ist die Einsicht in das verübte Unrecht. Zu dieser Einsicht gelangen sie durch die Angst, die ihnen Josef durch seine inszenierte Verdächtigung einjagt; durch sie lernen sie das Leid ermessen, das für jemanden entsteht, der in Todesangst getrieben wird. Der zweite Schritt ist ein Wandel in ihrer Einstellung gegenüber der Solidarität der Brüder: die Bereitschaft, an die Stelle des von ihrer Schuld betroffenen Benjamin zu treten. Statt die Lebensbedingung eines Bruders zu zerstören - wie sie es im Falle Josefs taten - , nehmen sie lieber die Zerstörung des eigenen Lebens freiwillig in Kauf: Juda tritt für seinen Bruder Benjamin stellvertretend ein. Diese beiden Elemente - die Vergebungsbereitschaft statt der Rache bei dem Geschädigten und die innere Umkehr vom Unrecht durch Gesinnungswandel und eine neue Einstellung zum Gegenüber auf Seiten der Schuldigen - müssen zusammentreffen, um Versöhnung möglich zu machen. A m Anfang steht die Bereitschaft zur Vergebung des Geschädigten; von ihr geht der Impuls zur Gesinnungsänderung, Reue und Umkehr bei dem Schuldigen aus. Ohne Umkehr des Schuldigen kann bei der ehrlichsten und tiefsten Vergebungsbereitschaft die Aussöhnung nicht zum Ziel kommen. Denn solange der Schuldige in seiner Grundhaltung des Unrechts - hier Haß und Neid - verharrt, bleibt das Unrecht potentiell lebendig und kann wann immer neu aufflammen. Dann aber wäre der Konflikt nicht wirklich überwunden und aus der Welt geschafft. Diese so notwendige Änderung der Grundhaltung auf Seiten des Schuldigen läßt sich daran erkennen, daß er etwas tun muß, womit er eine der damaligen Tat entgegengesetzte Haltung beweist. Juda, der zwar seinerzeit Josef vor dem Tod gerettet hat, indem er den Brüdern vorschlägt, statt ihn zu töten, den reisenden Kaufleuten zu verkaufen, aber doch aktiv am Unrecht beteiligt ist, läßt es jetzt nicht zu, daß Benjamin für sie geopfert wird, indem er von Josef für einen vermutlichen Betrug zurückgehalten wird. Er stellt sich an seine Stelle und nimmt lieber Unrecht auf sich, als Unrecht zu

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tun. An dieser Haltung neuer Solidarität läßt sich der Gesinnungswandel des Schuldigen ablesen. Dies ist eine Art „Wiedergutmachung", indem man Opfer, Verzicht oder „Abbüßung" auf sich nimmt. Es ist eine „Leistung" an sich selbst, gar nicht eine Leistung für den Beleidigten, also auch nicht „Genugtuung". In der ganzen Erzählung ist auch nicht von Strafe die Rede. Wo Vergebung gewährt wird, fallt die Strafe dahin. Dies ist ein wichtiger Gedanke, auf den wir noch zurückkommen werden. Versöhnung ist nicht mit Strafe verbunden, sondern macht Strafe hinfallig. Allerdings gilt auch: Vergebung ist kein Ersatz für Gerechtigkeit. Die Erprobungen der Brüder waren nicht Strafe, sondern Mittel zur Sinnesänderung, um die Aussöhnung zu ermöglichen und die Gerechtigkeit wiederherzustellen. 5 Wenn hier in der Vergebungs- und Versöhnungshandlung keine Rache, Strafe oder Genugtuung vorkommt, so ist doch die Reue als Voraussetzung der Umkehr erforderlich. Reue ist demnach ein wesentliches Element der Umkehr und damit der Versöhnung überhaupt. Wenn von Gottes Reue gesprochen wird, 6 dann ist das demnach die Bezeichnung eines wesentlichen Elementes seiner Versöhnlichkeit. Wir haben in der Josefsgeschichte die entscheidenden Elemente des Versöhnungsvorganges vor uns. Nicht vergessen werden darf: Das alles geschieht in der Gegenwart des Gottes, von dem Josef seinen Brüdern sagt: „Ich fürchte Gott" („Gott ist über mir", alte Luther-Übersetzung, Gen 42, 18). Das ist die theologische Grundvoraussetzung der Versöhnung unter Menschen.

c) Wo gegenseitige Versöhnung nicht mehr möglich ist: Gottes Vergebung (David und Uria - 2. Sam 11-12) Während in den beiden vorangegangenen alttestamentlichen „Modellen" der Versöhnungsauftrag mit einem negativen und einem positiven Ausgang dargestellt wird, so ist hier ein Geschehen geschildert, wo gegenseitige Versöhnung nicht möglich ist, weil der Geschädigte nicht mehr am Leben ist. Hier nimmt Gott selbst die Versöhnung in die Hand dadurch, daß er indem er Buße und Wiedergutmachung fordert - selbst vergibt. Es ist die Erzählung von Davids Verbrechen an Uria, dem Ehebruch mit Batseba und dessen Folgen.

5

A. Schenker, Versöhnung und Sühne, a.a.O., S. 40ff. J. Jeremias, Die Reue Gottes. Aspekte alttestamentlicher Gottesvorstellung, NeukirchenVluyn 1975 (BSt, H. 65). 6

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Um das deutlich zu machen, ist es hilfreich, die kunstvolle Darstellung dieses Teiles der sogenannten Geschichte von der Thronnachfolge Davids (2. Sam 9-20, 1. Kön 1-2), 7 vom Ende, das heißt vom Ziel und Skopus her zu betrachten. Worauf nämlich die Geschichte hinaus will, ist, zu zeigen, wie das Todesurteil, das sich der König nach israelitischem Recht, das er als oberster Richter des Volkes - selbst spricht, von Gott aufgehoben wird. Diesem göttlichen Vergeben muß die Strafe weichen. Das geschieht allerdings erst in einem zweiten Urteil Gottes, nach dem Geständnis des König und seiner Einsicht in das begangene Unrecht. Diese Einsicht und die Übernahme der Verantwortung für die verübte Tat - die Reue - sind die Voraussetzung und Bedingung des Straferlasses und damit der Verzeihung. Die Anerkennung der Verantwortlichkeit schließt den Willen ein, den verursachten Schaden zu beheben. Bis es also zu dieser Vergebung Gottes kommen kann, setzt Gott - wie diese Geschichte ausführlich darstellt - eine Szene ins Werk, durch die er erreicht, daß der König David seine eigene Tat objektiv und vorurteilslos sieht, einen Richterspruch ausspricht und dann erlebt, wie er vom Richterstuhl auf die Anklagebank versetzt wird und das erlittene Unrecht, bevor es ihm verziehen wird, selbst in Reue nachfühlen und nachvollziehen muß. Die Geschichte (2. Sam 11-12) erzählt, wie David während des Krieges gegen die Ammoniter in Jerusalem Batseba, die schöne Frau des Hetiters Uria, sieht und sie zu sich nimmt, in der Meinung, daß der Ehebruch nicht entdeckt wird. Da die Frau in Abwesenheit des Gatten, der im Krieg ist, schwanger wird, wird Uria auf königlichen Befehl nach Hause gerufen und von David zu seiner Frau ins Haus geschickt, damit der Schein gewahrt bleibe, daß sie von ihrem Manne schwanger geworden sei. Doch Uria kommt zwar zu König David, macht aber nicht Gebrauch von der Möglichkeit, seine Frau zu besuchen. Aus Solidarität mit den Entbehrungen seiner Militärkameraden, will er nicht vom Privileg eines unvorhergesehenen Urlaubes profitieren. Selbst als der König ihn an seine Tafel lädt und ihn sich betrinken läßt, geht er nicht in sein Haus. Da greift David zu einem anderen Mittel: er läßt seinem General Joab sagen, Uria während des Krieges an eine gefährliche Stelle einzusetzen, so daß er auf diese Weise zu Tode käme. Joab führt den Befehl durch, Uria fällt in einem gefährlichen Kampf mit anderen Männern. Darauf hin läßt er David durch einen Boten davon benachrichtigen. Nach der Trauerzeit Batsebas um ihren Ehemann läßt sie David in sein Haus holen und sie gebärt einen Sohn. Damit scheint die Angelegenheit begraben zu sein. Doch der Erzähler fügt bedeutungsvoll hinzu: „Aber dem Herrn mißfiel die Tat, die David ge7

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Vgl. zum Folgenden A. Schenker, Versöhnung und Sühne, a.a.O., S. 4Iff.

tan hatte" (2. Sam 11,27). Auf diese Weise wird deutlich, daß in dieser Geschichte - in der es um Xwei sich gegenüberstehende Männer, hier also nicht um zwei Brüder geht - Gott nicht ausgeklammert ist. Was David später zugibt, darf nicht außer Acht gelassen werden: „Ich habe gesündigt gegen den Herrn" (2. Sam 12,13). Es geht hier nicht zuerst um eine Schuld gegenüber einem Mann, den er umbringt, sondern um Schuld gegenüber Gott. Der Herr sendet den Propheten Nathan zu David, um ihm dieses klar zu machen. Aber weil der König der höchste Richter aller Untergebenen ist, bringt Nathan einen „Fall" vor, den der König beurteilen soll. Es ist die Rede von einem Reichen und einem Armen. Der Reiche hat Lämmer- und Rinderherden in Menge, der Arme nichts als ein Lämmchen, das er selbst großgezogen hat und das ihm wie ein „Töchterchen" war. Als nun der Reiche einen Gast bekommt, tut es ihm leid, von seinen Lämmern oder Rindern zu nehmen, und er läßt das Lämmchen des Armen schlachten und setzt es dem Gast vor. Diese Tat verlangt nach israelitischem Recht vierfache Wiedergut-machung. Doch der König wird beim Anhören dieses Falles zornig und bestraft nicht nur den Diebstahl des Lammes mit vierfachem Ersatz, sondern auch die Boshaftigkeit des reichen Mannes, der dem anderen das Einzige herzlos mit der Gewalt des Stärkeren raubt. Darum verurteilt er den Mann auch zum Tod: Gewalt soll mit Gewalt bestraft werden. Nach dieser Urteilsverkündigung - denn das war sie, obgleich David meinte, daß ihm ein konkreter Fall vorgetragen worden sei - sagt Nathan ihm: „Du bist der Mann". Dann hält der Prophet dem König das Ausmaß seiner Schuld vor Augen: Er ruft ihm alle Wohltaten Gottes und die Güte in Erinnerung, mit der ihn Gott zum König über Israel gesalbt und ihm so viel, reichlich gegeben hat: Besitz und Familie. Man wird an den Vater im Gleichnis von den beiden Söhnen erinnert, der ein großes Gut hat: der eine ruft es ab, der andere muß aufmerksam gemacht werden „Was mein ist, ist auch dein". Die Tat Davids ist Undank, er hat Gott und seine Güte damit verachtet. Er hat dagegen eine andere Familie zerstört, die Anspruch auf den Schutz des Königs hatte. Auch als Fremder, der Uria als Hetiter war, hatte er dies Recht. David hat die Wohltaten Gottes angenommen, aber ihn selbst verachtet durch seine Tat, mit der er ein Leben vernichtete und eine Familie zerstörte. Das Urteil, das Nathan dem König verkündigt, ist genaue Vergeltung: Ihm sollen seine Frauen genommen werden dafür, daß er Urias Frau raubte; die eigene Familie Davids wird sich im Bruderzwist zerfleischen, dafür, daß er des Hetiters Familie vernichtete. Über das Schicksal Davids selbst wird nichts gesagt. David antwortet auf diese Anklage und das Folgeurteil mit dem Bekenntnis seiner Schuld: „Ich habe gesündigt gegen den Herrn!" Er versucht

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nicht, sich zu entschuldigen, zu erklären oder Ausflüchte zu finden. Er sieht die Richtigkeit der Anklage ein. Aber gerade das ändert Gottes Urteil: „So hat auch der Herr deine Sünde weggenommen; du wirst nicht sterben!" (2. Sam 12,13). Die Todesstrafe wird erst aufgehoben, als dem erbarmungslosen David durch eigene Todesangst gezeigt wird, was er einem anderen kaltblütig angetan hat. Durch die Vorgangsweise Gottes über den Propheten Nathan soll der König zu Einsicht und damit zur Reue geführt, j a hineingezwungen werden. In dem Augenblick, als dieses Ziel erreicht war, wurde die Todesstrafe hinfallig. Allerdings: der verursachte Schaden müßte behoben werden, soweit das möglich ist. Nachdem es in diesem Fall nicht mehr möglich ist, weil Uria tot ist, muß David eine Ersatzleistung tun, ein Opfer bringen, eine andere „Wiedergutmachung" auf sich nehmen. Daß Jahwe ihm den Tod des Kindes abverlangt, ist nicht eine Strafverwandlung, ein „Nachlaß" vom eigenen Tod auf den Tod des Kindes. Hier wird David jedoch ein Preis verlangt, der zur Wiedergutmachung gleichsam notwendig ist. Es soll eine Leistung sein, die seine Reue vor Augen stellt. Daß dem König von Gott wirklich verziehen ist, besiegelt Gott, indem er ihm die Geburt eines anderen Sohnes ermöglicht, „den Gott liebt". Gott gibt Zeichen und Pfänder seiner Versöhnung. Wir entnehmen aus dieser eindrucksvollen Geschichte von Davids Schuld und Gottes Vergebung: Gott verzeiht dem Sünder, der sich von seinen Wegen entfernt, weil er ein Gott der Versöhnung, ein versöhnender Vater ist. Er hebt die Todesstrafe auf, die sich dieser zugezogen hat, wie der verlorene Sohn, der „tot war". Gott setzt gleichzeitig ein Zeichen dafür, was dazu gehört, daß es zu dieser Vergebung und Aussöhnung kommt: Einsicht in die Schuld und die Wiedergutmachung an den Geschädigten. Wo die Wiedergutmachung in dieser Weise nicht möglich ist, muß an ihre Stelle etwas anderes als Ersatz treten. Die Buße, die Gott verlangt, muß etwas sein, an dem er zu leiden hat, an Stelle dessen, was er dem Geschädigten nicht mehr Gutes erweisen kann. Statt Wiedergutmachung, die an dem Geschädigten nicht mehr möglich ist, wird hier ersatzweise eigenes Leiden gefordert. Wir haben hier die wichtigsten Elemente der Versöhnung mit Gott vor uns, die im Gleichnis Jesu vom verlorenen Sohn implizit vorhanden sind, wo die Versöhnung mit dem Bruder als Folge jener Vergebung des Vaters gefordert wird.

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2. Drei neutestamentliche Geschichten über Angebot, Verweigerung und Weitergabe von Versöhnung

Die drei Geschichten aus dem Neuen Testament sollen paradigmatisch dem Geheimnis der christlichen Versöhnung weiter nachgehen. Zunächst wird das Gleichnis Jesu von den Vatersöhnen behandelt, das den versöhnenden Gott als den liebenden Vater beschreibt, der seine Kinder - die Brüder durch die Versöhnung zusammenführen will. Hier wird durch die Annahme des Gott entlaufenen und entfremdeten Menschen die Versöhnung der Brüder als Angebot dargestellt, wobei das Ergebnis offen bleibt. Sodann wird ein neutestamentliches Beispiel verworfener Versöhnung besprochen, und zwar das Gleichnis vom bösen Knecht. Schließlich soll die Interpretation einer Geschichte von Annahme und Weitergabe der Versöhnung versucht werden, wie sie im Gleichnis vom klugen Verwalter entdeckt werden kann.

a) Einladung zur Versöhnung: das Gleichnis von den Vatersöhnen (Lk 15,11-32) Man hat die Josefserzählung als „Patengeschichte" dieses Gleichnisses bezeichnet und versucht, anhand einer Reihe von Wörtern und Begriffen, die o

in beiden Texten vorkommen, dieses zu erhärten. Darum ist es gut, in dieser Geschichte von den Vatersöhnen und nicht lediglich vom „verlorenen Sohn" auszugehen und das Augenmerk auf beide Söhne zu richten. Auch hier geht es um zwei Brüder, obwohl textkritisch bezweifelt werden kann, daß die beiden Teile des Gleichnisses von vornherein eine Einheit gebildet haben, also in dieser Zusammensetzung schon von Jesus stammen oder ob erst Lukas beziehungsweise die Gemeinde des Sonderlukas den zweiten Teil an den ersten angefügt hat. 9 In unserem Zusammenhang ist diese Frage unwesentlich; wir gehen vom gesamten Gleichnis aus und von der Fest8 O. Schwankl, Das Gleichnis von den Vatersöhnen, Lukas 15,11-32, in: E. Garhammer, F. Gasteiger, H. Hobelsberger und G. Tischler (Hg.), ... und führe uns in Versöhnung. Zur Theologie und Praxis einer christlichen Grunddimension, München 1990, S. 176, Fußnote 9. 9 J. Jeremias, Die Gleichnisse Jesu, Berlin 7 1966, S. 131: „Nichts berechtigt dazu, den zweiten Teil für einen Zusatz zu halten". Dagegen: H. Klein, Barmherzigkeit gegenüber den Elenden und Geächteten. Studien zur Botschaft des lukanischen Sondergutes, NeukirchenVluyn 1980 (BThSt 10), S. 53ff.

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Stellung, daß der zweite Teil, in dem die Rolle des ältesten Bruders im Mittelpunkt steht, besonders wichtig für unsere Problematik ist. Die Geschichte hat einen klassischen Ausgangspunkt. „Ein Mensch" hat zwei Söhne. Der jüngere, der nach damaligem jüdischem Recht den Hof nicht erben konnte, weil er dem Ältesten zustand, verlangt vom Vater sein Erbteil, das ihm - allerdings nur nach dessen Tod - zusteht, 10 erhält dieses ohne Widerrede und zieht damit in ein fernes Land, wo er sein mitgebrachtes Hab und Gut mit Prassen durchbringt. Es kommt eine große Hungersnot über jenes Land. Der Sohn fangt an zu darben. Er sucht „Halt" an einem Bürger jenes Landes, der ihm Arbeit gibt, nämlich die Säue am Acker zu hüten. Er kann seinen Hunger jedoch nicht einmal mit dem Schweinefutter stillen, weil man ihm dieses vorenthält. Darauf geht er in sich: „Wie viele Tagelöhner hat mein Vater, die Brot in Fülle haben, und ich verderbe hier im Hunger!" Dieses „Insichgehen" durch die „Erinnerung" an das Vaterhaus und seine Stellung dort läßt in ihm den Entschluß reifen, sich zu seinem Vater aufzumachen und seine Schuld zu bekennen: „Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin hinfort nicht wert, daß ich dein Sohn heiße; mache mich zu einem deiner Tagelöhner." Er ist sich dessen bewußt, seine Sohnschaft verwirkt zu haben, aber es drängt ihn zurück ins Vaterhaus. Doch als er sich aufmacht, sieht ihn sein Vater, als er noch weit entfernt ist, es ,jammert ihn" und er „läuft ihm entgegen", fällt ihm um den Hals und küßt ihn. Der Sohn spricht sein „Sündenbekenntnis", doch der Vater läßt ihn gar nicht ausreden, sondern befiehlt den Knechten, für den Sohn das beste Gewand (ein „Festkleid") zu bringen, es ihm anzuziehen und ihm einen Ring an seine Hand zu stecken, sowie Schuhe an die Füße zu geben, das gemästete Kalb zu schlachten, und sagt: „Laßt uns essen und fröhlich sein. Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist wieder gefunden worden!" Dieser erste Teil des Gleichnisses hebt sich bei näherem Hinsehen von dem zweiten Teil insofern bedeutsam ab, als hier die Sache stärker in das Bild hineinwirkt. Es ist zu Menschen gesagt, die dem älteren Bruder gleichen, das heißt zu solchen, die sich an der Handlungsweise des Vaters stoßen. Der „ältere Sohn", der auf dem Feld war und die Festklänge der Musik und des Tanzes hört, erfahrt von einem Knecht, daß sein Bruder zurückgekehrt sei und der Vater das Mastkalb geschlachtet habe. Darüber wird er zornig und will nicht in den Festsaal hineingehen. So geht sein Vater hinaus zu ihm und bittet ihn, hineinzukommen. Der ältere Sohn aber wirft ihm

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Der ihm „zukommende Teil" ist aufgrund von Dtn 21,7 ein Drittel des Besitzes; der Erstgeborene erhält doppelt so viel wie die übrigen Söhne. Einzelheiten bei J. Jeremias, Die Gleichnisse Jesu, a.a.O., S. 128ff.

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vor, obwohl er ihm so viele Jahre gedient und seine Gebote nie übertreten habe, doch nie zumindest einen Bock erhalten zu haben, um sich mit seinen Freunden zu unterhalten, während für „diesen seinen Sohn" bei seiner Rückkehr, nachdem er sein Hab und Gut „mit Huren" verpraßt hat, das Mastkalb geschlachtet wurde. Der Vater antwortet gütlich: „Mein Sohn, du bist allezeit bei mir und alles was mein ist, das ist dein. Du solltest aber fröhlich und guten Mutes sein, denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergefunden." - Hier merkt man, wie das ursprüngliche Bild bzw. Gleichnis unwichtig geworden ist neben der Verkündigung, die dies veranschaulichen soll. Diese Verkündigung ist das werbende Verständnis für die Annahme des schuldig gewordenen Sohnes durch den barmherzigen Vater" und damit für die Versöhnung der beiden Brüder. Gerichtet ist das Gleichnis an die Pharisäer, die Jesus die Sünderannahme vorwerfen (Lukas 15,lf). Der „ältere Sohn", der πρεσβύτερος ist also der Mensch, der von dem „anderen", jüngeren Sohn durch eine Kluft getrennt ist. Das Motiv der beiden Brüder, die sich hassen und versöhnen müssen, steht hier wieder vor uns. Die Kluft hat ihren Grund in zwei verschiedenen Lebensweisen des Menschen. Auch hier sind die „ungleichen Brüder" das Grundproblem, deren positionelle unterschiedliche Funktion zu einer ethischen unterschiedlichen Lebenshaltung führt und den Konflikt zur Folge hat. Hier stoßen zwei entgegengesetzte Weltanschauungen zusammen. Nicht der Ackermann und der Schäfer stehen sich hier gegenüber, sondern der „Gerechte", der ein geordnetes Leben führt und gehorsam beim Vater in der vorgegebenen Ordnung bleibt, und der „Unrechte", Mißverstandene, Untraditionelle, der sich in seinem Leben schuldig macht, auf Abwege gerät und dem Vater gegen12 über in Schuld gerät. 13

Da ist der ältere, der fertige und ordentliche, der „Typ des Pharisäers", der dem Vater stets treu gedient und seine Gebote nie übertreten hat, der Mann mit der strengen Ordnung, dessen Horizont abgeschlossen ist, der „Fertige", der deshalb Versöhnung als mangelnde Gerechtigkeit einstuft. Während er nicht einmal einen Bock zur Unterhaltung mit den Freunden vom Vater bekommen hat, hat der andere, der sein Hab und Gut mit Dirnen verpraßt hat, ein Mastkalb zum Fest erhalten. Er furchtet den Zusammenbruch der Ordnung, der Sitte und der Gerechtigkeit und damit das ethische Chaos und kann den Weg und die Weise des Vaters nicht nachvollziehen.

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H. Klein, Barmherzigkeit, a.a.O., S. 15.

12

H. Gollwitzer, Bibelarbeit, in: Lasset euch versöhnen mit Gott. Ein Buch vom Deutschen Evangelischen Kirchentag in Frankfurt a.M., Berlin 1957, S. 46f. 13

D. von Oppen, Der sachliche Mensch, Stuttgart-Berlin 1968, S. 137ff.

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Seine Welt beruht auf der strengen Unterscheidung der Menschen in Gut und Böse. Wer zu den Bösen gehört, muß gemieden, geächtet und bestraft werden. Für diese gibt es keine Vergebung oder Versöhnung, es sei denn sie finden zu der „ordentlichen Lebensweise" zurück und stellen dieses unter Beweis. Nur so kann die Ordnung erhalten und die Gerechtigkeit bewahrt werden. Dieses Gerechtigkeitsdenken und das eigene Recht-haben schafft die eigentliche Kluft, den tiefsten Grund des Bruderhasses. Indem dieser „ältere Bruder" den jüngeren ablehnt und meidet, lehnt er letztlich den Vater ab, „der diesen seinen Sohn" falsch behandelt. Die Welt des Vaters ist eine andere: „Es jammert ihn", er „läuft ihm entgegen", fällt ihm um den Hals, küßt ihn. Das heißt zunächst: Der Vater kommt dem „verlorenen", aber wieder heimkehrenden Sohn, seiner Buße, seinem Sündenbekenntnis zuvor. Er stellt keine Bedingungen für die Vergebung und Versöhnung. Er unterbricht ihn auch in seiner Rede, nachdem er endlich zu Wort kommt mit seinem Sündenbekenntnis. Er befiehlt praktisch die Wiederaufnahme des Sohnes in den vorigen „Stand". Mehr noch: das Anziehen eines Ehrengewandes war Zeichen einer hohen Stellung solcher, die nicht körperlich zu arbeiten brauchten. Der Siegelring, den man ihm an den Finger ansteckt, ist Zeichen der Vollmacht, als Vertrauter und Vertreter des Vaters zu handeln und an seiner statt Unterschriften zu leisten. Die Schuhe an den Füßen weisen den Sohn als Herrn des Hauses aus. Dazu initiiert der Vater ein „Fest der Versöhnung", die „Feier des neuen Lebens": das Mastkalb, das beste, das man für den Fall eines königlichen Besuches bereithielt, wird dafür zur Verfügung gestellt. Musik und Tanz sind Formen der feierlichen Fröhlichkeit und Freude, Ausdruck der neuen Situation. 14 Aus Trauer wird Freude, weil einer verloren war und wieder gefunden wurde, weil einer tot war und wieder lebendig geworden ist. Alle drei Anordnungen des Vaters sind das öffentliche Sichtbarmachen der Vergebung und Wiederherstellung der Kindesstellung. 15 Hier wird der Grund, das Fundament der Versöhnung deutlich: die Liebe des Vaters zu den Söhnen, ihre Geborgenheit im Vaterhaus, ihr Anteil am Besitz des Vaters. Es ist die Sohnschaft der Söhne, das Vatersein des Vaters, die die Grundlage der Versöhnung bilden, die dort nötig wird, wo Entfremdung eingetreten ist. Wichtig für uns ist, daß hier das Versöhnungswirken Jesu deutlich wird als versöhnende Tat Gottes. Man kann das Gleichnis jedoch nicht als Beweis dafür ansehen, daß hier Versöhnung ohne Mittler und Träger der Versöhnung (Jesus Christus) erfolgt, also für die antidogmatische Auffassung,

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O. Schwankl, Das Gleichnis von den Vatersöhnen, a.a.O., S. 160ff. J. Jeremias, Die Gleichnisse Jesu, a.a.O., S. 130.

daß sich damit eine Erlösungs- und Versöhnungslehre, wie sie später, ausgehend von Paulus, entstanden ist, erübrige. Denn auch diese hier im Gleichnis erzählte Versöhnungsgeschichte - als Angebot - beruht auf der Vermittlung Jesu. Andererseits ist es auch nicht möglich, durch eine allegorisch-christologische Auslegung, wie bei K. Barth aufgrund der Interpretation dieses Gleichnisses, eine Versöhnungslehre zu entfalten in dem Sinne, „daß wir es in dem Hin- und Rückweg des verlorenen Sohnes im Verhältnis zu seinem Vater mit einer merkwürdig einleuchtenden Parallele zu dem im Werk der Versöhnung beschriebenen Weg Jesu Christi zu seiner Erniedrigung und Erhöhung zu tun haben". 16 Die Bedeutung dieser Geschichte, die Jesus erzählt und die erst später durch seinen Tod besiegelt wird, liegt für uns auch darin, daß hier Einzelzüge, „Elemente der Versöhnung" deutlich werden, die für den Vollzug der Versöhnungshandlung wichtig sind. Der Versöhnungsprozeß ist oft die eigentliche und schwierige Frage, mit der wir es bei der Entfremdung und Trennung zwischen einzelnen Menschen, Gruppen, Kirchen und Völkern zu tun haben. Wir wollen dazu einiges herausstellen. Zunächst wird deutlich, daß Versöhnung ein zentrales Anliegen des menschlichen Lebens ist. Der Vater setzt alles ein, um sich selbst mit dem Sohn zu versöhnen und die Feinschaft zwischen den Brüdern zu überwinden, indem er zur Gemeinschaft und Versöhnung untereinander einlädt. Es erinnert an die Aussage des Apostels Paulus: „Gott versöhnte die Welt mit sich selber und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der (den Dienst der) Versöhnung. So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns. So bitten wir nun an Christi statt: Laßt euch versöhnen mit Gott" (2. Kor 5,19f). Versöhnung ist demnach Gabe und Aufgabe, „Gabe Gottes und Quelle neuen Lebens" (so das Thema der 2. Europäischen Versammlung in Graz 1997), aber auch Zustand und Prozeß, Sein und Werden. Sie wird geschenkt und erfordert doch „Arbeit an der Versöhnung". Sie fordert die Umkehr des Menschen durch Besinnung, Schuldeinsicht und Buße. Das aber ist nicht eine Vorleistung: Der Vater geht dem Sohn entgegen, bevor er weiß, ob dieser tatsächlich Einsicht gezeigt und Buße getan hat. Versöhnung geht deshalb immer vom Stärkeren aus, von dem, der im Recht ist: der erste Schritt erfolgt durch sein Entgegenkommen. Versöhnung im Sinne dieses Gleichnisses erwartet nicht, daß dem Sünder und Büßer nur dann entgegengegangen wird, wenn er vorzeigt, daß er Leistungen erbracht hat. Die Haltung des Bruders, der brav alle moralischen und ordnungsgemäßen Regeln des Vaters eingehalten hat und die Gemeinschaft

16

K. Barth, KD IV/2, § 64 „Die Heimkehr des Menschensohnes", S. 23. Vgl.: M. Petzoldt,

Gleichnisse Jesu und christliche Dogmatik, Göttingen 1984, S. 89f.

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mit dem Bruder verweigert, weil jener diese übertreten hat, verhindert die 17

Versöhnung. Die Angst vor der Preisgabe der Ordnung und die Mißachtung der Gerechtigkeit steht uns hinderlich im Wege. Es ist nicht der Weg, der in unserem Gleichnis gewiesen wird. Unsere Versöhnungsgeschichte bleibt allerdings offen. Sie schließt mit der Einladung zur Versöhnung. Sie erwartet die Annahme jener Haltung unter den Brüdern, die der Vater vorgelebt und selbst eingenommen hat: das „Entgegenkommen" („Er lief ihm entgegen") das „auf den anderen Zugehen", das „Mitlaufen" mit dem Vater, also: sich ihm gleichstellen, den 18 Vater nicht allein lassen auf diesem Weg. Es ist der Weg Jesu. Jesus erzählt Geschichten, die er selbst an Vater statt und gesandt vom Vater, durchmacht. Sein Weg erfordert Nachfolge, Nachahmung. In dieser Erzählung ist der Weg Jesu bereits vorgezeichnet: er wird mit seinem Tod am Kreuz besiegelt. Hier jedoch bleibt es bei der Einladung zu diesem Weg. Darum betrachten wir zunächst zwei andere Gleichnisse: das eine, in dem die vom Vater empfangene Versöhnung dem Bruder verweigert wird und keine Folgen hat für das Zusammenleben mit ihm (der „böse Knecht"), und das andere, in dem solche Versöhnung weitergegeben wird und der Bote der Versöhnung zum Empfanger der Versöhnung wird (der „kluge Haushalter").

b) Die verweigerte Versöhnung: das Gleichnis vom „bösen Knecht" (Mt

18,21-35)

Die Geschichte vom „bösen Knecht" (dem „Schalksknecht") ist zuweilen als „Fortsetzung der Geschichte vom verlorenen Sohn" bezeichnet worden. 19 Denn hier wird die Frage gestellt, wie es mit dem von Gott begnadeten Menschen, dem Barmherzigkeit von seinem himmlischen Vater widerfahren ist, weitergeht, sobald er aus dem Vaterhaus hinaus „in die Welt" tritt. Das Bild des Gleichnisses ist allerdings etwas verändert. Nicht das Haus des Vaters, sondern der Palast eines Königs ist der Ort der Handlung, von dem die Geschichte seinen Ausgang nimmt. Statt des Verhältnisses Vater-Sohn ist hier das Verhältnis König-Knecht beschrieben. Der „verlorene Sohn", der sein Hab und Gut verpraßt, ist hier der Knecht, wahrscheinlich ein hoher Beamter (ein Minister oder Satrap), dessen Millionen-

17

R. Höppner, Versöhnung als politisches Programm in der einen Welt, in: ÖR 4/1995, S.

409f. 18

H. Gollwitzer, Bibelarbeit, a.a.O., S. 64. " H. Gollwitzer, Bibelarbeit, a.a.O., S. 65.

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schuld gegenüber dem König entdeckt wird, der also wahrscheinlich durch 20

Unterschlagung und Mißbrauch seines Amtes schuldig geworden ist. Die zehn tausend „Zentner Silber", gemeint sind zehn tausend Talente, eine märchenhafte Summe (ca. 34 Kilogramm Gold oder 60 Millionen Arbeitstage, 50 Millionen Denare) deuten darauf hin, daß die Schuld unbezahlbar ist. Nachdem er diese also nicht zahlen kann und der König befiehlt, Frau, Kinder und alles was er hat, zu verkaufen und damit die Schuld zu begleichen, fällt der Knecht ihm zu Füßen, bittet um Geduld und verspricht, ihm alles zu bezahlen. Der Herr hat Erbarmen mit ihm, läßt ihn frei, ja erläßt ihm auch die Schuld, weil er wohl weiß, daß dieser sie nie bezahlen kann und ein solches Unterfangen eine Illusion wäre, wie auch die Hoffnung, die Schuld mit dem Erlös der verkauften Frau und Sklaven bezahlen zu können. (Der Preis für Sklaven, im Schnitt etwa tausend Denare wäre viel zu gering im Verhältnis zur Schuld.) Diese Szene des erbarmenden Herren entspricht der Haltung des Vaters bei der Rückkehr des verlorenen Sohnes im ersten Teil des Gleichnisses von den beiden Vatersöhnen. Doch nun folgt auch hier ein zweiter Teil, in dem der Schauplatz wechselt: nach draußen, in die Welt, in den Alltag („Da ging dieser Knecht hinaus"). Hier ereignet sich etwas Ähnliches wie beim heimgekehrten jüngeren Sohn, auf der Ebene der „Mitknechte", des Kollegen, also ebenfalls eines hohen Beamten oder Ministers, wenn auch von der Höhe der Schuld her gesehen nicht Vergleichbares. Der eben Freigelassene und von seiner Schuld Befreite trifft einen „Mitknecht", der ihm „hundert Silbergroschen", das sind hundert Denare, schuldet, ein Unterschied etwa eins zu sechs Millionen (1 Denar war der Tagelohn eines Arbeiters im Weinberg, vgl. Mt 20,2). Er schuldet ihm demnach den Wert von 100 Tagelöhnen, drei Monatsgehältern, der Summe gegenüber, die ihm erlassen wur21 de, somit eine Kleinigkeit. Doch diesen „packt und würgt" er und fordert von ihm seine Schuld: „Bezahle, was du mir schuldig bist". Hier ist also nicht vom Versagen des „älteren Bruders" die Rede, wie im Gleichnis von den beiden Vatersöhnen, sondern vom Versagen des begnadeten und aufgenommenen „verlorenen Sohnes", von dem also, dem das Ehrenkleid angelegt und dem der Siegelring angesteckt wurde. Was das Gleichnis sagen will, ist klar: Das empfangene Erbarmen sollte zum Erbarmen gegenüber den Mitmenschen führen, erfahrene Vergebung muß dem Bruder, dem „Mitknecht" im Zeichen der Versöhnung weitergegeben werden; der von Gott Versöhnte sollte ein Bote der Versöhnung sein. Dies 20

J. Jeremias, Die Gleichnisse Jesu, a.a.O., S. 208.

21

H. Klein, Bewährung im Glauben, a.a.O., S. 85 u. J. Jeremias, Die Gleichnisse Jesu, a.a.O., S. 208ff.

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Gleichnis endet ebenfalls mit der „Intervention" des Vaters bzw. des Königs. Hier ist jedoch statt der Einladung zur Versöhnung, von der wir beim Vater hörten, die Verurteilung der Tat des Knechtes durch den „König" geschildert: „Deine ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich gebeten hast; hättest du dich da nicht auch erbarmen sollen über deinen Mitknecht, wie ich mich über dich erbarmt habe?" Die Feststellung verweigerter Versöhnung steht im Mittelpunkt als Warnung an die Gemeinde. Die Folge ist - wiewohl von manchen Exegeten der Schlußvers 34 als Zusatz des SonderMatthäus angesehen wird - die Bestrafung, die die Dringlichkeit der Forderung unterstreicht. Es geht um Versöhnung mit dem Bruder auf der Grundlage der selbsterfahrenen Vergebung: „So wird auch mein himmlischer Vater an euch tun, wenn ihr einander nicht von Herzen vergebt, ein jeder seinem Bruder" (Vers 35). Die Parallele zur fünften Bitte des Vaterunsers ist evident. Auch hier also die Botschaft: Versöhnung mit dem Bruder ist ein Erfordernis des Zusammenlebens in dieser Welt. Sie ist möglich, weil der Jünger Jesu die große Barmherzigkeit Gottes erfahren hat. Er verdankt sich „millionenfach" Gott, seinem Schöpfer und Erhalter, und ist ihm durch seine „Untreue" (= Sünde) millionenfach verschuldet. Dieses Gleichnis muß allerdings im Lichte der „Vorgeschichte" (18,2122) noch in einer weiteren Tiefendimension gesehen werden. Denn es knüpft mit dem Wort „Darum gleicht das Himmelreich einem König" an dieses direkt an. Da wird berichtet, daß Petrus dem Herrn die Frage stellt, wie oft er seinem Bruder, der an ihm sündigt, vergeben müsse, ob siebenmal genüge. Darauf antwortet Jesus: „Ich sage dir: nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal". Dieser Ausspruch besagt: Man muß immer wieder vergeben, grenzenlos, ohne Maß, ohne Zahl. Die Zahl 490 ist Ausdruck der Unzählbarkeit. Aber deutlich ist an dieser Stele auch der Bezug zu der Kainsgeschichte. Dort heißt es, daß Kain ein Zeichen auf seine Stirn erhält, damit, wer immer ihm auch begegnet, ihn erkennt und nicht umbringt; wer ihn aber tötet, an dem soll er siebenfach gerächt werden. In Gen 4,24 wird berichtet, daß Lamech sich auf seinen Ahnherrn beruft und die Strafe vervielfacht: seine Strafe ist siebenundsiebzigfach. Nun gibt es eine Exegese, derzufolge Luther die Stelle Mt 18,22 mit „siebzigmal siebenmal" falsch übersetzt habe, während die richtige Übersetzung „siebenundsiebzigmal" sei. 22 Dann wäre unsere Stelle eine direkte Anknüpfung an diese Geschichte der Rache, wie sie von Lamech überliefert ist. Es geht somit um die Gegenüberstellung von Versöhnung und Rache, von Vergebung und Vergel-

22

48

Vgl. Einleitung, S. 19.

tung. 23 Das veranschaulicht unser Gleichnis: der „Mitknecht" ist noch vom Gefühl der Rache und Vergeltung befangen, weil er ein Widerfahrnis aus der Vergangenheit nicht bewältigt hat, statt sich der in der Gegenwart erfahrenen Barmherzigkeit und Vergebung Gottes zu erinnern. Damit steht eine wichtige Frage im Hintergrund unserer Erzählung. Die Unfähigkeit zu vergessen führt zur Unfähigkeit zum Vergeben und Versöhnen. Vergeltung und Rache heißt: an der Vergangenheit hängen, sie nicht vergessen können. Vergebung und Versöhnung heißt: nicht die Vergangenheit vergessen, aber durch die erfahrene Barmherzigkeit Gottes in der Gegenwart „die Sünde beherrschen" (die vor der Tür lauert, wie wir bei Kain und Abel gesehen haben), das heißt, sie verarbeiten, „Versöhnungsarbeit" leisten. Während vergessen und nicht vergessen können eine Sache des Gefühls ist, das man nicht beherrschen kann - so wie man das Gefühl der Ant i - oder Sympathie nicht beherrschen oder Liebe und Haß nicht befehlen kann - so ist Vergebung und Versöhnung keine Sache des Gefühls, sondern des Willens. Der Christ kann seine Gefühle zwar nicht beherrschen, aber mit seinem Verhalten, also seinem Willen, durch die Gnade Jesu Christi bezeugen, daß er die göttliche Vergebung erfahren hat und deshalb auch anderen vergeben kann. 24 Dazu hat die christliche Gemeinde „Ordnungen" mit bestimmten Verfahren herausgebildet, damit diese Haltung der Vergebung „eingeübt" wird, immer wieder „siebenmal" bzw. „siebenundsiebzigmal", d.h. ständig, ohne Maß und ohne Grenze. Eine solche uralte Gemeindeordnung haben wir in den unserem Text vorausgehenden Versen Mt 18,15-18. Da ist ein Verfahren vorgeschrieben, wie mit Menschen umzugehen ist, die sich einander versündigen. Zuerst soll es eine Zurechtweisung durch den Betroffenen unter vier Augen geben. Dann folgt - als zweiter Schritt, wenn der erste nicht gelingt - die Zurechtweisung durch den Betroffenen unter zwei oder drei Zeugen. Falls auch diese Vorgangsweise nicht weiterhilft, soll der Fall vor die Gemeinde gebracht werden, damit die Versöhnung durch diese zustande komme. Bleibt auch dieser Schritt erfolglos, soll der Unversöhnliche aus der Gemeinde ausgeschlossen werden. - Im übrigen haben wir hier die biblische Grundlage für die kirchliche Bußpraxis der Rekonziliation in der Urgemeinde bzw. ihren Niederschlag in einer bereits bestehenden Praxis. 25 23

Vgl.: E. Lohmeyer/W. Schmauch, Das Evangelium des Matthäus, Göttingen 4 1967, S.

278. 24 Vgl.: G. Jakubiny, Vergebung, Aussöhnung, Versöhnung, in: Schritte zur Versöhnung. Predigten, Bibelstudien, Referate und Dokumente der Ökumenischen Konferenz in Keczkemét, Budapest 1996, S. 43. 25

Siehe unten Dritter Hauptteil, Abschnitt 1/a: „Re-konziliation innerhalb des Bußinsti-

tuts".

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Doch gerade dieser Bezugsrahmen der Versöhnung innerhalb einer „Gemeindeordnung" zeigt, daß Versöhnung kein Ersatz für Gerechtigkeit ist. Diese Feststellung ist wichtig, weil häufig eingewendet wird, daß Vergebung Nachgeben und damit Versöhnung Verdrängen der Schuld bedeute. Freilich: dieser Gefahr müssen wir uns bewußt sein. Wie oft ist Vergebung gefordert worden, wo Gerechtigkeit geboten gewesen wäre. Allzu rasch ist von Amnestie die Rede, wo Verurteilung der Verbrecher angezeigt wäre. Kritik, Zurechtweisung, Verurteilung, ja unter Umständen sogar der Ausschluß aus der Gemeinde sind Weisen, auch den Übeltäter ernst zu nehmen und bei seiner Sünde zu behaften. Doch es gilt auch das andere: Vergebung ist mehr als Gerechtigkeit. „Denn Vergebung bedeutet nicht nur Befreiung für den, der etwas Böses begangen hat. Sie bringt auch Befreiung für den, der Böses erleiden muß. Wer vergibt, erfahrt Befreiung [...] So wenig Vergebung ein Ersatz für Gerechtigkeit ist, so wenig darf Gerechtigkeit ein Vehikel der Rache sein. Vergebung ist eine Dimension, welche Gerechtigkeit begründet und eröffnet". 26 Es lohnt sich, das Wort „Vergeben" daraufhin näher zu untersuchen. Es heißt „weggeben", „hergeben". „Das Wort entlarvt uns als Menschen, die die Schuld, die der andere an uns getan hat, im gleichen Augenblick, wo wir uns über sie entrüsten, als einen kostbaren Besitz festhalten, den wir nicht herausgeben wollen [...] So bittet uns Jesus, ihm die Schuld des Bru27

ders an uns zu schenken, sie ihm wegzugeben". Auch das griechische Wort für Vergebung verdeutlicht das. Es bedeutet soviel wie „loslassen" (griechisch: αφίημι). „Die Schuld des anderen ist das Gefängnis, in das wir den anderen hineinsperren, die Fessel, mit dem wir den anderen binden. Vergeben heißt, ihn aus dem Gefängnis seiner Schuld herauslassen, die Schuld nicht mehr als Fessel benützen, nicht mehr als Nagel, mit dem wir ihn annageln, mit dem wir ihn - so sagt es ja unser Wort - ,behaften', festnageln, sondern den Nagel herausziehen, so daß der Zusammenhang zwischen dem anderen und seiner 70 Schuld sich löst und er, wie wir ja sagen, ,frei ist von seiner Schuld'." Aus diesem Grund ist Vergebung Befreiung nicht nur für den anderen, sondern für einen selbst, und darum ist sie kein Ersatz für Gerechtigkeit, aber auch kein Vehikel der Rache. Denn nicht vergeben können ist ein Zustand der Unfreiheit, Vergebimg aber ist Freiheit. Vergeben heißt darum auch nicht die Schuld zu bagatellisieren, leichtfertig zu entschuldigen. Vergebung geschieht vielmehr im Angesicht der klar gesehenen Schuld, ist also nicht gleichbedeutend mit „Nachgeben". Das Ent26

G. Müller-Fahrenholz, Vergebung macht frei, a.a.O., S. 125f.

27

H. Gollwitzer, Bibelarbeit, a.a.O., S. 76f. H. Gollwitzer, Bibelarbeit, a.a.O., S.77.

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scheidende ist, daß der Vater im Vaterhaus den verlorenen Sohn angenommen, ihm vergeben hat und den älteren Bruder ebenso für die Versöhnung mit dem Bruder gewinnen will. Daraufhin könnte die „Pädagogik" des Handelns erfolgen (sozusagen als „tertius usus"): Es kann sein, daß der Vater noch einmal mit dem heimgekehrten Sohn eindringlich über seine Schuld redet. Es kann auch sein, daß er die Schuld mit Stillschweigen übergeht. Diese „Pädagogik" ist also nicht Voraussetzung, sondern Folge der Vergebung. Der heimgekehrte Sohn muß vielleicht in das neue wiedergeordnete Leben im Vaterhaus „eingewiesen" werden. Es kann sein, daß dies Erziehungsaufgaben des „älteren Bruders" sind, aber immer aufgrund des Angenommenseins, des Ja zu dem Heimgekehrten. So wird die „Gerechtigkeit", das „Recht" nicht übergangen, sondern wiederhergestellt. Vielleicht auch einfach dadurch, daß Zeichen solcher Versöhnung weitergegeben werden: daß er in den Dienst genommen wird und durch eine neue Indienstnahme Zeichen der Vergebung und der Überwindung der Schuld erfährt. So hat Jesus dem Petrus das dreimalige Verleugnen durch dreimaliges Einsetzen in den Dienst durch den Auftrag: „Weide meine Lämmer" bzw. „Weide meine Schafe" signalisiert (Joh 21,15 -22,). Es ist bisher immer wieder von Vergebung und Versöhnung in einem Zug gesprochen worden. Dazu muß schließlich gesagt werden: beide sind freilich nicht identisch, aber gehören zusammen. In unserem Gleichnis fordert der König die Vergebung „von Herzen". Es geht um die zu Herzen gehende, von innen kommende Vergebung, die nicht ein formeller Akt ist, sondern eine Grundhaltung, eine Einstellung, die sich immer neu bewähren muß: „siebenundsiebzigmal". Insofern ist sie ein Akt der Verzeihung, des „Schenkens" der Schuld, des Loslassens. Mit Versöhnung meinen wir den Prozeß dieses immer neuen Vergebens, der aus der Haltung, Einstellung und dem Akt der Vergebung folgt. Er folgt nicht immer der Vergebung; er ist möglich, wo sich die Vergebung bewährt, wo sie den Vergebungsprozeß durchsteht und aushält, wo sie beständig bleibt. Denn die Entzweiung ist eine Wunde, die im Moment der Vergebung geheilt scheint, aber immer wieder aufbrechen kann. Für die Versöhnung braucht es Zeit, sie muß aus dem Herzen kommen, aber sie muß auch das Herz bestimmen, im Herzen „sein und bleiben". Es kann also sein, daß einer zur Vergebung (in seinem Inneren) kommt und auch die Versöhnung (äußerlich) folgen läßt. Ein anderer gelangt vielleicht nur bis zur Vergebung und der alte Zustand der Verbundenheit, die die Versöhnung ausmacht, stellt sich erst später ein. 29 Von dieser Versöhnung als Prozeß, als Einübung, als Lebenshaltung und Lebenswirklichkeit ist hier die Rede. Vergebung gehört dazu und ist ihr 29

Vgl. G. Jakubiny, Vergebung, Aussöhnung, Versöhnung, a.a.O., S. 49.

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grundlegender Bestandteil. Darum werden wir im folgenden Beispiel ebenfalls von Vergebung und Versöhnung gleichzeitig sprechen, aber diese Unterscheidung im Auge behalten.

c) Die weitergegebene Versöhnung: das Gleichnis vom „klugen Verwalter" (Lk 16,1-8a) Das Gleichnis vom klugen Verwalter oder „ungerechten Haushalter", wie es gemeinhin genannt wird (im revidierten Luthertext „vom unehrlichen Verwalter"), ist redaktionell die Fortsetzung des Gleichnisses von den beiden Vatersöhnen. Wenn wir das auch inhaltlich so sehen, gehören diese beiden Geschichten eng zusammen und sind unter die Thematik einzuordnen, die am Anfang des 15. Kapitels des Lukasevangeliums angegeben wird: der Vorwurf der Pharisäer und Schriftgelehrten an Jesus: „Dieser nimmt die Sünder an" (Lk 15,2). Dann wäre die Geschichte vom „klugen Verwalter" eine direkte Fortsetzung des vorher erzählten Gleichnisses vom „verlorenen Sohn" mit der Frage, wie es im „Haus des Vaters" weitergeht, ähnlich wie wir es in der Geschichte vom „Schalksknecht" gedeutet haben. Dann sehen wir auch hier das Haus mit dem Vater, der in der Matthäusgeschichte ein König ist und hier lediglich als „reicher Mann" bezeichnet wird. Der jüngere Sohn ist hier nicht ein Knecht, wie in der Matthäusgeschichte, sondern ein Verwalter, ein οικονόμος, also wörtlich ein „HausHalter". Er wird beschuldigt, er verschleudere - beim verlorenen Sohn hieß es „verprasse" - den Besitz des reichen Mannes, seines Vorgesetzten. Das ist also dieselbe Situation, die im Gleichnis von den Vatersöhnen beschrieben wird, wo der ältere Sohn, der πρεσβύτερος, der Gesetzestreue, dem Vater vorwirft, er nehme den auf, der sein Hab und Gut „mit Huren verpraßt" habe. Hier wird der Beschuldigte zur Rechenschaft gezogen, wie der Knecht im Matthäusgleichnis. Wenn wir schon beim „Schalksknecht" feststellten, daß es sich um einen königlichen Beamten gehandelt haben mag, der eine so hohe Summe nur durch Unterschlagung, Veruntreuung dem Herrn gegenüber schulden konnte, so wird hier solche Veruntreuung dem Beschuldigten richtiggehend zur Last gelegt. Auch hier haben wir also zunächst diesen ersten „Schauplatz", wo etwas zwischen dem Vater und dem Sohn bzw. dem Herrn und seinem Knecht, hier also dem reichen Mann und seinem Verwalter abgehandelt wird. Nun gibt es in dieser Geschichte ebenso den anderen „Ort der Handlung": die Welt draußen. Es wird gesagt, der Haushalter solle abgesetzt werden, und dieser überlegt, was er machen könne, damit er nicht graben oder betteln müsse, und daß er wisse, was er zu tun hat, damit „sie mich in ihre Häuser

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aufnehmen, wenn ich von dem Amt abgesetzt werde". „Sie" - das sind seine „Mitknechte", um mit dem Gleichnis aus dem Matthäusevangelium zu sprechen - , seine ihm - vielmehr seinem Herrn - untergebenen „Mitkollegen". Was soll er tun? - Er tut das Gegenteil von dem „bösen Knecht": er geht nicht hin zu ihnen und fordert ihre kleinen Schulden ein, die sie ihm nicht zurückerstattet haben, wie jener. Nein: er läßt ihnen die Schulden, die sie - allerdings gegenüber seinem Herrn - haben, nach. Dem einen von hundert Eimer Öl die Hälfte, so daß er ihn auf seinem Schuldschein „fünfzig" schreiben läßt. Dem anderen erläßt er von hundert Sack Weizen zwanzig und läßt ihm auf den Schuldschein „achtzig" schreiben. Auch in diesem Gleichnis gibt es einen Schluß, wo der Herr sein Wort spricht. Während der Herr im Matthäusgleichnis den Mann als „bösen Knecht" verurteilt und ihn seinen Peinigern übergibt, lobt hier der Herr den „ungetreuen Verwalter", „weil er klug gehandelt hat". Die Bezeichnung des Haushalters als ungerecht, untreu hat - obwohl ausdrücklich berichtet wird, daß der Herr ihn lobt - dazu geführt, daß diese Geschichte einen anrüchigen Charakter erhielt und so viele unterschiedliche Interpretationen erfahren hat wie kaum ein anderer biblischer Text. Man hat 30

die Geschichte als „crux interpretum" bezeichnet. Die Literatur darüber ist immens. 31 Was den Exegeten seit jeher Schwierigkeiten bereitet, ist die „Anstößigkeit der Geschichte". Der Verwalter eines Herrn wird des Betrugs bezichtigt und zur Rechenschaft gefordert, mit der Androhung, seines Amtes enthoben zu werden. Statt sich zu rechtfertigen, begeht er ein weiteres Unrecht, indem er den Schuldnern seines Herren einen Teil ihrer Schulden erläßt in der Hoffnung, daß ihn diese aufnehmen, wenn er sein Amt verliert. Dann heißt es aber doch, daß ihn der Herr lobte, weil er „klug" gehandelt habe. Die Erklärungen dazu sind sehr unterschiedlich und beginnen schon in der Redaktionsgeschichte des Lukas, weil gleichzeitig im Anschluß an Vers 8a noch andere „Deutungen" angehängt wurden. Es ist hier nicht der Ort, auf diese ganze Auslegungstradition einzugehen. Die Geschichte stammt aus dem Sondergut des Lukas, die der Evangelist aller Wahrscheinlichkeit nach schon mit mehreren Erklärungen überliefert bekommen hat. Doch muß man davon ausgehen, daß in Vers 8a die ursprüngliche „Deutung" gegeben wird: der Haushalter als Beispiel großer Entschlußkraft und 32 erfinderischer Energie. Eine andere Erklärung haben wir in Vers 8b: „Die Kinder der Welt sind klüger als die Kinder des Lichts in ihrem Geschlecht". Dann kommt die „Anwendung", den ungerechten Mammon dadurch zu 30

O. Wünckhaus, Der Humor Jesu, Heidelberg 1909, S. 95ff.

31

Siehe bei H. Klein, Barmherzigkeit, a.a.O., S. 92ff.

32

H. Klein., Barmherzigkeit, a.a.O., S. 92.

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überwinden, daß man sich damit Freunde macht (V.9). Nach diesen Erklärungen, wo der Haushalter ein „positives" Beispiel abgibt, wird er schließlich zu einem negativen Beispiel dafür, wie Untreue im Kleinen auch im Großen zutage tritt und umgekehrt (V. 10-12). Das alles sind „moralische" Erklärungen, zuerst positive und dann negative. Die Fragwürdigkeit dieser „moralischen" Auslegung hat dazu geführt, das Gleichnis nicht moralisch oder sozialethisch zu interpretieren, sondern das „Unmoralische", die Anstößigkeit als die Mitte der Geschichte überhaupt herauszustellen, d.h.: die Geschichte nicht als Beispielerzählung, sondern als Parabel, als Vergleichserzählung zu verstehen. Das heißt: nicht das nachahmende Beispiel wird jetzt herausgestellt, sondern der Vergleichspunkt, nicht der Betrug, die Ungerechtigkeit - die unmoralisch bleibt - sondern die Fähigkeit, einer bedrohlichen Situation mit Entschlossenheit und Klugheit zu begegnen. 33 Die späteren Hinzufügungen wollten also die „Anstößigkeit" beseitigen, gingen aber gerade damit an der urspünglichen Absicht Jesu vorbei. 34 Doch wirklich näher kommt man der Absicht Jesu nur, wenn man - wie wir es versucht haben - das Gleichnis im Zusammenhang mit der vorherigen Geschichte und als deren Fortsetzung versteht. Das heißt dann, daß hier vom „Schuldenerlaß" im Sinne von Vergeben die Rede ist. 35 Diese Weitergabe der Vergebung gegenüber den „Mitgenossen", den Nächsten, ist hier parabelhaft inszeniert. Das bedeutet zunächst, daß der „reiche Mann", der Herr, wie im Gleichnis vom bösen Knecht und auch dem vorausgehenden Gleichnis von beiden Vatersöhnen, Gott selbst bzw. der Kyrios Jesus ist. Der Verwalter ist der Mensch, der in seinem Dienst steht, dem Gott sein Gut anvertraut hat und der es verwalten soll als treuer Haushalter. Das ist schon alttestamentliche Tradition, die Gott als Hausherrn, Moses als Verwalter sieht. In der frühen Christenheit werden die Apostel als Haushalter verstanden (1. Kor 4,1). Später ist es der Bischof (Tit 1,7). Der Verwalter, der hier als ungerecht bzw. untreu bezeichnet wird (Lk 16,8) ist gemäß dem Urtext der „Haushalter der Ungerechtigkeit" (της άδικίας), d.h. wenn es sich um einen genitivus objectivus handelt: „in Sachen Ungerechtigkeit", also Haushalter in Sachen der Gesetzlosigkeit, der Sünde.

33 34

J. Jeremias, Die Gleichnisse Jesu, a.a.O., S. 181.

Vgl. T. Schramm/K. Löwenstein, Unmoralische Helden. Anstößige Gleichnisse Jesu, Göttingen 1986, S. 15ff. 35 Vgl. L. J. Topel, S.J., On the Injustice of the Unjust Stewart, Lk 16,1-13, in: CBQ 37/ 1975, S. 216-227, der sich auf die Arbeit von Fr. Maass, Das Gleichnis vom ungerechten Haushalter, Luk. 16,1-8, in: Theologia Viatorum 8, Jahrbuch der Kirchlichen Hochschule Berlin 1961, S. 173-184 bezieht.

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Wenn Gott der vergebende Vater ist - wie im Gleichnis von den beiden Vatersöhnen - dann sind alle Menschen durch ihre Ungerechtigkeit und Sünde ihm verschuldet. Nur er kann ihnen vergeben, aber die Jünger Jesu erhalten Vollmacht zur Vergebung, zum Schulderlaß. Nach Mt 18,18, also gerade im Zusammenhang mit der vorhin behandelten Geschichte vom „bösen Knecht", heißt es: „Was ihr auf Erden binden werdet, soll auch im Himmel gebunden sein, und was ihr auf Erden lösen werdet, soll auch in Himmel gelöst sein". Demnach erhalten sie die Vollmacht, Schulden gegenüber dem Herrn in seinem Namen zu erlassen (vgl. auch Joh 20,23). Die Begründung ist diese: „ W i e mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch" (Joh 20,21). Wenn hier von einem Verwalter die Rede ist, der die Aufgabe bzw. das Amt hat, Sünden gegenüber dem Herrn zu vergeben, dann ist dieser zunächst ein solcher wie der heimgekehrte verlorene Sohn und der begnadete „Schalksknecht", dem sein Herr selbst seine große Schuld erlassen hat und der darum auch anderen „Schulden" erläßt, die letztlich alle Schulden gegenüber seinem Herren sind. Dann hat er mit diesem Tun, mit diesem „ A m t " einen bestimmten Teil der großen Schuld gegenüber seinem Herrn erlassen. Von den Pharisäern und Schriftgelehrten, den Zuschauern und Kritikern wird er beschuldigt, daß er damit ein so teures Gut seines Herrn wie sein Erbarmen „verschleudere", also „billige Gnade" gewähre. Darüber muß er Rechenschaft geben. Er muß sich die Frage stellen lassen, ob solches Tun legitim sei oder ob dies die „Amtsenthebung" zur Folge haben sollte. Ist der Jünger Jesu, der das Amt der Sündenvergebung mit dem Vorwurf der „Ungerechtigkeit" ( ά δ ι κ ί α ) auf sich nimmt, auf dem rechten W e g ? Er entscheidet sich, es weiter auszuüben, solange er es innehat, und seine Treue darin zu bewähren, ehe es von ihm wegen jener Untreue genommen wird, derer sich Jünger immer schuldig machen. Er ist ja ein Sünder und auf keinen Fall ein Gerechter vor seinem Herrn, also nicht würdig, dieses A m t zu führen, das jederzeit Strafe und Amtsenthebung auch in den eigenen Augen nach sich ziehen kann. Er tut also wahrscheinlich nichts anderes, als was er vorher getan hat: er entläßt den Schuldigern seines Herrn Schulden, er tilgt „den Schuldbrief, der mit seinen Forderungen gegen uns war" ( K o l 2,14), oder einen Teil derselben. Er ist schließlich Haushalter und im Amt, und sieht es auch betrügerisch aus, so hat er doch - noch - die Vollmacht dazu. Und indem er selbst Schulden erläßt, hofft er, daß ihm selbst vom Herrn vergeben wird: „Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben haben unseren Schuldigern" (die Übersetzung nach dem Urtext entspricht dieser Reihenfolge). Die Parallele zu Mt 18,21-35 ist deutlich. Dort handelt es sich um einen Knecht des Herrn, dem vergeben wird und von dem erwartet wird, daß er

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daraufhin seinen Mitknechten auch vergibt. Hier handelt es sich um einen Verwalter des Herrn, der - umgekehrt - den Schuldnern seines Herrn vergibt - als bevollmächtigter Haushalter - , damit auch ihm vergeben werde. Dort geht es um das „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist" (Lk 6,36), hier um das „Vergebt, so wird euch vergeben" (Lk 6,37). Knechte und Verwalter sind beide die untergebenen „Partner" des Herrn, ein Bild für das Verhältnis zwischen Gott und den Menschen, dem Herrn Jesus Christus und seinen Jüngern. Sie haben beide anvertrautes Gut, mit dem sie „wuchern", handeln sollen (Lk 19,11-27), für das sie verantworten, über das sie Rechenschaft ablegen müssen. Der Knecht, der dem Herrn gegenüber total verschuldet ist - die Totalität der Sünde des Menschen wird hier deutlich - wird zur Rechenschaft vor dem Herrn gefordert und ihm auf seine Bitte hin die große Schuld vergeben. Aber er ist nicht bereit, seinem Mitknecht zu vergeben und wird zum zweitenmal vor den Herrn gefordert und nun verdammt. Der Verwalter, der Rechenschaft ablegen muß, weil er angeklagt ist, das Gut des Herrn verschleudert zu haben, erläßt seinen Mitarbeitern („Mitgenossen") ihre Schuld und wird in einem zweiten, endgültigen Verfahren von seinem Herrn gelobt. Wir können demnach folgern: Angesichts der letzten Rechenschaftsforderung am Ende steht über dem Menschen - zeit seines Lebens - die (Selbst-)Anklage und die Anklage der Mitmenschen: „Du hast unrecht gehandelt, du hast dein Amt als Haushalter Gottes, dem dein Leben wie ein Pfund anvertraut war, verspielt". Aber der Richter ist gleichzeitig der Vater und der Fürsprecher in Jesus, der dem Angeklagten eine Chance gibt: „Vergib, so wird dir auch vergeben." Der der Ungerechtigkeit bezichtigte Verwalter ergreift diese Chance. Er „weiß" doch, was er dem Herrn schuldig ist und was daraus als Konsequenz in seinem Verhalten gegenüber dem Nächsten folgen muß: Er gibt die Vergebung weiter und schafft „Versöhnung" mit den Mitgenossen, „damit sie ihn aufnehmen in ihre Häuser". Dies ist ein Bild des Friedens und der Versöhnung. Er wird am Schluß gelobt, weil er „klug" gehandelt hat. Das Wort, das hier im Urtext steht (φρονίμως) sagt aus, daß der Haushalter „um die auf ihn zukommende Zukunft weiß und 36 · sich davon bestimmen läßt". Diese einzige Chance, die der sündige Mensch angesichts seiner Verdammung hat, ist, den Weg zu gehen, den Jesus gewiesen hat, aus der geschenkten Versöhnung, der gegebenen Annahme des Sünders - durch die Einsetzung in das Verwalteramt und in die Haushalterschaft Christi - immer die richtigen Konsequenzen zu ziehen: sich mit dem anderen zu versöhnen, die empfangene Liebe weiterzugeben, ein Leben in der Barmherzigkeit und Versöhnlichkeit gegenüber dem Bru-

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E. Schweizer, Das Evangelium nach Lukas (NTD, Bd 3), Göttingen 1982, S. 168.

der zu führen. Sonst ist er verloren, wie der Knecht im anderen Gleichnis, der die Chance verpaßt hat und verdammt wird. 37 Beide Gleichnisse sind Illustrationen der fünften Bitte des Vaterunsers: „Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern". Beim Schalksknecht ist diese Bitte so verstanden: Nachdem Gott vergibt, vergeben auch wir unseren Schuldigern. Nur dann, wenn wir es tun, dürfen wir uns seine Vergebung erbitten. Beim Haushalter ist es umgekehrt: damit Gott vergibt, vergeben wir unseren Schuldigern. Der Unterschied führt zu der Frage, ob Versöhnung untereinander Bedingung oder Frucht der Versöhnung Gottes ist. Die abendländische Praxis der Kirche, die die Versöhnung und das Bekenntnis in der Beichte der Absolution und dem Abendmahl voranstellt, hat die Versöhnung weithin als Bedingung verstanden, wie das in diesem Gleichnis veranschaulicht wird.

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Die erste Anregung zu dieser Auslegung verdanke ich H. Binder. Dieser nimmt die Sünder an, Klausenburg 1949 (Typoskript), der den Haushalter allerdings anders deutet. Vgl. H. Binder, Mißdeutbar oder eindeutig? - Gedanken zu einem Gleichnis Jesu, in: ThZ, Jg. 51/1995, S. 41-49.

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3. Drei Aspekte des Versöhnungshandelns in der Bibel

In den bisher besprochenen drei Beispielen aus dem Alten Testament und den drei Beispielen aus dem Neuen Testament kommt der Begriff „Versöhnung" gar nicht vor, sondern das Versöhnungsgeschehen ist faktisch oder bildlich beschrieben. Wendet man sich nun dem Versöhnungshandeln in der Bibel unter den drei Aspekten zu, die für das Alte Testament und für das Neue Testament wesentlich sind, so gilt: Es gibt in der Heiligen Schrift: a) einen rechtlichen Aspekt, wo Versöhnung unter dem Gesichtspunkt des zwischenmenschlichen Ausgleichs, b) einen kultischen Aspekt, wo Versöhnung unter dem Gesichtspunkt der „Sühne" und c) einen christo-logischen Aspekt, wo Versöhnung unter dem Gesichtspunkt der durch Christus geschehenen Versöhnung gesehen wird. Wir sprechen von „Aspekten", um zum Ausdruck zu bringen, daß alle diese Elemente zusammengehören und mitunter zusammen vorkommen, aber jeweils eines dieser Elemente im Vordergrund steht. Es ist andererseits hilfreich, diese drei Aspekte zu unterscheiden und sich der verschiedenen Betrachtungsweisen bewußt zu sein, wenn man von „Versöhnung" spricht.

a) Der rechtliche Aspekt: Versöhnung als zwischenmenschlicher

Ausgleich

Im Alten Testament gibt es die Rechtsvorstellung des gütlichen Ausgleichs zwischen Menschen durch die Bezahlung eines „Preises" anstelle der Ver38

geltung oder Rache für begangenes Unrecht. Dieser Preis heißt hier "ID3 und ersetzt - wenn der gütliche Ausgleich zustandekommt - die Todesstrafe. Ex 21,28f sieht den Fall vor, daß ein bösartiger Stier einen Mann oder eine Frau so stößt, daß er oder sie daran stirbt. Wenn der Besitzer von der Bösartigkeit des Stiers wußte und nicht Vorkehrungen getroffen hat, damit der Stier unschädlich wird, so ist er dafür verantwortlich. Es wird ihm als „fahrlässige Tötung" angerechnet und mit dem Tod bestraft. Doch wird hinzugefügt: „Will man aber ihm (dem Besitzer) ein Lösegeld ("133) auferlegen, so soll er geben, was man ihm auferlegt, um sein Leben auszulösen (freizukaufen)" (Ex 21,30). In diesem Fall muß man nicht - kann aber - die 38

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Vgl. zum Folgenden: A. Schenker, Versöhnung und Sühne, a.a.O., S. 55-79.

Todesstrafe in eine „Buße" umwandeln. Anders bei einem richtigen Mord; für diesen Fall gilt: „Ihr sollt kein Sühnegeld ("IS 3) nehmen für das Leben des Mörders; denn er ist des Todes schuldig und soll des Todes sterben" (Num 35,31). Die Einrichtung des Vergleichs gilt im alten Israel demnach für den Fall, daß beide Parteien an einem solchen interessiert sind: der dem Tod verfallene Schuldige, damit er der Todesstrafe entgeht, und der Geschädigte oder die geschädigte Familie - oder Angehörige des Getöteten - , damit sie die geringere Verantwortlichkeit einer Fahrlässigkeit sehen und auf Vergeltung mit Gewalt und daraus entstehender tödlichen Feindschaft zweier Familien verzichten. Der Preis dieses gütlichen Austausche heißt "IS3 (Luther übersetzt „Lösegeld" und wieder auch „Sühnegeld"). Es geht dabei um den Verzicht auf das Recht der Rache - bis zu den äußersten Möglichkeiten - , das damit grundsätzlich nicht angetastet ist. Dieses bleibt als Recht bestehen, doch so, daß man von ihm im Sinne der ausgleichenden Gerechtigkeit (des „ius talionis": „Auge um Auge, Zahn um Zahn") zurückstehen kann. Die Rache wird nicht aufgehoben, sondern die durch die Vergeltung gerechtfertigter Strafe in eine andere „Leistung" umgewandelt. ~IB3-Gelder sind auch Zahlungen, die geleistet werden, um einen Gerichtsprozeß überhaupt zu vermeiden. Wir nennen sie heute auch „Schmerzensgelder" oder „Kassationszahlungen", die reichen Menschen allerdings die Möglichkeit geben, leicht über eine Strafe hinwegzukommen. Darum wurde sie von den Propheten kritisiert (Am 5,12b: „Wie ihr die Gerechten bedrängt und Bestechungsgeld nehmt und die Armen im Tor unterdrückt". Das „Bestechungsgeld" ist hier der ~IS3-Preis). Man kann sich demnach mit seinem Geld „arrangieren", ein „Gentlemen' s-agreement" treffen. Die ~IB3-Zahlung ist allerdings freiwillig. Es gibt auch Fälle, in denen kaum mit einem T S 3 zu rechnen ist, wie in dem Falle der Besänftigung eines betrogenen Ehemannes von dem Mann, der seine Frau verführt hat (Spr 6,34ff: „Denn Eifersucht erweckt den Grimm des Mannes, und er schont nicht am Tage der Vergeltung und achtet kein Sühnegeld und nimmt nichts an, wenn du auch viel schenken wolltest"). Die ~IS3-Zahlung erwirkt die Herabsetzung der Strafe, eine gewisse „Bußzahlung" für den Schuldigen, der lieber diese Summe bezahlt als das Vollmaß der Strafe zu erleiden. Damit im Zusammenhang ist für uns wichtig zu beachten, daß der Begriff schon im Alten Testament auch im Zusammenhang mit der Schuld an Gott verwendet wird, zum Beispiel Jes 43,Iff. Im Anschluß an das „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen: ,Du bist mein'", heißt es im übernächsten Vers: „Ich habe Ägypten für dich als Lösegeld ("133) gegeben, Kusch und

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Seba an deiner Statt, weil du in meinen Augen so wert geachtet und auch herrlich bist und weil ich dich lieb habe" (Jes 43,3). Israel wird hier im Bild des Schuldigen in einem Konflikt gesehen, der die Todesstrafe riskiert. Jahwe ist bereit, den Preis, die „Vergleichssumme" für Israel aufzubringen, um anstelle der Todesstrafe die Strafumwandlung - oder den Freispruch - zu erkaufen. Denn das Volk selbst kann diese Zahlung nicht aufbringen; es ist ein hoher Preis erforderlich: mächtige, große Völker, im äußersten Fall die ganze restliche Menschheit als 1 3 3 zu zahlen, nur um das Zugrundegehen seines Volks Israels zu verhindern. Das zum Hauptwort ~I33 gehörige Zeitwort "133 hat einen entsprechenden Sinn: eine aufgebrachte Person begütigen, Strafe erleichtern oder vergeben. Es geht dabei zunächst um den Fall, wo gütlicher Vergleich unter Menschen Gewaltanwendung vermeidet oder ersetzt. Eines der eindrücklichsten Beispiele des Alten Testaments ist die Geschichte vom Bruderzwist zwischen Jakob und Esaù. Gemeint ist jene Szene, wo Jakob, der seinen Bruder um das Erstgeburtsrecht betrogen hat, nach vielen Jahren Esaù wiederbegegnen soll, dessen Rache und Strafe er fürchtet. Esau war zum Todfeind Jakobs geworden, weil ihr Vater - durch einen Betrug des Bruders - diesem seinen Segen gegeben hatte. Über Jakob stand die Schuld, die er sich aufgeladen hatte, und die Furcht vor Esaù, der sich gesagt hatte: „Es wird die Zeit bald kommen, daß man um meinen Vater Leid tragen muß; dann will ich meinen Bruder Jakob umbringen" (Gen 27,41). Nachdem Jakob bei seinem Verwandten Laban, zu dem er nach dem Betrug geflohen war, reich geworden war und den Segen Gottes also tatsächlich reichlich verspürt hatte, geriet er mit diesem in Streit und so konnte er auch dort nicht mehr bleiben. Er mußte also die Versöhnung mit Jakob suchen, weil er keinen anderen Ausweg mehr hatte. Die Geschichte erzählt eindrücklich, wie Jakob die Wiederbegegnung vorbereitet: Er schickt dem Bruder eine Botschaft mit dem Angebot eines Preises für die Wiedergutmachung in Form einer reichen materiellen Entschädigung zu. Es ist sehr wichtig, wie dieses Angebot gemacht wird, damit es für Esaù unwiderstehlich ist. So sagt er sich: „Ich will ihn versöhnen mit dem Geschenk, das vor mir hergeht. Danach will ich ihn sehen; vielleicht wird er mich annehmen" (Gen 32,21). Wörtlich heißt dieser Satz: „Ich will sein Angesicht mit dem Geschenk, das mir vorausgeht, begütigen". Dieses Wort „das Gesicht begütigen" das Luther mit „versöhnen" übersetzt, entspricht sprachlich als Tätigkeitswort dem Hauptwort 1 3 3 . Jakobs Geschenke sind eine Zahlung, um Esaus Rache zuvorzukommen, um mit ihm auf dem Wege einer gütlichen Übereinkunft zu einer Versöhnung zu gelangen. Die Übergabe und Übernahme der Geschenke, an der Jakob so viel gelegen ist, besiegeln die geschehene Versöhnung. Sie ist erst vollendet, wenn Esaù

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Jakobs Geschenke annimmt, weil er dadurch anerkennt, daß er auf sein Recht der Rache und Strafe verzichtet, daß er sich mit dem angebotenen Preis für eine Regelung im Guten einverstanden erklärt. Dieser Vergleich setzt bei jeder Versöhnung eine Bewegung von Seiten des geschädigten Teils voraus, der zur Mäßigung oder zum Verzicht auf das Vollmaß der Vergeltung bereit sein muß. Er setzt ebenso eine Bewegung von Seiten des schuldigen Teils voraus, der zur Bezahlung einer Wiedergutmachung und Abfindungssumme bereit sein muß. Der Vergleich ist freiwillig: der geschädigte Teil muß ihn nicht annehmen und der schuldige Teil kann ihn nicht als Recht fordern. Ein weiteres Beispiel für die Art des Ausgleichs durch eine Kofär-Zahlung ist die Geschichte von Davids Vorgehen beim Einbruch einer dreijährigen Hungersnot. Jahwe sagt ihm, es liege an Saul und seinem blutbefleckten Haus, weil er die Gibeoniter töten ließ (2. Sam 21,1). Nun versucht es David mit einem Vergleich; das Verbrechen ist geschehen und kann nicht rückgängig gemacht werden. Doch ist er bereit, den Gibeonitern anzutragen, einverstanden zu sein, daß Israel als schuldiger Teil eine geringere Strafe tragen dürfe. Das hieße, statt der Todesstrafe eine noch zu bestimmende Ersatzsumme im Sinne von Ex 7,21,30 zu zahlen. Nachdem es für Mörder aber keine ISS-Zahlung gibt, weisen die Gibeoniter einen Vergleich zwischen ihnen und den Israeliten durch Zahlung einer Geldsumme zurück. Sie verlangen, daß der König die Bewohner von Gibeon ermächtige, daß sieben männliche Nachkommen Sauls preiszugeben. David willigt ein. Als dies geschah, weil David die Berechtigung der Forderung wegen Israels Schuld durch Saul eingesehen hatte, wird das Unheil aufgehoben; die Hungersnot hört auf. Hier war die Möglichkeit des Vergleichs im vorher dargestellten Sinne durch Zahlung eines 1S3-Preises nicht gegeben. Der Ausweg bestand in der Eindämmung einer das ganze Volk betreffenden Strafe durch die Ahndung an nur (!) sieben Männern. David nennt dieses Mittel „Sühne" 2. Sam 21,3: „Da sprach Samuel zu den Gibeonitern: Was soll ich für euch tun? Und womit soll ich Sühne schaffen, daß ihr das Erbteil des Herrn segnet?" Der „Ausgleich" wurde "ID3 genannt und später mit „Sühne-(Preis)" übersetzt. Die ursprüngliche Bedeutung von Sühne im Alten Testament ist also der gütliche Vergleich, der der harten Strafe oder verheerenden Blutrache zuvorkommen soll. Wir können es „Sühne unter den Menschen" nennen. Denn der Begriff der „Sühne" verändert sich erst später zu einem kultischen Begriff. In dieser Phase hängt er aber noch eng mit „Aussöhnung", „Versöhnung" zusammen. Sühne geht also auf Versöhnung zurück. Die Bedeutung des Vergleichs, der „Sühne" in diesem Sinn, ist ungeheuerlich groß: Sie war das hauptsächlich-

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ste Mittel der Gewaltvermeidung. Freilich gibt es auch eine Möglichkeit des Mißbrauchs: Verbrecher können im voraus auf den Ausgleich setzen, mit ihm rechnen; er kann ein Freipaß für das Unrecht werden. Daher durfte man bei direkt verursachter Tötung keinen Vergleich durchführen oder ~IS3-Preis annehmen. „Sühnung" unter den Menschen als Verzicht auf das Vollmaß von Strafe und Rache ist Ausdruck einer versöhnlichen, großmütigen, auf Gewalt verzichtenden Gesinnung. Es ist bemerkenswert, daß diese Gesinnung schon im Alten Testament auch Gott zugedacht wurde, der an sich als ein Gott der totalen Gerechtigkeit und der ausgleichenden Vergeltung galt. Aber die Frage hatte sich wohl bald ergeben: sollte man nicht auch ihm einen Vergleich anbieten können oder ihn bitten, eine Leistung guten Willens, der Wiedergutmachung mit Wohlwollen zu begegnen. Seiner Freihheit tat man damit keinen Abbruch, denn er konnte das Angebot annehmen oder ablehnen. Auch bei ihm hatte man keinerlei Rechtsanspruch. Man sollte ihn aber darum bitten dürfen. In der weiteren Entwicklung des „Sühne"-Begriffs und der „Versöhnlichkeit" kommen demnach diese Aspekte hinzu und spielen schließlich eine entscheidende Rolle. Sühne wird ein kultischer Begriff, der mit Versöhnung nicht verwechselt werden will. Man weist dabei auch auf die beiden unterschiedlichen Wurzeln der dafür stehenden Wörter hin, schon im Deutschen, aber vor allem im Hebräischen und im Griechischen. Die Frage der Weiterentwicklung dieser Problematik und der damit zusammenhängenden Vorstellungen und Begriffe, bis hin in die Dogmatik der christlichen Kirche, soll im Folgenden erörtert werden.

b) Der kultische Aspekt: Versöhnung als

Sühnehandlung

Im Kultus der Versöhnung wird der rechtliche, sozusagen der profane Brauch des Vergleiches zwischen Menschen aufgenommen und auf das 39

Verhältnis zwischen Gott und Mensch übertragen. Man geht dabei von der Vorstellung aus, Sünde gegen Gott (vgl. Ps 51,6: „An dir allein habe ich gesündigt und Übel vor dir getan") bedeute, daß Gott der verletzte bzw. geschädigte Teil in einem Konflikt oder bei einer Verschuldung ist, der Zorn äußert, Rache folgen läßt oder eine „Ersatzleistung" fordert, die dem schuldigen oder betroffenen Teil die schwereren Folgen einer Strafe erspart. Diese „Ersatzleistung" oder „Buße" bzw. das „Geschenk" (wie bei Jakob) erfolgt hier durch die Darbringung eines Opfers. Gott ist frei, dem 39

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Vgl. zum Folgenden: A. Schenker, Versöhnung und Sühne, a.a.O., S. 83-95.

Vergleich zuzustimmen oder nicht bzw. das Opfer anzunehmen oder nicht (wie bei Kain und Abel). Geschieht es, so ist es Ausdruck seiner Versöhnlichkeit und seiner Gesinnung der Erbarmung und des Verzeihens. In Israel gab es aber die Vorstellung nicht, daß man sich den zornigen Gott durch eine Art „Bestechungsgeld" günstig stimmen könnte, sondern eher die, daß Gott den Menschen die Möglichkeit anbietet, sich durch die Darbringung einer Gabe mit ihm zu versöhnen. Die Initiative lag eindeutig bei Gott. Dies ist das Wesen des alttestamentlichen Kultes. Denn der Kultus ist nicht menschliche Erfindung sondern göttliche Stiftung. Die versöhnende Wirkung des Opfers ist von Gott gewollt und angeboten und kann vom Menschen angenommen werden. Doch muß sie - wie wir gesehen haben den Menschen etwas kosten. Aber nicht weil Gott „Satisfaktion" oder gar Rache oder Strafe fordert, sondern weil die Versöhnung nur ihren Sinn erreicht, wenn damit ein Erziehungs-, Läuterungs- und Wandlungsprozeß des Menschen verbunden ist. Darum bedarf es des Opfers auf seiten des Menschen. Diese Ersatzleistung heißt im Alten Testament „Sühne". Die Sühnung zwischen Gott und Mensch ist ein Vergleich zugunsten des Straffälligen, vom beschädigten oder verletzten Gott angeboten. Sie geschieht in kultischen Formen. Im zwischenmenschlichen Bereich heißt dieser Ersatz für die Strafe der -)S3-Preis, im kultischen Bereich „Geschenk, Opfergabe". Damit wird deutlich, daß es einen Unterschied zwischen beiden Bereichen gibt: im zwischenmenschlichen Bereich ist es ein aus einer Zwangslage auferlegter Vergleich, hier ist es ein Angebot Gottes, durch die Darbringung einer Gabe, um die Ersetzung oder Vermeidung der Strafe zu erlangen. Sühnung bedeutet unter Umständen soviel wie Vergebung, dann nämlich, wenn das Strafmaß auf (fast) nichts herabgesetzt wird. Das geschieht bei der Berufung des Jesaja (6,5-7). Dort sagt der Herr: „Siehe, hiermit sind deine Lippen berührt, daß deine Schuld von dir genommen werde und deine Sünde gesühnt sei". Anstelle der verdienten Vernichtung (V.5: „Wehe mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen; denn ich habe den König, den Herrn Zebaoth, gesehen mit meinen Augen.") gewährt Gott dem Propheten die Errettung durch eine Läuterung aus der Hand eines Seraphim. Diese Läuterung oder Reinigung heißt Sühne. Die Ersetzung der Todesstrafe durch eine Feuerreinigung mit den Glutkohlen des Altars ist eine von Gott gewährte Strafumwandlung und dadurch Vergebung und Aussöhnung mit Gott. Das ist die Sühne, wodurch Gott den Propheten beruft und instande setzt, in seiner Gegenwart zu sein und gleichsam an der „göttlichen Audienz" im Himmel teilzunehmen.

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Auch in den Psalmen bedeutet „Sühnen" soviel wie „Vergeben", wenn das hebräische Verbum dafür verwendet wird. (Ps 65,4: „Unsere Missetat drückt uns hart; du wollest unsere Sünde vergeben"; Ps 79,9b: „Errette uns und vergib uns (~IS3) unsere Sünden um deines Namens willen"; Ps 78,38: „Gott aber war barmherzig und vergab die Schuld und vertilgte sie - die „Väter" - nicht"). Sühne bedeutet hier den Verzicht auf Strafe und Gottes Mäßigkeit und Versöhnlichkeit. Bei dem „späteren Jesaja", in der sogenannten Jesaja-Apokalypse (3. Jh. v.Chr.) ist Sühne Vergebung, doch mit einer „Auflage" verbunden: „Darum wird die Sünde Jakobs dadurch gesühnt werden und das wird die Frucht davon sein, daß seine Sünden weggenommen werden: Er wird alle Altarsteine zerstoßenen Kalksteinen gleichmachen und kein Bild der Aschera noch Rauchopfersäulen werden mehr bleiben". Abgesehen von einer solchen „Auflage" (Zerstörung der heidnischen Altäre und Kultussymbole) ist das „Opfer" - das im zwischenmemnschlichen Bereich der Bezahlung eines Preises entspricht - nie mit einer „Gegenleistung" verbunden, sondern bedeutet völlige Vergebung. Sühnung ist ein Mittel, Todesurteile und andere schwere Strafen durch mildere zu ersetzen, nicht um andere - etwa Unschuldige, stellvertretend - zu bestrafen, sondern um Gewaltanwendung überhaupt zu vermeiden. Sühnung kann eine Ersatzleistung verlangen, aber diese braucht nicht im Blutvergießen zu bestehen. Darum kann im Alten Testament auch die „Fürbitte" zugunsten eines Schuldigen „Sühnung" heißen. Die Fürbitte erfolgt durch eine dritte Person, die als Vermittler auftritt, wenn zwei Parteien sich in einem Konflikt befinden. Ein von Amts wegen eingesetzter Vermittler heißt „Schiedsrichter". Ist er mit keiner Vollmacht ausgerüstet, sondern eine neutrale dritte Person, so ist es ein Fürsprecher. Dieser bietet - privat - seine Dienste an, um Versöhnung zustande zu bringen und in einer Konfliktsituation eine mildere, Gewalt vermeidende Lösung zu erreichen. Auch diese Art der Versöhnung wird im Alten Testament „Sühnung" genannt, wenn sie auf die Aussöhnung zwischen Gott und Menschen angewendet wird. So ist die Fürsprache des Moses zu verstehen, die in Ex 32,30 „Sühnung" genannt wird: „Ihr habt eine große Sünde getan; nun will ich hinaufsteigen zu dem Herren, ob ich vielleicht Vergebung erwirken kann für eure Sünden". Für diese „Sühnung" wirft Moses sein eigenes Leben in die Waagschale (Ex 32,32: „Vergib ihnen doch ihre Sünde; wenn nicht, dann tilge mich aus deinem Buch, das du geschrieben hast"). Aber Gott will das nicht (Ex 32, 34: „So geh nun hin und führe das Volk wohin ich dir gesagt habe. Siehe, mein Engel soll vor dir hingehen. Ich werde aber ihre Sünde heimsuchen, wenn meine Zeit kommt"). Sühnung verlangt keine Lebenshingabe, sondern will - umgekehrt - Zerstörung von Leben vermeiden. Sühne geschieht

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durch die Bewahrung, nicht durch die Tötung des Moses. Gott will keinen Sündenbock, an dem unverdiente Strafe - stellvertretend - vollzogen wird, sondern er verzichtet auf gerechtfertigte Strafe. Ein anderes Beispiel ist der Priester Pinhas. Durch seinen Eifer („Eifersucht"), mit der er für seine Volksgenossen eingetreten ist, hat er für sie „Sühnung" erwirkt (Num 25,13: „Weil er für seinen Gott geeifert hat und für die Israeliten Sühne geschaffen [ i s a 1 ] " ) . Als einziger Israelit war er dem Abfall Israels von der ausschließlichen Verehrung Jahwes entgegengetreten. Um dieses Einzigen willen hat Gott vergeben; er hat diesen „Eifer" als Sühnung angenommen. Diese Sühnung ist also nicht Abwälzung von Strafe auf einen Dritten, Unschuldigen. Es ist vielmehr Straferlaß für Schuldige aus Rücksicht auf einen Gerechten, der diesen Schuldigen als Volksgenossen angehört. Gott ist es in seiner Versöhnung lieber, einen Gerechten mitsamt allen zu ihm gehörigen Menschen zu bewahren, selbst wenn diese schuldig sind, als die Schuldigen alle zur Verantwortung zu ziehen und sie zu bestrafen. Belohnte Gerechtigkeit ist mehr wert als bestraftes Unrecht. Die Sühnung ist das Gegenteil der Geiselnahme: diese behaftet unschuldige Familienangehörige für die Schuld eines der ihren; jene befreit schuldige Angehörige von verdienter Strafe wegen der Unschuld eines der ihren. Das Wesen der Sühne kommt am deutlichsten und umfassendsten im Kultus des Versöhnungstages ("ITS3 Di'1) zum Ausdruck. Der Versöhnungstag ist heute eine der großen Festlichkeiten des Judentums. Er hat allerdings erst in nachexilischer Zeit diese Bedeutung erlangt, ist also eines der in den letzten vorchristlichen Jahrhunderten entstandenen späteren Feste des Alten Testaments. 40 Schon zu Beginn unserer Zeitrechnung hatte der t r i s a n DV, der „Tag der Versöhnungen" eine solche Bedeutung, daß er „der Tag" unter den Tagen hieß. Diesen Namen trägt auch der Traktat „Joma", den ihm die Mischna widmet. 41 Der Versöhnungstag wird bis heute am 10. Tischri (September/Oktober) gefeiert, nach Lev 23,27-32 und Num 29,7-11 (Jüngere Priestertexte) am zehnten des siebenten Monats. Das Ritual ist in Lev 16 angegeben; auch hier handelt es sich um einen späteren Text. Für uns ist wichtig festzustellen, daß „Sühne" hier zu einem Ritual geworden ist. Allerdings ist es die Krönung eines „Sühnekultes" (Opfer, Riten usw.), der auch sonst im ganzen Jahr und schon früher in Israel praktiziert

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A. Schenker, Versöhnung und Sühne, a.a.O., S. 112. Siehe: Fr. Avemarie, Yoma-Versöhnungstag, Übersetzung des Talmud Yerushalmi, hg. von H.-J. Becker, M. Hengel, F.G. Hüttenmeister und P. Schäfer, Bd. II/4, Tübingen 1995, passim. 41

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wurde. Das besondere des Versöhnungstages, der immer im Tempel gefeiert wurde und nur einmal im Jahr stattfand, ist, daß nur an diesem einzigen Tag sich der sonst zugezogene Vorhang des Altarsheiligsten öffnete, um dem Hohepriester - und nur ihm - dreimal Durchlaß zu gewähren. An diesem Tag versöhnte Gott alljährlich am Jahresanfang das ganze Volk.42 Dadurch wurde in jedem neuen Jahr die Gemeinschaft zwischen Gott und seinem Volk neu besiegelt und verbürgt. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu beobachten, daß die Versöhnung Gottes mit seinem Volk (und dem Hohepriester) durch eine Sühnehandlung geschieht, beide also eng zusammengehören. Die Sühnehandlung wie sie Lev 16 beschrieben wird, besteht aus mehreren Teilen. Anzunehmen ist, daß Bräuche und Riten aus unterschiedlichen Zeiten hier zusammengeflossen sind. Der Versöhnungstag ist ein Tag voller Arbeitsruhe, der Buße und des Fastens. Es gibt zwei ursprünglich verschiedene Zeremonien. Zunächst ist hier das levitische Ritual zu nennen: der Hohepriester bringt einen Stier als Opfer „für seine Sünden und die seines Hauses". Er beräuchert die „Versöhnungsplatte" (ΓΠ3?; Sühnungsmahl; Luther nennt es Gnadenthron, V.13) und besprengt sie mit dem Blut des Stiers. Dann opfert er einen Bock für die Sünden des Volkes, trägt dessen Blut hinter den Vorhang, wo er die Versöhnungsplatte besprengt, so wie er es mit dem Blut des Stiers getan hat (V.15). Diese Sühne für die Sünden der Priesterschaft und des Volkes ist mit einer Sühne für das Heiligtum, besonders für den Altar verbunden, der mit dem Blut des Stiers und des Bockes eingerieben und besprengt wird (V. 16-19). Während der Hohepriester in völliger Einsamkeit dreimal den Raum des Allerheiligsten betritt, beteiligt sich das Volk an der Handlung durch Fasten und Arbeitsruhe, „denn an diesem Tag geschieht eure Entsühnung ("ISD"1), daß ihr gereinigt werdet; von allen euren Sünden werdet ihr gereinigt vor dem Herrn" (V.30). Mit diesem Verzicht bekennt sich jeder einzelne zu seiner Schuld. Diese Bußgesten sind Zeichen des öffentlichen Eingeständnisses von Schuld und insofern „Opfer", die das Entgegenkommen des versöhnenden Gottes erwartet. Es gibt keine automatische Sündenreinigung: Gott schenkt zwar die Vergebung, aber er wartet auf Zeichen der Annahmebereitschaft durch Reue und Buße. Nur im Zusammentreffen dieser beiden Bewegungen erfolgt die Versöhnung zwischen Gott und Mensch. Der andere Ritus, der Analogien im Neuen Testament hat, ist als „Sündenbock"-Vorstellung bekannt. Die Gemeinde opfert zwei Böcke, über die das Los geworfen wird, einen für Jahwe, einen für „Asasel". Der Bock für 42

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A. Schenker, Versöhnung und Sühne, a.a.O., S. 111.

Jahwe ist das Opfer für die Sünden des Volkes (das „Sündopfertier"). Der Bock für „Asasel" wird in die „Wüste" geschickt. Zunächst wird er „vor Jahwe" gestellt: der Hohepriester legt die Hand auf den Kopf des Bockes und belegt ihn mit allen freiwilligen und unfreiwilligen Vergehen der Israeliten. Ein Mann führt dann den Bock in die Wüste, der damit die Sünde des Volkes mit sich fortträgt. Der Mann darf in die Gemeinde erst zurückkehren, wenn er seine Kleider gewaschen und sich gebadet hat. Damit wird die von Jahwe geschenkte Vergebung eindrücklich vor Augen geführt: die Schuld des Volkes wird abgeladen, aufgehoben, weggeschafft. Es ist nicht die Strafe gemeint, die der Bock „stellvertretend" trägt. Vielmehr ist seine Aufgabe, allein die Last der Schuld wegzubringen; er selbst hat keine Strafe zu tragen, er wurde ja nicht getötet. Er muß also nichts abbüßen, sondern nur die Schuld des Volkes in unerreichbare Ferne, „aus der Welt" schaffen. Dieser Ritus ist demnach keine Opferhandlung, er ist auch nicht stellvertretende Bestrafung, sondern eindringliches Ritual für die Vergebung und Vernichtung der Schuld. Die Stellvertretung wird beim Versöhnungstag allerdings an der Tatsache deutlich, daß der Hohepriester im Namen des Volkes handelt. Einer vollzieht die Versöhnungshandlung, alle werden der Versöhnung Gottes teilhaftig. 43 Seit der Zerstörung des Tempels wird am Versöhnungstag kein Opfer mehr vollzogen. Seinen Charakter als Versöhnungsfest hat dieser Tag jedoch behalten. Noch heute fällt die Gemeinde bei der Verlesung der Vorgänge der Entsühnung (Lev 16), während des einstigen Tempeldienstes der Aboda, dreimal in der Synagoge nieder.44 Für unsere Frage der zwischenmenschlichen Versöhnung ist wichtig festzustellen, wie sich die Gemeinde auf den Versöhnungstag vorbereitet. Die ganze Woche des Neujahrs (Π3ΦΠ tSK~l) steht im Zeichen der Vorbereitungen auf den großen Tag der Versöhnung. Dazu gehört nicht nur das halbtägige - Fasten und die Morgenandacht mit den Bußgebeten (ΠίΓΡ'ρΟ), die früher als sonst beginnt, sondern vor allem die Versöhnung mit den Menschen. Denn Versöhnung mit Gott schließt die Versöhnung mit dem Nächsten ein. Viele Juden sind in diesen Tagen besonders bemüht, vergangenes Unrecht wiedergutzumachen, sich mit denen, die von ihnen gekränkt, beleidigt oder übervorteilt wurden, auszusöhnen. Die Vorbereitung auf das Fest erlangt ihren Höhepunkt am Vortag des Versöhnungstages, dem "IIS? • V 3Ί5?. An diesem Tag darf nicht gefastet werden, damit die Kraft für das ganztägige Fasten am folgenden Tag 43

A. Schenker, Versöhnung und Sühne, a.a.O., S. 113-116. Vgl. zum Ganzen: Fr. Avemarie, Yoma-Versöhnungstag, a.a.O., passim; J. Magonet (Hg.), Das jüdische Gebetbuch, Bd. II: Gebete für die hohen Feiertage, Gütersloh 1997. 44

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nicht fehlt. Viele gehen am Morgen dieses Tages auf den Friedhof, um ihrer Verstorbenen und der Endlichkeit ihres eigenen Lebens zu gedenken. Manche teilen bei dieser Gelegenheit Almosen aus. In den Ausführungen über die „Feier der Versöhnung" wird darauf zurückzukommen sein.

c) Der christologische Aspekt: Versöhnung als Handeln Christi an den Menschen Im Neuen Testament gibt es für „Versöhnung" sowohl einen „profanen" als auch einen „kultischen" Sprachgebrauch. Das heißt: Versöhnung wird im Griechischen mit zwei unterschiedlichen Begriffen wiedergegeben. Anders gesagt: Das deutsche Wort Versöhnung ist Übersetzung sowohl von κατ α λ λ α γ ή (lat.: reconciliatio) als auch von ίλασμός (lat.: expiatio). Ersteres bedeutet: Versöhnung verfeindeter Parteien durch gegenseitige Zuwendung oder Wiederherstellung eines guten Verhältnisses zwischen Feinden. Letzteres bedeutet: kultische Sühnung durch Opfer. 45 Das erste entspricht unserem bisher beschriebenen 1 3 3 , letzeres dem deutschen „Opfer", das im Hebräischen mit einer Reihe von anderen unterschiedlichen Begriffen wiedergegeben wird. Trennte die lateinische Übersetzung der Bibel in der Vulgata noch sorgsam zwischen der Bedeutung des Begriffes „reconciliare" und „placare" bzw. „expiare" (auch propitiare), so ging der Sinn für den unterschiedlichen Bedeutungsgehalt dieser Bezeichnungen bald verloren. 46

„Reconciliare"

wurde als bloßes Synonym für die anderen Begriffe „plácare" und „expiare" verwendet. Genauso ging es auch mit dem deutschen Wort „Versühnung" bzw. „Versöhnung", das ursprünglich den Sinn des paulinischen κατ α λ λ α γ ή unter Ausklammerung seiner expiatorischen Bedeutung meinte. Später verschwimmen in ihm die rekonziliatorischen und expiatorischen Bedeutungskomponenten. Diese Unbestimmtheit des Begriffs kennzeichnete auch den Sprachgebrauch der Reformatoren und der altprotestantischen Orthodoxie, sowohl in ihrem lateinischen als auch deutschen Sprachgebrauch: reconciliatio, satisfactio, redemptio, expiatio waren fast sinnidentisch. Auch später, bis in die Neuzeit hinein, ist der Begriff der Versöhnung nicht eindeutig der paulinischen κ α τ α λ λ α γ ή entlehnt worden. Er hat sich vielmehr im Zusammenhang der biblischen Vorstellung vom Op-

45

H.-G. Link, Art. „Versöhnung", in: T h B L N T , Bd. II, Wuppertal 31983, S.1302-1313.

46

M . Kahler, Das Wort „Versöhnung" im Sprachgebrauch der kirchlichen Lehre, in: ders.,

Zur Lehre von der Versöhnung, Gütersloh 1937, S. 1-38.

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ferwesen und auch anhand der mittelalterlichen Lehre von der Buße entwickelt.47 Diese Schwierigkeiten rühren auch daher, daß das deutsche Wort „Versöhnen" aus dem germanischen Rechtsdenken stammt und etymologisch mit „Sühnen" zusammenhängt, während im griechischen Sprachgebrauch auch im Neuen Testament - die Wörter „Sühnen" und „Versöhnen" die eben angezeigte unterschiedliche Wurzel haben. Die Entwicklung ist auch hier so vorzustellen, daß das Wort καταλλαγή, das aus dem profanen Bereich stammt und die positive Veränderung eines negativen Verhältnisses zwischen Menschen meinte, zum entscheidenden Begriff für das Versöhnungsgeschehen zwischen Gott und Mensch geworden ist.48 Das Stammwort heißt άλλάσσω = „verändern". Versöhnung ist also die Wiederherstellung eines gestörten Verhältnisses im Gegenüber zwischen Gott und Mensch, durch die die Faktoren beseitigt werden, die die Feindschaft hervorrufen. Dazu gehört auch die Einbeziehung des Sühnegedankens, sofern man davon ausgehen muß, daß - wie schon gezeigt oder noch zu zeigen ist - die neutestamentliche Vorstellung von Versöhnung vom Alten Testament her vorgegeben ist. Zum Alten Testament gehören die priesterlichen Erfahrungen und Erwartungen, die sich mit dem Vollzug des Opfer- und Sühnekultes im Tempel von Jerusalem verbanden. Das Alte Testament hat vor allem auch die Sprache geliefert, die die Rede von der Versöhnung ermöglichte.49 Es ist allerdings auffallend, daß καταλλαγή im Neuen Testament nur viermal (Rom 5,17; 11,15; 2. Kor 5,18.19) und das Verbum καταλλάσσειν nur fünfmal - alle Stellen bei Paulus - vorkommt (Rom 5,10 zweimal; 5, 10.20 und 1. Kor 7,11). Das damit zusammenhängende άποκαταλλάσσειν kommt zweimal im Kolosserbrief (1,20.22) und einmal im Epheserbrief (2, 16) vor.50 Für uns ist die Feststellung wichtig, daß dieser Begriff - wie die dazugehörigen Derivate - auch seine „zwischenmenschliche", „horizontale" Dimension beibehalten hat, obwohl durch seine Übernahme in die christliche Theologie der soteriologische Aspekt, also das Verhältnis zwischen Gott und Mensch, einseitig herausgestellt wurde. Das hängt mit einem Prozeß der Individualisierung des Heils- und Versöhnungsverständnisses und be47 G. Wenz, Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit, München 1984, Bd. I, S. 25f. 48 H.-G. Link, Art. „Versöhnung", in: ThBLNT Bd. II, a.a.O., S. 1302. 49 P. Stuhlmacher, Das Evangelium von der Versöhnung in Christus, in: P. Stuhlmacher/H. Claß, Das Evangelium von der Versöhnung in Christus (Calwer Paperback), Stuttgart 1979, S. 44. 50 H. Merkel, Art. „versöhnen", in: EWNT Bd. II, Sp. 645.

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stimmten äußeren Entwicklungen in der kirchlichen Institution zusammen. So hat die Tatsache, daß die altkirchliche öffentliche Buße durch die Privatbeichte ersetzt wurde, gewiß auch wesentlich zur Individualisierung des Sündenverständnisses und damit der Ausklammerung der horizontalen Dimension in der Versöhnung beigetragen.51 Doch uns interessiert hier gerade dieser zwischenmenschliche Aspekt der Versöhnung. So läßt sich am Begriff „Versöhnung" = καταλλαγή bzw. „versöhnen" = καταλλάσσειν zeigen, daß hier das Verhältnis des Menschen zu Gott, aber zugleich die Aussöhnung zwischen Mensch und Mensch gemeint ist. Letzteres geschieht explizit, allerdings nur an einer Stelle im Neuen Testament, nämlich 1. Kor 7,11, wo Paulus von der Versöhnimg zwischen Mann und Frau spricht. Doch die Derivate dieses Wortes weisen in die gleiche Richtung. Hier ist besonders das Wort, das in Mt 5,24 für „versöhnen" gebraucht wird, wichtig, das dem καταλλάσσειν verwandte δίαλλασσειν, das im Neuen Testament nur an dieser Stelle vorkommt. Es bedeutet neben „verändern, vertauschen, sich unterscheiden, übertreffen", auch „versöhnen". Im Vorgang der Versöhnung wird also ein Verhältnis - hier zwischen Mitmenschen - umgekehrt, verändert, vertauscht: aus dem Feind wird ein Freund, ein Versöhnter. „Versöhnen" heißt hier, dafür zu sorgen, „daß der Zürnende (V.23), die Versöhnung nicht suchende, noch in Aussicht stellende Bruder seine Feindschaft aufgibt". Dieses Wort bedeutet nach einer anderen Stelle außerhalb des Neuen Testaments „die Haltung der Mutter, die ihren Zorn gegen den die Versöhnung suchenden Sohn aufgibt". Es ist ein Vorgang, bei dem die 52

Feindschaft von beiden Seiten her überwunden wird. Im Vordergrund der Begriffe mit dem Wortstamm καταλλαγ- und δίαλλαγ- steht das „Vertauschen" von Feindschaft, Zorn und Krieg in Freundschaft, Liebe oder Frieden, wie aus dem alten 53 griechischen Schrifttum hervorgeht (bei Herodot, Xenophon, Plato u.a.). Die Stelle Mt 5,23f aus der Bergpredigt Jesu spricht von der Forderung gegenüber dem, der seiner „Kultpflicht" nachkommt, nämlich das Opfer auf den Altar zu bringen, vorher seinen Zorn aus der Welt zu schaffen. Im Kollisionsfall muß dieser Forderung selbst die Kultpflicht nachstehen: „Wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und dort kommt dir in den Sinn, daß dein Bruder etwas gegen dich hat, so laß dort vor dem Altar deine Gabe und geh zuerst hin und versöhne dich mit deinem Bruder und dann komm und 51

W. Dantine, Versöhnung. Ein Grundmotiv christlichen Glaubens und Handelns, Gütersloh 1978, S. 17. 52 Fr. Büchsei, Art. άλάσσω, in: ThWNT Bd. I, S. 253f. 53 H. Merkel, Art. „Versöhnung", in: EWNT Bd. II, Sp. 646.

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opfere deine Gabe" (V.23Í). Hier steht die rabbinische Frage im Hintergrund, ob die begonnene Ausführung eines Pflichtgebotes zwecks Nachholung eines vergessenen anderen Pflichtgebotes unterbrochen werden darf. Die Beantwortung hing im Rabbinentum von der größeren oder geringeren Wichtigkeit des letzteren ab. Wenn Jesus sagt, daß die Opferdarbringung zugunsten der Aussöhnung mit einem Gegner unterbrochen werden sollte, so ist darin die Meinung enthalten, daß die letztere wichtiger sei als die Vollendung der Opferhandlung. Nach anderen Auslegungen im Rabbinentum ist die Synagoge der Meinung, daß die Wirkung eines Schuldopfers unter Umständen von der Befriedigung eines menschlichen Gegners abhängig gemacht wird, mithin die letztere notwendig ist für die Darbringung des vorgeschriebenen Schuldopfers. Die Stelle ist auch im Zusammenhang mit dem Versöhnungstag zu sehen. Weil ohne vorangegangene Versöhnung mit jemand, den man beleidigt hat, der Schuldige keinen Anteil an der Kraft des Versöhnungstages hatte, pflegte man sich vorher auszusöhnen. Rabbi Elsazar (um 100) hat gesagt: „Vergehungen des Menschen gegen Gott sühnt der Versöhnungstag; solche gegen den Nächsten sühnt er nicht, bis daß er seinen Nächsten versöhnt hat". 54 Den Gedanken der zwischenmenschlichen Versöhnung bringt auch das Wort aus der lukanischen Fassung der Bergpredigt zum Ausdruck: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist" (6,36) sowie die Aussage über das Verhältnis zum Bruder, dessen Splitter im Auge man gewahr wird (6,42). Hieher gehört auch die Drohung (ähnlich wie Mt 18,35), daß man eben mit dem Maß gemessen werde, mit dem man selbst mißt (6,38). Direkt auf die Vergebung untereinander bezogen ist weiterhin Mk 11,25: „Wenn ihr steht und betet, so vergebt, wenn ihr etwas widereinander habt, damit auch euer Vater im Himmel euch vergebe eure Übertretungen". Dies Wort schlägt eine Brücke von der fünften Bitte des Vaterunsers (Mt 6,12.14f) zu Mt 5,23f. Daß die Bitte um Vergebung mit der Bereitschaft, den Schuldigen zu vergeben, verbunden wurde, zeigt der Zusammenhang mit dem Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe am konkretesten, das doch als das größte Gebot bezeichnet wird, in dem das ganze Gesetz und die Propheten „hängen" (Mt 2 2 , 3 7 ^ 0 ) . Obwohl mit den erwähnten Stellen, die sich auf den zwischenmenschlichen Aspekt der Versöhnung und Vergebung beziehen, vornehmlich das Sondergut des Matthäus herangezogen worden ist, wird deutlich, daß dieser Gedanke - vor allem wenn man das Doppelgebot der Liebe und die fünfte

54 H.L. Strack/P. Billerbeck, Das Evangelium nach Matthäus. Erläutert aus Talmud und Midrasch, München, o.J., S. 284-287.

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Bitte des Vaterunsers, aber auch gewisse Passagen aus der Bergpredigt im Auge hat - Allgemeingut der Synoptiker ist. Die gleichen Gedanken findet man bei Johannes in anderer Weise vor. Hier fehlen die Bilder aus der Opfertheologie und selbst der Zusammenhang des Versöhnungsgedankens mit dem Kreuzesgeschehen Jesu Christi. Die Hingabe Christi erfaßt nach Johannes auch sein Leben, also sein Wirken vor dem Opfertod am Kreuz - und das steht hier im Vordergrund. In dieser Hinsicht ist zunächst der Bericht von der Fußwaschung (13,1-17) aufschlußreich. Sündenvergebung hat Dienstbereitschaft zur Folge, die in der Fußwaschung beschrieben wird. Die durch die Fußwaschung - und nicht im jüdischen Tauchbad - gewährte Reinigung gibt Anteil an Jesus, also nicht die Vollwaschung, sondern die Erniedrigung durch den Knechtesdienst, den sich der Messias gefallen läßt. Anteil an ihm ist immer auch Anteil aneinander. Die „horizontale Dimension" in der Fußwaschung verbürgt sich im gegenseitigen Dienst als selbstverständliche und notwendige Konsequenz des Seins in Christus. Auch in dem Gedanken aus Joh 13,14f, daß Jesus seine Jünger liebt, damit sie sich untereinander lieben, ist die „horizontale Dimension" enthalten. Hier wird als Grundsatz zum Ausdruck gebracht, was in der Fußwaschung konkret veranschaulicht wird. Der Gedanke, daß sich die Jünger untereinander so verhalten sollen, wie Christus zu seinem Vater steht, ist auch Grundmotiv der Abschiedsreden (Joh 17). Die in Christus geschenkte und sich in der Gemeinde verwirklichende Liebesgemeinschaft ist die Grundverfassung der neuen Gemeinde, die sich in allen Lebenslagen und Handlungen der Jünger äußert. Auch in den Reden vom Weinstock (Joh 15,1-17) ist von der doppelten Gemeinschaft der Jüngergemeinde mit Christus und untereinander die Rede. Das „Bleiben in Christus" wirkt „Frucht". „Wer in mir bleibt und ich in ihm" (vertikale Dimension), „der bringt viel Frucht" (horizontale Dimension). Die Verbundenheit mit Jesus ist vom Fruchtbringen in dieser Welt nicht zu trennen. Die Liebesgemeinschaft unter den Jüngern ist Folge der Liebe Christi zu den Seinen und macht das neue Gebot aus (Joh 15,12). Bei Johannes wird deutlich: Nicht nur die durch Kreuz und Auferstehung geschehene „Versöhnung", sondern auch Christi Menschwerdung erfordert „Versöhnung untereinander". Die Richtung des Christusereignisses führt von Gott hinunter, aus den vertikalen in die horizontalen Bezüge hinein. Gott läßt sich nur in der zum Knecht erniedrigten Menschengestalt finden. 55 Der Gedanke der Versöhnung ist bei Paulus zunächst in seiner Vorstellung von der κοινωνία enthalten. Die Gemeinschaft mit Jesus Christus steht

55

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P. Philippi, Abendmahlsfeier und Wirklichkeit der Gemeinde, Berlin 1960, S. 53-80.

hier im Zusammenhang mit der Ermahnung zur Einmütigkeit und zur Abwehr von Spaltungen, zum Festhalten in einem Sinn und in einerlei Meinung (1. Kor 1,9.10). Dieser Gedanke wird bei Paulus anhand seiner Ausführungen über das Abendmahl deutlich. Das Passa-Opfer Christi erfordert den „alten Sauerteig" auszufegen und zum „neuen Teig" zu werden (1. Kor 5,7). Kultus und Ethos gehören zusammen. Ähnlich wie nach Mt 5,23f die Opfergabe nicht zum Altar gebracht werden soll, ehe man sich versöhnt, so soll die Passa-Feier nicht erfolgen, wenn die Gemeindeglieder sie nicht als „Süßteig", das heißt als wirklich unteilbare und ganze Gemeinschaft untereinander begehen. Und wie in Mt 18,17 Unversöhnliche als „Heiden und Zöllner" zu halten sind, so soll „hinausgetan werden, wer da böse ist" (1. Kor 5,13), also der Böse aus der Mitte der Gemeinde verstoßen werden. Für Paulus gibt es eine direkte Verbindung von unserer Teilhabe an Christus zu unserem Verhalten dem Bruder gegenüber. Daraus folgert Paulus: „Wenn ihr aber so sündigt an den Brüdern und verletzt ihr schwaches Gewissen, so sündigt ihr an Christus" (1. Kor 8,12). Dies kommt auch im Abendmahlsverständnis zum Ausdruck: die κοινωνία, von der im Abendmahlsbericht (1. Kor 10,16ff) die Rede ist, schließt die κοινωνία der Christen untereinander nicht aus, sondern ein. 56 Die neue christusgemäße Seinsweise der Gemeinde als wesentlicher Inhalt des Abendmahls wird in den zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb der Gemeinde sichtbar. Sie besteht in der einheitssuchenden und gemeindeaufbauenden Rücksichtnahme auf den anderen, den man nicht „ärgern" soll. Im Mittelpunkt des paulinischen Abendmahlsverständnisses, wie es die alte Kirche kannte, steht die Sammlung der Gemeinde, die gegenseitige Vergebung und die Bruderliebe. 57 Die Kriterien für die stiftungsgemäße Feier des Abendmahls sind „horizontale" Elemente der zwischenmenschlichen Beziehungen (1. Kor 11,17, 34). Rechtes Abendmahl wird dann gefeiert, wenn das Zusammenkommen aller und die gemeinsame und gleichmäßige Beteiligung am Essen ohne Unterschied von arm und reich erfolgt und somit kein Bruder gekränkt wird. Das Mahl wird zwar von mitgebrachten Gaben bestritten, doch sollen sie gemeinschaftlich, d.h. von allen zusammen, zur gleichen Zeit und am gleichen Ort genossen werden. Die Vorwegnahme der Mahlzeit beanstandet Paulus wegen der darin sichtbar werdenden Rücksichtslosigkeit den Brüdern gegenüber, die dadurch verletzt und gekränkt werden. Auch in seinen Ausführungen über die „Bruderliebe" (φιλαδελφία, Rom 12,10; 1. Thess 4,9; Hebr 13,1) tritt uns dieses Verständnis der Versöhnung

56 W. Eiert, Abendmahl und Kirchengemeinschaft in der alten Kirche, hauptsächlich des Ostens, Fürth 2 1985, S. 57. 57

W. Eiert, Abendmahl und Kirchengemeinschaft, a.a.O., S. 23ff.

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untereinander entgegen. Das wird in der Bezeichnung „Bruderschaft" (άδελφότγς = fraternitas, 1. Petrus 2,17; 5,9) zum Ausdruck gebracht, weil Gemeinschaft (κοινωνία) nicht eine Genossenschaft oder Körperschaft meint und nicht einfach die Gesamtheit der Glieder oder Teile der Kirche, sondern eine innerhalb der Kirche bestehende und durch sie vermittelte Relation der Glieder und Teile untereinander oder eine Relation zwischen den Gliedern und Teilen mit dem Ganzen der Kirche bedeutet. Nicht nur das Miteinander sondern auch das Füreinander der Glieder ist gemeint. Haben darum Brüder einen Streit miteinander, so schlichten sie ihn zwischen „Bruder und Bruder", nicht durch einen ungläubigen Schiedsrichter (1. Kor 58

6,1.5). Diese Weisungen erinnern an Mt 18,15ff, wie auch die Aufforderung, sich von einem Bruder, der unversöhnlich ist und nicht nach der vom Apostel erhaltenen Weisung wandelt, abzuwenden (2. Thess 3,6). Den Bruder soll man nicht als Feind ansehen, sondern „verwarnen" (2. Thess 3,15). Über all diesen Weisungen steht demnach die zwischenmenschliche Versöhnung, die in der Versöhnung Gottes mit den Menschen begründet ist: „Vergebt einander, wenn einer gegen den anderen eine Klage hat; wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr" (Kol 3,13). Schließlich soll hier noch auf die im Neuen Testament erwähnte Übung des φίλγμα αγιον, des „heiligen Kusses" hingewiesen werden (Rom 16,16; 1. Kor 16,20; 2. Kor 13,12; 1. Thess 5,26; 1. Petr 5,14, hier der „Kuß der Liebe"), die auch in der alten Kirche bekannt war. Hier wird sie im Zusammenhang mit dem Versöhnungsakt bei Entzweiungen ausdrücklich genannt. Entzweiung bedeutet in der alten Kirche Häresie, wenn das Bekenntnis gemeint ist, hat aber auch persönliche Zwistigkeiten im Auge, wenn damit die κοινωνία verletzt wird. Die Ordnungen der alten Kirche machen den Abendmahlsteilnehmern zur Pflicht, Zwistigkeiten. vor der Feier des Mahls aus dem Weg zu räumen (schon in der Did 14,2). Dabei wird das Schlüsselwort aus Mt 5,23f zitiert. Die Dascalia ordnet an, daß der Diakon vor dem Gemeindegebet mit lauter Stimme frage, ob einer etwas gegen seinen Bruder habe. In diesem Fall soll der Bischof Frieden zwischen den Streitenden stiften. 59 Es ist anzunehmen, daß es also vor dem Abendmahl schon in der frühen Kirche den Versöhnungsakt, vor allem durch den Friedenskuß bzw. -grüß gab. Versöhnungs- bzw. Friedenskuß haben am Anfang des eucharistischen Teils - oder jedenfalls vor der eigentlichen Kommunion - einen festen Platz in der Liturgie und werden allmählich zur Pflicht gemacht. Es wird angeordnet, nicht zu kommunizieren, wo die Versöhnung nicht zustandekommt. Versöhnungsordnungen, wie sie schon in Mt 18,15ff vorzufinden

74

5g

W. Eiert, Abendmahl und Kirchengemeinschaft, a.a.O., S. 56 u. 58.

59

W. Eiert, Abendmahl und Kirchengemeinschaft, a.a.O., S. 69.

sind, waren ein recht früher Brauch in der Kirche. Wir kommen im nächsten Hauptteil auf diese Frage zurück. Wir sehen aus all diesem: das Wort, das explizit „Versöhnung" heißt, kommt - wie schon früher ersichtlich wurde - selten im Neuen Testament vor; ja es wird nur an einigen Stellen (1. Kor 7,11) im zwischenmenschlichen Sinn verstanden, nämlich als Versöhnung zwischen Mann und Frau. Aber die Sache der Versöhnung ist ein Anliegen des Neuen Testaments, das in allen seinen Facetten immer wieder und überall vorhanden ist. Auch die Stellen, die von der Versöhnungstat Christi und der διακονία της καταλλαγής sprechen, enthalten zugleich mit der vertikalen immer auch die horizontale Dimension. Dem Menschen, mit dem sich Gott versöhnt hat, ist die Versöhnung mit dem Nächsten aufgegeben. Diese Auffassung hat sich in der späteren Lehre der Kirche niedergeschlagen.

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4. Drei Dimensionen der Versöhnung in der christlichen Dogmatik

Nach dem bisher Gesagten ist verständlich, daß der Begriff der Versöhnung, der schon im Neuen Testament über den eigentlichen terminus tehnicus hinausgehend, recht viel abdeckt, in der späteren Lehre der Kirche eine zentrale Bedeutung erhielt. Doch gerade wegen seiner Vieldeutigkeit mußte er sich auch in der nachfolgenden Lehrentwicklung immer wieder gegen andere Begriffe durchsetzen und abgrenzen. Seit Karl Barth seine ganze Christologie als „Lehre von der Versöhnung" aufgebaut hat, ist der Begriff wieder stark in den Vordergrund des Interesses gerückt. 60 Versöhnung in Christus besagt in einem: Versöhnung mit Gott, Versöhnung zwischen den Menschen und Versöhnung mit sich selbst. Um den zwischenmenschlichen Aspekt der Versöhnung dogmatisch zu verstehen, müssen wir uns vergegenwärtigen, was die beiden anderen Aspekte meinen. So wie die profane Praktizierung der Versöhnung der Menschen im Alten Testament zu einem kultischen Verständnis der Versöhnung zwischen Gott und Mensch verholfen hat, haben auch - wie bereits ersichtlich war die Begriffe menschlicher Aussöhnung im Neuen Testament - besonders bei Paulus - zur Bezeichnung der Versöhnung zwischen Gott und Mensch gedient. Das ist der sogenannte „soteriologische Aspekt" der Versöhnung, der in der Theologie, vor allem der mittelalterlichen Kirchenlehre, einseitig und überragend herausgekehrt wurde. Doch es ist wichtig, auch den anderen Aspekt, den der Versöhnung untereinander, theologisch gründlicher zu reflektieren, weil er für das Verständnis der ganzen christlichen Lehre entscheidend ist. Dabei spielt auch die Versöhnung mit sich selbst eine wesentliche Rolle. Diese drei Aspekte der Versöhnung kann man in die überlieferte Dreiämterlehre einordnen, wiewohl diese Einteilung problematisch ist. 61 Gemeint ist die Beschreibung des dreifachen Werkes (officium) oder Amtes (munus) Jesu Christi als prophetisches, priesterliches und königliches Werk oder Amt. Während die Versöhnung mit Gott dem priesterlichen Amt zugeordnet werden kann, wird die zwischenmenschliche Versöhnung dem kö-

60

K. Barth, KD IV/1-3. Siehe W. Pannenberg, Grundzüge der Christologie, Gütersloh 2 1966, S. 218-232; ders.: Systematische Theologie, Bd. II, Göttingen 1991, S. 492f. 61

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niglichen Amt und die Versöhnung mit sich selbst dem prophetischen Amt zugeordnet. So ist Karl Barth vorgegangen, der von den „drei Gestalten der 62

Versöhnungslehre" spricht. Dieser Dreiteilung in der Beschreibung des Werkes Jesu Christi hat immer schon die Zweiteilung von Erlösung und Versöhnung gegenübergestanden. Doch sollte man diese beiden Begriffe nicht gegeneinander ausspielen, sondern sie in ihrer dialektischen Einheit sehen, innerhalb derer jeder seinen eigenen Akzent hat. Erlösung beschreibt die Befreiung von den gottfeindlichen Mächten Satan, Sünde und Tod, denen wir in unserer Gottesferne ausgesetzt sind. Die Versöhnung beschreibt die Überwindung der Schuld oder Entzweiung zwischenmenschlicher, personaler Beziehungen. Während der Begriff der Versöhnung die Beziehung zu Gott im Auge hat, weist der Begriff der Erlösung gewissermaßen zurück auf die Verderbermächte, von denen man befreit wird. Dementsprechend ist in der Versöhnung christologisch der Gedanke der Vermittlung durch Genugtuung, Loskauf, Sühne und Opfer im Vordergrund (das man sich im Wirken Jesu als Sündenvergebung darstellt), während in der Erlösungschristologie der Gedanke des siegreichen Kampfes Jesu gegen Dämonen, Krankheiten, Übel und Versuchungen gemeint ist, 63der sich in Jesu Krankenheilungen und Dämonenaustreibungen darstellt. Beide Begriffe können nicht streng unterschieden werden. Denn im Grunde geht es um das gleiche Anliegen, nämlich die Bedeutung des Gekreuzigten und Auferstandenen für die Gemeinschaft der Sünder mit Gott zu beschreiben. 64 Dabei steht im Zentrum der durch die westliche Tradition bestimmten Behandlungsproblematik die Frage nach der Überwindung schuldhafter Entfremdung von Gott, also nach der Versöhnung im eigentlichen Sinn des Begriffes, während die östliche Tradition ihre soteriologischen Motive für die gleiche Sache mit der Vorstellung zum Ausdruck brachte, die wir als Erlösung beschrieben haben. Die Zuordnung der Begriffe ist bis heute unterschiedlich. Seit Schleiermacher ist die Überordnung des Begriffs der Erlösung über den der Versöhnung üblich geworden. Wenn auch gesagt werden kann, daß in der östlichen Theologie der Ausdruck Erlösung und in der westlichen der der Versöhnung bevorzugt wird, muß heute doch festgestellt werden, daß sich die Lehre von der Versöhnung in vielem mit der Lehre von der Erlösung deckt. In der orthodoxen Theologie wird betont, daß im Verständnis dieser Begriffe immer die ganze biblische Sprache in Betracht gezogen und vermieden werden muß, alles „in das Ge62 63 64

K. Barth, KD IV/1, S. 140-170; KD IV/1, S. 637. Vgl. H.-G. Fritzsche, Lehrbuch der Dogmatik, Bd. III, Berlin 1975, S. 175f. M. Kähler, a.a.O.; nach G. Wenz, Geschichte der Versöhnungslehre, a.a.O., S. 28.

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fángnis eines einzigen Wortes zu zwängen". Jeder Begriff muß „in Verbindung mit dem anderen zur Verfügung stehenden erklärt werden".65 Gustav Aulén beschreibt die Versöhnung so, daß darin die vorher nicht vorhandene Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch gestiftet wird. Diese Gemeinschaftsstiftung, die Versöhnung, vollzieht sich durch die Überwindung der Mächte, die erlösen. Damit bleibt die Versöhnung begrifflich der Erlösung zugeordnet.66 Ebenso schwer ist die Unterscheidung zwischen Versöhnung und Rechtfertigung, die manchmal in der sogenannten objektiven und subjektiven Seite des Heils gesehen wurde. Der Unterschied kann so ausgemacht werden, daß die Versöhnung die Antwort auf die Frage gibt, wie sich die Rechtfertigung des Sünders ereigne. Ähnlich verhält es sich auch mit der Unterscheidung von Vergebung und Versöhnung. Vergebung ist ein, und zwar zentrales Element der Versöhnung; diese ist der Prozeß, der die Verwirklichung der Vergebung im Auge hat.67 Versöhnung kann auch im Zusammenhang mit der Frage des Heils überhaupt verstanden werden, sozusagen als „Kern" der Botschaft vom Heil. Das Heil ist letztlich als Versöhnung zu verstehen. Das Stichwort „Versöhnung" trifft das Ganze der neutestamentlichen Heilsbotschaft.

a) Die vertikale Dimension der Versöhnung: Versöhnung mit Gott Gustav Aulén hat im Zuge der neueren Lutherforschung unseres Jahrhunderts darauf hingewiesen, daß es eine Engführung war, wenn das traditionelle Verständnis der Versöhnungslehre nur zwei Typen, den „objektiven" und den „subjektiven" unterschied.68 Den „ objektiven Typus " nennt er auch den lateinischen und meint den in der westlich-abendländischen Kirche vorherrschenden Zug der Versöhnungslehre. Er ist geprägt durch die berühmte Satisfaktionstheorie des Anselm von Canterbury, dargestellt in seinem 1099 erschienen Buch „Cur 65

D. Stäniloaie, Invä{)ätura ortodoxä despre mântuire °i concluziile ce rezultä din ea pentru slujirea cre°tinä in lume, in: Ortodoxia 24, 1972, S. 197. 66 G. Aulén, zit. nach H. Alpers, Die Versöhnung durch Christus, a.a.O., S. 16. 67 H. Alpers, Die Versöhnung durch Christus, a.a.O., S. 18. 68 G. Aulén, Die drei Haupttypen des christlichen Versöhnungsgedankens, in: ZSTh 1930, S. 501-538. Dem Verfasser lag die englische Übersetzung der 1930 in Uppsala in schwedischer Sprache gehaltenen Vortragsreihe von G. Aulén, Christus Victor, London 1980, vor. Eine gute Übersicht über die Versöhnungslehre findet sich bei: W. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. II, a.a.O., S. 449ff.

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deus homo" (Warum Gott Mensch wurde), wo er den Versöhnungsgedanken zum erstenmal theologisch thematisiert und durchreflektiert hat. Nach seiner Auffassung muß Gott versöhnt werden, indem man ihm Satisfaktion (= Genugtuung) leistet, nach Vorstellungen aus dem Ehrenkodex des mittelalterlichen Adels, die aus dem germanischen Recht stammen. Dieses geschieht durch die sühnende Tat des Gottmenschen Christus, der darum sowohl Gott als auch Mensch sein muß, weil Jesus als wahrer Gott diese Versöhnung allein leisten kann und andererseits nur als wahrer Mensch darin die Menschheit wirklich vertritt. Den „ subjektiven Typus " nennt Aulén auch den „humanisierenden Typ", der seinerzeit von Abälard, eine Generation später, Anselm gegenüber vertreten wurde und der im Neuprotestantismus wieder auftritt (bei Friedrich Schleiermacher, Albrecht Ritsehl, Adolf Harnack, Ernst Troeltsch). Versöhnung ist hier Erkenntnis, Nachahmung, Beantwortung der von Christus verkündeten unendlichen Liebe Gottes zu den Menschen. Gott selbst erscheint hier als der Versöhnende und als der Liebende, dessen Liebe zu den Menschen so gewaltig ist, daß diese sie auch annehmen müssen - und so mit ihm versöhnt sind. Aulén hat außer diesen beiden Typen der Versöhnungslehre noch einen dritten, den „ klassischen " Typus, herausgestellt. Hier wird Versöhnung als siegreicher Kampf Christi gegen die Mächte der Welt beschrieben, durch den Gott die Welt mit sich versöhnt. Dabei geht es ihm wirklich um eine Versöhnungs- nicht um eine Erlösungslehre. Obwohl darin ein Erlösungsdrama beschrieben wird, ist hier gleichzeitig Versöhnung im vollen Sinn des Wortes gemeint, weil dadurch Gott die Welt mit sich versöhnt und so auch selbst versöhnt ist. Nach Aulén ist dies die beherrschende Idee im Neuen Testament und ebenso in den ersten tausend Jahren der Kirchengeschichte, die bis heute in der liturgischen Sprache und in der Kunst überlebt hat. Er hat vor allem Luthers Soteriologie diesem Typus zugeordnet. Er rechnet Luthers Auffassung über das Werk Christi als Sieg über die Tyrannen - Sünde, Tod und Teufel - nicht der Erlösung sondern der Versöhnung zu und gibt sich mit der früheren Auffassung nicht zufrieden, daß Luthers Versöhnungslehre dem juridischen Typ Anselms entspreche und darum in einem bestimmten Gegensatz zur Rechtfertigungslehre stehe. Ebenso verwirft er den Gedanken der Strafsühne, den Theologen wie Rudolf Otto und Emil Brunner bei Luther und den Reformatoren in anselmischem Sinne zu finden vermeinten.69 69 R. Otto, Aufsätze das Numinose betreffend. Theologische Reihe, Gotha 1929, S. 199ff; E. Brunner, Der Mittler, Tübingen 1927, S. 413f. Auch Karl Holl hat seiner Meinung nach die volle Wahrheit dieser Lehre Luthers nicht erfaßt.

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Luther wird - nach G. Aulén - erst richtig verstanden, wenn man in ihm den Erneuerer des alten klassischen Themas der Versöhnung sieht, so wie sie bei den Vätern entwickelt wurde, allerdings mit einer neuen Tiefe. Den Beweis dieser These findet Aulén im Kleinen Katechismus an der entscheidenden Stelle: „Der mich verlorenen und verdammten Menschen erlöst hat, erworben, gewonnen von allen Sünden, vom Tode und von der Gewalt des Teufels". Hier werden die drei Feinde „Sünde, Tod und Teufel" genannt, die für die Anschauung in der alten Kirche charakteristisch sind. Ähnliche Stellen gibt es auch im Großen Katechismus. 70 Auch die wichtigsten und kraftvollsten Kirchenlieder enthalten dieses Motiv. So heißt es etwa im Lied „Nun freut euch Christen insgemein": „Der Sünde ich gefangen lag, im Tod war ich verloren" und „Er sprach zu seinem lieben Sohn: ,Zeit ist es zum Erbarmen, fahr hin, mein's Herzens werte Krön', und sei das Heil dem Armen und hilf ihm aus der Sünden Not, befrei ihn von dem bitteren Tod, und laß ihn mit dir leben'." Oder im Lied „Ein feste Burg ist unser Gott": „Er hilft uns frei aus aller Not", der „alt böse Feind mit Ernst er's jetzt meint", wie auch: „Und wenn die Welt voll Teufel wär". Diese Auffassung von der Versöhnungslehre kennzeichnet die Schule von Lund, in der die anselmische Satisfaktionslehre als „lateinischer Typ" unter Berufung auf Luther als eine Fehldeutung der Versöhnungslehre erklärt und an deren Stelle der „klassische Typ" einer Kampfes- und Siegeschristologie gesetzt wurde. Sie ist durch eine logische Vorordnung der Erlösung vor die Versöhnung zu charakterisieren, aus der die einseitige Betonung der ungebrochenen Gottestat zu erklären sei. Ziel der Soteriologie ist, daß Gott, der Erlöser, die Verderbensmächte durch Christus kämpfend und siegend niederringt, nicht daß in Christus das wahre Bild des mit Gott vereinigten Menschen wiederaufgerichtet werde. Die rechtlichen Gesichtspunkte haben für diese Heilslehre keine, oder - wenn überhaupt - nur untergeordnete Bedeutung. 71 Die Schwächen oder Grenzen jedes dieses Typs der Versöhnungslehre sollen hier kurz benannt werden. Alle drei enthalten sie Einseitigkeiten, die durchschaut werden müssen. In der klassischen Versöhnungslehre ist manches drastisch, dramatisch überzogen. Die protestantische Lehre nahm oft an der „robusten Mythologie" dieser Kampfes- und Siegeschristologie Anstoß, in der die Versöhnung fast triumphalistisch dargestellt wird. Die Christus Victor-(Aulén)- oder „Jesus ist Sieger" (Blumhardt)-Vorstellung huldigt einem „Objektivismus", einem „von außen" kommenden Geschehen, einem Versöhnungsvorgang „über unsere Köpfe hinweg" im Streit

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WA 30,1, 249. Vgl. zum Ganzen: H. Alpers, Die Versöhnung durch Christus, a.a.O., S. 184-199.

zwischen Gott und den Mächten, so daß der Mensch bloß das „Streitobjekt" oder der Spielball überirdischer Mächte ist, auf die er selbst fast keinen Einfluß nehmen kann. Bei dem lateinischen Typus der Versöhnungslehre wiederum wirkt vieles formal und material befremdend. Das mittelalterliche Denken, das sich dahinter verbirgt, ist für uns Heutige schwer zugänglich. Die Vorstellung von Gott, für den die Sünde Majestätsbeleidigung und Verletzung seiner Ehre ist, der selbst unter dem Rechtszwang der Genugtuung steht (wie ein mittelalterlicher Ritter), ist für uns Heutige schwer nachvollziehbar. Die Vorherrschaft theoretisch-legalistischer und überhaupt logischer Kategorien ist ein theologisches Problem. Und dann: Wird diese Satisfaktionslehre der Souveränität der Liebe Gottes wirklich gerecht? Werden wir nicht aus dem Reich der heilsgeschichtlichen evangelischen Freiheit ins Reich hochgezüchteter dogmatischer Beweisführungen versetzt? Die großen Fragezeichen richten wir an die Versöhnungslehre des humanisierenden Typus. Der kerygmatische Bezug wird heilsgeschichtlich zu vordergründlich entwickelt. Die tiefe Problematik, mit der sich die beiden anderen Versuche auseinandersetzen, nämlich das Geheimnis der Erlösung zu beleuchten, fehlt hier. Der Abgrund und die Entfremdung, die Gefahrdung des Menschen durch Schuld und Tod wird bei Abälard nur am Rande berücksichtigt. Auch im Neuen Testament wird die Liebe Christi nicht vorrangig als Motivation der Gegenliebe reflektiert, sondern im Kreuz Christi gesehen und bezeugt. Sie ist in ihrer ganzen Tiefe ohne den heilsgeschichtlichen Hintergrund des Opfers und der Sühne kaum richtig zu verstehen. Es ist jedoch wichtig, diese drei Aspekte der Versöhnungslehre zusammen und komplementär zu bewerten. Die drei Typen sollen sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern ergänzen. Die Kirche mußte in bezug auf die altkirchliche Christologie Entscheidungen treffen und Abgrenzungen vornehmen. Anders war es in der mittelalterlichen Christologie, gerade im Blick auf diese drei Typen des Versöhnungswerkes Christi, als sich die Kirche nicht gezwungen sah, scharf und ausschließend dogmatische Abgrenzungen vorzunehmen. Jeder Typ hat auch seine Vorzüge und seine spezifischen Werte, die er in das Ganze dieser Lehre einbringt. In der klassischen Versöhnungslehre ist das Zeugnis von der souveränen Liebe Gottes herauszuhören, die die Welt der Sünde und des Todes in ihrer ganzen Entfremdung und Boshaftigkeit nicht fallenläßt, sondern sich auf sie einläßt, an ihr leidet, für sie streitet und sie auf (Befreiung und) Versöhnung hin besiegt. Der lateinische Typus wiederum ist theologisch unverzichtbar, weil hier die Aufgabe bis zu Ende gedacht wird, die Versöhnungsbotschaft nicht nur zu bekennen und zu bezeugen, sondern im Denken des Glaubens für die je-

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weilige Zeit nachvollziehbar zu machen. Hier wird nach der Logik des Christusgeschehens gefragt und Antworten zu geben versucht. Die Bedeutung des dritten Versöhnungstypus - des humanisierenden besteht darin, daß hier das Anliegen zum Ausdruck kommt, die innerweltlichen Auswirkungen der Versöhnung in aller Klarheit herauszustellen. Das Drama der Versöhnung „zwischen Himmel und Erde" meint uns Menschen, wie wir sind, verändert unsere Situation, ermächtigt zur Umkehr und Erneuerung. Es geht in der Versöhnungslehre nicht nur darum, die Welt zu interpretieren, sondern sie zu verändern. Es handelt sich dabei nicht nur um die innere, sondern auch um die äußere Welt des Menschen. Hier wird am deutlichsten, daß der christliche Versöhnungsgedanke auch seine prakti72 sehen, ethischen und politischen Konsequenzen hat. Damit kommen wir zu jener Dimension der Versöhnung, die für unseren Zusammenhang besonders wichtig ist: der horizontalen Dimension als Versöhnung mit dem Nächsten.

b) Die horizontale Dimension der Versöhnung: Versöhnung mit dem Mitmenschen Die horizontale Dimension der Versöhnung tritt nicht zur vertikalen bzw. „als ethische Komponente" zur dogmatischen hinzu, sondern hängt unmittelbar mit dieser zusammen. Es geht nicht um eine „ethische Forderung", die auf den Menschen als „Appell" zukommt, sondern ist Versöhnung mit dem Mitmenschen, die in der im Glauben angenommenen Gewißheit der Versöhnung des Menschen mit Gott begründet ist. Im Versöhnungshandeln der Menschen untereinander geht es um die Realisierung einer von Gott schon gesetzten Realität, gemäß dem Grundkanon biblischer Paränese „Sei, was du bist"! Das heißt: Die Versöhnungstat Gottes begründet unseren Auftrag zur Versöhnung, und das Versöhnungswerk Gottes (2. Kor 5,19) erfordert unseren Versöhnungsdienst (διακονία της καταλλαγης, 2. Kor 5,18). In diesem Versöhnungsauftrag unterscheiden wir drei Aspekte:

1. Versöhnung mit dem Nächsten Als Aufhebung von Feindschaft, Ausgleich in Streitigkeiten und Vergebung von Schuld kann Versöhnung zunächst eine private Angelegenheit zwischen zwei Menschen sein, die im Sinne von Mt 5,23f durch Versöh-

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Vgl. J.M. Lochman, Versöhnung und Befreiung, a.a.O., S. 72-87.

nung in Ordnung gebracht wird. Damit ist der Versöhnung im „sonntäglichen" (beim Abendmahlsgottesdienst), aber auch im „alltäglichen" Zusammenleben zwischen Menschen eine Vorrangstellung eingeräumt. In diesem Sinn kann von einem Primat der Versöhnung untereinander vor der „kultischen Pflicht" gesprochen werden: „Nichts geht der Versöhnung mit deinem Bruder voraus... Die Versöhnung ist der Gegenpol des Mordes, sie 73

ist ebenso schöpferisch, wie jene vernichtend ist". Das Wesen der Versöhnung mit dem Nächsten darf nicht als diplomatische Klugheit, Ideologie oder Parole angesehen werden. Sie soll auch nicht mit einer „Appeasement-Mentalität" gleichgesetzt werden. Sie möchte nicht Vertröstung, fauler Frieden oder Kompromiß sein, wodurch die Konflikte gescheut, die realen Spannungen verdeckt und die ungerechte Wirklichkeit verklärt werden. Sie entspringt auch nicht einer Klugheitsregel im Sinne von Lk 14,3lf: „Welcher König will sich auf einen Krieg einlassen gegen einen anderen König und setzt sich nicht zuvor hin und hält Rat, ob er mit Zehntausend dem begegnen kann, der über ihn kommt mit Zwanzigtausend? Wenn nicht, so schickt er eine Gesandtschaft, solange jener noch fern ist, und bittet um Frieden". Versöhnung ist ein Geschenk, das aus der glaubenden Annahme der Versöhnung Gottes kommt und insofern immer ein Wagnis ist. Denn durch die Vergebung des anderen kann der, dem sie widerfährt, immer neu angreifen und noch mehr schaden. Das zwischenmenschliche Versöhnungshandeln hat also etwas Paradoxes, Unvernünftiges an sich, 74 das aber Jesus fordert, weil im Reiche Gottes andere Gesetze herrschen bzw. zur Herrschaft kommen sollen. Es muß immer eine „teure Versöhnung" sein (1. Kor 7,23: „Ihr seid teuer erkauft; werdet nicht der Menschen Knechte".). Versöhnung mit dem Nächsten ist keine sentimentale, schwärmerische, enthusiastische, aber auch keine weltkluge, diplomatische Handlungsweise, sondern Risiko, Einsatz und Kampf, der immer als Folge und Abbild des Kampfes Jesu Christi und des teuren Preises seines Opfers durch das Versöhnungswerk zu verstehen ist. 2. Versöhnung innerhalb einer

Gemeinschaft

Die Versöhnungspraxis der siebenbürgischen Kirche kannte solche Ordnungen in Ehe, Familie und Haus sowie in der Nachbarschaft und Gemeinde. Heute könnte man Freunde am Arbeitsplatz oder kirchliche Gruppen, wie Bibel- oder Jugendkreise dazurechnen. Weil der einzelne immer Glied der Gemeinschaft ist, hat es die persönliche Heilsfrage immer mit der Bezie73 J. Müller. Die Bergpredigt, S. 174, zit. nach: J.M. Lochman, Versöhnung und Befreiung, a.a.O., S. 88f. 74

Vgl. H.-G. Fritsche, Lehrbuch der Dogmatik, Bd. III, a.a.O., S. 246.

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hung zu Familie, Gemeinde, Gesellschaft zu tun. Darum sind schon früh unter den Christen Gemeindeordnungen entstanden, von denen uns eine in Mt 18,15-17 überliefert ist, in der es um konkrete Regelungen von Konflikten innerhalb der Gemeinde geht. Bemerkenswert ist, daß es sich hier nicht mehr um den sozusagen „privaten" Konflikt von Bruder zu Bruder handelt (wie im Mt 5,23f), bei dem man angehalten wird, sich mit dem anderen zu versöhnen. Hier wird der Bruder aufgefordert, den anderen öffentlich „zurechtzuweisen" (έλεγξον = an den Tag bringen, überführen, zur Rede stellen), das heißt, ihn anzuhalten, sich vor der Gemeinschaft zu versöhnen. Der Bruder bzw. zwei bis drei Brüder oder „Gemeindeglieder" üben hier sozusagen die Versöhnungsfunktion in einem institutionalisierten Rahmen aus. Dieses Vorgehen schließt Offenheit und Öffentlichkeit der Regelung von Konflikten und Vergehen ein und hat zur öffentlichen Buße innerhalb der Kirchenzucht und speziell zur sogenannten „Büßerrekonziliation" in der Messe und außerhalb der Messe am Gründonnerstag und 75

Aschermittwoch als Rekonziliationstagen geführt. Auch in den paränetischen Teilen der apostolischen Schriften werden die ethischen Folgen der in Christus geschenkten Versöhnung für die mitmenschlichen Beziehungen innerhalb der Gemeinde immer wieder thematisiert. Die Versöhnungstat Christi wirkt sich im Leben der Gemeinde aus und soll dort verändernd, erneuernd, also versöhnend wirken. Der Christushymnus Phil 2,5-11 wird so eingeleitet: „Seid so unter euch gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Jesus Christus entspricht". Und das Kapitel beginnt damit: „Ist nun bei euch Ermahnung in Christus, ist Trost der Liebe, ist Gemeinschaft des Geistes, ist herzliche Liebe und Barmherzigkeit, so macht meine Freude dadurch vollkommen, daß ihr eines Sinnes seid, gleiche Liebe habt, einmütig und einträchtig seid". Ebenso haben wir in Eph 2 eine Gemeindeordnung vor uns, die auch für den strukturellen Bereich des kirchlichen Zusammenlebens gilt. Die Gemeinde Jesu Christi kann sich auf die Dauer nicht damit begnügen, sich als eine nach Nationalität, Kultur oder Geschlecht fest strukturierte und in sich geschlossene Größe zu etablieren. Alle „Wände der Teilung" (Eph 2,14) sind im Volk Gottes grundsätzlich in Frage gestellt und abzubauen. Die Ausführungen in Eph 2 über das gemeinsame Leben der Christen sind die Magna Charta jeer legitimen Gemeindeordnung und überhaupt einer ökumenischen Veröhnungsordnung, durch die die versöhnte Verschiedenheit auch innerhalb der Kirchen zur Bewußtwerdung und Realisierung drängt. 76 Die Kirche ist 75

L. Vencser, Die Generalabsolution in der lateinischen Kirche vom 8.-12. Jahrhundert. Pars dissertationis, Rom 1976, S. 30. 76 J.M. Lochman, Versöhnung und Befreiung, a.a.O., S. 90.

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dazu bestimmt, „Zeichen der Versöhnung mit Gott und der davon ausgehenden Erneuerung in den Beziehungen der Menschen untereinander, Zeichen der künftigen Gemeinschaft der Menschen im Reich Gottes" zu sein. 77 3. Versöhnung in Gesellschaft und Welt Das ist der soziale und politische Aspekt der Versöhnung. Die Versöhnung Gottes bezieht sich auf die Welt, den Kosmos (2. Kor 5,19). Darum kann sich der Dienst der Versöhnung nicht auf die christliche Gemeinschaft und die Kirche beschränken. Die Versöhnung impliziert eine sozialpolitische Dimension, die sich in den Problemen und Fragen der Gesellschaft und der Welt auswirkt. Die ganze Menschheit in ihrem Unfrieden, ja die Welt und Schöpfung überhaupt in ihrer Bedrohung sollen in die Versöhnung einbezogen sein. Das heißt freilich nicht, daß es von hier aus Patentlösungen für 78

eine Friedens-, Entwicklungs- oder Umweltspolitik geben kann. Gerade die politische Implikation des Evangeliums muß in einer gewissen Zurückhaltung verkündigt werden, weil das Wort von der Versöhnung durch das Christentum in der Welt oft genug mißbraucht, verraten und entstellt wurde. Außerdem ist die Gefahr des Mißverständnisses gegeben: Man kann die Versöhnung mit einer Aussöhnungspolitik verwechseln. Versöhnung kann zum Alibi für Konfliktregelungen werden und bringt dabei nichts ein. Der Ruf zur Versöhnung kann zum Deckmantel für mangelnde Bereitschaft werden, Partei zu ergreifen und nicht neutral zu bleiben. Aussöhnung von Feinden wird allzuleicht zur Verdeckung der eigenen Schuld. Versöhnung darf darum nicht79 ohne Gerechtigkeit sein, sonst wird sie unglaubwürdig und ohnmächtig. Trotzdem und gerade darum muß das Wort von der Versöhnung auch im gesellschaftlichen und politischen Bereich gesagt und verwirklicht werden. Es soll sich gegen Unversöhnlichkeit und Ungerechtigkeit gleichermaßen wenden, Friedensstiftung unter den Völkern und Verständigung auch in politischen Gegensätzen suchen und herbeiführen helfen. Dazu gehört auch Wiedergutmachung und sozialer Ausgleich. Die biblische Wurzel dieses Aspekts der Versöhnung ist im Alten Testament zu finden, und zwar in der Einrichtung des Halljahres am Tage der Versöhnung. Lev 25,10.13 heißt es: „Ihr sollt das fünfzigste Jahr heiligen und sollt eine Freilassung ausrufen im Land für alle, die darin wohnen; es soll ein Erlaß77

W. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. III, Göttingen 1993, S. 471.

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J.M. Lochman, Versöhnung und Befreiung, a.a.O., S. 91.

79 J. Moltmann, Umkehr zur Zukunft, Gütersloh 2 1977, S. 98. Siehe weiter: H. Hild, Die Welt braucht Frieden - den nächsten Krieg gewinnt der Tod. Kirchliche Verantwortung für praktische Friedensfragen. Vier Reden, Stuttgart 1983.

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jähr für euch sein. Da soll ein jeder bei euch wieder zu seiner Habe und zu seiner Sippe kommen [...] Das ist das Erlaßjahr, daß jedermann wieder zu dem Seinen kommen soll". Versöhnung als „Wende" impliziert als horizontales Geschehen auch Veränderung der menschlichen Struktur, bis hin zu den Besitzverhältnissen oder Machtpositionen. Das Erlaßjahr weist auf die soziale Verankerung und Tragweite des biblischen Versöhnungsbegriffes hin. Diese Bestimmung hat aber nicht nur eine Versöhnung alle fünfzig Jahre im Auge, sondern von ihr geht auch etwas aus; eine grundsätzliche und bleibende Gesinnung wird eingeschärft: „Wenn dein Bruder neben dir verarmt und nicht mehr bestehen kann, so sollst du dich seiner annehmen wie eines Fremdlings oder Beisassen, daß er neben dir leben könne; und du sollst nicht Zinsen nehmen von ihm noch Aufschlag, sondern sollst dich vor deinem Gott fürchten, daß dein Bruder neben dir leben könne [...] Wenn dein Bruder neben dir verarmt und sich dir verkauft, so sollst du ihn nicht als Sklaven dienen lassen, sondern wie einen Tagelöhner, wie einen Beisasse soll er bei dir sein und bis an das Erlaßjahr bei dir dienen. Dann soll er von dir frei ausgehen und seine Kinder mit ihm und soll zurückkehren zu seiner Sippe und wieder zu seiner Väter Habe kommen" (Lev 25,35ff). Diese Gesetzgebung hat ihren bleibenden Wert darin, daß sie keinen Gegensatz zwischen Versöhnung und Gerechtigkeit aufkommen läßt. Sie meint jenen sozialen Ausgleich, der nicht auf privater Liebesgesinnung und persönlichem Gutdünken, sondern nur auf rechtlicher Rege80

lung und Erzwingbarkeit durch Staatsmacht stehen kann. Der Gedanke, daß der mitmenschliche Aspekt versöhnten Lebens auch gesetzliche Regelungen der Besitzverhältnisse oder der sozialen Stellung einbezieht, findet sich auch im Neuen Testament, etwa in der „Standespredigt" Johannes des Täufers. Lk 3,11 heißt es: „Wer zwei Hemden hat, der gebe dem der keines hat; und wer zu essen hat, tue ebenso". Die Forderung eines sozialen Ausgleichs ist auch im Magnifikat enthalten. Lk 1,53 wird gesagt: „Die Hungrigen füllt Gott mit Gütern und läßt die Reichen leer ausgehen". Die Wiedergutmachung eines von Christus veränderten Lebens wird exemplarisch in der Erzählung von Zachäus, dem „Oberzöllner" (Lk 19,1-10) dargelegt. Beim Anblick Jesu und der Erfahrung der Annahme von Gott, hat er den Wunsch, seine Situation zu bereinigen und faßt den Entschluß: „Die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn

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H.-G. Fritzsche, Lehrbuch der Dogmatik, Bd. III, a.a.O., S. 244f. Vgl. auch: R. Albertz, Die Tora Gottes gegen die wirtschaftlichen Sachzwänge. Die Sabbat- und Jobeljahrgesetzgebung Lev 25 in ihrer Geschichte, in: ÖR 1995/3, S. 290-310. Dazu: E.M. Dörrfuss: Das Jobeljahr in Verkündigung und Theologie der Kirche. Systematisch-theologische Implikationen, in: ÖR 1995/3, S. 311-327.

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ich jemand betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück". Wir werden an den vierfachen Ersatz in der Erzählung von König David erinnert. Versöhnung ist Wiedergutmachung auch in einem weiteren Sinn, so daß selbst eigene Verschuldung bei Armut und Besitzverlust dem Ausgleich nicht entgegenstehen. Es gibt auch in der Geschichte des Christentums Beispiele eines solchen Verständnisses der christlichen Heilsbotschaft, meist allerdings bei kirchlichen „Außenseitern", wo sich soziale oder gar politische Aufgaben aus diesem Versöhnungskonzept ergeben haben. So haben z.B. die Quäker für die Abschaffung der Sklaverei gekämpft. Auch Martin 81

Luther hat das „Halljahrgesetz" positiv beurteilt. Schließlich ist hier das Versöhnungsverständnis als Friedensstiftung zu erwähnen. Diesen Aspekt enthält vollends der alttestamentliche Begriff des „Schalom" (Di^iP), der in seiner ursprünglichen Bedeutung das Wohlsein, die leibliche Gesundheit, aber darüber hinaus auch Wohlstand, Zufriedenheit, äußeren Frieden bis zum „Heil" 82 im vollsten Sinn des Wortes in der prophetischen Verkündigung meint. Es muß daran erinnert werden, daß es sich bei Di1?© um einen ausgesprochen sozialen Begriff im Sinne „der Ausgewogenheit aller Ansprüche und Bedürfnisse zwischen zwei Part83

nern" handelt. Die gleiche soziale Komponente hat auch der neutestamentliche Begriff der ειρήνη. Damit ist keineswegs seelischer Friede, aber auch nicht nur „Friede mit Gott" (Rom 5,1) allein gemeint. Wenn Gott als ein „Gott des Friedens" (1. Kor 14,33) bezeichnet wird, ist damit ausgesagt, daß Gott als der Garant eines friedlich versöhnten menschlichen Miteinanders zu verstehen ist. Die Versöhnung unter den Menschen und die Lösung der entsprechenden Konflikte ist fraglos das ureigenste Anliegen Gottes. Auch die Engelsbotschaft vom „Frieden auf Erden" (Luk 2,14) weist darauf hin, daß das Heil auf die Erde gekommen ist und ganz bestimmte soziale und politische Implikationen hat. Der Gott des Friedens (Hebr 13,20) und das „Evangelium des Friedens" (Eph 6,15) sind nicht voneinander zu trennen, wenn darauf im Neuen Testament auch nicht die Betonung liegt. 84 Die Friedensstifter werden selig gepriesen (Mt 5,9). Die Realität in dieser Welt macht allerdings deutlich, daß gerade Versöhnung als umfassender Friede in dieser Welt nie endgültig und vollkommen sein kann. Er ist letztlich eine Vision, die als endzeitliche Verheißung verkündigt wird. Im Alten Testament finden wir die messianische Weissagung vom zukünftigen Völkerfrie81

WA 16, S. 377; bei H.-G. Fritzsche, Lehrbuch der Dogmatik, Bd. III, S. 245. W. Dantine, Versöhnung, a.a.O., S. 55. 83 G. von Rad, Theologie des Alten Testaments, Bd. I: Die Theologie der geschichtlichen Überlieferungen Israels, München-Berlin 4 1963, S. 144. 84 W. Dantine, Versöhnung, a.a.O., S. 62f; W. Pannenberg, Der Friede Gottes und der Weltfriede, in: ders., Ethik und Ekklesiologie, Ges. Aufsätze, Göttingen 1977, S. 147. 82

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den und einem dereinstigen Friedensreich, die hier von zentraler Bedeutung ist. In Jes 2,4 ist davon die Rede, daß die Menschen „ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen" und „kein Volk wider das andere das Schwert erheben" wird und „hinfort nicht mehr lernen (wird) Krieg zu fuhren" (vgl. Mi 4,3). Für Jesaja ist diese Friedensvision zugleich eine universale, die die ganze Natur einbezieht. Das heißt auch, daß dieser Friede selbst vor naturhaft angeborener Feindschaft nicht Halt macht, sondern Natur verändern und konstruktiv umschaffen will. Denn das ist wohl mit der bildlichen Darstellung des Zusammenwohnens von Wölfen und Lämmern oder von Mardern und Böcken veranschaulicht, aber auch damit, daß ein kleiner Junge von Raubtieren und Schlangen nichts zu furchten braucht und der Löwe „Häcksel" fressen werde (Jes ll,6ff). Das ist ein Verständnis der Feindesliebe, das nicht an eine unwandelbare Natur des Menschen glaubt, sondern den Menschen veränderbar und anpassungsfähig auch dafür sieht, gerade Feindschaft und Feindseligkeit, die gewissermaßen auf einem Naturemp85

finden beruhen, zu überwinden. Aus solchen messianischen Friedensverheißungen kann das erwachsen, was Martin Buber die „eschatologische 86

Utopie" genannt hat. Gottes Versöhnungstat schließt ein, daß die getrennte Menschheit eine Verheißung von jenem Frieden erhalten hat und einen Traum, nicht von Trennung und Teilung, sondern von Versöhnung und Gemeinschaft träumen muß. Das ist damit gemeint, wenn gesagt wird, daß 87 Versöhnung universal ist und damit alle und alles einschließt. Darum gibt es keine Versöhnung von Individuum und Gesellschaft ohne „die Teilnahme aller Individuen der Menschheit an der Vollendung ihrer Bestimmung, wie sie in der christlichen Eschatologie [...] zum Ausdruck gekommen 88

ist". Sie hat ebenso eine kosmische Dimension, die gerade in unserer Zeit in ihrer Bedeutung für die Bewahrung der Schöpfung wichtig geworden ist.

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H.-G. Fritzsche, Lehrbuch der Dogmatik, Bd. III, a.a.O., S. 245. Nach: W. Dantine, Versöhnung, a.a.O., S. 59. J. Moltmann, Umkehr zur Zukunft, Gütersloh 21977, S. 99f. W. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. III, a.a.O., S. 631.

e) Die subjektive Dimension der Versöhnung mit sich selbst

Versöhnung:

Wenn man zwischenmenschliche Versöhnung nur von der „objektiven" (soteriologischen) Versöhnung Gottes mit dem Menschen her verstehen und beschreiben muß, so darf man auch nicht außer acht lassen, daß Versöhnung mit Gott, aber auch Versöhnung mit dem Bruder nur dann zum Ziel kommen kann, wenn man auch „mit sich selbst" versöhnt ist. Denn der Mensch, der sich in der Feindschaft zu Gott befindet, ist immer auch in sich und mit sich uneins. Die Zerrissenheit und Gespaltenheit gibt oft den Erfahrungshorizont seiner Entfremdung von Gott ab. Besonders die Auseinandersetzung zwischen Schuld und Schicksal wird - wie schon Paulus deutlich macht (Rom 7,14ff) - als Zerrissenheit in der eigenen Seele und Widerspruch im Inneren selbst erlebt. Haben wir jede der drei Dimensionen des Versöhnungsgeschehens einem „Amt Christi" zugeordnet, so ist es das „prophetische Amt", innerhalb dessen wir die „Versöhnung mit sich selbst" näher beschreiben oder verstehen können. Denn hier geht es um das Verständnis von Versöhnung abgesehen vom „objektiven Sühnegeschehen" durch den Tod Jesu, wie das im „hohenpriesterlichen Amt" beschrieben wird, und auch nicht um die Auswirkung jenes Versöhnungsgeschehens auf die Königsherrschaft Christi, also von Welt und Kosmos, das die „horizontale Dimension" des Versöhnungsgeschehens im Auge hat. Vielmehr handelt es sich hier um jenen Aspekt der Versöhnung, der am deutlichsten wird im dritten der drei genannten Typen der Versöhnungslehre, und zwar dem sogenannten „humanisierenden", wie ihn schon Abälard gegen Anselm vertreten hat und den wir dann klassisch wieder bei Albrecht Ritsehl finden. Diesen Theologen geht es darum, den Tod Christi nicht als kollektive Sühneleistung zu interpretieren, sondern als Unterstreichen und „Demonstration" der Predigt Christi, daß derjenige Mensch versöhnt ist, der sich ganz dem Willen Gottes ergibt, ganz mit ihm „konform" wird. Solcher Erweis der Nachfolge Christi bedeutet Einklang des Menschen mit Gott, was auf dem personalen, subjektiven Weg geschehen muß. Nicht die Sühnetat Gottes, sondern die Gesinnung und Bereitschaft des Menschen, der seine Tat annimmt und nachahmt, ist hier das Entscheidende. Die Gesinnung kann die objektive Tat des Opfers am Kreuz ablösen, ersetzen. Die Liebe tritt an die Stelle des Rechts. Die Liebe Christi, mit der er für uns stirbt, erweckt in uns die Liebe, durch die wir Gott lieben können, den Nächsten lieben und auch mit uns selbst versöhnt werden. Während in der Satisfaktionstheorie nach Anselm das Rechtsdenken vorherrscht - Gott muß Gerechtigkeit widerfahren; seine beleidigte Majestät fordert eine Sühnelei-

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stung, eine „Genugtuung" - ist Gott hier rein aus Liebe versöhnungsbereit, ohne Recht zu erhalten oder zu behalten. Gott wird als der Liebende gesehen, der keine Schwierigkeiten hat, den Menschen bedingungslos zu vergeben. Die Aneignung, das Widerfahrnis solcher Versöhnung geschieht nicht durch einen Sühneakt Christi am Kreuz, sondern durch sein Wort: „Herr, sprich nur ein Wort, so wird mein Knecht gesund", wie der Hauptmann sagt, der Jesus um die Heilung seines Knechtes bittet. Er vertraut auf dessen Wort und braucht dazu keine „objektive" Tat im Hintergrund zu wissen. Das Wort, und das heißt die Predigt - das „prophetische Amt" - , beschreibt nicht nur Versöhnung, sondern schafft Versöhnung. Allerdings gehört dazu die Aneignung: Versöhnt wird der allein, der „glaubt". Damit verlagert sich allerdings das Versöhnungsgeschehen in das Subjektive, in das Innere und wird ein „partikularistisches" Geschehen: nur Bestimmte, „Erwählte" haben daran Anteil. Dagegen wird in der mittelalterlichen scholastischen Theologie die Aneignung ekklesiologisch und sakramental beschrieben: Durch die Zugehörigkeit zur Kirche, die erforderlich ist, besitzt der Christ „die Heilsgaben" (Media salutis), welches die Sakramente sind, 89

und er erhält „Anteil" an ihren Segnungen. Was in dieser Anschauung bedeutsam sein kann, ist, daß es zur Versöhnung mit Gott und den Mitmenschen, zu ihrer vertikalen und horizontalen Dimension dieses „Einssein mit sich selbst" bedarf. Damit ist nicht ein Subjektivismus oder Partikularismus im gewöhnlichen Sinn gemeint - sofern auch Zwiespalt und innerer Kampf objektive Größen sind - , sondern meint etwas, was wir heute mit „Identität" beschreiben können. Versöhnung ist nicht der Gegensatz zu Identität, sondern schließt Identität ein, ja macht sie sogar erforderlich. Darum ist Versöhnung nicht zu verwechseln mit jeder Form der Harmonisierung. Wer „harmonisiert", will die Gegensätze ausschalten, die Mißtöne überspielen. Versöhnung dagegen kann Gegensätze durchhalten und Unterschiede akzeptieren. Sie können in der Versöhnung ausgetragen werden, weil man um eine größere verbindende Kraft weiß, nämlich die Kraft der Liebe. Versöhnung ist daher „in der Liebe zusammengehaltene", nicht harmonisierte Verschiedenheit oder Vielfalt, 90 „versöhnte Verschiedenheit". Was damit im einzelnen gemeint ist, besagt das Neuen Testament anhand einiger biblischer Gestalten. Petrus hatte, als er von Jesus berufen wurde, seine Identität als Fischer und als gewöhnlicher, einfacher jüdischer 89 90

H.-G. Fritzsche, Lehrbuch der Dogmatik, Bd. III, a.a.O., S. 233ff.

K.-H. Michel, Angefochtene Einheit - versöhnte Vielfalt. Impulse aus Gnadenthal, München 1990 (Münchener Texte Nr. 1), S. 15.

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„Frommer". Durch seine besondere Berufung durch Jesus kommt diese zunächst ins Wanken. Er will einer Konfrontation mit dem Nachfolgeleben, mit Jesus selbst ausweichen: „Herr, gehe weg von mir, denn ich bin ein sündiger Mensch" (Lk 5,8). Er lernt sich neu kennen. Diese (Sünden-)Erkenntnis ist die Erfahrung völliger Unversöhntheit mit Gott und mit sich selbst. Jesus beruft ihn trotzdem - oder gerade deswegen - zum Jünger, und er lebt immer wieder in dieser Spannung mit Gott und mit sich selbst, die nach „Versöhnung" ruft. Denn er war zwiespältig: er stieß an und „spurte" zugleich, er war übereifrig und versagte gleichzeitig, er glaubte und war doch „ungläubig". Er hatte Mut und doch Angst. Er versprach großspurig und verleugnete den Herrn doch. Nach seiner Verleugnung und dem Kreuzesgeschehen war er mit Jesus und sich selbst zerfahren. Die schöne Erzählung am See Tiberias (Joh 21,1-23) berichtet nun genau von dieser Versöhnung mit seinem Herrn und mit sich selbst. Das Große an dieser Geschichte ist nicht nur der Bericht von der Wiederannahme des Petrus, sondern von seiner Selbstannahme. Durch die Liebe Jesu wird er angenommen, doch die entscheidende Frage ist, ob er die Liebe erwidert und damit versöhnt ist mit sich selbst. Er kann es und erwidert: „Herr, du weißt, daß ich dich lieb habe". Daraufhin erfolgt die Beauftragung, die Herde zu weiden, die Einsetzung in das Apostelamt. Daraus folgt: Den Aposteldienst, der ein Einheitsdienst ist, kann nur übernehmen, wer in Gegensätzen und Spannungen versöhnend zu leben imstande ist. Versöhnend leben kann nur, wer mit sich selbst versöhnt ist, mit seiner Lebensgeschichte, seiner persönlichen Eigenart, mit seiner Geschöpflichkeit. Das heißt, seine neue Identität finden, die durch Versöhnung mit den anderen nicht aufgegeben wird, sondern Voraussetzung dafür ist. Ein anderes Beispiel ist der „Oberzöllner" Zachäus (Lk 19,1-10). Hier ist von einem Menschen die Rede, der nicht nur Anfeindungen von außen ausgesetzt war, der auch aus der (religiösen) Gemeinschaft mit Gott ausgeschlossen war und - vor allem - um seine Selbstachtung bangt. Indem Jesus bei ihm einkehrt und den großen Sünder seines Besuches wert achtet, nimmt er ihm die Selbstverachtung und schenkt ihm die Möglichkeit zu einem Neubeginn. Das Wort Jesu in dieser Situation: „Heute ist diesem Haus Heil widerfahren" bedeutet, daß Heil auch Wohlsein, Selbstannahme - nicht Selbstzufriedenheit - , innere Aussöhnung einschließt. 91 Es geht bei dieser Dimension der Versöhnung um den Frieden mit sich selbst und die Befreiung von sich selbst. Der „Frieden mit Gott" kann nicht losgelöst werden von dem Widerstreit zwischen äußerem und innerem 91

H.-G. Fritzsche, Lehrbuch der Dogmatik, Bd. III, a.a.O., S. 237.

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Menschen, den „zwei Gesetzen in meinen Gliedern" (Rom 7,14-25), der als „Unfrieden", als „Friedlosigkeit" erfahren wird. Dieser Friede ist gewiß nicht „Zufriedenheit" im Sinne der gelassenen Ruhe. Es ist vielmehr Gewißheit auch in äußerster Anfechtung, die zu Entschlossenheit in der Durchführung von Entscheidungen führt und ein eigenes Ja zu der Richtigkeit des einmal eingeschlagenen Weges beinhaltet. Befreiung von sich selbst bringt jenen Zug zum Ausdruck, durch den der Mensch sich dem Nächsten „frei" hingeben kann, ohne den ängstlichen Rückblick auf sich selbst, seine Schwachheit, seine Unfähigkeit, seine begrenzten Möglichkeiten. Das kann man auch auf die Haltung der Kirche überhaupt übertragen im Sinne der Forderung, „Kirche für andere" (Bonhoeffer) zu werden, indem man sich in den Dienst der anderen auch als Kirche stellt, ohne am eigenen, auch an der eigenen Tradition hängenzubleiben. Freiheit von sich selbst öffnet ebenso den Weg zum Rechtsverzicht, das heißt, auf das einem zustehende Recht, also die einem gebotene Rechtfertigung und damit auf Durchsetzung des eigenen Rechts gegen die zerstörerischen Mächte freiwillig zu verzichten (Mt 5,39). Befreiung von sich selbst ist somit Ausgangspunkt der Gewaltfreiheit und Anfang ver92

söhnenden Handelns, nicht nur versöhnlicher Haltung. Versöhnung mit sich selbst bedeutet - auf das Ganze gesehen - ganzer Mensch sein zu dürfen. Im ständigen inneren Konflikt, in dem der Mensch etwas „Höheres" oder gar „wie Gott" sein will, darf man zu den Grenzen des Daseins und der eigenen Möglichkeiten Ja sagen. Jenes „Versöhntsein mit sich selbst" hängt eng mit unserem Verhältnis zu Gott und auch zu dem Mitmenschen zusammen, mit dem man sich ständig vergleicht und an dem man nur allzu leicht die Kriterien für das eigene „Befinden" setzt. Wo weder das „Seinwollen wie Gott" noch das „Seinwollen wie der Nächste" das Jasagen zu sich selbst in Frage stellt, da sind wir mit uns selbst, mit unserem Nächsten und - vor allem - mit Gott versöhnt.

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Chr. Stückelberger, Vermittlung und Parteinahme, a.a.O., S. 384.

5. Drei ethische Grundprobleme der Versöhnung

Wenn auch „Versöhnung" ein Schlüsselbegriff der christlichen Dogmatik ist und die biblische und kirchliche Lehre sich am besten systematischtheologisch darstellen läßt, so beginnen allerdings die schwersten Probleme im Diskurs über die Versöhnung, sobald die Fragen behandelt werden, die als die ethischen bezeichnet werden können. Wie schwer die Antworten auf die Fragen nach Schuld und Vergebung, Entfremdung und Versöhnung, Sünde und Rechtfertigung sind, wird offenbar, wenn sie die ganze Fülle der „Konkretionen der Ethik" 93 einbeziehen. Es zeigt sich dabei, daß die theologische Ethik mit Begriffen arbeitet, die sie mit der Philosophie und anderen Grenzgebieten gemeinsam hat und - wird an das vorliegende Thema gedacht - gleichzeitig Fragen des Rechts, der Anthropologie und anderer Humanwissenschaften mitberücksichtigen muß. Die christliche Ethik ist das Gebiet, auf dem die Erwartungen des Christen und des Nichtchristen die größten Gemeinsamkeiten aufweisen. Das heißt ebenso, daß es hier um Fragen geht, die sich jeder Mensch stellt und auf die er Antworten sucht und nicht selten gerade von der Theologie und Kirche erwartet. Vergebung und Versöhnung, Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung sind Probleme, die nicht nur in der christlichen Theologie und auch nicht nur unter Christen verhandelt werden, sondern unter allen Menschen, die davon betroffen sind oder sich verantwortlich Gedanken über ihre „Lebensführung" machen. In diesem Sinne bezeichnet Trutz Rendtorff 94 die Ethik als „Theorie der menschlichen Lebensführung". Die konkreten Entscheidungen in den erwähnten Fragen, die Verhaltensweisen im einzelnen, der Umgang mit dem Mitmenschen, aber auch in gesellschaftlichen und politischen Bereichen sollen geprüft, bewertet und eingeordnet werden. Daraus ergeben sich Fragen, die Schuld und ihre Bewältigung betreffen. Bemerkenswert ist auch die Feststellung, daß die großen Diskurse in der Ökumene sich heute vornehmlich um ethische Fragen bemühen und daß es diese Dinge sind, die die Einheit der Kirche eher zu zerbrechen drohen als die dogmatischen Fra-

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So im Untertitel der Ethik von: T. Rendtorff, Ethik. Grundelemente, Methodologie und Konkretionen einer ethischen Theologie, Bd. I, Stuttgart-Berlin-Köln 2 1990. 94

R. Rendtorff, Ethik, Band I, a.a.O., S. 11.

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gen, wo viele Lehrunterschiede bereits als „nicht kirchentrennend" verstanden werden. 95 Es ist darum nicht weiter verwunderlich, daß die meisten Abhandlungen der letzten Jahre über „Versöhnung" diesen Fragen nachgehen. Daraus wird ersichtlich, mit welcher Fülle ungelöster und schwer lösbarer Probleme wir es bei dem Thema „Versöhnung" zu tun haben, wenn es um die ethische Dimension und ihre Implikation für das Ganze der Problematik geht. Im Anschluß an das bisher über „Versöhnung" Dargestellte soll die Fülle der Probleme nach drei Gesichtspunkten angeordnet werden, die sich an der Dreiteilung orientieren, die in den beiden vorangegangenen Kapiteln vorgenommen wurde, wobei in der biblischen Betrachtung ein rechtlicher, ein kultischer und ein christologischer Aspekt bzw. in der dogmatischen Betrachtung eine vertikale, eine horizontale und eine subjektive Dimension unterschieden wurde. Dementsprechend soll in der ethischen Fragestellung das Problem zunächst ebenfalls von seinem „rechtlichen" Aspekt aufgerollt werden, indem der Frage der Gerechtigkeit angesichts von Versöhnung nachgegangen wird [a) Versöhnung und Gerechtigkeit]. Sodann soll die Aufmerksamkeit, im Anschluß an den „kultischen Aspekt", dem Sühnebzw. Strafbedürfnis des Menschen gelten, das eine ernste Herausforderung für das christliche Versöhnungsverständnis darstellt [b) Die Opfer- und Täterproblematik in der Versöhnung]. Schließlich soll der spezifisch christliche Weg der Versöhnung gesucht werden, in der das Gerechtigkeitsgefühl des Menschen und sein Bedürfnis nach Sühne sowie der Ruf nach Vergebung und Versöhnung zu ihrem Ziel kommen [c) Versöhnung als Prozeß],

a) Versöhnung und

Gerechtigkeit

Die ganze Schwere der Problematik, um die es hier geht, wird paradigmatisch an der Umfrage deutlich, die Simon Wiesenthal im Anschluß an seine Erzählung „Die Sonnenblume" veranstaltet hat. Er bat namhafte jüdische und christliche Theologen, Philosophen, Politiker, Wissenschaftler und Schriftsteller zu dieser Erzählung Stellung zu nehmen, und hat 42 Kommentare dazu im Anhang seiner Erzählung dokumentiert. Erzählt wird die außergewöhnliche Begebenheit aus dem Lemberger Konzentrationslager im Jahre 1942, wo der Verfasser in einem Feldlazarett Dienst tat und eines Tages an das Bett eines sterbenden 21jährigen SS-Mannes gerufen wird, der

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Vgl.: The Ecumenical Dialogue on Moral Issues: Potential Sources of Common Witness or of Divisions. A Study Document of the Joint Working Group between the Roman Catholic Church and the World Council of Churches, reprinted from: ER 1996, Vol. 48/2, S. 5 u.ö.

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ihm seine Mordtaten an Juden - hundertfünfzig oder vielleicht zweihundert Frauen, Kinder, Greise, die in einem Haus bei lebendigem Leib verbrannt wurden - beichtet. Ohne Zweifel ist die Reue dieses Mannes echt: Er rechtfertigt sich nicht, beschönigt nichts, er hat auch keine Gelegenheit, etwas wieder gut zu machen, denn seine Stunden sind gezählt - eine Granate hat ihn getroffen. Er will nicht unerlöst sterben und erhofft etwas schier Unerfüllbares: Vergebung von einem aus dem Volk derer, denen dieses Leid angetan wurde. „Ich stehe auf, sehe in seine Richtung, auf die gefaltenen Hände - ich habe mich entschieden. Ohne ein Wort verlasse ich das Zimmer." Die Antworten auf die Frage, ob er damit recht gehandelt habe, sind ebenso erschütternd wie diese ganze Begebenheit. Alle sind sich darin einig, daß diese Bitte um Vergebung eine Zumutung war, die an das Unerträgliche grenzt. Einige meinten, daß der Erzähler der „Sonnenblume" nicht vergeben konnte und durfte. Andere vertraten die Ansicht, daß er weder vergeben konnte noch durfte, weil man nur verzeihen kann, was einem selbst wiederfahren ist (Kurt von Schuschnig). Ebenso reagieren andere: „Nach jüdischer Tradition kann sogar Gott selbst nur die gegen ihn begangenen Sünden vergeben, nicht aber die gegen Menschen begangenen" (Herbert Gold). Ähnlich urteilt Helmut Gollwitzer: „Wahrscheinlich [...] hat auch dieses jüdische Wissen mitgesprochen, daß das wirkliche Vergeben nicht eine Möglichkeit ist, die in unserer Hand liegt". Aufschlußreich ist die Aussage von Albert Speer: „Sollen Sie, Simon Wiesenthal, verzeihen, wo ich selber mir nicht verzeihen kann?" Weiter geht Carl Zuckmayer: „Das ,ego te absolvo [...]' steht nur dem Priester zu." Und doch gibt es auch die andere Antwort: „(Ich glaube), daß es besser gewesen wäre, ihm zu verzeihen, indem Sie sich für einen Augenblick an die Stelle eines Priesters versetzt [...] und ihm zum Beispiel gesagt hätten: ,Ich könnte dir nur das Böse verzeihen, das du mir angetan hast, wie könnte ich es dir in ihrem Namen vergeben? Was du getan hast, ist für Menschen unverzeihlich. Aber im Namen deines Gottes, ja, da verzeihe ich dir'" (Jaques Maritain). Der holländische Bischof Bluyssen macht auf einen anderen Gedankenzusammenhang aufmerksam: „Verzeihen hätte bedeutet, daß ein Mensch bereit wäre, ihn trotz seiner entsetzlichen Vergangenheit als Mensch zu akzeptieren [...] In dieser Situation hätte Vergeben bedeutet, daß der reumütige Verbrecher trotz seiner Verbrechen und dank seiner Reue wieder in die Menschengemeinschaft aufgenommen wäre. Beide wären einander nahegekommen, hätten sich gefunden in der gemeinschaftlichen Erkenntnis, daß es keine ,Herrenmenschen' und keine Untermenschen' gibt, daß die Trennungslinie ausgelöscht werden muß [...] Dann wäre zwei Menschen [...] gemeinsam der Durchbruch des circulus vitiosus gelungen [...] Es wäre ein Fünkchen Hoffnung auf eine bessere, mensch-

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lichere Zukunft gewesen [...]." Und Rabbi Friedländer sagt: „Nachdem wir uns verloren haben, müssen wir uns als Menschen wiederfinden". An dieser Geschichte entzünden sich viele Kontroversfragen. Zunächst wird uns auch hier bewußt, daß es ein weites Spektrum im Verständnis von Schuld und daher auch Vergebung gibt. Darauf macht eine Antwort zu der erwähnten Begebenheit im Lazarett des Lemberger Konzentrationslagers aufmerksam: politisch will ich von Vergebung nichts hören [...] Es darf, was Sie und ich erlebt haben, nicht wieder geschehen, niemals und nirgendwo. Darum [...] verweigere ich mich jeder Versöhnlichkeit [...] Ihr SSMann war ein Teufel und - vielleicht auch ein armer Teufel. Es kommt auf ihn und sein Sterben nicht an" (Jean Améry). 96 Es muß deutlich werden, daß die unterschiedlichen Aspekte des Schuldverständnisses mit dafür ein Grund sind, daß wir auch als Christen Schuld mitunter für unvergebbar halten. Es kommt darauf an, das Spezifische der Versöhnung zu begreifen, die es trotz aller politischer, rechtlicher, psychologischer, medizinischer oder sonstiger Schuld geben kann und geben muß. Hartmut von Hentig 97 hat „Typen der Schuld" herausgearbeitet in der Erkenntnis, daß Worte wie „Schuld" und „Vergebung" ganz unterschiedliche Empfindungen und Vorstellungen im Menschen auslösen: Vom Verkehrsdelikt über Diätfehler bis hin zu Erziehungsfehlern oder politischem Versagen bezeichnen wir vieles sehr Unterschiedliche mit dem gleichen Wort „Sünde" oder „Schuld", wobei die Grade der Verantwortlichkeit recht verschieden sind: Irrtum, Fahrlässigkeit, Vergehen, Frevel, Straftat usw. So ist Schuld - nach Hartmut von Hentig - zunächst eine „condition humaine", so daß der Mensch oft aus Unwissenheit schuldig wird (Ödipus, Parzival). Darum gilt: „Die großen Täter sind die großen Opfer", insofern sie von der Außenwelt doch als schuldig erklärt werden, während sie sich unschuldig vorkommen, weil sie ihre Schuld mit objektiven, von außen kommenden Gründen erklären können und darum selbst Opfer von Faktoren sind, für die sie nicht verantwortlich gemacht werden sollen (Erbmassen, Veranlagung, bestimmte Umstände, Unwissenheit, ethische Konfliktsituationen u.a.). Schuld ist aber ebenso „eine Störung des Gleichgewichtes", eine „Beleidigung der Gerechtigkeit", der man darum mit Rache antwortet, d.h. die Sühne fordert. Das im mosaischen Gesetz vorliegende ius talionis schreibt gleichzeitig Grenzen für die Vergeltung vor: „Auge um Auge, Zahn um 96 Die einzigartige Begebenheit, die Simon Wiesenthal berichtet und die ihn offenbar nicht zu Ruhe hat kommen lassen, wird wiedergegeben bei: G. Müller-Fahrenholz, Vergebung macht frei, a.a.O., S. 1 Iff und H. von Hentig, „... der werfe den ersten Stein". Schuld und Vergebung in unserer Welt, München-Wien 1992, S. 6Iff. 97

55ff.

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Vgl. zum Folgenden: Hartmut von Hentig, „... der werfe den ersten Stein", a.a.O., S.

Zahn" - nicht mehr durfte gefordert werden. Hier werden wir darauf aufmerksam gemacht - was in der ganzen Dramatik der Erzählung von Simon Wiesenthal deutlich wird - , daß Schuld sich weder abwaschen noch abkaufen, aber noch weniger vergessen oder verrechnen läßt. Schuld kann man anscheinend nur aufwiegen: durch Rache bzw. Sühne. Ein anderer wichtiger Zug im Verständnis der Schuld ist der Hinweis darauf, daß Schuld das Bewußtsein des begangenen Unrechts und die Möglichkeiten, es zu vermeiden, voraussetzt. Im modernen Rechtsdenken wird von der „Schuldfähigkeit" gesprochen. Psychische, soziale, ökonomische, geographische Bedingungen spielen dabei eine Rolle. Schuld kann etwas mit psychischer Krankheit oder „sozialer Deprivation" zu tun haben. Die Beurteilung einer Tat verlangt also die Berücksichtigung der Bedingungen überhaupt, unter denen sie geschehen ist. Damit ist freilich der rechtliche Sinn von Schuld unterlaufen. Auf der anderen Seite kann Schuld auch die sublime Form haben, wo sie gar nicht als Tat verstanden wird, auf die man mit einer anderen Tat - Richten oder Vegeben - antworten kann, sondern als das nicht Getane, das in Gedanken Getane, das Unterlassene aus mangelnder Entschiedenheit, mangelndem Mut, mangelnder Wahrheit. Hierher gehört die ganze Grauzone zwischen Schuld und Unempfindlichkeit, Schuld und Mitläufertum. Diese Dimension der Schuld spielt im Neuen Testament aber eine entscheidende Rolle und hat das christliche Bewußtsein von Schuld entscheidend geprägt. Der Diskurs um die Frage nach Schuld und Vergebung setzt im allgemeinen mit der Vorstellung von Schuld als Gesetzesverstoß ein: Das ist auch in dem Sinn gemeint, daß Rechtsvorstellungen, selbst wenn es nicht um richterliche oder gesetzliche Fragen geht, dabei eine grundlegende Rolle spielen. Aufschlußreich für uns ist, daß auch die Begriffe, mit denen die Schuld nachgewiesen wird, mit den „Straftaten" bezeichnet werden, die von dem Ausmaß der Strafe her definiert werden. So gibt es z.B. die Einteilung nach „Verbrechen" („eine mit Zuchthaus oder mit Einschließung von mehr als fünf Jahren bedrohte Handlung"), „Vergehen" („ein mit Einschließung bis zu fünf Jahren, mit Gefängnis oder mit Geldstrafe von mehr als 150 DM oder mit Geldstrafe schlechthin bedrohte Handlung") und „Übertretung" („eine mit Haft- oder Geldstrafe bis zu 150 DM bedrohte Handlung") im Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland. Gerechtigkeit im rechtlichen Sinn ist damit auf ein Höchstmaß von Eindeutigkeit angelegt, sie muß daher definitorisch, setzend, positivistisch verfahren. Damit wird eine „gerechte" Eingliederung des Einzelfalles in das gegebene Gesetz angestrebt. Hier geht es nicht um Schuld, die man empfindet, erleidet, die man begeht; diese wird streng getrennt von der Schuld, die geahndet wird. Schuld ist das, wofür Strafe droht, wofür es um das „Aufwie-

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gen von Schuld durch Strafe" geht, die als „Wesenlosigkeit des Richtvorgangs" angeprangert wurde (Fr. Nietzsche). Diese „positivistische Rechtsauffassung", hat sich in allen modernen Staaten durchgesetzt. Sie läßt, weil sie auf dem Buchstaben des Gesetzes fußt, dem Einschätzen dessen, was durch „Weisheit" im Rechtsurteil erreicht werden könnte - etwa durch einen Spruch wie des Königs Salomo, zu einer Zeit, als das Richten eine Funktion des Königs oder Herrschers war - keinen Raum (z.B. um dadurch ein Beispiel zu geben, Hilfe zu leisten, Versöhnung zu schaffen). Die Begnadigung oder Amnestie für eine bestimmte Kategorie von überführten oder vermuteten Schuldigen ist eine öffentlich bekundete Bereitschaft zum Vergessen (Amnestie ist Amnesie). Verzeihen heißt hier Vergessen. Doch gerade darüber sagt eine alte jüdische Weisheit: „Vergessen verlängert das Exil" (Diese Worte stehen über der Gedenkstätte Yadvashem in Jerusalem, 98

die an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert.). Hier ist Vergebung ein Ersatz für Gerechtigkeit; die Gerechtigkeit wird in bestimmten Fällen ausgeschaltet, vergessen, grundsätzlich bleibt sie jedoch bestehen. Doch genau an diesem Punkt setzt die Frage ein, wie sie sich in der christlichen Ethik der Versöhnung stellt: Kann Vergebung ein Ersatz für Gerechtigkeit sein? Während Strafe ein Mittel der Machtausübung und Begnadigung ein noch verstärkteres Mittel dieser Machtausübung ist (darüber verfügt nur die „höhere Instanz"), steht es um die christliche Vergebung anders. Es ist nicht so, daß Schuld nun einfach vergessen, verschwiegen, nicht mehr beim Namen genannt, also ausgelöscht wird wie bei der Begnadigung, wo man seine Straftaten offiziell nicht mehr angeben muß. Die Vergebung wurzelt nicht in unserem Rechtsbewußtsein sondern in dem Bewußtsein der existenziellen Bedürftigkeit des Menschen. Diese wird in der fünften Bitte des Vaterunsers deutlich: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern". Vergebung kommt aus der Barmherzigkeit und wird selbst zum Ausdruck der Barmherzigkeit. Darum gehört zur Vergebung im christlichen Sinn etwas dazu, was mit den Kategorien des Rechts und der Gerechtigkeit nicht erfaßt werden kann. Vergebung muß erbeten sein und sie setzt ein Schuldbewußtsein voraus. Frieden und Versöhnung wiederum kann nicht auf Dauer erlangt werden ohne Gerechtigkeit, und also nur auf der Grundlage einer gerechten Ordnung. Das heißt andererseits, daß es Versöhnung nur „in der Wahrheit" gibt, und zwar „in einer Wahrheit, die wir suchen, und in der Wahrheit, in deren Licht wir uns stellen können, ohne geblendet zu werden [...]. Versöhnung setzt die gegenseitige Bemühung um Wahrheit voraus. Alles 98

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H. von Hentig, „... der werfe den ersten Stein", a.a.O., S. 91.

andere wäre nur Zudecken einer schwärenden Wunde." 99 Friedrich Schorlemmer weist darauf hin, daß es so etwas wie ein Tribunal geben müßte, das „Unterscheidungen festzuhalten hätte zwischen menschlicher und göttlicher Gerechtigkeit, Begnadigung und Gnade, Sühne und Versöhnung, unserer Wahrheitssuche und der Wahrheit". Politisch gesehen hätte das Tribunal die Aufgabe, daraufhin zu wirken, daß „die Funktionsmechanismen einer Diktatur erkennbar werden und die Notwendigkeit einer permanenten Erringung von Demokratie, damit sie nicht allmählich oder plötzlich in die Diktatur zurückverfällt". Juristisch hätte das Tribunal die Aufgabe, „ein breiteres Bewußtsein für den Unterschied zwischen Moralität und Legalität zu schaffen, damit vom Rechtsstaat nicht erwartet wird, daß er Rache übt, ohne das damals geschriebene Recht zu beachten". Überhaupt müßte es das Bewußtsein wachhalten, in den Kategorien der Wahrheit damals zu denken und nicht von der gegenwärtigen Wahrheit auszugehen. Freilich ist andererseits richtig, daß Widerstand gegen das geschriebene Gesetz geboten ist, „wo es den Grunderkenntnissen und Grundsetzungen des Menschenrechts widerspricht [...] Die Menschenrechte müßten als übergeordnete Rechte in das Bewußtsein des Volkes kommen. Auch die Grenzen dessen, was durch den Rechtsstaat erreichbar ist, sind aufzuzeigen". Moralisch hätte das Tribunal den Auftrag, „ein Gefühl für Gut und Böse zu erneuern". Gemeint ist hier, daß es eines Lernprozesses bedarf, durch den bewußt wird, „wohin bloße Befehlsausübung und eine Gehorsamsdressur führen, und die Gewissensbarriere des einzelnen zugunsten des Ganzen niedergerissen wird". Psychisch kann das Tribunal das Ziel haben, „dem Entlastungsbedürfnis zivilisierte Formen zu geben und die Haßverschiebung und Schuldverschiebung auf einzelne zu vermindern". Allerdings braucht das Tribunal ebenso „ein strenges Reglement zum ,Täter- und Opferschutz' beim Prozeß der Auseinandersetzung". Das alles heißt: „Versöhnung ist erst möglich, wo zur Sprache gekommen ist, was war und wer wir waren und warum das so war". Wenn demnach „christliches Denken für gesellschaftliche Praxis relevant sein will, muß der Zusammenhang zwischen Schuld und Versöhnung vor dem Zusammenhang von Schuld und Sühne rangieren. So können Menschen miteinander freiwerden für gemeinsame Zukunft, damit nicht fortwährend das Gestern das Heute umklammert". 100 Wenn wir also dem Problem „Versöhnung und Gerechtigkeit" als Christ auf den Grund gehen, so muß der biblisch-theologische Begriff der „Gerechtigkeit" deutlich in Sicht kommen. Es ist bezeichnend, daß die Begriffe

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Fr. Schorlemmer, Versöhnung in der Wahrheit. Nachschläge und Vorschläge eines Ostdeutschen, München 1992, S. 265. 100 Fr. Schorlemmer, Versöhnung in der Wahrheit, a.a.O., S. 262-266.

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in der Bibel nicht Gegensätze sind, sondern zusammengehören. Die synonyme Verwendung von npT2 und Di^tS im Alten Testament wie ihre innere Verflechtung deuten daraufhin, daß dV?B die n p i a voraussetzt und ersteres das Ergebnis des letzteren ist. Jahwes Willen zur Vergebung und Versöhnung ist nie ein Verdrängen des Unrechts oder ein konfliktscheuer Gerechtigkeitsverzicht. Auf die heilige Schrift kann sich der Vorwurf nicht berufen, daß Gott zu einem nachsichtigen, schwächlichen „lieben Gott" degradiert wird, so wie ihn Voltaire karikiert hat: „Gott wird euch vergeben, denn das ist schließlich sein Geschäft". Erlösung des Menschen von Schuld geschieht nicht durch Verdrängung, sondern Verarbeitung. Dazu ist die Kainsgeschichte aufschlußreich: Dieser wird bestraft und erfährt die Gerechtigkeit, aber gerade aufgrund dessen die Barmherzigkeit Gottes. Die Gerechtigkeit Gottes reicht weit über die „Justitia" des römischen Rechtsdenkens hinaus. Die göttliche Gerechtigkeit ist nicht an einer Rechtsnorm oder Rechtsordnung zu messen. Gerecht im Sinne von np"IS ist dementsprechend „wer dem anderen gerecht wird". Sie ist nur zu verstehen vom Willen Gottes zur Rettung und zum Heil her, die in Verbindung steht zu seiner Güte, Treue und Liebe. Sie bleibt nicht beim „forensischen" Aspekt stehen und schließt Vergebung und Barmherzigkeit ein. Während sich im abendländischen Rechtsdenken Recht und Liebe ausschließen, stellt die biblische Gerechtigkeit eine Einheit von Recht und Gnade dar. Nicht die „blinde Justitia" ist damit gemeint, sondern das sehende Recht. Strafen und Sanktionen sind Schritte nicht zum Tod und zur Vernichtung, sondern zu Heil und Erbarmen. Damit wird die „Menschenfreundlichkeit" (Tit 3,4) zu einer zentralen Dimension der Gerechtigkeit Gottes. „Sühne" als Reaktion auf Schuld heißt hier nicht Zufügung eines Übels an den Täter, sondern will einen positiven Prozeß der Reintegration zwischen Menschen, der Heilung eines zerbrochenen personalen und sozialen Zusammenhanges umschreiben. Das Verhalten Gottes in seiner Gerechtigkeit wird zum Paradigma für das zwischenmenschliche Verhalten beim Ausüben der Gerechtigkeit untereinander.101 Von diesem Wesen der Gerechtigkeit her wird der Sinn der Strafe anders definiert als durch sein abendländisches forensisches Verständnis, das sich auch in die Theologie und in die kirchliche Praxis eingeschlichen hat. Die Wiedergewinnung des verlorenen Bruders ist der zentrale Zweck des Rechtes und der Strafe, die Jesus als Vergebung und Versöhnung verkündigt hat (Mt 5,23ff). In 1. Joh 3,10 wird Gerechtigkeit und Bruderliebe direkt in Parallele gesetzt. Gemeint ist die „Gerechtigkeit in Liebe". Das

101 E. Wiesnet, Die verratene Versöhnung. Zum Verhältnis von Christentum und Strafe, Düsseldorf 1980, S. 77-84.

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Neue Testament verwirft die Rache und Vergeltung als Sinn der Strafe. Strafe hat zum Ziel, den Bestraften zur Umkehr zu bewegen. Die Strafe hat also eine pädagogische Grundabsicht. Sinn von Sühne ist nicht einfach „Büßen", das Erleiden eines Strafübels, sondern das gegenseitige Bemühen von Opfer und Täter, die durch die Tat zerstörte und zerbrochene Gemeinschaft wieder aufzubauen. Damit geht es um einen „dialogischen Prozeß 102 der Versöhnung". - Der „Opfer- und Täterproblematik" bzw. der „Versöhnung als Prozeß" sind die folgenden Abschnitte gewidmet. b) Die Opfer- und Täterproblematik

in der

Versöhnung

Wir haben gesehen: Das menschliche Gerechtigkeitsempfinden verlangt danach, daß die Schuldigen gefunden und bestraft werden. Die Strafe wird als Vergeltung, als Rache verstanden, damit den Opfern gegenüber „ausgleichende Gerechtigkeit" widerfährt. Wenn dann von Versöhnung gesprochen und Schritte zur Versöhnung unternommen werden, so wird von einem solchen Verständnis her ins Feld geführt, die Täter würden ungerechtfertigt begünstigt und Vergangenheitsbewältigung verhindert werden. Das deutet darauf hin, daß es unterschiedliche Schuldwahrnehmungen gibt, derer man sich bewußt werden muß. Da ist zunächst die Schuldwahrnehmung aus der Perspektive des Täters. Der Täter ist derjenige, der Schuld auf sich geladen hat oder mitschuldig geworden ist. Seine Tat oder sein Verhalten hat verursacht oder dazu beigetragen, daß andere leiden mußten. Ihm gegenüber steht die Schuldwahrnehmung aus der Perspektive des Opfers. Es ist ein Mensch, der von den Auswirkungen der Schuld anderer betroffen ist und dessen Leben dadurch geschädigt wurde, oft so, daß unwiederbringliche Verluste oder nicht mehr gutzumachende Schäden entstanden sind. Beide stehen im Scheinwerferlicht der öffentlichen Meinung, die Klärung, Bestrafung oder Versöhnung fordert, je nach dem, wie sie eingestellt ist. Die Art, wie die Öffentlichkeit auf die Fälle von Tätern und deren Opfer reagiert, ist wiederum entscheidend für den Prozeß der Versöhnung oder umgekehrt dafür verantwortlich, daß Versöhnung gar nicht möglich wird. Es geht in der heute sehr aktuellen Diskussion über „Vergangenheitsbewältigung" darum, wie der Klärungs- oder Versöhnungsprozeß in Gang gebracht wird. Die reale Situation - wie sie sich in der Öffentlichkeit widerspiegelt - ist, daß die Täter oder Mitbetroffenen, so gut es geht, die Schuld leugnen, weil sie meinen, für das begangene Unrecht nicht verantwortlich zu sein, indem sie auf besondere Umstände (gesellschaftliche Zu-

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E. Wiesnet, Die verratene Versöhnung, a.a.O., S. 118-126.

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stände, Rechtslage usw.) hinweisen oder die Schuld auf andere schieben. Die Opfer wiederum werden häufig manipuliert. Ihr Leiden wird weniger im Blick auf Wiedergutmachung und Aussöhnung ins Bewußtsein der Öffentlichkeit gebracht als dazu verwendet, Entrüstung, Empörung und infolgedessen Desavouierung des Täters zu erreichen, nicht selten mit politischen Absichten, Menschen zu Fall zu bringen oder ihnen eine mögliche Karriere zu verbauen. Das ist eine subtile oder heuchlerische Form der Rache und Vergeltung seitens des Opfers am Täter. Diese Handlungsweise findet wiederum breite Zustimmung und Unterstützung seitens der Öffentlichkeit, die Vorverurteilungen, Verdächtigungen, Anklagen und Entlarvungen für öffentliche Zwecke ausnützt. Von dieser Situation aus ist es schwer, die theologische Dimension der Versöhnung ins Spiel zu bringen. Denn die Opfer- und Täterproblematik von Schuld und Vergebung hat ihre Schwierigkeit darin, daß es eben im Wesen der Sünde liegt, daß Schuld abgeschoben wird, wie schon die Sündenfallgeschichte in Gen 3 zeigt. Reklamierung der Schuld aber führt gerade zu jenem Versteckspiel, das in dieser Urgeschichte menschlicher Sünde meisterhaft beschrieben wird. Umso mehr aber ist das der Fall, wo der Mensch um seiner Schuld willen öffentlich angeprangert wird. Denn genau das Schuldbekenntnis, das damit erwartet wird, ist so nicht möglich. Gerade das aber geschieht häufig in der heutigen Gesellschaft: Leute sollen womöglich vor laufender Kamera oder in Interviews für die Presse ihre Schuld eingestehen, nicht selten aufgrund von schriftlichen Dokumenten oder Anzeigen, deren Echtheit im Vorfeld meist gar nicht erwiesen ist. Dem gegenüber bedarf es für das Bekennen von Schuld einer zwischenmenschlichen Haltung, sozusagen eines solidarischen Wissens um das Sünder-Sein des Menschen, die sich zwar nicht mit der Sünde, aber mit dem Sünder solidarisiert, so daß der Schuldner sich als Mensch angenommen weiß. Der Schuldner soll mit seiner Schuld konfrontiert, aber als Person nicht mit ihr identifiziert werden. Im christlichen Verständnis der Versöhnung ist das Gesetz des „Rechtbehaltens" und des sich gegenseitigen Ausspielens aufgehoben, im Wissen, daß beide auf Vergebung angewiesen sind: „Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern". Hier tritt der Beter des Vaterunsers seinen „Schuldigern" gegenüber als Gläubiger auf, den Schuldnern also, die auf ein Entgegenkommen des Gläubigers oder ein Zeichen der Versöhnungsbereitschaft warten. Statt dessen werden Gläubiger heute so leicht die Kerkermeister und Helfershelfer der Schuld. Es ist daher eine wichtige Einsicht, daß Versöhnung durch Vergebung vor der Öffentlichkeit, durch Anklage mit Hilfe der Medien oder sonstiger Mittel öffentlicher Foren kaum möglich ist. Die „öffentliche Buße" der alten Kirche hatte andere Hintergründe. Hier ging es - wie wir noch sehen

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werden - um bereits öffentlich bekannte Schuld (vor allem um Abfall von Christus) und nicht darum, unbekannte, heimliche Sünde ans Tageslicht zu bringen und Menschen als „Täter" zu entlarven, indem sie auf ihre Opfer hingewiesen werden. Andererseits war früher auch die „Öffentlichkeit" eine andere: der Christ wußte sich vor Gottes Augen gestellt und nahm sich vor ihm - nicht vor der menschlichen Gesellschaft mit ihren forensischen Kriterien der Schuld - als Sünder wahr. Die heutige Öffentlichkeit dagegen ist sozusagen an die Stelle Gottes getreten. Wo das „Gericht Gottes" entfällt, sind Menschen sich selbst überlassen und geraten gegenseitig in die Situation, die Rolle des Klägers, Zeugen, Richters oder Verteidigers anderer 1 fìì Menschen - in wechselnder Besetzung - selbst zu spielen. Typisch für diese Situation ist dabei die sogenannte „Fixierung auf die Täter". Sie ist dadurch zu erklären, daß in der abendländischen Theologie der Sünder als der mit Gott entzweite Mensch im Mittelpunkt steht. Die von uns oben aufgewiesene vertikale Engführung unseres theologischen Denkens bestärkt den heutigen Menschen in seiner „Täterfixierung". Demgegenüber muß es aber auch eine „Opferorientierung" geben. Die Befreiungstheologie hat auf diesen Aspekt besonders aufmerksam gemacht. Die Sünde des Täters hat Folgen für das Opfer; Sünde hat also nicht nur eine theologische, sondern auch eine soziale Dimension. Gerade in der Versöhnungsproblematik ist also die Sicht des Opfers wichtig: Schuld ist nicht Schuld „an sich", sondern andern gegenüber. Es geht demnach darum, daß bei der Vergebung und Versöhnung auch die Frage der Wiedergutmachung oder Schadenbehebung für das Opfer beachtet wird. Vergebung der Sünden muß greifbar werden als Befreiung von den Zwängen der Gewalt, Heilung erlittener Schmerzen, Befriedung zerstörter Verhältnisse. 104 Wir sprechen immer nur vom „Sündigen" („Täterfixierung"), doch gibt es auch Menschen, die „be-sündigt" worden sind („Opferorientierung"). Während es diese Passivform im Deutschen nicht gibt, existiert sie in anderen Sprachen, wie z.B. im Rumänischen. 105 In Südafrika hat die Gründung der „Wahrheits- und Versöhnungskommission" dazu beigetragen, daß dieser Aspekt deutlich hervorgehoben wurde. Die „Opferorientierung" besteht hier darin, daß die Würde des Opfers wieder aufgerichtet wird, die sich etwa daran zeigt, daß eine spürbare materielle Unterstützung der Verelendeten in Gang kommt. Während die „Täterfixierung" in der klassischen Gerichtsbarkeit im

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V. Weymann, Vom Zwang zur Unschuld befreit? Zur Auseinandersetzung mit und Befreiung von Schuld, 1997 (Typoskript), S. 3. 104

G. Miiller-Fahrenholz, Vergebung macht frei, a.a.O., S. 28.

105

„päcälit" im Rumänischen heißt „betrogen sein" und steht im Zusammenhang mit dem Wort „a päcätui" = sündigen, von päcat = Sünde.

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Vordergrund stehen muß, indem vor dem Gericht die Schuld des Täters zweifelsfrei erwiesen werden soll, tritt in der Gestalt der „Anhörung" oder der „Seelsorge" der beleidigte und beschädigte Mensch in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Neben dem „punitiven Aspekt" stellen diese die aufrichtend-konstruktive Seite der Gerechtigkeit wieder her. Auch hier wird deutlich, daß Aufarbeit der Vergangenheit nicht Rache und Vergeltung am Täter zum Ziel hat, sondern Kompensation und Restitution für das Opfer als Wiedergutmachung. 106 In welchem Sinn ist solches möglich? Im Alten Testament werden bestimmte Verfahrensweisen angeordnet, die eindeutig die Wiederherstellung des Rechtes statt die bloße Bestrafung im Auge haben (Ex 22,6-14; Num 5,5-10; 14,20-23; 22,13-14). Vergebung ist gebunden an Wiedergutmachung (Lev 5,16-6,7). Ein wesentliches Ziel der Bestimmungen über die Wiedergutmachung besteht darin, die Hindernisse zu beseitigen, die einer künftigen Versöhnung zwischen dem Geschädigten und dem, der ihn beschädigt hat, im Wege stehen. 107 Es geht also in der Versöhnung gar nicht allein um „Vergangenheitsbewältigung", sondern um Eröffnung einer gemeinsamen Zukunft. Die Aufarbeitung der Verbrechen, Beleidigungen und Feindschaften in der Vergangenheit kann nur dann Versöhnung zwischen Einzelnen oder zwischen Menschengruppen bringen, wenn sie zugleich auf die Gestaltung neuer tragbarer Verhältnisse für die Zukunft bedacht ist und nichts tut, was diesem entgegensteht, wie das bei Racheakten und dem punitiven Charakter des „Rechts" der Fall ist. „Opferorientierung" heißt dann ebenso, daß im Sinn des christlichen Glaubens die Folgen der Schäden am Opfer aufgrund schuldhaften Handelns der Täter sich auch zum Segen auswirken können (Rom 5,20: „Wo die Sünde mächtig geworden ist, ist die Gnade noch viel mächtiger geworden"). Die Gnade Gottes kann das Böse in Gutes verwandeln. Das Unheil des Kreuzes hat Gott in den größten Segen für die ganze Menschheit gewandelt. Ein Symposion in Kronstadt/Rumänien im Mai des Jahres 1997, wo der sogenannte „Schwarze-Kirche-Prozeß" aus dem Jahre 1958 aufgerollt wurde, bei dem etwa 20 Kronstädter Deutsche aufgrund von lächerlichen und fadenscheinigen Anschuldigungen zu hohen Strafen verurteilt worden waren, stand unter dem Thema „Kann aus Leiden Segen werden?" Diese Frage wurde von vielen der „Opfer", die bei dem Symposion anwesend waren und dazu sprachen, bejaht, wenn auch klar war, daß dies nur in der Perspektive von nachher geschehen kann und nicht bedeuten darf, daß

106

G. Milller-Fahrenholz, Kann die Wahrheit ein Volk versöhnen? Erfahrungen in Südafrika, ÖR 1997/2, Frankfurt a.M. 1997, S. 173f. 107 Vgl. J.E. Adams, 70x7. Das Einmaleins der Vergebung. Gießen-Basel 21993, S. 143ff.

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die Geschehnisse vergessen oder verdrängt werden. Der Ruf nach weiterer Klärung und Beschäftigung mit dieser Vergangenheit blieb bestehen. Was Elie Wiesel einmal so ausdrückte, beschäftigt eigentlich die meisten „Opfer" (ohne daß sie dies Wort immer oder voll beherzigen können): „Es ist nicht unsere Aufgabe zu richten; unsere Aufgabe ist es, die Geschichte zu erzählen [...] Warum ich schreibe? Um jene Opfer der Vergessenheit zu entreißen". 108 Die „Täterfixierung" wird auch dann relativiert, wenn man mit dem Wort „Opfer" differenzierter umgeht. Friedrich Schorlemmer weist für DDR-Verhältnisse daraufhin, daß manche, die sich jetzt selbst als Opfer zu erkennen geben, eine Genugtuung verlangen, die bisweilen über das hinaus geht, was sie selbst erfahren haben. Tatsache ist, daß sich heute fast alle, auch die Täter, als Opfer, Verführte, Mißbrauchte, Gezwungene empfinden. „Das Wort Opfer wird inflationär. Es gab Abgehörte und Erpreßte, Verletzte und Vertriebene, Gekränkte und Bedrängte, Ausgegrenzte und Eingeengte, Entlassene und mundtot Gemachte. Aber wir lebten in der DDR, nicht in der Sowjetunion Stalins, auch nicht im Kampuchea Pol Pots oder Rumänien Ceau°escus". 109 Man weiß, daß viele - überall, auch bei uns Opfer und Täter zugleich waren, sie wurden nicht nur von anderen belastet, sondern belasteten mit ihren - meist erzwungenen - Aussagen auch andere. Der Ausgang der Prozesse war in vieler Hinsicht schon vorprogrammiert, so daß die „Täter" als Belastungszeugen zum Beispiel für diese Rolle geplant und aufgebaut und zu ihrer Wahrnehmung gezwungen, erpreßt oder „behandelt" wurden - nicht zuletzt mit Psychoterror, Psychopharmaka, besonders aber durch Gewalt. Wiedergutmachung auf Seiten der Opfer bedeutet in der theologischen Dimension - also von Gottes Handeln her betrachtet - jedoch nicht nur, daß die Folgen der Schäden sich in Segen verwandeln können, sondern daß auch der „Täter" wiedergutmacht, indem er selbst für die Zukunft seines Lebens Segen wirkt. Er kann in vielen - in den meisten - Fällen, nichts mehr gutmachen: Tote nicht zum Leben zurückbringen, die Leiden nicht ungeschehen machen, die verlorenen Jahre im Gefängnis nicht zurückgeben, zerstörte Familienverhältnisse nicht wiederherstellen. Aber er kann an anderen „wiedergutmachen". Das Alte Testament sah vor, daß dort, wo niemand da war, dem man das Entwendete erstatten kann, „soll man's dem Herrn geben für den Priester zusammen mit dem Widder der Versöhnung, mit dem der Priester für ihn die Sühnung vollzieht" (Num 5,8). Was das

108 E. Wiesel, Den Frieden feiern. Mit einer Vorrede von Václav Havel, Freiburg-BaselWien, 1991, S. 27f. 109

Fr. Schorlemmer, Versöhnung in der Wahrheit, a.a.O., S. 249f.

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Alte Testament den Täter stellvertretend für den „Herrn" am Priester tun läßt, läßt das Neue Testament an den Menschen geschehen, als Wiedergutmachung und Sühne. Der Zöllner Zachäus, der das entwendete Gut nicht mehr zurückgeben kann, gibt dafür die „Hälfte" seines Besitzes den „Armen", und zwar doppelt, und will - wenn er jemand findet, den er betrogen hat - es ihm vierfach zurückgeben, wie das Alte Testament es vorsieht (Ex 21,37). Es gibt also die Wiedergutmachung an den Geschädigten und Opfern der Gesellschaft, die man nicht direkt und persönlich geschädigt hat, an denen man nur stellvertretend „Wiedergutmachung" übt. Diese sinnvolle Wiedergutmachung wird anderen ebenso wie für einen selbst zum Segen. Sie wird Zeichen der Vergebung Gottes, der Wiederannahme, also nicht nur Mittel der Wiedergutmachung, sondern auch Weise der von Gott angenommenen Wiedergutmachung und damit Hinweis auf die Vergebung und Wiederaufnahme des Täters in die Gemeinschaft der begnadeten Sünder. In diesem Sinn kann man das biblische Wort verstehen, daß die Liebe - auch die anderen Menschen erwiesene Liebe - „auch der Sünde Menge" zudeckt (1. Petr4,8). Wiedergutmachung in dem Sinn, wie es das Wort ausdrückt, gibt es sowieso nicht. Der Gedanke der Wiedergutmachung geht von der Illusion aus, es könnte die Wiederherstellung des Zustandes, wie er vor der Tat bestand, erreicht werden. Doch kann es nicht um Wiederherstellung der alten Verhältnisse gehen, sondern nur darum, durch ein Geständnis der Schuld das Verhältnis zwischen Opfer und Täter, das im Zeichen von Feindschaft und Rache stand, auf ein neues Fundament zu stellen. Es würde also eher um einen Heilungsprozeß als um einen Prozeß der Wiederherstellung bestehender Verhältnisse gehen. Wir sahen schon, daß Schuld nicht nur eine bestimmte Tat des Menschen meint, sondern immer auch ein „sozialer" Vorgang ist. Wir werden an bestimmten Menschen schuldig bzw. erfahren uns durch die Schuld anderer an uns als Opfer. In diesem Sinne ist Vergebung ein Prozeß, „der die Opfer aus ihrer Erniedrigung und Beschämung erhebt und die Täter auf ihr humanes Maß zurückbringt". 110 Damit ist gesagt, daß Schuld einen Vorgang zwischen Täter und Opfer darstellt, der sozusagen als eine „gemeinsame Geschichte" erkannt werden muß. Und so wie Schuld miteinander verkettet, so muß auch die Befreiung durch Vergebung gemeinsam gesucht werden. Auf diese Weise erfolgt durch die Befreiung aus der durch Schuld entstandenen Unfreiheit ein Prozeß der Katharsis, vor dem die meisten Menschen allerdings Angst haben. Den Grund hierfür hat G. Müller-Fahrenholz als „Schmerz der Entblößung" bezeichnet. Denn die Reue führt uns zum

110

106

G. Müller-Fahrenholz, Vergebung macht frei, a.a.O., S. 33f.

Eingeständnis der Schuld und zu Scham über das begangene Unrecht. Der Betroffene schämt sich, dieses Unrecht vor dem Menschen, dem es angetan wurde, zu bekennen. Denn ein solcher Vorgang hat mit Selbsterniedrigung und Entäußerung zu tun und trifft unsere Selbstachtung und unseren Stolz. Dieser „Schmerz der Entblößung" geht tief und wird von den meisten Menschen gefürchtet und gemieden. Denn er ist ein „Akt der Selbstentwaffnung", durch den man sich in die Hand dessen begibt, dem das Unrecht angetan wurde. Doch er ist die Voraussetzung für die Vergebung. G. Müller-Fahrenholz hat weiter darauf hingewiesen, daß dieses Eingeständnis der Schuld und die Bitte um Vergebung seitens des Täters nur die eine Seite jenes Versöhnungsprozesses ist. Denn es gibt noch einen zweiten Schmerz der Entblößung, den Schmerz des Opfers, des beleidigten Menschen. „Die Kränkung über erlittenes Unrecht geht genauso tief wie die Scham über das begangene Unrecht, möglicherweise noch tiefer. Die Erfahrung aufgezwungener Ohnmacht verletzt unser Selbstwertgefühl vermutlich auf nachhaltigere Weise als die Erfahrung angemaßter Übermacht".111 Der jüdische Schriftsteller David Grossmann sagt darüber anläßlich des 50. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz: „Wenn ich an den Holocaust denke, ist das dominierende Gefühl immer noch das der Kränkung. Nicht Zorn oder Rachegefühle, auch kein Haß, sondern eine bittere, untröstliche Krän112 kung darüber, daß Menschen so etwas angetan wurde". Daraus wird verständlich, daß die Gewährung von Vergebung selbst bei der Bitte um Vergebung sehr schwer ist. Sie fordert auch vom Opfer den „Schmerz der Entblößung und Entwaffnung". Darum ist es vielsagend, wenn Vergebung so definiert wird: „Im Akt der Vergebung begegnen sich der Schmerz der Scham und der Schmerz der Kränkung. Das ist auf beiden Seiten der Augenblick totaler Wehrlosigkeit [...] Vergebung ist so selten, weil sie den Durchgang durch den Schmerz kostet. Deshalb ist es natürlich, daß Menschen weinen, wenn sie einander vergeben [...] Denn die Bitte um Verge113 bung rührt an die tiefsten Wunden". Das allein kann auch der Sinn von „Sühne" sein; nicht Rache oder Strafe. Denn mit Zufügen von Schmerz für zugefügten Schmerz kann man nichts erreichen. Man kann den Schmerz des anderen sowieso nicht nachfühlen und ebenso kann verursachtes Leid nicht dadurch befriedet, geschweige denn ungeschehen gemacht werden, daß man dem Täter ein vergleichbares Leid zufügt. Auch eine gerechte Strafe nach dem Gesetz kann diese Sühne nicht sein. Sühne wäre dann in jener Selbst111

G. Müller-Fahrenholz, Vergebung macht frei, a.a.O., S. 35.

112

„Die Zeit" vom 27. Januar 1995, nach G. Müller-Fahrenholz, Vergebung macht frei, a.a.O., S. 35. 113

G. Müller-Fahrenholz, Vergebung macht frei, a.a.O., S. 36.

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entblößung zu sehen, die die Bereitschaft zur Folge hat, für die Neuordnung des Verhältnisses untereinander zu wirken. Es ist der Verzicht auf angemaßte Macht und das Bemühen, seine Kräfte zum Wohle des Geschädigten einzusetzen, wie das bei Zachäus geschieht. Vergebung ist damit immer beides: Eingestehen der Schuld und Bereitschaft zu einem neuen AnC

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fang. Das große Problem dabei, das immer neu diskutiert wird, ist nun aber dies: Wer muß hier den ersten Schritt tun? Das Warten darauf, daß der andere den ersten Schritt tut, hat seinen Grund darin, daß Eingestehen von Schuld auf der Seite des Täters nicht die Vergebung sondern Rache und Vergeltung zur Folge haben kann. Der eine kann leichtnehmen oder bagatellisieren, was dem anderen schwer aufs Gemüt fällt. Darum braucht es Mut dazu, Vergebung zu gewähren, aber auch Vergebung anzunehmen. Auf der Ebene des rein zwischenmenschlichen Aspekts wird man daher mit diesem Problem nicht fertig. Daraus folgert Gerhard Ebeling: „Das Problem zwischenmenschlicher Schuldverhaftung kann man in seiner Tiefe nicht erfassen, wenn man es als ein ausschließlich zwischenmenschliches begreift [...]. Von dem Ernstnehmen des Gottesverhältnisses hängt beides ab: in welcher Strenge zwischenmenschliche Schuldverhaftung ernstgenommen [...] wird; und ferner, ob sich die Erkenntnis der Notwendigkeit von Vergebung durchsetzt und wie es mit der Bereitschaft dazu steht". 115 In diesem Sinn weiß schon das Alte Testament, daß sich der Mensch nicht aus eigener Kraft durch seine Sühneleistung versöhnen kann, sondern daß er versöhnt werden muß. Er ist angewiesen auf ein Versöhnungsangebot Gottes. Gott darf verstanden werden als einer, der den ersten Schritt zur Versöhnung tut, der auf den Täter zugeht. Jahwe ist im Hinblick auf die Versöhnung der „Gott des ersten Schrittes", der zuerst anbietende und dann erst fordernde: „Jahwe fördert zuerst, dann erst fordert er", während das Rechtsdenken des Menschen zuerst die Sühneleistung - oder Strafe - fordert und dann vielleicht die Vergebung gewährt. Versöhnung durch Sühne kann nicht der Schuldige dem Geschädigten anbieten. Versöhnung kann nur der Betroffene dem Täter zuvorkommend gewähren. Nur in diesem Angebot Gottes der Versöhnung hat der Schuldige die Möglichkeit, jene Kluft zu überwinden, die seine Schuld in das bestehende Verhältnis zwischen ihnen L

* 116

gerissen hat. Gut läßt sich das am Gleichnis von den Vatersöhnen ablesen: Dem heimkehrenden Sohn kommt der Vater entgegen, ohne zu wissen, ob dieser tat114 115 116

108

G. Müller-Fahrenholz, Vergebung macht frei, a.a.O., S. 44f. G. Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. II, Tübingen 1979, S. 424f. E. Wiesnet, Die verratene Versöhnung, a.a.O., S. 76f.

sächlich einsichtig geworden ist und Buße getan hat. Davon ausgehend, meint der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt Reinhard Höppner in seinen Ausführungen über „Versöhnung als politisches Programm": „Versöhnung hat mit Entgegenkommen zu tun. Versöhnung geht immer vom Stärkeren aus, von dem, der im Recht ist. Sein Entgegenkommen ist der erste Schritt zur Versöhnung. Mir scheint, daß uns Versöhnung in der Auseinandersetzung mit unserer Geschichte nicht gelingt, weil uns diese Haltung, dem Schwächeren, dem Sünder, entgegenzugehen, ohne daß er eine vorzeigbare Leistung erbracht hat, abhanden gekommen ist. Wer vor allem mit der Suche nach dem Schuldigen beschäftigt ist, verbaut den Weg zur Versöhnung. Wo Versöhnung praktiziert werden soll, müssen gerade diejenigen, die sich im Recht fühlen, die unter dem Fehlverhalten des Sünders ge117 " litten haben, Entgegenkommen zeigen". Ähnlich spricht Heinz Zahrnt im Zusammenhang mit diesem Gleichnis von einem „zuvorkommenden, 118 menschlichen Gott", von der „Menschenfreundlichkeit Gottes". Dasselbe Gleichnis zeigt allerdings, wie schwer verständlich diese Einstellung des Vaters für den älteren Sohn ist. Aber es macht deutlich, daß diese Möglichkeit der Gewährung von Vergebung und der Annahme der Vergebung offen bleibt.

c) Versöhnung als Prozeß Wenn wir im Sinn des oben Gesagten Vergebung als gegenseitiges Bemühen von Opfern und Tätern verstehen, so geht es in der Versöhnung demnach nicht um einen einseitigen, statischen Akt im rechtlichen Sinn, sondern um ein Geschehen, das nur im Dialog zwischen beiden Seiten möglich ist. So wie Gott dem Sünder entgegenkommt und dieser daraufhin zur Buße bereit ist und Vergebung erfährt, so muß es auch im zwischenmenschlichen Geschehen der Versöhnung vor sich gehen. Vergebung ist keine „monologische Aufgabe des Täters" und keine „Einbahnstraße der Sühne", sondern kann nur als bereitwilliger Dialog zwischen den Beteiligten, d.h. den Betroffenen - auch der Täter ist ein Betroffener - verstanden werden. In diesem Sinne kann man von dem „Zweitakt" christlicher Versöhnung sprechen und das Versöhnungsangebot des Betroffenen oder der betroffenen Gemein-

117

R. Höppner, Segeln gegen den Wind. Texte und Reden, Stuttgart 1996, S. 135.

118

H. Zahrnt, Westlich von Eden, Zwölf Reden an die Verehrer und die Verächter der christlichen Religion, Frankfurt a.M.-Berlin-Wien, 1984, S. 139 u. 141.

109

schaft von der dadurch ermöglichten Umkehr und Bereitschaft zur Wiedergutmachung beim Täter unterscheiden. 119 Doch es legt sich nahe, statt von einem Dialog zwischen zwei Seiten eher von der Versöhnung als einem „Prozeß" zu sprechen. Damit ist angedeutet, daß es sich hier nicht um eine statische, sondern dynamische Angelegenheit handelt, um einen Ablauf, eine Entwicklung, einen Vorgang, der Stufen oder Stadien bezeichnet, in dem langsame Fortschritte und eventuell auch Rückschläge möglich sind und ein zeitlicher Fortgang notwendig ist. Versöhnung ist im Gegensatz zur Vergebung nicht ein einmaliges Geschehen, das einen bestimmten Zustand bezeichnet. Ähnlich hat man vom „Frieden" als einem Prozeß gesprochen und sich gegen das einseitige Verständnis eines Zustandes (als Abwesenheit von Krieg) abgegrenzt. 120 Im Begriff des „Prozesses" ist das Moment der Arbeit an der Versöhnung, des anhaltenden Bemühens, eines andauernden Werdens gegenüber einem bloßen Sein angedeutet. Andererseits wird mit diesem Wort auch das Bild eines Gerichtsverfahrens einbezogen, bei dem es nicht nur Täter und Opfer gibt, sondern auch Ankläger, Anwalt, Richter und Zeugen. Von diesem Verständnis aus wird auch der Begriff der „Vergebung" als etwas definiert, was nicht nur mit dem Gegenüber zu tun hat, das sich aus dem Verhältnis Täter-Opfer ergibt, sondern mit „höheren Instanzen". Vergebung ist dann das ausgesprochene Urteil, und zwar als „Freispruch" des Angeklagten und Schuldigen, wo Schuld keineswegs übergangen oder bagatellisiert, aber die Last der Schuld abgenommen wird. Der Schuldner wird mit seiner Schuld konfrontiert, aber nicht damit identifiziert. Entscheidend ist ebenso das Verständnis - wie bereits erwähnt - , daß es sich bei der Schuld gleichzeitig um einen sozialen Vorgang handelt, das heißt daß wir - mehr oder weniger - an anderen schuldig werden und uns gleichzeitig als Opfer erfahren. Bei diesem Verständnis der Versöhnung als Prozeß wird sich das Ergebnis nicht daran entscheiden, wer den ersten Schritt tut oder getan hat, weil es sich um einen Vorgang handelt, bei dem es Mißverständnisse und Rückschläge gibt. Besonders wenn es sich nicht um Einzelpersonen sondern Gruppen handelt, ist es durchaus möglich, daß die ersten, die diesen Schritt hin zur Vergebung tun und vom Vergeltungsgedanken loskommen, zwischen zwei Fronten geraten und von beiden Seiten angefeindet werden. Andererseits ist Versöhnung auch ein Vorgang, der bei denen beginnt, die schuldig geworden sind, aber auch die „Opfer" ergreift, weil beide in eine neue, gemeinsame Richtung geführt werden. Das

119

E. Wiesnet, Die verratene Versöhnung, a.a.O., S. 126f. Vgl. etwa: Frieden in Europa. Die Rolle der Kirchen, Genf 1973 (KEK-Studienheft Nr. 6), S. 75. 120

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Ziel, den Schaden zu heilen und Zukunft zu eröffnen, muß für beide gelten. Dies kann nicht die Wiederherstellung der alten Verhältnisse sein, sondern meint eine gerechte Lösung für die Zukunft. Man hat versucht, sogar „Schritte der Versöhnung" zu unterscheiden. Diese Unterscheidung mag gefahrlich sein, weil Schritte, Phasen oder Stufen immer etwas Schematisches an sich haben: man müßte zumindest zugeben, daß auch Phasen übersprungen werden oder in einer anderen Reihenfolge auftreten können. Daher mag es besser sein, von „einzelnen Akten" in der Versöhnung zu sprechen. Es gibt also das Ganze der Versöhnung, das wir jedoch in bestimmten Akten der Vergebung wahrnehmen, wobei das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen sehr unterschiedlich sein kann. Der eine mag sich mit dem Nächsten sofort versöhnen: er vergibt, und damit ist Versöhnung zustande gekommen. Ein anderer gelangt zwar zur Vergebung, aber das ganze versöhnte Leben und Zusammenleben stellt sich erst viel später ein, vielleicht nach mehreren Akten der Vergebung und entsprechenden Rückschlägen. 121 Das ist zunächst damit gemeint, wenn wir Versöhnung als Prozeß beschreiben. Dann aber sollten wir nicht nur den „Ablaufcharakter" als solchen, sondern den Charakter des „Prozesses" im Sinn eines gerichtlichen Verfahrens bedenken. Damit ist die Frage nach dem Ziel, dem Endergebnis, dem „Urteil" dieses Vorgangs gestellt. Wir sagten bereits, daß es bei der Versöhnung um die zukünftige Gestalt der durch Schuld zerbrochenen Gemeinschaft geht, die durch diese neugeschaffen werden soll. Wir sahen auch, daß es nicht um eine Wiederbringung des alten Verhältnisses durch „Wiedergutmachung" gehen kann, aber um die Aufrichtung eines neuen, tragbaren Verhältnisses, um die Bereitung eines gangbaren Weges, einer Gemeinschaft im Schalom - d.h. in Ganzheit, Heil und Frieden. - Dieser Aspekt der Versöhnung muß noch besonders herausgestellt werden, weil er das Wesen der christlichen Botschaft enthält, um das es hier gehen muß. Wurde Versöhnung in den bisherigen Ausführungen durch die Entgegensetzung zu Vergeltung und Rache beschrieben, so lohnt ein Blick auf den Prozeßcharakter nicht nur der Versöhnung, sondern auch der Ahndung von Schuld - der nach irdischem Recht auch Unschuld sein kann - durch Bestrafung und Vergeltung. Während für ersteres auf die im vorigen Abschnitt interpretierte Josefgeschichte des Alten Testaments zurückgegriffen werden kann, soll im weiteren zur Veranschaulichung des Prozeßcharakters eines irdischen Gerichtsverfahrens in seiner extremsten und absurdesten Weise die Darstellung von Franz Kafka in seinem Roman „Der Prozeß" herangezogen werden. 121

Vgl. G. Jakubinyi, Vergebung, Aussöhnung, Versöhnung, a.a.O., S. 49.

111

Hier berührt am meisten das Ende in seiner blindwütigen, fast mechanischen Zwangsläufigkeit, wo das total unverdiente Urteil vollstreckt wird, das nichts anderes ist als kaltblütige Bestrafung. Unser Augenmerk aber soll in diesem Zusammenhang auf das vorletzte Kapitel mit dem Titel „Im Dom" gelenkt werden, das wie eine Variante zum Schluß oder wie eine Art von „Nebenhandlung" vor dem Ende zu sein scheint. In dieser merkwürdigen Begebenheit „Im Dom" wird deutlich, daß der gerichtliche Prozeß des Josef K., des „Helden" der Handlung, zwar mit Verurteilung und Vollstreckung des Urteils endet, aber ein Prozeß ist, der weiter geht und noch etwas anderes meint, wenn der Geistliche in dem Gespräch im Gotteshaus zum Beschuldigten schließlich sagt: „Das Gericht will nichts von dir. Es nimmt dich auf, wenn du kommst, und es entläßt dich, wenn du gehst". 122 Damit, daß es ein „Gehen und Kommen" beim Gericht gibt, deutet Franz Kafka an, daß man mit dem eigentlichen juristischen Verfahren hineingestellt ist in einen ganzen Lebens- und Leidensprozeß, der mit der rein rechtlichen Abbüßung der Strafe und selbst in der wiedergewonnenen Freiheit nicht zur Ruhe kommt. - Woran liegt es, daß man in seinem ganzen Leben mit einem solchen „Prozeß" nicht fertig wird und auch später - wenn das gerichtliche Verfahren längst abgeschlossen ist und ferne zurückliegt - sich damit auseinandersetzt, darüber redet oder schreibt? Ist es das Bedürfnis nach Deutung des Geschehens, Abrechnung mit der Vergangenheit, Bewältigung der Gegenwart, Ausschau nach Zukunft? Ist es die Frage, die der weise Salomo so formuliert: „Wie könnte der Mensch seinen Weg verstehen?" (Spr 20,24). Ist es die Frage nach der Wahrheit (Joh 18,38), der Hunger und Durst nach Gerechtigkeit (Mt 5,6)? Ist es etwas, was mit den Tätern, den Richtern, den falschen Zeugen zu tun hat? Oder ist es etwas, was mit dem Charakter der Schuld und ihrer theo-logischen Dimension zu tun hat, die auf Versöhnung angelegt ist und nach Versöhnung strebt? Und - worauf hier hingewiesen werden wollte - : Ist es nicht vielleicht in erster Reihe gar nicht das Bedürfnis nach einer Versöhnung mit dem Täter, durch sein Eingeständnis der Schuld der dem Opfer Genugtuung für die große „Kränkung" gegeben hat, indem er um Vergebung bat? Sollte es nicht vielmehr das Verlangen nach dem „Segen" für das eigene Leben sein, der aus der Versöhnung quillt und der sich in dem niederschlägt, was man „die Gnade einer versöhnten Biographie" genannt hat? Ist es also nicht eher die Versöhnung mit sich selbst und dem so und so verlaufenen Leben, das durch die Schuld anderer von Leid betroffen wurde, aber auch selbst schuldhaftes Leid anderen zugefügt hat, wenn man auf die Ganzheit des Lebens und Tuns sieht?

122

112

Fr. Kafka, Der Prozeß, Frankfurt a.M.-Hamburg 1965 (Fischer Bücherei), S. 161.

An diesem Punkt kann uns das kafkaeske Verständnis von Gericht und Strafe im Sinne der Vergeltung nicht weiterhelfen. Aber es lohnt, seine Aufmerksamkeit auf jenen anderen Josef zu lenken, den Sohn des Erzvaters Jakob, mit dessen Geschichte wir uns paradigmatisch im ersten Kapitel dieses Teil unserer Darstellung bereits befaßt haben. Seine „Erhöhung", sein segensvolles Leben wird möglich gerade auf dem Umweg über die Schuld der Täter, seiner Brüder, und durch jenen Schreckensweg furchtbarer Leiden. So kann Josef seinen Brüdern, die ihn gequält, mißhandelt und verkauft haben und nun seine Rache fürchten, sagen, daß solches alles geschehen sei, daß Gott ihr „Leben erhalte zu einer großen Errettung" (Gen 45,7). Gemeint war die Errettung aus der Hungersnot und damit die Erhaltung des ganzen Stammes. Solche Wege führt Gott Menschen und läßt sie auf widersinnige Weise an der Verwirklichung seines Heilsplans teilhaben. Später sagt Josef es den Brüdern noch einmal anders, daß sie, die Täter, gedachten, „es böse" mit ihm zu machen, „aber Gott gedachte es gut zu machen" (Gen 50,20). Die Geschichte zeigt, daß es von Josef, dessen Leben schließlich ein Segen für viele wird, immer wieder heißt: „Und der Herr war mit J o s e f (Gen 39,2.23), und daß er dies auch wußte und im Glauben daran festhielt. Daß ein Leben zum Segen für viele wird, wenn es ein versöhntes Leben ist, und daß das versöhnte Leben gerade dahin führt, daß man Segen an sich und für andere erfahrt, das ist das eigentliche Ziel des Versöhnungshandelns, das ist die Zukunft, von der die Rede war und auf die hin Versöhnung ausgerichtet sein muß. Solche Versöhnung ist Hinweis auf das göttliche Walten in dieser Welt, das durch tiefe Not hindurch zum Heil und zur Errettung nicht nur des Einzelnen sondern eines ganzen Volkes führen kann. In Jesus Christus, zu dem sich Gott in seinem Tod am Kreuz durch die Auferstehung bekannt und ihn erhöht und ihm einen Namen gegeben hat, „der über alle Namen ist" (Phil 2,7), geht Gott diesen Weg sogar mit seinem geliebten Sohn zum Heil der ganzen Welt. Und damit ist gesagt: Selbst angesichts der großen Schwierigkeiten, die der Versöhnung zwischen Menschen und Menschengruppen im Wege stehen, hat Gott das letzte Wort, weil er der Versöhner durch Christus ist, und kann nicht nur das Unmögliche möglich machen, sondern auch bewirken, daß dieses zum Segen für viele, „zu einer großen Errettung" werde. Von hier aus wird deutlich, warum Josef, der längst rehabilitiert war, der in Amt und Würden es zu etwas Großem gebracht hat, der auf nichts und auf niemand angewiesen war, trotzdem die Versöhnung mit den Brüdern mit einem solchen Aufwand selbst sucht und alles tut, daß sie zustande kommt. Diese Versöhnung mit den Brüdern war für seine „versöhnte Biographie" entscheidend. Denn der „Prozeß seines Lebens" ist auch nach der „Erhöhung" und „Rehabilitierung" als geistlicher Vorgang weitergegangen:

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Er, der Geschädigte, das Opfer, der Gekränkte, bedurfte der Versöhnung für seinen Schalom, sein inneres Heil und seine Ganzheit als Mensch, um nun auch mit sich selbst, mit seiner Biographie versöhnt zu sein. Denn unbewältigte Konflikte, nicht verwundene Leiden und Verletzungen, selbst wenn man sie erlitten und nicht anderen zugefügt hat, führen ebenso wie eigene Schuld und eigenes Versagen, wenn man sie verdrängt oder ein Leben lang verschleppt, zu Schädigungen für das eigene Leben. Es führt zu jener „Entfremdung", in der nicht nur das Verhältnis zum Nächsten sondern auch zu sich selbst gestört ist und die erst im Vorgang der Versöhnung überwunden wird. So allein bleibt Gott, der immer „mit uns war", auch in aller Zukunft der Herr unseres Lebens. Denn wo dieser geistliche Prozeß weitergeht, blickt man in die Zukunft, weil man die Vergangenheit in die Gegenwart hineingenommen hat, der Zukunft etwas zumutet, und das heißt glaubt, daß etwas auf uns zukommt, was Verheißung hat. Dieser geistliche Prozeß der Versöhnung nicht nur mit der Vergangenheit sondern auch im Blick auf die Zukunft, bedeutet nicht mehr bloß das Gespräch „über die Vergangenheit" und „über die Zukunft", sondern ist Gespräch „mit der Vergangenheit" und 123 „Gespräch mit der Zukunft". Und das bedeutet - weil Gott der Herr der Vergangenheit und auch der Zukunft ist - : ein Gespräch mit Gott. Aber während Vergangenheit unwiderbringlich und darum Wiedergutmachung begrenzt möglich ist, bleibt Zukunft offen und voller Überraschungen. Und weil die Zukunft offen und Gott voller Überraschungen ist, kann die Schuld der Vergangenheit in diesem „Prozeß der Versöhnung" zum Segen werden in der Zeit, die uns noch gegeben ist und in der Gott an uns weiterhin wunderbar handeln kann. Es gibt Erfahrungen, die dem Weg des Josef entsprechen, wo der Versöhnungsprozeß zum Segen für das eigene Leben und für viele andere geworden ist. Es gibt freilich auch Erfahrungen, die dem Weg des Josef widersprechen, wo Versöhnung nicht zustande kam, weder mit Gott noch mit dem Nächsten und so auch nicht mit sich selbst. Das aber bedeutet dann, daß dieser Prozeß als abgeschlossen betrachtet und Gott nicht zugemutet wird, daß er noch in der gegebenen Zeit an uns handeln kann. Damit verhindert man, daß Gott noch ein letztgültiges Wort spricht - in dem Anspruch, als Mensch von sich aus das letzte Wort gesprochen zu haben. Aber gerade das ist uns nicht erlaubt, und darum verwehrt sich Josef dagegen, etwa durch Verweigerung der Versöhnung oder Ausübung der Rache über das Letzte selbst zu befinden, das nur Gott zusteht: „Stehe ich denn an Gottes Statt?" (Gen 50,19). Denn es gilt: Die Zukunft ist immer offen, das letzte Wort ist für niemand gesprochen. Versöhnung als geistlicher 123

G. Ebeling, Das Wesen des christlichen Glaubens, München-Hamburg 1964 (Sieben-

stern Taschenbuch), S. 176.

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Prozeß ist immer eine offene Möglichkeit. Und: Es gibt eine Zukunft, die nicht nur das „Fortdauern der Zeit über die Gegenwart hinaus" ist, sondern eine Zukunft, die der Glaube „schafft". Der Mensch darf sich von der Zukunft, die auf ihn zukommt, „angegangen" wissen und von ihr, hoffend und sorgend, etwas erwarten. „Der Glaube macht, daß die Zukunft nicht zum Fluch, sondern zum Segen wird [...] Denn was Zukunft heißt, das ist einfür allemal offenbar und aussagbar geworden durch den Gekreuzigten". 124 Darum darf man auch Versöhnung immer neu erwarten, im „Gespräch mit der Zukunft", und im Gebet zu Gott für Versöhnung wirken und sich in den Dienst der Versöhnung stellen. Von diesem Dienst soll im nächsten Hauptteil die Rede sein.

124

G. Ebeling, Das Wesen des christlichen Glaubens, a.a.O., S. 176f.

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Zweiter Hauptteil Der Dienst der Versöhnung

„Dienst der Versöhnung", διακονία της καταλλαγής, ist eine Redewendung des Apostels Paulus aus 2. Kor 5,18.' Luther übersetzt diesen Vers so: „Gott hat uns das Amt gegeben, das die Versöhnung predigt". Doch „Amt, das die Versöhnung predigt", klingt anders als „Dienst der Versöhnung", der uns gegeben ist, im Sinne eines Auftrages gegenüber den Menschen und der Welt. Ist uns - nach dieser Stelle - ein solcher „Dienst der Versöhnung" aufgetragen? Oder ist „der Dienst der Versöhnung" ein Amt, das die Versöhnung nur predigt, so daß Amt hier mit „Predigtamt" gleichzusetzen wäre, wie das in der Übersetzung Luthers durchklingt, aber auch die Interpretation von Neutestamentlem der Gegenwart bestimmt? 2 Oder hat gerade der Begriff „Diakonie" hier mehr zu bedeuten als Auftrag, die Versöhnung zu predigen? Diese Grundsatzfrage über den Auftrag der Kirche an der Welt mit ihrem Dienst der Versöhnung, der freilich in der Kirche selbst beginnen muß, soll uns zunächst beschäftigen. Wir wissen aus der Forschung, daß διακονία in der Grundbedeutung des Verbums ursprünglich „bei Tisch aufwarten" meint und daß daraus die Bedeutung „für den Lebensunterhalt sorgen" und schließlich ganz allgemein „dienen" abgeleitet wurde. Aus Apg 6,1-6 kann man entnehmen, daß der Tischdienst beim Abendmahl, der den Zwölfen mit ihrer Stellung als Gemeindeleiter aufgegeben war, keineswegs eine untergeordnete Funktion bezeichnete, die nun die sieben „Armenpfleger" übernehmen sollten, sondern daß alle anderen Ämter, auch das der Wortverkündigung, mit dem διακονείν, das heißt mit dem Tischdienst zusammenhingen oder gar von ihm abgeleitet wurden. Die „soziale Gemeinschaftshilfe", das Austeilen als ein Element der Gemeindeversammlung und des Mahlhaltens, hängt mit der Wortverkündigung zusammen. Der Bericht aus Apg 6,1-6 ist also nicht so zu verstehen, daß sich die Zwölf von einer „Nebentätigkeit" befreien, um sich ganz dem „Eigentlichen" zuwenden zu können, auf das es in der Gemeinde allein ankäme: dem Dienst der Wortverkündigung. Die in Apg 6,1-6 beschriebene Einsetzung der Sieben meint nicht eine Diakonie als neues, spezialisiertes, aber zweitrangiges Amt. Ihre Einsetzung wollte nicht die grundsätzliche Trennung von Tischdienst und Wortverkündigung bezwecken. Die in diesem Bericht erwähnten Männer wurden zu Leitern einer Gemeinde gewählt und als solche fallt ihnen die Pflicht der Mahlleitung und des damit verbundenen Tischdienstes zu. Die prinzipielle Einheit von Diakonie und Liturgie bleibt damit unangetastet. Es darf demnach nicht zwischen dem „Amt des Wortes" (das Amt, das „predigt") und dem „Amt des Dienens" (das Amt, das „tut") unterschieden werden. In der urchristlichen Zeit gab es nur das

1

Zum Begriff siehe oben, I. Hauptteil, S. 68ff. Vgl. Chr. Klein, Diakonie der Versöhnung, in: Th. Schober (Hg.), Grenzüberschreitende Diakonie. Paul Philippi zum 60. Geburtstag, Stuttgart 1984, S. 53-60. 2

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eine Amt, das Diakonat und Apostolat zusammenfaßt. In der Nachwahl des zwölften Apostel (Apg 1,15ff) wird berichtet, daß bei der Aufstellung von Josef, genannt Barsabbas und Matthias gebetet wurde: „Zeige an, welchen du erwählt hast von diesen beiden, damit er diesen Dienst und das Apostelamt empfange" (Apg 1,25). Amt in diesem Sinn ist also nicht „Pfarramt" und auch nicht „Predigt". Dieser Begriff bezeichnet nur die zentrale Funktion, nicht das Amt als solches. Es behält auch die Gabe der Leitung. Christusgemäße Leitung ist immer auch hingegebenes Dienen an den Menschen zur Auferbauung der Gemeinde.3 In diesem Sinn ist die Redewendung vom „Dienst der Versöhnung" in 2. Kor 5,18 als Dienst an den Menschen, an der Welt, zu verstehen und „Versöhnung" von seinem universalen, nicht nur innerkirchlichen Aspekt zu sehen. Wir sahen im ersten Hauptteil, daß auch andere, deuteropaulinische Stellen - wie Kol l,20ff und Eph 2,16 - Christus als den Versöhner nicht nur zwischen Gott und Mensch beschreiben, sondern auch zwischen Menschen und Völkern. Eph 2,16 heißt es: „Christus hat Frieden zwischen Juden und Heiden herbeigeführt". Daraus kann gefolgert werden: Die Versöhnung mit Christus wird in der Gemeinde gelebt und bleibt nicht auf den - innerkirchlichen - Kreis der Christen beschränkt, sondern hat auch einen politischen und einen kosmologischen Bezug, sofern er sich auf die Welt und schließlich die ganze Schöpfung bezieht. Bevor darauf näher eingegangen wird, sollen im Folgenden Methoden der Konfliktbeilegung im weltlichen Bereich und im Bereich der Kirche dargestellt werden, die als erste Schritte des Versöhnungsdienstes angesehen werden dürfen. Dann erst wird die Frage des Versöhnungsdienstes an der Welt, an der Gesellschaft und an der Schöpfung zur Sprache kommen.

3

P. Philippi, Abendmahlsfeier und Wirklichkeit der Gemeinde, a.a.O., S. 143; ders., Apo-

stelgeschichte 6,1-6 als Frage an die Kirche heute, in: Spiritus et Institutio Ecclesiae. Festschrift für Bischof Erkki Konsonaho, Helsinki 1980, S. 253-265.

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1. Versöhnung als „weltliche" Konfliktlösung

Der schon aus dem Alten Testament bekannte „Ausgleich", der sowohl zu kultischen, als auch zu profanen Formen der Beilegung von Konflikten gefuhrt hat 4 , ist in unserer Zeit von komplexen und komplizierten Auseinandersetzungen auf persönlich-menschlicher, ethnischer, nationaler und internationaler Ebene zu großer Bedeutung gekommen. Das Wort „Versöhnung" bzw. „Rekonziliation" hat in vielerlei Hinsicht, besonders in den zwischenstaatlichen Beziehungen nach den Wunden des Zweiten Weltkriegs, einen neuen Rang erhalten. Die alten biblischen und profanen Modelle von Konfliktbewältigung treten in neuem Gewand auf und werden wissenschaftlich ausgebaut und vertieft. Im Folgenden sollen die wichtigsten Bemühungen dieser Art ins Auge gefaßt werden, und zwar unter drei Gesichtspunkten. Zunächst handelt es sich um die psychologische Betrachtung des Phänomens „Konflikt" und seine „Bewältigung", auf Grund derer man Versöhnung zu verwirklichen sucht [a)]. Sodann ist in unserer Zeit eine neue Wissenschaft entstanden, die Kommunikationsforschung, die sich für das Verständnis von Konfliktsituationen als unentbehrlich erwiesen hat und mit deren Hilfe Beilegung von Konflikten und eine „Kultur versöhnten Lebens" erstrebt wird. Die Kenntnis der „Grundregeln der Kommunikation und ihrer Steuerung und Regelung" („Kybernetik") gilt als wichtige Voraussetzung für die Bemühung um Versöhnung. Daher wird zunächst einen Blick auf Wesen und Anliegen dieser Wissenschaft geworfen [b)]. Schließlich soll über die Beilegung von gesellschaftlichen Konflikten gehandelt werden, wie sie bei Konsensbemühungen durch Verhandlungen und Vermittlungen in rechtlichen, politischen, ökologischen und wirtschaftlichen Streitfragen versucht wird [c)].

a) Konfliktbewältigung als psychologisches

Problem

Die Notwendigkeit von Versöhnung entsteht angesichts der Tatsache, daß unsere Welt und das Dasein des Menschen von Konflikten bestimmt ist. In allen Beziehungsfeldern des Lebens treten Konflikte auf, schon in unserem eigenen Inneren, sodann im Zusammenleben mit anderen Menschen und Gruppen und

4

Vgl. I. Hauptteil/3.

121

schließlich in den Beziehungen einzelner Völker. Diese uralte Tatsache hat man das „Kain-und-Abel-Syndrom" genannt und dargetan, daß „in Haß, Brudermord, Machthybris und Sprachverwirrung beispielhafte Wirkkräfte menschlichen Verhaltens vorgeführt werden, die aus keinem System der Kommunikation wegzudenken oder organisatorisch vollständig auszuräumen sind".5 Kein Mensch, der damit nicht zu tun hätte und mit den Folgen nicht rechnen müßte. Ob dieses angesichts der Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen oder im Zusammenleben in Familie und Beruf deutlich wird oder im Zusammenprall von gesellschaftlichen und staatlichen Gruppierungen im Krieg geschieht, immer handelt es sich um fast unausweichliche und unlösbare Situationen, die dem Menchen seit altersher schwere Fragen aufgeben, über die seit Urzeiten bis in unere Tage gerätselt und - später - wissenschaftlich geforscht wurde. Vor allem: Wie soll man damit umgehen, wie kann man Konflikte vermeiden, ihnen zuvorkommen, und wie kommt es - wenn das nicht möglich ist - zur Beilegung von Konflikten und zur Versöhnung der in die Konfliktsituation einbezogenen Fakten und Menschen? Konflikte beruhen auf Verhaltens- oder Handlungsweisen von Menschen und Gruppen, haben individuelle aber auch soziale Ursachen und äußern sich in Form von Haß oder Gewalt. Angesichts dieser Tatsache hat man sich schon früh um die Aufhellung des Ursprungs solchen Konfliktverhaltens bemüht. Sie haben demnach in erster Reihe psychologische und in zweiter Reihe soziale Ursachen. Hier geht es zunächst um den psychologischen Aspekt der Konfliktfrage. Die psychologische Erforschung von Konflikten geht von den psychoanalytischen Erkenntnissen von Sigmund Freud aus. Konflikte führt er auf den ödipalen Urkomplex zurück, der aus dem triebhaften Drang des Kindes nach vereinigendem Besitz des gegengeschlechtlichen Elternteils (Sexualtrieb) und Vertreibung oder Vernichtung des konkurrierenden gleichgeschlechtlichen Elternteils (Aggressionstrieb) entsteht. Nachdem diesem Trieb nicht nachgegeben wird, weil er von den gegebenen sozialen Verhältnissen verdrängt wird, lebt er im „Unterbewußten" weiter. Er bedarf einer „Kompensation", die der Mensch im Vernunftgebrauch und Kulturschaffen sucht. Doch damit ist der Konflikt nicht wirklich gelöst. Denn die Formen des „vernünftigen Verhaltens" entstehen nicht lediglich durch die erwähnte „Ersatzleistung", sondern sind gleichzeitig mit einem bestimmten Unbehagen verbunden, hinter dem sich Angst und Gewalt verbergen, auch wenn sich der Mensch dessen nicht bewußt ist, so daß

5

H.-D. Bastian, Kommunikation. Wie christlicher Glaube funktioniert, Stuttgart-Berlin

1972 (ThTh, Bd. 13), S. 106.

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daraus die Konflikte entstehen, die ihn innerlich zersetzen oder äußerlich mit Gewalt aufladen.6 Der Freudschüler C.G. Jung hat diese einseitige Rückführung der Konflikte auf den ödipalen Urkomplex abgelehnt und Konflikte auf alle erfahrbare Verhaltensmotivationen ausgedehnt. Es gibt keine Urmotivation, die notwendig und automatisch zum Konflikt fuhrt. Doch der Konflikt besteht immer in einem Ungleichgewicht zwischen Unbewußtem und Bewußtem und wird sowohl durch subjektiv-innerliche als auch durch objektiv-äußerliche Gegebenheiten vermittelt. Das Ergebnis der psychologischen Forschung besagt jedenfalls, daß „Konflikte zur unbedingbaren Mitgift des menschlichen Lebens" gehören. Wie die Psychologie im allgemeinen damit umgeht, kann hier nicht näher ausgeführt werden. Tröstende, aufmunternde Worte oder Appelle an das Verantwortungsbewußtsein erreichen meistens gar nichts. Auch Konfliktlösungen mit Hilfe empirisch-psychologischer Entscheidungstheorien (Hans Thomae) fuhren nicht weiter. Beachtlich ist das Angebot der Psychotherapie zur Konfliktlösung. Der Konflikt wird hier psychoanalytisch auf die nicht zum Zuge gekommenen menschlichen Urtriebe zurückgeführt, welche tiefer reichen als die individuelle Lebensgeschichte und die Rolle der sozialen Umwelt. Der Konflikt ist demnach eine seelische Krankheitserscheinung und wird als neurotische Aufstauung psychischer Energie verstanden und behandelt. Dazu ist die Hilfe des Psychotherapeuten notwendig, die auf unterschiedliche Weise erfolgen kann (Hypnose, Traumdeutung, Individualanalyse oder Gruppendynamik). Das Ziel der Therapie ist die Erschließung des Unter- und Unbewußten im Hinblick auf die „Verarbeitung im Bewußtsein", durch die die Konflikte gelöst werden sollen. Sie ist darum „rückwärts gerichtet", indem sie Vergangenes „aufarbeitet".7 Gerade von der analytischen Psychologie her ergibt sich jedoch die Frage, ob in diesem Bereich der Begriff der Versöhnung angebracht ist. Es wird heute darauf hingewiesen, daß Versöhnung bei Freud keinen Platz hätte. Versöhnung als Ausgleich und Synthese im Hegeischen Sinn ist verdächtig; eine „versöhnlerische Vereinigung von Gegensätzen" bedeutet bloß Konfliktaussetzung. Dies Verständnis von Versöhnung verführt - nach Klaus Winkler - „zu illusionären Erwartungen und Verkennungen". Es „fördert Regression im pathologischen Sinn; [...] Mißverstandene Versöhnung macht zusätzlich krank. Und sie wird in aller Regel mißverstanden". Diese Einstellung Freuds wird auch aus seiner 6 Vgl. G. Hummel, Sehnsucht der unversöhnten Welt. Zu einer Theologie der universalen Versöhnung, Darmstadt 1993, S. 14; dort auch weiterführende Literatur. 7 G. Hummel, Sehnsucht der unversöhnten Welt, a.a.O., S. 14-18. K. Winkler, in: W. Ruff und K. Winkler, Hassen und Versöhnen. Vom Gebrauch vorbelasteter Begriffe. Eine Disputation, in: E. Herdieckerhofï/D. von Ekesparre/R. Elgeti/Chr. Marahrens-Schürg (Hg.), Hassen und Versöhnen. Psychoanalytische Erkundungen, Göttingen 1990, S. 16.

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Biographie herausgelesen: Er war selbst unfähig zur Versöhnung, was in seinem gesamten Schrifttum aufgezeigt werden kann. Das Wort „Versöhnung" kommt bei ihm nur in zwei Schriften vor (in der Traumdeutung und in „Totem und Tabu"). Freud verwarf jeden seiner Schüler, sobald dieser eine von ihm abweichende Ansicht entwickelte, ja er stellte ihm sogar nach und stieß ihn schließlich aus. 1902 kam es zum Bruch mit Fließ, 1919 auch zum Abbruch der freundschaftlichen Beziehungen zu Adler, Steckel und Jung. Klaus Winkler meint, daß er damit seinem psychoanalytischen Prinzip treu geblieben sei: „Friede ohne tatsächliche kognitive und emotionale Einigkeit bedeutet bloße Konfliktaussetzung [...] Freud war ganz offensichtlich nicht von menschlichallzumenschlicher Ängstlichkeit beherrscht, die Uneinigkeit unter den Pionieren einer veränderten Sicht des Menschen könne der entdeckten Sache schaden".9 Doch im Gefolge von C.G. Jung leuchtet der entgegengesetzte Standpunkt mehr ein. Gewiß gibt es „versöhnerische Tünche", wenn „Vereinigung von Gegensätzen" in der Versöhnung angestrebt wird. Versöhnung ist nicht Konfliktaussetzung, sondern setzt - nach W. Ruff - das Aufdecken und Analysieren der Widersprüche und Konflikte gerade voraus, „versucht aber dann die sich darin zeigende Ambivalenz akzeptabel zu gestalten in der Hoffnung, dadurch eine Beziehung zu sich selbst und zum anderen zu ermöglichen." Das heißt, daß „der Wille zur Versöhnung damit beginnen muß, die illusionären Forderungen des Ich-Ideals als solche zu erkennen und sie sowohl mit den eigenen Fähigkeiten als auch mit den Möglichkeiten der äußeren Realität zu konfrontieren. Dadurch können immer wieder neu - und das ist ein lebenslanger Prozeß - ausgleichende Einstellungsweisen und Handlungsstrategien gefunden und ausgewählt werden."10 Nicht ohne Widerspruch wird demnach für den „Versöhnungsbegriff' auch in der analytischen Psychologie plädiert. Auf dem Jahreskongreß der „Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft" (DPG) 1990 wurde das Thema „Hassen und Versöhnen" behandelt. Die Frage im Disput zwischen Klaus Winkler und Wilfried Ruff war in erster Reihe die, ob „Versöhnen" wirklich das Gegenteil von „Hassen" sei und nicht eher „Liebe" (so Klaus Winkler) als Gegenüber von „Hassen" genannt werden müsse. Dazu sagte W. Ruff, dessen Äußerung die zentrale Bedeutung der Versöhnung auch vom psychologischen Standpunkt deutlich macht: „Wie wollen Sie zur Liebe kommen? Indem Sie das Wort,Versöhnung' eliminieren und dann alle die ausgrenzen, die nicht wie Sie beim Thema Haß stehen bleiben sollen - in der Hoffnung, daß dann die übrigbleiben, die sie lieben können? Ohne die Bereitschaft zur Versöhnung können Sie nur wählen: entweder Hassen oder Lie-

9 10

124

K. Winkler, in: W. Ruffund K. Winkler, Hassen und Versöhnen, a.a.O., S. 13f. W. Ruff, in: W. Ruffund K. Winkler, Hassen und Versöhnen, a.a.O., S. 15.

ben. Beides in seiner Spannung zueinander läßt sich nur erreichen im ständigen Bemühen, sich mit der Tatsache der eigenen Widersprüche auszusöhnen und auch damit, daß sich im Zusammenleben mit anderen immer wieder Konflikte ergeben. Daß Versöhnung nichts Endgültiges meint, hat auch Goethe im Faust II ausgedrückt:,Versöhnt man sich, so bleibt doch etwas hängen'." 11 C.G. Jung weist daraufhin, daß Konflikte notwendige und zukunftsträchtige Faktoren im menschlichen „Weg zur Individuation" sind. Nach ihm sind Konflikte mit und ohne Zutun des Menschen in der Wirklichkeit und damit in der Psyche angelegt. Zukunftsträchtig sind sie, weil Konflikte die Impulse und Umsetzungsstationen der Wirkung des Menschen auf seinem Lebensweg zum Selbst darstellen. Menschsein bedeutet gerade in den entscheidenden Situationen Konflikt, durch die Fortschritt, Sinnfindung oder Selbstverwirklichung möglich werden. - Freilich hat das alles seine Berechtigung nur bis zu einer bestimmten Grenze, weil es auch Aspekte des Konfliktphänomens gibt, die damit überspielt werden. 12 Die Diskussion unter den Fachgelehrten selbst zeigt, wie schwierig das Problem ist und daß es innerweltlich letztlich unlösbar bleibt. Wir werden daher sehen, daß der theologische Aspekt der Versöhnimg von anderen Voraussetzungen ausgeht. Während hier Versöhnung ein Phänomen ist, das stets in dieser Welt im eigenen Inneren oder zwischen Menschen und Gruppen sich ereignet, betrachtet die Bibel und die christliche Lehre dies „Phänomen" vor dem Angesicht Gottes und weist die entscheidende Rolle der Versöhnungstat Gottes in Christus zu, durch die Versöhnung unter Menschen erst möglich geworden ist und wird. Die Erkenntnis psychischer Vorgänge und psychologischer Gesetze im Versöhnungshandeln der Menschen ist jedoch hilfreich, weil uns damit wichtige Instrumente der Kommunikation an die Hand gegeben werden, die den „Kindern Gottes" als „Konfliktbeilegung" aufgetragen sind: „Selig sind die Friedensstifter, denn sie werden Gottes Kinder heißen" (Mt 5,9).

b) Konfliktbeilegung als soziologisches

Problem

Es ist schon angedeutet worden, daß es in der Konfliktbeilegung in hohem Maße um Herstellung von Kommunikation geht. Konflikte haben neben psychologischen Faktoren, wie sie eben dargestellt wurden, auch soziale Aspekte. Gemeint ist hier nicht lediglich die marxistische Theorie von der Bedeutung des sozialen Umfeldes in der Entwicklung des Menschen. Die Soziologie weiß von Interaktionsprozessen des sozialen Lebens und muß untersuchen, wie aktuelles

11 12

W. Ruffund K. Winkler, Hassen und Versöhnen, a.a.O., S. 16f. G. Hummel, Sehnsucht der unversöhnten Welt, a.a.O., S. 23.

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gesellschaftliches Handeln geschieht und sich organisiert. Zwischenmenschliches Handeln - in das Betrieb, Schule, Familie einbezogen sind - fuhrt zu Unter- und Überordnung, zu Herrschaft und Abhängigkeit, zu Konkurrenz und dadurch zu Verdinglichung der interpersonellen Beziehungen. Dadurch ist die menschliche Gesellschaft ohne Konflikte nicht denkbar. Gemäß der „Systemtheorie" von Talcott Parsons sind Konflikte „dysfunktional", das heißt, sie behindern die soziale Harmonie und Integration. Für die Wiedereingliederung des Einzelnen in den sozialen Organismus oder fur seine Befähigung zur Harmonie werden ganze „Konfliktstrategien" entworfen. 13 Eine besondere Bedeutung hat in unserer Zeit die Kommunikationstheorie erhalten, die uns Methoden an die Hand gibt, Ursachen für fehlende Kommunikation besser zu durchschauen und dadurch leichter zu beheben. Kommunikation ist notwendig, weil die Wahrheit nie auf einer Seite liegt. Darum bedürfen geistige - auch theologische - Wahrheiten der dialogischen Vermittlung. Nicht erst der Konsens, also die gemeinsame Überzeugung von einer Wirklichkeit, sondern schon der Weg, diese zu finden, ist wichtig: „Indem eine Sache erörtert wird, gewinnt sie ihren Ort in der Realität".14 Wahrheit - auch in der Kirche wird nur dialogisch gewonnen. Diese Tatsache liegt im Wesen der menschlichen Erkenntnis. Kommunikation ist aber auch notwendig, weil man nur durch sie dem Menschen begegnen kann. Wahrheit gibt es nur in der Weise der „Begegnung".15 Dem anderen begegnet man, indem man sich zu ihm verhält, weil man dadurch zum Ausdruck bringt, daß man nicht einfach nebeneinander existiert. Diese Kommunikation muß nicht verbal sein, man kann sich dabei der Symbol- oder Körpersprache bedienen, also durch Gesten oder Verhalten, selbst durch Schweigen „kommunizieren". Die Kommunikationstheorie16 lehrt uns, daß es bei jeder Kommunikation drei entscheidende Elemente gibt: den Sender, die Nachricht und den Empfänger. Der Sender ist der Mensch, der etwas mitteilen will, die Nachricht das, was er mitteilen will, der Empfänger ist der Adressat der Mitteilung des Senders. Bei einem Gespräch wird der Empfanger sofort wieder zum Sender: Er muß mitteilen, wie er die Nachricht aufgenommen hat (das „Feedback"). Die Kommunikation erfolgt also „kreisförmig": Sender und Empfänger stehen in einem 13

G. Hummel, Sehnsucht der unversöhnten Welt, a.a.O., S. 20. W. Beinert, Wenn zwei sich streiten. Über die Wiedergewinnung des Konsenses, in: ders. (Hg.), Kirche zwischen Konflikt und Konsens. Versöhnung als Lebensvollzug der Glaubensgemeinschaft, Regensburg 1989, S. 19. 14

15

E. Brunner, Wahrheit als Begegnung, Zürich 2 1963. Vgl. auch: K. Jaspers, Philosophie II: Existenzerhellung, Berlin-Göttingen-Heidelberg 3 1956, S. 50-117. 16 Vgl. zum Folgenden: H.-D. Bastian, Kommunikation, a.a.O., S. 51-75; W. Beinert, Wenn zwei sich streiten, a.a.O., S. 20-31.

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Wechselspiel, in einer „Interaktion". Wenn wir von Kommunikation reden (z.B. bei einem Gespräch), ist damit auch gemeint, daß diese nie direkt, sondern nur durch ein Medium geschieht. Daß der Sender seine Gedanken äußert, heißt: er überträgt sie von seinem Inneren in ein anderes System, die Sprache. Wir sagen: er kodiert seine Botschaft. Die Kommunikationsforschung unterscheidet digitale und analoge Kodierung. Gemeint ist dasselbe, was eine Digitaluhr von einer klassischen Uhr unterscheidet. Bei einer Digitaluhr liest man die Zeit unmittelbar ab (z.B. 1025). Bei der klassischen Uhr bedienen wir uns eines Ziffernblattes, aus dem man die Zeit nur kraft der „Entzifferung", der analogen Kodierung ablesen kann. (Wir wissen: Wenn der kleine Zeiger zwischen 10 und 11 und der große Zeiger auf 5 steht, ist es 10 Uhr 25.) Die digitale Kodierung sagt in unmittelbarer Sprache, was mitgeteilt wird, die analoge Kodierung sagt es durch ein bestimmtes Mittel. Wenn jemand ein Gespräch nicht wünscht (z.B. in einem Wartesaal beim Zahnarzt), so sagt er: Ich habe keine Lust, mich zu unterhalten, ich habe Schmerzen. Das ist die digitale Kodierung. Wenn derselbe Mensch aber nichts sagt, statt dessen - wenn er angeredet wird - macht, als hätte er nichts gehört, kann man daraus folgern, daß er nicht sprechen will. Das ist auch eine Nachricht, aber in analoger Kodierung. Die Kodierung in der Kommunikation ist eine Ermessensfrage: Man kann nicht immer genau ausdrücken, was man an die andere Seite „senden" will. Die analoge Kommunikation kann auch mißdeutet werden. Die Art der Kodierung kann andere Nachrichten meinen als die, die verstanden werden. Eine Abweisung kann auch Schüchternheit und nicht Arroganz, Befangenheit oder die gedeutete Interesselosigkeit bedeuten. Es gibt demnach bei jeder Kodierung eine De-Kodierung, die der Empfanger selbst vornehmen soll. Dabei wirkt noch eine Reihe von anderen Elementen mit; Akzente können unterschiedlich gemeint bzw. verstanden werden. Besonders wichtig ist, daß die Personen bei einem Gespräch in unterschiedlichen Beziehungen zueinander stehen. Gleichrangige Personen haben gleichere Chancen, man spricht dann von einem symmetrischen Kommunikationsablauf. Ungleichrangige Gesprächspartner befinden sich in einem sogenannten komplementären Gesprächsablauf. Wenn sich zum Beispiel Theologen und Nichttheologen an einer Gesprächsrunde über eine theologische Frage beteiligen, sind die Chancen des „Mitredens" ungleich; andererseits können die Rollen auch wechseln, denn der Nichttheologe besteht auf einer anderen Ebene zum Beispiel der Praxis - möglicherweise besser, als der Theoretiker, wirkt also „komplementär". Kommunikationsabläufe - symmetrische oder komplementäre - können aber auch davon bestimmt sein, in welchem inneren Verhältnis sich die einzelnen Gesprächspartner befinden: freundschaftliche, sym-

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metrische Beziehungen heben die Chancen zur Kommunikation gegenüber feindlichen oder vorbelasteten Beziehungen zwischen den Teilnehmern. Entscheidender als die Situation von Sender und Empfänger - der Dialogpartner - ist aber die Nachricht selbst. Sie besteht aus vier Elementen, die fiadas Gelingen oder Mißlingen der Kommunikation wichtig sind: 1. der Sachinhalt. Gemeint ist die Information über etwas, das so ist oder sich so verhält (z.B. der Satz: „Es gibt ein Leben nach dem Tod"); 2. die Selbstkundgabe. Mit einer Nachricht wird auch etwas vom Sender ausgesagt (z.B.: „Er ist Theologe"). Beim mündlichen Vortrag oder Gespräch läßt sich dazu auf Charakter, Temperament, Stimmungslage u.a. des Senders schließen. Als Christen sprechen wir hier von dem Zeugnischarakter unserer Rede. Diese Art der Kommunikation ist ein Wagnis, denn der Sender kann dadurch auf Mißverständnis und böswillige Auslegung stoßen; 3. die Beziehung. Der Sender sagt auch etwas darüber, was er vom Empfänger hält und wie er ihn behandelt. (Er kann den Vorwurf damit verbinden: Du glaubst nicht an das Leben nach dem Tod. Dies mag als Besserwisserei, Schulmeistern empfunden werden; aber vielleicht auch geschickt vermittelt oder mutig-sympathisch wirken); 4. der Appell, mit dem die Nachricht verknüpft ist: man möchte damit etwas erreichen (z.B. den Glauben an das ewige Leben vermitteln, bestärken; trösten - fur Christen ist dies der Verkündigungsauftrag.). Wir vermitteln oder wir belehren nicht nur, wir verkündigen, „predigen" das Heil. Daraus wird deutlich: Kommunikation ist nicht nur Vermittlung einer Botschaft, Austausch von Gedanken, Weitergabe einer Nachricht. Sie ist personal, auch wenn uns das nicht immer bewußt ist. Doch muß man sich gerade darüber im klaren sein und darum über diese Vorgänge nachdenken. Es gibt Gesetze der Kommunikation, innerhalb derer wir kommunizieren. Oft wissen wir oder empfinden wir nur dies eine: Kommunikation stimmt oder stimmt nicht. Meist wird das schon von Anfang an erfahren. Sie ist da, wenn die gesendete und die empfangene Nachricht auf allen Ebenen übereinstimmt und dies in der „Rückmeldung" bestätigt wird. Viel häufiger ist der Fall, daß die Kommunikation nicht gelingt. Dann gilt es, die Störfaktoren ausfindig zu machen, die dafür verantwortlich sind. Die Kommunikation wird von vornherein blockiert, wenn die eine Seite die Notwendigkeit der Kommunikation mißachtet, um die Wahrheit herauszufinden, oder wenn sie meint, die Wahrheit bereits zu besitzen und sie daher nicht in Frage stellen läßt. Das ist häufig im interreligiösen oder interkonfessionellen bzw. intertheologischen Gespräch der Fall: Man geht von feststehenden Wahrheiten aus, in der Haltung des Dogmatismus. Diese fuhrt zu Fundamentalismus und Fanatismus oder gar zum Sektierertum.

128

Aber selbst bei offenen Gesprächspartnern gibt es Störungen auf der Sachund Beziehungsebene. Auf der Sachebene sieht das etwa so aus: Der Sender und der Empfänger haben je eine eigene Sicht der Wirklichkeit und also auch der Sache, die zur Diskussion steht. Das kommt daher, daß die Wahrheit perspektivisch ist, also nur von einem bestimmten Standort gesehen wird, so daß Unterschiede durch das vorgeprägte Denken, die kulturelle oder soziale Prägung und andere Faktoren Mißverständnisse zwischen Sender und Empfanger hervorrufen. Im interkonfessionellen Dialog ist dieser Aspekt wegen unterschiedlichen Frömmigkeitstraditionen und Erfahrungen oder ähnlichem sehr wichtig. Man verwendet Begriffe, meint aber jeweils etwas anderes damit. Ein Beispiel ist das Problem der Menschenrechte. Die einen meinen damit die Gruppenrechte und demnach die sozialen Minderheitenrechte. Die anderen meinen damit die individuellen Menschenrechte - und das sind verschiedene Dinge. Auf der Beziehungsebene bedeutet das: mit jeder Nachricht zwischen Sender und Empfanger „behandelt" der eine den anderen in irgendeiner Weise. Es geht nie nur um die Sache - die Wahrheit oder das Recht. Kommunikation ist daher auch eine Frage des Stils. Man kann „in Liebe" kommunizieren oder dieses oberste Gebot der Kommunikation außer acht lassen, wodurch ein wichtiger Störfaktor vorprogrammiert ist. Liebe ist hier nicht ein Gefühl, sondern eine Haltung, die aussagt: Es ist uns am Konsens gelegen, wir wollen ihn erreichen und etwas dazu tun. Allerdings kommen auch Störungen der Kommunikation dadurch zustande, daß die Sach- und Beziehungsebene vermischt wird. Das heißt: Sachprobleme werden auf die Ebene der Beziehungen - oder umgekehrt - Beziehungsstörungen als Sachprobleme behandelt. Ersteres ist im ideologischen Denken der Fall. Die Sache wird so stark herausgestellt, daß „nicht sein kann, was nicht sein d a r f . Das andere ist dann der Fall, wenn eine Sachdiskussion verweigert wird mit dem Hinweis, daß man jemanden nicht kränken darf oder der Friede gefährdet wird. Störungen gibt es aber auch auf der Seite der Nachricht. Wenn man mit der Nachricht etwas Bestimmtes erreichen will - wie das zum Beispiel bei der Predigt legitimerweise der Fall ist - , kann es sein, daß der „Appell" so stark in den Vordergrund gerückt wird, daß die Argumentation vernachlässigt wird. Man spricht dann von tendenziösen Absichten oder Propaganda, bei der es weniger um Wahrheit oder Richtigkeit geht sondern um positive Resonanz auf den Appell. Ein Beispiel dafür ist der „Sektenprediger".17 Schließlich gibt es Störungen durch eine fehlerhafte Dekodierung. Es kann geschehen, daß der Sender es mit seiner Nachricht gut meint, aber der Empfänger sie durch falsche „Aufschlüsselung" anders aufnimmt: er fühlt sich ange17

Vgl. H.-D. Bastian, Kommunikation, a.a.O., S. 86f.

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griffen oder verletzt. Er deutet in die Worte etwas hinein, was der andere gar nicht gemeint, ja woran er gar nicht gedacht hat. Viele Antipathien gegenüber Kirche und kirchlichen Vertretern dürften ihre Wurzeln in solchen Dekodierungsstörungen haben: man hört aus ihrer Botschaft etwas anderes heraus als ursprünglich gemeint ist. 18

Wie findet man angesichts dieser Situation zum Konsens? Die Kommunikationstheorie empfiehlt den gleichen Weg wie die Medizin. Er besteht aus drei Phasen: 1. die Anamnese, d.h. die „Erinnerung" bzw. die „Erhellung" der Vorgeschichte; 2. die Diagnose, die Feststellung eines Zustandes (z.B. der Krankheit) und 3. die Therapie, die zur Heilung angewendet werden kann. In der Anamnese wird die Ausgangslage des Streites geortet. Man muß den Weg sozusagen „zurückgehen" zu den „Anfängen", weil die gegebene Situation sich meist sehr stark von der Ausgangsposition entfernt hat. Im Streit der Konfessionen geht es darum, die Ursprünge, die Traditionen, die Schuldfaktoren, aber auch biographische, kulturelle, soziale und nationale Gegebenheiten zu untersuchen. Dabei stellt man einsame Beschlüsse von Personen, undurchsichtige, geschichtsbedingte Entscheidungen, politische oder kulturelle Nebenfaktoren fest, die in der Gegenwart nicht mehr nachvollziehbar sind und darum gewisse Unterschiede nicht mehr als kirchentrennend empfinden lassen. Dies ist eine Methode im ökumenischen Gespräch und in den „Konvergenzerklärungen". In der Diagnose werden die Faktoren ausfindig gemacht, die am Streit schuld sind (die „Krankheit"). Dabei wird - von den vier Elementen der Nachricht - oft die Beziehung wichtig sein. Wenn diese gestört ist, hat es meist keinen Sinn, argumentativ zu verhandeln. Es ist auch nicht richtig, dieses Element der Beziehung auszuschalten und sich nur auf die Sache zu konzentrieren. Denn die verdrängten Affekte brechen doch immer wieder hervor. In der Therapie wird der Störfaktor „behandelt". Liegt er auf der Beziehungsebene, muß daran gearbeitet werden; liegt er auf der Sachebene, muß man sich auf diese konzentrieren. Hat man Kodierungs- oder Dekodierungsprobleme festgestellt, müssen sie geklärt werden. Wir wissen aus der Erfahrung, wie schwer das ist, weil es sich hier um den erwähnten „Kommunikationskreis" handelt, der allzuleicht zum „Teufelskreis" bzw. zum „circulus viciosus" wird. Ein Dissens auf der Sachebene entsteht, wenn eine Behauptung des Senders vom Empfänger nicht überprüft werden kann: weder im Dialog selbst noch im Kontext. In diesem Fall muß ein Argumentationsverfahren in Gang gesetzt werden. Beim Argumentationsverfahren unterscheidet man ebenfalls drei Phasen: 18

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Vgl. W. Beinert, Wenn zwei sich streiten, a.a.O., S. 31-36.

1. die Geltungsproblematisierung, wenn man die Zweifel beim Empfänger aufgreift; 2. die Geltungseinlösung, wenn man nun Argumente von Seiten der Partei anfuhrt, der gegenüber der Zweifel aufgekommen ist. Hier wird Wissenschaft, Theologie oder was sonst zur Rede steht, in Anspruch genommen und „argumentiert". 3. Die Geltungsratifikation kommt dann zustande, wenn die beiden beigebrachten Argumente durch den Empfanger sozusagen „ratifiziert" werden. Wenn dies geschieht, kann die unterbrochene Kommunikation fortgesetzt werden. Wenn nicht, besteht weiter ein Dissens. Beim Mißlingen des Konsenses kann der Dialog auf einer anderen Ebene fortgesetzt werden. Man kann dann die Frage stellen, ob der Dissens nicht vor allem auf der Beziehungsebene liegt. Man kann auch versuchen, den Dialog auf der Ebene des „gemeinsamen Handelns" weiterzufuhren. Diese Situation setzt allerdings voraus, daß der Dialog „symmetrisch" ist, d.h., daß die Gesprächspartner „gleichrangig" sind. Doch das ist selten der Fall, weil die Gesprächspartner immer auch im Interesse oder in Abhängigkeit einer Institution oder Gruppe sprechen. Die Theologen tun das oft im Namen oder in Abhängigkeit von der Kirche, die Politiker von ihrer Partei, die Arbeitnehmer in Abhängigkeit von ihrem Brotgeber. Diese Fragen müssen wir hier ausklam19

mern. Wichtig ist jedoch zu wissen und nie außer acht zu lassen, daß Konflikte nur auf dem Weg des Dialogs gelöst werden sollen und können. Das gilt von der Kirche in besonderem Maße, weil sie eine communio ist, die der communicatio bedarf. Sie ist also eine Gemeinschaft, die aus der „Mit-Teilung" lebt. Das Thema Kommunikation „lehrt keine rechten Wege, sondern nur das richtige Gehen [...] In der Partitur für die ,Themen der Theologie' ist für Kommunikation nur ein Instrument vorgesehen. Das aber sollten wir spielen, und 20

"

zwar im Orchester". Ahnlich wie es mit der Rolle der Erkenntnis tiefenpsychologischer Vorgänge und Methoden zur Konfliktbewältigung ist, ist auch die Kommunikationstheorie eine unentbehrliche Hilfe dazu. Gewiß ist: Auch hier stoßen wir auf Grenzen, die uns bewußt machen, daß die communicatio als κοινωνία letztlich ein theologischer Begriff ist. Anders gesagt: Auch diese Frage kann nicht abgesehen von der in Christus begründeten Gemeinschaft geklärt werden. Doch es gibt Fragen, die gewissermaßen im Vorfeld der Theologie behandelt werden müssen, wie die hier aufgewiesenen: Wie entsteht Kommunikation, warum und unter welchen Voraussetzungen wird sie gestört und was kann man tun, um die Störung zu beheben? Die Kommunikationswissenschaft kann 19 20

Vgl. W. Beinert, Wenn zwei sich streiten, a.a.O., S. 36ff. H.-D. Bastian, Kommunikation, a.a.O., S. 173.

131

uns Material zur Antwort und Instrumente zur Behandlung liefern. Diese sollen wir so gut wir können einsetzen. Das Problem der gestörten Kommunikation ist kein spezifisch theologisches oder kirchliches, sondern existiert heute in allen Bereichen menschlichen Zusammenlebens.

c) Konfliktregelung als Rechtsproblem Neben den aufgewiesenen Bemühungen um Konfliktbeilegung auf psychologischem und soziologischem Gebiet gibt es Verfahrensweisen der Bewältigung von Konflikten durch Regelungen und Steuerungen, die sich auf Gebiete beziehen, wo durch die klassischen rechtlichen Maßnahmen, Gesetze, Mehrheitsentscheidungen oder das „hoheitliche Verwaltungshandeln" das erwünschte Ergebnis der Klärung und Befriedung nicht erreicht wird. Es geht also um eine rechts-, verwaltungs- und politikwissenschaftliche Diskussion, die den Versuch unternimmt, in bestehenden Konflikten auf diesem Gebiet eine konsensuale Lösung durch Verhandlungen zwischen allen Beteiligten und den Betroffenen herbeizuführen, also Vermittlung anzustreben. Diese Bemühungen sind durch die sogenannte „Konsensustheorie" von Jürgen Habermas angeregt worden. Der moderne Theologe und Seelsorger, der sich um Friedensstiftung und Vermittlung zwischen streitenden Personen, Parteien, Völkerschaften und Kirchen bemüht, kann aus den Erkenntnissen dieser Wissenschaft Wichtiges lernen und muß sich mit den Ergebnissen zumindest bekannt machen. Im Folgenden sollen einige bedeutsame Erkenntnisse auf diesem Gebiete angeführt werden.21 Wenn wir von Vermittlung sprechen, geht es lediglich um die Vermittlung bei der Streitbeilegung zwischen Personen, Parteien und anderen Gruppierungen. Wir meinen damit das Bemühen von einzelnen Gruppen oder Institutionen, zwischen zwei oder mehreren Konfliktparteien die gegenseitige Bereitschaft und Fähigkeit zu Verständigung, Annäherung, Kompromiß und Versöhnung zu fordern, um so den Konflikt zu mindern oder zu lösen. Es gibt drei Arten von „Vermittlung": 1. durch neutrales Handeln, wenn alle Parteien gleich behandelt werden und der Vermittler nur „Moderator" ist; 2. durch Stärkung und Unterstützung eines Standpunktes, wobei dann der Vermittler nicht neutral, sondern offen parteiisch ist; 3. durch unabhängiges, aber schöpferisches Handeln, wenn der Vermittler einen neuen, eigenen, unabhängigen Lösungsversuch unterbreitet.

21

25.

132

Vgl. zum Folgenden: Chr. Stückelberger, Vermittlung und Parteinahme, a.a.O., S. 2 3 -

Voraussetzung für solche Vermittlung ist, daß der Vermittler von den Konfliktparteien anerkannt ist und von ihnen zur Vermittlung herbeigerufen oder sein eigenes Angebot angenommen wird. Es gibt eine Fülle von Vermittlungshandlungen. In der Ethik kann man zwischen unterschiedlichen Normen vermitteln. In der Hermeneutik, der Lehre der Auslegekunst und Theorie des Verstehens, geht es um die Vermittlung von Verständlichkeit bei unverständlichen Texten und widersprüchlichen Auslegungen. Es gibt weiterhin den sogenannten „interdisziplinären Dialog", bei dem zwischen verschiedenen Wissenschaften „vermittelt" wird, zum Beispiel zwischen Geistes- und Humanwissenschaften, zwischen Theologie und Naturwissenschaften usw. Wir kennen den Begriff auch in der Theologie als „ Vermittlungstheologie" des 19. Jahrhunderts, wo in den Auseinandersetzungen zwischen liberaler und positiver Theologie, d.h. zwischen modernem Wissenschaftsdenken und dogmatischer Überlieferung oder zwischen Liberalismus und Pietismus vermittelt wurde. Sie halfen Kirchenspaltungen zu verhindern, wenn auch dabei mitunter der Vorwurf der Halbheit und des Ekklektizismus erhoben wurde. Heute ist vor allem die politisch-internationale Vermittlung in Konfliktregelungen von Bedeutung, wie sie im 20. Jahrhundert von Völkerbund und UNO, aber auch durch die Initiative einzelner oder bestimmter Institutionen und Staaten versucht wurde. Die Vermittlung spielt auch im Völkerrecht, ja überhaupt in Rechtsfragen auf dem Gebiet der Politik, der Ökologie u.a. Gebieten eine wesentliche Rolle. Das Völkerrecht unterscheidet fünf Verfahren zur Streitbeilegung: 1. Durch die Leistung ,guter Dienste". Damit ist das Bemühen einer neutralen Person oder am Konflikt nicht beteiligten Macht gemeint, zwischen den Konfliktmächten eine Verbindung herzustellen und sie an einen gemeinsamen Verhandlungstisch zu bringen. 2. Durch die Vermittlung. Hier ist die neutrale Partei nicht nur unbeteiligter Vermittler eines Gespräches, sondern unterbreitet selbst konkrete Vorschläge zur Beilegung des Konflikts (wie Kompromißlösungen, Waffenstillstand usw.). Diese Vermittlung ist in der UNO-Charta von 1945 in Art. 33 genannt. 3. Durch das Vergleichsverfahren. Hier nimmt die Vermittlungsperson oder -partei eine Mittlerstellung zwischen rein diplomatischen und rein gerichtlichen Verfahren ein. Es werden auch hier Vorschläge gemacht, aber gleichzeitig Vergleichskommissionen eingesetzt, die den Tatbestand klären und Vorschläge unterbreiten. 4. Durch das Schiedsverfahren. Hier bestellen die Streitparteien das Schiedsgericht, bei dem in der Regel je ein Richter bestimmt wird und diese beiden einen dritten Richter wählen. 5. Durch das internationale Gerichtsverfahren. Hier wird der Konflikt vor ein internationales Gericht gebracht.

133

Es sei darauf hingewiesen, daß man heute auch von der Vermittlung in therapeutischen Prozessen spricht. Der Therapeut in einer Paar- und Familientherapie wird ebenfalls als „Vermittler" verstanden, nachdem er sich in der Rolle des Dritten, oft Zentralen, zwischen zwei Konfliktparteien befindet, seien dieses Ehepaare oder Familienglieder. Konflikte werden hier entweder durch Aufarbeitung der biographischen Tiefen zu lösen versucht oder durch gegenwartsbezogenes, einfühlendes Verstehen „akzeptiert". Die Vermittlung besteht in beiden Fällen in der Wiederbelebung der Kommunikation zwischen den Konfliktpartnern.22 Doch zunehmend taucht das Problem auch in der Rechts- und Gesellschaftsordnung überhaupt auf und scheint sich die Vorstellung durchzusetzen, daß es neben den etablierten Verfahren der Konfliktbewältigung - wie die Mehrheitsentscheidung, Gerichtsentscheidung, Schiedsspruch oder behördliche Anordnung - immer nötiger wird, Verfahren zu nutzen, die nicht auf dezisionistische sondern auf konsensuale Lösungen zielen. Ein wichtiger Grund dafür ist, daß deutlich wird, daß die traditionellen staatlichen Mittel der Lösung von Konflikten durch (rechtliche, gerichtliche u.ä.) Entscheidungen häufig unzulänglich sind, vor allem das einseitige „hoheitliche" Entscheiden. Auf der Suche nach Alternativen schaut man nach „Verhandlungslösungen" aus, die in der Rechtsordnung etwas Neues darstellen. Das Verwaltungsrecht z.B. kennt im allgemeinen die Ausnahme eines „konsentierten Verwaltungshandelns" nur in Form des öffentlich-rechtlichen Vertrages. 23

Das einseitige Handeln gilt im allgemeinen als Normaltyp. Heute spricht man jedoch von einer „Krise regulativer Politik". Mit dieser ist jene imperative Steuerung gemeint, die durch einseitige Gebote und Verbote bzw. die anschließende Sanktionierung bei Übertretung zustandekommt. Widerstand gegen behördliche Entscheidungen, öffentlicher Protest oder stilles Unterlaufen dieser Ordnung führt zu der erwähnten Krise. Ein weiterer Grund für diese Weise der Konfliktbearbeitung durch Verhandlung mag auch die Tatsache sein, daß manche staatliche Regulierungen das eigentlich erwünschte Ziel verfehlen. Gewiß ist damit die „regulative Politik" nicht überholt, sondern auch in Zukunft weitgehend unverzichtbar (wie das Polizeirecht, das Steuerrecht, das Verkehrsrecht, das Umweltschutzrecht). Aber der Weg der „regulativen Politik" ist wohl nicht mehr der einzig mögliche, sondern bedarf der Ergänzung der Steuerungsarten und Steuerungswege durch die Mittel der Kooperation mit den Betroffenen: durch Mithilfe bei der Informationserhebung, bei der Aufklärung von Sachverhalten, beim Auffinden von Al22

Chr. Stilckelberger, Vermittlung und Parteinahme, a.a.O., S. 25-28. Vgl. zum Folgenden: W. Hoffmann-Riem, Interessenausgleich durch Verhandlungslösungen, in: J. Calliess/M. Striegnitz (Hg.), Um den Konsens streiten. Neue Verfahren der Konfliktbearbeitung durch Verhandlungen, Loccum 1991 (Loccumer Protokolle 12/89), S. 9ff. 23

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temativen, bei der Instrumentsuche und schließlich bei der Umsetzung gefundener Lösungen, d.h. bei der Durchführung der Entscheidung. Fragt man, wie es zu erklären sei, daß der Staat mit seiner „regulativen Politik" oft so wenig Erfolg hat, muß man auch das Problem der Überforderung erwähnen, das oft die Spitzen der Politik betrifft. Darum gibt es den Versuch einer „staatlichen Politik der Staatsentlastung". Hier ist nicht allein der Markt der Regulator, sondern der Staat soll daran mitwirken, daß eine Staatsentlastung zustande kommt. Es geht dann besonders um die Ermöglichung öffentlicher Selbstregulierung, die nicht marktmäßig ablaufen muß. Neben der ökonomischen Orientierung der Staatsentlastung ist der Blick auf weitere Modelle wichtig, insbesondere durch Dezentralisierung und eine verstärkte Selbstverwaltung. Zu den Formen der Staatsentlastung gehört zunächst das, was man Alternativen zur Justiz" nennt. Damit ist die Förderung rechtsstaatlicher Schiedsgerichte, Schlichtungsstellen, Verbandgerichte, vor allem auch betrieblicher und nachbarlicher Konfliktlösungen gemeint, wie sie neuerdings in den USA erprobt wird. Solche Alternativen zur Justiz haben manche Vorteile gegenüber der Einschaltung der Gerichte, wie Ersparnis von Zeit, Geld und Personal, sowie auch mehr Flexibilität. Vor allem besteht die Chance einer Konsenssicherung, die auch in der Zukunft Bestand hat und so dazu beiträgt, daß zukünftige Konflikte dieser Art gar nicht erst entstehen. Eine andere Möglichkeit der Staatsentlastung wären Alternativen zum Verwaltungs- oder Regierungshandeln. In diesem Zusammenhang kann an die sogenannten „Selbstbeschränkungsabkommen" erinnert werden. In dem Bereich des Umweltschutzes gibt es da bereits positive Erfahrungen (wie das Problem der „Einwegflaschen", die neuesten Selbstverpflichtungen der Waschmittelindustrie zur Information über den chemischen Gehalt und damit das Gefährdungspotential, ebenso bei den Zigarettenherstellern u.a.). Eine dritte Weise der Staatsentlastung könnte in der Ergänzung von Prozessen bestehen, die unter Beteiligung der Justiz und Verwaltung ablaufen. Gemeint sind Verhandlungslösungen auch im Bereich der Gerichtsbarkeit, u.zw. nicht nur in Form des klassischen Gerichtsvergleichs. Subtile und vorgelagerte Möglichkeiten der Konfliktbeilegung werden selbst im öffentlichen Recht praktiziert. So kann sich ein Richter schon in einem frühen Stadium eines Prozesses um konzentrierte Konfliktlösung bemühen. Selbst im Strafrecht gibt es Absprachen zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung über Folgen z.B. von möglichen Geständnissen (das Bundesverfassungsgericht in Deutschland hat von diesen Verfahren abgesehen). Auch sonst existieren im Verwaltungsrecht Mechanismen zur Vermeidung der einseitigen Entscheidungen (z.B. die rechtlich vorgesehene Beratung über richtige, also genehmigungsfahige Anträge).

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Schließlich gibt es Bereiche, in denen staatliche Konfliktlösungen überhaupt nicht verfügbar sind, so daß man auf andere Wege der Konfliktbeilegung ausweichen muß (konsensuale Lösungsmöglichkeit im Bereich des Völkerrechts). In der westlichen Rechtsordnung hat sich auch der Begriff des „Interessenausgleichs", besonders im Bereich der Verwaltung, durchgesetzt. Dieser wird durch „Verhandlungslösungen" erzielt und unterscheidet sich durch vielfach praktizierte „informelle Abklärungen", wie es sie im Wasserhausaltsrecht, im Bauplanungs- und Bauordnungsrecht, im Abfallsrecht, im Energiewirtschaftsrecht, im WirtschaftsfÖrderungsrecht, im Steuerungsrecht und im Gesundheitsrecht gibt. Als „Indikatoren" gelungenen Interessenausgleichs gelten Akzeptanz und Konsens. Unter Akzeptanz wird die „Anerkennung, mindestens Hinnahme einer Entscheidung als vorteilhaft oder zumindest als interessengerecht, hilfsweise als jedenfalls fair oder als das Maximum, das unter den gegebenen Rahmenbedingungen erreichbar war", verstanden.24 Unter Konsens versteht man Zustimmung. Sie kann formaler, aber auch inhaltlicher Art sein. Konsens setzt regelmäßig die Anerkennung der Entscheidung als vorteilhaft und interessengerecht voraus. Konsens und Akzeptanz müssen nicht identisch sein. Es ist denkbar, daß eine Entscheidung zwar akzeptiert, ihr aber nicht zugestimmt wird. Die Nutzung von Konsens und Akzeptanz ist in einer interessendivergierenden Gesellschaft selten möglich. Deswegen bindet die Rechtsordnung die Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns nicht an Akzeptanz oder gar Konsens der Betroffenen. Darum hat die Konsenstheorie hat auch ihre Grenzen. Sie kann dazu führen, daß vorhandene Interessengegensätze verschleiert werden. Darum ist es wichtig, daß die Gesellschaft bei ihrem Versuch, Konsens zu finden und Akzeptanz zu erreichen, die Interessenvielfalt nicht vernachlässigt. Es darf auch keine Ächtung Nichtkonsensbereiter oder Nicht-Konsensfahiger geben. Die Gesellschaft hat Mechanismen, um auch ohne Konsens arbeiten zu können. Deswegen ist die Erzielung des Konsens nur dann in einer Gesellschaft erstrebenswert, wenn diese Gesellschaft zugleich die Konflikte akzeptiert. Es geht also nicht nur darum, den Konsens zu erzielen, sondern ebenso darum, daß man um 25 den Konsens streiten darf und soll.

24 25

W. Hoffmann-Riem, Interessenausgleich durch Verhandlungslösungen, a.a.O., S. 28f.

W. Hoffmann-Riem, Interessenausgleich durch Verhandlungslösungen, a.a.O., S. 30. Siehe auch Titel der „Loccumer Protokolle", 12/89, a.a.O.: „Um den Konsens streiten. Neue Verfahren der Konfliktbearbeitung durch Verhandlungen".

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2. Der Versöhnungsdienst in der Kirche

Der Dienst der Versöhnung muß in der Kirche beginnen. Die Kirche hat hier eine „Vorreiterrolle". Aber Versöhnung kann nur weitergeben, wer sie selbst erfahren hat. Kirche kann den „Dienst der Versöhnung" nur tun, wenn sie selbst die Versöhnung praktiziert. Darum müssen unsere Überlegungen zum Dienst der Versöhnung (διακονία της καταλλαγής) bei der Kirche beginnen. Das Problem des „Konsens" ist schon in der Kirche ein recht komplexes. Die „Communio"-Gestalt der Kirche, von der wir gesprochen haben, ist das darf nicht vergessen werden - eine gestörte Gemeinschaft. Auch dieser Aspekt begegnet bereits im Neuen Testament. Paulus beschreibt (1. Kor 10,16f) die Gemeinschaft als Teilhabe am Leib und am Blut Christi angesichts von Streitfragen in der Gemeinde Korinth. Es gibt Problemfälle, die diese Gemeinde an den Rand des Abgrundes, nämlich der Spaltung zu bringen drohen. Die Leute der Chloë hatten Paulus berichtet, daß es Streit unter den Korinthern gebe (1. Kor 1,11). Auch der 1. Johannesbrief wurde abgefaßt, weil es unter den Gemeindegliedern „Kommunikationsstörungen" gab: durch die Irrlehrer wurden die Christen gespalten (1. Joh 2,18-27 ist von denen die Rede, „die euch verführen"; 4,1 wird gesagt: „Glaubt nicht einem jeden Geist, sondern prüft die Geister, ob sie von Gott sind, denn es sind viele falsche Propheten ausgegangen in die Welt"). Solche Probleme begleiten die Kirche durch ihre ganze Geschichte, bis auf den heutigen Tag. Der Hauptgrund ist, daß diese Gemeinschaft gestört, wenn nicht gar zerbrochen ist. Es ist dies aber nicht ein bedauerlicher Unfall, der „immer wieder" auftritt, sondern ein „Ereignis", das die Bibel „Sünde" nennt. Sünde ist die Aufkündigung der Gemeinschaft mit Gott, der Bruch, der Riß, der dadurch auch jede Gemeinschaft unter Menschen betrifft. Nach Paul Tillich, der die Sünde als „Entfremdung" beschrieben hat, ist die Versöhnung der Begriff, der der „Entfremdung" - also „Sünde" - gegenübersteht. Zusammen sind sie „Schlüsselworte zum Verständnis der universalen Geschichte des Seins und ihres endgültigen Sinns".26 Bei Paul Tillich steht der Begriff im Zentrum seiner Anthropologie und des Sündenverständnisses im besonderen. Er kann auf eine lange Traditionsgeschichte zurückblicken und beginnt bei J.J. Rousseau, J.G. Fichte, Fr.W. Schelling, Κ. Marx und S. Freud. Es legt sich nahe, gerade auf Tillich näher einzugehen, weil bei ihm das Schlüsselwort „Versöhnung"

26

G. Hummel, Sehnsucht der unversöhnten Welt, a.a.O., S. 24.

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auf dem Hintergrund des Begriffs der „Entfremdung" entwickelt wird. Für ihn ist die ganze menschliche Existenz als Zustand der Entfremdung zu begreifen, und zwar im dreifachen Sinn: als Entfremdung vom Seinsgrund (Gott), vom anderen Wesen (Mitmenschen) und von sich selbst. 27 Sie ist gleichermaßen tragisch und moralisch, universales Geschick und aktuelle Schuld. Dabei ist Sünde für Tillich nur diese letzte Dimension der Entfremdung im persönlichen Bereich. Der Mensch gehört wesentlich oder essentiell dem noch an, dem er sich entfremdet hat. Der „Sündenfall" ist das „Herausfallen" aus der Essenz in die Existenz. Existenz ist demnach „gestörte Essenz". Der Drang zur „Wiedervereinigung des Getrennten" und damit zur Aufhebung der Entfremdung manifestiert sich in der Liebe. Entsprechend den drei Dimensionen der Entfremdung beschreibt sie Tillich als Unglaube (der geschickhaft-aktuelle Verlust der Seins- und Erkenntniseinheit von Gott und Mensch), Konkupiszenz (die geschickhaft-aktuelle Zerstörung der Ich-Welt-Einheit, die der Mensch durch maßlose Machtbegierde über das Mitseiende verwirklicht) und Hybris (die geschickhaft-aktuelle Destruktion der Einheit des Menschen mit sich selbst, die in Lebenshandlungen der Selbstüberhebung über seine Endlichkeit zum Ausdruck kommt). 28 Der Mensch des Unglaubens, : der Konkupiszenz und der Hybris steht als Christ innerhalb der Kirche in der Spannung zwischen der zerstörten Einheit und dem Drang nach „Wiedervereinigung" des Entzweiten und damit nach „Wiederherstellung" einer ursprünglichen, aber zerstörten Einheit. 29 In dieser Spannung ergibt sich eine Reihe von Fragen, wie die Versöhnung zwischen gegensätzlichen Erwartungen und Lösungsversuchen aussehen könne. Sie sollen im Folgenden unter drei Gesichtspunkten behandelt werden. Erstens als Frage eines Konsensus in der Kirche angesichts des Pluralismus in der Welt [a)]. Zweitens als eine Frage „geschwisterlichen Streitens" in der Kirche angesichts ihrer volkskirchlichen Gestalt [b)] und schließlich als Frage des Dialogs in der Kirche angesichts ihrer Machtstrukturen [c)].

a) Konsensus in der Kirche angesichts des Pluralismus der Welt Die Frage des Konsensus in der Kirche ist mehr als lediglich „Lösung von Konflikten". Es geht letztlich um die Wahrheitsfindung überhaupt, die besonders in ökumenischen Gesprächen aufbricht. Das ist allerdings ein altes Prob27

P. Tillich, Systematische Theologie, Bd. II, Stuttgart 31958, S. 52. P. Tillich, Systematische Theologie, Bd. II, a.a.O., S. 52-68. 29 P. Tillich, Entfremdung und Versöhnung im modernen Denken, in: Philosophie und Schicksal. Schriften zur Erkenntnislehre und Existenzphilosophie, GW Bd. IV, Stuttgart 1961, S. 183. 28

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lem. Dem traditionsbedingten Anspruch auf Wahrheit steht seit altersher die Forderung nach Offenheit und Pluralismus gegenüber, die den Dialog notwendig macht. Darum wird der Gegensatz zwischen der Wahrheitsforderung des Evangeliums - und erst recht der einzelnen Kirchen - und dem Anspruch auf Pluralismus ein beständiges Problem in der Kirche bleiben. Allerdings muß festgestellt werden, daß es den Pluralismus in der Kirche immer schon gegeben hat. Er widerspiegelt sich in den einzelnen Schriften der Bibel, vor allem im Neuen Testament und in den Schichten und Traditionsquellen einzelner Schriften.30 Umso größer ist er dann in der Lehre der Kirche, in der Liturgie und im Ritus sowie in kontextuellen Gegebenheiten (Sprache, kulturbedingter Tradition, Ordnungen und Formen des kirchlichen Lebens). Die Unterschiede können als Reichtum angesehen werden, die nicht kirchentrennend sein müssen, aber ebenso Grund des Dissens sein können, der zur Spaltung der Kirche fuhrt. Die eine Kirche (Joh 17,21) gibt es immer nur in der 31

Vielfalt der Welt. Denn Rechenschaft des Glaubens findet gleichzeitig vor Gott und der Welt statt. Es gibt also einen „Weltbezug des Glaubens", der die Vielfalt in die Kirche bringt, weil die Welt in einem ständigen Wandel begriffen ist. Wir haben die Wahrheit Gottes immer nur in verschiedenen menschlichen Perspektiven. Freilich scheint dadurch die Identität der Kirche gefährdet zu sein. Daraus ergibt sich die Frage, welches Maß an Vielfalt in der Kirche als Ausdruck jenes „Reichtums" des Evangeliums zugelassen werden darf. Die Vielfalt ist jedoch auch eine Herausforderung, die die kirchliche Lehre und das Bekenntnis lebendig erhält. Sie macht den Lernprozeß möglich, der in der Kirche unerläßlich ist. Der Jünger Jesu ist der „Typus des Lernenden", im Unterschied zum pharisäischen „Typus des Befangenen". In derdieNachfolge Jesu muß Offenheit und Lernbereitschaft Raum haben. 32 Auch Kirche muß 33

eine „lernbereite Kirche" sein. Dies aber setzt den Dialog voraus. Er ist daher - nicht nur der Welt sondern auch ihrem Herrn gegenüber - die einzige legitime Form des Umgangs mit der Vielfalt in der Kirche. Das eigentliche Problem beginnt dort, wo der Vielfalt der Meinungen eine eindeutige Entscheidung weichen muß. Das war in Zeiten der Bekenntnisbildung, wie schon im „Apostelkonzil" im Jahre 49 (Apg 15), der Fall und wird in entscheidenden Phasen der Kirchengeschichte bei Bekenntnisbildung in der al-

30 J. Dantine, Die Kirche vor der Frage nach ihrer Wahrheit, Die reformatorische Lehre von den „notae ecclesiae" und der Versuch ihrer Entfaltung in der kirchlichen Situation der Gegenwart, Göttingen 1980 (KiKonf, Bd. 123), S. 120. 31 Vgl. H. Zähmt, Westlich von Eden, a.a.O., S. 193. 32 D. von Oppen, Der sachliche Mensch, Stuttgart-Berlin 1968, S. 137ff. 33 W. Krusche, Verheißung und Verantwortung. Orientierung auf dem Weg der Kirche, Berlin 1990, S. 101.

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ten Kirche ebenso wie in der Reformationszeit oder im 20. Jahrhundert immer wieder notwendig. Dabei ergibt sich die Frage: Wann, wie und von wem sind diese Entscheidungen zu treffen? Schon die alte Kirche kannte die Praxis, Entscheidungen über Lehre und Kirche im Konsens der legitimen Repräsentanten der Kirche zu treffen. Dazu war das Konzil bestimmt. Kein Wunder, daß kein geringerer als Dietrich Bonhoeffer, bereits in seiner Schrift „Sanctorum communio", die Frage des Konzils angeschnitten hat, über die er in seiner Ekklesiologievorlesung Ausführungen macht. Schwierige Fragen, wie die Judenfrage und überhaupt Fragen des politischen Handelns, müßten durch eine Konzilsentscheidung gelöst werden, wobei er ein „evangelisches Konzil" im Auge hatte. Doch nicht nur für die evangelische Kirche in Deutschland, sondern für die ganze Ökumene forderte er ein Konzil, das die Kirche Christi vertritt, die „ihren Söhnen im Namen Christi die Waffen aus der Hand nimmt und ihnen den Krieg verbietet und den Frieden Christi ausruft über die rasende Welt".34 Doch vor allem das Häresieproblem soll von einem Konzil behandelt werden. Diese Frage stellen heißt Selbstkritik üben. In der ökumenischen Bewegung ist dieser Gedanke durch den Vorschlag eines allgemeinen „Friedenskonzils" (Friedrich von Weizsäcker) aufgenommen worden. Damit hat man begonnen, Häresie nicht in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart zu orten. Wahrheitsfindung durch Konsens macht deutlich, daß Mehrheitsentscheidungen in der Kirche fragwürdig sind. Freilich: der Geist der Wahrheit läßt sich nicht an eine institutionalisierte Vorgangsweise binden. Auch im Verlauf der Konzilsgeschichte wurde immer versucht, über Veränderungen der Zusammensetzung und der Verhandlungsmodalitäten neue Konsens- und Entscheidungsmöglichkeiten zu gewährleisten, die der Wahrheitsfindung mehr entsprechen. Wir wissen, daß die konkrete Gestalt eines „repräsentativen Kollektivs" in der Kirche noch nicht gefunden ist.35 Für den Konsens in der Kirche hat sich der Begriff „qualifizierter Konsensus" durchgesetzt, der etwas anderes als der „begründete Konsensus" bei Jürgen Habermas ist. Denn die Qualifikation bezieht sich nicht nur auf die Qualität der Begründung, sondern auch auf die Qualität der Konsentierenden. Es ist also sowohl die Qualifikation der Träger des Konsens als auch die Begründung des Konsens von Bedeutung. Die Qualifikation der Person ergibt sich aus der fachlichen Kompetenz, die Qualifikation der Begründung ergibt sich in 34

D. Bonhoeffer, GS Bd. I, S. 218f; bei J. Dantine, Die Kirche vor der Frage nach ihrer Wahrheit, a.a.O., S. 74. 35 F. Schupp, Auf dem Weg zu einer kritischen Theologie, 1974, S. 77; bei J. Dantine, Die Kirche vor der Frage nach ihrer Wahrheit, a.a.O., S. 124.

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der Diskussion, ist also nicht an ein Amt gebunden. Das heißt, daß kirchliche Entscheidungen nicht an öffentlich qualifizierten Konsensen vorbeigehen können und dürfen. So ist die Reformation nicht das Werk eines Konzils oder eines einzelnen, sondern Ergebnis eines „qualifizierten Konsenses". Schon das Apostelkonzil war eigentlich ein solcher Konsens, denn Paulus wäre zweifellos unterlegen, wäre die Entscheidung nur aufgrund der Stimmenanzahl getroffen worden. Wichtig ist noch die Frage, „wann" solche qualifizierte Entscheidungen getroffen werden können. Ein wichtiger Hinweis darauf ist dieser: wenn eine Entscheidung reif geworden ist. Solche Reifezeiten waren im 16. Jahrhundert für die Reformation oder im 20. Jahrhundert fur die „Ökumene" gekommen. Die Forderung nach einem qualifizierten Konsens in der Kirche bedeutet, daß sich die kirchlichen Meinungs- und Entscheidungsträger um Konsensbildung bemühen müssen. Nicht alles, was für Theologen wichtig oder gar eindeutig ist, ist bereits für die Kirche entscheidend oder nur akzeptabel. Das ist in der Kirche allein dann der Fall, wenn die Konsensbildung möglich geworden ist. Diese fordert einen eingehenden, unermüdlichen Dialog, wobei die gewonnenen Einsichten über Konsensfindung durch den Dialog eine entscheidende Hilfe sein können. Wichtig ist, daß der Dialog ein „herrschaftsfreier Diskurs" ist (J. Habermas). Es muß also „Freizügigkeit zwischen den Diskursebenen" gesichert sein. Dazu gehört nach J. Habermas: „Alle potentiellen Teilnehmer eines Diskurses müssen die gleichen Chancen haben, kommunikative Sprechakte zu verwenden, so daß sie jederzeit den Diskurs eröffnen sowie durch Rede und Gegenrede, Frage und Antwort perpetuieren können; Alle Diskussionsteilnehmer müssen dieselbe Chance haben, Deutungen, Behauptungen, Empfehlungen [...] aufzustellen, und deren Geltungsanspruch zu problematisieren, zu begründen oder zu widerlegen [...]; Zum Diskurs sind nur Sprecher zugelassen, die als Handelnde gleiche Chancen haben, repräsentative Sprechakte zu verwenden [...]; Zum Diskurs sind nur Sprecher zugelassen, die als Handelnde die gleiche Chance haben, regulative Sprechakte •

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zu verwenden, d.h. zu befehlen und sich zu widersetzen [...]". Allerdings bleibt die große Frage, ob die Kirche in der Lage ist, herrschafitsfreie Diskurse zu ermöglichen oder auch nur zuzulassen, wenn auch diese Forderung ein altes, gar nicht neues Theologumenon ist, das sich allerdings in der Praxis schwer durchsetzt. Trotzdem muß der Konsens stets gesucht und festgestellt werden, wo die Unterschiede nicht kirchentrennend sein müssen.

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Nach J. Dantine, Die Kirche vor der Frage nach ihrer Wahrheit, a.a.O., S. 126f.

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b) „ Geschwisterlicher Streit" in der Kirche angesichts ihrer volkskirchlichen Gestalt Wie steht es nun mit der Forderung, die Vision von der „Kirche Jesu Christi" mit ihrer volkskirchlichen Gestalt zu versöhnen? Wenn man von der „Geburtsstunde" der Kirche ausgeht, kann man an der Pfingstgeschichte des Lukas (Apg 2) ablesen, wie am Anfang ihrer Entstehung der große Konsens, das tatsächliche Versöhntsein steht. Dieses war Frucht des Geistes und äußerte sich - vielleicht auch nur „in der Erzählung eines Traumes" oder als „Jugendtraum der Kirche" - in der einen Sprache, die niemanden ausschloß, in der Versöhnung zwischen Jung und Alt (denn auch die Jüngeren hatten „Träume"), in der Versöhnung zwischen „Herren und Knechten" (auch die Knechte und Mägde hatten Träume) und im gemeinsamen Besitz. Wir folgern demnach, daß die Vision der Kirche hier dadurch gekennzeichnet ist, daß es keine Herrschaft des einen über den anderen gibt und daß der Besitz gemeinsam verwaltet wird. Wenn das auch unrealistisch klingt, ist es doch das Erbe, das wir in unserer Tradition von der Vision der Kirche mittragen. Diese Tradition ist eine verpflichtende Geschichte geblieben und wir können sie trotz allem auch für uns nicht ausstreichen. Die „Pfingstkirche" war eine „Kirche von unten". Sie stellte eine Minderheit dar, mit einer radikalen Ansicht und Vision der Kirche. Mit der späteren, heutigen Volkskirche deckt sie sich längst nicht mehrt. Das Evangelium und die volkskirchliche Realität sind nicht „konsensfahig". Radikale Ansichten im Evangelium stehen im Konflikt mit ihr. Ein biblisches Beispiel für diesen Sach-verhalt ist das Wort, daß es leichter sei, „daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als daß ein Reicher ins Reich Gottes komme" (Mt 19,24). Was tut man in diesem Konflikt zwischen der inneren Wahrheit des Evangeliums und der Forderung nach der Gerechtigkeit in der Kirche, die sich daraus ergibt? Was bedeutet das für die Einheit der Kirche? Ist es nicht so, daß diese Wahrheit des Evangeliums die Einheit der Volkskirche in Frage stellt? Geht also Versöhnung in der Kirche nicht oft auf Kosten dieser Wahrheit? Wird darum nicht in erster Reihe - als nächstliegender Weg - die Wahrheit der Einheit geopfert? Das wäre der „amtskirchliche" Weg. Wahr ist, was konsensfähig ist. Streitende Auseinandersetzungen werden als Unwerte, Einheit und Versöhnung dagegen „ohne weitere Fragen" zu den höchsten Werten erklärt. Im „kirchenleitenden" Handeln werden im Interesse der Versöhnung und der Zusammenarbeit zwischen den divergierenden Meinungen manche große Wahrheiten des Evangeliums abgemildert. Dem müßte man entgegenhalten: 37 „Nicht der Konsens macht frei, sondern die Wahrheit".

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Der andere Weg ist der, daß man diesen Konflikt los wird, indem der Volkskirche eine Eindeutigkeit aufgezwungen wird, die vom Evangelium her diktiert ist, die sie allerdings nicht halten kann, solange sie eben eine Volkskirche darstellt. Denn wer in der Volkskirche bleiben will, kann nicht so tun, als sei er schon in der „wahren Kirche" angekommen. Die Gruppen in der Kirche, die die Wahrheit des Evangeliums tiefer erkennen und stärker herausstellen wollen, müssen gleichzeitig das „Mitleid" Jesu mit dem Volk haben, und das heißt: das Mitleid mit jenen anderen Gruppen, die „verstreut sind wie die Schafe, die keinen Hirten haben," (Mt 9,36; Mk 6,34) und um deretwillen die Volkskirche nicht jene Eindeutigkeit hat, die sie wünschen. Man muß auch die Anliegen solcher Gruppen sehen und auf sie als „Amtskirche" eingehen. So ist die Aufgabe der „Amtskirche" eher diese, diesen „anderen" entgegenzukommen und dadurch die Kontinuität zu wahren. Die Aufgabe der bibeltreuen Christengruppen ist vielleicht die, als Bewahrer des Geistes des Evangeliums den Bruch mit der Vergangenheit als Garant der Wahrheit zu wagen. Doch beide können gleichzeitig die spezifische Aufgabe des anderen wahrnehmen: das kirchliche Amt die der Notwendigkeit des Bruches, und die Vertreter bestimmter evangeliumstreuer Gruppen die Notwendigkeit der Kontinuität und Tradition. Das bedeutet, daß die Kirche „ein Zeichen des Widerspruchs" bleiben muß, selbst wenn sie nicht bereit sein kann, vielleicht auch nicht iahig dazu ist, das prophetische Amt des Widerspruchs wahrzunehmen. Doch kann sie gemäß ihrer eigenen Tradition den Widersprechenden und Widerstehenden mit einer positiven Haltung gegenübertreten und sie nicht von vornherein wegen Loyalitätsverweigerung verdächtigen. Wenn wir also nicht aus der Volkskirche ausziehen und gleichzeitig die Wahrheit des Evangeliums nicht verraten wollen, so haben wir als einzigen Weg den des geschwisterlichen Streitens, anders gesagt: der Auseinandersetzung, der Diskussion und des Dialogs. Die Konflikte werden nicht mit Gewalt, weder mit Bestrafung noch Ablehnung gelöst, sondern mit einer Diskussionsbereitschaft, die oft Engelsgeduld verlangt. Die Ananias- und Saphiralösung, nämlich die tot umfallen zu lassen, die unrein sind, sich komprommitiert haben oder mit dem Maßgeblichen nicht übereinstimmen, ist nicht unsere Sache, sondern höchstens Gottes Urteil anheim gestellt. Der Weg zur Wahrheit wird im Streit offenbar. Die Wahrheit ist nicht eine starre Formel, sondern „in der Begegnung" da, sie ist dann sozusagen noch in einem flüssigen Zustand und noch nicht in einer Formel erstarrt. Erst die Wahrheit im Diskurs und durch den Dis-

37 F. Steffenski, Die Kraft der Versöhnung und die Notwendigkeit des Streites. Vortrag bei der Evangelischen Akademie-Woche 1995 in Graz (Typoskript), S. 4-6.

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kurs gewonnen ist eine Wahrheit, die sich mitteilen und nicht einfach auferlegen will. Im Diskurs mutet man dem anderen auch die Dialogfähigkeit, ja sogar die Wahrheitsfähigkeit zu, und damit, daß man anderer Meinung ist, ehrt man auch den Gegner in gewissem Sinne. Ein Beispiel hierfür ist das Verhalten bei Ehepaaren. Gerade wenn die Beziehung brüchig ist, wenn die innere Einheit gering ist, neigt man dazu, den Konflikt zu vermeiden und Streitpunkte ungeklärt zu lassen. Damit will man das bißchen Harmonie, das man noch hat, retten. Umgekehrt: Wo man tatsächlich übereinstimmt, wo ein Urvertrauen besteht sowie Respekt und Achtung voreinander die Beziehung bestimmen, da kann man auch ruhig streiten und sich auseinandersetzen, ohne furchten zu müssen, daß damit die Beziehung selbst in Frage gestellt ist. Paare, oft ältere, gleichen sich häufig durch ihre enge Verbundenheit und können trotzdem in einer guten Weise miteinander streiten. Denn sie vertrauen und ehren sich, indem sie ihre eigene Wahrheit dem anderen zumuten. Die Einheit kann man meist nicht direkt anstreben, aber sie kann entstehen, wo man sich anerkennt und achtet. Es gibt eine Einheit durch den Streit hindurch. Sie entsteht dort, wo sich Menschen ihre eigene Wahrheit zumuten, sie miteinander vergleichen und dabei sich selbst und den anderen für wahrheitsfahig - wie auch irrtumsfahig - halten. Das andere Beispiel ist die Politik. Auch hier darf nicht allzuschnell auf Kompromisse als das bloß Opportune und leicht Machbare geschielt werden. Politik soll nicht als Berufung zur Wahrung des öffentlichen Konsenses verstanden werden. Denn dann wird die Erwartung, eine eigene Perspektive zu haben, und die Pflicht, vom eigenen Standpunkt das Ganze zu übersehen und dieser Sicht Geltung zu verschaffen, übergangen. Wer selbst entschieden ist, wird darum auf die Entschiedenheit des politischen Gegners stoßen. Selbst wenn er einen total anderen Standpunkt hat, gilt es, auf seine Stimme zu hören und den Standpunkt zu achten. Es muß der Weg der Auseinandersetzung gegangen werden. Zu dem Sprechen und Hören gehört, sich selbst einbringen und Argumente aufnehmen. „Debatte" lebt vom Widerspiel zwischen Wort und Antwort, Spruch und Widerspruch, oder sie wird zum endlosen Monolog. „Kein noch so brillantes Argument führt weiter, wo es am Kern der Sache oder an dem Her38

zen der Menschen vorbeigeht". Freilich gibt es in der Politik Parlamentsdebatten und Abstimmungen und demzufolge Siege und Niederlagen. Ergebnisse müssen angenommen werden, aber es geht darum, daß sie auch von innen her angenommen werden. Eine Demokratie kann auf Dauer nicht mit bloß äußerer Konsensbildung leben. Dialog ist mehr als zu überlebender Streit; er setzt Annahme der Position des Gesprächspartners von innen her voraus. Zu der Offenheit und Bereitschaft fur den Dialog gehört auch die Bereitschaft zur Versöh38

144

A. Schavan, Über die Kunst des Politischen und die Versöhnung, in: ÖR 1996/1, S. 2.

nung. Denn „Dialog ist der Weg zur Versöhnung, und Versöhnung ist das Ziel 39

von Dialog". Streit um die Wahrheit ist unerläßlich, aber er ist auch ungeheuer schwer. Man staunt manchmal, wie Menschen bei einem Streit keine Handbreit von ihrer Meinung abweichen, festgefahren sind und fast kindisch reagieren, wenn es um andere Meinungen geht. Andererseits kann man und muß man immer neu „streiten lernen". Dazu gehört - nach Fulbert Steffenski 40 -: 1. Die Kunst, an sich selbst zu verzweifeln. Damit ist nicht Mißtrauen gegen sich selbst und Depressivität gemeint. Eher sollte man es als „Humor mit sich selbst" bezeichnen. „Man sollte sich selbst für irrtumsfahig anerkennen und nicht als den Generalvertreter des heiligen Geistes betrachten". Selbstzweifel schwächt zwar die Kampfeskraft, aber er reinigt unser Urteil, unsere Erkenntnis, unseren Streit. 2. Die Fähigkeit, herauszufinden, was ich mit dem Gegner gemeinsam habe. Menschen, die in einem großen geistigen Raum zusammen leben - wie es die Kirche ist - , können nicht so verschieden sein, daß nicht auch etwas Gemeinsames da ist und daß sie gemeinsame Wahrheiten haben. Diese Wahrheiten zu bekennen und zu finden, ist ein Stück Versöhnung im Streit. 3. Die Argumente des Gegners nicht von vornherein als Dummheit zu verstehen, sondern als starke Argumente anzunehmen, zu lösen, deutlich zu machen: Was will der Mensch sagen? Welche berechtigte Wahrheit will er retten? Selbst wenn man sie nicht teilt, muß man ein Stück Wahrheit beim Gegner vermuten. 4. Eine letzte und ganz wichtige Kunst des Streitens ist die Fähigkeit, ungelöste Fragen auszuhalten, Spannungen zu ertragen und zu wissen, daß wir nicht vollkommen sind, auch in unserem Versöhnungsdienst oder -handeln. Es gibt Situationen, die nicht eindeutig sind. Es ist nicht so, daß das Leben nur dann gelingt, wenn bestimmte Sachverhalte eindeutig gelöst sind. Aber wir sind endliche, unvollkommene Menschen, auch im Streit wie in der Versöhnung. Am Schluß halten wir fest: Stärkere Verbindlichkeit im kirchlichen Einsatz gegen die Mächte der Zerstörung, für den Frieden und Gerechtigkeit oder Bewahrung der Schöpfung verstärkt den innerkirchlichen Konflikt eher. Aber auch Jesu Dienst der Versöhnung war nicht konfliktfrei. Und Paulus hatte mit vielen „Konfliktsituationen" in den Gemeinden zu tun. Dem gegenüber steht in der Öffentlichkeit die Erwartung an die Kirchen, daß sie Konflikte abbauen und in der innerkirchlichen Konfliktlösung vorbild-

39

A. Schavan, Über die Kunst des Politischen und die Versöhnung, a.a.O., S. 3.

40

F. Steffenski, Die Kraft der Versöhnung und die Notwendigkeit des Streites, a.a.O., S.

llf.

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lieh seien. Dahinter verbirgt sich die Vorstellung, daß die Kirche eine „Friedensinsel" sein sollte, wo man von gesellschaftlichen Konflikten abgeschirmt ist. Doch angesichts der Wirklichkeit zunehmender Konfliktsituationen in der Kirche darf man sich sagen lassen, daß solche Konflikte legitim sind. Sie können ein Zeichen der Lebendigkeit der Kirche und Ausdruck des Ringens um die Wahrheit sein. Konflikte können auch fur die kirchliche Gemeinschaft hilfreich sein, weil sie Integration in die Gemeinschaft fördern. „Streiten verbindet" - so lautet der Titel eines Buches von G. Bach und P. Wyden.41 Und Rudolf Dahrendorf nennt als positive Funktion von Konflikten die Förderung von Interaktion, Strukturierung von Handlungsabläufen, Rollenregelung, Sozialisation und Förderung der gesellschaftlichen Integration. Gesellschaften und Gruppen, die Konflikte zulassen - wie die Demokratien - sind deshalb lebensfähiger und vitaler als Gesellschaften und Gruppen, die Konflikte unterdrücken.42 Da der kirchliche Dienst der Versöhnung immer ein Dienst in der Welt ist, haben Kirchen ihre internen Konflikte auch deshalb auf sich zu nehmen, „weil der Weltfrieden höher eingestuft werden muß als der Kirchenfrieden". 43 Das heißt, daß der Einsatz für weltweiten Frieden und Versöhnung notwendig innerkirchliche Konflikte auslösen kann. Wenn unsere Kirche „Kirche für andere" sein will, muß sie auch in dieser Hinsicht „stellvertretend für die Welt handeln" 44 Einige Hinweise für das fruchtbare Austragen von Konflikten in der Kirche gibt Christoph Stückelberger. Dies ist möglich, wenn gewaltfreie Konfliktlösungen angestrebt werden, also nicht auf „Herrschaftsentscheidungen" beruhen, wenn Sündenböcke vermieden werden, wenn innerkirchliche Feinde offen bekannt und zugleich geliebt werden, wenn Konflikte nicht zugedeckt werden, wenn Kompromisse sorgfältig erarbeitet werden, wenn die Universalität der Kirche als internationale und interrassische Gemeinschaft gesucht und bewahrt wird, damit Konflikte nicht durch den Ausschluß andersartiger Mitchristen gelöst werden. Innerkirchliche Konflikte sind dann gefährlich und zerstörerisch, wenn Teile der Kirche politisch-nationalistisch vereinnahmt werden und daraus innerkirchliche Spaltungen entstehen. Gefahrlich ist weiter: wenn kirchliche Konflikte von außerkirchlichen Kräften inszeniert werden, um Kirchen oder Staaten zu destabilisieren; wenn kirchliche Sachkonflikte personalisiert werden; wenn Konflikte auf Nebenschauplätzen statt auf den Hauptschauplätzen, das heißt an 41

G. Bach/P. Wyden, Streiten verbindet, Frankfurt a.M. 1985.

42

R. Dahrendorf, Die Funktion sozialer Konflikte in: ders., Gesellschaft und Freiheit, München 1961, S. 112-131. 43 H.-J. Kraus, Systematische Theologie im Kontext biblischer Geschichte und Eschatologie, Neukirchen-Vluyn 1983, S. 527. 44 H. Ruh, Stellvertretung als Modus sozialethischen Handelns, in: ders., Der sozialethische Auftrag und die Gestalt der Kirche, Zürich 1971, S. 179.

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der zur Debatte stehenden Grundsatzfrage ausgetragen werden; wenn innerkirchliche Konflikte rassische, ökonomische oder soziopolitische Ursachen haben, aber allein theologische Ursachen angeführt und analysiert werden. 45

c) Der Dialog in der Kirche angesichts ihrer Machtstrukturen Hier geht es um die Versöhnungsstrategien in kirchenpolitischen Zusammenhängen, die zwar „Regieüberlegungen zur Übertragung sittlicher Impulse auf die Entscheidungsmechanismen der Gesellschaft" 46 im Auge haben, sich aber als Spannungen innerhalb der eigenen Kirche und ihrer „Kirchenpolitik" auswirken und nach Versöhnung rufen. Damit ist gleichsam die „kirchliche Außenpolitik" gemeint, die sich als Konfliktstoff auf die kirchliche „innenpolitische Lage" auswirkt. Eine grundlegende Frage ist dabei unsere Einstellung zur Macht in der Kirche. Wenn Kirchen in Konflikten vermitteln oder Stellung nehmen, können sie sich aus der Machtfrage nicht heraushalten. Denn Politik beinhaltet immer auch Konflikte um Macht. Aber selbst in den eigenen kirchlichen Strukturen (in der Hierarchie, in der Geschlechterfrage, in sozialen Gewichtungen) spielt die Machtfrage eine entscheidende Rolle. Kirchen müssen sich fragen, wie sie zum Problem der Macht stehen, wann Macht legitim und welche Machtausübung christlich verantwortbar oder erforderlich ist. Wo darf Macht eingesetzt und wo darf sie nicht eingesetzt werden? Welche Machtmittel braucht die Kirche für ihren Dienst der Versöhnung - innerhalb der Kirchen und in der Welt? Und wie geht die Kirche mit ihrer Ohnmacht um? 47 Mit dieser Macht ist die Fähigkeit des Menschen gemeint, bei Entscheidungen seine Anliegen und Interessen gegenüber anderen (Menschen, Gruppen, Institutionen) wirksam zu vertreten und nach Möglichkeit durchzusetzen. In der Kirche muß von einem theologischen Verständnis der Macht her unterschieden werden zwischen „Mächten der Unterdrückung" und „Mächten der Befreiung". 48 Diese Unterscheidung ist in der Pilatus-Frage klassisch zum Ausdruck gebracht: „Weißt du nicht, daß ich Macht habe, dich freizulassen, und Macht

45

Chr. Sttlckelberger, Vermittlung und Parteinahme, a.a.O., S. 521. E. Müller, Kirchliche Strategie in der technischen Weltgesellschaft, in: ders., Bekehrung der Strukturen, Zürich 1973, S. 208; bei Chr. Stückelberg, Vermittlung und Parteinahme, a.a.O., S. 528. 46

47

Chr. Stückelberger, Vermittlung und Parteinahme, S. 529. Vgl. zum Folgenden auch seine Ausführungen S. 529ff. 48 So im Bericht aus Vancouver 1983. Offizieller Bericht der Sechsten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen, hrsg. von W. Müller-Römheld, Frankfurt a.M. 1983, S. 112.

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habe, dich zu kreuzigen?" (Joh 19,10). Für den Christen kommt es also darauf an, Macht zu verantworten und als von Gott verliehene Fähigkeit des Menschen zu verstehen und zu handhaben, um Unrecht aufzudecken, Gerechtigkeit zu fördern, Unterdrückte zu befreien, Armen Würde zurückzugeben, Leben zu schützen und Versöhnung zu erwirken. Das heißt: sich in der Machtausübung den Kräften des Todes zu widersetzen und die Mächte des Lebens, der Befreiung und Versöhnung zu fördern. Das bedeutet für die Kirche von heute, daß sie auf Macht nicht verzichten kann, aber daß es eine „dienende" und „partizipierende" Macht sein muß. Nicht wieviel Macht die Kirche hat, ist entscheidend, sondern für wen und mit wem sie sie einsetzt. Diese Rolle des Dienstes, die auch Macht und Herrschaft im Auge haben muß, wird von Jesus seinen Jüngern vorgehalten: „Ihr wißt, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein, und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein" (Mk 10,42-44). Die Kirche braucht demnach auch Macht und kann darauf nicht verzichten, aber sie muß sich davor hüten, daß sich die Macht verselbständigt. Deshalb muß sie begrenzt und kontrolliert werden. Sie darf sich nicht auf die eigene Selbsterhaltung und Machtvergrößerung konzentrieren. Die Mittel, um sich durchzusetzen, liegen äußerlich in ihren wirtschaftlichen Möglichkeiten, in den kirchlichen Mitarbeitern und in der Organisation ihrer Arbeit. Das eigentliche „Machtmittel" ist die Verkündigung der Kirche, die die Gewissens- und Bewußtseinsbildung im Auge hat. Nur im äußersten Fall sollten Kirchen staatliche Gewaltmittel in Anspruch nehmen (bei Konflikten mit anderen Kirchen, wie gewaltsame Gotteshausbesetzungen oder Tätlichkeiten zwischen feindlichen religiösen Gruppen, ist dieser Schritt allerdings unvermeidlich). Ebenso vorsichtig müssen die Kirchen in der Wahl von „Bündnispartnern" sein, um nicht in parteipolitische Spannungen einbezogen zu werden. Sie sollen Politik, aber nicht „Parteipolitik" machen. Das heißt nicht, daß die Kirchen nicht Partei „nehmen" müssen und darum auch Bündnispartner suchen oder sich anderen als Bündnispartner zur Verfügung stellen dürfen. Keine Gruppierung sollte grundsätzlich als Bündnispartner ausgeschaltet sein, sofern sie das christliche Verständnis von Macht und Versöhnung teilt. Von Macht in der Kirche darf man allerdings nicht sprechen, ohne auch von ihrer Ohnmacht zu reden. Paulus weiß: „Die Schwachheit Gottes ist stärker als die Menschen" (1. Kor 1,25), „Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig" (2. Kor 12,19) und „Wenn ich schwach bin, bin ich stark" (2. Kor 12,10). Nach Christoph Stückelberger gibt es drei Arten der Ohnmacht, die es zu überwinden gilt: die Ohnmacht der Armen, die Ohnmacht der Machtträger (das Eingebundensein in Sachzwänge, Rollenzwänge, Eigengesetzlichkeiten, Abhängigkeiten

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vom Volk oder vom Staat) und selbstverschuldete Ohnmacht (durch mangelnde Glaubwürdigkeit, durch konfessionelle Spaltung und Konflikte). Doch gibt es auch Arten von Ohnmacht, die zu fördern sind, wie die selbstgewählte Ohnmacht (durch Machtverzicht) oder die selbstgewählte Ohnmacht durch Hingabe (d.h. selbst schwächer zu werden, damit andere stärker werden).49 In allen diesen Spannungen oder Konflikten, die sich aus dem Umgang mit den Machtstrukturen in der Kirche und ihrer Strategie nach außen ergibt, ist das wichtigste Mittel der Kirche im Einsatz fur Vermittlung und Versöhnung der Dialog. Im Folgenden sollen einige Leitlinien vorgestellt werden, die gleichzeitig gültig sind für den Dialog zwischen den Kirchen und Konfessionen wie auch für den gesellschaftlichen Dialog, im Zusammenhang des Dienstes der Kirchen in der Welt, von den in den folgenden beiden Kapiteln die Rede sein wird. Zunächst: Vom Ziel des Dialoges her bestimmt, gibt es folgende besonders wichtige Dialogarten50 : Der Lerndialog ist ein Dialog, bei dem sich alle Beteiligten als Lernende verstehen. Mit diesem Dialog soll Vertrauen aufgebaut werden, nicht Überlegen- oder Unterlegenheit demonstriert werden. Es wird versucht, Einmütigkeit in Grundfragen zu erarbeiten, indem man mitunter darauf verzichtet, gegensätzliche Probleme zu behandeln. Damit soll Konsensbildung aufgrund eines „induktiven Gespräches auf der Erfahrungsebene" im Gegensatz zu der „deduktiven Ableitung von sozialethischen oder politischen Theorien" versucht werden. Der Lerndialog als „Dialog in der Perspektive der Versöhnung" erhöht die Chance, gemeinsame Interessen zu entdecken und die Bereitschaft zur Entdekkung zu vergrößern. Der Zeugnisdialog geht weniger von den Gemeinsamkeiten und mehr von den Unterschieden aus, indem er die befreiende Botschaft des Wortes Gottes bezeugt und verständlich macht in der apostolischen Tradition (Apg 2,13). Im „Überzeugungsdialog" oder „Streitdialog" (Apologetik) versucht man den anderen von der eigenen Position zu überzeugen. Insofern müssen Dialog und Mission bzw. Evangelisation keine Gegensätze sein.51 Der „problematisierende Dialog" will die Wirklichkeit des Konfliktes begreifen, die verändert werden soll. Der so verstandene Dialog macht den Ortsund Herrschaftswechsel der Kirchen deutlich, der sie an die Seite der Armen 52 stellt und zum Konflikt mit gottlosen Mächten befreit.

49

Chr. Stückelberger, Vermittlung und Parteinahme, a.a.O., S. 539f.

50

Vgl. zum Folgenden: Chr. Stückelberger, Vermittlung und Parteinahme, a.a.O., S. 565ff.

51 Vgl. das ökumenische Papier „Leitlinien zum Dialog mit verschiedenen Religionen und Ideologien", Genf 1979, II. Teil, Punkt 19, ebenso: Bericht aus Vancouver, a.a.O., S. 66-69. 52

U. Duchrow, Weltwirtschaft heute, München 1986, S. 216.

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Der Dialog in Freiheit versteht den Dialog nicht als Erzielung von Einmütigkeit, sondern auf Anerkennung des Widerspruchs. Diese Auffassung findet sich mit den unvereinbaren Verschiedenheiten der menschlichen Positionen ab und strebt lediglich ein „besseres Regime der Freiheit" an. Damit ein fruchtbarer Dialog möglich wird, muß man gewisse Voraussetzungen beachten, die man „Dialogbedingungen" nennt. Dazu gehören Sätze wie: „Dialogpartner sollten die Freiheit haben, sich selbst zu definieren, d.h. ihr Selbstverständnis authentisch zum Ausdruck zu bringen"; „Dialogpartner sollten sich ihrer ideologischen und kulturellen Bindungen bewußt sein und ebenso ihrer Machtmittel". Ferner gehört dazu ein „deutliches Wissen um die eigene Identität".53 Jedem Dialog muß ebenso eine Begrenzung des Gesprächsgegenstandes auferlegt werden. Wenn Kirchen den Dialog in Parteinahme fur eine bestimmte Gruppe (Arme, Unterdrückte usw.) fuhren wollen, müssen sie die von dem betreffenden Problem Betroffenen direkt oder indirekt am Dialog beteiligen. Diese sind u.U. Experten, weil sie mitbeurteilen können, wie sich die Ergebnisse und die Anwendung des Dialogs auf die betreffenden Gruppen auswirken. Wenn trotz anhaltendem Unrecht beim Unrechttäter keine Einsicht in die Notwendigkeit eines Dialogs oder keine Bereitschaft dazu besteht, kann eine öffentliche Konfrontation nötig sein, damit Lerndialog überhaupt entsteht. Oder wenn in asymmetrischen Konflikten die Kommunikation einseitig von einer Seite dominiert wird, kann Konfrontation als „Mittel der Kommunikation" nötig sein, um den Dialog symmetrischer zu gestalten. Der Dialog erfordert zeitliche und personelle Kapazität und Fachkompetenz. Dazu gehört die Notwendigkeit eines hohen Informationsstandes. Außerdem gilt: Die Kirchen müssen im Dialog mit nichtkirchlichen Partnern, wenn nur möglich, ökumenisch vertreten sein. Darf man einem Dialog Grenzen setzen bzw. jemandem den Dialog aus taktischen Gründen zeitlich befristen, verweigern oder jemand vom Dialog ausschließen? Dialogverweigerung kann nötig sein, wenn der Dialog kaum mehr als abgenötigte Zusammenarbeit mit Ideologien ist. Die Verweigerung ist allerdings nur aufgrund von Dialogversuchen verantwortbar, weil man die Haltung des Dialogpartners erst überprüfen muß. Ebenso gibt es auch einen „Dialogmißbrauch". Das geschieht, wenn er nur der Beruhigung der Öffentlichkeit ohne den faktischen Willen zum Gespräch und Lernen dienen soll. Ein Dialog kann auch dazu mißbraucht werden, die verschiedenen Kritiker bzw. Dialogpartner gegeneinander auszuspielen und nach dem Prinzip „Teile und herrsche" den Dialog als Machtinstrument einzusetzen. Das kann auch zwischen Kirchen und

53

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Leitlinien zum Dialog, a.a.O., Teil III.

kirchlichen Ebenen der Fall sein. Ein Dialog wird auch mißbraucht, wenn er für andere Ziele eingesetzt wird, als für die offen deklarierten, die eigentlichen Interessen also verdeckt werden. Der Dialog, der innerhalb der Kirche gelernt und praktiziert wird, ist besonders in der Ökumene wichtig, d.h. im Versöhnungsdienst der Kirchen untereinander und als „gesellschaftlicher Dialog", d.h. im Versöhnungsdienst der Kirche an der Welt. Im Unterschied zu der „weltlichen Konfliktbeilegung", die wir im vorigen Kapitel besprochen haben, geht es hier darum, das Spezifische des christlichen Glaubens und der christlichen Ethik im Gespräch mit der Gesellschaft - mit Politik, Wirtschaft, Recht - in den Dialog einzubringen und mit Hilfe der „kirchlichen Versöhnungsstrategie" bestehende Konfliktsituationen zu bewältigen. Daß dazu auch Seelsorge und Diakonie sowie die kirchliche Öffentlichkeitsarbeit gehört, sollte selbstverständlich sein, mußte hier aber dennoch in Erinnerung gerufen werden. Über die Rolle der Kommunikation ist bereits gehandelt worden. Hier darf nicht übersehen werden, daß den kirchlichen Medien dabei eine besondere Vermittlungs- und Versöhnungsaufgabe zukommt. Medien sollen Macht kontrollieren, den Machtmißbrauch verhindern und den Dialog fordern. Gewiß sind den Medien Grenzen gesetzt, nachdem für viele Prozesse der Versöhnung das persönliche Gespräch wirksamer ist als das durch Medien vermittelte. Eine weitere Grenze liegt darin, daß in vielen Konfliktsituationen ein vertraulicher Weg gewählt werden muß, der bei den Medien nicht möglich ist. Was hier über Dialog und Kommunikation gesagt wurde, ist auf vielen Ebenen gültig, ßo wird in einer vor wenigen Jahren erschienenen Publikation etwa festgestellt: „Die Verständigung zwischen der evangelischen Kirche und ihren Mitgliedern klappt nicht gut. Die Kirche hat ein Kommunikationsproblem". Mit diesen Worten beginnt die Einfuhrung in „Ein Kommunikationsmodell für die evangelische Kirche" unter dem Titel „Brücken bauen", das vom Arbeitskreis „Kommunikative Kirche" in Zusammenarbeit des Gemeinschaftswerkes der Evangelischen Publizistik (GEP) der Studien- und Planungsgruppe der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und des Deutschen Kommunikationsverbandes (DKV) herausgegeben wurde. Die Konzeption geht von der Leitidee „Brücken bauen" aus, die folgendermaßen beschrieben wird: „In dem Kommunikationsmodell für die evangelische Kirche symbolisiert die Brücke die Verbindung zwischen Getrenntem, zwischen Tradition und Zukunft, zwischen Evangelium und den Menschen, zwischen Ich und Du, zwischen den Einzelnen und der Gemeinde, zwischen Kirche und Gesellschaft, zwischen innen und außen". 54

54 Brücken bauen: Ein Kommunikationsmodell für die evangelischen Kirchen, hg.v. Gemeinschaftswerk Evangelischer Publizistik, Frankfurt a. M. 2 1992, S. 2.

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Die „Verbindung mischen Getrenntem" ist der Versöhnungsauftrag der Kirche. Er beginnt in der Kirche und ist hier in erster Reihe erforderlich. Er ermöglicht die nächsten Schritte, wenn es darum geht, daß sich Kirchen begegnen, Dialoge fuhren und Unterschiede als nicht mehr trennend erklären. Das ist Aufgabe des Versöhnungsdienstes der Kirchen untereinander, der in der Ökumene gesucht wird. Diesem wollen wir uns nun zuwenden.

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3. Der Dienst zur Versöhnung der Kirchen untereinander

Was wir über Konfliktlösung und Konsensfindung im allgemeinen und im besonderen in der Kirche gesagt haben, gilt nun vollends für die Versöhnung der Kirchen untereinander. Der Versöhnungsdienst muß zwischen den Kirchen konkrete Gestalt annehmen. Geschwisterliche Streitkultur und Austragung von Konflikten sollte in der Kirche am ehesten möglich sein, weil man hier von der Vorgabe jener Tradition weiß und von ihr geprägt ist, die wir als die pfingstliche Einheit der Kirche bezeichnet haben. Man streitet hier nicht um eigene Interessen und Durchsetzung von persönlichen Meinungen, sondern um die Wahrheit der Kirche und den Weg zu ihr. Aber man kommt von jener Wahrheit her und weiß um sie als einer anderen Wirklichkeit, die unseren sichtbaren und tatsächlichen Realitäten der Spaltung der Christenheit gegenübersteht. Darum ist Ökumene ein „Testfall versöhnten Lebens". 55 Dabei sollten wir nicht nur die Bemühungen durch das theologische Gespräch auf höchster Ebene und innerhalb organisierter Strukturen im Auge haben, sondern alle Formen der Versöhnung und auf allen Ebenen kirchlichen Lebens. So sind die Worte von R.F. Tafft S.J. zu hören: „Ökumene ist nicht nur eine Bewegung. Sie ist eine neue Art, Christ zu sein. Sie ist auch eine neue Art, Wissenschaftler zu sein. Ökumenische Wissenschaft bedeutet viel mehr als wissenschaftliche Objektivität, geht viel weiter, als nur ehrlich und fair zu sein. Sie versucht uneigennützig zu arbeiten, indem sie keiner Sache als nur der Wahrheit dient, wo immer diese auch zu finden ist. Sie sucht Dinge vom Standpunkt des anderen aus zu sehen, die Kritik des anderen an der eigenen Gemeinschaft und ihrer geschichtlichen Irrtümer und Fehler ernst zu nehmen [...] Wie das Vorwort zu den geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola [sagt], sucht sie das, was der andere tut und sagt, auf die beste Art auszulegen, das enthüllende Licht der Kritik gleichmäßig zu verteilen auf die Fehler der eigenen Kirche wie auch auf die der anderen. Kurzum, sie sucht, christliche Liebe zum Bereich der Wissenschaft zu bringen, und sie ist der unerbittliche Feind aller Formen von beleidigendem Eifer, Intoleranz, Unfairneß, Berichterstattung nur dessen, was ,in den eigenen Kram paßt' und unredlicher Vergleiche, die das unwirkliche Ideal der eigenen

55

K. Baumgartner, Aus der Vergebung leben. Theologische Reflexionen - Impulse fur die Praxis, München 1990, S. 80.

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Kirche mit der das Ideal hinter sich lassenden Realität der Kirche eines anderen vergleicht". 56 Wir wollen den Dienst zur Versöhnung der Kirchen untereinander unter drei Aspekten behandeln. Zunächst soll „versöhnte Verschiedenheit als ökumenisches Konzept" beschrieben werden [a)]. Sodann geht es um die „lebendige Versöhnung als Erfahrung in der gottesdienstlichen Begegnung" [b)] und schließlich versuchen wir etwas über die „Praxis ökumenischer Versöhnung" auszuführen [c)].

a) „ Versöhnte Verschiedenheit" als ökumenisches Konzept Daß „Versöhnung" ein Schlüsselwort im ökumenischen Einheitsstreben ist, zeigt die theologische Formel von der „versöhnten Verschiedenheit", die zu Beginn der 70er Jahre unseres Jahrhunderts aufgenommen worden ist. Dieser Begriff wurde von den konfessionellen Weltbünden geprägt, um ein Einheitsverständnis zu entwickeln, das der konfessionellen Identität mehr Rechnung trägt. Um dieses besser zu verstehen, müssen wir etwas ausholen und die ökumenische Problematik und ihre Bestrebungen insgesamt ins Auge fassen. In der ökumenischen Bewegung geht es nicht nur um die „Einheit der Kirchen in ihrer Vielfalt", sondern auch um die Einheit und Differenz von Kirchen und universaler Christenheit. Denn zwischen den Kirchen als organisierte Gestalt christlicher Religion und dem „Christentum" als Gesamtheit christlicher Überzeugungen und als kulturellem Erbe der modernen Gesellschaft ist inzwischen eine Kluft aufgetreten. Das Christentum wiederum steht einer Gesellschaft gegenüber, die nicht nur säkular, sondern auch multireligiös ist. Nicht nur das Verhältnis der Kirchen untereinander, sondern auch ihr Gegenüber zur säkularen und multireligiösen Gesellschaft, den nichtchristlichen Religionen und den neuen Strömungen und synkretistischen Religionen ist heute in die ökumenische Problematik einbezogen. Es geht also um das Problem der Vielfalt und Einheit der Christenheit und ihrer vielfaltigen Umwelt, mit der sich die ökumenische Bewegung in den letzten fünfzig Jahren auseinandergesetzt hat. 57 Dabei hat sich das Einheitsverständnis ständig entwickelt und gewandelt. Die „versöhnte Verschiedenheit" als Modell kirchlicher Einheit ist von dieser Entwicklung her zu verstehen. Ausgegangen wurde von dem Modell, das man die „organische Union" genannt hat. Hier wird Einheit der Kirchen auf einem geographischen Raum ge56

R.F. Tafft, S.J., Penance in Contemporary Scholarship, in: StLi, Vol. 18, Rotterdam 1988, S. 15f (Alle Zitate nach der deutschen Fassung). 57 U.H.J. Körtner, Versöhnte Verschiedenheit. Ökumenische Theologie im Zeichen des Kreuzes, Bielefeld 1996, S. 9ff.

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sucht, indem diese ihre bisherige konfessionelle Identität aufgeben und in einer einzigen Körperschaft aufgehen. Sichtbare Einheit meint also institutionelle Verschmelzung der Kirchen. Dies Modell wurde nach der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Neu Delhi (1961) entwickelt, wo in der Erklärung über die Ökumene von der einen Kirche als einer „völlig verpflichtenden Gemeinschaft" von „allen an jedem Ort" gesprochen wurde. Das heißt: Die sichtbare Einheit Jesu Christi muß konkret werden, am „Ort", wobei „Ort" nicht nur Ortsgemeinde, sondern auch größere geographische Einheiten und andere Bereiche meint, in denen Christen zusammen leben und arbeiten. Diese Einheit beruht auf der Taufe, dem Christusbekenntnis, dem Bekenntnis des apostolischen Glaubens, der Evangeliumverkündigung, der Gemeinschaft in Sakrament und Gebet und dem gemeinsamen Leben als Dienst und Zeugnis 58

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für die Welt. Die Vierte Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Uppsala (1968) führte diese Ansätze weiter und brachte sie vor allem mit der Situation der gegenwärtigen Welt und dem Auftrag des Christen in der Welt in Zusammenhang. Hier heißt es: „Derselbe Geist, der uns in der Kirche zusammenfuhrt, läßt uns in der Tat der Nöte, der Welt und unserer Solidarität mit der Schöpfung bewußt werden." Die Kirchen können angesichts der Konflikte zwischen den Rassen und Nationen, den Leiden der Menschen nicht stumm und untätig bleiben. „In einer solchen Zeit ruft uns der heilige Geist dazu auf, Christi grenzenlose Liebe miteinander zu teilen [...] Daraus ergeben sich neue Folgerungen des Einsseins, der Heiligkeit, der Katholizität und Apostolizität". Die „Katholizität" erhält so eine neue ökumenische Bedeutung. Katholizität meint jetzt den „Plan Christi, Menschen aller Zeiten, aller Rassen, aller Orte und in allen Verhältnissen durch den heiligen Geist von der universalen Vaterschaft Gottes in eine organische und lebendige Einheit in Christus zu führen. Diese Einheit ist nicht bloß äußerlich. Sie besitzt eine tiefere, innere Dimension, die auch durch den Begriff ,Katholizität' zum Ausdruck gebracht wird."59 Damit im Zusammenhang kommt der Gedanke eines universalen Konzils als einer Verkörperung der Einheit der Christenheit auf. Gemeint ist zunächst der Gedanke einer Gemeinschaft von Kirchen, die untereinander in voller Abendmahlsgemeinschaft stehen, gemeinsam handeln und in konziliaren Formen miteinander Zeugnis ablegen und Entscheidungen über ihren Glauben, ihr Leben und ihr Handeln in dieser Welt treffen können. Auf diese Weise entsteht in den folgenden Jahren das Konzept der „konziliaren Gemeinschaft. Bei der Konsultation der Kommission für „Glaube und Kirchenverfassung" in Salamanca 1973 wurde dies Modell erstmals vorgestellt, mit dem dann bei der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 58 59

U.H.J. Körtner, Versöhnte Verschiedenheit, a.a.O., S. 68f. H. Meyer, Einheit der Kirche, in: Ökumenelexikon, Frankfurt a. M. 2 1987, Sp. 297ff.

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in Nairobi 1975 das ökumenische Ziel der sichtbaren Einheit präzisiert wurde. Das Konzept hat sich entwickelt, nachdem deutlich geworden war, daß Kirchenunion nur in begrenztem Maße gelingen kann und die Bildung einer „organischen Einheit" als Zeichen sichtbarer Einheit nicht zu erreichen ist. Auch war deutlich geworden - nicht zuletzt durch den schon 1961 erfolgten Beitritt der orthodoxen Kirche - daß die Kirchen des ORK durch unterschiedliche theologische Traditionen, aber auch Geschichte, Kultur, sozio-ökonomische Gegebenheiten und politische Systeme stärker voneinander getrennt sind, als man bis dahin gemeint hatte. So besann man sich auf die Dimension der Konziliarität und entwickelte ein Verständnis von Einheit im Sinne des auf verschiedenen Ebenen stattfindenden leiblichen Zusammenkommens. 60 Der Gedanke eines Konzils war ja schon 1925 bei der Ersten Weltkirchenkonferenz fur Praktisches Christentum in Stockholm durch Erzbischof Nathan Söderblom aufgekommen, als sich dieses Gremium euphorisch mit dem Konzil von Nicäa 325 verglich. Konziliarität ist „eine wesentliche Dimension im Wesen der Kirche". Gemeint ist „das Zusammenkommen von Christen - örtlich, regional oder weltweit - zu gemeinsamem Gebet, zur Beratung und Entscheidung in dem Glauben, daß der heilige Geist solche Zusammenkunft fur seine eigenen Zwecke der Versöhnung, Erneuerung und Umgestaltung der Kirchen benutzen kann, in der er sie zur Fülle der Wahrheit und Liebe hinführt". Sie kommt also unter Absehung von der Frage der Lehre und des Abendmahles zustande. Die Christenräte der modernen ökumenischen Bewegung haben nicht die „Fülle der Konziliarität", sondern den „Charakter der Konziliarität". „Die nächsten Schritte auf dem Weg zur Einheit" wurden dann in der Vision einer vereinigten Kirche in konziliarer Gemeinschaft beschrieben (Salamanca, 1973). Was „konziliare Gemeinschaft" ist, kann an der Kontroverse um Einheit und Freiheit in Gal 2 und Apg 15 anschaulich gemacht werden: „Was in Jerusalem sichtbare Gestalt angenommen hat, war Einheit inmitten einer Kontroverse über die Freiheit" (John Deshner 1975 in Nairobi). Die Konziliarität ist „der Ausdruck einer inneren Einheit der Kirchen, die durch Raum und Zeit getrennt sind, aber diese Einheit in Christus intensiv leben und deren Vertreter sich von Zeit zu Zeit in Konzilien der Ortskirchen auf verschiedenen geographischen Ebenen versammeln, um ihrer Einheit in einer versöhnten Gemeinschaft sichtbaren Ausdruck zu geben" (Pater Argenti in Nairobi). Das Einheitskonzept lautet jetzt also: „Die eine Kirche ist als konziliare Gemeinschaft von Gemeinden (local churches) zu verstehen, die ihrerseits tatsächlich vereinigt sind. In dieser konziliaren Gemeinschaft hat jede der Gemeinden zusammen mit den anderen volle Katholizität, sie bekennt den apostolischen Glauben und erkennt daher die anderen als Glieder derselben Kirche Christi an, die von demselben Geist geleitet

60

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U.H.J. Körtner, Versöhnte Verschiedenheit, a.a.O., S. 69.

werden [...] Sie gehören zusammen, weil sie die gleiche Taufe empfangen haben und das gleiche Heilige Abendmahl feiern; sie erkennen die Mitglieder und die geistlichen Ämter der anderen Gemeinden an [...] Die konziliare Gemeinschaft ist eine Gemeinschaft, die zur gegebenen Stunde der Abhaltung eines Konzils fähig ist. Sie ist die Vision einer Kirche, die an jedem Ort und an allen Orten gemeinsam ist und eine Gemeinschaft, die gemeinsamer Entscheidungen fähig ist". Aus der schmerzlichen Erfahrung, daß wir vom Modell der „organischen Union" und der „Konziliarität" noch weit entfernt sind, entwickelte sich dann vor allem bei der Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in Daressalaam 1977 - das Konzept der „versöhnten Verschiedenheit". Hier steht der Begriff der „Versöhnung" im Vordergrund: Die Verschiedenheiten werden nicht geleugnet, aber auch nicht einfach konserviert und beibehalten.61 Ebenso ist damit nicht eine bloße „Koexistenz", ein „Dialog der Liebe" gemeint. Vielmehr geht es um den „Dialog der Wahrheit". Dieser wird gewonnen durch einen Prozeß theologischer Aufarbeitung in einer Weise, daß festgestellt wird, inwiefern die bestehenden Verschiedenheiten ihren kirchentrennenden Charakter verlieren und Elemente „versöhnter Verschiedenheit" werden. Das bedeutet für die Kirchen, daß damit die konfessionelle Tradition und Identität nicht preisgegeben werden muß und nicht gering geachtet wird, sondern bisher getrennte Kirchen einander anerkennen und miteinander zusammenarbeiten. Dies Modell läßt sich demnach als Konzept einer „Redefinition der Konfessionen im Gespräch" beschreiben.62 Es will das Modell der konziliaren Gemeinschaft nicht völlig ablehnen, aber ergänzen und korrigieren. Freilich kann auch hier die konfessionelle Identität nicht unverändert bleiben, aber sie soll nicht untergehen oder in einer neuen Identität aufgehen, wie es dem Modell der organischen Einheit vorsteht. Sie soll in ihrer Unterschiedlichkeit deutlich bleiben und schließt die Existenz anderer konfessionellen Identitäten nicht aus, sondern ¿-1 setzt diese voraus und begreift sie als Bereicherung der eigenen Identität. Aber verschiedene Konfessionen können, wenn sie miteinander versöhnt sind, als legitime Verschiedenheit innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft bewahrt werden. Einheit „in versöhnter Verschiedenheit" ist ein Modell fortschreitender Annäherung. Über Zwischenziele verwirklicht es das heute Mögliche und rechnet mit einem langsamen geduldigen Weg, der durch den Dialog geprägt ist. Notwendige theologische Gespräche werden meist bilateral geführt. 64 Dieses Modell erhebt nicht den Anspruch, bereits eine detaillierte und endgültige Zielbe61 62 63 64

K. Baumgartner, Aus der Versöhnung leben, a.a.O., S. 86. E. Fahlbusch, Kirchenkunde der Gegenwart, Stuttgart 1979, S. 272. H. Meyer, Einheit in versöhnter Verschiedenheit, ÖR 26/1977, S. 3 7 7 ^ 0 0 . N. Hasselmann (Hg.), Kirche im Zeichen der Einheit, Göttingen 1979, S. 47ff.

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Schreibung zu sein. Vielmehr versteht es sich als eine Orientierungshilfe im gegenwärtigen ökumenischen Prozeß. „Es ist ein realistisches Konzept, das die geistliche Einheit von der Kirchengemeinschaft unterscheidet und beide Größen doch nicht voneinander trennt. Es ist geeignet, eine gute Orientierungshilfe im Ringen der verschiedenen Vorstellungen von Einheit zu sein".65 Das Schlüsselwort „Versöhnung" für die Problematik der Ökumene in ihrer allerseits beklagten Orientierungslosigkeit ist über ihre Bedeutung als „Konzept" und „Modell" der Einheit hinaus wichtig für die Erfassung des Wesens dessen überhaupt, worum es in der heutigen Kirche und allen ökumenischen Bestrebungen geht. Kirche ist heute - wie wir im vorigen Kapitel bereits gesehen haben - mit der Welt so eng verflochten, daß sie selbst ein Stück „weltlicher Wirklichkeit" darstellt, wie H.-R. Müller-Schwefe gezeigt hat, der daraus folgert: „Diese Erkenntnis muß radikal ernst genommen werden. Immer ist die Geschichte der Kirchen eine Geschichte von Fehlern und Sünden wie auch von Segnungen und guten Früchten".66 Die Kirche hat Teil an dem Pluralismus der Welt und damit auch die Ökumene an der Vielfalt und Verschiedenheit innerhalb der einen geglaubten Kirche Jesu Christi wie innerhalb der einzelnen Konfessionen. Denn die Kirchen sind mit den regionalen Kulturen, Traditionen und Eigenentwicklungen eng verflochten. Die Frage, was die Versöhnungsbotschaft der heiligen Schrift, ja das ganze „Zeugnis von der Versöhnung" fur beide, fur die Ökumene, wie für die Kirche und ihre Botschaft an die Welt bedeutet, ist darum höchst aktuell. Die Einheitsbestrebungen der Kirchen sind deshalb sehr wohl unter dem Gesichtspunkt und mit Hilfe des Begriffs „Versöhnung" zu verdeutlichen. Damit sind wir über die Ausführungen zu der „versöhnten Verschiedenheit" als Einheitskonzept hinaus zu dem Versöhnungsanliegen zwischen den Kirchen im allgemeinen gekommen, das wir außer unter dem Gesichtspunkt lehrmäßigen Einheitsstrebens (μαρτυρία) auch unter dem der gottesdienstlichen Feier (λειτουργία) und dem des Dienstes selbst (διακονία) darstellen wollen.

b) Lebendige Versöhnung als Erfahrung in der gottesdienstlichen Begegnung Die Gottesdienste bei ökumenischen Versammlungen sind erfahrungsgemäß Höhepunkte. Selbst wenn die theologischen Verhandlungen magere Ergebnisse zeitigen, die übrigen Geschäftsfragen manche Frustrationen hervorrufen und die Sitzungen sogar von Spannungen in der Führungsspitze - wie bei der Zwei-

65

D. Vismann, Tagesordnungspunkt Ökumene, Hannover 1980, S. 60; siehe auch H. Schütte, Ziel: Kirchengemeinschaft. Paderborn 1985, S. 21f. 66

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H.-R. Müller-Schwefe, Christus im Zeitalter der Ökumene, Göttingen 1986, S. 234.

ten Ökumenischen Versammlung in Graz 1997 über das Thema „Versöhnung Gabe Gottes und Quelle neuen Lebens" - getrübt werden, sind die Feiern und geistlichen Veranstaltungen für das ganze Volk Gottes Anzeichen und Angeld für Versöhnung. Denn sie werden zu „Festen der Begegnung" im weitesten Sinn des Wortes. Der multikonfessionelle, ja multireligiöse und multikulturelle Reichtum der Ökumene wird hier besonders eindrücklich erfahren und im Vollzug des Gottesdienstes, des gemeinsames Betens oder der gemeinsamen Bibelarbeit als ungeahnte Bereicherug empfunden. Es ist für die Ökumene wesentlich, daß es in ihrer Arbeit und in ihren Versammlungen nicht bloß bei einem Nebeneinander bleibt, sondern es zu wirklichen Begegnungen kommt. Ulrich H.J. Körtner hat in seinem Buch über „Versöhnte Verschiedenheit"67 auf die Risiken und Chancen der Begegnung hingewiesen und diese sogar als „Grund der Ökumene" bezeichnet. Wenn man über Wege ökumenischer Versöhnung, ja über Versöhnung überhaupt spricht, ist es wichtig, neben den Begriffen wie Dialog, Konsensus, Konvergenz u.a. auch das Phänomen „Begegnung" ins Auge zu fassen, das in der Theologie eine viel ältere Tradition hat (so bei Martin Buber, Emil Brunner, Theodor Sundermeier u.a.). Obwohl ein Risiko, weil man sich darauf einläßt, durch eine Begegnung selbst verändert zu werden, ist Begegnung eine Chance als Horizonterweiterung, als Möglichkeit eigenen Reifens und als Erfahrung der Bereicherung. Die Begegnung konfrontiert uns freilich mit dem „Fremden", dem „Anderen", aber gleichzeitig - und das ist ebenso Zuwachs an Erfahrung - mit unserer eigenen Begrenztheit: als Beschränktheit unserer Auffassungen, als Befangenheit in eigenen Lebensgewohnheiten und - nicht zuletzt - als Festgefahrensein in theologischen oder religiösen Meinungen. Darum ist Begegnung eine Form der Kommunikation, die als Wunsch nach Zusammensein oder Teilhabe am anderen, ein Geschehen darstellt, das alle Elemente der Kommunikation, wie Dialog, Austausch, Partizipation in sich enthält. Sie kommt jedoch nur zustande, wenn die Bereitschaft vorhanden ist, sich vom anderen ergänzen oder beschenken zu lassen, da man die eigene Unvollkommenheit und den „fragmentarischen Charakter" des eigenen Lebens68 einsieht und sich nicht gegen den anderen wehrt oder von ihm abgrenzt, weil man eine Veränderung seiner selbst um jeden Preis verhindern will. Der ökumenische Gottesdienst - wie auch ähnliche Veranstaltungen - hat hier als „Ort der Begegnung" eine hervorragende Rolle. Als „messianisches Fest" ist er die Quelle, aus der die Spiritualität der Versöhnung ihre Nahrung bezieht. Er muß als Ereignis erlebbar werden, in dem

67

U.H.J. Körtner, Versöhnte Verschiedenheit, a.a.O., S. 22ff. D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. v. E. Bethge, München 131966, S. 153f. 68

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Menschen verschiedener Herkunft durch Grenzüberschreitung sich näher kommen und zu einer versöhnten Gemeinschaft werden. Der Gottesdienst darf weder Ort friedlicher Selbstbestimmung noch fröhlicher Feier bleiben, sondern muß auch Ort der Klage, der Auseinandersetzung, des Konflikts wie auch des Trostes und der Konfliktlösung sein. Das wird deutlich bei Gottesdiensten, die inmitten von Konflikten und mit an Konflikten beteiligten Menschen gefeiert werden. Denken wir an die Wirkung der „Friedensgebete" in der ehemaligen DDR vor der „Wende". Sie haben nach allgemeiner Überzeugung die Wende mit vorbereitet und in gewissem Sinn herbeigeführt. 69 R.F. Tafft S.J. berichtet von einem eindrücklichen Beispiel eines Versöhnungsgottesdienstes der Ökumene am 7. Juni 1984 im Dom von Trient. Es war ein fur alle Kirchen gemeinsamer Gottesdienst. Nach der Verkündigung des Wortes Gottes über die Einheit der Kirche folgte ein Bußritus für die bestehenden Trennungen unter den Christen, eine Anrufung des heiligen Geistes zur Zusammenfugung dieser Unterschiede und zur Vereinigung aller unter das Bekenntnis des Glaubens durch das Credo gemäß dem alten Text des Nicaeno-Konstantinopolitanum, d.h. ohne Filioque, in Griechisch, Englisch, Französisch, Deutsch, Italienisch und Slawonisch. Der Gottesdienst schloß mit dem Friedensgruß und einem Danksagungsgebet. Auch der Ort, an dem dies gemeinsame Bekenntnis gesagt wurde, war von ökumenischer Bedeutung. Der Dom von Trient war der Platz, an dem das Konzil von Trient (1545-1563) eröffnet und geschlossen wurde. Die 80 Teilnehmer an diesem ökumenischen Gottesdienst spiegelten die 84 Konzilsväter wieder, die bei der Eröffnungssitzung von Trient im Chor zugegen waren, und nahmen auf denselben Sitzen Platz. Auch das Kruzifix des Domes aus 1500, vor welchem die Dekrete von Trient unterschrieben worden waren, wurde aus seiner Kapelle geholt und im Zentrum des Mittelschiffes aufgestellt, um viereinhalb Jahrhunderte später einen neuen kirchlichen Akt tiefer Bedeutung für die Zukunft zu bezeugen. - Den Eindruck, den dieser Gottesdienst auf die Beteiligten gemacht hat, beschreibt ein Bericht von Nereo Venturini: „Während des Gottesdienstes im Dom von Trient wurde das geistliche Klima allmählich wärmer, wie es sich zum Höhepunkt bewegte [...] Nach dem Bekenntnis der Schuld und dem Nicaenischen Glaubensbekenntnis verschwanden die unterschiedlichen Farben, welche die verschiedenen Konfessionen widerspiegelten. Orthodoxe und Katholiken, Reformierte, Protestanten und Römer, Anglikaner und Papisten entdeckten einander auf der Suche nach Einheit wieder. Die am meisten Bewegten waren die Lutheraner, durch ihren Wiedereintritt in den Ort, wo vor vier Jahrhunderten die Anathema gegen den Reformator Luther geschleudert.

69 Vgl. G. Hanisch, G. Hänisch, Fr. Magirius, J. Richter (Hg.), Dona nobis pacem. Herbst '89 in Leipzig. Friedensgebete, Predigten und Fürbitten, Berlin 2 1996, passim.

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wurden. Umarmungen und Küsse verbanden katholische Kardinäle mit anglikanischen Bischöfen, Pastoren mit Priestern. Kardinal Hume und Pastor Appel sprachen zusammen den Segen über alle. Und die Gläubigen von Trient, die die Kathedrale bis zum Überfließen gefüllt hatten, explodierten in langanhaltenden, beharrlichen, wiederholten, nicht enden wollenden Applausen. Diese volkstümliche Reaktion machte allen klar, daß sie einen bedeutenden historischen Augenblick erlebten, einen Ansporn zum Ökumenismus. Der Applaus schien nicht weniger zu sagen als ,Macht Schluß mit dieser Trennung'. Endlich war das Volk Gottes der Vorkämpfer der Ökumene geworden. Die brüderliche Freude, die das Volk ausdrückte, die Flut der Menschenmassen, in die sich die Delegierten untergetaucht fanden, ließen einen äußerst wichtigen Aspekt der Ökumene deutlich hervortreten. Ökumene beginnt ,zum Fußvolk' durchzusickern, und theologische Debatten müssen in die Erfahrung des christlichen Volkes übersetzt werden. Ansonsten bleibt die Einheit der Christen noch weiter entfernt als die Zukunft". 70 Es ist nicht zufällig, daß durch die Grenzüberschreitungen in der Abendmahlsfeier ein neuer Aufbruch möglich wurde. So ist der Internationale Christliche Friedensdienst (CFD) 1923 durch gemeinsames Feiern des Abendmahls entstanden: Der französisch-elsäßische Offizier Etienne Bach trat am Karfreitag jenes Jahres in eine deutsche Kirche zum Gottesdienst mit Abendmahl ein und stand neben seinem erklärten Feind, dem Bürgermeister des Ortes. Beide nahmen das Abendmahl und reichten sich stumm die Hände. Dort begann der Versöhnungsdienst der CFD. Abendmahl kann so zur Quelle der Kraft des Versöhnungsdienstes werden. Zwischen dem Abendmahl, der profanen Tischgemeinschaft und dem Verhandlungstisch (dem „grünen Tisch") besteht ein innerer Zusammenhang. Die Kompromisse des „grünen Tisches" können von der Versöhnungserfahrung im Abendmahl immer wieder in Frage gestellt werden und auf bessere Kompromisse hin verändert werden. Der Abendmahlstisch kann andererseits zum Leitbild für den Verhandlungstisch werden. Die Feier der Versöhnung fuhrt zum Dienst der Versöhnung: beides hängt eng zusammen und darf nicht getrennt werden, auch wenn sie heute noch oft auseinanderliegen.

70

Erschienen in „Popoli et Missioni" Nr. 5, 1. März 1985, S. 51, zit. nach R.F. Tafft S.J.,

Penance in Contemporary Scholarship, a.a.O., S. 19.

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c) Praxis ökumenischer Versöhnung Ökumene muß beim Kirchenvolk ankommen, oft von dort auch ausgehen und dieses vor allem erreichen. Die Feier muß mit dem Dienst eng verbunden sein, die Liturgie mit der Diakonie, weil beide aus der gleichen Wurzel stammen. Innerhalb des Gottesdienstes ist fur die Versöhnung die Fürbitte besonders wichtig. Es ist die Bitte um Kraft und Mut für den Versöhnungsdienst. Paulus bat seine Gemeinde um Fürbitte „für alle Heiligen und für mich, daß mir das Wort gegeben werde, wenn ich meinen Mund auftue, freimütig das Geheimnis des Evangeliums zu verkündigen" (Eph 6,18f). Fürbitte ist aber auch und vor allem Bitte für andere, selbst für die Schuldigen oder die Feinde. Fürbitte zugunsten eines Schuldigen kann „Sühne" bedeuten.71 Sie ist immer Fürsprache für den Menschen. Der Konflikt wird durch das Dazwischentreten eines vermittelnden Fürsprechers abzubauen versucht. Das Gebet als öffentliche, politische Fürbitte hat auch eine solche Funktion und ist daher für den Vorgang der Versöhnung sehr wichtig, weil es Sprengkraft hat. Die Abendmahlsgemeinschaft im Gottesdienst ist Tischgemeinschaft. Jesus saß immer wieder auch mit Feinden am Tisch, um mit dieser Grenzüberschreitung Zeichen der Versöhnung zu setzen. Auch beim letzten Abendmahl hat er Judas von der Tischgemeinde nicht ausgeschlossen. Wie beim Gottesdienst im Allgemeinen hat gerade die Abendmahlsfeier ihren Platz inmitten der Konflikte im Alltag der Welt. Darum ist die Gespaltenheit der katholischen bzw. orthodoxen und protestantischen Kirche besonders schmerzlich. Die Überwindung dieser Trennung ist dringend nötig, weil der Versöhnungsdienst der Kirchen in der Welt durch die Trennung innerhalb der Kirchen für viele unglaubwürdig wird. Die „versöhnte Verschiedenheit" hat sich als Konzept für Einheitsbestrebungen auch praktisch bewährt. Eines der wichtigsten Ergebnisse auf der Grundlage dieses Modells ist die „Kirchengemeinschaft der Leuenberger Konkordie". Sie ist durch langjährige Verhandlungen zwischen lutherischen, reformierten und unierten Kirchen entstanden und beruht auf der „Konkordie reformatorischer Kirchen" vom 16. März 1973. Sie ist eine offizielle Erklärung von Kirchengemeinschaft zwischen den beteiligten Kirchen. Darin wird ausdrücklich festgestellt, daß zwischen diesen Kirchen ein gemeinsames Verständnis des Evangeliums besteht, das als die Grundlage der Kirchengemeinschaft betrachtet wird. Die beteiligten Kirchen erklären darin, daß die Lehrverurteilungen der Vergangenheit den gegenwärtigen Stand der anderen zustimmenden Kirchen nicht betreffen. Gemeint sind besonders die Lehre von der Prädestination, der Christologie und der Abendmahlslehre. Diese Lehren wurden jedoch nicht einfach ausgeklammert, sondern ins Lehrgespräch aufgenommen. Dabei wurde

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A. Schenker, Versöhnung und Sühne, a.a.O., S. 87.

deutlich, daß sich in den Verwerfungen der Reformationszeit gegenseitige Korrekturen finden lassen. Außerdem werden die in den Verwerftingen anvisierten Spitzensätze und Übersteigerungen heute von den beteiligten Kirchen nicht mehr vertreten. Unter dieser Voraussetzung gewähren sich die beteiligten Kirchen einander Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft, erkennen gegenseitig die 72

Ordination an und ermöglichen die Interzelebration. Unterschiede bleiben trotzdem bestehen, doch stören sie die Übereinstimmung im Grundsätzlichen nicht und hindern dadurch auch die Kirchengemeinschaft keineswegs. Bestehende Unterschiede in Verständnis, Gestalt und Organisation fuhren nicht mehr zur Abgrenzung voneinander, sondern werden positiv in den Dialog innerhalb der Gemeinschaft eingebracht. Sinn dieser Kirchen73 gemeinschaft ist, daß der Austausch an die Stelle der Abgrenzung tritt. Eine solche Kirchengemeinschaft betrachtet sich nicht als etwas Abgeschlossenes und in sich Ruhendes. Sie enthält vielmehr ein dynamisches Element, das in der Verpflichtung der beteiligten Kirchen zu kontinuierlichen Lehrgesprächen untereinander deutlich wird. Die Leuenberger Konkordie weist darauf hin, daß die Kirchengemeinschaft weiter im gemeinsamen Zeugnis und Dienst verwirklicht und vertieft werden muß. Die Verpflichtung zu fortgesetzten Lehrgesprächen hebt die verpflichtende Geltung der Bekenntnisse der einzelnen Kirchen nicht auf, und ebenso sind organisatorische Konsequenzen wie strukturelle Zusammenschlüsse nicht das vorrangige Ziel, andererseits auch nicht abgeschlossen. Es geht nicht um eine Vereinheitlichung, weil diese die lebendige Vielfalt im Leben der einzelnen beteiligten Kirchen, wie Verkündigung, Gottesdienst, kirchliche Ordnungen, selbst diakonische und gesellschaftliche Tätigkeiten, verleugnen würden. Das Konzept der „versöhnten Verschiedenheit", wie es in der Leuenberger Konkordie verwirklicht wurde, ist auch zum Modell für eine Reihe nichtkonfessioneller und weltweiter ökumenischer Einheitsschritte geworden. Auch das evangelisch-katholische Gespräch, ja überhaupt die ökumenische Arbeit in der katholischen Theologie und Kirche ist davon angeregt worden. Allerdings sind die Voraussetzungen des evangelisch-katholischen Dialogs durch das unterschiedliche Verständnis von Amt und Lehrautorität anders als im innerprotestantischen Gespräch. Dazu muß man bedenken, daß das Modell der Leuenberger Konkordie selbst innerhalb des Protestantismus umstritten ist. Allerdings ist der evangelisch-katholische Dialog auf katholischer Seite noch nicht rezipiert, auch wenn es dazu eine Stellungnahme der deutschen Bischofskonferenz von 1994 gibt.74

72 73 74

U.H.J. Körtner, Versöhnte Verschiedenheit, a.a.O., S. 70. D. Vismann, Tagesordnungspunkt Ökumene a.a.O., S. 5 Iff. U.H.J. Körtner, Versöhnte Verschiedenheit, a.a.O., S. 71.

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Trotzdem sollte das ökumenische Engagement in der katholischen Kirche bedacht werden, das von dem Wort von Papst Johannes Paul II. ausgeht: „zu tun, was eint". Gemeint ist: im gemeinsamen Gebet und in der Feier der Liturgie, vor allem in der Zusammenarbeit der Gemeinde am Ort.75 Für die ökumenischen Bemühungen am Ort wurden von verschiedenen Seiten „Empfehlungen" oder „Mindestforderungen" herausgegeben. So hat die Bayerische Bischofskonferenz am 22. März 1982 eine „Empfehlung" beschlossen, in der es heißt: „Da die konfessionellen Spaltungen der Kirche in der pluralen Gesellschaft unseres Landes viele Christen in den öffentlichen und privaten Bereichen ihres Lebens unmittelbar und existentiell betreffen - und betroffen machen - ist ein solches Mindestmaß ökumenischer Bemühungen eine pastorale Notwendigkeit. ,Die ökumenische Aufgabe duldet keinen Aufschub' (Beschluß der gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland über ,Pastorale Zusammenarbeit der Kirchen im Dienst an der christlichen Einheit'/1974; 9)". In dieser „Empfehlung" werden neben Informieren, Kennenlernen, Begegnung und Bildung auch Gebet und Gottesdienst genannt. Hierzu heißt es: „Ökumenische Wortgottesdienste sollten nach Möglichkeit fester Bestandteil des Lebens in den Gemeinden werden". Als Möglichkeiten dazu wird angeführt: Gebetswoche für die Einheit der Christen, Weltgebetstag der Frauen, Ökumenischer Kreuzweg der Jugend, Schulgottesdienste, Bibellesung, Festgottesdienste bei besonderen Anlässen, Einweihungen nichtkirchlicher Einrichtungen. Dazu gehört weiter: gemeinsame Vorbereitung dieser Gottesdienste, Feiern der Gottesdienste reihum in einer der beteiligten Kirchen, gegenseitige Besuche gottesdienstlicher Handlungen, Behandlung ökumenischer Fragen in den eigenen sonntäglichen Predigten, Feiern der Votivmesse fur die Einheit der Christen, die Anregung, in die Fürbitte der Eucharistiefeier immer wieder eine Bitte um die Einheit der Christen aufzunehmen. Es folgt die Empfehlung zur „pastoralen Zusammenarbeit": im diakonischen und karitativen Bereich (Caritas und Diakonisches Werk), im Beratungsdienst (Ehe- und Erziehungsberatung, Telefonseelsorge), bei konfessionsverschiedenen Ehen, im Religionsunterricht, durch gegenseitige Hilfe (wie Überlassung kircheneigener Räume) und in der Öffentlichkeitsarbeit (gemeinsame Besuchsdienste, Absprache zwischen den Redaktionen der Gemeindeblätter bei der Gottesdienstanzeige [Ortsschilder, Hotels, Heime, Camping usw.]). In seiner Ansprache an die Vertreter der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland in Mainz am 17. November 1980 sagte Papst Johannes Paul II.: „Lassen wir nichts unversucht, um miteinander zu bezeugen, was uns in Jesus Christus gegeben ist [...] Alle Schritte zur Mitte

75

164

K. Baumgartner, Aus der Versöhnung leben, a.a.O., S. 87.

verpflichten und stärken uns zugleich, die notwendigen Schritte hin zu allen unseren Schwestern und Brüdern zu wagen". 76 Neben der offiziellen ökumenischen Zusammenarbeit gibt es noch viele andere Wegbereiter und Vorreiter der Versöhnung. Hier sei die Taizé-Gemeinschaft auf protestantischer und die Pax-Christi-Bewegung auf katholischer Seite erwähnt. Schließlich sollten wir uns vor Augen halten, daß Versöhnung zwischen den Kirchen nicht nur durch Aktionen, weder von offizieller Seite noch auf andere Art vorbereitet oder gefördert wird, sondern auch durch einen „ökumenischen Lebensstil". Aber der persönliche Ökumenestil sollte die Christen vereint zu einer „ökumenischen Versöhnungsordnung" fuhren, wie sie J.M. Lochman suggeriert.77 Jürgen Moltmann spricht von einer „Friedensord78

nung". Was in Versöhnungsordnungen der einzelnen Kirchen entwickelt wurde, müßte auf das Zusammenleben der Christen verschiedener Kirchen und Denominationen übertragen werden, durch die die Versöhnung der Kirchen untereinander immer neu - trotz aller Differenzen, Spannungen und Konflikten - in ihrer „versöhnten Verschiedenheit" gelebt wird.

76

K. Baumgertner, Aus dem Versöhnungsleben, a.a.O., S. 175-178. J. M. Lochman, Versöhnung und Befreiung, a.a.O., S. 90f. 78 J. Moltmann, Kirche in der Kraft des Geistes. Ein Beitrag zur messianischen Ekklesiologie, München 1975, S. 319. 77

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4. Der Versöhnungsdienst der Kirche in der Welt

Der Dienst der Versöhnung bezieht sich immer auch auf Verhältnisse und Strukturen. Er ist nie nur personal und nur ekklesial zu verstehen. Das wurde schon aus dem Versöhnungsbegriff des Neuen Testaments deutlich. Das Christusgeschehen ist insofern personale Versöhnung, als Gott hier „persönlich" handelt in seiner Fleischwerdung in Christus, sich an den einzelnen richtet und seine persönliche Antwort erwartet. Der einzelne aber ist zugleich Glied der Gemeinschaft. Die persönliche Frage hat darum mit den Verhältnissen in Familie, Gemeinde und Gesellschaft zu tun. In den neutestamentlichen Schriften werden in den paränetischen Teilen immer wieder die Konsequenzen der in Christus errungenen und geschenkten Versöhnung für die mitmenschlichen Beziehungen und das Leben der Gemeinde aufgezeigt. Das Licht der Versöhnung in Christus strahlt ins MenschlichGesellschaftliche hinein und soll dort verändernd, erneuernd, das heißt versöhnend wirken. Der Christushymnus Phil 2,5-11, der auf das Heilshandeln Gottes hinweist, bezieht sich auf die Spannungen in der Gemeinde Philippi: Christi Versöhnungswerk muß sich auf das Leben unter den Christen auswirken. Aber auch für die Strukturen der Gemeinde - die Kirchenordnung - hat die Versöhnungstat Christi Folgen. Sie hat vor allem etwas mit der Gesellschaft zu tun, in die sie hineinragt: die Strukturen der völkischen, sozialen und geschlechtlichen Eigenarten werden verändert (Gal 3,21). Darum sind im Volk Gottes alle „Wände der Trennungen" (Eph 2,14) in Frage gestellt. Buße und Versöhnung haben von hier aus eine „politische Dimension".79 Schon längst gibt es - in der evangelischen und katholischen Theologie und Ökumene - eine Besinnung auf diese gesellschafts-politische Dimension der kirchlichen Versöhnung. Besonders die sakramentalen Vollzüge der Kirche wie Buße und Abendmahl - weisen über die Kirche hinaus, ohne daß sie aufhören, kirchliche Vollzüge zu sein. Das legt sich nahe zunächst durch das Wesen der Versöhnung, als Buße, als μετάνοια, das heißt Umkehr zu Gott und zum Nächsten als einem ständigen Geschehen christlicher Existenz. Als solche ist sie immer ein ganzheitliches Geschehen, so daß über den innerlich-geistlichen Vorgang hinaus immer das praktische Leben und menschliche Tun mitgemeint ist. Insofern setzt Buße im Sinn von Umkehr eine weltimmanente, öffentliche, ja soziale Bewegung in Gang. Buße fuhrt zum Nächsten und schafft Versöh79

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Vgl. J.M. Lochman, Versöhnung und Befreiung, a.a.O., S. 90f.

nung und Frieden (Mt 5,23f) im Alltag durch das kultische Geschehen. Die Versöhnungstat Christi hat Folgen für die Versöhnung in der Welt. Denn auch die Sünde, die die Umkehr nötig macht, ist nicht allein individualistisch, sondern auch und in hohem Maß als politische und gesellschaftliche Gegebenheit zu verstehen.80 Daß die Kirche Sakramente hat und Versöhnung „feiert", weist darauf hin, daß ihre Handlungen „Zeichen und Werkzeug für die innerste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit" sind (Lumen Gentium, nl). Die Kirche wird nach dem Verständnis des Zweiten Vaticanums auch als Heilszeichen für die Welt gesehen. Das bedeutet, daß die Kirche einen Weltauftrag hat, und zwar nicht unter Absehung von ihrer eigenen Existenz vor Gott. Und es bedeutet, daß dieser Auftrag in ihrem Zeichencharakter zu sehen ist. Kirche ist neben ihrer Existenzweise vor Gott gleichzeitig Bruderschaft in der Welt; als solche bezeugt sie der Welt Gottes Heil. Sie ist immer auch Teil der zerrissenen und zugleich hoffenden Welt. „Zeichen" sein heißt, daß die Kirche „in ihrem Versöhnungshandeln und ihrer Feier der Versöhnung bezeugt: so können Menschen miteinander umgehen, so kann eine gesellschaftliche Gruppe sich verstehen, so kann menschliches Miteinander im Licht einer anderen Di81

mension des Lebens verwandelt werden". Die Feier der Versöhnung zwischen getrennten Kirchen kann so ein Zeichen für die Welt sein, ähnlich Versöhnung zu suchen. Wenn Kirche zum Ort wird, wo Buße, das heißt Umdenken (μετάνοια) eingeübt, gefeiert und praktiziert wird, sollte das für die Welt ein Signal sein, dieses Umdenken zu wagen. Auch der alte Begriff der „Satisfactio" - als „Wiedergutmachung" verstanden - , die eine direkte Implikation für das Leben der Gemeinde hat und damit auf die „Welt" übergreift, kann in diesem Sinne von Erneuerung und Wiedergutmachung in zeichenhafter und auch faktischer Weise gedeutet werden.

a) Die Entwicklung einer „politischen Theologie " aus dem Bußinstitut der Kirche Das Bußinstitut der Rekonziliation in der alten Kirche hatte eine „politische" Relevanz. Es zeigt uns, daß in der Frage, ob die Kirche den Auftrag und damit die Vollmacht habe, über die Taufe hinaus erneut die Gewißheit der Zugehörigkeit zur Heilsgemeinschaft zu gewähren, nicht im Sinne der Rigoristen, sondern des bleibenden Versöhnungsauftrages der Kirchen entschieden wurde. Im Mittelpunkt dessen steht die Überzeugung, daß der Auftrag der Kirche, Gottes

80

Vgl. D. Sölle, Politische Theologie, Stuttgart-Berlin 1971, S. 117. U. Kühn, Versöhnung feiern. (Evangelische) Anmerkungen zum (katholischen) Sakrament der Buße, in: ThLZ 1983/1, S. 12. 81

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Vergebung weiterzureichen, über die einmalige Handlung der christlichen Taufe hinausgehen muß. Der Kern dieser Praxis der Wiederzulassung zur Gemeinschaft der Eucharistie war die Erfüllung des alten apostolischen Auftrages, Menschen in die Versöhnung Gottes hineinzustellen. Solche Kirchenbuße war demnach ein Handeln an den Rändern der christlichen Gemeinde, nicht in ihrer Mitte selbst. Hinter dem Toleranzedikt des Kaisers Galerius im Jahre 311 auf dem Sterbebett steht die Überzeugung, daß keine Gemeinschaft ohne religiösen Kult bestehen kann und daß Christen, die von Christus abgefallen sind und auch nicht zu den anderen Göttern zurückkehren können, irgendwo aufgehoben sein müssen. Denn - so argumentierte der Kaiser - Menschen, die keinen Gott verehren, sind fur den Staat, die res publica, gefährlich. Insofern war die Rekonziliationspraxis neben ihrem innerkirchlichen Aspekt auch ein Dienst am 82

Staat und hatte eine „politische" Bedeutung. Die kirchliche Praxis, die Ernst damit machte, daß Gottes Versöhnung universal und unbedingt gilt, hatte schon damals eine ungeheuere politische Sprengkraft. Eine andere Praxis als die der Vergeltung nach dem ius talionis oder die der gerechten Bestrafung für begangene Schuldtaten, hatte gewiß einen großen Einfluß auf die Gesellschaft und veränderte Menschen entscheidend. Damit wandelte sich auch die Funktion der Kirche in der Gesellschaft. Sie mußte in eine politische Verantwortung hineinwachsen. Ihre Diener übernahmen Dienste für das Gemeinwohl durch die Fürbitte für die öffentlichen Angelegenheiten, für die Städte und Provinzen, fur die Gouverneure oder gar den Kaiser. Der Nächstendienst, die Sorge gegenüber Armen und Leidenden, wurde als innerkirchliche Angelegenheit zur öffentlichen Angelegenheit. Kaiser Konstantin hat auch das kirchliche Gericht der Bischöfe als Element allgemein verbindlicher Rechtsetzung anerkannt. Der Versöhnungsdienst der Kirche an der Gesellschaft wuchs demnach unmittelbar und fast selbstverständlich aus der kirchlichen Autorität des Amtes. Man muß dazu bedenken, daß in der Spätantike im römischen Kaiserreich die zivile politische Mitverantwortung der Bürger in Staat und Gesellschaft unbekannt war. Die Bischöfe dagegen hatten ihre Autorität von Gott und - zumindest theologisch gesehen - nicht vom Kaiser, standen daher über allen Ansprüchen anderer „Institutionen", wenn sie für das Gemeinwohl sprachen. Sie konnten daher Vermittlerdienste leisten. Gewiß ging damit auch eine Befestigung der Macht einher, wobei die Tradition sämtlicher Herrschaftsstrukturen mit aufgenommen wurde. In der späteren Entwicklung wurde der Dienst der Kirche in der Gesellschaft durch das „Amt der Schlüssel" in der Ausübung der Privatbeichte und Handha82

G. Kretschmar, The Church's Ministry of Reconciliation: A Service to Humanity

throughout the Ages, in: StLi, a.a.O., S. 27f.

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bung der Absolution noch entscheidender. Gewiß ist dieses Schlüsselamt schon sehr früh in manche juristisch-kasuistische Vorschriften eingezwängt und als klerikales Richteramt über die Laien auch oft mißbraucht worden. Doch hat es seine Funktion zum Friedensstiften als Dienst an der Welt ausgeübt. Die Bußleistungen und Satisfaktionen, bis hin zum Ablaß, die mit viel Mißbrauch verbunden waren, sind bis heute trotzdem sichtbare Zeugen der Vergebung Gottes geworden und sagen etwas über die Bedeutung des Versöhnungsamtes für das christliche Gemeinwesen aus. Nicht ausgegrenzt werden aus der Gemeinschaft, sondern in ihre Mitte zurückkehren dürfen durch Bekennen der Schuld, Wiedergutmachung oder andere Bußleistungen war eines der wichtigen Mittel des Versöhnungsdienstes der Kirche im Mittelalter. Erwähnt werden soll hier auch die therapeutische Funktion des Büß- und Versöhnungssakraments. Diese Funktion war besonders in der östlichen Tradition wichtig. Beichte war Lebenshilfe. Der Beichtvater war der Berater und Helfer, die Laienbeichte der Asketen und der Seelsorgedienst des Priesters verbanden sich. Beichte ist hier Aussprache über die Lebensprobleme und Hilfe zur Vergeistigung und zum geistlichen Wachstum des Gläubigen. Auch die Bußübungen sind - anders als in der westlichen Tradition - nicht „Leistungen", Satisfaktionen, sondern der Arznei zu vergleichen, durch die der Sünder geheilt, gebessert, verändert werden soll. Daher hat die Beichttradition in der Ostkirche bis auf den heutigen Tag ein günstigeres Geschick gehabt als die Beichte in der westlichen Kirche, die der Kritik der Reformatoren im Mittelalter die er83

ste und wichtigste Angriffsfläche bot. Wir wissen: Die 95 Thesen Luthers, durch die die Reformation ihren Anfang nahm, beziehen sich auf die Büß- und Ablaßpraxis der Kirche. Es läßt sich weiterhin durch Dokumente belegen, daß das Beichtinstitut des Mittelalters ein wohlbedachtes System des kollektiven Verhaltens und der sozialen Kontrolle begründet hat. Denn die Entdeckung der Fehler gegenüber dem Nächsten und die Erzwingung der Versöhnung und Wiedergutmachung wurde im 16. Jahrhundert ein Instrument umfassender innerer Disziplin des einzelnen und damit des Gemeinwohls. Zunächst, am Anfang des 16. Jahrhunderts, waren es weniger die geheimen Sünden (z.B. die sexuellen Vergehen), die die Beichtväter erforschten, sondern die öffentlichen Vergehen bzw. die Vergehen gegenüber der Nächstenliebe. Erst das spätere Interesse für die sexuellen Vergehen führte zu einer Individualisierung und Psychologisierung der Beichte und die Erfindung des Konfessionals (des Beichtstuhls). Die soziale Kontrolle durch die Beichte ist - nach Meinung vieler Fachleute - eine Verlängerung oder Folge des Druckes, der durch die Sakramente auf den einzelnen ausgeübt wurde. Aus der Theologie der „Tröstung", die hinter der Beichtpraxis 83

G. Kretschmar, The Church's Ministry of Reconciliation, in: StLi, a.a.O., S. 29ff.

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des 14. und 15. Jahrhunderts steht, mit der man die ängstlichen Gewissen der Sünder beruhigen sollte, wird eine solche Handhabung der Beichte, in der der Poenitent seiner umfassenden, totalen Schuld überfuhrt werden soll, durch die Eindringlichkeit, mit der der Beichtiger in sein innerstes Geheimnis des Herzens eindringt. Die Buße - als Bußleistung - erfüllt dann eine um so stärkere Aufsichtsfunktion. Das Bußinstitut ist ein organisiertes System der sozialen Kontrolle. Die Verhaltensmuster, die über das Mittel des Sakraments den Gläubigen auferlegt werden, sind jetzt unter Umständen wichtiger als das Bekenntnis von Todsünden und lässigen Sünden, sowie der Reue, die in der scholastischen Theologie im Vordergrund standen. In gewissem Sinne ist auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung die totale Kontrolle über das Leben der Gläubigen durchgesetzt, in allen seinen Einzelheiten: seine Triebe, Wünsche und sein Umgehen mit dem Leib im Geschlechtlichen sowie in der Ernährung (durch die Fastengebote). Man hat sogar die Vermutung ausgesprochen, daß durch die auferlegte Askese auch der Einfluß auf die demographische Entwicklung gesteuert werden sollte. Ob das mit Absicht oder sozusagen nur als „Nebenprodukt" geschah, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Doch ist bekannt, daß die Beichtväter auch die ersten waren, die über die natürliche Empfängnisverhütung Bescheid wußten und in der Beichte dafür Ratschläge gaben. Es gilt jedoch als sicher, daß Theologen und Beichtväter mehr oder weniger bewußt für das soziale System der Gesellschaft „arbeiteten", indem sie eine Ethik der Buße und Versöhnung darlegten, die den wirtschaftlichen Gegebenheiten und Möglichkeiten angemessen war bzw. solche Gesichtspunkte zur Verbesserung der allgemeinen Lage mit im Auge hatten. Her gehört auch die Rolle des Schutzes der Rechtlosen durch die strenge Verpflichtung zur Wiedergutmachung vermittels der öffentlichen Buße, die mit der „Reparation" und dem strengen Wachen über dem Schutz des Mitmenschen verbunden war. Sie haben eine entscheidende Rolle zur Erhaltung und Förderung der Gesellschaft gespielt. Versöhnungsdienst der Kirche in diesem allgemeinen Sinn als Dienst an der Gesellschaft durch das Amt der Buße und Versöhnung, das Bußleistungen, neue ethische Ausrichtung des Lebens und Wiedergutmachung am Mitmenschen impliziert, ist also in dieser Entwicklung evident, wenn dieser Dienst auch mit vielen fragwürdigen Auswüchsen, mitunter Druck, Terror, Härte und oft unmenschlicher Disziplin verbunden war. Mit der Notwendigkeit der Wiedergutmachung entstand das System der „Bußleistung". Denn - so fragte man - was geschieht, wenn man das entwendete Gut nicht mehr zurückgeben kann oder wenn der Geschädigte nicht mehrt lebt? So gab es im hohen Mittelalter die Einrichtung bestimmter „Bußleistungen" für schwere Sünden (z.B. für Kleriker im Konkubinat oder für „Nonnenschänder": das Tragen langen Haares und dreimonatiges Fasten bei Brot und Wasser während sieben Jahren). Auf diese Weise entstand auch das Ablaßwe-

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sen, um bestimmte Bußleistungen abzulösen oder anzugleichen, wenn man sie nicht selbst durchführen konnte. Diese Praxis entwickelte sich im Zusammenhang mit den Kreuzzügen. Die Verpflichtung zur Restitution wurde dabei sehr ernst genommen. Die klassischen Fälle der Rückerstattung sind im sogenannten Raymundina - einer Summe solcher Fälle von Raymond de Penaford, zw. 1225 und 1245 - enthalten. Unrechtmäßig angeeignete Güter, das Gestohlene und Entwendete jeder Art, mußte man zurückerstatten. Gemäß Angelus de Clavasio (im Werk ,Angelica") mußte demjenigen gegenüber, der auf der Straße vor dem eigenen Haus gefallen war und sich verletzt oder seine Kleider beschädigt hatte, Wiedergutmachung erfolgen, u.zw. in Form der Rückerstattung des Kleides, Bezahlung der Krankenschwester u.a. Im Falle eines Mordes mußte der Mörder den Eltern des Opfers die Einkünfte zurückerstatten, die dieser während eines normalen Lebens erworben hätte! Die Interessen eines legitimen Erbes wurden für Nachkommen durch Ehebruch nicht eingeschränkt. Wenn jemand einen anderen verletzte, mußte er die ärztliche Behandlung bezahlen und für die Verluste am Einkommen geradestehen. Diese Fürsorge kommt einer „Lebensversicherung" oder „Unfallversicherung" im heutigen Sinn nahe. Es waren jedenfalls Maßnahmen, die - im Zusammenhang mit der Bußpraxis - für soziale Gerechtigkeit sorgten und der Gewalt Schranken setzten. Obwohl das Sakrament der Buße - und der Eucharistie Gnade verkündigt, muß zuerst Gerechtigkeit walten, um in den Genuß der göttlichen Rechte zu gelangen.84 Daß im Widerspruch gegen die Mißbräuche dieser Praxis die Beibehaltung der Beichte im 16. Jahrhundert in der lutherischen Kirche durch die Erneuerung der Buße schließlich nicht gelang, ist in unserer Zeit als schwerer Verlust beklagt und gewertet worden. Obwohl Luther selbst nicht nur nicht gegen die Beichte, sondern für deren Erhaltung war und sich diesbezüglich klar ausgesprochen hat, war die Abschaffung der „Beichtdisziplin" doch der Anfang des Verfalls dieser Institution. Denn Mißtrauen gegen klerikale Bevormundung besonders in den Städten - und Ablehnung einer Kontrolle des Intimbereichs, als was die Beichte meist verstanden wurde, haben ihren Verlust vorbereitet. Durch die Individualisierung im Pietismus und Intellektualisierung in der Auf85 klärung war ihr in der evangelischen Kirche denn auch das Ende beschert. Was im Pietismus durch den Wunsch des Beichtvaters, die Seelen wirklich zu 84

H. Martin, Confession et contrôle social à la fin du Moyen Age, in: Groupe de la Bussière (Hg.), Pratiques de la confession, Paris 1983, S. 117ff. 85 Nicht so in Siebenbürgen: hier ist sie über Pietismus und Aufklärung hinaus noch lange in Übung geblieben und erst durch die Einführung von Agenden aus Deutschland allmählich abgekommen (Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts). Vgl. Chr. Klein, Die Beichte, a.a.O., S. 124ff.

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erforschen, und in der Aufklärung durch das Verschwinden des Sündenbewußtseins zum Verlust der Privatbeichte geführt hat, war Zeichen einer allgemeinen Krise des modernen Menschen, der sich aller Bevormundung und geistlichen Kontrolle entzog und sein Heil anderswo suchen wollte. Das Aufkommen der Psychiatrie hing mit dem Verlust der Beichte zusammen; der gesellschaftliche Dienst der Kirche am leidenden und Hilfe suchenden Menschen hörte so öffentlich auf und blieb lediglich ein stilles Angebot der Seelsorge. Was aber zu den reformatorischen Kirchen im 16. Jahrhundert in diesem Zusammenhang positiv vermerkt werden soll, ist, daß sie ihr Verhältnis zur Welt, zur Gesellschaft, zur „Obrigkeit" theologisch neu durchdacht haben. So entstand das, was wir heute „politisches Handeln" nennen. Wie der Auftrag des Evangeliums in gesellschaftliches Handeln umgesetzt werden kann und wie Staat und Kirche sich zu einander verhalten sollen, ist Thema seit der Zeit der alten Kirche und wird jetzt neu durchdacht. Im 16. Jahrhundert entstand auf Luthers Seite die „Lehre von den beiden Reichen" (Zweireichelehre) und auf reformierter Seite die „Königsherrschaft-Christi-Lehre". In ihnen haben wir Modelle von Konzepten des Versöhnungsdienstes der Kirche in der Welt, die gegenüber der alten und mittelalterlichen Kirche - auf neuen Grundlagen beruhen. Luther unterscheidet das geistliche und das weltliche Regiment Gottes. Das weltliche Regiment Gottes ist sichtbar in Staat, Wirtschaft, Familie und wird durch das Gesetz, die Vernunft und die weltliche Macht regiert. Das geistliche Regiment ist sichtbar in der Kirche und wird durch die Verkündigung des Evangeliums regiert. Gott regiert in beiden. Im weltlichen ist der Christ Weltperson, im geistlichen Regiment ist er Christperson. Während Luther eine staats- und kirchenkritische Unterscheidung - nicht Trennung - wegen der im Mittelalter gängigen heillosen Verflechtung zwischen Kirche und Welt forderte, wurde diese Lehre im Neuluthertum zur konservativen Legitimierung staatlicher Obrigkeit und zu Gehorsam ihr gegenüber, zur Förderung staatlicher Eigengesetzlichkeit und - was sich am schlimmsten im 20. Jahrhundert ausgewirkt hat - zum Rückzug der Kirche aus ihrer öffentlichen Verantwortung. Karl Barth hat zu Beginn des Ersten und des Zweiten Weltkrieges die Zwei-Reiche-Lehre Luthers dafür verantwortlich gemacht, daß in Deutschland die zerstörerische staatliche Macht die nationalsozialistische Ideologie und Politik verklärte, statt sie vom Evangelium her zu kritisieren und zu bekämpfen. Was uns jedoch wichtig erscheint, ist, daß hier ein Konzept des Verhältnisses von Kirche und Welt und damit des Vermittlungsdienstes der Kirche fur die Welt entwickelt wurde. Diese Lehre macht aufmerksam auf die gefährliche Identifikation von Religion und Politik zu einer politischen Religion oder reli-

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giösen Politik. Sie warnt die Kirche vor falschen Machtansprüchen in ihrem 86

Versöhnungsdienst und den Staat vor falschen Totalitätsansprüchen. Aus dem Widerstand der bekennenden Kirche und in kritischer Auseinandersetzung mit der Zwei-Reiche-Lehre Luthers entstand die „KönigsherrschaftChristi-Lehre" im Anschluß an die Ansätze von Calvin und Zwingli. Diesen ist es wichtig, daß in der civitas Christiana ständig nach dem Willen Gottes für alle Bereiche des Lebens und der Welt gefragt wird, nach der Durchdringung von Ethik und Politik. Die beiden Bereiche sollen nicht verschmolzen und nicht getrennt werden, denn ein Verschmelzen würde aus dem Evangelium ein politisches Programm machen und eine Trennung würde Gottes Willen mißachten. Wie Luther wollte Calvin die Politik „entklerikalisieren", aber auch die christliche Verantwortung gegenüber der Politik deutlich machen, deutlicher als das Luther tat. 87 Karl Barth knüpft an diese Gedanken Calvins an und entwirft die „Königsherrschaft-Christi-Lehre", die dann besonders Erik Wolf weiterentwickelt hat.88 Das Konzept der Königsherrschaft Christi ist für unsere Frage wichtig, weil es dem Kriterium der Universalität von Christi Versöhnungshandeln entspricht, das alle Bereiche des Lebens umfaßt und ebenso der christologischen und eschatologischen Ausrichtung dieses Ansatzes. Diese Lehre war grundlegend für das gesellschaftliche Handeln der Kirche in den letzten fünfzig Jahren, wie es später im Konzept der „verantwortlichen Gesellschaft", der Theologie der Evolution, der Theologie der Befreiimg und der politischen Theologie weiterentwickelt wurde. Mögliche Gefahren dieses Konzepts sind der kirchliche Triumphalismus wie überhaupt die Gefahr der Verkirchlichung. Barth forderte, daß die Christengemeinde Vorbild für die Bürgergemeinde sei, wobei die Gefahr besteht, daß es zu einer kirchlichen Bevormundung der Gesellschaft kommt, als ob Versöhnung allein durch die Kirche geschehe. Im Versuch, diesen Gefahren zu entgehen, entstand in unserem Jahrhundert als drittes Konzept zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen Kirche und Welt bzw. des Versöhnungsdienstes der Kirche an ihr die politische Theologie. Begründer dieses Ansatzes sind Jürgen Moltmann und Johann Baptist Metz. Sie versuchen das nichteingelöste Erbe der bekennenden Kirche weiterzuführen. Die „politische Theologie" ist aus der Unzufriedenheit über die weiter be86

Vgl. hiezu und zum Folgenden: Chr. Stückelberger, Vermittlung und Parteinahme, a.a.O., S. 484ff. 87

Vgl. K. Barth, Rechtfertigung und Recht, Zürich 1938; ders., Christgemeinde und Bürgergemeinde, Zürich 1946, beide neuaufgelegt in: ThSt(B), Heft 104, Zürich 1979. 88 E. Wolf, Was heißt Königsherrschaft heute?, in: Unter der Herrschaft Christi, München 1961, S. 67-91.

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stehende Partnerschaft zwischen Kirche und Staat in Deutschland entstanden. Sie begann mit der Kritik und der Neubestimmung der sozialen und politischen 89 Funktionen der Kirche unter den Bedingungen der Neuzeit. J.B. Metz suchte mit dieser Theologie den Anschluß der katholischen Theologie an die neuzeitli90

che Freiheits- und Demokratiegeschichte. Für Dorothee Solle ist politische Theologie die konsequente Fortfuhrung der emanzipatorischen historischen Kritik.91 Nach Trutz Rendtdorff steht sie im Zusammenhang der Wende vom vorneuzeitlichen zum neuzeitlichen säkularisierten 92Christentum mit ihrer „durchgehenden Politisierung der neuzeitlichen Welt". Gemäß dieser Ansätze kann zusammenfassend über das Konzept der politischen Theologie gesagt werden: Sie knüpft an die neuzeitliche Freiheitsgeschichte an und geht von einer säkularisierten Gesellschaft aus. Die Kirche muß demnach aus ihrer marginalisierten Stellung in der Gesellschaft herausfinden, anders als es Barth mit seinem Verhältnis zwischen „Christengemeinde und Bürgergemeinde" sah. Insofern nimmt sie ihre kritische Funktion wahr und macht mit der politischen Funktion der Theologie ernst. Eine a-politische Kirche gibt es nicht, weder in der Geschichte, noch im Reich Gottes. Sie will die Kirche nicht „politisieren" sondern die Kirchenpolitik und das politische Engagement der Christen „christianisieren". Die politische Theologie will weder die Trennung zwischen Welt und Reich Gottes - wie in der neulutherischen Interpretation der Zweireichenlehre - noch die Identifizierung der beiden - wie in der konservativen politischen Religion und bei einigen Vertretern der politischen Theologie - , sondern sie will eine verantwortliche „Ver-Mittlung des zukünftigen Reiches in die Geschichte hinein", „den Gottesdienst im Alltag der Welt" (Rom 12,1).93 Wichtig zu betonen ist, daß die deutsche „politische Theologie" Moltmanns eine ökumenische Theologie ist, da die evangelische und die katholische Kirche in Westeuropa in einer vergleichbaren gesellschaftlichen Situation sind und beide Wege der gesellschaftlichen Umsetzbarkeit des Evangeliums suchen. Dazu kommen die Impulse aus der Dritten Welt, vor allem im Rahmen der Arbeiten des Ökumenischen Rates der Kirchen. Diesbezüglich ist der vom Zentralausschuß des ORK 1982 angenommene Bericht einer Konsultation auf Zypern (1981) unter der Überschrift „Ökumenische Perspektiven zur politischen Ethik" wichtig. 89

J. Moltmann, Politische Theologie - politische Ethik, München 1984, S. 152. J.B. Metz, Politische Theologie in der Diskussion, in: H. Peukert (Hg.), Diskussion zur politischen Theologie, München 1969, S.274f. 90

91 92

D. Sölle, Politische Theologie, a.a.O., S. 88.

T. Rendtdorff, Politische Ethik oder politische Theologie, in: H. Peukert, Diskussion zur politischen Theologie, a.a.O., S. 217-230. 93 J. Moltmann, Politische Theologie - politische Ethik, a.a.O., S. 163ff.

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Der Versöhnungsdienst des Christen in der Welt heißt nicht, eine christliche Politik machen, denn eine solche gibt es nicht. Es wäre auch verfehlt zu meinen, eine Politik wäre christlich, wenn man sie in den Dienst kirchlicher Belange, religiös-ethischer Formen oder gar konfessioneller Interessen stellen würde. Das politische Engagement der Kirche kann folglich in der Weise definiert werden, daß diese „in christlicher Verantwortung für eine Politik einsteht, die unter den gegenwärtigen Bedingungen, nach menschlichem Ermessen, das Leben in Staat, Gesellschaft und Arbeit menschlich machen kann, für eine gerechte Verteilung des Sozialproduktes besorgt ist, den Benachteiligten zum Recht verhilft, bestehender Not zu Leibe rückt sowie mit aller Kraft den Frieden zwischen den Völkern zu erhalten sucht, kurzum die staatliche Macht zum Wohl des Menschen einsetzt". 94 Die Konkretisierung der politischen Aufgabe der Kirche und der Weltverantwortung des Christen wird in diesem Sinne in jenem Begriffspaar ausgedrückt, das in der theologischen Arbeit der Ökumene in den letzten Jahren im Vordergrund steht: „Frieden und Gerechtigkeit". 95 Diesen beiden Fragen wie auch der dritten, die - unter dem Schlüsselwort „Bewahrung der Schöpfung" mit diesen beiden verbunden wird, wollen wir uns im folgenden zuwenden als „soziale" [b)] und „kosmische" Dimension des Versöhnungsdienstes [c)] der Kirche in der Welt.

b) Die soziale Dimension des Versöhnungsdienstes Das Ziel des christlichen Versöhnungsdienstes darf in dem Auftrag gesehen werden, Frieden und Gerechtigkeit in der Welt zu fordern, die Gott der Welt verheißen und zugedacht hat. Es ist dies ein christlicher Versöhnungsauftrag, weil fehlender Friede und fehlende Gerechtigkeit in der Sünde des Menschen bestehen, die in zerbrochenen Beziehungen zwischen den Menschen und Völkern und zwischen sozialen Schichten zum Ausdruck kommen, die ihrerseits in der Entfremdung von Gott - also in der zerbrochenen Beziehung zum Schöpfer - wurzeln. Aufgrund ungerechter gesellschaftlicher Strukturen ergibt sich gleichzeitig der Auftrag nach Versöhnung der menschlichen Gegensätze. Die Forderung nach Gerechtigkeit hat daher im Auge, Menschen in neuen Formen der Gemeinschaft zusammenzubringen. Dabei gehören Frieden und Gerechtigkeit zusammen. Gerechtigkeit ist - theologisch betrachtet - die rechte Bezie94

A. Rieh, ders., Glaube in politischer Entscheidung. Beiträge zur Ethik des Politischen, Zürich-Stuttgart 1962, S. 173. 95 Vgl. die öffentliche Erklärung „Frieden und Gerechtigkeit" bei der 6. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Vancouver 1983 in: Bericht aus Vancouver, a.a.O., S. 157.

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hung zwischen Gott und Mensch, zwischen den Menschen untereinander sowie zwischen den Menschen und der Natur. Umgekehrt ist Frieden das Ergebnis von Bemühungen zum gerechten Zusammenleben der Menschen untereinander sowie zwischen den Menschen und der Natur. Nur wo Gerechtigkeit herrscht, kann Frieden sein. Es lohnt sich, dieser Problematik des Zusammenhangs von Frieden und Gerechtigkeit im Blick auf den Versöhnungsdienst der Kirche nachzugehen, indem beide Begriffe zunächst einzeln näher ins Auge gefaßt werden. Schon im Alten Testament und im Judentum hat Di'? tí? eine hervorragende Bedeutung. Er bedeutet nicht das, was man heute darunter versteht: „Seelenfrieden", eine Jenseitige Seligkeit" oder „innerer Friede" wie auch keineswegs nur äußere „Abwesenheit von Krieg", obgleich durch die Übernahme des Begriffes im abendländischen Denken dieses Mißverständnis weit verbreitet ist, das schon durch die Übersetzung ins griechische ειρήνη und lateinische pax vorgegeben wurde. Doch hat eine bestimmte Individualisierung und Spiritualisierung durch die erbauliche Frömmigkeit zu diesem Verständnis des ursprünglichen Sinnes von „Frieden" geführt. Das neutestamentliche ειρήνη bedeutet ebenfalls nicht diesen „Frieden der Seele" außer an einer einzigen Stelle (Rom 15,13: „Der Gott der Hoffnung erfülle euch mit aller Freude und Friede im Glauben.") Sonst bedeuten beide Begriffe, der hebräische und der griechische, „Wohlsein", das bei der „leiblichen Gesundheit und dem äußeren Wohlstand" Zufriedenheit, Wohlergehen, Sicherheit und Frieden verleiht, bis hin zum „Heil" im Sinn der prophetischen Verkündigung.96 Lebensqualität, Fruchtbarkeit der Natur, Recht und Weisheit sind in diesem Sinne mitgemeint, so daß der 97

Begriff ein umfassendes „Leitwort eines sozialen Prozesses" meint. Darum ist es nicht verwunderlich, daß dieses Wort im Alltag des Volkes abgegriffen ist, weil es eine einfache „Wunschformel" geworden ist, ein schlichtes Grußund Glückwunschwort, obwohl es gleichzeitig den religiösen Inhalt keineswegs eingebüßt hat. Gegenüber98dem individuellen müssen wir also den sozialen Aspekt des Begriffes sehen. Schalom ist ein Auftrag an die Gemeinschaft, das Land, die Stadt, u.zw. ein sozialer und politischer Auftrag der frommen Gemeinde des Alten Testaments in dieser Welt. Darum wird Frieden oft mit Gerechtigkeit zu96

W. Dantine, Versöhnung, a.a.O., S. 55-58. Siehe oben, S. 85ff. H.P. Schmidt, Schalom, zit. nach Chr. Stückelberger, Vermittlung und Parteinahme, a.a.O., S. 409. 98 Im Deutschen wird das Wort abwechselnd mit „Friede" und „Heil" übersetzt (Psalm 85,9-12: „Fürwahr, er redet vom Heil zu seinem Volk [...] Güte und Treue begegnen einander [...]"; vgl. auch Jeremía 29,11—14a: „Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe: Gedanken des Friedens/Schalom und nicht des Leides"; 29,7: „Suchet der Stadt Bestes = Suchet den Schalom, das Heil des Landes"). 97

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sammen genannt: Gerechtigkeit und Frieden „küssen" sich (Ps 85,11). Friede ist demnach eine Gabe, aber auch eine Aufgabe. Obwohl ihn Gott gibt, oder gerade weil ihn Gott gibt, muß ihn der Mensch weitergeben. Schalom ist heilvolles Handeln Gottes, das verantwortungs-volles Handeln des Menschen einschließt und erforderlich macht. Schalom ist demnach auch Wiederherstellung an Gemeinschaft und Integrität, wozu Vertrauen, Geborgenheit und Gemeinsamkeit als wesentliche Elemente dazugehören." Das ist auch im neutestamentlichen Verständnis nicht anders. Frieden ist zwar der „normale Zustand der Dinge". Paulus stellt der Unordnung den Frieden, nicht die Ordnung gegenüber: „Gott ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern des Friedens" (1. Kor 14,33). Gott ist demnach Garant eines friedlich versöhnten, menschlichen Miteinanders. Dieser Gottesfrieden will Versöhnung unter den Menschen und ist an der Lösung von Konflikten unter ihnen interessiert, damit keine „Unordnung" entsteht, also daß Chaos verhütet wird. Sehr schön ist das in dem deuteropaulinischen Schrifttum zum Ausdruck gebracht: „Der Gott des Friedens" (Hebr 13,20) ist „unser Friede, der aus beiden - dem Nahen und dem Fernen - eines gemacht hat und den Zaun abgebrochen hat, der dazwischen war, nämlich die Feindschaft" (Eph 2,14). Das hat er getan, damit er „Friede mache und die beiden versöhne mit Gott in einem Leib durch das Kreuz, indem er die Feindschaft tötete durch sich selbst. Und er ist gekommen und hat im Evangelium Frieden verkündigt euch, die ihr fern wart und Frieden denen, die nahe waren" (Eph 2,15c—17). Daraus ergibt sich die „Friedensaufgabe": „Bereit, einzutreten für das Evangelium des Friedens" (Eph 6,15). Dieser Friedensauftrag an seine Jünger steht bei Jesus im Vordergrund. Man könnte gewiß Jesu ganzes Tun und seine Botschaft als „Evangelium des Friedens" (Apg 10,36) bezeichnen, obgleich der Begriff „Friede" in den Evangelien nicht so häufig vorkommt im Vergleich mit dem paulinischen Schrifttum. Gerade die Evangelien machen deutlich, was später bei Paulus ausdrücklich gesagt wird: Friede ist nicht nur ein Begriff und nicht nur ein Tun, sondern eine Person: „Jesus ist unser Friede" (Eph 2,14). In ihm ist der erwartete „Friedenfurst" (Jes 9,6) zu uns gekommen und in ihm zeigt sich, was Gottesfrieden meint. Nach den Evangelien heißt Friede Parteinahme für Arme und Sünder und zugleich Aufruf an Reiche und Selbstgerechte. Friede ist Entscheidung zur Nachfolge und Bereitschaft, für den Frieden und das Reich Gottes zu streiten. Jesu Friede schließt wie der alttestamentliche Schalom Gerechtigkeit ein. Gerechtigkeit und Frieden gehören auch hier zusammen. „Keine Gerechtigkeit ohne Frieden, kein Friede ohne Gerechtigkeit".100

99

E. Wiesnet, Die verratene Versöhnung, a.a.O., S. 70.

100

Diese ökumenische Formel kommt von der Sechsten Vollversammlung des Ökumeni-

schen Rates der Kirchen in Vancouver 1983.

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Jesus nennt die „Friedensstifter" selig (Mt 5,19). Das Wort kommt nur an dieser Stelle im Neuen Testament vor, ist aber rabbinisch vorgeprägt (Di1?© ntoü). Damit sind „Menschen gemeint, die sich, ohne eigenes Interesse, zwischen das Feuer zweier sich bekämpfender Parteien stellen und Frieden zu stiften suchen".101 Friede im Sinne einer „Pax Romana" ist demnach kein echter Friede im biblischen Sinn. Er ist ein Friede, der die eigene Friedensordnung zum Maßstab macht. Dieser Frieden ist „universalisierter Friede der jeweiligen Nation, Kultur und Religion".102 Er kommt durch Macht und Gewalt zustande und wird durch ein „Gleichgewicht des Schreckens" gesichert. Er kann damit fur eine Zeit die „Abwesenheit von Krieg" ermöglichen, doch ist er „Frieden der Welt" im Gegensatz zu dem „Frieden, den die Welt nicht geben kann" (Joh 14,27). Der notwendige Zusammenhang zwischen Frieden und Versöhnung wird daraus deutlich. Der Begriff spielt in der lateinischen Kirche des Abendlandes eine entscheidende Rolle für das Versöhnungsgeschehen. Die Verwendung der Worte „in pace" auf Grabinschriften zeigt, daß auch hier eine außerchristliche Sitte, ursprünglich vielleicht jüdischer Herkunft, den auch sonst abgeschliffenen Begriff überliefert hat (wie bis zum heutigen Tag auf Grabsteinen). Aber auch hier bedeutet das Wort nicht nur „Geborgenheit und Schutz" (in diesem Fall für den Verstorbenen, die Verstorbene), sondern Hinweis auf den liturgischen Friedensgruß. Das aber ist ein Friede, der von Gott kommt und den Frieden in der Gemeinschaft der Kirche mitenthält. Augustin hat das Verhältnis zwischen dem eschatologischen, himmlischen Frieden und dem politischen Frieden herausgearbeitet, indem er beide klar unterschied. Aber der eschatologische Friede bestimmt die Kirche schon heute, auch wenn sie ihn in völliger Weise erst in der Zukunft erlangen wird (in: „De civitate Dei"). Damit finden wir hier bei der Beschreibung des Friedens alle Dimensionen wieder, die wir auch beim Begriff „Versöhnung" vorgefunden haben: Beziehung auf Gott, die Kirche und den Einzelnen, selbst den politischen Aspekt. Friedensdienst in der Kirche ist hier nichts anders als daß die Kirche auf den Frieden Gottes verweist, den Frieden bringt und Friedensstiftung 103 initiiert, die durch Gott von uns als Aufgabe erwartet wird. Der Gedanke des Friedens und der Friedensstiftung hat sich - anders als der der Versöhnung - im liturgisch-kultischen Handeln bis auf den Friedensgruß kaum entfaltet, aber im profanen Bereich eine wichtige Rolle gespielt. Darum 101

W. Förster, Art. ειρήνη, in: ThWNT II. Bd., S. 418. R. Friedli, Frieden wagen. Der Beitrag der Religionen zur Gewaltanalyse und zur Friedensarbeit, Freiburg 1981; zit. nach Chr. Stückelberger, Vermittlung und Parteinahme, a.a.O., S. 410. 103 Vgl. G. Kretschmar, The Chruch's Ministry of Reconciliation, a.a.O., S. 29. 102

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wurde im politischen und gesellschaftlichen Raum eher von Friedensstiftung und Friedensvermittlung als von Versöhnung gesprochen. Zum Begriff Gerechtigkeit. Wir haben schon erwähnt, daß der Begriff Friede im Alten Testament eng mit Gerechtigkeit zusammenhängt (Ps 85,11: „Daß Gerechtigkeit und Friede sich küssen"). Dl1?® als Wiederherstellung von Gemeinschaft - und das heißt als Versöhnung der zerstörten Einheit - kann nicht ohne Gerechtigkeit sein, soll er nicht als „Pax Romana" mit Gewalt und Machtausübung zustande kommen. Das ist heute in der ganzen Ökumene Konsens. Schwierig aber ist die Frage, was „Gerechtigkeit" eigentlich bedeutet, was damit genau gemeint ist und welche Konsequenzen dies für das politische und ethische Handeln der Kirche hat. Der Begriff „Gerechtigkeit" reicht tief in die Fragen der Wirtschaft hinein, die neben der politischen, sozialen und ökologischen Dimension der Versöhnung entscheidend wichtig sind und darum hier auch etwas gründlicher bedacht werden müssen. Denn der „Sitz im Leben" der Gerechtigkeit liegt beim „Verteilen". Die menschliche Gesellschaft ist „ein System, in dem die Vorteile und Nachteile des Lebens und Überlebens auf irgendeine Weise verteilt werden müssen. Wir bezeichnen dieses System als Wirtschaft. In der Wirtschaft werden Lebenslagen, \tárd Lebenserfullung verteilt".104 Gerechtigkeit beginnt also mit der gerechten und wirtschaftlichen Verteilung der Lebenslose, die zunächst im wirtschaftlichen Prozeß, an dem alle beteiligt sind, erfolgt. Georg Picht hat auf den Zusammenhang zwischen Ethik und Wirtschaft auch anhand der griechischen Philosophie aufmerksam gemacht. Die ethischen Regeln entwickelten sich hier im Kampf um das Überleben. Ethik war zunächst die Lehre von den Erhaltungsbedingungen des menschlichen Lebens. Auch die beiden Begriffe οικονομία und έθος sagen etwas Ähnliches aus. Ökonomie ist die „Hausverwaltung", die „Zuteilung in dem Sinne, daß jedermann gerecht überleben kann". 105 έθος kommt von „Stall, Behausung" und meint also das, wo man zu Hause, geborgen ist, wo es Beständigkeit und Sicherheit gibt.106 Ethik meint also - wie H. Ruh zurecht formuliert - „gerechte Verteilung" im Leben und Überleben. Was nun „gerechte Verteilung" meint, ist in unserem abendländischen Denken vom „Markt" geprägt, weswegen Gerechtigkeit in erster Reihe als „wirtschaftliche Gerechtigkeit" verstanden wird.107 Gerade diese Gerechtigkeit wi104

H. Ruh, Gerechtigkeitstheorien, in: A. Wildermuth/A. Jäger, Gerechtigkeit. Themen der Sozialethik, Tübingen 1981, S. 57. 105 G. Picht, Zum philosophischen Begriff der Ethik, in: ZEE 1978, S. 250f. 106 P. Lehmann, Ethik als Antwort, München 1966, S. 17f. 107 Vgl. R. Weth (Hg.), Totaler Markt und Menschenwürde. Herausforderungen und Aufgaben christlicher Anthropologie heute, Neukirchen-Vluyn 1996; dazu: Gemeinwohl und Eigennutz. Wirtschaftliches Handeln in Verantwortung für die Zukunft. Eine Denkschrift der

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derspricht aber unserem Verständnis von der Gerechtigkeit, die mit der Erwartung der „Gleichheit" verbunden ist. Denn der „Markt" geht nicht von der Gleichheit, sondern der Ungleichheit aus. Dementsprechend werden auch die Menschen ungleich behandelt, das heißt die unterschiedlichen Ausgangspositionen - zum Beispiel Kapital durch größeres geerbtes Vermögen - nicht berücksichtigt und damit die Schwachen benachteiligt. Die enge Beziehung von Gerechtigkeit und Gleichheit hat Aristoteles in seiner Beschreibung der Gerechtigkeit definiert. Er unterscheidet die arithmetische und geometrische Gerechtigkeit. Die arithmetische Gerechtigkeit ist die ausgleichende Gerechtigkeit nach dem Prinzip „allen das Gleiche". Die geometrische Gerechtigkeit ist die austeilende Gerechtigkeit nach dem Prinzip „allen das Gleiche in Berücksichtigung ihrer Ungleichheit" (anders gesagt: das Gleiche nach Maßstab der vorhandenen Ungleichheit). In der Theologie ist man an dieser Einstellung zur Gerechtigkeit als Gleichheit und dieser Unterscheidung • · 108 in arithmetische und geometrische Gerechtigkeit nicht vorbeigekommen. Auch die bekannte Formel: „Jedem das Seine" (Suum cuique) ist recht interpretationsfahig und sehr allgemein. Das Problem in der Frage der Gerechtigkeit besteht darin, daß es zu der Anwendung dieser Erkenntnis kaum jemals gekommen ist. Man hat - auch in den großen ideologischen Systemen unseres Jahrhunderts - nicht nur des Kapitalismus, sondern auch des Sozialismus - immer wieder feststellen müssen, daß sich Gerechtigkeit als Gleichheit nicht realisieren läßt und daß gerade auch die Ungleichheit - wegen dem Prinzip der Konkurrenz - ein unverzichtbarer Faktor für die wirtschaftliche Entwicklung ist. Darum war es kaum möglich, diese Anschauung in die Wirtschaftstheorien aufzunehmen. Man hat allerdings erkannt, daß das Prinzip der Gleichheit bei der Verteilung eine entscheidende Rolle in der Wirtschaftsethik spielen müsse. Dementsprechend unterscheidet man: die Besitzstandgerechtigkeit, wenn jemand eine erworbene Position in der Gesellschaft beansprucht; die Leistungsgerechtigkeit, die sich an der im gesellschaftlichen Leben erbrachten persönlichen Leistung bemißt; die Chancengleichheit, die gleiche Ausgangsbedingungen für alle und die Überwindung von sozialer und rechtlicher Diskriminierungen fordert; die Bedürfnisgerechtigkeit, die jedermann zustehenden Anrechte auf ein menschenwürdiges Dasein zum alles entscheidenden Maßstab macht, und die Verteilungsgerechtigkeit, die auf die Möglichkeit, gleiche Anteile an den Gütern zu erhalten, zielt. Mit den so entstandenen Theorien meinte man am Prinzip der Gleichheit zwar festhalten zu müssen, es aber auch einer Korrektur unterziehen zu sollen, EKD, Gütersloh 3 1992. Hier heißt es S. 106: „Gerechtigkeit unter Menschen herrscht, wenn die öffentlichen Angelegenheiten des gemeinsamen Lebens so bestellt sind, daß alle ihnen zustimmen können". 108

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E. Brunner, Gerechtigkeit, Zürich 3 1981, S. 32.

etwa so, daß es Vorteile für die Bevorzugten in einer Gesellschaft dann geben dürfe, wenn das den weniger Begünstigten zum Vorteil gereiche.109 Doch auch diese Theorie ist schwer anwendbar und bleibt in der Praxis meist unberücksichtigt. Daher fordert man gleichzeitig, daß alle Implizierten, um den praxisorientierten Entscheidungen als gerecht und fair zustimmen zu können, an diesen Entscheidungen beteiligt sein sollen. In diesem Fall spricht man von der Beteiligungsgerechtigkeit (partizipative Gerechtigkeit), die auf dem Gebiet der Wirtschaft dem Prinzip der Mitbestimmung entspricht. Aus diesen Erwägungen wird deutlich, daß Gleichheit als rein formaler Begriff nicht weiterhilft, weil er leicht ad absurdum geführt werden kann: gleich arm, gleich krank und gleich benachteiligt wie andere zu werden - wie das tatsächlich häufig im Kommunismus der Fall war - wäre keineswegs im Sinne dieser Forderung. Darum bedarf Gerechtigkeit einer „inhaltlichen Bestimmung oder Stoßrichtung", wie H. Ruh sagt. Sie tendiert auf „Verbesserung der Benachteiligten" und auf eine „angemessene Teilhabe". Gleichheit hat demnach den Sinn der „Verbesserung der Position der Benachteiligten" oder - wie es Gunnar Adler-Karlsson ausgedrückt hat - „Minderung des Leidens". AdlerKarlsson leitet daraus „drei Hauptprinzipien" ab: die absolute Armut müsse ausgerottet werden, indem allen Menschen ein Minimum-Einkommen gegeben wird; niemand dürfe seinen Überfluß vergrößern, ehe nicht die Grundbedürfnisse aller befriedigt worden sind, und es seien Wege zu schaffen, über die das Sparen der Reichen in Einkünfte fur die Armen verwandelt werden kann.110 Auch hier erkennen wir die Ausweglosigkeit einer rein immanenten und „innerweltlichen" oder philosophischen Lösung dieses Menschheitsproblems, wiewohl die Anwendung der modernen wirtschaftlichen Grunderkenntnisse von höchster Bedeutung in der heutigen Weltpolitik sind. In der theologischen Diskussion wird darum hier auf die „Transzendierung" dieses Problems hingewiesen. Es kann nicht abgesehen von Gott behandelt werden. Das aber hängt mit der „Menschenwürde" zusammen, die theologisch in der Lehre von der „Gottesebenbildlichkeit des Menschen" zur Sprache kommt. Auch diese - darauf hat Emil Brunner hingewiesen - kann nicht bloß formal sein, also allein in unserem Personsein und unserer Verantwortlichkeit im Unterschied zum Tier bestehen. Sie muß vielmehr material verstanden werden als die gnadenvolle Füllung dieser formalen Ebenbildlichkeit.111 Karl Barth hatte bereits daraufhingewiesen, daß es sich bei der Gottebenbildlichkeit des Menschen um eine Beziehungsgleichheit handelt, deren tiefster Ausdruck die Liebe zwischen Mann und 109

So J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1975.

110

H. Ruh, Gerechtigkeitstheorien, a.a.O., S. 68.

111 Vgl. E. Brunner, Der Mensch im Widerspruch, Zürich 4 1964, S. 94-101; ders.: Dogmatik, Bd. II, Zürich-Stuttgart 2 1960, S. 67-73; eine zusammenfassende Kurzdarstellung des Problems bei: H. G. Pöhlmann, Abriß der Dogmatik, Gütersloh 2 1975.

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Frau als Abbild der Liebe Gottes ist. Theologisch gesehen hat Gleichheit damit den Sinn von Liebe. Die Menschen sind Gott gleich, indem sie sich lieben. Gleichheit meint Verbundensein der christlichen Liebe. „Liebe wird zum Kriterium der Gleichheit oder Ungleichheit: Gerecht ist, was die Liebe als gerecht, als angemessen, als notwendig erkennt". 113 Diese Gerechtigkeit kann dann geradezu eine „parteiische Gerechtigkeit" sein, wie sie Eugen Wiesnet nennt, wenn er das „soziale Engagement" vom Alten und Neuen Testament her „für die Praxis der helfenden Versöhnungsgerechtigkeit" als verpflichtend ansieht. Der Schalomcharakter der Gerechtigkeit hat dem verelendeten Menschen in seinem geschädigten und gebrochenen Humanuni zugute zu kommen. „Jahwe im Alten und Jesus im Neuen Testament sind modellhaft seine ,Anwälte', die seine reduzierten Rechts-, Lebens- und Gemeinschaftschancen in der Mehrheit der ,Gesunden' vertreten [...] Aber gerade am ,Armen' zeigt Jahwe und Jesu Handeln auf, daß wahre H p l S nicht die ist, die die Taten der Menschen uniform behandelt. Die ,neue Gerechtigkeit' ist jene, die jedem gerecht wird, indem sie ihm vermittelt, was er zu seinem psychosozialen Existenzminimum braucht (vgl. das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg). Werte aus unserem gegenwärtigen Dialog wie ,soziale Gerechtigkeit', ,Chancengleichheit', ,Täterzentrierung' geben den Inhalt dieser parteiischen Rechtsvertretung' der Rechtsschwachen im Sinne der Bibel gut wieder. Ohne ein solches .soziales Engagement' im Rahmen des Rechtes kann Gerechtigkeit nicht Versöhnungsgerechtigkeit werden." 114 Daraus ergibt sich fur die Kirche die Aufgabe der christlichen Liebestätigkeit (Diakonie) als Wesensbestandteil ihrer Existenz - neben Martyrie und Liturgie - und als Ausdruck für die Achtung der Gerechtigkeit Gottes, die allen Menschen gilt und zu menschlicher Gerechtigkeit und zum Ausgleich von Ungerechtigkeit verpflichtet. Gemäß dem Evangelium ist der Mensch aufgerufen, sich den Schwachen, Hilfsbedürftigen und Armen zuzuwenden, weshalb diese in der alten Kirche als „Schatz der Kirche" bezeichnet wurden. Doch die Solidarität mit den Schwachen muß über die individuelle Hilfsbereitschaft und ebenso über die Institution der Kirche hinausreichen und Teil der Wirtschaftsordnung werden. Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik müssen zusammengehen. So ist es Aufgabe der Politik „durch institutionelle und gesetzliche Regelungen den Ausgleich wirtschaftlicher Ungerechtigkeiten zu befördern. Sozialpolitik ist ein ethischer Imperativ der Wirtschaftspolitik." Diese Aufgabe endet auch nicht an den Grenzen des eigenen Landes und der eigenen Wirtschaft. Darum muß sich die soziale Gerechtigkeit auch auf das maßgebli-

112 113 114

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Karl Barth, KD III/4, S. 128f. H. Ruh, Gerechtigkeitstheorien, a.a.O., S. 69. E. Wiesnet, Die verratene Versöhnung, a.a.O., S. 124.

che System der Weltwirtschaft beziehen.115 Hier wird „Entwicklungshilfe, Konsumverzicht und Änderung der Produktionsstruktur" als Möglichkeiten genannt, „die auf Dauer notwendige Nachfragesteigerung der Dritten Welt vorzufinanzieren - eine Form antizipatorischer internationaler Solidarität, deren Grundzüge uns durch die dynamische Rente und deren Basis, die Solidarität zwischen den Generationen, innerhalb unserer eigenen Gesellschaft durchaus geläufig sind".116 Damit kommen wir auf die entscheidende Frage zurück, wie die Kirche in ihrem Versöhnungsdienst, Kraft ihrer Weltverantwortung, für die Verwirklichung dieser beiden großen Anliegen - Frieden und Gerechtigkeit - einstehen kann. Zunächst sei daran erinnert: Frieden und Gerechtigkeit sind keine kirchlichen oder gar konfessionellen Eigenthemen. Es sind Menschheitsprobleme, zu denen die Kirchen allerdings einen eigenen Zugang haben, auf die sie aber keinen Alleinvertretungsanspruch erheben dürfen. - Welches ist dieser Zugang, der von vornherein als ein „theologischer" Weg angesehen werden muß? 117 Soviel mag aus unseren bisherigen Ausführungen deutlich geworden sein, daß Frieden und Gerechtigkeit wesentliche Bestandteile des Evangeliums darstellen. Strittig ist allenfalls, welche Konsequenzen daraus für die Kirche selbst und einzelne ihrer Bekenner und ihre gesellschaftliche Praxis ableitbar sind. Gemäß der Formula Concordiae (Solida Declaratio, Kap. X) kann man vom Standpunkt der lutherischen Kirche sagen, daß jeder Christ die Verpflichtung hat, „nicht allein mit Worten, sondern auch im Werk und mit der Tat zu bekennen". Mit Berufung auf den „Status confessionis" hat die Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes 1977 in Daressalam die Apartheid in Kirche und Staat von Südafrika als Bedrohung der Einheit in der Kirche interpretiert und damit ein spezielles Problem der Gerechtigkeit auf die Ebene des Glaubensbekenntnisses gehoben. Dieser Schritt wurde theologisch mit der Sakramentslehre begründet: Wenn die Abendmahlsgemeinschaft durch eine unchristliche Unterscheidung nach dem Rassenprinzip beeinträchtigt ist, steht die christliche Bekenntnisgemeinschaft auf dem Spiel. Denn die besondere „soziale Gestalt" der Kirche wird im Abendmahl sinnlich erfahrbar. Das Problem, das sich in der heutigen Welt in Bezug auf Frieden und Gerechtigkeit ergibt, ist nun eben die Zusammengehörigkeit beider und die rechte 115

Vgl. dazu das Memorandum zur Vierten Konferenz der Vereinigten Nationen für Handel und Entwicklung - UNCTAD - 1976, vorgelegt von der gemeinsamen Konferenz der Kirchen für Entwicklungsfragen, in: Die Denkschriften der EKD, hg.v. Kirchenamt der EKD, Bd. 1/1: Frieden, Versöhnung und Menschenrechte, Gütersloh 31988, S. 191 ff. 116 Die Denkschriften der EKD, a.a.O., S. 224. 117 Vgl. zum Folgenden: G. Planer-Friedrich (Hg.), Frieden und Gerechtigkeit. Auf dem Weg zu einer ökumenischen Friedensethik, München 1989, S. 18Iff.

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Zuordnung zueinander. Obwohl beide theologisch zusammengehören, schließen sie sich in der Praxis aus: entweder es gibt Frieden auf Kosten der Gerechtigkeit oder Gerechtigkeit auf Kosten des Friedens. Die Kirchen der Dritten Welt stellen das Gerechtigkeitsproblem in den Vordergrund, während Frieden für sie nicht die gleiche Bedeutung hat wie bei den Christen des Nordens. Man wisse in den Hütten Afrikas z.B. genau, was Hunger sei, doch das Wort „A118 tom" kenne niemand. Hunger und Armut stehen hier im Vordergrund, weil hier für Menschen der Dritten Welt das Überlebensproblem ersten Ranges liegt. Für die Kirchen und Christen des Nordens ist die Nuklearkatastrophe die große Bedrohung. Ihnen gegenüber wird der Vorwurf gemacht, sie würden das Elend im Süden ignorieren und so mit ihren Friedensbemühungen lediglich eine Pax Romana verwirklichen. Wie also soll man Frieden und Gerechtigkeit einander zuordnen? Das ist die große Frage, über die heute noch weitgehend Ratlosigkeit herrscht. Auch an diesem Punkt kann der Gedanke der Versöhnung weiterhelfen. Die Denkmodelle des Nordens und die des Südens dürfen nicht ausschließlichen Charakter haben. Beide Sichtweisen müssen sich als kontextspezifische Reflexionen verstehen, die aus dem Blickfeld des anderen anders aussehen als aus dem eigenen. Das schließt aber nicht aus, daß sie sich auf der Grundlage der gemeinsamen ekklesialen Existenz gegenseitig ergänzen. Es ist dann verständlich, daß die Theologien der südlichen Hemisphäre der Gerechtigkeit vor der Friedenssicherung den Vorrang geben. Und umgekehrt ist es begreiflich, daß die Theologien des reichen Nordens durch die gefahrliche Bedrohung der Schöpfung Gottes den Frieden vor den Gerechtigkeitskampf stellen. „Versöhnte Verschiedenheit" auch hier anzuerkennen, würde bedeuten: den Grund dieser Einstellung nicht in einer „richtigen" oder „falschen" Theologie zu sehen, sondern in der kontextuellen Komponente ihres theologischen Denkens. „Wenn wir uns nicht gegenseitig unterstellen, damit unmittelbar die evangelische Botschaft zu verraten, gewinnt der Dialog über diese Schwerpunktverteilung eine ökumenische Dimension. Denn mit der gegenseitigen Akzeptanz dieser notwendigen Spezifizierung der Theologie vom Kontext her wird der ergänzende und stellvertretende Charakter theologischer Besonderheit wahrnehmbar und fruchtbar."119 In diesem Sinn gibt es in den Kirchen, den Weltbünden und der Ökumene beachtliche Bemühungen, diese Fragen einer Klärung zuzuführen. Schon bei der Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in Budapest 1984 wurde das Problem erörtert und eine „Erklärung über Frieden und Gerechtigkeit" ver-

118

So Allan Boesak, nach J. Moltmann (Hg.), in: Friedenstheologie und Befreiungstheologie, München 1988, S. 9. 119

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G. Planer-Friedrich (Hg.), Frieden und Gerechtigkeit, a.a.O., S. 227.

abschiedet, in der es heißt: „Es gibt keinen Frieden ohne Gerechtigkeit und kei120

ne Gerechtigkeit ohne Frieden". Das geschah in Fortsetzung der Empfehlungen der Vollversammlung in Daressalam 1977, „diese Probleme von Frieden und wirtschaftlicher (!) Gerechtigkeit als Ganzes zu untersuchen und gemeinsame Strategien innerhalb des sich überlagernden Konfliktes von Ost-West und 121

Nord-Süd zu entwickeln". Dies Anliegen wurde seitens des Lutherischen Weltbundes durch ein Studienprogramm zur „Theologie des gerechten Friedens" aufgenommen. Dazu diente u.a. die Konsultation zu diesem Thema 1987 in Bad Boll, an der Theologinnen und Theologen aus verschiedenen Kirchen und Weltreligionen teilnahmen. Die Formulierung „Theologie des gerechten Friedens" ist als Versuch zu verstehen, den „theologischen spirituellen Friedensbegriff mit dem ethisch aktualisierbaren Gerechtigkeitsverständnis zu konkretisieren. Es geht - mit anderen Worten - nicht um die Einschränkung des einen durch den anderen, sondern um die gegenseitige Ergänzung und Bereicherung". Die Aufgabe der Theologie gegenüber Frieden und Gerechtigkeit wurde hier wie folgt beschrieben: „[...] die Lebenssituation von Christen unter verschiedenen Bedingungen als Kontext der theologischen Aufgabe erkennen und reflektieren; sozial-ethische Fragen, die politische Verantwortung und Entscheidung nach sich ziehen, als integralen Bestandteil der theologischen Arbeit verstehen und entsprechend behandeln; die biblische Botschaft hermeneutisch erschließen, um der Verheißung und Forderung Gottes angesichts der besonderen Situation bewußt zu werden, den Reichtum theologischer Traditionen und christlicher Lebensformen ausschöpfen, um aus der Gefangenschaft einseitiger Argumentation und individueller Bindungen befreit zu werden". Das - vorläufige - Ergebnis liegt in der Publikation „Frieden und Gerechtigkeit. Auf dem Weg zu einer ökumenischen Friedensethik", herausgegeben von Götz Planer-Friedrich vor. Hier sind grundlegende und gründliche Überlegungen zu unserem Thema zusammengetragen, denen auch die obigen Ausführungen verpflichtet sind.122 Nicht unerwähnt bleiben soll, daß im Ökumenischen Rat der Kirchen bereits 1983 in Vancouver der Vorschlag gemacht worden war, ein „Ökumenisches Friedenskonzil" einzuberufen. C. Fr. von Weizsäcker hat auf dem Deutschen 120

Carl H. Mau Jr. (Hg.), Budapest 1984, „In Christus - Hoffnung für die Welt". Offizieller Bericht der Siebenten Vollversammlung des LWB (LWB-Report Nr. 19/20), S. 192. 121 Daressalam 1977. Sechste Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes (epd-Dokument Bd. 28), S. 208. 122 G. Planer-Friedrich (Hg.), Frieden und Gerechtigkeit, a.a.O., S. 173f. Über weitere Bemühungen und Stellungnahmen, auch der EKD, des Moderamens des Reformierten Weltbundes in der Bundesrepublik Deutschland und der Römisch-Katholischen Bischofskonferenz sowie der Lutherischen Kirchen in Amerika, wie auch des Heiligen Synod der Russisch-Orthodoxen Kirche: siehe dort S. 13-20.

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Evangelischen Kirchentag 1985 einen solchen Aufruf formuliert. Der Ökumenische Rat der Kirchen hat sich seinerseits für einen „konziliaren Prozeß für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung" ausgesprochen, der Thema der Europäischen Ökumenischen Konferenz in Basel 1989 war. 123 1991 ist das Thema in Canberra neu behandelt worden. Die „Zweite Europäische Ökumenische Versammlung" in Graz 1997 hat dann in dem Schlußdokument diese drei Fragen (unter A28) behandelt und dazu ausgesprochen: „Die Politik ist eine wichtige Arena der Versöhnung. Wir treten für die Entwicklung von Sicherheitskonzepten ein, die ganz Europa umfassen und die vermeiden, daß Europa für andere Teile der Welt zur Bedrohung wird [...] Wir lassen uns nicht in der Überzeugung beirren, daß Völkerversöhnung möglich ist, auch wenn man dieses Wort oft mißbraucht hat. Deshalb befürworten wir die Entwicklung und Förderung von freiwilligen Diensten für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung". Über „Gerechtigkeit" heißt es an einer anderen Stelle (A20): „Wir bestätigen ausdrücklich, daß die Suche nach Gerechtigkeit und Wahrheit durch die Botschaft von der Versöhnung nicht außer Kraft gesetzt wird. Leider ist das Wort .Versöhnung' für viele Menschen zu einer billigen Vokabel geworden, weil es oft dazu benutzt worden ist, Schuld zu verharmlosen und den Mantel falscher Nachsicht über Geschehnisse zu breiten, die kritischer Offenlegung bedurft hätten. Wer Unrecht leidet, muß sich auf ein Rechtswesen verlassen können, das von unbestechlichen Richterinnen und Richtern vertreten wird und faire Verfahren garantiert, damit seine Würde wieder aufgerichtet und der erlittene Schaden ausgeglichen werden kann. Wer das Recht bricht, muß auf Bestrafung gefaßt sein. Es gibt für den Täter von Unrecht keinen Anspruch auf Versöhnung, genauso wenig wie von den Geschädigten eine gleichsam automatische Vergebungsbereitschaft erwartet werden darf!" Formulierungen wie diese zeigen, wie stark die Polarisierung von Frieden und Gerechtigkeit sich auf das Versöhnungsverständnis auswirkt und wie wenig das Problem der „Versöhnung" in Graz theologisch durchleuchtet wurde. Die Einstellung der Zweiten Europäischen Versammlung in Graz kommt auch in den „Handlungsempfehlungen" zum Ausdruck, von denen wir die drei Empfehlungen, die sich auf „Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung" beziehen - allerdings in anderer Reihenfolge und mit neuen Akzenten erwähnen: „Einsatz für soziale Gerechtigkeit, vor allem die Überwindung von Armut, Ausgrenzung und anderen Formen von Diskriminierung"; „Engagement für die Versöhnung in und zwischen den Völkern und Nationen und 123

Unter dem Motto: „Frieden in Gerechtigkeit für die ganze Schöpfung"; vgl.: Frieden in Gerechtigkeit. Dokumente der Europäischen Ökumenischen Versammlung, hg. im Auftrag der Konferenz Europäischer Kirchen und des Rates der Europäischen Bischofskonferenz, BaselZürich 1989.

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Stärkung gewaltfreier Formen der Konfliktbewältigung" sowie „Neue Praxis ökologischer Verantwortlichkeit, besonders im Hinblick auf kommende Generationen".124 Dieser dritten Frage der ökologischen Problematik unter dem Schlüsselwort „Bewahrung der Schöpfung" wollen wir uns als Problem der „kosmischen Dimension des Versöhnungsdienstes" im Folgenden zuwenden.

c) Die kosmische Dimension des Versöhnungsdienstes Versöhnung ist nicht nur ein nach rückwärts gerichteter Akt, durch den Schuld vergeben und Feindschaft überwunden wird. Durch das, was in der Versöhnung geschieht, eröffnet Gott der Welt eine neue Zukunft. Darum ist Versöhnung nicht nur Wiederherstellung der alten Schöpfung, Reparatur des Alten, Fehlerhaften und Verdorbenen, das durch die Menschen in die Welt gebracht wurde. Die Versöhnung zielt auf die neue Schöpfung. So ist es nicht zufallig, daß das Wort von der Versöhnimg mit dem von der neuen Schöpfung bei Paulus eng zusammengehört: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Schöpfung (κτίσις); das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden. Aber das alles von Gott, der uns mit sich selber versöhnt hat durch Christus und uns das Amt (den Dienst) der Versöhnung gegeben hat" (2. Kor 5,17-18). Hier ist das Versöhnungswerk eng an das Werk der - eschatologischen - Neuschöpfung geknüpft in dem trinitarischen Geschehen: Schöpfung von Gott durch Christus im heiligen Geist. Und umgekehrt: Mit der Versöhnung beginnt die Verwandlung der Welt zum Reich Gottes und zum Leben der erlösten Kreatur. Versöhnung ohne Verwandlung wäre Bestätigung der alten Verhältnisse, Verwandlung ohne Versöhnung wäre Bestätigung von Utopien oder einer revolutionären „Wende". Mit der Versöhnung in Christus beginnt die endzeitliche Verwandlung der Welt durch Gottes Herrschaft. Und andererseits gibt es keinen Anfang der Gottesherrschaft als allein durch das Versöhnungswerk in Christus.125 Damit rückt die Versöhnung in einen größeren Zusammenhang. Das Neue Testament hebt diese kosmische Dimension der Versöhnung auch an vielen anderen Stellen hervor. Rom 11,15 spricht Paulus von der „Versöhnung der Welt", des Kosmos. Eph 2,16 werden Juden und Heiden, die Nahen und die Fernen versöhnt mit Gott in einem Leib durch das Kreuz. Kol 1,20 heißt es, daß Gott durch Christus alles mit sich versöhnt hat, es sei auf Erden oder im Himmel, indem er Frieden machte durch sein Blut am Kreuz. Hier geht es also nicht 124

Versöhnungs - Gabe Gottes und Quelle neuen Lebens. Zweite Ökumenische Versammlung - Graz, 23.-29. Juni 1997. Arbeitsdokument, 2. Entwurf Genf 1997. 125 Vgl. W. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. II, a.a.O., S. 496ff; J. Moltmann, Umkehr zur Zukunft, Gütersloh 21977 (Gütersloher Taschenbücher Siebenstern, 154), S. 4.

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nur um Frieden als Ziel und Ergebnis des Versöhnungshandelns, sondern um den kosmischen Frieden als Ziel und Ergebnis jedes Versöhnungshandelns.126 Diese Versöhnung hängt auch hier mit dem neuen Existenzwandel des Christen zusammen (vgl. auch die Fortsetzung von Eph 2,2 lf: „Auch euch hat er versöhnt durch den Tod seines sterblichen Leibes, damit er euch heilig und untadlig vor sein Angesicht stelle"). Die „kosmische Dimension" meint, daß hier „Kosmos" im Sinne von „Weltall" zu verstehen ist und damit auch „Natur" bedeutet. Natur aber wird immer auch hinsichtlich ihrer Geschichte begriffen. Darum ist die Universalität von Natur, Geschichte und Weltgeschichte immer mitgemeint. Wir verstehen den Begriff hier also nicht im Sinne von Menschheit und Gesellschaft; der Zusammenhang der Versöhnung mit Menschheit und Gesellschaft ist im vorigen Abschnitt erörtert worden. Es geht an dieser Stelle darum, den Zusammenhang 127 zwischen Mensch, Natur und Geschichte zu erkennen. Spätestens seit der Aufklärung, eigentlich schon als Auswirkung von Renaissance und Humanismus, hatte sich im Abendland eine Weltsicht entwickelt, die einem technokratischen Lebensgefühl Raum gab, nach dem fur den Menschen als „homo faber" alle Dinge „machbar" scheinen. Die moderne Zivilisation hat durch das alttestamentliche „dominium terrae" zu einem Herrschaftssystem des Menschen geführt, das Entwicklung und Fortschritt, aber auch Expansion und „Entzauberung der Natur" (Max Weber) zur Folge hatte, wodurch alle Tabus beseitigt wurden, die durch das archaisch-animistische Weltbild früherer Zeiten auf die Naturkräfte der Welt gelegt worden waren. Sie sollten Menschen zu Respekt vor der Lebenswelt und zur Sühne bei der Verletzung ihrer Gleichgewichte anhalten. So kam es zur „Machtergreifung" des westlichen europäischen Menschen über die Natur. Das göttliche Gebot der Schöpfung „Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch Untertan" (Gen 1,28) hat der Mensch sozusagen „übererfüllt", allerdings in einer erstaunlichen „Arbeitsteilung": Die erste Welt machte sich die Erde Untertan, die dritte Welt mehrt sich und füllt die Erde: Naturzerstörung durch Herrschaft auf der einen Seite ** 128 Naturzerstörung durch Uberbevölkerung auf der anderen Seite. Allerdings ist diese „Entzauberung der Natur" oder Überwindung des „animistischen Naturverhältnisses" nicht allein durch den Einfluß des Monotheismus im alttestamentlichen Welt- und Menschenverständnis hervorgerufen worden. Auch die Griechen lösten sich von diesem Naturverständnis. Die griechische Philosophie kennt gegenüber den Tieren - seit der Stoa - keine menschlichen Pflichten, mit der Begründung, daß diese nicht vernünftig seien.

126 127 128

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W. Dantine, Versöhnung, a.a.O., S. 68. W. Dantine, Versöhnung, a.a.O., S. 80-82. J. Moltmann (Hg.), Versöhnung mit der Natur?, München 1986, S. 8-9.

Doch sieht sie den Kosmos kraft der göttlichen Vernunft auf den Menschen hin zugeordnet. Das Universum durchwaltet eine gegenseitige „Sympathie", eine allumfassende ontologische Liebe. Der griechische Mensch fühlt sich daher in seinem Kosmos noch heimisch. Durch die allgemeine Vernunftdurchwaltung bleibt er mit dem, was ihn umgibt, verwandt. In der „älteren" Neuzeit wird das anders. Der Mensch fühlt sich in eine ihm fremde, ihm gleichgültige, ja feindlich-tödliche Welt hineingestellt. Seine Vernunft hilft ihm nicht mehr allein zur ehrfürchtigen Betrachtung von Welt und Natur, wie in der Antike, sondern wird zur Waffe, mit der er sich vor der ihn bedrohenden Natur wehrt. Er will nun die Natur beherrschen. Der Anfang dazu ist eigentlich schon mit der „Zwei-Substanzen-Theorie" des Descartes gemacht. Die äußere Welt, also auch die Natur, ist nichts als „Ausdehnung" (extensio), also bloßer Stoff, folglich nur Material der Formung und Ausbeutung. Die Menschen werden dadurch zum „Herr und Eigentümer der Natur". Doch kommt bald die Beherrschung nicht nur dieser eigentlichen, sondern auch der „zweiten Natur" dazu, die technisch hergestellt wird und dahin führt, daß der gegebene Stoff überhaupt zu des Menschen Verfügung steht und gleichsam „menschengerecht" gemacht werden soll. So entsteht der Glaube an die Machbarkeit aller Dinge. Doch nicht nur die Natur bleibt das Betätigungsfeld dieser Machbarkeit. Der Glaube an die Machbarkeit aller Dinge führt auch zur sozialen Weltveränderung, nicht nur die technische geht damit einher. Neben die „Entfesselung der Produktivkräfte" tritt die Entfesselung der Geschichtskräfte; der Mensch wird sich seiner „Geschichtsmächtigkeit" bewußt. Geschichte ist nicht mehr bloß ein von außen über ihn hereinbrechendes „Schicksal", sondern verstehbar, erkennbar, voraussehbar und machbar („Geschichte machen"). Ein nie dagewesener „Fortschrittsoptimismus" macht sich breit, der erst durch die Erfahrung des ersten Weltkrieges in Frage gestellt und durch das Aufkommen der Atombombe im zweiten Weltkrieg gründlich erschüttert wurde. In unserer Zeit hat sich die Situation radikal verändert. Man erkannte, was auf Teilgebieten als Fortschritt gewertet werden mag, kann für das Ganze verhängnisvoll werden. Man begann sich mit der Zukunft nicht mehr enthusiastisch auseinanderzusetzen, sondern fürchtete sich vor ihr. Aus den klassischen „Utopien" wurden „schwarze Utopien". Spätestens seit dem Erscheinen des sogenannten Meadow-Report des Club of Rome über die „Grenzen des Wachstums" (1972) gab es ein Erwachen des „modernen Menschen". Dieser Bericht bezog sich nicht nur auf die Grenzen der Technik sondern auch auf das Problem der Bevölkerungsexplosion und das Aufbrauchen der natürlichen Rohstoffe der Erde. Was da für die Zukunft vorausgesagt wurde, löste den bekannten „ökologischen Schock" aus und bewirkte das Entstehen eines neuen ethi-

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sehen Verantwortungsbewußtseins sowie den Anfang einer „ökologischen Ethik". 129 Diese Entwicklung geht gewiß auf das Selbstverständnis des modernen, westlichen Menschen zurück. Doch dieses Selbstverständnis steht in einer eigentümlichen Beziehung zu seinem Gottesverständnis. Denn in der Neuzeit wurde Gott immer mehr als der „Allmächtige" verstanden. Die Welt ist sein Eigentum, er kann mit ihr machen, was er will. Wenn Gott das uneingeschränkte absolute Subjekt ist, dann ist die Welt das rein passive Objekt seiner Herrschaft. Gott rückt damit immer mehr in die Sphäre der weltlosen Transzendenz, und die Welt wird immer mehr rein diesseitig in ihrer immanenten Weltlichkeit wahrgenommen. Die Natur verliert ihr göttliches Ge130

heimnis, sie wird „entzaubert" und technisch unterworfen. Als Gottes Ebenbild auf der Erde mußte der Mensch sich deshalb als Subjekt von Erkenntnis und Wille verstehen und seine Welt als sein Objekt gegenüberstellen. Nur durch seine Herrschaft über die Erde konnte er seinem Gott, dem Herrn der Welt, entsprechen. Wie Gott Herr und Eigentümer der Welt ist, mußte sich der Mensch bemühen, zum Herrn und Eigentümer der Erde zu werden. Gegenüber der Güte und Wahrheit Gottes, trat so in der Vorstellung des Menschen seine Macht und der Wille zur Herrschaft in den Vordergrund.131 Doch es kam auch in der Theologie mit der Entstehung des „ökologischen Schocks" zu einer Neubesinnung. Das theologische Denken über die Natur war ebenfalls vom Fortschrittsglauben beherrscht gewesen. Hier hatte sich die typische Trennung von Natur und Existenz durchgesetzt. Wilhelm Herrmann hatte empfohlen, alle Konflikte zwischen Theologie und Naturwissenschaften dadurch auszuschließen, daß man die Kompetenzen säuberlich trennte. Diese Linie läßt sich in der Theologie des 20. Jahrhunderts weiter verfolgen: bei Bultmann und seiner ganzen Schule und auch bei Karl Barth, wo die Auseinandersetzung mit der Naturwissenschaft ausgeklammert wurde und man sich mit einem friedlichen „Nebeneinander" begnügte. Allerdings gab es auch im 19. Jahrhundert bereits eine „ökologische" Theologie und Ethik, z.B. bei Schleiermacher. Er wandte sich gegen die Trennung von Subjekt und Objekt, die die Natur zu einem unselbständigen Mechanismus degradiert. In seinen Ausführungen über die „Vernunftwerdung der Natur" und die „Naturwerdung der Vernunft", seinem Sprechen von einem „befreundeten Verhältnis zur Natur", und in seinen Zielgedanken einer „Versöhnung zwischen Mensch und Natur" haben wir ein zentrales Anliegen seiner ganzen Theologie. Die Vernunft ist für ihn als 129

Vgl. M. Landmann, Ökologische und anthropologische Verantwortung - eine neue Dimension der Ethik, in: A. Wildermuth/A. Jäger, Gerechtigkeit, a.a.O., S. 163-171. 130

J. Moltmann, Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre, München 3 1987, S.

131

J. Moltmann (Hg.), Versöhnung mit der Natur?, a.a.O., S. 11.

16.

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„Kraft der Natur überall organisierende Tätigkeit". Freilich ist auch sein Bild von der Natur vom Fortschrittsgedanken beherrscht. Kenntnis der Natur soll zur Beherrschung der Natur fuhren. Allerdings: „Jede Erweiterung der Herrschaft über die Natur ist eine Erweiterung der Verbindung unter den Menschen selbst, als notwendige Bedingung für die Verbreitung des christlichen Geistes".132 Es ist hier nicht der Ort, diese Anschauung weiter kritisch zu beurteilen. Nur soviel sollte deutlich geworden sein, daß es sowohl in der philosophischen als auch in der theologischen Entwicklung diese beiden Linien gibt: die eine, in der man der Natur - als Bedrohung - gegenübersteht, und die andere, in der Natur in die Existenz des Menschen einbezogen wird. Es gibt ein „feindliches" und ein „befreundetes" Verhältnis zur Natur (Schleiermacher). Es wäre nun kurzsichtig zu behaupten, daß die der Natur gegenüber feindliche Einstellung und deren Beherrschung durch den Menschen allein auf das alttestamentliche „dominium terrae" zurückzuführen sei. Wie Erhard S. Ger133

stenberger nachgewiesen hat, lassen sich im Alten Testament bezüglich des Verhältnisses von Mensch und Natur zwei Linien verfolgen. Da ist zunächst freilich die Entzweiung zwischen Mensch und Natur als Kampf und Feindschaft dargestellt. Allerdings gibt es wenig Texte, in denen das ausdrücklich bezeugt wird. Aber das spannungsvolle Gegenüber des Menschen zur Natur steht im Hintergrund alttestamentlicher Stellen, ohne direkt thematisiert zu werden. Das Alte Testament - besonders in den Geschichtsbüchern und Propheten - redet leidenschaftlich von den sozialen und politischen Beziehungen unter den Menschen, aber die „kosmische Dimension" tritt selten in Erscheinung. Schon Naturbeobachtungen sind die Ausnahme: eine göttliche Instruktion für den Bauern (Jes 28,23-26), ein kalendarischer Hinweis auf das „Erdbeben" (Am 1,1), sensible Schilderungen der leidenden Kreaturen in Dürrezeiten (Hos 4,3; Jer 14,5f; Joel 9,17-20), Gleichnisse von Zeder und Dornbusch (Hes 17; Ri 9,8-17). In Israel hat man sich also wohl naiv eingebunden gefühlt in ein integrales geschöpfliches Dasein, so daß darüber gar nicht gesprochen wurde. Doch auch das Gegenteil kann der Fall sein, indem Israel sich von polydämonistischen oder polytheistischen Bindungen zur Natur emanzipiert. Trotzdem muß gesagt werden, daß die wenigen Stellen des Alten Testaments aus der Urgeschichte, dem Hiobbuch und dem Prediger Salomo, die den Menschen bewußt in seine mitgeschöpfliche Umwelt stellen, zeigen, daß es ein hohes Be132

Fr. Schleiermacher, Die christliche Sitte, 21844, S. 472. Vgl. Th. Strom, Umweltethik in der Industriegesellschaft als theologische Aufgabe, in: J. Moltmann (Hg.), Versöhnung mit der Natur?, a.a.O., S. 99-102. 133 E.S. Gerstenberger, Versöhnung mit der Natur? Anfragen an gottesdienstliche Texte des Alten Testaments (Ps 8 und 104), in: J. Moltmann (Hg.), Versöhnung mit der Natur?, a.a.O., S. 141-149.

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wußtsein von dem Problem des Verhältnisses zur Natur gab. Dabei dominierte die Auffassung, daß das menschliche, kultivierte Leben gegen die zerstörerischen Urgewalten ankämpfen muß. Der Mensch bedarf der ständigen Erweiterung und Verteidigung seines Wirkungskreises. Die wilden Tiere sind Feinde, der Urwald hemmt das Leben (Jos 16,18). Wetter, Wasser, Plagen, Krankheiten stellen sich dem Menschen entgegen und der Boden gibt die Frucht nicht freiwillig her (Gen 3,19). Doch es gibt auch eine andere Grunderfahrung des alttestamentlichen Menschen: sein Abhängigkeitsbewußtsein. Das beweist Ps 104. Dieser Psalm sagt aus: Gott hat das Erdreich gegründet und ausgestattet und weise eingerichtet, so daß jedes Wesen sein Auskommen hat. Der Mensch ist diesem wohlgeordneten Kosmos völlig eingegliedert und es kommt ihm keine Sonder- und Herrschaftsstellung zu. Er wartet mit den anderen Kreaturen zusammen auf seine ihm zugemessene Nahrung und für die ihm zugewiesene Zeit, den Tag, während die Nacht der unangefochtene Herrschaftsbereich der Tiere sein darf. Diese Ordnung beruht darauf, daß die Lebensbereiche aller Lebewesen von Gott eingeteilt sind und allerseits respektiert werden und jeder Übergriff die Ordnung Gottes zerstören würde. Der Mensch bekommt Brot, sogar Wein und Öl, und auch sein Vieh wird versorgt. Die Gefahr droht nur, wenn Gott „sich abwendet", das heißt die Pflege seiner Geschöpfe unterbricht. Wichtig ist: Der Mensch nimmt in diesem Gesamtbild des wohlgeordneten Kosmos einen unscheinbaren Platz neben seinen Mitgeschöpfen ein; er ist ihnen nicht übergeordnet und auch nicht zur Herrschaft über sie bestellt. Das ist ein „Gegenmodell" zu dem Bild von dem herrschenden Menschen, der den Auftrag erhalten hat, sich die Erde Untertan zu machen, wie in Gen 1,28, aber auch Ps 8. Hier - in diesem Psalm - wird aus der andersartigen Stellung des Menschen gegenüber der Schöpfung heraus gefragt: „Was ist der Mensch, daß du seiner gedenkst?" Der Mensch ist hier nicht die bedrohte, fehlerhafte, vielleicht auch unglückliche Kreatur (Ps 144,4; Hi 7,17-21; 15,14— 16), sondern: „Es fehlt ihm wenig und er wäre Gott. Du läßt ihn über deine Geschöpfe herrschen. Alles hast du ihm zu Füßen gelegt." Das sind Hoheitsaussagen, ähnlich wie im priesterlichen Schöpftmgsbericht, in denen nichts von der Hege- und Pflegeaufgabe des Menschen angedeutet wird. Im Alten Testament haben wir demnach zwei Modelle des Verhältnisses zur Umwelt. Das eine ist gültig für eine Situation, wenn Menschen aus regenabhängigen, wenig ergiebigen, überbevölkerten Regionen ums Überleben kämpfen, sich also gegen eine feindliche Umwelt durchsetzen müssen und man mit ihrer Sympathie für das niederzukämpfende Gegenüber kaum rechnen kann. Der kolonisierende, konstruierende und sich seiner Macht bewußte Mensch fragt nicht nach der Existenzberechtigung seiner Umwelt, sondern entscheidet instinktmäßig für seine Überlebensinteressen. Dadurch entsteht Entfremdung

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zur Natur, die in dem Maße wächst, wie der Mensch aufgrund seiner technischzivilisatorischen Entwicklung Machtinstrumente zur Beherrschung der Natur enthält. Dagegen haben wir in Ps 104 den Menschen vor uns, der sich den übermächtigen Kräften der Natur ausgeliefert weiß und versucht, sich nach Möglichkeit dem anzupassen und einzuordnen. Die Übermacht der Natur wird anerkannt und ein Kampf gegen diese Macht als unnötig eingesen. Das ist „Versöhnung mit der Natur" die letztlich theo-logisch verarbeitet wird: Gott, der Herr über alles und der Versorger und Erhalter aller, sorgt für jeden und für das Gleichgewicht in der Natur, wenn wir nicht aus dieser Ordnung ausbrechen oder sich Gott wegen unserer Schuld von uns abwendet. Das „Herrschaftsmodell", das die Feindschaft zwischen Mensch und Natur voraussetzt, ist auch im Alten Testament kein Ideal. Hier gibt es auch die Sehnsucht nach der Heilung dieses Bruches in einen neuen Gottesbund (Hos 2,20). So finden wir die eschatologische Vision von dem Wolf, der friedlich beim Lamm wohnt, dem Löwen, der Stroh frißt, und dem Kind, das mit der Giftschlange spielt (Jes 11,6-9). Aus beiden Modellen aber ergibt sich, daß menschliches Leben nur im Rahmen der Schöpfung als gottgewollt anzusehen ist. Jede menschliche Aktivität zur Sicherung des eigenen Überlebens ist daher Eingriff in die bestehende Ordnung und Gewalt gegen existierendes Leben. Ps 104 lehrt uns, daß in der schicksalhaften Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur alle Geschöpfe ein göttliches Anrecht auf Leben und abgegrenzte, ausreichende Lebensräume haben. Ps 8 dagegen weist uns auf die gleichzeitige Mitverantwortung für die - nun nicht zu umgehende - Umgestaltung der Welt hin. Während das Integrationsmodell weithin in unserer Welt vergessen wurde, stand das andere Modell der Herrschaft des Menschen über die Natur einseitig im Vordergrund. Versöhnung mit der Natur, ja eigenes Überleben wird nur möglich, wenn wir die Integration aller Lebewesen und der ganzen Schöpfung wieder herausstellen und die Herrschaftsaussagen, wie die von Ps 8, in ihrer Einseitigkeit durchschauen. Das Alte Testament hat einen weiteren Grundgedanken, der ein Licht auf die Frage der Versöhnung mit der Natur wirft. Das ist die Aussage von dem Sabbatfrieden. Der Sabbat ist es, der die Welt als Schöpfung Gottes segnet, heilt und offenbart. Für das Gottesbild bedeutet das: Gott ist nicht lediglich der schöpferische, er ist auch der ruhende, feiernde, sich an seiner Schöpfung freuende Gott. Erst in seiner Ruhe am Sabbat kommt der schöpferische Gott zu seinem Ziel: nämlich zu sich selbst, zu seiner Herrlichkeit. Für das Menschenbild bedeutet das ebenfalls etwas Neues: der den Sabbat feiernde Mensch nimmt die Welt als Schöpfung Gottes wahr, denn in der Sabbatstille läßt er die Welt Gottes Schöpfung sein. In der Vollendung der Schöpfung durch die Sabbatruhe, wie sie im Alten Testament gesehen wird, unterscheidet sich diese

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Auffassung der Welt als Schöpfung von der Auffassung der Welt als Natur. Denn die Natur kennt wohl Zeiten und Rhythmen, aber keinen Sabbat. Sabbat bedeutet darum dieses Nicht-Eingreifen des Menschen in die Natur. Es geht nicht in erster Reihe um die Arbeitsruhe des Menschen. Es geht um die Unverletzlichkeit der Schöpfung, die wenigstens an jedem Sabbattag vom Menschen bewahrt werden soll.134 Der wöchentlich wiederholte Sabbat unterbricht aber nicht nur die Arbeitszeit und die Lebenszeit, sondern weist über sich selbst hinaus auf das Sabbatjahr, in welchem die ursprünglichen Verhältnisse zwischen den Menschen und zwischen Mensch und Natur wiederhergestellt werden sollen. Dieses Sabbatjahr weist in der Geschichte wiederum über sich selbst hinaus auf die Zukunft der messianischen Zeit. Jeder Sabbat ist demnach eine heilige Vorwegnahme 135

der Erlösung der Welt. Jesus hat zwar über den Sabbat gesagt „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht, nicht der Mensch um des Sabbat willen" und „Der Mensch ist auch Herr über den Sabbat" (Mt 2,26f.). Aber man sollte nicht von dieser Infragestellung Jesu ausgehen, durch die das Liebesgebot über ein Einzelgebot (den Sabbat) gestellt wird oder die heidenchristliche Freiheit vom judenchristlich eingehaltenen Sabbatgebot gesehen wird. Eher könnte man von der Verkündigung des messianischen Sabbat ausgehen (Mt 10,7.8; 11,5.6). Nach Lk 4,18ff begann die öffentliche Wirksamkeit Jesu mit seiner Ausrufung des messianischen Sabbat in Nazareth; die Verheißung von Jes 61,1-4 wird durch ihn in Kraft gesetzt. Denn dann hat Jesus das Sabbatgebot nicht etwa gebrochen, vergleichgültigt oder aufgehoben. Die Freiheit, die sich Jesus hinsichtlich des Gesetzes nahm, ist die Freiheit der von den Propheten verheißenen und von Israel erwarteten messianischen Zeit. Die Aussage von der Sabbatruhe Gottes sagt demnach aus: Der angesichts seiner Schöpfung ruhende Gott beherrscht die Welt an diesem Tag nicht. Jürgen Moltmann versteht den Sabbat auch als den dem christlichen Auferstehungsfeste vorausgehenden Ruhetag, als „ökologischen Ruhetag": „Der ökologische Ruhetag soll ein Tag ohne Umweltverschmutzung, ohne Autofahren sein, damit auch die Natur ihren Sabbat feiern kann".136 Am Unterschied zwischen Werktag und Sabbat kann man den Unterschied zweier verschiedener Einstellungen zur Natur ablesen: den Gott als den Tätigen und die Natur Beherrschenden und den Gott als den Ruhenden, die Natur auf sich Einwirkenden. Die Versöhnung beider Einstellungen zur Natur, die uns im Alten Testament beschäftigt hat, wird auch an dieser Stelle deutlich. 134 135 136

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H. Gese, Zur biblischen Theologie, München 1979, S. 79. J. Moltmann, Gott in der Schöpfung, München Ί 9 8 7 , S. 20f. J. Moltmann, Gott in der Schöpfung, a.a.O., S. 293-298.

Der eschatologische Ausblick der Schöpfung steht sodann im Neuen Testament im Vordergrund. Paulus interessiert in erster Reihe die neue Schöpfung. Er weiß vom Glauben an den Schöpfer und dem Geschöpfsein aller Dinge durch Gott. Aber nicht der einmalige Schöpfungsakt am zeitlichen Beginn der Welt (so Rom 1,20), sondern die creatio continua stehen im Blickfeld (2 Kor 2,10; 1 Kor 15,38; 1 Kor 8,6). Die Schöpfung erschließt sich für Paulus erst ganz durch die Neuschöpfung, die das Evangelium bewirkt. Sie ist für ihn gegenwärtige Realität, aber zugleich „Angeld" und „Vorwegnahme" der einst den ganzen Kosmos umfassenden Heilswirklichkeit. Umstritten allerdings ist die Frage, ob man diese eschatologische Soteriologie in der Neuschöpfung auch kosmisch und universal verstehen darf. Es ist nicht ausgemacht, ob man die „neue Kreatur" in 2 Kor 5,17 kosmisch oder individuell verstehen soll. Besonders aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang Rom 8,18ff, wo die Soteriologie in kosmischer Weite dargestellt wird. Allerdings wird der Mensch hier nicht einfach als ein Stück Natur verstanden; er ist der Schöpfung nicht einfach eingeordnet, sondern zugeordnet. Diese Stelle zeigt, daß die ganze Schöpfung auf die zukünftige Offenbarung wartet und sich sehnsüchtig der Vollendung entgegenstreckt. Unsere Hoffnung ist also eingebettet in die gespannte Sehnsucht aller Kreaturen. Auch das Neue Testament bezeugt demnach: Zwischen Mensch und Kreatur besteht von Anfang an eine universale Schicksalsgemeinschaft. Die Schöpfung ist durch den Menschen in das Verderben hineingerissen worden, ohne eigenen Willen, also schicksalhaft. Die Schöpfung wird aber auch an der Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes partizipieren. Vorläufig jedoch seufzt sie und liegt in Wehen. Paulus weiß, was man heute durch die Wissenschaft bestätigt bekommt, daß die Kreatur nicht erst durch den Menschen in Verderben und Tod gerissen wurde; es gab eine Naturgeschichte mit demselben grausamen Kampf ums Dasein wie nach dem Auftreten des Menschen. Paulus aber kommt es auf die Verflechtung und Solidarität von Mensch und Natur sowie auf das kosmische Ausmaß von Unheil und Heil an. Das Unheil wird „Mit-Seufzen" und „Mit-in-Wehen-Liegen" genannt. Daß er auf das bekannte apokalyptische Bild von den messianischen Wehen der Endzeit anspielt, die das Neue hinaufführen und schon die neue Schöpfung ankündigen, ist gleichzeitig „Zeichen der Hoffnung". Paulus weiß also um die Zugehörigkeit von Adam und Adama, um die Verflechtung von Menschen und Erde. Die gesamte Kreatur ist Teil der universalen, uns übergreifenden Leidens- und Verheißungsgeschichte. Dieses Verheißungsmoment gewinnen wir nicht aus der Natur, sondern aus dem Glauben an Gottes Verheißung. Aber gerade darum braucht man die Augen nicht vor den Nichtigkeiten der Kreatur zu verschließen. Gott überläßt seine Schöpfung nicht den Mächten der Zerstörung und Vergänglichkeit - das ist eine Hoffnung, die ermutigen und mobilisieren kann. 137 195

Alttestamentliche und neutestamentliche Untersuchungen zu der Frage der Beziehung zwischen Mensch und Natur werfen ein bedeutsames Licht auf die Frage der „kosmischen Dimension der Versöhnung". Die beiden Linien der Sicherung des Lebens und der Entfaltung des Menschseins durch Herrschaft über die Natur und Umwelt einerseits als auch durch eine Anpassung in die Kreisläufe der Natur und Umwelt andererseits sind für sich allein genommen gefährlich. Weder der Mensch, der um weniges geringer ist als Gott und Herrschaft über die Schöpfung beansprucht, noch der Mensch, der sich ganz als Natur versteht, ist jener Mensch, wie ihn die Bibel sieht und ihn die christliche Anthropologie zeichnet. Dieses Bild wird davon bestimmt sein müssen, daß das Personsein des Menschen inmitten seines Eingebundenseins in die Natur sich von der Verantwortung her versteht, die er für seine Umwelt von Gott zugeteilt bekommen hat. Das Eingebundensein des Menschen in die Natur vermittelt ihm gleichzeitig die Erfahrung seiner Grenze, innerhalb derer er Verantwortung wahrnehmen soll. Die Grenzen sind nicht nur Bedrohung von außen, sondern auch von Gott gewollte und bejahte Gestalt der Wirklichkeit. Die Spannung, die durch den Umgang mit den Grenzen unseres Lebens und unserer Möglichkeiten gegeben ist, weist uns an, die Ambivalenzen und gegensätzlichen Erfahrungen auszuhalten und anzunehmen. Auch Leiden und Schmerzen sind von daher betrachtet nicht nur das Fremde, Bedrohliche, gegen das man sich wehren muß, sondern wollen - worauf Joachim Track hingewiesen hat - „hineingenommen sein in eine umfassende Lebensperspektive, in der das Leid nicht verdrängt, sondern für Leiden sensibilisiert wird". Integration in die Umwelt kann weder durch Aneignung allein noch durch Anpassung allein erfolgen, sondern muß von einem „dialektischen und spannungsreichen Gegenüber und Miteinander von Mensch und Mitwelt" ausgehen. Doch für das Gelingen dieses dialektischen spannungsreichen Gegenübers und Miteinanders ist erforderlich, daß Gott „als Grund unseres Lebens, des Lebens der Mit- und Umwelt und als Grund von Befreiung und Hoffnung dieser Welt und für diese Welt" in dieses Geschehen hineingenommen werde. Denn das heißt, daß nicht „wir die Bewahrung von Leben und die Integrität der Schöpfung sicherstellen müssen, sondern annehmen, welche Möglichkeiten dafür von Gott eröffnet sind". Während Track dieses Modell in formaler Hinsicht als ein „Modell der Unterscheidung und Beziehung" beschreibt, das man sich an der Trinitätslehre verständlich machen kann, kennzeichnet er es in inhaltlicher Hinsicht als Versöhnung von Leben und Liebe. Gemeint ist damit, daß der christliche Glaube Gott als die Macht des Lebens und die Schöpfung, die er ins Dasein gerufen hat, als Raum

137 W. Schräge, Bibelarbeit zu Röm 8,18-23, in: J. Moltmann (Hg.), Versöhnung mit der Natur?, a.a.O., S. 150-166.

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des Lebens bekennt. Diesen Raum des Lebens gefährdet und zerstört der Mensch durch seine „Entfremdung" von Gott. Was Gott im Erlösungs- und Versöhnungswerk durch Jesus Christus tut, ist, daß er sich dieser Welt in Liebe zuwendet und ihr neues Leben eröffnet. In der Erfahrung des Kreuzes und Todes erfahren wir das Auseinandertreten von Leben und Liebe: Bewahrung des eigenen Lebens scheint hier nur in der Verweigerung von Liebe möglich zu sein. Die Auferstehung Jesu enthält die Verheißung, daß Gott zu diesem Weg, zum Leben durch Liebe zu kommen, steht. Hier wird die Einheit von Leben und Liebe erneut sichtbar. Aus der Zusage, daß Gott selbst diese Einheit von Leben und Liebe in unsere Wirklichkeit hineinkommen lassen will, lebt der christliche Glaube. „Leben wird dort in seinem tiefsten Sinn gewonnen und erhalten, wo wir miteinander Versöhnung wagen. In diese Zielperspektive ist das christliche Leben und Handeln in der Welt gestellt". Doch es wird auch weiterhin im Ringen um die eigene Lebensentfaltung des Menschen nicht nur ein Nebeneinander, sondern auch ein Gegeneinander geben. Gerade darum kommt es in dieser Situation darauf an, wie der Mensch die Gestaltung und Bewahrung der Natur wahrnimmt, wie er das „eigenständige Recht der labilen Gleichgewichte und Kreisläufe in der Natur" achten wird, ob er die aus falschem Herrschaftswillen vollzogenen Eingriffe langsam zurücknehmen und anstelle einer rücksichtslos auf die Natur durchgesetzte wissenschaftlich-technische Weltgestaltung eine lebensfördernde und sensible Zuordnung setzt. Das heißt „auch gegenüber der ausgebeuteten und geschundenen Natur Versöhnung" zu leben. Solche Versöhnungsbereitschaft „in die Welt hineinzutragen und deutlich werden zu lassen, ist der ,vernünftige Weg' zur Bewahrung des Lebens und Überlebens". 138 Wir haben hier eine ungeheuere Herausforderung für Theologie und Kirche vor uns. Zwischen Ökologie (der Lehre vom Haus) und der christlichen Schöpfungslehre bestehen enge Verbindungen, die man in unseren Tagen neu entdeckt und weiter entwickelt hat. Jürgen Moltmann nennt sein Buch „Gott in der Schöpfung" im Untertitel „Ökologische Schöpfungslehre" und versucht, die Beziehung von Ökologie und Schöpfung herauszustellen und trinitarisch zu deuten. „Sieht man nur einen Schöpfer und sein Werk, dann gibt es keine Verbindung. Versteht man aber den Schöpfer, seine Schöpfung und ihr Ziel trinitarisch, dann wohnt der Schöpfer durch seinen Geist seiner Schöpfung im ganzen und jedem einzelnen Geschöpf ein und hält sie kraft seines Geistes zusammen und am Leben. Das innere Geheimnis der Schöpfung ist diese Einwohnung Gottes, wie das innere Geheimnis des Sabbat der Schöpfung die Ruhe Gottes ist [...] Ist dies die theologische Seite der ökologischen Schöpfungslehre, dann 138

J. Track, Menschliche Freiheit. Zur ökologischen Problematik der neuzeitlichen Ent-

wicklung, in: J. Moltmann (Hg.), Versöhnung mit der Natur?, a.a.O., S. 88-92.

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muß die antropologische Seite ihr entsprechen. Die Wohnlichkeit im Dasein kann nur durch jenes entspannte Verhältnis von Natur und Mensch gewonnen werden, das mit Versöhnung, Frieden und einer überlebensfahigen Symbiose bezeichnet wird. Der Einwohnung des Menschen im natürlichen System der Erde entspricht ihrerseits die Einwohnung des Geistes in der Seele und im Körper des Menschen, durch die die Selbstentfremdung der Menschen aufgehoben wird".139 Auch in der Kirche hat man sich längst um diese Problematik bemüht.140 Doch ist diese Frage in den vergangenen Jahren vor allem in der theologischen Arbeit der Ökumene aufgegriffen und weiterverfolgt worden. Bei der Sechsten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1983 in Vancouver ist von der damaligen DDR-Delegation vorgeschlagen worden, der neue Zentralausschuß möge sich dafür einsetzen, „daß dem Zusammenhang zwischen den Fragen des Friedens, der Gerechtigkeit und der Ökologie in der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Studien- und Aktionsprogrammen des ORK Rechnung getragen wird".141 Hier wurde bei den „Schwerpunkten fur die ÖRK-Programme" unter Punkt 5 gesagt, daß die Mitgliedkirchen „in einen konziliaren Prozeß gegenseitiger Verpflichtungen (Bund) für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung" eingebunden werden und einen „Arbeitsschwerpunkt der ÖRK-Programme bilden" sollen.142 Bei der Siebenten Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen in Canberra (1991) trat diese Problematik in den Vordergrund, schon durch das Thema der Vollversammlung „Komm, heiliger Geist - erneuere die ganze Schöpfung". Der Bericht der Sektion I. mit dem Unterthema „Spender des Lebens - bewahre deine Schöpfung", befaßt sich ausführlich mit einer „Theologie der Schöpfung als Herausforderung für unsere Zeit" sowie mit der Ausarbeitung einer „Ethik der Wirtschaft und Ökologie" und fordert die Kirche als Zeichen der neuen Hoffnung auf, ihre herausragende Rolle zur Erneuerung der Schöpfung wahrzunehmen: im Leben und Gottesdienst, in der Ausbildung und in Anwaltschaft. Hier werden unter Punkt 62 die Mitgliedskirchen aufgefordert, „den Prozeß für

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J. Moltmann, Gott in der Schöpfung, a.a.O., S. 12. Erwähnenswert sind: „Manifest zur Versöhnung mit der Natur. Die Pflicht der Kirche in der Umweltkrise", hg. von den Umweltpfarrern der evangelischen Landeskirchen, Neukirchen 1984; „Verantwortung wahrnehmen für die Schöpfung. Gemeinsame Erklärung des Rates der EKD und der Deutschen Katholischen Bischofskonferenz", Gütersloh 1985; „Mensch sein im Ganzen der Schöpfung. Ein ökologisches Memorandum im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in der Schweiz", Zürich 1985. 141 L. Coenen/W. Traumüller (Hg.), Vancouver 1983, a.a.O., S. 205. 142 Bericht des Ausschusses für Programm-Richtlinien, in: W. Müller-Römheld (Hg.), Bericht aus Vancouver, a.a.O., S. 261. 140

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Gerechtigkeit, Frieden und Integrität der Schöpfung" fortzusetzen.143 Bei der Fünften Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung in Santiago de Compostella 1993 ist im Bericht der Sektion IV („Zum gemeinsamen Zeugnis für eine erneute Welt berufen") ein Punkt E „Gemeinsames Zeugnis in der Sorge um die Schöpfung" angeführt, in dem es heißt: „Das Gebot der Stunde verlangt nach einer erneuten christlichen Anthropologie und einer Neubetonung des Aufrufs, daß alle Christen an Gottes Heilungsprozeß der zerbrochenen Beziehung zwischen Schöpfung und Menschheit teilnehmen müssen. Wir müssen jetzt handeln, um jeder weiteren Zerstörung der Fähigkeit der Erde Einhalt zu gebieten, Leben zu erhalten und Gerechtigkeit herrschen zu lassen. Wir müssen durch die Kraft Gottes bekehrt werden und einen neuen Lebensstil gegenüber unseren Nachbarn und der Erde entwickeln. Wir brauchen eine inklusive Spiritualität, die anerkennt, daß die Menschen nur ein Teil von Gottes wunderbarer Schöpfung sind".144 Die „Konferenz Europäischer Kirchen" (KEK), hat auf ihrer Zehnten Vollversammlung 1992 in Prag im „Gesamtbericht der Arbeitsgruppen" unter der Überschrift „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung" empfohlen, die KEK möge „eine entsprechende Struktur einrichten, mit der alle Bemühungen und Aktionen der Kirchen zur Erhaltung der göttlichen Schöpfung überwacht und angeregt werden". 145 Aufgrund dieser Anregung hat die KEK versucht, ein Netzwerk von Verantwortlichen aufzubauen, die in den europäischen Kirchen für die Umweltbelange zuständig sind. 1995 hat ein erstes Treffen von Umweltbeauftragten der Mitgliedskirchen stattgefunden, das gemeinsam mit der KEK, den Umweltbeauftragten der EKD und der Evangelischen Akademie in Mühlheim/Deutschland durchgeführt wurde. Gemeinsam mit der CCEE hat die KEK ein Studienprojekt in die Wege geleitet, das den Beitrag der Kirchen „nachhaltiger und zukunftsfahiger Entwicklung" betrifft. Bei der letzten Konsultation für diese Studien 1995 in der Orthodoxen Akademie in Kreta wurde die Erklärung „Umwelt und Entwicklung. Eine Herausforderung an unseren Lebensstil" vorgestellt, die in den Kirchen und Bischofskonferenzen zur Diskussion und Aktion weitergeleitet wurde. Im Vorfeld der Elften Vollversammlung der KEK in Graz/Österreich 1997 143

M. Kinnamon (Hg.), Signs of the Spirit. Official Report, Seventh Assembly in Canberra, Geneva 1991, S. 69. 144 G. Gaßmann/D. Heller (Hg.), Santiago de Compostella 1993. Fünfte Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung, 3.-14. August 1993. Berichte, Referate, Dokumente, Frankfurt a.M. 1994 (ÖR.B Nr. 67), S. 253. 145 Konferenz Europäischer Kirchen (Hg.), „Gott eint - in Christus eine neue Schöpfung", Bericht der Zehnten Vollversammlung Konferenz Europäischer Kirchen, 1.-12. September 1992 in Prag, Genf 1993, S. 188.

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wurde im „Ausschuß für Frieden, Gerechtigkeit und Menschenrechte" in der „Arbeitsgruppe für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung" erklärt: „Die Kirchen haben innerhalb der Gesellschaft die Verantwortung, Bewußtsein zu bilden, einen anderen Lebensstil zu vertreten und auf politische Entscheidungsträger Einfluß zu nehmen. Vor allem aber sollten sie ihre Spiritualität, ihre Ethik, ihre realistischen Einstellungen und ihr langjähriges Engagement in die Debatte einbringen".146 Die Zweite Europäische Ökumenische Versammlung in Graz 1997 sprach dann im Basistext des Schlußdokumentes unter der Überschrift „Versöhnung im Haushalt des Lebens" u.a. aus: „Wir nehmen uns die Freiheit, die Güter der Erde ohne Rücksicht auf ihre Eigenwürde und ohne Beachtung ihrer Begrenztheit auszubeuten. Jetzt wird uns bewußt, daß wir dabei sind, die Grenzen ihrer Belastbarkeit zu überschreiten und den Haushalt des Lebendigen, damit auch unser eigenes Heim zu verwüsten. Versöhnung mit der Natur heißt darum u.a. für uns, die Integrität der klimatischen Bedingungen und der ökologischen Regionen zu bewahren und das Recht aller Lebewesen auf die Unverletzlichkeit ihrer genetischen Eigenart zu achten".147 Schon auf der Ökumenischen Versammlung in Basel 1989 ist ausgesprochen worden: „Es ist unsere wichtigste Aufgabe, hier und jetzt Gottes Frieden und Gerechtigkeit zu suchen - im Bewußtsein unserer Solidarität mit der ganzen Schöpfung Gottes".148 In den „Handlungsempfehlungen" dieser Versammlung wird dann die ökumenische Verantwortung des Menschen angesprochen: „Der Begriff,Umwelt' ist [...] nur mit Vorsicht zu gebrauchen. Der Begriff ,Integrität der Schöpfung', der zur Trias des ökumenischen Prozesses gehört, will gerade darauf aufmerksam machen, daß der Schöpfung insgesamt eine vom Menschen unabhängige, allein im Willen des Schöpfers verankerte Würde zukommt, vor der sich alles menschliche Denken und Handeln zu verantworten hat". 149 Erwähnt werden soll weiterhin, daß die Weltversammlung des ORK in Soeul/Korea 1990 unter dem Thema „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung" stand. Der Lutherische Weltbund hat sich bereits in Curitiba 1990 speziell in Sektion IV mit dieser Frage unter dem Thema „Ich habe das Schreien meines Vol-

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Konferenz Europäischer Kirchen (Hg.), Gemeinsam mit Christus. Von Prag nach Graz. Bericht an die Vollversammlung über Arbeit und Entscheidungen von Präsidium und Zentralausschuß, Genf 1997, S. 127. 147 Versöhnung - Gabe Gottes und Quelle neuen Lebens. Zweite Europäische Ökumenische Versammlung, a.a.O., 2. Entwurf Genf 1997, A 29. 148 Versöhnung - Gabe Gottes und Quelle neuen Lebens. Zweite Europäische Ökumenische Versammlung, a.a.O., 2. Entwurf Genf 1997, A. 27. 149 Versöhnung - Gabe Gottes und Quelle neuen Lebens. Zweite Europäische Ökumenische Versammlung, a.a.O., 2. Entwurf Genf 1997, Β 43.

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kes gehört: nach einer befreiten Schöpfimg" befaßt, zu dem Anna Maria Aagaard/Dänemark und Loe Rose Mbise/Tansania wegweisende Referate hielten. In der Botschaft der Vollversammlung findet sich eine ausführliche Erklärung über „eine befreite Schöpfung", in der es u.a. heißt: „Es besteht eine untrennbare Beziehung und Interdependenz zwischen der Menschheit und der ganzen Schöpfung - was das Überleben sowie das Heil betrifft. Wir glauben, daß ,auch die Schöpfung frei werden [wird] unter der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes' (Rom 8,21)". Und es wird empfohlen: „Es ist wesentlich, daß Fragen im Zusammenhang mit Schöpfung und Ökologie in der christlichen Erziehung und Katechese zur Sprache kommen, einschließlich der beruflichen Ausbildung für alle kirchlichen Berufe und der Ausbildung aller leitenden Mitarbeiter/innen".150

150 N. A. Hjelm (Hg.), Curitiba 1990. Ich habe das Schreien meines Volkes gehört. Offizieller Bericht der Achten Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes, Curitiba/Brasilien, 29. Januar-8. Februar 1990, Genf 1990, S. 141f.

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Dritter Hauptteil Die Feier der Versöhnung

Gott, „der uns mit sich selbst versöhnt hat durch Christus", hat uns „den Dienst der Versöhnung" gegeben (2. Kor 5,18). Durch diesen Dienst sollen Menschen, soll die Welt in umfassendem Sinn, untereinander versöhnt werden. Doch Versöhnung will nicht nur „praktiziert" werden oder „stattfinden", sondern auch gefeiert, d.h. liturgisch begangen werden. Insofern sprechen wir von der Liturgie oder der Feier der Versöhnung. Dieser Aspekt der Versöhnung ist nicht lediglich so etwas wie „Besiegelung" oder „Festmachen" der Versöhnung, sondern gleichzeitig Weg zur Versöhnung, besonders dort, wo der „Dienst der Versöhnung" nach vorgegebenen Ordnungen, Methoden und Gesetzen nicht zum Ziel fuhrt. Damit kommt die sakramentale Dimension von Buße und Versöhnung in Sicht. Denn in den Sakramenten „vollzieht die Gemeinde als Christusgemeinschaft (Haupt und Glieder) realsymbolisch kommunikative Handlungen, Figuren des gemeinsamen Lebens, in denen sie der Selbstvermittlung Gottes in Christus teilhaftig wird". 1 Damit kommt die spezifische Aufgabe der Kirche zum Ziel: ihr Dienst gipfelt in der Feier der Versöhnung - und die Feier der Versöhnung ist ihr eigentlicher Dienst. - Was bedeutet das? Antoine de Saint Éxupéry schrieb einmal: „Wenn du ein Schiff bauen willst, so trommle nicht die Leute zusammen, um Holz zu beschaffen, Werkzeuge vorzubereiten, Aufgaben zu vergeben und die Arbeiten einzuteilen; sondern wecke in ihnen die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer". Es ist im Sinn der recht verstandenen Lehre Luthers von den beiden Reichen, wenn wir als Kirche heute mehr denn je darauf verzichten, bei einem Werk wie dem des Versöhnungsdienstes „die Kleinarbeit" leisten zu müssen. Unser ureigenster Auftrag ist die Arbeit am Menschen: in ihm die Sehnsucht, das Verlangen, das Streben nach Frieden und Versöhnung zu wecken. Das geschieht so, daß man ihn den Quell und Urgrund der Versöhnung als „Gabe Gottes" erfahren läßt, so wie man die Sehnsucht nach dem Meer weckt, indem man dem Menschen die Herrlichkeit einer Schiffsreise oder die Schönheit des Meeres auszukosten ermöglicht. Darum genügen einzelne „Werke" oder „Dienste" der Versöhnung nicht, wie sie zum Beispiel - allerdings dankenswerter Weise - Politiker und Diplomaten tun. Wir bedürfen einer „Kultur der Versöhnung", die aus dem „Kultus der Versöhnung" kommt, also einer διακονία der Versöhnung, die aus der μαρτυρία lebt, gleichzeitig aber in der λειτουργία Gestalt gewinnt und Wirklichkeit unseres Alltages wird. Das bedeutet, daß der Dienst der Versöhnung mit dem christlichen Proprium gewagt werden muß. Das ist die „Feier der Versöhnung" in einem umfassenden Sinn. Wir denken dabei zunächst an die vielen „Elemente der Versöhnung", die in unserem Gottesdienst und im liturgischen Geschehen die Versöhnung zum 1

Th. Hühnemann, Sakrament - Figur des Lebens, bei U. Kühn, Versöhnung feiern, a.a.O., S. 10.

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Ziele haben. Wir meinen aber besonders die Sakramente, von denen das eigentliche „Sakrament der Versöhnung" die Buße und Beichte ist, die in der evangelischen Kirche allerdings nicht als Sakrament verstanden wird, wiewohl Luther die Beichte zeitweilig dazu gezählt hat. Eine Versöhnungsfeier ist weiterhin das Sakrament des Altars, aber auch andere kirchliche Handlungen, die in der orthodoxen und katholischen Kirche als Sakramente gelten. Hieher gehört die Konfirmation, in der es Versöhnungshandlungen gibt, und das Abendmahl für Sterbende, das die Funktion der Krankensalbung oder der letzten Ölung aus der katholischen Kirche übernommen hat. Dazu gehören aber auch viele liturgische Symbolhandlungen der Versöhnung: die Handauflegung bei der Lossprechung in der Beichte oder der Friedensgruß im Rahmen der Abendmahlsfeier.2 Versöhnung bedarf wie immer der „zeichenhaften Verdichtung".3 Wir sagen auch: In der Versöhnung werden „Zeichen" gesetzt. Aber „Zeichen setzen" heißt dann nicht nur eine „symbolische", zeichenhafte Geste zu machen, die Beispiel oder Aufruf zur Nachahmung sein soll. Vielmehr isr damit ein sakramentales Geschehen gemeint, dem wir Wirkungen und Folgen zumuten, die für die Gemeinschaft mit Christus und untereinander nicht nur etwas „bedeuten", sondern diese effektiv „stärken und bewahren". In der alten Kirche war die Versöhnung „Re-konziliation". Sie war nicht der Vollzug der Versöhnung (Konziliation), sondern die „Wieder-Aufnahme in die Gemeinde", nach der erfolgten Buße, die liturgisch-feierlich vor der Gemeinde erfolgte. Darum lohnt eine Rückbesinnung auf die Geschichte der Rekonziliation in der alten Kirche.

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Vgl. K. Baumgartner, Aus der Versöhnung leben, a.a.O., S. 20ff. U. Kühn, Versöhnung feiern, a.a.O., S. 10.

1. Entstehung und Entwicklung der Versöhnungshandlung in der Kirche

Wie wir sowohl aus der Tradition des Alten Testaments und des Judentums als auch aus den neutestamentlichen Belegen über die erste christliche Gemeinde wissen, gab es von Anfang an in der Kirche die Auseinandersetzung mit der Sünde in Form der Ahndung von Schuld und Vergehen, unter Umständen Ausschluß des Sünders aus der Gemeinde, Umkehr und Buße, Versöhnung mit der Gemeinde, Vergebung und Wiederaufnahme (Mt 18,15-17). Doch erst seit dem Auftauchen der kanonischen Buße ab dem 3. Jahrhundert spricht man von einem Bußritus bzw. einer Bußliturgie in der Kirche. Diese Buße war „öffentlich" und galt für schwere Vergehen nach der Taufe. Sie bestand in einer Anklage - oder Selbstanklage - , dem Eingeständnis der Schuld seitens des Sünders, dem Gebet der Gemeinschaft, einer langwährenden Bußzeit und schließlich der Versöhnung, der „Reconciliatio" durch den Dienst des Bischofs, die soviel wie „Wiederaufnahme in die Gemeinschaft" bedeutete.4 „Versöhnung" oder „Reconciliatio" ist hier die lateinische Wiedergabe des griechischen neutestamentlichen Wortes καταλλαγή. Als Fachausdruck für die genannte Wiederaufnahme von Büßern in die Kirchengemeinschaft taucht das Wort erst in den afrikanischen Konzilien seit 390 auf; die lateinischen Kirchenväter Tertullian und Cyprian kennen diese spezifische Verwendung des Wortes noch nicht. Aber gerade bei Tertullian gibt es einen Hinweis, welche Bedeutung man in das Wort reconciliari hineinlegte. Er bezieht sich auf die Stelle Kol 1,20, wo es heißt, daß Gott durch Christus „alles mit sich versöhnte", es sei „auf Erden oder im Himmel, indem er Frieden machte durch sein Blut am Kreuz". Gegen den Häretiker Marcion, der zwischen einem fremden, alttestamentlichen Gott und Christus als dem eigentlichen Gott unterschied, machte er geltend, daß man mit einem „fremden Gott" sich zwar „befreunden" (conciliari) kann, „sich versöhnen" (re-conciliari) aber nur mit dem eigenen, nämlich dem Schöpfergott. Der Rückbezug zur reconciliatio wird später nicht mehr von der Schöpfung, sondern von der Taufe, und damit von der ursprünglichen Kirchengemeinschaft her verstanden, in die der Büßer zurückkehren möchte. Das eschatologische und universale Konzept ist ekklesiologisch verschoben oder zumindest konzentriert worden. Das geschah ganz im

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Vgl. L. Vencser, Die Generalabsolution in der lateinischen Kirche vom 8.-12. Jahrhundert. Pars dissertationis, Rom 1976, S. 27ff.

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Sinne der frühkirchlichen Tendenz, Eschatologie in Ekklesiologie zu übersetzen. Die Botschaft des Apostels Paulus „Lasset euch versöhnen mit Gott" - die nachösterliche Fassung des Umkehrrufs Jesu „Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen" (Mt 4,17 par) - bezieht sich auf diejenigen, die diesen Ruf Jesu gehört haben, umgekehrt sind, Gottes Versöhnung und den Glauben angenommen haben und so „Kirche" geworden sind. Kirche wird so zur „Heilsgemeinschaft". 5

a) „ Re-konziliation " innerhalb des Bußinstituts Das „Herausfallen" aus der Gemeinschaft vollzog sich nicht durch die „Sünde", so als ob der Getaufte sündlos bleiben müßte und könnte. Die Realität der Sünde und die Notwendigkeit der Vergebung wurde in der Kirche früh anerkannt und praktiziert; dafür war ja die Eucharistie da. Aber man ging davon aus, daß es einen Abfall gibt, eine Schwere der Sünde, die aus der Gemeinschaft der Kirche ausschließt. Die Frage war, ob man außer der Taufe und der Eucharistie, die die Sündenvergebung verleihen, noch eine andere Institution für Buße und Vergebung brauche. Man sagte, die Taufe vergebe alle vorher begangenen Sünden, die Eucharistie die leichten (lässlichen, verzeihlichen) Sünden und die kanonische Buße sei für die Vergebung der schweren, der Todsünden entstanden. Diese Antwort befriedigt nicht; man weiß heute, daß die Feier der Eucharistie in den Augen der Väter auch die Vergebung jener Sünden bewirkte, die man früher als Todsünden verstand. Obwohl die Kirche also der Taufe und der Eucharistie Bußcharakter zuschrieb, hat sie seit der apostolischen Zeit solche Christen aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, also den „kirchlichen Status" abgesprochen, die nach der Taufe solche Sünden begingen, welche die kirchliche Gemeinschaft gefährdeten. Paulus sagte 1. Kor 5,13: „Verstoßt ihr den Bösen aus eurer Mitte". Die Gemeinde des Matthäus kennt das schon mehrfach erwähnte Prozeßverfahren Mt 18,15-17. Wenn der Sünder nach dreimaligem Drängen nicht nachgibt und sich nicht versöhnen läßt, soll er als Heide und Zöllner betrachtet werden. Die bereits behandelte Schlüsselstellung Lk 17,3-4 kann man so verstehen, daß Lukas weiter geht als die Matthäusgemeinde und siebenmal am Tage verzeihen läßt. In dieser Unsicherheit, wobei man weiß, daß die Bekehrung bei der Taufe ernstgenommen werden muß und doch auch Erbarmen Gottes möglich ist, entsteht vom 3. Jahrhundert an die sogenannte „kanonische Buße". Sie ist weder eine Verdopplung der Taufe oder der Eucharistie. Sie setzt die Taufe voraus, deren Wiederherstellung der kirchlichen Gemeinschaft die Buße ist,

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G. Kretschmar, The Church's Ministry of Reconciliation, a.a.O., S. 25f.

während sie gleichzeitig von der Eucharistie gefordert wird, damit die eucharistische Gemeinschaft nicht in leeres Wort bleibt.6 Mit der Entstehung des Bußinstituts hat sich die Überzeugung in der Kirche durchgesetzt, daß die Botschaft der Kirche von Gottes Vergebung sich auch in ihrer Praxis realisieren muß und darum auch über die Taufe hinaus gilt. Es war demnach eine neue Weise, den biblischen Versöhnungsauftrag der Kirche weiterzugeben. Darum die Bezeichnung „Re-conciliatio", Wieder-Aufnahme, Wieder-Zulassung zur Gemeinschaft, vor allem zur eucharistischen Gemeinschaft, die um ihres Ernstes willen eine „Liturgie" (einen liturgischen Akt) entwickelte, die der Gemeindeleiter (Bischof) zu handhaben hatte. Die Entstehung dieser Praxis darf aber nicht nur unter einem innerkirchlichen Aspekt betrachtet werden, sondern ist auch auf dem Hintergrund der großen Verfolgungswelle seit der Mitte des 3. Jahrhunderts zu sehen. Es gab damals Massenabfall vom Christentum. Aber selbst für die, die unter Druck den Idolen geopfert oder heilige Bücher ausgeliefert - und insofern Christus verleugnet - hatten, gab es keine Rückkehr mehr zu den Göttern der Staats- oder Volksreligion. Nun war aber die Vergebung und der Neubeginn gerade die zentrale Botschaft des Christentums. Sie mußte auch nach solchem Abfall zum Zuge kommen können. So entstand so etwas wie eine „zweite Taufe" oder „zweite Umkehr" nach der Taufe. Und weil der Taufe eine Zeit des Katechumenats vorausging, war es selbstverständlich, daß auch der „Wiederaufnahme" eine Zeit der Buße vorausgehen mußte. Wie die Katechumenen eine Gruppe bildeten, so wurden die Büßer ein „Stand". Wie die Nichtgetauften nicht an der ganzen Eucharistiefeier teilnehmen durften, so durften die Nichtwiederaufgenommenen nicht kommunizieren. Auch der liturgische Aufbau der Buße enthält darum die Elemente der Taufe: ein Glaubensbekenntnis (in Frage-Antwort-Form), ein „Zeichen" (den Fußfall, vergleichbar dem Eintauchen in das Taufwasser); die Handauflegung, mancherorts sogar eine Salbung (ähnlich wie in der Tauffeier der alten Kirche). Entscheidend und Höhepunkt ist der Vollzug der Versöhnung, der wie bei der Taufe ( wiedereinführt in die Gemeinschaft der Kirche und den vollen Zugang zur Eucharistie erlaubt.7 Bevor wir weiter die Entwicklung von der Bußpraxis zur Beichtpraxis aufzeigen, die schließlich zum „Bußsakrament" führt, sollen hier einige wichtige Begriffe geklärt werden. Der Begriff „Buße", der vom lateinischen „paenitentia" kommt, ist die Übersetzung des griechischen μετάνοια und meint ursprünglich die Konversion, die Bekehrung. Im Vordergrund stehen also nicht die Bußleistungen oder -strafen (der Begriff ist heute im profanen Bereich für Geldstrafe bekannt), doch entwickelt sich das Verständnis auch in der Kirche des Mittelalters in diese Richtung.

6 P. De Clerck, Salvation, or Reconciliation, and its Sacramental Realizations, in: StLi, a.a.O., S. 6If. 7 P. de Clerck, Salvation or Reconciliation, a.a.O., S. 63ff.

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Der Begriff „Bekenntnis" oder „Beichte" („confessici") geht auf das hebräische P!""P zurück und kann gleichzeitig das „Lob" meinen (Mt 11,25). Das Wort bezeichnet in diesem Sinne auch eine „Bekanntmachung", wenn man vom Glaubensbekenntnis spricht, oder schließlich das „Geständnis". Heute beschreibt man damit das gesamte Bußverfahren, und zwar vom 12. Jahrhundert an, wo die Ohrenbeichte eine neue Bestimmung erhält: nicht bloß die Feststellung der begangenen Sünden, sondern verbunden mit dem Schamgefühl, das sie wachruft, eine Prüfung der Reue, deren Richter der Priester ist. Sie wird später zum wichtigsten der vier Teile contritio, confessio, satisfactio, absolutio - des Bußverfahrens. Der spätere Sprachgebrauch verwendet den Namen dieses Teiles zur Bezeichnung des Ganzen. Der Begriff „Versöhnung" wurde in der antiken Bußdisziplin zur Bezeichnung der Feier verwendet, die den ganzen Bußprozeß krönte: Nach Vollzug der Buße und der Ausführung des Bußaktes (actio paenitentiae) wurde der Büßer durch den Bischof im Angesicht der ganzen Gemeinde versöhnt, d.h. wiedereingeführt in die volle kirchliche Gemeinschaft mit Gewährung von neuem Zutritt zur eucharistischen Kommunion. Daß dieser Begriff sich durchsetzte, hängt bestimmt auch damit zusammen, daß Paulus ihm einen allumfassenden Sinn gab, und umgekehrt hat dieser Begriff später noch in der modernen Kultur eine große Bedeutung erhalten, weil er überall eine positive Resonanz hervorruft, die wie wir schon gesehen haben - sich nicht auf die religiöse Sphäre beschränkt.8

b) „ Wiederholbare Rekonziliation " durch Entstehung der Privatbuße Durch die spätere Entwicklung wird aus der einmaligen „Re-konziliation" eine wiederholbare Form der Versöhnung. Am Anfang des 6. Jahrhunderts brachten keltische Mönche die sogenannte „Tarifbuße" auf den Kontinent. In dieser Ordnung war jede Sünde nach ihrer Schwere aufgelistet, mit einer festgelegten Buße angegeben, die aufgrund der Ernsthaftigkeit der Sünde berechnet war. Nach Erfüllung der zugewiesenen Buße wurde der Sünder privat durch den Dienst nichtmehr des Bischofs, sondern nunmehr eines Presbyters versöhnt. Während des Karolingischen Zeitalters gab es (noch) die öffentliche BußRekonziliation und gleichzeitig die Tarifbuße. Beides ließ sich so vereinbaren, daß die öffentliche Buße fur schwere öffentliche Vergehen und die Privat-(Tarif-)Buße für die private Sünde galt. Allerdings mißlang der Versuch zu dieser „Regelung".9 Im 12. Jahrhundert gewann sodann die Privatbuße oder „Beichte", wie sie jetzt genannt wurde, die Oberhand. Doch soviel steht schon fur das 9. Jahrhundert fest: die Buße wird anhand dreier Elemente beschrieben: das Sündenbewußtsein, das Bedauern des Vergehens (die Reue) und das Versprechen, das Leben zu bessern, zu dem die Bereitschaft gehört, Buße zu tun durch Fasten und einen zeitlichen Ausschluß aus der Gemeinschaft. Zusammengefaßt werden diese Elemente als „Reue des Herzens, Brennen des Geistes und Bitter-

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P. De Clercke, Salvation or Reconciliation, a.a.O., S. 62f. M. Rubellin, Vision de la société chrétienne à travers la Confession et la Pénitence au IXe siècle, in: Groupe de la Bussière (Hg.), Pratiques de la Confession, a.a.O., S. 53ff. 9

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keit der Seele", verbunden mit der Bereitschaft, eine Anzahl von Monaten zu fasten. Bekenntnis, Beichte, Confessio ist in dieser Zeit ein anderes, seltener gebrauchtes Wort innerhalb des Bußgedankens. Es bahnt sich hierdurch das Verständnis an, daß das Bekenntnis der Sünden nicht als „Stand" verstanden wird, sondern als ein freiwilliger Weg, der in der Beichte der begangenen Fehler besteht. Dabei wird zwischen den Kapitalsünden und den weniger schweren (lässigen) Sünden in Taten oder in Gedanken unterschieden. Ziel der Beichte ist, die Vergebung der Sünden zu erhalten. Die Beichte zeigt die Buße an; aber die Buße enthält gleichzeitig die Satisfaktion (die Bußleistung), und die Bußleistung erfordert die Vergebung der Sünden. Die Bezeichnung „Beichte" wird also der Praxis der Tarifbuße vorbehalten, während der Ausdruck „Buße" die öffentliche Buße bezeichnet, in der die Beichte eine geringere Bedeutung hatte. Die Entwicklung der öffentlichen Buße im 9. Jahrhundert hat zu einem Auseinandergehen von Buße und Beichte gefuhrt. Diese Zeit ist für uns darum so wichtig, weil sie das Entstehen zweier unterschiedlicher Entwicklungen in verschiedenen Formen anzeigt, die in der siebenbürgischen Kirche weiterbestanden haben, während es in der westlichen Kirche im 12. Jahrhundert zur Beibehaltung einer einzigen Bußpraxis kam: der Privatbeichte als umfassende Bußhandlung, die schließlich im Laterankonzil (1215) genau festgelegt wurde und als ein Sakrament galt. So gibt es also die Rekonziliation als öffentliche Handlung, als Bekenntnis der öffentlich bekannten Vergehen, die später zu einer Handlung unter Laien (Versöhnung in der Gemeinschaft, Wiederaufnahme und spätere Zulassung zum Abendmahl) wird, und die Privatbeichte als private Handlung fur die verborgenen persönlichen, unbekannten Sünden. Die Kenntnis der siebenbürgischen Versöhnungs- und Beichtordnung ist darum aufschlußreich, weil hier beide Traditionsströme erhalten geblieben sind, die später auch in Beziehung zueinander gesetzt wurden, obwohl ursprünglich nur die Rekonziliation Zulassung zum Abendmahl war, was die Beichte erst später wurde. Bis zum 9. Jahrhundert war in der Kirche demnach diese Buße für bestimmte schwere und öffentlich bekannte Fehler noch vorhanden (Ehebruch, Unzucht, Blutschande, Veruntreuung von Kirchengut, Götzendienst). Diese Buße wurde auch als Sanktion des Bischofs gegenüber den rekalzitranten Gläubigen verstanden. Weil ihre Durchführung oft schwer war, war der Rückgriff auf die öffentlichen Autoritäten (die Staatsgewalt) ebenfalls üblich. Wichtig fur uns ist hier, daß es in dieser Zeit auch die Beichte, das Bekennen, nicht nur vor dem Priester und „vor Gott" gab, sondern die „gegenseitige Beichte der Vergehen unter Laien". Dies ist eine Praxis, die in der alten Kirche bekannt war. Die Kirchenautoren des 9. Jahrhunderts berufen sich oft auf Jak 5,16. Beda (Venerabiiis) erlaubte die Beichte gegenüber Laien nur, wenn es

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sich um lässige und alltägliche Sünden handelte.10 Die ausdrückliche Durchsetzung der Privatbeichte erfolgte durch das Laterankonzil (1215). Im Kanon 21 wird deutlich, daß die Beichte die charakteristische Handlung des Bußaktes ist. Die Handhabung der Beichte versteht diese Handlung als geistliche Erneuerung des Einzelnen und für die Hierarchie, die sie handhabt. Sie versteht sich als pastorale und soziale Kontrolle: die Bestimmungen fordern von jedem Gläubigen die regelmäßige Beichte aller Sünden, wenigstens einmal im Jahr. Das Bußsakrament soll beim zuständigen Beichtvater erfolgen und die Erfüllung der auferlegten Bußleistungen zur Folge haben. Diese private Beichte blieb bis ins 16. Jahrhundert in Kraft, als sie von den Reformatoren verworfen wurde, und in der römisch-katholischen Kirche, bis sie im Zuge gegenwärtiger sich abzeichnender Entwicklungen Auflösungserscheinungen zeigte. Auch in der Ostkirche hat eine ähnliche Entwicklung stattgefunden. Doch müssen wir dabei einige Besonderheiten beachten. Zunächst läßt sich sagen, daß die kanonische Buße hier ebenfalls bekannt war, nachweislich in der Mitte des 3. Jahrhunderts, wie ein Brief Firmilians von Caesarea an Cyprian, geschrieben um 256, zeigt. Doch ist sie, weil innerhalb eines Jahrhunderts Probleme mit dieser Disziplin entstanden, bereits am Ende des 4. Jahrhunderts verloren gegangen. Ihre Spuren sind noch im Werk des Simeon von Thessaloniki (gest. 1429) zu finden.11 Für die Beichtpraxis der Ostkirche ist die Übernahme der monastischen Tradition auch außerhalb der Klöster prägend geworden, sich einem geistlichen Vater anzuvertrauen, der nicht ein ordinierter Presbyter zu sein brauchte. In der Zeit zwischen dem 9. und 13. Jahrhundert, als sich im Westen die Privatbeichte aus der Tradition der öffentlichen Buße durchsetzte, herrschte diese monastische Beichte in der Kirche vor. Doch muß man wissen, daß in der Ostkirche ein Laienmönch von der Kirche für diese Aufgabe der „geistlichen Heilung" durch Bekenntnis und Buße auch eingesegnet wurde. Es geht hier also nicht um Laienbeichte im westlichen Sinn. Die Zuwendung zu Mönchen, Anachoreten und Wüstenvätern erfolgte seit der asketischen Bewegung des 4. Jahrhunderts, die eine Reaktion auf die Verweltlichung der Kirche war. So entsteht bei den Anachoreten und Koinobiten eine neue Form der Beichte und Buße. Bei den Wüstenvätern, die in den Wüsten von Niederägypten im 4. und 5. Jh. nach dem Vorbild des „Lebens des heiligen Antonius" lebten, das der heilige Athanasius geschrieben hat (siehe die Darstellung am Isenheimer Altar), erhält die Buße in dieser Situation einen anderen Sinn als im westlichen Bußverfahren. Der Gérant, der Mönchvater, sah in allem Tun des Menschen als Wurzel der Sünde die

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M. Rubellin, Vision de la société chrétienne, a.a.O., S. 65f. R.F. Tafft S.J., Penance in Contemporary Scholarship, a.a.O., S. 4.

Begehrlichkeit. Die Beichte wurde hier zu einer therapeutischen Handlung. Der Dienst des Mönchsvaters in der Beichte ist bis heute, Lebenshilfe zu geben. Der Beichtvater muß darum ein „geistlicher Führer" sein.12 So wird im Osten auch der Pfarrer zum „geistlichen Vater" und als Berater, Seelsorger und Seelenfuhrer verstanden. Gleichzeitig ist die Funktion des Beichtvaters eine „pädagogische": sie hilft dem Beichtenden, seinen persönlichen Weg zu Gott zu finden. Nur im Gespräch mit einem geistlichen Vater kann er den guten vom bösen Weg unterscheiden. Bei den Koinobiten wurde die pädagogische Motivation der Beichte bald durch die therapeutische Funktion verdrängt. Während die Anachoreten ihren geistlichen Weg zu Gott durch den Beichtvater finden mußten, war dieser Weg bei den Koinobiten klar im voraus festgelegt, dem sich der Mönch nur anzupassen brauchte. Daher bedurfte es nur der therapeutische Hilfe im Kampf um diese Anpassung auf dem Weg zu Gott.13 Diese seelsorgerliche Funktion der Mönchsbeichte hat die alte kanonische Buße verdrängt und sich in der Ostkirche bis in die Gegenwart durchgesetzt.14 Die Übernahme von Verantwortung seitens des Beichtvaters für den Konfitenten ist ein andersartiger Versöhnungsdienst als der in der westlichen Kirche entstandene, der sich aus der Büßerrekonziliation entwickelt hat. Doch ist er nicht weniger bedeutsam für die Erneuerung des Menschen und seiner sozialen Bezüge. Dieser Unterschied mag auch in der stärkeren Bedeutung des ontologisch-kosmologischen Aspekts in der östlichen Theologie begründet sein, während im Westen das individuelle Moment der Heilszueignung und -aneignung stärker in den Vordergrund tritt. Das Anliegen der Neuschöpfung der Welt ist hier größer als das der Erneuerung des Menschen.15 Es ist kein Zufall, daß die Tendenzen zur Neugestaltung der Liturgie und des kirchlichen Lebens in der katholischen Kirche seit dem 2. Vatikanischen Konzil darum in die Richtung gehen, die Loslösung und Trennung beider 12

Die Übernahme dieser alten Tradition in unserer Zeit kann man verfolgen bei: G. Pierse, Neun Türen zum Gebet. Enneagramm und christliche Meditation, München 1996, S. 13ff. 13 J.-C. Guy, Aveu thérapeutique et aveu pédagogique dans l'ascèse des pères du désert C (IV -VC s.), in: Groupe de la Bussière (Hg.), Pratiques de la Confession, a.a.O., S. 25ff. 14 D. Stäniloaie, Erneuerung und Heiligung der Gläubigen im Sakrament der Buße nach der Lehre der orthodoxen Kirche, in: Buße und Beichte im Glauben und Leben unserer Kirchen und ihre Bedeutung für die Erneuerung und Heiligung des Christen. Dritter bilateraler Theologischer Dialog zwischen der Rumänischen Orthodoxen Kirche und der Evangelischen Kirche in Deutschland vom 28. Mai bis 3. Juni 1982 in Hüllhorst (ÖR.B Nr. 51), Frankfurt a.M. 1987, S. 32. 15 R. Slenczka, Das dritte theologische Gespräch zwischen dem Moskauer Patriarchat und der Evangelischen Kirche in Deutschland, in: Versöhnung. Das deutsch-russische Gespräch über das christliche Verständnis der Versöhnung zwischen Vertretern der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Russischen Orthodoxen Kirche, hg. v. Außenamt der EKD, Witten 1967 (Studienheft 5), S. 15.

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Traditionen durchzusetzen, so daß die Buße wieder zur Versöhnung wird und eine öffentliche und in die Öffentlichkeit wirkende Angelegenheit ist, während das Verständnis der Beichte als Beratung und geistlichen Ratschlag unbeeinträchtigt davon erhalten bleibt. So allein können sie beide zu der Geltung kommen, die ihnen zusteht, ohne daß die eine die Rolle der anderen übernehmen müßte. Dieses ekklesiologische Verständnis der Buße geht parallel mit einer Theologie der Sünde, die nicht nur ihre kollektive Dimension zur Kenntnis nimmt, sondern auch das Übel als Fehler begreift, der an der Kirche als Gemeinschaft begangen wird. Wo die Sünde Bruch der Gemeinschaft ist, da ist die Buße Versöhnung dieser Gemeinschaft.

c) Die Erneuerung des Versöhnungsinhaltes im Bußwesen Wenn wir die Entwicklung des Bußwesens in der Reformationszeit weiterverfolgen, so erinnern wir uns zunächst daran, daß der Ausgangspunkt der Reformation beim Mißbrauch des Ablaßwesens zu suchen ist. Die erste von den 95 Thesen Luthers aus 1517 sagt aus: „Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: ,Tut Buße' usw. hat er gewollt, daß das ganze Leben der Gläubigen Buße sei".16 Doch Luther setzt den Akzent später wieder stark auf das Bußsakrament selbst. Er betont die Bedeutung der Absolution in der Beichte und klammert die Reue und Genugtuung, „contritio" und „satisfactio", aus. Im Kleinen Katechismus (1529) nennt er Bekenntnis und Absolution die beiden Teile der Beichte: „Die Beichte begreift zwei Stücke in sich. Eins, daß man die Sünde bekenne, das andere daß man die Absolution oder Vergebung vom Beichtiger empfange als von Gott selbst und ja nicht daran zweifle, sondern fest glaube, die Sünden seien dadurch von Gott im Himmel vergeben".17 Anstelle der Genugtuung tritt also der Glaube (Glaube statt Werke). CA 11 sagt über die Beichte: „Von der Beichte wird also gelehrt, daß man in der Kirche privatam absolutionem erhalten und nicht fallen lassen soll, wiewohl es in der Beichte nicht nötig ist, alle Missetaten und Sünden zu erzählen, dieweil solches nicht möglich ist. Ps 18 (19,13): „Wer kennt die Missetat?'18 Auch hier sind die beiden Teile der Beichte vorausgesetzt, wobei die Betonung auf der Absolution liegt. Laut CA 25 soll das Sakrament nicht gereicht werden „denen, die nicht zuvor verhört und absolviert sind. Dabei wird das Volk fleißig unterrichtet, wie tröstlich das Wort der Absolution sei, wie hoch und teuer die Abso16

WA I, S. 233, Übersetzung bei: K. Bomhamm/G. Ebeling, Martin Luther. Ausgewählte Schriften, Bd. I, Frankfurt a. M. 1982, S. 28. 17 Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche (hinfort BSLK), Göttingen J 1955, S. 517. 18 BSLK, a.a.O., S. 66.

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lution zu achten" (sei). Denn „sie wird an Gottes statt und aus Gottes Befehl gesprochen." Dieser Absolution soll man sich „fröhlich trösten und wissen, daß 19

wir durch solchen Glauben Vergebung der Sünden haben". Im Anhang an den Großen Katechismus spricht Luther in seiner Schrift „Eine kurze Vermahnung zu der Beichte" neben der allgemeinen Beichte, die man „Gott selbst allein oder dem Nächsten allein beichtet und um Vergebung bittet" und von der Beichte, der „gemeinen Schuld", auch „wenn einer einen andern erzürnt hat, daß er es ihm abbitte. Also haben wir im Vaterunser zwei Absolutionen, daß uns vergeben ist, was wir verschuldet haben beide wider Gott und den Nächsten, wenn wir dem Nächsten vergeben und uns mit ihm versöhnen". Wiewohl Luther gerade in dieser ausfuhrlichen Abhandlung über die Beichte auch die Privat- bzw. Einzelbeichte, die „heimliche Beichte" rühmt, ist bemerkenswert, daß durch die Betonung der Vergebung dem Nächsten gegenüber und der Versöhnung mit ihm, gleichzeitig mit der Akzentverschiebung auf die Absolution, er der von uns beklagten Verengung des Bußsakraments auf die Beichte entgegenwirkt und sie der kirchlichen Bußpraxis wieder nähert. Freilich versteht Luther später die Beichte auch als Kommunionsvorbereitung, als er sie gegenüber den Schwärmern 1523/24 wieder einführte. Die persönliche Anmeldung der Kommunikanten beim Pfarrer, die in der Formula Missae von 1523 gefordert wird, hat das Ziel, diejenigen nicht zum Abendmahl zuzulassen, die von ihrem Glauben nicht Rechenschaft ablegen und durch ihre Antworten nicht zu erkennen geben, daß sie durch Leben und Wandel Glaubenseinsicht beweisen. Diesem „Verhör" kann sich eine freiwillige Beichte an20

schließen. In der späteren Entwicklung entsteht daraus die Kirchenzucht, die dem „Schlüsselamt" zuzuordnen ist. Es ist der Auftrag Jesu, vor Gott Schuld zu vergeben, aber auch zu behalten (Mt 18,15-20, Joh 20,22ff.). Luther, der gelegentlich rät, im Beichtvater nicht den Priester, sondern den Christenbruder zu sehen (WA 8,184), fordert doch ein furchtloses Durchgreifen des Pfarrers, besonders beim Herzutreten zum Abendmahl. Der Reformator hat zeitlebens darum gerungen, das altkirchliche Bußinstitut wieder aufzurichten und die Exkommunikation unbußfertiger Sünder zu erneuern. Doch die „gesellschaftliche Relevanz" ebenso wie die kirchliche Bedeutung der Privatbeichte „ist von den Reformatoren naiv praktiziert, aber kaum denkerisch durchdrungen worden". Sie konzentrierten sich zu einseitig auf die innere Bußgesinnung und Glaubensgewißheit des Einzelnen. Hierüber vergaß man zu schnell, daß der Sünder nicht

" BSLK, a.a.O., S. 97f. WA 12,215. Dazu H. Lins, Buße und Beichte - Sakrament der Versöhnung, in: H.-Chr. Schmidt-Lauber/K.-H. Bieritz (Hg.), Handbuch der Liturgik, a.a.O., S. 362. 20

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allein Gottes Vergebung sondern auch der Versöhnung mit dem Nächsten be21

darf, Buße und Beichte also ebenso eine sozial-ethische Dimension hat. In der katholischen Kirche wird im Tridentinum (Sessio XIV, 1551) die mittelalterliche Lehre von der Buße in allen wesentlichen Stücken bestätigt. Die Beichte wird notwendig, zwingend, vollständig, göttlich verstanden und soll geheim und regelmäßig geboten werden. Die lutherische Lehre von Rechtfertigung und Beichte wird verworfen. Kontrovers bleibt nur die Frage, ob die Bußwerke im Sinne der Wiedergutmachung und Genugtuung, Bedingungen des Freispruchs oder deren Folge und Frucht seien. Dadurch bleibt die Engfuhrung des Bußwesens bestehen, die die ekklesiologischen Bezüge und den Bezug zur Erneuerung der Welt und der Verantwortung für die Welt zu wenig zum Tra22

gen kommen läßt. Der Versuch einer Wiederbelebung des Bußsakraments erfolgt hier 1973 mit dem erneuten Ordo Paenitentiae. Neben der erneuerten alten Beichtordnung werden Bußfeiern im gottesdienstlichen Rahmen angeboten und ermöglicht. Historische Forschungen zum Bußsakrament (Karl Rahmer und B. Poschmann) haben im Zusammenhang mit den neuen Herausforderungen lebendiges Interesse an einer Fortentwicklung der Wechselbeziehung von Büß- und Beicht23 institut geweckt. Im französischen Sprachgebiet sind schon kurz nach 1950 „Gemeinschaftsfeiern der Beichte" entstanden, die damals als Vorbereitung auf die Einzelbeichte gedacht waren und später - nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil in den Niederlanden sich weiter entwickelten und zunehmend auch mit sakramentaler Lossprechung praktiziert wurden. Sie haben auch im deutschen Sprachraum reges Interesse gefunden. Sie erinnern an die öffentliche Rekonziliationsfeiern seit dem 11. Jahrhundert an verschiedenen Tagen des Jahres, verbunden mit einer Generalabsolution, die die Funktion einer Andachtsbeichte hatten, da das Volk angehalten wurde, die schweren Sünden außerdem in der Einzelbeichte zu bekennen. Diese Praxis hat zu Kontroversen gefuhrt, die zu unterschiedlichen Entwicklungen beitrugen: mancherorts gibt es eine fast exklusive Praxis von gemeinsamen Bußfeiern mit allgemeinem Bekenntnis und sakramentaler Lossprechung (in der Schweiz). Eine andere Praxis (vor allem in Deutschland) ist, daß eine gemeinsame Bußfeier stattfindet ohne unmittelbaren Zusammenhang mit der Einzelbeichte, mit Beichtmöglichkeiten im Anschluß an die Bußfeier. Eine 21

A. Peters, Buße - Beichte - Schuldvergebung in evangelischer Theologie und Praxis, in: KuD 1982/1, S. 67f. 22 U. Kühn, Versöhnung feiern, a.a.O., S. 6. 23 Vgl. H.-P. Arendt, Bußsakrament und Einzelbeichte. Die tridentinischen Lehraussagen über das Sündenbekenntnis und ihre Verbindlichkeit für die Reform des Bußsakramentes, Freiburg-Basel-Wien 1981 (FThSt Bd. 21), passim.

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weitere Möglichkeit wäre die Verbindung von gemeinsamer Bußfeier und Einzelbeichte (und Lossprechung), wie sie der Text der „Feier der Buße" als Form Β vorsieht und empfiehlt. Nach wie vor gibt es auch die bewußte Vermeidung bzw. Verweigerung von Bußfeiern trotz der ausdrücklichen Empfehlung in den „Weisungen zur kirchlichen Bußpraxis": „Bußgottesdienste sollen im Leben jeder Gemeinde einen festen Platz haben [...] Sie haben so einen eigenständigen Charakter. Sie sind aber kein Ersatz für das Bußsakrament [...] Es bleibt jedoch die Pflicht, die schweren Sünden im Bußsakrament zu bekennen". Daß es eine „pastorale Notlage" gibt, welche die „gemeinschaftliche Feier der Versöhnung mit allgemeinem Bekenntnis und Generalabsolution" (Feier der Buße, Form C) erlaubterweise ermöglichen würde, sehen die deutschen und österreichischen Bischöfe derzeit nicht gegeben. Viele Bischöfe, auch Papst Johannes Paul II., haben zudem ernste Bedenken gegenüber dieser Form der Bußfeier. Sie soll nach ihrer Meinung den Charakter einer Ausnahme haben und vor allem nicht zu einer Geringschätzung und zum Aufgeben der Einzelbeichte fuhren. 24 Daraus können wir folgern: die Kirche braucht beide Bußformen. Die eine ist eine persönliche Möglichkeit zu Bekenntnis und zum Gespräch, wie es in der Beichte und Absolution Jahrhunderte geübt wurde. Aber sie braucht daneben und abgesehen davon einen Ritus der Exkommunikation und Rekonzi.. 25 liation, also die Übung der Versöhnung als Bußdisziplin. Diese Erkenntnis hat sich auch in der lutherischen Theologie und Kirche durchgesetzt. Sie hat im Büß- und Beichtinstitut die Rolle der Versöhnung und ihre Bedeutung für die Welt wiederentdeckt. Sie fragt sich erneut, was die Beichte zur Versöhnung zwischen Menschen beitragen kann. Sie ist sich dessen bewußt geworden, daß die Beichte sich auf das Versöhnungsgeschehen zwischen Menschen auswirken kann, wenn man diese ihre Dimension neu entdeckt und in den Vordergrund stellt. Es muß wieder deutlich werden, daß Beichte mit Versöhnung zu tun hat. Darum spricht man - wie in der katholischen Kirche - lieber von der Feier (oder gar dem „Sakrament") der Versöhnung statt von „Beichte", die schon rein sprachlich den Akzent auf das Bekennen legt und nicht, wie es richtig wäre, auf die „Re-konziliation", die Wiederaufnahme von Gott, aber auch von der Gemeinde und damit auf die Versöhnung mit den Menschen. Die Beichte muß demnach für unsere Bemühungen um die Herstellung von Gemeinschaft zwischen den Menschen in der Gesellschaft überhaupt26relevant werden und von dort her ihren Ort im Handeln der Kirche erhalten. 24

Bei K. Baumgartner, Aus der Versöhnung leben, a.a.O., S. 67fF. Vgl. H. Lins, Buße und Beichte, a.a.O., S. 367f. 26 W. Böhme, Beichte und Versöhnung, in: Fr.-W. Ktlnneth (Hg.), Vergebung als Lebenshilfe. Zur Frage der Einzelbeichte heute. Studiendokument des LWB, Berlin-Hamburg 1970, S. 77ff. 25

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In diesem Sinne hat der Lutherische Weltbund in seinem Studiendokument „Vergebung als Lebenshilfe" ausgesprochen: „In der Beichte vollzieht sich die Versöhnung zwischen Gott und dem Menschen und den Menschen untereinander [...] Als Gemeinschaft versöhnter Menschen soll die Kirche selber zum Zeichen der Versöhnung werden [...] und hier liegt die prinzipielle Begründung der Gemeindezucht und kirchlicher Lebensordnungen". Und es wird empfohlen: „In vielfältiger Weise versucht die Kirche heute Dienst an der Gesellschaft und den Gruppen der Gesellschaft zu leisten. In dieser ,Gesellschaftsdiakonie' sind Diskussionen und Aussprachen Medium und Mittel zur Verständigung und Aussöhnung miteinander verfehdeter Partner. Deswegen sollten solche Diskussionen von dem Angebot zur Einzelbeichte und der gemeinsamen Beichte begleitet sein. In der Beichte wird ein Raum zur Bewältigung vergangener Schuld eröffnet, das Gewissen geschärft und die Kraft zur Versöhnung geschenkt".27 Spricht man von der „Feier der Versöhnung", so ist ihre liturgische und sakramentale Dimension angesprochen. Diese Frage soll im Folgenden erörtert werden.

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Fr.-W. Ktlnneth, Vergebung als Lebenshilfe, a.a.O., S. 10-12.

2. Die Feier der Versöhnung im sakramentalen Handeln der Kirche

Die Geschichte der Rekonzilitation zeigt uns, daß die Kirche ihr Handeln „zur Vergebung der Sünden" in der Taufe und in der Eucharistie verwirklicht (Mt 26,28). Zwischen diesen beiden Sakramenten - und man kann ebenso sagen: außer ihnen - hat sich bereits in der frühen Kirche aus geschichtlich bedingten und ekklesiologisch gewichtigen Gründen eine kirchliche Disziplin - Buße genannt - entwickelt, die sich einerseits als Paenitentia secunda, als eine „deutero-baptismale Buße" und damit als Re-Aktualisierung der Taufe verstanden hat, damit die Taufe das werde, was sie sein soll. Andererseits läßt sie sich als eine Handlung begreifen, die auf die Eucharistie ausgerichtet ist und dieser dazu verhilft, daß sie wirklich sei, was sie sein soll. Indem also das Ziel der Bußhandlung ist, sowohl die Umkehr in der Taufe als auch die Gemeinschaft in der Eucharistie gelingen zu lassen, steht sie in der Mitte zwischen beiden und ist dann ein Bindeglied, ein Bogen, der beide umspannt. Über das sakramentale Handeln der Kirche in der Versöhnung kann man daher nicht sprechen, ohne die Taufe und die Eucharistie, die in den reformatorischen Kirchen beide als Sakramente und in der katholischen Kirche als „Hauptsakramente" angesehen werden, zu berücksichtigen. Von hier aus läßt sich sodann das überaus schwierige Problem der Zuordnung der Buße zum Abendmahl klären, die in ihrer Verengung als Beichte, weil sie von der Vergebung her gesehen, als Doppelung verstanden wurde, ihren eindeutigen Platz zwischen Taufe und Eucharistie kaum gefunden hat.

a) Die Taufe als Bußsakrament Die Taufe als Bußsakrament ist neutestamentlich begründet. Petrus antwortet den Hörern seiner Predigt, die fragen, was sie tun müßten: „Tut Buße (μετανοήσατε) und jeder von euch lasse sich taufen auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung eurer Sünden, so werdet ihr empfangen die Gabe des heiligen Geistes" (Apg 2,38). Taufe ist also Eintritt in das Heil und als solche Vorwegnahme des Ostergeschehens: Jesus steigt in der Taufe in das Wasser hinab und steigt aus ihm heraus, wie aus dem Grab. In der Taufe Jesu erkennen die Christen das Modell ihrer eigenen Taufe. Im nicaeno-konstantinopolitanischen Glau-

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bensbekenntnis ist dieser Gedanke zusammengefaßt in den Worten: „Ich bekenne die eine Taufe zur Vergebung der Sünden". Dieser Aspekt der Taufe ist auch im „Lima-Dokument" festgehalten: „Die Taufe, die Christen zu Teilhabern am Geheimnis von Christi Tod und Auferstehung macht, schließt Sündenbekenntnis und Bekehrung des Herzens in sich. Die von Johannes vollzogene Taufe war eine Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden (Mk 1,4)".28 Obwohl dies nur ein Aspekt der Taufe ist, ist er schon in den ersten ökumenischen Dokumenten mit dem „Wassertaufen" in Zusammenhang gebracht worden und daher als grundlegend und wesentlich für die „christliche Initiierung" angesehen worden. So heißt es im Schlußbericht der „Lausanner Konferenz" 1927: „Wir glauben, daß wir in der Taufe, die mit Wasser im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes zur Vergebung der Sünden vollzogen wird, durch einen Geist in einen Leib getauft werden".29 Ebenso wurden bei der IV. Weltkonferenz der Kommission des ORK über „Glaube und Kirchenverfassung" in Montreal 1963, wo das Augenmerk auf die Taufe Jesu selbst gelenkt wurde, zum erstenmal die unabdingbaren Elemente der Taufhandlung aufgeführt, wo als zweiter Punkt „die Erklärung der Vergebung der Sünden in und durch Christus" genannt wird. Während im „Accra-Text" (bei der in Accra/Ghana 1974 stattgefundenen Sitzung der Kommission für Glaube und Kirchenverfassung) die „Vergebung der Sünden" nicht erwähnt wurde, kommt die Wendung sodann im „Lima-Dokument" (im Punkt 4) vor, wo sie als eine „Ablution (Waschung)", als „eine Reinigung des Herzens von allen Sünden" beschrieben wird. Durch die Abwaschung der Sünden, die Jesu Herabsteigen in das Wasser des Jordan darstellt, solidarisiert er sich mit den Sündern: „Durch die Taufe werden Christen in den befreienden Tod Christi eingetaucht, wo ihre Sünden begraben werden, wo der ,alte Adam' in Christus gekreuzigt und die Macht der Sünde gebrochen wird". Die Teilhabe am Tod und an der Auferstehung Christi ist darum zentraler Inhalt der Taufe, die in der Vergebung und Versöhnung der Christen durch Christus sichtbar wird.30 Dabei ist wichtig, daß in der frühchristlichen Praxis gemäß der Traditio Apostolica (verfaßt 215 n.Chr., gibt aber Auskunft über die Praxis ab etwa 170 n.Chr.) die Taufe - nach einer Vorbereitung, dem Katechumenat sowie der Prüfung und Zulassung - letztlich als „große Feier der Aufnahme" verstanden 28

Taufe, Eucharistie, Amt. Konvergenzerklärungen der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des ORK, Frankfurt/a.M. 1982, 10 1985, II, 4. 29 G. Wainwright, The Ecumenical Moment. Crisis and Opportunity for the Church, Grand Rapids/USA 1983, S. 31. 30 Taufe, Eucharistie und Amt, a.a.O., Punkt A3, S. 9f. Vgl. M. Thurian/G. Wainwright (Hg.), Baptism and Eucharist. Ecumenical Convergence in Celebration, Genf/Grand Rapids 1983, S. 3.

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wurde. 31 Sie war eine „Initiationsliturgie", die nach einer Vigil, einer Ganznachtsfeier, in der Kirche im Angesicht der Gemeinde und vor dem ganzen Klerus stattfand. Neben dem Wasserritus, dem Gebet und der Handauflegung des Bischofs ist als drittes wichtiges Element das Gebet der Gemeinde und die Eucharistiefeier zu nennen. Bemerkenswert ist, daß hier der Eucharistie der Friedenskuß - das Zeichen der Versöhnung - vorangeht, was bedeutet, daß die Vergebung der Sünden durch Gott die Versöhnung untereinander einschließt oder voraussetzt. Auch nach der „Konstantinischen Wende", die im 4. Jahrhundert die Taufpraxis stark veränderte, ist Taufe in erster Reihe „Aufnahme in die Kirche" bzw. Initiationshandlung, die mit Sündenvergebung - durch die Wassertaufe dargestellt - und Geistbegabung - sichtbar in der Handauflegung - beschrieben wird. Dieses Verständnis ändert sich auch im Mittelalter nicht, wo besonders nach der Germanenmission eine neue Situation entsteht, so daß die Aufnahme Unmündiger zum Regelfall wird, wenn auch die Initiation liturgisch verkürzt und vereinfacht wird, nachdem die Taufbewerber nunmehr Säuglinge sind. Vor allem die Katechisation fällt weg und wird später - in der Neuzeit - mit der Konfirmation in Zusammenhang gebracht. Beim Beginn der neuen Zeit (Reformation und Tridentinum) steht darum die Wassertaufe und Handauflegung zusammen mit Credo und Erklärung des Taufwillens im Vordergrund, was soviel bedeutet, daß Sündenvergebung und Geistbegabung auch in dieser Situation die Wesenselemente der Taufe ausmachen, auch wenn sich die Taufliturgie stark verändert hat. Bemerkenswert ist, daß in der Ostkirche die Grundelemente der alten Taufe auch im heutigen Taufritual beibehalten sind und damit die Säuglingstaufe - die dort allein üblich ist - an der Erwachsenentaufe ausgerichtet ist, d.h. daß sie im Ritus bei den Fragen und Antworten noch weiterhin 32

„Erwachsene" voraussetzt. Im „Ablutions"-Gebet des Priesters in der orthodoxen Taufliturgie heißt es denn auch am Anfang: „Du, Herr Gott, der du durch die heilige Taufe Vergebung der Sünden diesem deinen Knecht gewährt hast und ihm ein neues Leben geschenkt hast f...]."33 In der Erklärung der katholischen Bischofssynode „Instrumentum Laboris" 1983 (Nr. 29) kommt ihr Versöhnungscharakter zum Ausdruck: „Die Taufe ist das wirksamste Zeichen des Eintritts in die Kirche und der Gabe des neuen Lebens. Die in der Taufe vollzogene Umkehr durchdringt den Menschen bis zur innersten Wurzel, sie befreit das Wesen des Menschen [...] Durch sie wird die Versöhnung geschenkt, die von sich aus vollkommen ist und nie endet [...] (Allerdings) muß, wer in der Taufe des Glaubens Anteil an der göttlichen Natur 31 Vgl. A. Jilek, Die Taufe, in: H.-Chr. Schmidt-Lauber/K.-H. Bieritz (Hg.), Handbuch der Liturgik, a.a.O., S. 296f. 32 Vgl. M. Thurian/G. Wainwright, Baptism and Eucharist, a.a.O., S. 9. 33 M. Thurian/G. Wainwright, Baptism and Eucharist, a.a.O., S. 16.

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erhalten hat, von da an die angefangene Heiligung in seinem Leben festhalten und vollenden".34 Für unsere heutige kirchliche Situation, in der die Kindertaufe üblich ist, bedeutet das, daß Taufe und die darin geschenkte Gabe der Vergebung und Versöhnung fortgesetzt werden muß in einem Leben der Versöhnung, das sich in der Bußpraxis und in der Feier der Eucharistie manifestiert.

b) Der Versöhnungscharakter der Eucharistie In der Eucharistie feiert die Kirche das Gedenken des Todes und der Auferstehung ihres Herrn im Sinne von Paulus: „Sooft ihr von diesem Brot eßt und aus diesem Kelch trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis er kommt" (1. Kor 11,26). Gleichzeitig gibt sie vorwegnehmend und in der Hoffnung auf sein Wiederkommen Anteil am Hochzeitsmahl des Lammes (Offb 19,9: „Selig sind, 35

die zum Hochzeitsmahl des Lammes berufen sind"). Die Vergebung der Sünden wird nur an einer Stelle in Neuen Testament als Gabe und Wirkung der Eucharistie genannt (Mt 26,28). Doch wenn man bedenkt, daß „Sündenvergebung" Angeld und Zeichen der kommenden Gottesherrschaft ist, dann kommt die Sache selbst auch in anderen Ausprägungen zur Sprache, u.zw. als die freudige Öffnung auf die Zukunft des Gottesreiches, so im „Maranatha-Ruf ' in den Eucharistiegebeten und in den hymnischen Stücken des Gottesdienstes.36 „Sakrament der Versöhnung" ist die Eucharistie als Ganzes in hohem Maße durch ihren Gemeinschaftsbezug. Der Lima-Text spricht aus: „Die eucharistische Gemeinschaft mit dem gegenwärtigen Christus, der das Leben der Kirche stärkt, ist zugleich auch die Gemeinschaft im Leib Christi, der Kirche. Das Teilhaben am einen Brot und gemeinsamen Kelch, an einem bestimmten Ort macht deutlich und bewirkt das Einssein der hier Teilhabenden mit Christus und mit den anderen mit ihnen Teilhabenden zu allen Zeiten und an allen Orten. In der Eucharistie findet die Gemeinschaft des Volkes Gottes ihre volle Darstellung. Eucharistische Feiern haben es immer mit der ganzen Kirche zu tun, wie auch die ganze Kirche an jeder einzelnen Feier der Eucharistie beteiligt ist" (E. 19). Daraus folgt: „Die eucharistische Feier fordert Versöhnung und Gemeinschaft unter all denen, die als Brüder und Schwestern in der einen Familie Gottes betrachtet werden, und sie ist eine ständige Herausforderung bei der Suche nach angemessenen Beziehungen im sozialen, wirtschaftlichen und 34

K. Baumgartner, Aus der Versöhnung leben, a.a.O., S. 43. Vgl. die Formulierung in der Anamnese der lutherischen Abendmahlsliturgie: „... daß wir mit allen Gläubigen das Hochzeitsmahl des Lammes feiern mögen in seinem Reich". 36 J. Roloff, Der Gottesdienst im Urchristentum, in: H.-Chr. Schmidt-Lauber/K.-H. Bieritz (Hg.), Handbuch der Liturgik, a.a.O., S. 59f. 35

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politischen Leben (Mt 5,23f; 1. Kor 10,16f; 11,20-22; Gal 3,28)" (E. 20). Schließlich weist das Lima-Dokument darauf hin, wie dieser Gegenstand „in den Liturgien spezifischen Ausdruck" findet „in der gegenseitigen Vergebung der Sünden; dem Friedensgruß; der Fürbitte für alle; dem gemeinsamen Essen und Trinken; dem Bringen der Elemente zu den Kranken und Gefangenen oder der Feier der Eucharistie mit ihnen. Alle diese Äußerungen der Liebe in der Eucharistie sind direkt auf das Selbstzeugnis Christi als Diener bezogen, an dessen Dienen die Christen selbst teilhaben" (E. 21).37 Diese aus dem Gedanken der κοινωνία sich ergebende Auffassung von der Eucharistie ist vor allem für Paulus wichtig. Weil die vielen an dem „einen Brot" Anteil haben, darum sind sie „ein Leib". Dieser Gedanke beruht auf der Stelle aus 1. Kor 10,16f: „Das Brot, das wir brechen, ist das nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi? Denn ein Brot ist's: So sind wir viele ein Leib, weil wir alle an einem Brot teilhaben". Das „eine Brot" ist demnach ein Zeichen der bestehenden Einheit. Augustin sieht darum im Brot des Abendmahls, welches aus vielen Körnern und im Wein des Abendmahls, welcher aus vielen Trauben gemacht ist, das „Geheimnis des einen Leibes", zu dem die Kommunikanten bereits durch die Taufe geworden sind und zu dem sie sich durch ihr Amen bekennen, wenn sie dies als Antwort auf die Spendeformel „Christi Leib für dich gegeben" sagen. Sie sind allerdings geistlich eins, wenn auch „physisch" verstreut. In dem Anaphora-Gebet des Serapion wird darum der Gedanke des einen Brotes im Gebet fur die Einheit der räumlich verstreuten Kirche gebraucht: „Und wie dies Brot verstreut war in den Bergen und zusammengebracht eins wurde, so sammle deine heilige Kirche aus allen Nationen, Ländern, Städten, Dörfern und Häusern und mache aus ihnen eine lebendige katholische (= allgemeine) Kirche." In der Did (9,4) kommt der eschatologische Charakter dieser „Sammlung" und Einheit noch deutlicher zum Ausdruck in dem Gebet, das sich auf Mt 8,11 und Lk 13,29 bezieht, wenn da über die aus Ost und Westen, aus Nord und Süd Zusammenkommenden die Rede ist, „die am Tisch des Herrn sitzen werden", wo es heißt: „Und wie dieses Brot, das wir gebrochen haben, zerstreut war auf den Bergen und dann gesammelt, eins wurde, so möge die Kirche zusammengebracht werden von den Enden der Erde in dein Reich".38 Obgleich die Kirche dadurch existiert, daß Menschen in sie als dem „Leib Christi" hineingetauft werden (1. Kor 12,13), gewinnt sie doch ihre geschichtliche Gestalt, durch die die einzelnen Glieder aneinander teilhaben und einander dienend zugeordnet sind, immer neu durch die Feier der Eucharistie. „Die Gemeinschaft am Tisch des Herrn ist verbindliche Gemeinschaft, denn sie un37 38

Taufe, Eucharist und Amt, a.a.O., S. 23f. G. Wainwright, The Ecumenical Moment, a.a.O., S. 58f.

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terstellt den, der an ihr teilnimmt, in exklusiver Weise der Herrschaft Jesu Christi (1. Kor 10,21) und weist ihn ein in die von der dienenden Selbstpreisgabe Jesu für andere geprägten Gestalt gemeinschaftlichen Lebens in der Gemeinde". 39 Darum ist die Versöhnung mit dem Bruder Voraussetzung für die Teilnahme am Tisch des Herrn. Diese Versöhnung wird in der Liturgie der alten urchristlichen Eucharistiefeier durch die Übung des „heiligen Kusses" (Rom 16, 16; 1. Thess 5,26; 1. Petr 5,14; 1. Kor 16,20; 2. Kor 13,12) zum Ausdruck gebracht sowie in der „Ausschlußformel für die Feinde Gottes" („Wenn jemand den Herrn nicht liebt, so sei er ausgeschlossen", 1. Kor 16,22; Offb 22,15). In der Ostkirche wird der Friedenskuß vor der Anaphora ausgetauscht, wodurch zum Ausdruck kommt, daß die, die in Eintracht miteinander leben, Gott „mit einem Mund" loben (Rom 15,6). Auch die meisten protestantischen Abendmahlsordnungen haben den Friedenskuß am Anfang des eigentlichen eucharistischen Teils der Liturgie eingeführt. Das neue Meßbuch von Paul VI. behält die Pax in ihrer traditionellen Stellung vor der Kommunion als Ausdruck dafür, daß brüderliche Eintracht gerade dann erfolgt, wenn alle von dem einen Brot an dem einen Tisch des Herrn teilhaben.40 G. Wainwright hat darauf hingewiesen, daß „Versöhnung" ein „RaumWort" sei (,,space"-word), im Unterschied zur „Erneuerung", die ein „Zeit"Wort ist (,,time"-word). In diesem Sinn versteht er Versöhnung als etwas, das mit „Zusammenkommen", „Zusammenbringen", also mit Vereinigung des Getrennten zu tun hat, während Erneuerung mit einem Neuanfang, mit dem Überwinden des Alten und dem Beginn eines Neuen zu tun hat, also Neuwerden, Neugeburt, Auferstehung ist.41 Die horizontale Dimension der Versöhnung meint also dieses Zusammensein und Zusammenkommen des Volkes Gottes an einem Ort: zusammen werden sie durch Christus Gott versöhnt und gemeinsam müssen sie sich versöhnen. Gemäß diesem Verständnis der Versöhnung von ihrem räumlichen Aspekt her, ist die Eucharistie der Ort, an dem Christen „einmütig mit einem Mund Gott loben, den Vater unseres Herrn Jesu Christi" (Rom 15,6). Durch Christus bringen sie Gott Dank, den er „der Welt zum Heile gesandt hat, auf daß wir durch seinen Tod Vergebung der Sünden und durch seine Auferstehung das Leben haben". Mit den Engeln und Erzengeln loben sie ihn und mit einhelligem Jubel preisen sie ihn für das Werk der Erlösung (so in der Abendmahlsliturgie). Auch die Tatsache, daß wir in der Anamnese des „heilbringenden Leidens und Sterbens" Christi am Kreuz geden39

J. Roloff, Der Gottesdienst im Urchristentum, in: H.-Chr. Schmidt-Lauber/K.-H. Bieritz (Hg.), Handbuch der Liturgik, a.a.O., S. 59. 40

J. Roloff, Der Gottesdienst im Urchristentum, in: H.-Chr. Schmidt-Lauber/K.-H. Bieritz (Hg.), Handbuch der Liturgie, a.a.O., S. 51. 41

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G. Wainwright, The Ecumanical Moment, a.a.O., S. 54.

ken, ist von daher zu verstehen. In der Eucharistiefeier erfahren wir demnach die Versöhnung, die Christus vollbracht hat, und wir bringen diese Erfahrung in der Sprache des „Raumes" zum Ausdruck: in ihm haben wir Zugang" zum Vater, wir „nähern uns dem Thron der Gnade". Das kommt auch in den „räumlichen" Symbolen von „Erheben" und „Herablassen" zum Ausdruck: Das „Erhebet eure Herzen" ist gemäß dem Heiligen Cyrill von Jerusalem, ein Hinweis darauf, daß wir gebeten werden, „unser Herz im Himmel mit Gott zu haben, der die Menschheit liebt", im Sinne von Kol 3,1-4. Dieses „Erheben des Herzens" und - seitens des Priesters - der „Augen" (im römischen Kanon heißt es in den Rubriken für den Priester: Elevât occulos at caelum) deutet symbolisch auf die Versöhnung zwischen Gott und Mensch hin, die durch Jesus Christus verwirklicht wurde und die in ihm - im Vollziehen des Sakraments - weiter wirkt. Dem „Sursum corda" entspricht auf der anderen Seite kontrapunktisch das „Hinabsenden des heiligen Geistes" auf das Volk („auf uns") - in der östlichen Chrysostomusliturgie „auf Brot und Wein" - in der Epiklese. Auch hier findet sich ein Ausdruck der Begegnung zwischen Gott und Mensch in der Eucharistie, der die Versöhnung meint. Dieses „räumliche Zusammenkommen" wird in der frühen Kirche zur Bezeichnung für gottesdienstliche Versammlung überhaupt (1. Kor 11,20; 14,23; bei Ignatius, Ad Eph. 13,1). Die Didache verwendet das Verbum συναγείν für die eucharistische Versammlung und das Wort σύναξις für die eucharistische Feier. Der bedeutsame Zusammenhang zwischen Versammlung und dem horizontalen Aspekt der Versöhnung wird in Did 14,2 deutlich: „Niemand, der einen Zank mit dem anderen hat, darf,zusammenkommen', bis er sich versöhnt hat[...]".42 Doch das „räumliche" Verständnis der Versöhnung führt uns noch weiter: Versöhnung ist universal, ja kosmisch zu verstehen: sie bezieht sich auf den ganzen Raum der Welt, nicht nur auf das „Versammeln" in der „lokalen" Gemeinde oder Kirche. Einzelne Stücke des Brotes bei der orthodoxen Proskomidie um das „Lamm" herum - die Jungfrau Maria, Johannes der Täufer, die Propheten, die Apostel, die Heiligen, die im Glauben Entschlafenen und die Kirche auf Erden - meinen in einer syrischen Tradition der Farbensymbolik das Universum, die Welt und die Kirche und unterscheiden damit die irdische, kirchliche und die kosmische Dimension der Schöpfung und Erlösung bzw. Versöhnung. Das bedeutet, daß diejenigen, die sich zum Sakrament versammeln, nicht nur die empfangene Versöhnung zum Ausdruck bringen, sondern ausgesendet 42 Auch hier die Anlehnung an Mt 5,23f. Vgl. P. Philippi, Abendmahlsfeier und Wirklichkeit der Gemeinde, a.a.O., S. 161f; W. Eiert, Abendmahl und Kirchengemeinschaft, a.a.O., S. 69.

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werden - im Sinne des „Ite missa est" am Schluß der römisch-katholischen Messe - als Botschafter der Versöhnung in der Welt gemäß der Aufforderung „Lasset euch versöhnen mit Gott". Die im Sakrament vollzogene Versöhnung muß also in der Gesellschaft und Welt ausgebreitet werden. Ein Kennzeichen fur dieses Verständnis war auch das „Mit-nach-Hause-Nehmen" des geweihten Brotes, mit dem gleichsam die „communio" miteinander auch im Alltag der Woche zum Ausdruck gebracht wurde. Die Versöhnung soll ebenso unter die gebracht werden, die Christus noch nicht gefunden haben. Das bezieht sich auch auf die Kirche: Die Eucharistie als Sakrament der Versöhnung hat einen entscheidenden Anteil an der Versöhnung der christlichen Gemeinden und Kirchen untereinander, deren Trennung im Widerspruch zu ihrer eigenen Botschaft steht. Der „Raum" der Versöhnung darf in diesem Sinne nicht auf die „lokale Kirche" beschränkt werden; es ist immer die ganze Kirche gemeint. „In jeder einzelnen Kirche ist die gesamte Kirche gegenwärtig".43 Auch das II. Vaticanum spricht von der liturgischen Versammlung als „praeci-pua manifestatio Ecclesiae" (Konstitution von der heiligen Liturgie 41). Das gemeinsame sich Versammeln der getrennten Brüder und Schwestern am einen Tisch des Herrn bewirkt dadurch Versöhnung untereinander.44 So kann die Eucharistie, als wirksames Sakrament der Versöhnung, die Getrennten durch ihren gemeinsamen Herrn auf allen Ebenen zusammenbringen. Die Eucharistie kann mit Recht als „Sakrament der Versöhnung" bezeichnet werden, „weil sie den Tod und die Auferstehung Christi feiert, jenes Geheimnis, in dem sich das Heil verwirklicht und nicht nur, weil sie in einem oder anderen Stück der liturgischen Abfolge „Momente" der Buße oder Versöhnung enthält. In der Tat kann daran erinnert werden, daß die Meßliturgien die Generalabsolution nach der Predigt gekannt haben, die im Mittelalter ein kleiner Bußritus vor der Kommunion nach dem Gebot von Mt 5,23f, 6,12f und Did 14,2 waren. Auch in evangelischen Kirchen gibt es - zu Beginn des Abendmahls bzw. des Gottesdienstes - ein Bekenntnis der Sünden und eine Absolution, während das „Book of Common Prayer" ein allgemeines Sündenbekenntnis und eine Absolution vor der eucharistischen Präfation enthält. Hierher gehört auch der Friedensgruß, über den noch gesondert zu sprechen sein wird. Abgesehen von diesen Elementen der Buße und Versöhnung ist die eucharistische Handlung als solche zutiefst eine versöhnende Handlung, ein Sakrament des Verzeihens und des Friedens in Jesus Christus. Im römischen Meßbuch, im „eucharistischen Hochgebet", wird sie als „Opfer, das uns versöhnt" bezeichnet.

43

M. Afanasief, Le sacrament de l'assemblée, in: Internationale Kirchliche Zeitschrift 41/ 1956, S. 200-213, bei G. Wainwright, The Ecumenical Moment, a.a.O., S. 61. 44

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G. Wainwright, The Ecumenical Moment, a.a.O., S. 59-62.

Über diesen Charakter der Eucharistie - wie der Taufe - gibt es eigentlich keinen Zweifel. Das Problem, das sich uns stellt und nach Klärung verlangt, ist die Frage, warum denn noch das Bußsakrament neben Taufe und Eucharistie in der kirchlichen Praxis Eingang gefunden hat. Dieses Paradox der Überlieferung hat zu vielen Debatten geführt. Zum Beispiel bleibt bis heute die Frage, ob die Buße - freilich als Beichte verengt - als Bedingung für den Empfang der Kommunion wirklich nötig sei oder ob sie beide nebeneinander bestehen können, weil jede in ihrer Weise Vergebung der Sünden verleiht. Ein Ausweg war auch der, daß man die Eucharistie als Gemeinschaftsmahl unter Absehung dieses Gesichtspunktes, also als freudiges Hochzeitsmahl interpretiert hat, zu dessen Empfang keine „Bedingungen" zu erfüllen seien. Die Erklärung in der klassischen katholischen Theologie, womit man auf die Unterscheidung zurückgriff, daß der Beichte die Vergebung der „Todsünden" und der Eucharistie die „lässigen Sünden" zuzuordnen seien, ist unbefriedigend geblieben, weil sie theologisch nicht stichhaltig ist. Neuere Forschungen haben gezeigt, daß man das Problem auf diese Weise nicht lösen kann. Diese Unterscheidung geht auf die alttestamentliche Vorstellung zurück, daß es Sünden gebe, die durch Opfer vergeben werden, und andere, bei denen dies nicht der Fall ist. Paulus hat den Gedanken aufgenommen, daß die Sünden, die durch Teilnahme am Herrenmahl nicht vergeben werden, diejenigen sind, die einen von der Kirche abschneiden, weil sie schuldig machen am Leib des Herrn. Nicht alle schweren Sünden also erfordern öffentliche Buße, sondern nur sofern diese den Leib des Herrn spalten (Apostasie), oder menschliche Beziehungen (durch Ehebruch) bzw. die Gesellschaft (durch Mord) schwer unterhöhlen. Aber auch diese Antwort befriedigt nicht, weil die Buße der Eucharistie zugeordnet ist, nicht umgekehrt. Denn „die Eucharistie ist zugleich das Ziel, die Richtschnur und die liturgische Quelle der Buße".45 Man muß die Dinge wohl folgendermaßen sehen: Die Eucharistie ist das Sakrament, durch das alle, selbst schwere Sünden vergeben werden und der Bund des Heils erneuert wird. Aber einige abscheuliche Sünden trennen einen vom heilenden Leib der Kirche und unterliegen darum einer besonderen Zucht. Es muß bedacht werden, daß die Frage, welches Sakrament Sünden nachläßt, nicht existierte, als die theologisch-rituelle Gestalt der Eucharistie für die Vergebung der Sünden ausgearbeitet wurde. Denn sie ist Jahrhunderte älter als die spätere Entwicklung der privaten Buße. Darum muß man hier unterscheiden: Nicht die Sünde ist es, welche nötig macht, daß es über die Eucharistie hinaus der Buße bedarf, sondern „die Verhaftung an die Sünde, die Verweigerung der Arznei

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R.F. Taffi S.J., Penance in Contemporary Scholarship a.a.O., S. 15f.

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der Unsterblichkeit", die darin besteht, daß man sich vom Leib der Kirche . .46 trennt.

c) Die Buße als Versöhnungshandlung Die Frage des Stellenwertes der Buße zwischen Taufe und Abendmahl gewinnt an Gewicht, wenn wir uns in Erinnerung rufen, daß auch die Reformatoren die Buße als mittelalterliche Einzelbeichte gekannt haben und sich für ihre Beibehaltung einsetzten. Die CA lehrt im XII. Artikel „Von der Buße" - in dem also über die im Mittelalter übliche „Beichte", von der der XI. Artikel handelt, hinausgegangen wird „Von der Buße wird gelehrt, daß diejenigen, die nach der Taufe gesündigt haben, zu aller Zeit, wenn sie zur Buße kommen, Vergebung der Sünden erlangen und ihnen die Absolution der Kirche nicht verweigert werden soll [...] Hier werden verworfen die, welche lehren, daß die einstmals fromm geworden sind, nicht wieder fallen können. Dagegen werden auch verdammt die Novatianer, welche die Absolution denen, die nach der Taufe gesündigt haben, verweigern. Auch werden die verworfen, die nicht lehren, daß man durch Glauben Vergebung der Sünden erlangt, sondern durch unsere Genugtuung". Und die Apologie der Augsburgischen Konfession erklärt ihrerseits, daß die Taufe, das Abendmahl des Herrn, die Absolution - die Buße „wahre Sakramente sind" (Art. XIII). Allerdings ist diese „Buße" nicht mehr die gleiche wie in der alten Kirche, sondern beschränkt sich auf Beichte und Absolution (vor dem Priester und geheim) und ist nicht mehr öffentlich, aber auch nicht mehr eine einmalige „Feier", sondern ein ständig wiederholbarer Akt. Mit der Einführung der Buße, die in der mittelalterlichen Kirche sogar zu einem Sakrament wurde, das auch zeitweilig von den Reformatoren als solches anerkannt war, hat sich die Kirche eine Disziplin geschafft, durch welche sie über die Taufe und Eucharistie hinaus der Realität der Sünde in besonderer Weise begegnet. Die Einfuhrung der kanonischen Buße im 3. Jahrhundert hatte die Lösung einer Frage im Auge, in der man bis dahin unsicher war, u.zw., wie man mit ganz besonders schweren Fällen umgehen solle. Paulus plädiert für den Ausschluß der Sünder, die Matthäusgemeinde (18,15-17) will den Sünder erst dreimal drängen, ehe sie ihn „als Heide und Zöllner" betrachtet, und die Lukasgemeinde möchte weitergehen und siebenmal am Tage verzeihen (Lk 17,3-4). Die kanonische Buße war eine klare kirchliche Regelung dieser Frage durch ein rechtliches und liturgisches Handeln der Gemeinde nach einer vorgeschriebenen Ordnung. An dieser Stelle soll etwas näher darauf eingegangen werden.

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R.F. Tafft S.J., Penance in Contemporary Scholarship, a.a.O., S. 16.

Erste Impulse, die zu einem großen und lang währenden Einfluß werden sollten, gab der „Hirt des Hermas", eine Schrift aus dem 2. Jahrhundert, die die ausführlichste Mahnung zur Buße enthält. Sie fuhrt aus, daß der Ruf zur Umkehr und Vergebung angesichts des erwarteten Weltendes auf eine nicht näher datierte Gnadenfrist beschränkt sei. Zur Umkehr muß gerufen werden, wer nach seiner Taufbuße erneut sündigte. Diese soll selbst dem verworfenen und groben Sünder offenstehen. Diese „zweite Buße" nach öffentlichem Sündenbekenntnis fur den Getauften wird zur kirchlichen Regel und führt zu einer greifbaren Gestalt und geordneten Buße. Der eschatologische Aspekt verlagert sich auf den ekklesiologischen Aspekt. Das geschieht auch nachdem das Weltende ausbleibt und die Verfolgung des Christentums aufhört und Abgefallene wieder in die Kirche eingegliedert werden müssen. Die Praxis sieht dann in Rom und Nordafrika so aus: Die Büßer im Trauergewand bekennen ihre Sünden vor der Gemeinde (Exhomologese) und erflehen die Fürbitte der Gemeinde und ihre Wiederaufnahme. Das Recht zur Sündenvergebung und Rekonziliation liegt bei der Gemeinde. Doch beanspruchen Geistesträger, Konfessoren und Märtyrer das Recht zur Vergebung für Todsünder. Die frühe Praxis der Buße besteht also in der Exkommunikation, der nach bestimmten Voraussetzungen die Wiederversöhnung folgen kann. Die Entwicklung geht dann so weiter, daß zwischen der Fürbitte der Gemeinde und der Handauflegung des Bischofs unterschieden wird. Es ist dies dieselbe geistverleihende Handauflegung, die auch bei der Taufe vollzogen wird. Sowohl „die brüderliche Zurechtweisung wie die Exkommunikation und Rekonziliation sind ganz personal, relational, gemeinschaftsbezogen aufgefaßt und gestaltet". Damit wird also „deutlich, daß der sakramentale Charakter der Absolution keine Schöpfung des Mittelalters ist, sondern sich folgerichtig aus dem sakramentalen Charakter der Taufe einerseits, der Kirche überhaupt andererseits ergab".47 Nach der Überwindung der Rigoristen, die Todsünder für immer ausschließen wollten (Montanisten), oder die Sündenvergebung nur reinen Pneumatikern, aber nicht dem Bischof, zubilligten (Novatianer), bildete sich im 3. Jahrhundert eine ziemlich einheitliche Gestalt des Bußwesens heraus, wie wir sie oben beschrieben haben.48 An dieser Stelle muß nochmals an den Bezug der Buße zur Taufe erinnert werden. Die Bußrituale enthalten bis ins Mittelalter: a. das Glaubensbekenntnis in Frage-Antwort-Form, welches jenem der Taufe gleicht (zum Beispiel im Ritual von Fleury). Die Formulierung der Fragen läßt an eine Auseinandersetzung mit einer bestimmten Häresie denken. Trotzdem kann man eine strukturelle

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H. Dombois, Das Recht der Gnade, Bd. I., Witten 1961, S. 736. Siehe oben, S. 225f. Vgl. H. Lins, Buße und Beichte - Sakrament der Versöhnung, in: H.-Chr. Schmidt-Lauber/K.-H. Bieritz (Hg.), Handbuch der Liturgik, a.a.O., S. 355f. 48

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Annäherung zur Feier der Taufe beobachten; b. den Fußfall, vergleichbar dem Eintauchen ins Wasser; c. die Handauflegung, wie bei der Taufe; d. die Salbung (ζ. B. im Bußritual von Halitgaire), und e. den Akt der Versöhnung, der wie bei der Taufe (wieder-)einfuhrt in die Gemeinschaft der Kirche und somit von neuem den vollen Zugang zur Eucharistie erlaubt. Die Buße soll also die Taufe nicht in Frage stellen, sondern sie in den verschiedensten Umständen der Existenz des Christen aktualisieren. Wenn Getaufte sich so verhalten haben, daß sie offensichtlich außerhalb der christlichen Gemeinschaft stehen, so ist ihr Taufstatus betroffen und somit ihre Fähigkeit zur Eucharistie in Frage gestellt. Die Bußdisziplin soll die Büßer unter Wiederaufnahme des Gedankens der Umkehr, der zur Taufe gehört, mit Gott und der Gemeinde neu versöhnen. So allein konnte man auch an der Eucharistie teilnehmen. Darum gehört zur Buße auch eine eucharistische Ausrichtung. Justin der Märtyrer schreibt in seiner ersten Apologie über die Eucharistie: „Niemand kann daran teilnehmen, wenn er nicht an die Wahrheit unserer Lehre glaubt, wenn er nicht das Bad der Vergebung der Sünden und die Wiedergeburt empfangen hat und wenn er nicht so lebt, wie Christus es vorgeschrieben hat". Es geht also schon früh um „Zulassungsbedingungen" zur Eucharistie. Schon Paulus empfiehlt den Korinthern, sich vor dem Abendmahl zu prüfen, bevor sie essen und trinken, damit es ihnen nicht zu ihrer eigenen Verdammnis gereiche (1. Kor 11,28-32). Die Didache sieht nicht nur das Bekenntnis der Sünden vor der Eucharistie vor, sondern auch die Notwendigkeit der Versöhnung „aus Angst, daß euer Opfer nicht entweiht werde". Denn, so lautet das Wort des Herrn: „daß an jedem Ort mir ein Opfer dargebracht werde". Unter den Bußsanktionen ist auch der Ausschluß von der eucharistischen Kommunion vorgesehen, was einer Teilexkommunikation entspricht. Die Schlußversöhnung am Ende eines Bußverfahrens, die Re-konziliation - Wiederaufnahme - bedeutet immer auch das Ende der eucharistischen Enthaltsamkeit; erst wenn die Büßer wieder in die Gemeinde eingegliedert sind, sind sie zum Mahl des Herrn zugelassen. Der Bezug zur Eucharistie wird in der mittelalterlichen Bußordnung bis in die Gegenwart in doppelter Weise festgehalten: durch die allgemeine Bußhandlung vor dem Beginn der Feier, nach dem Wortgottesdienst oder gerade vor der Kommunion und weiterhin durch die Verpflichtung zur Beichte vor der Kommunion. Letzteres war ein individuelles und oft moralisches Umgehen mit der Buße, weniger ein ekklesiologischer Gesichtspunkt, wie das beim Bußverfahren der Fall ist. Die Kirchen der Reformation haben eher das allgemeine Bußwesen - als Bußhandlung, allgemeine Beichte u.a. - beibehalten und sind von 49 der individuellen, der Einzelbeichte, verhältnismäßig schnell abgekommen. 49

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P. De Clerck, Salvation or Reconciliation, in: StLi, a.a.O., S. 65.

An dieser Stelle ist auch der Friedensgruß zu erwähnen, der in der heutigen Eucharistiefeier anstelle der verlorengegangenen vorherigen Versöhnung eingebaut ist, etwa vor der Austeilung, mit der Aufforderung „Gebt einander ein Zeichen des Friedens und der Versöhnung". Er kann auch in der Geste der Umarmung als leibhaftig-ganzheitlicher Ausdruck Zeichen der Versöhnung sein. Im Neuen Testament in der alten Kirche war dies Zeichen der Versöhnung der „heilige Kuß" (φίλγμα αγιον, Rom 16,16; 1. Kor 16,20; 2. Kor 13,12, 1. Thess 5,26). Nach 1. Petr 5,14 soll man „einander mit dem „Kuß der Liebe" grüßen. Auch in den Versöhnungsgeschichten spielt der Kuß eine Rolle. Der barmherzige Vater im Gleichnis von den beiden Söhnen läuft dem heimkehrenden Sohn entgegen, fallt ihm zum Zeichen der Freude und Versöhnung um den Hals und küßt ihn (Lk 15,20). Weil der Kuß bei der Gefangennahme Zeichen des Verrates war, wurde in der Liturgie vor dem Zweiten Vaticanum bei der Abendmahlsfeier am Gründonnerstag und bei der Feier des Karfreitags kein Friedensgruß ausgetauscht. Der ursprüngliche Ort des Friedenskusses in der Abendmahlsliturgie war die Gabenbereitung als Besiegelung des vorangegangenen Gebetes und Ausdruck der brüderlichen Gesinnung fur den, der seine Gaben zum Altar bringt. Dabei muß bedacht werden, daß Entzweiung zwischen Brüdern in der alten Kirche vor allem Häresie bedeutet, wenn das Bekenntnis gemeint ist, aber auch persönliche Zwistigkeiten im Auge hat, wenn damit die Koinonia verletzt wird. Die Ordnungen der alten Kirche machten den Abendmahlsteilnehmern zur Pflicht, Zwistigkeiten vor der Feier des Mahles aus dem Weg zu räumen (schon Did 14,2). Dabei wurde auf Mt 5,23f zurückgegriffen und diese Stelle jedesmal verlesen. Die Didascalia ordnet an, daß vor dem Gemeindegebet der Diakon mit lauter Stimme frage, ob einer etwas gegen seinen Bruder habe. In diesem Fall soll der Bischof zwischen den Streitenden Frieden stiften.50 Es ist anzunehmen, daß es also vor dem Abendmahl schon in der frühen Kirche den Versöhnungsakt, vor allem durch den Bruderkuß, gab. Versöhnung bzw. Friedenskuß haben demnach nicht nur einen festen Platz in der Liturgie (am Anfang des eucharistischen Teils oder jedenfalls vor der eigentlichen Kommunion), sondern werden allmählich zur Pflicht vor der Kommunion gemacht. Kommt die Versöhnung nicht zustande, soll nicht kommuniziert werden. In der Zeit von Papst Gregor dem Großen wurde der Friedenskuß als Ausdruck der gegenseitigen Vergebung im Sinne des Vaterunserwortes „wie wir vergeben unseren Schuldigern" als Vorbereitung auf den Empfang der Kommunion praktiziert, in der uns Gott die Schuld vergibt. Zeichen dafür ist, daß er häufig nur unter denen ausgetauscht wurde, die die Kommunion empfingen. In Klöstern galt später die Regel, daß die Pax nur an Kommuniontagen empfangen werde: der Friedenskuß war Vorbedingung des Empfangs der Kommunion. Daher rührt ì0

W. Eiert, Abendmahl und Kirchengemeinschaft, a.a.O., S. 65.

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der frühere Brauch, daß in der Bischofsmesse Kommunikanten unmittelbar vor Empfang des Abendmahls den Ring des Bischofs küssen. Später ist der Friedenskuß sogar eine Art Kommunionersatz geworden. Der Friedenskuß ging vom Altar aus wie eine Botschaft oder Gabe, die aus der Gegenwart des eucharistischen Herrn vom Altar her kommt und dann weitergegeben wird. Daher rührt der alte Brauch, das Meßbuch oder die konsakrierte Hostie zu küssen. Die späteren Ausdrucksformen des „heiligen Kusses" oder „Friedenskusses" sind Handreichen, Umarmen, Handkuß des Nachbarn (in der ostsyrischen Liturgie) oder Verneigung (in der orthodoxen Kirche unter den Geistlichen). In England entwickelte sich der Brauch, daß man den Friedenskuß mittels der oft kostbar ausgestatteten Pax-Tafel, dem sogenannten Osculatorium bzw. Instrumentum pacis austauschte. Im römischen Meßbuch von 1970 bzw. 1975 wird der Friedensritus wie folgt vollzogen: Nach dem Friedensgebet des Priesters schließt sich ein an die Gemeinde gerichteter „Friedenswunsch" des Priesters mit Ausbreitung der Hände als angedeutete kollektive Umarmung und die Antwort der Gemeinde an. Es folgt dann das - nicht verpflichtende - Zeichen des Friedens, das Priester und Gläubige sich untereinander geben. Dabei hat sich der Brauch entwickelt, mit dem linken und rechten Nachbarn einen Handdruck zu wechseln. Eine andere Weise der „Feier der Versöhnung" in der katholischen Meßfeier ist das „Hochgebet der Versöhnung", das 1975 mit dem Anliegen „Buße und Versöhnung" eingeführt worden ist. Es soll dann verwendet werden, wenn das Thema der Versöhnung besonders aktuell ist, z.B. in der österlichen Bußzeit, bei Wallfahrten oder geistlichen Zusammenkünften. 51 Schließlich sei auf die verschiedenen Formen des „allgemeinen Sündenbekenntnisses", auf die Vergebungsbitte sowie die Kyrie-Litanei mit entsprechender Anrufung zu Beginn der Eucharistiefeier hingewiesen. Denn diesen Bußritus zu Beginn der Meßfeier hat Papst Paul VI. in seiner apostolischen Konstitution „Missale romanum" von 1969 einen „Ritus der Versöhnung mit Gott und unseren Brüdern" genannt, während er vorher zu den Privatgebeten des Priesters gehörte.52 Auch in der lutherischen Kirche wird das gesamte Tun der Kirche in ihren gottesdienstlichen Handlungen als Versöhnung mit Gott und untereinander verstanden, das durch das Wort Gottes und die Sakramente empfangen und ver53

mittelt wird. Nach Wolfgang Böhme ist das spezielle „Zeichen der Versöhnung" die Beichte in ihren verschiedensten Ausformungen und Bezügen zum eucharistischen Gottesdienst. Die neue liturgische Agende (Bd. III) bringt die 51

Den Wortlaut des Präfationsgebetes siehe Einleitung, S. 18, Fußnote 6. K. Baumgartner, Aus der Versöhnung leben, a.a.O., S. 40-42. 53 W. Böhme, Beichtlehre flir evangelische Christen, Stuttgart 1956, S. 56ff. Vgl. den Titel der Neuauflage 2 1969: „Zeichen der Versöhnung". 52

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Einzelbeichte an erster Stelle (ebenso das amerikanische „Lutheran Book of Worship") und erst an zweiter Stelle die gemeinsame Beichte. Die obligate Verbindung von Beichte und Abendmahl ist vom lutherischen Agendenwerk grundsätzlich aufgehoben. Das rührt gerade aus dem Bemühen, die Beichte als selbständiges Gnadenmittel und Zeichen der Versöhnung rückzugewinnen. Allerdings hat es in der Gemeinde keine Folgen für die Wiederbelebung der Beichte gehabt. Geblieben ist das Bedürfnis nach richtiger Vorbereitung auf den Kommunionsempfang durch die gemeinsame Beichte; zwar als gesonderter Gottesdienst, aber in unmittelbarer Nähe zur Messe (oder dem Abendmahlsgottesdienst). Als Beichtersatz wird auch das Rüstgebet der Agende I. verstanden. Die amerikanischen Lutheraner haben eine kurze Ordnung der Beichte und Vergebung vor dem Beginn der Messe mit Absolutionsformel oder allgemeiner Gnadenverkündigung angeschlossen. Aufschlußreich ist, daß die Praxis in der evangelischen Kirche weltweit zeigt, daß die Versöhnungselemente der Beichte (Einzel- und Allgemeinbeichte) weniger Beachtung finden als das Bedürfiiis der Versöhnung untereinander vor dem Abendmahl.54 Die Krise der heutigen Beichtpraxis in allen Kirchen (inklusive der katholischen) zeigt uns, daß die mittelalterliche Entwicklung des Bußwesens zur Einzelbeichte und damit die Verschmelzung beider Handlungen unter dem einen Namen „Beichte" eine verhängnisvolle Entwicklung war. Heute stellen wir fest, daß wir dem christlichen Altertum kirchlich näher stehen als dem Mittelalter und eine Rückbesinnung auf die ursprüngliche Bußpraxis hilfreich ist. Die Ersetzung der alten Buße durch die Tarifbuße war eine Individualisierung und Moralisierung des Sakraments durch mönchischen Einfluß, die zwar den geistlichen Rat, die Begleitung aber auch die Beeinflussung und Seelenführung im Auge hatte, aber eine Einschränkung der ursprünglichen Versöhnung auf einen ihrer Teile bedeutete und darum neu durchdacht werden muß. Das bedeutet nicht ein Plädoyer für die Abschaffung der Einzelbeichte und den Verzicht darauf. Im Gegenteil: Die Aussprache mit dem Beichtvater, die Möglichkeit des Beichtbekenntnisses, die Chance, daß jemand zuhört, und der Austausch mit geistlichen Lehrern ist weiterhin und allezeit nötig. Der Verlust dieser Einrichtung hat die Menschen zu dem Psychotherapeuten getrieben. Verkehrt und fatal war jedoch die enge Beziehung dieser Einrichtung zur kirchlichen Buße. Es muß also der geistliche Ratschlag aufgrund von Beichte und Bekenntnis (verbunden mit Vergebung) von der Buße getrennt werden, die die kirchliche Disziplinierung und Rekonziliation mit der Gemeinde darstellt. So allein werden beide Formen die Geltung zurückgewinnen, die ihnen zukommt, ohne daß die eine die Rolle der anderen übernehmen müßte. In der siebenbürgischen Kirche haben sich beide Traditionen gesondert erhalten.

54

O. Jordahn, The Practice of Penance in the Lutheran Church, in: StLi, a.a.O., S. 103-105.

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3. Die Verkündigung des Wortes Gottes als Element des Versöhnungsgeschehens

Die hervorragende Bedeutung des sakramentalen Handelns der Kirche für die Versöhnung läßt uns Protestanten leicht vergessen, was Thema der Erörterungen schon seit dem frühen Mittelalter war: daß die Verkündigung des Wortes Gottes, vornehmlich durch die Predigt, ein wichtiges Element des Versöhnungsgeschehens ist. So stellt sich die Frage, ob Buße und Versöhnung nur im Bereich des sakramentalen Vollzugs der Kirche beheimatet sind, oder ob Predigt, und das heißt Verkündigung des Wortes - abgesehen vom Sakrament nicht ebenfalls neue Impulse für die Wiederbelebung der Versöhnung auslösen kann. Mit anderen Worten: Ist das Bußhandeln, das zu Versöhnung untereinander fuhrt, nicht auch Frucht der Verkündigung? Ist das Wort nicht, ebenso wie das Sakrament, ein Instrument, mit dem - gemäß CA 5 - durch den heiligen Geist Glauben, und das heißt gleichzeitig Büß- und Versöhnungsbereitschaft bewirkt wird? Doch wir haben uns nicht nur das Predigen über Beichte und Buße abgewöhnt, sondern in unserer neuen Gottesdienstordnung sogar die „Ansprache" vor der allgemeinen Beichte, die dem Abendmahlsgottesdienst vorausgeht, abgeschafft. Aber wir sollten neben der sakramentalen Dimension der Buße die Bedeutung des Hörens des Wortes nicht unterschätzen, durch das der Mensch sich als Sünder erfahrt und durch das in ihm die Bereitschaft zur Buße und Versöhnung ihren Anfang nimmt. In den Abschiedsreden bei Johannes sagt Jesus: „Ihr seid schon rein durch das Wort, das ich euch gesagt habe" (Joh 15,3). Die vergebende und heilende Kraft des Wortes Gottes darf darum nicht außer Acht gelassen werden. Dies gilt nicht nur im protestantischen Gottesdienst; auch in der tridentinischen Meßliturgie heißt es am Ende der Evangeliumslesung: „Das Wort des Evangeliums tilge unsere Sünde" („Per evangelica dicta deleantur nostra delieta"). Diese Rolle des Wortes der Verkündigung ist ebenso in den östlichen Kommentaren, angefangen vom 5. bis zum 11. Jahrhundert, ständiges Thema. Auch im heutigen Katholizismus ist diese Dimension der eigenen Tradition in jüngster Zeit neu entdeckt worden.55

55 Vgl. zum Ganzen: R.F. Tafft S.J., Penance in Contemporary Scholarship, a.a.O., S. 14. Dort der Hinweis auf R. Kaczynski, Das Wort Gottes im Alltag der Gemeinden des Johannes Chrysostomus (Freiburg-Basel-Wien 1974).

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a) Erziehung zur Buße und Wiedergutmachung in der mittelalterlichen Kirche Es soll hier zunächst auf die Bibel zurückgegriffen werden. Die Bußpredigt und ihre Wirkung von Bekehrung und Versöhnung ist schon im Alten Testament häufig thematisiert. Eines der eindrücklichsten Beispiele bringt das Buch Jona. Hier wird berichtet, wie dieser Mann, der vor dem Auftrag flieht, den Leuten von Ninive Buße zu predigen, weil er den Auftrag als - unangenehme und undankbare, vielleicht gar gefährliche - Gerichtspredigt verstanden hat, sich schließlich diesem Auftrag doch stellt, dann aber erfahrt, daß Gott sie als Heilsbotschaft meint. Aufgrund der Predigt des Jona bekehren die Leute sich, werden mit Gott versöhnt, dürfen leben und „die Fülle haben". Allerdings: Daß es soweit kommt, hängt mit dem Umweg des Jona zusammen, der seine Wandlung auf dem Schiff und im Bauch des Fisches „er-fahren" muß, um schließlich umzukehren zu einem neuen Leben und um den rechten Weg zu finden. Als ein weiteres eindrückliches Beispiel sei an die Geschichte Josefs und seinen Versöhnungsakt erinnert, den er genau und bis ins Detail vorbereitet, sozusagen „inszeniert", um in seinen Brüdern, die ihm in die Hand gefallen sind, das Schuldbewußtsein zu wecken. Es mußte etwas geschehen, und sei es ein solcher Nachvollzug der Ängste und des Schuldbewußtseins, wie sie Josef in seinen Brüdern bewirkt, damit sie zu Reue und Buße finden und somit echte Versöhnung stattfinden kann, wie das schließlich zwischen Josef und den Brüdern auch geschieht. Aber ohne sein Wort, seine „Strafpredigt", aber auch seine mit dem gesprochenen Wort geschehene „Seelenftihrung" - abgesehen von Büß- und Versöhnungsformen - wäre die Aussöhnung nicht zustande gekommen. Auch mit dem Einzelnen kann man auf diese Weise vorgehen. Nathan bringt David zum Bekenntnis seiner Schuld, zu Buße und Absolution durch seine erzählende Predigt von dem reichen Mann, der seinem armen Nächsten das einzige Schaf wegnimmt. Nach einer so schweren Sünde, wie es die Ermordung eines Menschen und der Ehebruch ist, trifft den König gerade das Wort des Propheten „Du bist der Mann", und auf diese Weise wird ein Versöhnungsakt in allen seinen Formen durch das Wort des Propheten vorbereitet und eingeleitet. Im Neuen Testament ist der Bericht vom ersten Pfingsten wohl die eindrücklichste Veranschaulichung dieses Aspektes. Hier fuhrt die Ausgießung des heiligen Geistes, die fur viele den Eindruck von Trunkenheit und Sinnesverwirrung macht, zu der Predigt des Petrus, der die Geister unterscheiden hilft und das Geschehen deutet. Als die dort Versammelten seine Predigt hörten, „ging's ihnen durch das Herz und sie sprachen zu Petrus und den anderen: ihr Männer, liebe Brüder, was sollen wir tun?" (Apg 2,37). Es wird nicht nur die Antwort gegeben: „Tut Buße und jeder von euch lasse sich taufen auf den Namen Jesu

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Christi zur Vergebung der Sünden", sondern diese Antwort bewirkt auch, daß sie sein Wort annehmen, also Buße tun. Hier heißt es weiter: „Und an diesem Tage wurden hinzugefügt etwa dreitausend Menschen" (Apg 2,41). Dieses Büß- und Versöhnungsgeschehen wurde durch die Predigt des Petrus aufgrund der ihm von Jesus zugesprochenen Vollmacht, „zu binden und zu lösen" (Mt 16,19) bewirkt. Sie ist den Jüngern und Aposteln im allgemeinen übertragen: „Wahrlich, ich sage euch: alles, was ihr auf Erden binden werdet, soll auch im Himmel gebunden sein, und was ihr auf Erden lösen werdet, soll auch im Himmel gelöst sein" (Mt 18,18). Nach Johannes ist diese Vollmacht noch deutlicher auf die Sündenvergebung bezogen: „Welchen ihr die Sünden erlaßt, denen sind sie erlassen; und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten" (Joh 20,23). An dieser Stelle soll auf die Problematik des „Bindens und Lösens" nicht näher eingegangen werden. Soviel mag als Hinweis genügen, daß das Reden vom „Binden und Lösen" auf die jüdisch-rabbinische Terminologie zurückgeht, wo man von einer Instanz weiß, die von der Pflicht der Gesetzeserfullung im Blick auf eine bereits erfolgte Übertretung mit verbindlicher Vollmacht befreien kann, wobei diese keine generelle Vollmacht zur Sündenvergebung impliziert. Doch im Neuen Testament meint Binden und Lösen, Menschen von allen ihren Sünden entweder zu entbinden oder diese von ihren Sünden restlos zu befreien. In unserem Zusammenhang soll diese neutestamentliche Stelle nicht aus dem Blickwinkel der späteren historischen Entwicklung des „Schlüsselamtes" betrachtet werden. Im Sinne des „sine vi sed verbo" wird hier nicht die „potestas ecclesiastica", sondern die Aufgabe der Wortverkündigung im Blick auf Sündvergebung in Betracht gezogen. In der Predigt geht es doch primär um die „Gerechtsprechung" des Sünders, also um die Sündenvergebung kraft des verkündeten Wortes: Predigt „ist keine Belehrungsform der Vergangenheit [...]. Sie ist die Chance des lösenden Wortes". Wenn Predigt die Aufgabe der „Sucharbeit bezüglich der Gottesfrage" hat und sich das Problem ergibt, wo Gott zu suchen sei, so ist ein wichtiger Bereich derjenige, „wo gesündigt wird". Eben in diesem Bereich, hat sie die Aufgabe der „Vergangenheitsbewältigung", und zwar einem „Verdrängen der Schuld entgegen zu wirken und eine [...] Deutung der Vergangenheit anzubieten." 56 Das aber ist eine Aufgabe, wo die Predigt auf Beichte und Versöhnung trifft. Es ist darum nicht weiter erstaunlich, daß die Predigt zu Buße und Versöhnung immer wieder eine wichtige Rolle in der Kirche gespielt hat. Das wird schon in den Bestimmungen des IV. Laterankonzils über die Beichte deutlich. Sie haben klar die „Erziehung der Gläubigen" vermittels der Predigt im Auge. Im 10. Kanon werden die Bischöfe angehalten, geeignete Leute fur alles heran-

56 Chr. Gestrich, Die Wiederkehr des Glanzes in der Welt. Die christliche Lehre von der Sünde und ihrer Vergebung in gegenwärtiger Verantwortung, Tübingen 21995, S. 361f.

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zuziehen, was zum „Heil der Seelen" fuhrt, und das heißt: fähig, „zu predigen und Beichte zu hören." Die Predigt wird für lange Zeit das „Schlachtfeld" in der Erziehung der Massen."57 Auch während des ganzen Mittelalters wußte man das noch. Damals erschienen die ersten Modellpredigtnachschriften von weltlichen Brüdern oder Bettelmönchen mit Universitätsausbildung. Eine ganze Reihe von ihnen befaßt sich mit der Beichte. Die Gläubigen werden darin angehalten, während der Fastenzeit vor Ostern zu beichten. Die Beichte wenigstens einmal im Jahr wird gefordert. Die Strafen fur die, die nicht beichten, werden in bunten Farben ausgemalt: die Gemeinschaft der Kirche wird ihnen versagt, beim Tod ein christliches Begräbnis verweigert. Gleichzeitig heißt es in den Anweisungen zu solchen Predigten an einer Stelle, die Angst, die man dem Gewissen damit bereiten soll, möge „dosiert" werden, um die Leute zu Reue zu bewegen, aber nicht von der Beichte ganz abzustoßen. Ein eindrückliches Bild von der Bedeutung solcher Predigten zur Beichte am Anfang des 14. Jahrhunderts geben die sogenannten „Beispielsammlungen", in denen das Verhalten des Gläubigen, das die Kirche von ihnen erwartet, veranschaulicht wird. Dazu gehört vor allem die Notwendigkeit, ja Unerläßlichkeit der Beichte. Der Generalmeister der Dominikaner Hubertus (gest. 1277), sagte schon in seinem „Liber de eruditione praedicatorum": „Nichts hält so sehr zur Buße an wie die Predigt." Und: „Durch die Predigt sät man, aber so

die Früchte erntet man durch die Beichte." Allerdings verschiebt sich dabei die Rolle der Predigt von der Wirkung der Vergebung der Sünden durch das Evangelium zur Disziplin und sozialen Kontrolle, welche durch die Beichte (und Bußdisziplin) ausgeübt wird. Der Ausbau des Beichtinstituts als Gewissenserforschung auf allen Gebieten des Lebens sollte die wesentlichen Ordnungen des Zusammenlebens - Ehe, Familie, Staat, Gesellschaft, Wirtschaft - unter Kontrolle bringen. Eine wichtige Rolle hatte dabei auch die Forderung der Wiedergutmachung durch das System der „Bußleistungen". Sie wurden notwendig in der Situation, in der der Geschädigte nicht mehr lebte. So traten an die Stelle der Wiedergutmachung die Bußleistungen, die besonders hart waren und durch die der zugefugte Schaden ausgeglichen werden sollte. Neben dieser sozialen und juridischen Funktion hatte die Predigt zur Beichte auch die erwähnte therapeutische Funktion im Auge. Sie spielte besonders im Beichtverständnis der östlichen Kirche eine wichtige Rolle. Beichte wurde hier vor allem als Lebenshilfe verstanden, war also weder soziale Kontrolle noch Rechtsschutz, wie in der westlichen mittelalterlichen Kirche. Daher hat die 57

N. Bériou, Autour de Lateran IV (1215). La naissance de la confession moderne et sa diffusion, in: Groupe de la Bussière (Hg.), Pratiques de la confession, a.a.O., S. 84. 58 J. Berlioz/C. Ribaucourt, Images de la confession dans la prédication, in: Groupe de la Bussière (Hg.), Pratiques de la confession, a.a.O., S. 95f.

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Beichte in der östlichen Kirche bis auf den heutigen Tag ein günstigeres Geschick gehabt als die Beichte in der westlichen Kirche, die der Kritik der Reformatoren wichtige Angriffsflächen geboten hatte.

b) Neuordnung des Bußsakraments bei den Reformatoren Luther führte - trotz der harten Kritik am mittelalterlichen Bußwesen - , nach seiner Rückkehr von der Wartburg nach Wittenberg 1522, im Gegensatz zur Praxis von Karlstadt und den Schwärmern, die Privatbeichte wieder ein. Allerdings wurde sie zu einem „Beichtexamen", das zum Empfang des heiligen Abendmahls erforderlich ist. In CA 25 wird auf die Aufgabe der Prediger hingewiesen, das „Sakrament nicht zu reichen denen, die nicht zuvor verhört und absolviert sind". In den folgenden Ausführungen dieses Artikels kommt eben der Charakter des Wortgeschehens zum Ausdruck, der sich in der Beichte vollzieht. Hier haben wir gegenüber CA 11 eine Verschiebung vom sakramentalen zum verbalen Charakter der Beichte: „Dabei wird das Volk fleißig unterrichtet, wie tröstlich das Wort der Absolution sei [...] Denn es ist nicht des gegenwärtigen Menschen Stimme oder Wort, sondern Gottes Wort, der die Sünde vergibt". Die Betonung liegt hier auf dem Charakter der Lehre: „Von diesem Befehl und Gewalt der Schlüssel, wie tröstlich, wie nötig sie sei den erschrockenen Gewissen, wird mit großem Fleiß gelehrt". Daß es im Beichtexamen allerdings nicht bei einer „Belehrung" bleibt, sondern auch das Bekenntnis der Sünden, allerdings freiwillig und nicht unter vollständiger Aufzählung aller Sünden, erfolgen soll, zeigt die Fortsetzung des Textes von CA 25. Diese Abwendung von der „Verengung" des Bußsakramentes auf die Beichte und der größeren Betonung der Absolution und der Glaubensprüfung ist in gewissem Sinn eine Annäherung an die alte Praxis der Kirche, auch wenn Luther noch ganz der Beichttheologie des Mittelalters verhaftet bleibt. Eine andere Entwicklung in der Reformation ist die Einfuhrung der Kollektivbeichte (gemeinsame, allgemeine Beichte). Es gab die Generalabsolution auch schon vorher, allerdings zur Vorbereitung auf die Osterfeier im Anschluß an die Predigt. Sie wurde auch als „öffentliche Beichte" bezeichnet. Diese Beichtart hat sich besonders in der reformierten Schweiz entwickelt. Ähnlich wie das Confiteor in der römischen Kirche wird die öffentliche Beichte mit lauter Stimme vom Pfarrer in der „Wir-Form" rezitiert. Bei Calvin wird aus der Beichte praktisch die kirchliche Disziplin (disciplina ecclesiastica), durch die das gemeinsame und brüderliche Leben in der Gemeinde geregelt wird, u. zw. mit Hilfe von Ermahnung oder gar Ausschluß vom Mahl für eine begrenzte Zeit bis zur Besserung bzw. zur Versöhnung des Sünders. Anstelle der Privatbeichte tritt das Beichtexamen, das vor dem

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Abendmahl verpflichtend ist. Calvin setzte dazu einen Rat der Ältesten ein, das „Konsistorium", das gleichzeitig die Ehegerichtsbarkeit wahrnimmt. Damit hat er sich allerdings nicht ganz durchgesetzt. Die kirchliche Disziplin aber setzte sich, allerdings in anderer Weise, durch und wurde zu einem „öffentlichen Tribunal" anstelle der mittelalterlichen Ohrenbeichte, die diese Funktion der sozialen und totalen Kontrolle geheim ausgeübt hatte.59 Allerdings: Neben der öffentlichen und allgemeinen Beichte (vor Gott und vor den Menschen) schätzt Calvin - laut seiner „Institutio" - auch die Einzelbeichte (Confessio privata), ähnlich wie Luther. Er unterscheidet zwei Formen: die Einzelbeichte „um unseretwillen", gemäß Jak 5,16, da wir „einer dem anderen unsere Sünden bekennen sollen." Die andere Form ist die Einzelbeichte, „um des Nächsten willen" nötig, „um ihn zu beruhigen und ihn wieder mit uns zu versöhnen, wenn er in irgendeiner Angelegenheit durch unsere Schuld verletzt worden ist." Über die erste Form dieser Beichte denkt Calvin wie Luther: Sie muß frei sein, kann vor einer vertrauten Person geschehen, aber gewöhnlicherweise sollte sie vor dem Pfarrer geübt werden, der „geeigneter ist als andere". Bei der anderen Form der Privatbeichte bezieht er sich auf Mt 5,23f. und sagt dazu: „Denn so soll die Liebe wieder hergestellt werden, die durch unsere Schuld zerborsten ist: wir sollen die Schuld, die wir begangen haben, anerkennen und Abbitte tun."60 Aufschlußreich ist, daß Calvin diese Versöhnung als eine Form der Einzelbeichte ansieht und nicht als Vorbedingung zum Abendmahl, sondern als gleichwertige Alternative neben der eigentlichen Einzelbeichte, womit die Erinnerung an die zwei unterschiedlichen Traditionen dieser Beichtarten anklingt: letztere ist die ursprüngliche Form der Rekonziliation; die erste Form eine Folge der späteren Entwicklung in der Kirche. Daß Calvin tatsächlich zwei Traditionen unterscheidet, zeigt sein Hinweis auf die alte Kirche. Er sagt: „Zu dieser Art gehört auch die Beichte derjenigen, die mit ihrer Sünde der ganzen Kirche Anstoß gegeben haben. Denn, wenn Christus die Kränkung eines einzelnen Privatmenschen so schwer nimmt, daß er alle, die gegen die Brüder irgendwie gesündigt haben, vom heiligen Dienst zurückhält, bis sie sich in gerechter Genugtuung wieder mit ihnen versöhnt haben - wieviel besser ist es dann begründet, daß der, welcher die Kirche mit irgendeinem schlechten Beispiel beleidigt hat, sie durch Anerkennung seiner Schuld wieder mit sich versöhne! So wurde jener Korinther wieder in die Gemeinschaft aufgenommen, als er bewiesen hatte, daß er der Zurechtweisung gehorsam war (2. Kor 2,6). Diese Form der Beichte hat auch in der alten Kirche 59 Ph. Denis, Remplacer la Confession. Absolutions collectives et discipline ecclésiastique dans les Églises de la Réforme aux XVI.e siècle, in: Groupe de la Boussière (Hg.), Pratiques de la confession, a.a.O., S. 171-176. 60 J. Calvin, Unterricht in der christlichen Religion. Institutio Christianae religionis. Übersetzt und bearbeitet von Otto Weber, Neukirchen 21963, III, 4, 12-13, S. 407f.

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bestanden; daran erinnert uns Cyprian. Er sagt: 'Sie tun eine gebührliche Zeit hindurch Buße, dann kommen sie zum öffentlichen Bekenntnis ihrer Sünden und empfangen durch die Handauflegung des Bischofs und des Klerus das Recht auf die Gemeinschaft' (Brief 16,2)."61 Calvin kennt und bedenkt also diese Tradition der Buße - neben der Einzelbeichte als Privatbekenntnis - , womit deutlich wird, daß im Jahrhundert der Reformation der Ursprung der Versöhnungstradition nicht vergessen war. Ganz bedeutsam für das, was hier besprochen wird - nämlich die Bedeutung der Verkündigung des Wortes bzw. der Predigt fur das Versöhnungsgeschehen - ist weiterhin Calvins Äußerung im Zusammenhang mit dem „Amt der Schlüssel": „Wenn aber von den Schlüsseln' die Rede ist, so müssen wir uns immerzu in Acht nehmen, nur ja nicht zu träumen, das sei eine von der Verkündigung des Evangeliums getrennte Gewalt." Er meint, man müsse sich im Klaren darüber sein, „daß jedwedes Recht zu binden oder zu lösen, das Christus seiner Kirche erteilt hat, an das Wort gebunden ist. Das ist aber in ganz besonderer Weise wahr, wenn es sich um das Amt der Schlüssel handelt: Seine ganze Kraft beruht darauf, daß die Gnade des Evangeliums durch die Menschen, die der Herr dazu verordnet hat, in den Herzen der Gläubigen öffentlich und insonderheit versiegelt wird - und das kann ausschließlich durch die Predigt geschehen."62 Die Bedeutung dieser Ausführungen in der „Institutio" ist um so größer, als Calvin sofort, im Anschluß daran, das rein sakramentale und juridische Handeln in der Einzelbeichte gemäß den Verordnungen des IV. Laterankonzils ablehnt. In der Zusammenfassung weist Calvin darauf hin, daß die Ohrenbeichte infolge der Vorschrift des IV. Laterankonzils „erst aufgekommen ist, als die Welt unter dem Druck schändlicher Barbarei lag",63 daß Calvin also seine Auffassung im Rückgriff auf das ursprüngliche Bußwesen versteht, sich also in der Tradition der alten Kirche weiß.

c) Versöhnungspredigt als Verkündigung der Liebe und des Friedens In dieser Deutlichkeit hat Luther in seinen Abhandlungen über die Beichte den Versöhnungsgedanken der Brüder untereinander und die Versöhnung mit der ganzen Kirche nirgends herausgestellt. Doch ist es wichtig festzuhalten, daß diese Gedanken bei ihm keineswegs fehlen. Sie werden allerdings nicht im Zusammenhang mit Beichte und Schlüsselgewalt wie auch nicht anhand des Begriffs „Versöhnung" allein entfaltet, fehlen jedoch keineswegs. Sie kommen

61 62 63

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J. Calvin, Institutio III, 4, 13, a.a.O., S. 408. J. Calvin, Institutio III, 4, 14, a.a.O., S. 409f. J. Calvin, Institutio III, 4, 15-24, a.a.O., S. 410-418.

vor allem in Predigten vor. Damit bestätigt sich der Hinweis, daß Buße und Versöhnung nicht allein im sakramentalen Handeln der Kirche sondern ebenso durch das verkündigte Wort Gottes Ereignis wird. Anstelle des Begriffs „Versöhnung" - der gemäß der mittelalterlichen Tradition ein christologischer Begriff fur das Heilswerk Christi ist und nicht mehr die altkirchliche „Rekonziliation" meinte - verwendet Luther eher den viel umfassenderen Begriff „Liebe", die dem „Glauben" gegenübersteht. In dieser Hinsicht ist Luthers Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen" am aufschlußreichsten. Danach ist das Christenleben auf den Glauben gestellt, der aufgrund der Versöhnung durch Christus in der Liebe wirksam wird. Die zwei berühmten Thesen „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand Untertan" und „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann Untertan" werden in ihrem Widerspruch auf die „zwei Naturen" (die „leibliche" und die „geistliche") jedes Christen zurückgeführt. Schon damit ist eine Verkoppelung seiner Ethik mit der Christologie angedeutet. Noch klarer wird das, wenn Luther hier sagt, daß der Glaube frei macht, weil er an Christi König- und Priestertum teilgibt. Der Glaube „vereinigt [...] die Seele mit Christus wie eine Braut mit ihrem Bräutigam [...]. Das, was Christus hat, das ist eigen der gläubigen Seele; was die Seele hat, wird Christi eigen. So hat Christus alle Güter und Seligkeit, die der Seele eigen sind. So hat die Seele alle Untugenden und Sünden auf ihr, die werden Christi eigen. Hier hebt nun der fröhliche Wechsel und Streit an. Dieweil Christus ist Gott und Mensch, welcher noch nie gesündigt hat und seine Frömmigkeit ist unüberwindlich, ewig und allmächtig [...] so wird die Seele von allen ihren Sünden nur durch ihre Brautgabe, das heißt um des Glaubens willen ledig und frei und begabt mit der ewigen Gerechtigkeit ihres Bräutigams."64 Hier wird übrigens die Rolle der „klassischen" Christologie Luthers zur Beschreibung der ethischen Implikationen deutlich: der „fröhliche Wechsel", als die Anteilnahme an Christus, die nicht eine satisfaktorische juridisch gedachte Genugtuung ist.65 Die Anselmische Satisfaktionslehre hat kein Interesse am Verhältnis Mensch und Mensch, weil sie nur auf das Problem „Gott-Mensch" gerichtet ist. Die bei Luther in seinem Freiheitstraktat typisch zugrunde liegende Christologie dagegen tendiert zum Gedanken des Dienstes am Menschen, der daraus entsteht. Im „Freiheitstraktat" Luthers ist im zweiten Teil von der Dienstbarkeit des Christen in der täglichen Liebe die Rede. „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer 64

WA 7, 25, 27. Vgl. dazu das sehr ähnliche orthodoxe Verständnis bei D. Stäniloaie, The Orthodox Doctrine of Salvation and its Implications for Christian Diakonia in the World, in: Theology and the Church, New York 1980, S. 194, S. 212. Zum Ganzen siehe: U. Asendorf, Gekreuzigt und auferstanden. Luthers Herausforderung an die moderne Christologie, Hamburg 1971, S. 306ff und 370ff. 65

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Knecht und jedermann Untertan" heißt: „Wo er frei ist, darf er nichts tun, wo er Knecht ist, muß er alles tun." 66 Nachdem Luther hier zunächst von den „Werken" spricht, die man seinem eigenen Leib gegenüber tut (Fasten, Wachen, Arbeiten und Zucht), weist er auf die Werke hin, die der Christenmensch anderen gegenüber tut und sagt: „Darum soll seine Absicht bei allen Werken frei und nur darauf gerichtet sein, anderen Leuten damit zu dienen und nützlich zu sein; er soll sich nichts anderes vor Augen stellen, als was die anderen nötig haben." Diesen Dienst gegenüber dem Nächsten, den er mit Phil 2,1 f. Einmütigkeit, gegenseitige Liebe, gegenseitigen Dienst und gegenseitiges Achthaben darauf, was der andere nötig hat, beschreibt, verbindet er mit dem „Vorbild" Christi, wie Paulus es Phil 2 tut, wenn er an die Verse 1-4 die Verse 5ff anschließt. „Und obwohl er (der Christ) ganz frei ist (soll er) sich wiederum willig zu einem Diener machen, seinem Nächsten zu helfen, mit ihm umgehen und handeln, wie Gott mit ihm durch Christus gehandelt hat". Hier kommen auch die schönen bekannten Worte vor, in denen Luther den Christen auffordert, zu folgern: „So will ich solchem Vater, der mich mit seinen überschwenglichen Gütern so überschüttet hat, wiederum frei, fröhlich und umsonst tun, was ihm wohlgefallt, und gegenüber meinem Nächsten auch ein Christus werden, wie Christus es mir geworden ist und nichts mehr tun denn was ich sehe, ihm nötig, nützlich und selig sein, dieweil ich doch durch meinen Glauben alles Dings in Christus zur Genüge habe." 67 Wie sehr dem „Dienstgedanken" Luthers seine Christologie zugrunde liegt, zeigt auch der Schluß dieser Schrift: „Aus dem allem folgt der Beschluß, daß ein Christenmensch lebt nicht in ihm selbst, sondern in Christus und seinem Nächsten. In Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe. Durch den Glauben fuhrt er über sich (aufwärts) in Gott, aus Gott fuhrt er wieder unter sich (abwärts) durch die Liebe, und bleibt 68

doch immer in Gott und der göttlichen Liebe." Diese Gedanken sind bei Luther auch sonst immer wieder, vor allem in seinen Predigten über synoptische Texte, anzutreffen. Aber gerade aus diesem Material läßt sich gut beobachten, wie sich Luther in der seelsorgerlichen Praxis zu unserer Frage verhielt. Es sind vor allem bestimmte Stellen, die in bezug auf die Versöhnungsthematik im Folgenden ins Auge gefaßt werden sollen. Grundgedanke Luthers ist, daß die Erfahrung der Liebe Gottes, die den Sünder annimmt und rechtfertigt, in den Menschen Liebe wirkt. Rechtfertigung ist also der Ursprung allen christlichen Handelns und so auch der Liebe. Liebe zu Gott und Liebe zum Nächsten gehören unlöslich zusammen. „Die Erfahrung der Huld Gottes muß voraufgehen, ohne sie kann man den Bruder nicht im 66 67 68

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W A 7, 30, 79. W A 7, 35, 25. W A 7, 37, 33.

Ernste lieben."69 Dabei soll bedacht werden, daß es der Kombination GlaubenLiebe entspricht, wenn Luther bei dem Ausdruck ,Liebe' vorwiegend die Liebe zum Nächsten im Auge hat; denn die Beziehung des Christen zu Christus bzw. zu Gott ist ja bereits mit dem Wort,Glaube' ausgedrückt. Die Liebe fuhrt zum Nächsten und duldet keine Fluchtversuche in irgendwelche frommen Werke, die nicht dem Nächsten dienen.70 Der wahre Christ nimmt sich seines Nächsten an, das heißt für Luther: „Jedweder Christ" wird ein Bruder genannt, „weil unter den Christen eine Bruderschaft ist. Brüder aber sollen an einerlei Ehre teilhaben."71 Doch Luther geht noch weiter: „Liebe aber ist größer denn Bruderschaft, denn sie reicht auch auf die Feinde und sonderlich gegen die, die der Liebe 72

nicht wert sind." In diesem Sinn ist Liebe Vergebung als Aufhebung von Feindschaft: „Liebe kann nicht hassen, noch jemand Feind sein. So böse kann man's nicht machen, sie kann es alles tragen. So viel mag nicht wider sie gesündigt werden, sie kann alles decken, so hoch wird sie nicht erzürnt, sie kann es vergeben. Denn sie tut nichts anders, denn wie eine Mutter gegenüber dem Kind, so unbrechlich, unrein, unflätig ist, das sieht sie nicht, ob sie es gleich siehet, sondern wird blind vor Liebe, ja sie hat so reine Augen, damit 73 sie das Kind als eine schöne Frucht ihres Leibes, von Gott gegeben, ansieht." Immer wieder - vor allem unter Berufung auf johanneische Stellen - wird die Liebe untereinander auf Christus zurückgeführt. „Das ist die allerbrünstigste Liebe, die da endet wie ein Feuerofen, da uns Christus also geliebet hat und seinem Vater gehorsam gewesen, der uns seinen Sohn gegeben hat, daß er uns durch ihn erlösete. Wenn man dieses bei sich selbst überlegt, so ist es unmöglich, daß es nicht Früchte bringen sollte."74 Die Stelle Joh 15,12f. versteht Luther so, daß Jesus sagen wollte, „so gar habe ich alle Werke euch zugute getan, daß ich auch mein Leben für euch gebe, welches die allergrößte Liebe, das ist, das größte Werk der Liebe ist. Hätte ich eine größere Liebe gewußt, ich wollte sie euch auch getan haben. Darum sollt ihr euch auch lieben und einer dem anderen alles Gute tun."75 Denn für Luther gilt - im Sinne von Joh 13,34f.: „Euer

69 WA 10, III, 252, 24: „Ehe wir Barmherzigkeit tun, müssen wir sie vorhin von Gott empfangen." Vgl. P. Althaus, Die Ethik Martin Luthers, Gütersloh 1965, S. 21. 70 Vgl. dazu W. von Loewenich, Luther als Ausleger der Synoptiker, München 1954, S.

188. 71 72 73 74 75

WA 20, 714, 36. WA 12,297,31. E. 28, 306. WA 20, 693, 31. WA 8, 361, 9.

243

Glaube hat an meiner Liebe und Güte genug, also soll eure Liebe auch dem anderen genug geben".76 In diesem Sinn finden sich nun bei Luther - vor allem in seinen Predigten und Postillen - auch sehr konkrete Äußerungen zum Problem „ Versöhnung mit dem Bruder". So sagt Luther in den Wochenpredigten über Mt 5-7 aus den Jahren 1530-32 zu Mt 5,23f: „Darum spricht er (Christus) nun: Willst du Gott dienen und opfern und hast du jemand beleidigt oder einen Zorn wider deinen Nächsten, so wisse kurzum, daß Gott deines Opfers nicht haben will, sondern leg es schlecht nieder und laß alles stehen und gehe vorhin und versühne dich mit deinem Bruder [...] Wenn das geschehen ist, so komm dann (so sagt er) und bringe dein Opfer. Das setzt er dennoch dazu, daß man nicht denke, er will solches Opfer verwerfen oder verachten. Denn es ist nicht sein bös Werk gewesen, sondern von Gott geordnet und geboten. Aber das ist böse und verderbt es gar, daß sie die anderen höheren Gebot in Wind geschlagen und dagegen verachtet. Das heißt des Opfers mißbrauchet wider den Nächsten [...] Wenn du aber betest und fastest und doch daneben deinem Nächsten übel redest, die Leute austrägst und verleumdest etc. so spricht wohl das Maul heilige Worte und ißet keinen Bissen, wäschet aber und verunreint sich dieweil mit dem Nächsten wider Gottes Gebot."77 Luther betont, daß der Versöhnungsvorgang immer ein doppelter ist. „Da sind aber zwei Stück, die die Natur nicht vermög zu tun. Zum ersten: wenn ich erzürnt bin, so soll ich meinen Bruder versühnen; darnach: so mich einer verletzt hat, so soll ich ihm vergeben, obwohl er mirs gleich nicht abbittet und soll ein freundlich Herz zu ihm tragen, auf daß er mich nicht überantwortet dem Richter." Sodann stellt Luther den Zusammenhang zum Versöhnungswerk Christi dar: „Wenn man kommt und will Gott dienen, das will er nicht haben, kurzum du sollst vorher deinem Nächsten dienen, als wollte er sagen: Sieh, Mensch, ich habe dich erschaffen und erlöst durch meinen Tod, das erkenne und richte dein Leben dahin, daß deinem Nächsten nutz und dienstlich sei, wo aber nicht, so tue mir auch nichts [...] Also will Gott viel lieber des Dienstes beraubt sein, denn des Nächsten und will viel lieber durch die Finger sehen, so du ohne seinen Dienst etwas nachläßt, denn daß du an deines Bruders Nutz säumiglich bist [...] Will ich nun Gott angenehm sein, so muß ich zuvor mit meinem Nächsten versühnt sein, wo das aber nicht geschieht, so kann ich ihm nicht wohl gefallen."78 Dabei geht er auch von der Frage aus, ob wir das Versühnen und Verzeihen dem Nächsten gegenüber können und zeigt, daß selbst das „Exempel Christi" nicht weiterhilft und die Bitte um Wandlung nötig ist: „Dann kommt er her und sagt: Siehe, weil du dich erkennst und suchst von mir Gnade,

76

WA 8, 360, 16.

77

WA 32, 366, 33ff. WA 10, III, 247, lOff.

78

244

so will ich dich wandeln und auch also machen. Und so du gleich nicht so vollkommen bist als Christus und du wohl sein sollst, so soll dir mein Sohns Leben und Vollkommenheit zur Hilfe kommen [...] Das ist ein rechter Trost, der nicht in unserem Vermögen steht, sondern darauf, daß wir einen gnädigen Gott haben, der uns vergibt, daß wir an Christus glauben und nicht auf unserer Würdigkeit und uns von Tag zu Tag reinigen und weil es fehlt, daß wir immerdar uns Christum trösten sollen."79 Auch im Zusammenhang mit der zweiten wichtigen synoptischen Stelle, in der der Versöhnungsvorgang beschrieben wird und in der sich ein erster Ansatz für eine Versöhnungsordnung findet (Mt 18,15ff.), hat Luther eine ganze Reihe von sehr konkreten Äußerungen getan. So schreibt er in der Hauspostille von 1545: „Er (Christus) heißt uns untereinander Brüder, da will ich je keine Feindschaft noch Unfreundlichkeit erleiden. Nun sind wir aber so gebrechlich alle, daß wir nimmermehr durchaus so untereinander leben werden, es wird bisweilen einer den andern mit Worten, Werken und anderem beleidigen. Was gehört nun dazu? Von Herzen vergeben und gedenken: Was wollte ich meinen Bruder zeihen? Ist mir Gott gnädig und hat mir eine so große Summa frei, lauter umsonst, um Jesu Christi seines Sohnes willen nachgelassen, was wollte ich mich um einen Pfennig oder zween lausen? [...] Vergessen und vergeben will ich und Gott danken, daß er mir auch vergeben und sich zu Gnaden hat angenomOft

men." Allerdings interpretiert Luther an einer anderen Stelle die Aussage: „So nun dein Bruder wider dich sündigt" auch so, daß dies darin bestehe, „daß er öffentlich wider Gott und sein Wort lebt [...]. Denn das soll auch wider dich und alle Christen gesündigt heißen", wodurch eindeutig die traditionelle Auslegung in bezug auf den Bann aufgenommen wird. Die Bedeutung dieser Stelle für die Auffassung Luthers über die Kirchenzucht ist nicht zu übersehen: „Wenn nun solches an dich gelangt, du merkst solches, so strafe ihn zwischen ihm und dir. Du sollst ihn nicht öffentlich und auf dem Markt oder wo du bist, für jedermann nicht ausschreien, sondern gedenken, daß er gleichwohl dein Bruder sei und bei anderen das Maul halten und zu ihm gehen, ihn allein für dich nehmen, freundlich vermahnen und strafen, sagen: Das habe ich von dir gehört, sieh zu, steh davon ab, auf daß dich Gott nicht strafe. Dann kann es wohl kommen, daß er dich gern hört, du ihn gewinnst und wieder auf die rechte Bahn bringst. Wenn er nun diese Trostworte nicht leiden will, so sollst du gleichwohl noch mit ihm Geduld tragen und einen oder zween zum Zeugnis zu dir nehmen, die dir können Zeugnis geben, daß du ihn vermahnt und gestraft hast und es ihm gesaget. Und wenn er alsdann dich auch noch nicht hören will, es hilft diese Vermahnung an ihm auch nichts, so sprich: Ich bin nun unschul-

79

WA 12, 626, 12ff.

80

WA 52, 527, 3Off.

245

dig. Ich muß öffentlich auf der Kanzel das meine tun und ihn vor jedermann oi

nennen, auf daß die ganze Gemeinde wisse, wofür sie ihn halten soll." 0 ' So will Luther die Ermahnung des Bruders als eine öffentliche Angelegenheit verstehen und auch sein Begriff der „Liebe" widerspricht dem nicht: „Die Liebe ist nicht eine solche Sache, die verborgen bleiben könnte, denn die Liebe denket und redet von dem nächsten viel. Wenn ich einen Bruder lehre, wenn ich ihn tröste, wenn ich fur ihn bitte, da kann man alles sagen. Die Liebe ist eine offenbare Sache, nicht wie die Sophisten sagen, die Liebe sei nur ein guter Wil82

le." Die Verbindung zur Versöhnungschristologie ist fast überall vorhanden: „Gebenedeit sei das Leben, darin einer nicht ihm sondern seinem Nächsten lebet und dienet, mit Lehre, mit Strafe, mit Hilfe, wie es mag geschehen. Wenn mein Nächster irrt, so soll ich ihn geduldig harren, wie Christus tat mit Judas [...] Der Glaube spricht allezeit also: Christus hat für83mich das getan, warum soll ich auch nicht um seinetwillen alle Ding frei tun?" Der horizontale Aspekt der paulinischen Versöhnungstheologie wird bei Luther vor allem mit dem Stichwort „Frieden" beschrieben, das bei Paulus eng mit „Versöhnung" zusammenhängt und fast einen auswechselbaren Begriff zu jenem darstellt.84 Nach Luther ist der Friede „zweifach", in Gott und dem Nächsten. In Gott, „denn er machet ein gut Gewissen den Menschen und gründet sich auf die Barmherzigkeit Gottes [...], aber in dem Nächsten, wenn seinem Willen gewichen wird. Denn der Friede mag unter den Menschen nicht bestehen, so ein jeder seine Sache schützen und gerecht haben will und suchet oder hadert".85 Der Frieden des Gewissens ist so die „erste Frucht der Versöhnung, und zwar das gute Gewissen vor Gott". 86 Für Luther steht fest, „daß wir von Schuld und bösem Gewissen befreit werden und den Frieden des guten und frohen87Gewissens in der Weise bekommen, daß das Böse ihn nicht weiter verstört." Aber es bleibt nicht bei diesem „Frieden des Gewissens vor Gott", weil wir - gemäß Luther - auch „in dem Nächsten" ein gutes Gewissen, das heißt Frieden haben müssen. Denn der Friede des Herzens wandelt uns so um, daß unser Verhältnis zum Nächsten neu wird: „Der Heilige Geist, der in unsere Herzen ausgegossen, verändert uns und pflanzt uns die Liebe zur Eintracht und 81

WA 47, 280ff. WA 20, 711,33. 83 WA 10,111,98,7. 84 L. Goppelt, Versöhnung durch Christus nach dem Neuen Testament, in: Versöhnung. Das russisch-orthodoxe Gespräch über das christliche Verständnis der Versöhnung, Witten 1967, S. 73—76ff. 85 WA 2, 594, 7. 86 E. Wolf, Die Versöhnung durch Christus und der Friede auf Erden, in: Versöhnung. Das deutsch-russische Gespräch über das christliche Verständnis der Versöhnung, a.a.O., S. 135. 87 WA 40, III, 717. Vgl. auch WA 26, 37. 82

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die Befleißigung des Friedens ein und reizt uns zur Liebe untereinander, und er lenkt und richtet unsere Herzen also ein, daß wir die Beleidigungen einander verzeihen, die Fehler gerne erlassen und die Irrtümer und Schwachheit an dem Nächsten geduldig ertragen. Das aber ist das Feuer des heiligen Geistes, der unsere Herzen ändert und zurückhält; also, daß wenn etwa Beleidigungen vorfallen, ich weder wider dich, noch du wider mich die Waffen ergreifst. Also sind alle fleischlichen Waffen unter den wahrhaftigen Frommen verbrannt und in Asche verkehret." 88 Dabei ist für ihn dieser Friede gar nicht nur „Friede mit dem Nächsten", sondern auch politischer, äußerer, weltlicher Friede. Von den zahlreichen Dokumenten, die zeigen, wie ernst es Luther auch um diesen Frieden war, sei hier eine Stelle aus einem Brief Luthers an Kurfürst Johann Friedrich und Herzog Moritz von Sachsen wiedergegeben, aus dem die Verantwortung deutlich wird, die der Reformator als Seelsorger und Prediger des Evangeliums auch diesbezüglich empfand: „Mir ist solch ernst Vorkommen und plötzlicher Zorn zwischen beiden, Euer Kur- und Fürstliche Gnaden, sowohl als anderen heute erstrecht kund worden. Und wiewohl mir als Prediger und geistlichen Amtes, hierin weder zu rechten noch zu handeln etwas gebührt, weil es so gar eitel weltliche Sachen sind, da mir auch nicht viel zu wissen befohlen ist, so steht doch da Gottes Wort (1. Tim 2,1), welches uns Predigern und der ganzen Kirche gebeut, für die weltlichen Herrschaften zu sorgen und zu beten um Frieden und stilles Wesen auf Erden wider den Teufel, alles Unfrieden Stifter und Anfänger [...] Darum ist dies das erste Gebot, daß Euer Kurund Fürstliche Gnaden schuldig sind, vor allen Dingen zum Frieden zu trachten, zu raten und zu helfen, und sollt's auch Leib und Gut gelten, will geschweigen solches liederlichen und geringen Schadens, so jetzt in diesem gegenwärtigen Fall mag vorstehen. Denn ohne Verletzung des Gewissens, j a Gefährlichkeit ewiger Verdammnis, werden Euer Kur- und Fürstliche Gnaden in diesen geschwinden Zorn und Unfrieden wider solch göttlich Gebot nicht können fortfahren. Ja, mag man sagen, niemand kann länger Frieden haben, denn sein Nachbar will. Das ist wahr. Darauf sagt Gott aber also (Röm 12,18): So viel an euch ist, so habt mit allen Menschen Frieden. Demnach müssen Euer Kur- und Fürstliche Gnaden samt beider Landschaften hierin Gott auch Gehorsam schuldig sein bei ewiger Verdammnis und ein Teil dem anderen Friede und Recht anbieten [...] Demnach ist mein untertänig Bitte, Euer Kur- und Fürstliche Gnaden wollten Gott ehren, Ihre Seligkeit betrachten, die ewige Schande und böse Nachrede nicht auf solch herrlich, löblich Fürstentum erben, auch die armen Untertanen bedenken, das Kreuz wider den Teufel für sich schlagen und doch meiner armen Bitte zu Gnaden soviel tun, in ein Kämmerlein allein gehen, niederknien, die Augen zum Himmel heben und mit Ernst ein Vaterunser beten. So wird, ob Gott will, der heilige Geist, Euer Kur- und Fürstliche Gnaden Herzen ändern". 89

Nicht vergessen werden soll, daß Luthers letzter Dienst in Eisleben, wo er schließlich auch starb, ein Versöhnungsdienst war. Die Grafen von Mansfeld, denen sich Luther durch seinen Geburtsort besonders verbunden wußte, lagen

88

WA 25, 79, 8 7 - 4 0 1 .

89

WA Br. 10, 3 2 , 4 .

247

seit Jahren wegen verschiedener Rechtsansprüche miteinander im Streit. Graf Albrecht III. (1480-1560), der angestammte Landesherr Luthers, war nicht nur mit seinen Vettern überworfen, sondern beeinträchtigte auch seinen Bruder. Luther hatte sich deshalb im Mai 1540 an seinen Landsherren in einem Brief gewandt,90 ein zweitesmal im Februar 1542.91 Nachdem sich Albrecht 1545 bereit erklärt hatte, die Vermittlung Luthers anzunehmen, reiste dieser mit Melanchthon und Jonas nach Mansfeld. Die Verhandlungen führten zu keinem Ergebnis, weil die Grafen in den Feldzug gegen Heinrich von Braunschweig gezogen waren. Kurz vor Weihnachten war Luther ein zweitesmal in Mansfeld, mußte aber mit Rücksicht auf das Befinden des ihn begleitenden Melanchthon vorzeitig abreisen. Eine dritte Reise war für Ende Januar geplant. Die Zusammenkunft sollte diesmal in Eisleben stattfinden. Die Verhandlungen machten ihm viel Verdruß, wenn er auch nicht mehr als ein- bis eineinhalb Stunden täglich daran teilnehmen mußte. Am 16. Februar kamen die Parteien endlich zu einem positiven Ergebnis. Am 17. Februar wurde noch ein weiterer Vertrag geschlossen, zu dem Luther auch seine Unterschrift gab. In der Nacht darauf starb Luther. Sein letztes Werk, kurz vor seinem Tod, war demnach ein Versöhnungswerk.92 Abschließend fassen wir zusammen: Der Verkündigung des Wortes Gottes in Predigt und Seelsorge kommt zur Vermittlung von Buße und Versöhnung eine unerläßliche Bedeutung zu. Das könnte noch an vielen Beispielen aus der Kirchengeschichte nachgewiesen werden. Dietrich Stolberg sagt: „Gnade muß empirisch werden". In den Sakramenten verkörpert sich das Wort Christi „in eine bestimmte Lebenssituation hinein". Für Buße und Versöhnung bedeutet das, daß ihr Vollzug Ausdruck der Gnade sein soll. Aber die Inkarnation der Buße braucht „den gnadendurchlässigen ,Körper' der Wort-Begegnung". Durch das Wort eines Menschen kann in Beichte und Buße Anteil am Wort Gottes selbst gegeben werden, das das Leben verändert und Heil schafft. „Kirchliche Inverbation in der Beichte wird dann zur österlichen Inkarnation durch die lebendige Beziehung mit dem gott-menschlichen Wort, das dem schuldigen Menschen eine neue Freiheit in der Gemeinschaft mit Gott, dem 93

Nächsten und mit sich selbst verschafft". Predigt muß allezeit „versöhnende Verkündigung" sein.94 Rudolf Bohren sagt dazu: „,Deine Sünden sind dir ver90 91 92

WABr. 9, 114. WA Br. 9,626. W. von Loewenich, Martin Luther. Der Mann und das Werk, München 1982, S. 364ff.

93

H. Windisch, Erfahrungen gelungener Versöhnung in der Beichte, in: E. Garhammer u.a. (Hg.),... und führe uns in Versöhnung, a.a.O., S. 307 u. 310. 94

So der Titel eines Aufsatzes von W. Schrüfer: Versöhnende Verkündigung? Die Predigt als Ort der Verkündigung, in: E. Garhammer u.a. (Hg.), ... und führe uns in Versöhnung, a.a.O., S. 270-281.

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geben' -,ego te absolvo!' Mit diesem Satz setzt der Prediger sein Leben aufs Spiel, sein und seiner Hörer Heil [...] Ich spreche vom Binden und Lösen, zitiere aber nur das ,ego te absolvo' meine also zuerst die Absolution. In ihr konzentriert sich das Evangelium fur den Hörer, in ihr zeigt sich das ganze Evangelium in seiner Verbindlichkeit. Die Absolution zeigt in einem Satz das Wesen des Evangeliums, wie denn auch das Evangelium sich als Absolution zeigt".95 Damit ist das Wortgeschehen von Buße und Versöhnung in seiner zentralen Funktion treffend beschrieben.

95

R. Bohren, Predigtlehre, München, 3 1973, S. 302.

249

4. Das „Fest der Versöhnung"

a) Das Wesen der Festlichkeit Versöhnung vollzieht sich nicht nur in einzelnen „heiligen Handlungen" oder bestimmten Stücken („Rubriken") der Liturgie, wiewohl diese - als Wort und Sakrament - von erstrangiger Bedeutung sind. Sie wird auch in Feier und Festlichkeit im Ganzen wirklich, aktuell oder dadurch „gekrönt" und gleichsam „besiegelt". Festlichkeit im profanen, aber ebenso im kultischen oder liturgischen Sinn gehört zur menschlichen Existenz unabdingbar hinzu. Es gibt keine menschliche Gemeinschaft, wo Feier und Festlichkeit nicht bekannt wäre. An Wendepunkten des Leben (Rites de passages) wird ebenso wie bei wichtigen Ereignissen „gefeiert", selbst im säkularen Bereich und mit weltlichen Mitteln oder Gepflogenheiten: bei der Geburt von Kindern, bei Eheschließungen, bei geglückten Prüfungen oder Beförderungen im Beruf. Feier bedeutet einen „Lebensentwurf annehmen", in die Wirklichkeit des Lebens tiefer und bewußt hineinwachsen, das Leben und sich selbst in neuen Zusammenhängen sehen. Durch die Feier gewinnt das Leben eine größere „Intensität und Universalität." 96 Zur „Fe/er" gehört eine relativ geschlossene Gruppe, die durch lange Tradition, geformte Zeremonien und Symbole innerlich mitvollziehen kann, was geschieht. Darum wird eine Feier durch Unvorhergesehenes und durch von außen Hinzukommende gestört. Dem gegenüber ist das Fest offen für spontane Anreicherung und von außen kommende unerwartete Momente. Darum können am Fest auch Fremde teilnehmen, ohne daß der Rahmen gesprengt wird. Denn das Fest erweitert die traditionellen Elemente der Feier um freie Spielräume für spontane und kreative Beiträge.97 Feiern, das zum Fest wird, geschieht in der größeren Gemeinschaft. Ein Fest strahlt auf andere aus und reißt sie mit. Gerade in der Gemeinschaft, im Miteinander-Feiern kommt der Einzelne mit tieferen Schichten seines Lebens in Berührung. Ein Fest feiern heißt dann: intensiv leben, existieren - das Gegenteil von „vegetieren" - , die „Fülle des Lebens" erfahren, das Leben bejahen, die eigene Identität bewahren oder neu finden. Darum haben Feierlichkeiten eine große emotionale Wirkung: es entsteht das Gefühl der Dankbarkeit, Zufrieden-

96 Philippe Béguerie, in: J. Müller, Versöhnung feiern, in: E. Garhammer u.a. (Hg), ... und führe uns in Versöhnung, a.a.O., S. 231. 97 J. Moltmann, Kirche in der Kraft des Geistes, a.a.O., S. 299.

250

heit und Erfüllung. Es macht großzügig, offen, hilfsbereit und - was uns hier vor allem interessiert - vergebungsbereit. Was festlich begangen wird, wird intensiv erlebt und in Erinnerung behalten, ist aber auch „zukunftsträchtig". Indem man in der größeren Gemeinschaft feiert, nimmt das Gefeierte eine Gestalt an, die einen engen Gesichtskreis erweitert und das eigene „Ich" übersteigt. Das Wesen der Festlichkeit hat Harvey Cox näher beschrieben. Nach ihm ist das Fest eine besondere Zeit, in der man die Arbeit niederlegt, ein Ereignis feierlich begeht, die vollkommene Güte des Daseins bestätigt oder das Gedächtnis eines Gottes oder eines Helden ehrt. Damit werden die Freuden anderer und die Erfahrungen früherer Generationen in das eigene Leben einbezogen, eine menschliche Form des Spiels, durch die der Mensch ein weiteres Feld des Lebens, einschließlich der Vergangenheit, in die eigene Erfahrungswelt integriert. Ahnlich hat Frère Roger, der Prior von Taizé das Fest „so etwas wie ein kleines Feld" genannt, „das man sich bebaut, einen kleinen Sportplatz, auf dem sich Freiheit und Spontaneität üben". Dieses Feld hat allerdings „eine Grenze: ich darf das Empfinden des anderen nicht verletzen und mich seiner nicht bemächtigen."98 Der Mensch ist also ein Geschöpf, das nicht nur von seiner Arbeit her (wie bei Marx) oder von seinem Denken her (wie bei Thomas von Aquino oder Descartes) verstanden werden soll, sondern auch von seiner Fähigkeit zur Festlichkeit her: der homo festivus, der singt, tanzt und feiert. Keine Kultur ist ohne Festlichkeiten denkbar, beginnend mit den kultischen Feiern bei den primitiven Völkern bis zu den rauschenden Festlichkeiten in unserer Zeit. Uns ist heute allerdings das Wesen der Feier abhanden gekommen: unsere profanen Feiern sind oft nur ein schwacher Abglanz, ein „rudimentäres Übrigbleibsel" alter, früherer vergessener Feste." Der Mensch begreift sein Leben in einem größeren Zusammenhang. Er sieht sich eingebettet in eine Geschichte, mit der er durch Lieder, Feiern, Bräuche, Traditionen verbunden ist. Feiern setzt darum gemeinsame Erinnerung und kollektive Hoffnung voraus. Für Josef Pieper heißt feiern, „der universellen Zustimmung zur Welt als Ganzes Ausdruck geben", ein „Ja zum Leben, ein Element der Freude". Die religiöse Herkunft der Festlichkeit ist immer wieder betont worden. Sie ist eine sozial anerkannte Gelegenheit für den Ausdruck von Gefühlen, die normalerweise unterdrückt oder vernachlässigt werden. Nach Harvey Cox hat Festlichkeit drei Elemente. Da ist: 1. Der Exzeß. Damit ist gemeint, daß in der Festlichkeit Übertreibung erlaubt ist, daß man während dieser Zeit „über den Verhältnissen" leben darf oder sich und andere „hoch leben" lassen kann. Auch konventionelle Formen des Umgangs der Geschlechter, Nahrungsvorschriften und andere Gepflogenheiten 98

R. Schutz, Ein Fest ohne Ende, Freiburg i.B. 1973 (Herder-Bücherei, Bd. 472), S. 17.

99

H. Cox, Das Fest der Narren, Stuttgart-Berlin 3 1971, S. 16-20.

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werden vorübergehend gelockert oder der Kleidung besondere Aufmerksamkeit geschenkt (man „putzt sich a u f ) . 2. Die festliche Bejahung. Festlichkeit ist Ausdruck von Lebensbejahung, Freude am Dasein, an Gemeinschaft, vielleicht gerade angesichts von Entbehrung, Leid oder Todesgefahr (der feurige Tanz von Alexis Sorbas/Greco nach dem Zusammenbruch seines Gefährtes). 3. Die „Gegenüberstellung". Festlichkeit muß sich vom Alltag unterscheiden. Eß- und Trinkgewohnheiten, Kleidung, Schmuck, Musik und Putz markieren die Andersartigkeit, das Gegenüber zu dem grauen Alltag. Darum kann nicht „alle Tage Gloria" sein oder das ganze Jahr hindurch Weihnachten gefeiert werden. Die Wirkung der Festlichkeit hängt davon ab, ob sich diese vom gewöhnlichen Arbeitsablauf, der Konvention und dem Mittelmaß des täglichen Lebens abhebt. Auf diese Weise werden in der Festlichkeit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einer lebendigen Verbindung zusammengeknüpft. Durch die Erinnerung an die Vergangenheit und die Freude in der Gegenwart wird Kraft für die Zukunft geschöpft. Auch die Distanzierung zur Vergangenheit oder den Problemen der Gegenwart verschafft die Möglichkeit, sich ihre Lasten für einige Zeit fernzuhalten. Festlichkeit ist eine willkommene Abwechslung, ein Innehalten im Einerlei des Lebens, ein Abschalten für eine bestimmte Zeit, eine Verschnaufpause in der Routine des Alltags, eine „Opferung der Vergangenheit". Freilich darf das nicht in Verachtung der Vergangenheit und Haß auf die Gegenwart ausarten. Aber ist es wirklich möglich, gleichzeitig Vergangenheit zu feiern, sich der Gegenwart zu erfreuen und die Zukunft fröhlich vorwegzunehmen? Das ist freilich allein in der religiösen Dimension der Festlichkeit möglich und war besonders für das Christentum wesentlich. Hier ist Festlichkeit Zeugnis von der Gegenwart des Göttlichen in dieser sündigen und bösen Welt und gleichzeitig Ausschau nach einer neuen Zukunft. 100 In vor- und außerchristlichen Kulturen ist der religiöse Kultus das Fest der Götter. Dazu gehören „heilige Orte" und „heilige Zeiten". Hier wird der „Mythos der ewigen Wiederkehr" gefeiert: Die „kultischen Zeiten" machen die an sich vergängliche Zeit zum Zyklus der ewigen Wiederkehr. An „heiligen Orten" kommen die Menschen und die Götter wieder zusammen, wie sie einmal im Ursprung zusammen waren. Im Mittelpunkt steht der Tempel. Durch das „Tempelfest" haben die Menschen Anteil an der göttlichen Gegenwart. Das Fest hebt die Menschen zum Ursprung empor und erneuert ihn. Gefeiert wird die „Restitutio in integrum".101

100

H. Cox, Das Fest der Nauen, a.a.O., S. 34-62.

101

M. Eliade, Der Mythos der ewigen Wiederkehr, Düsseldorf 1962, passim.

252

Aber dieses religiöse Verständnis des Festes kann nicht mit unseren heutigen Kategorien der Ethik beurteilt werden. In der Moderne ist das Feste-Feiern aus dem transzendenten Urgrund gelöst und dadurch „profaniert". Hier werden nicht mehr die religiösen Funktionen wahrgenommen: Feste und Feiern haben lediglich die Rolle der vorübergehenden Suspension jener Gesetze und Verhaltensweisen bekommen, die die tägliche Arbeit bestimmen. Sie sind der Gegenpol zu der Arbeit des Menschen, die Pause im alltäglichen Allerlei, die Möglichkeit auszuruhen und zu entspannen, sie sind das „Ventil für den aufgestauten Druck der Emotionen und Aggressionen. Im Fest sucht man den 102 Ausgleich fur den beruflichen Alltag". Dem gegenüber kennt die biblische Überlieferung sowohl des Alten Testaments als auch des Neuen Testaments sowie die christliche Kirche ein ganz anderes Verständnis des Festes. Die Feste im alten Israel haben sich zwar aus den heidnischen Kulten entwickelt und ihre Rituale übernommen, doch sie konnten diese umfunktionieren: die agrarischen Feste wurden sozusagen historisiert. So feierten sie im Fest zu Beginn der Gerstenernte den historischen Auszug aus Ägypten; das heidnische Herbstfest der Weinlese galt dem Gedenken an die Wüstenzeit und das unstete Wohnen in Laubhütten, und ähnlich war es mit anderen Festen. Denn während der Nomade nicht in Zyklen, zum Beispiel von Saat und Ernte, lebt, weil er auf der Wanderschaft ist und seine Götter Wanderund Führungsgötter sind, lebt der Seßhafite im Kreislauf der Natur und feiert die Feste der Götter in zyklischer Erneuerung des Lebens. Während der Nomade durch sein Wandern das Leben als Geschichte erfahrt, die eine Zukunft hat und die man sucht, erlebt der Seßhafte die Wiederholung der Vergangenheit, weil er weniger in der Zeit als im Raum eines bestimmten Landes lebt. Jesus hat die Feste nicht abgelehnt, wie man durch sein Wort über den Sabbat (Mk 2,27f) annehmen könnte. Im Gegenteil: Er hat sich gegen die Beschränkung des Heils auf„heilige Orte" und „heilige Zeiten" - ähnlich wie die Propheten - gewendet. Er war gegen die Trennung von kultisch und profan, nicht weil für ihn alles „profan" war, sondern weil das ganze Leben ein „Fest des Glaubens" sein sollte, wie Paulus sagt. Der Apostel sieht das ganze Leben durch Christus und seine Geschichte „qualifiziert"; darin besteht für ihn der „christliche Kultus"; er wendet sich lediglich gegen die Verengung durch die Gesetzlichkeit (Gal 5,Iff). Die Gottesherrschaft wird gerade im Alltag und das Fest in seiner Profanität gelebt. Damit wird die Trennung von Tempel und Welt, Fest und Alltag überwunden. Das ganze Leben des Christen soll ein „vernünftiger Gottesdienst" sein (Rom 12,1).

102

J. Moltmann, Kirche in der Kraft des Geistes, a.a.O., S. 293.

253

Der christliche Gottesdienst ist das Fest der Auferstehung Jesu Christi und eine „Feier des Glaubens".103 Er offenbart und demonstriert so die „eschatologische Alternative zu dieser Welt der Arbeit, der Schuld und des Todes". Aber indem der Gottesdienst zugleich „Vergegenwärtigung des Gekreuzigten" ist, wird hier auch der Schmerz, das Versagen und das Leiden des Lebens nicht verdrängt. Festlichkeit im Sinne von Überschwenglichkeit und Ekstase verdunkelt nicht den Blick für die Nöte des Menschen in dieser Welt, doch er gibt zugleich Kraft, sie anzunehmen und „stimuliert die Festgenossen nach den Kräften, die sie empfangen, und den Möglichkeiten, die sie anerkennen, Freiheit und mehr Freiheit ins alltägliche Leben zu bringen."104 Warum das so ist, daß der Gottesdienst im Ostergeschehen seinen Höhepunkt erreicht, sagt Frère Roger, indem er einen seiner Brüder zitiert: „Der auferstandene Christus macht das Leben des Menschen zu einem ununterbrochenen Fest [...]. Unsere christliche Existenz besteht darin, daß wir ständig das Ostergeheimnis leben: ein kleiner Tod nach dem anderen, denen die Anfänge einer Auferstehung folgen. Hier liegt der Ursprung des Festes. Von nun an stehen alle Wege offen [...], das Fest erscheint wieder, sogar in den Augenblicken, in denen wir nicht mehr recht wissen, was uns widerfahrt, ja selbst in der härtesten Prüfung des Menschen." Auf die Frage, wie er es macht, daß er „das Fest des Lebens" feiern kann, sagt Frère Roger, daß das Fest jeden Morgen in seinem Inneren Oberhand gewinnt und darum gelte: „Das Fest in meinem Inneren bedeutet eine Belebung von innen her. Es verwandelt ein Ereignis und formt es, es richtet den niedergeschlagenen Menschen wieder auf."105

b) Versöhnungsfeste als Versöhnungskultur

Im Rahmen solcher Feiern hat sich im Laufe der Zeit eine „Kultur der Versöhnung" entwickelt. Es gibt seit altersher Riten, die Versöhnung nicht auf dem Weg der Klärung, der Sühne oder Wiedergutmachung und nicht über sakramentales oder liturgisches Handeln, sondern durch feierliche Vergebung und Friedensstiftung ermöglicht haben. Sie können profaner Natur sein - wie die „Friedenspfeife" oder das „Bruderschaft-Stiften" - , sind aber erst als kultische Handlungen wirksam oder werden erst dann ernst genommen. Darum sind sie meistens mit Zeichen, Symbolen, Gesten verbunden (wie Handschlag, Blutaufritzen, Gelöbnis, Schwurhand, Versöhnungstrunk u.a.). Sie dürfen nicht aus

103

H.-Chr. Schmidt-Lauber, Die Eucharistie, in: H.-Chr. Schmidt-Lauber/K.-H. Bieritz (Hg.), Handbuch der Liturgik, a.a.O., S. 238. 104 J. Moltmann, Kirche in der Kraft des Geistes, a.a.O., S. 294-301. 105 R. Schutz, Ein Fest ohne Ende, a.a.O., S. 96.

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der Perspektive der bürgerlichen oder gar künstlerischen Feierlichkeit verstanden oder gedeutet werden. Zur Feier der Versöhnung gehört die ganze Realität des menschlichen Lebens: „Übersteigen" der Grenzen zum Menschen hin ist nicht von vornherein „ein Überspielen der Wirklichkeit". Die Schwierigkeiten der Versöhnung, die Bedrohung geschehener oder gefeierter Versöhnung darf nicht vergessen oder unterschätzt werden. Sich auf Versöhnung einlassen bedeutet Zustimmung zu dieser Wirklichkeit, auch zur Möglichkeit des Rückfalls oder des Widerstandes. Widerspruch gegen Versöhnung, Kräfte der Verweigerung, des Bösen und Zerstörerischen müssen bewußt in Kauf genommen werden.106 Die Dimension der Feier wird in der heiligen Schrift an sehr zentralen Stellen betont. In den von uns behandelten Geschichten aus dem Alten und dem Neuen Testament können einzelne wichtige Elemente der Versöhnung beobachtet werden. Hier wird sehr anschaulich beschrieben, wie die Versöhnung mit den Brüdern oder des Vaters mit dem verlorenen Sohn durch Gesten markiert wird: Weinen („Josef weinte"), Sehen („Der Vater sah den verlorenen Sohn von ferne"), Ergriffenwerden („Es jammerte ihn"), Entgegengehen, Umarmen, Zeichen der Liebe, Wiedersehen. Die Umarmung, der Kuß und andere sichtbare Zeichen der Annahme - wie die „Investitur", die „Einkleidung" - sowie das Ringanstecken und die Verleihung der Schuhe (Sandalen) sind Zeichen der Versöhnung. Wir beachten auch die eigentliche Festanweisung: die Schlachtung des gemästeten Kalbes und der Aufruf zur Festfreude: „Lasset uns essen und fröhlich sein!" Auch die Begründung unterscheidet sich von jener anderen profanen Festlichkeit oder Unterhaltungsstimmung („Lasset uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot"). Hier heißt es dagegen: „Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wieder gefunden worden" (Lk 15,24.32). Ähnlich ist es auch in den anderen Doppelgleichnissen von dem Verlorenen (Lk 15,7-10). Hier erschallt der Ruf zur Mitfreude und zum Mitfeiern anläßlich des „Wiederfindens", zu dem Freunde und Nachbarn eingeladen werden. Die Freude wird in der Festlichkeit, im Feiern des Anlasses mit den Mitmenschen geteilt.107 Die Gemeinde - das Volk Gottes - hat sich immer als feiernde Versöhnungsgemeinschaft verstanden. Das eindrücklichste Beispiel dafür ist im Alten Testament der große Versöhnungstag der Juden. Er ist eine „Liturgie des Ver108 söhnens" in tiefstem Sinn. Gott selbst stiftet die Feier des großen Versöhnungstages. An diesem einmaligen Fest der Juden kann man besonders schön 106

J. Müller, Versöhnung feiern, in: E. Garhammer u.a. (Hg.),... und führe uns in Versöhnung, a.a.O., S. 234f. 107 O. Schwankl, Das· Gleichnis von den Vatersöhnen, in: E. Garhammer u.a. (Hg.),... und führe uns in Versöhnung, a.a.O., S. 160ff. 108 A. Schenker, Versöhnung und Sühne, a.a.O., S. 111 ff.

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beobachten, wie das Fest durch die Vorbereitung auf dieses Ereignis in Alltag hinein wirkt und damit zu einer „Kultur der Versöhnung" fuhrt. sonders in den Tagen vor dem Fest sind viele Juden besonders bemüht, gangenes Unrecht wieder gut zu machen, sich mit denen, die von ihnen kränkt, beleidigt oder übervorteilt wurden, auszusöhnen.

den Bebege-

Den Höhepunkt solcher innerer und äußerer Vorbereitung auf das Versöhnungsfest stellt der "1153 GÌ"1 am Vortag des Versöhnungstages, dar. An diesem Tag darf nicht gefastet werden, damit man genügend Kraft für das ganztägige Fasten am Festtag selbst hat. Viele gehen an diesen Tagen in der Früh auf den Friedhof und gedenken dort ihrer Verstorbenen und der Endlichkeit ihres eigenen Lebens; andere teilen Almosen aus oder tun sonst etwas Gutes. Auch hier fehlt es nicht an Symbolen. Nach dem Tagesgebet in der Synagoge wird die letzte Mahlzeit vor dem Fastentag eingenommen. Der Tisch wird festlich gedeckt, wie am Sabbattag. Die Lichter, auch die besonderen „Sabbatlichter" brennen. Zusätzlich brennt eine große Kerze, die den ganzen Jom Kippur hindurch angezündet bleibt. Diese Kerze wird am Abend fur die Hawdalah, das heißt den Abschied, verwendet. In manchen Ländern und Kreisen ist es Brauch, ein Licht zum Andenken der verstorbenen Eltern anzuzünden, das sogenannte „Seelenlicht". Sehr eindrücklich ist, wie das Fest im Alltag vorweggenommen wird bzw. in ihn hineinstrahlt: An diesem Abend, ehe die Sonne untergeht, legt man die weißen Gewänder sowie die weiße Kippa an und geht so angezogen zur Synagoge. Dort haben die Gemeindevorsteher, die fur den Gottesdienst verantwortlich sind, ihren Gebetsmantel an, unter dem sie, nachdem sie den Segensspruch gesagt haben, Haupt und Schultern verhüllen. Besonders eindrücklich ist das Hauptgebet an diesem Abend, das sogenannte „Kol Nidre" („alle Gelübde"). Für alle Gelübde, die man aus Irrtum, Übereilung oder anderen Voraussetzungen getan hat und nicht halten konnte, bittet man um Befreiung. Es handelt sich lediglich um Gelübde privater, persönlicher Natur und solche, die keine Rechte und Ansprüche anderer Menschen betreffen. Diese Bitte war aktuell in Verfolgungszeiten, in denen Juden genötigt wurden, ihren Jahwe-Glauben nicht öffentlich zu zeigen oder sogar eine aufgezwungene Religion pro forma zu übernehmen. Es handelt sich also nicht um ein Dokument jüdischer Eidbrüchigkeit, wie antisemitische Kreise manchmal geltend gemacht haben, sondern ist ein besonders eindrückliches Zeugnis der großen Vergebung Gottes, derer sich die Gemeinde erfreuen darf. Das Gebet schließt mit dem Satz: „So wird es vergeben der ganzen Gemeinde der Kinder Israels, dazu auch dem Fremdling, der unter euch wohnt, weil das ganze Volk an solchen Vergehen teilhat". Diese Versöhnung gilt jedoch auch für die Gläubigen untereinander. „Wer gegen seinen Nächsten sich vergangen hat, soll ihm sagen: ich habe gegen dich

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gefehlt. Wenn jener ihn annimmt, so ist es gut; wenn aber nicht, so nehme er (andere) Menschen mit sich und versöhne ihn in deren Gegenwart [...] Ist der Beleidigte gestorben, so muß er ihn auf seinem Grab versöhnen und sprechen: ,ich habe gegen dich gefehlt' [...] Wer seinen Nächsten auch nur mit Worten kränkt, muß ihn versöhnen".109 Eine beeindruckende Schilderung der besonderen Atmosphäre des Vorabends des Versöhnungstages und der Art, wie das Versöhnungsgeschehen des großen Festes in den Alltag hineinwirkt, haben wir in Bella Chagalls Erzählung „Versöhnungstag". Die Verfasserin erzählt darin, wie schon am Morgen des Versöhnungstages, sie sich als Kinder vor dem Fasten untereinander um Verzeihung bitten und sich bemühen, gute Taten zu tun. Die Mutter geht in den Hof, um sich mit einem Nachbarn zu versöhnen, mit dem sie Streit hatte, indem sie ihn von Herzen um Verzeihung bittet. Die Kinder gehen und wünschen den Eltern ein gutes neues Jahr. Jedem einzelnen legen die Eltern die Hand auf den Kopf und segnen sie. Unter Tränen, in großer Rührung, empfangen die Kleinen den Segen. „Wie eine Neugeborene weiche ich aus dem Bannkreis der weißen, warmen Hand meines Vaters, die unter den Segenssprüchen wie Lichter leuchten, und stehe unter den zitternden Händen meiner Mutter".110 Die christliche Kirche hat sich - in der Nachfolge dieser Tradition - als feiernde Versöhnungsgemeinschaft verstanden. In der Osterfeier, die den Höhepunkt des Heilswerkes Christi in der christlichen Kirche darstellt, begehen wir die liturgische Feier der Versöhnung als Begegnung mit dem versöhnenden Gott, der durch seine heilsame Gegenwart das neue, versöhnte Leben der Christen untereinander schenkt und damit Zukunft eröffnet. Damit dies Wirklichkeit werde, bedarf es - angesichts der Sündhaftigkeit der Menschen und ihres immer neuen Abfalls - der Versöhnungs- und Umkehrrituale, die trotz schwerer Bedenken - die manche Zweifler äußern - in der Kirche immer wieder Raum gefunden haben und zentrale Handlungen, ja „Sakramente der Kirche" geworden sind. Neben solchen in der Liturgie der Kirche verankerten Feiern kannte die christliche Kirche jedoch ebenso Feste, die diese Büß- und Versöhnungstradition weitergeführt haben. So gab es noch in der Zeit des Mittelalters in Deutschland und anderen Ländern Europas vielerorts das „Fest der Narren", das um Jahresbeginn gefeiert wurde. Harvey Cox hat es durch sein bekanntes 109

D. Vetter (Hg.), Gebete des Judentums, Gütersloh 1995, S. 75; Vgl. dazu die Weisung aus „Yoma", in: Fr. Avemarie, Yoma-Versöhnungstag, a.a.O., S. 228: „Übertretungen zwischen einem Menschen und Gott sühnt der Versöhnungstag, aber (Übertretungen) zwischen ihm und seinem Genossen sühnt der Versöhnungstag erst dann, wenn er von seinem Genossen Verzeihung erwirkt hat". 110 B. Chagall, Versöhnungstag, in: Brennende Lichter, rororo 107, S. 70-81.

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Buch neu in Erinnerung gerufen. Freilich war das „Fest der Narren" - unseres Erachtens - nur ein Teil eines ursprünglichen Büß- und Versöhnungsfestes, und zwar die auf das geistlich-liturgische Handeln folgende Lustbarkeit. Fromme Priester und ernste Bürger zogen an diesem Tag obszöne Masken an, sangen schamlose Lieder und hielten die Menschen mit ihren Spötteleien und Narreteien in Atem. Niedere Kleriker verkleideten sich als hohe Würdenträger und machten sich über altehrwürdige Bräuche von Kirche und Hof lustig. Mancherorts wurde ein „Fürst der Unordnung" oder ein „Bubenbischof' gewählt, der den Ereignissen vorstand. Der „Bubenbischof' feierte mitunter sogar eine Parodiemesse. Niemand war während dieser Zeit vor Spott und Kritik gefeit. Dieses „Fest der Narren" war wegen Possenreißerei und nicht seltenen Ausschreitungen bei der Demonstration der „Umkehrung" bestehender Ordnungen und hierarchischer Strukturen in der etablierten Gesellschaft und Kirche nicht beliebt und wurde bald als Ausschreitung verurteilt. Eine förmliche Verdammung erfuhr es 1431 durch das Konzil von Basel und blieb doch bis ins 16. Jahrhundert hinein bestehen. In den alten Bräuchen zu Silvester und in der Fastnacht lebt es bis heute weiter.111 Der Ursprung dieses Festes läßt sich aufgrund eines Vergleiches mit dem sogenannten „Rieht- und Sittag" bei den Siebenbürger Sachsen rekonstruieren. Dies ist ein Tag des „Gericht-Haltens" innerhalb der Nachbarschaft einer Gemeinde, den man als „Paradigma fur institutionalisierte soziale Kontrolle" bezeichnet hat und dessen Sinn ist, „die in den Satzungen kodifizierten Ordnungsvorstellungen mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit, das heißt mit dem Handeln der Nachbarn" zu konfrontieren und „Übertretungen mit den satzungsgemäß festgelegten Geldstrafen bis hin zum förmlichen Ausschluß zu 112 ahnden". Der Name „Vergleichstag", der in manchen Gemeinden ebenfalls hierfür üblich ist, weist auf die Funktion des „Ausgleichs" unter den Nachbarn hin, wobei Versöhnung aufgrund eines Gerichthaltens zustande kommt: die Nachbarschaftsversammlung spricht wie ein „Geschworenengericht" Recht. Wir haben hier ein Rekonziliationsverfahren vor uns, wie es - zusammen mit anderen Ordnungen - aus der römischen Kirche kommend auf germanischem Boden sich ausgebildet hat. Damals bestanden in Deutschland, woher die Siebenbürger Sachsen im 12. Jahrhundert kamen, noch Rechtsvorstellungen und Lebensformen, die aus dem „germanisch geprägten Kirchenrecht" stammten, das sich gegenüber dem „römisch geprägten Kirchenrecht" durchgesetzt hatte. Diese nahmen die Einwanderer nach Siebenbürgen mit, wo sie sie bis in unsere Zeit erhalten haben. 113 111

H. Cox, Das Fest der Narren, a.a.O., S. 10.

112

G. Weber, Beharrung und Einfügung. Eine empirisch-soziologische Analyse dreier Siedlungen, Köln-Graz 1968, S. 66. 113

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Siehe oben, Einleitung, S. 22ff.

Bemerkenswert ist, daß bei diesem „Gerichtsverfahren", einer gewandelten „Bußdisziplin", die Nachbarn aufgefordert werden, sich selbst anzuklagen (im Sinne von Mt 5,23f.), und ihnen fur diesen Fall nur die Hälfte der Strafe auferlegt wird. Wird jemand jedoch von einem anderen angeklagt (im Sinne von Mt 18,15-17), so muß er die ganze Strafe bezahlen. Daß dieser „Gerichtstag", der bis 1989 noch in fast allen Landgemeinden innerhalb der siebenbürgisch-sächsischen Kirche abgehalten wurde, kirchlichen Ursprungs ist, zeigt, daß er vielerorts mit einem Gottesdienst begann, den man „die Männerkirche" nannte, weil nur Männer daran beteiligt waren (die Männer waren die Vertreter des „Hauses"). In manchen Gemeinden heißen diese Gottesdienste bis in unsere Tage „Versöhnungskirche" oder „Versöhnungsgottesdienst". In diesen Gottesdiensten gab es Versöhnungshandlungen im Anschluß an die Predigt, bei denen sich die Männer und Frauen mit Handschlag gegenseitig um Verzeihung baten und die Vergebung zusprachen. Das geschah im Chor der Kirche oder auf den Plätzen im Gotteshaus, mancherorts auch im Anschluß an den Gottesdienst vor der Kirche oder vor Beginn des eigentlichen Gottesdienstes. Nur wer an diesem Gottesdienst teilnahm und somit versöhnt war, durfte sich an dem anschließenden „Sitt- und Richttag" beteiligen. Wo es keinen vorangehenden „Versöhnungsgottesdienst" gab, fand die formliche Versöhnung im Haus des Nachbarn statt. Der Termin des Richttages der Nachbarschaft lag um den Aschermittwoch herum, meist am Dienstag davor (Fastnacht) oder Tage vorher. Das „Faschingsfest" fand im Anschluß daran statt und dauerte in manchen Gemeinden mehrere Tage. Ein ähnliches Versöhnungshandeln gab es gesondert unter den Jugendlichen, in den sogenannten „(Versöhnungs-)Zugängen" der Bruder- bzw. Schwesternschaften. Bemerkenswert ist, daß der Sitt- und Richttag sich von den Versöhnungshandlungen vor dem Abendmahl unterschied, die in regelmäßigen Abständen (drei bis viermal im Jahr) in den einzelnen Nachbarschaften bzw. in den Bruder- und Schwesternschaften auch als „Versöhnungskirchen" stattfanden, aber auch als Versöhnung innerhalb anderer Gruppen, in der Familie, innerhalb von Körperschaften, vor der Konfirmation und aus anderen Anlässen. Ebenso gab es Versöhnungshandlungen vor der Eheschließung, also innerhalb der Hochzeitsfeierlichkeit und selbst bei den Beerdigungsfeiern.114 Es ist kein Wunder, daß Festlichkeiten, bei denen sich nur die Lustbarkeit erhalten hatte, abgeschafft wurden, wenn diese mit der Zeit zu Ausschweifungen führten. Die Festlichkeiten in der siebenbürgischen Kirche, die es bis vor einigen Jahren fast überall in den Gemeinden gegeben hat, haben sich - bis auf Ausnahmen - zusammen mit ihrem kirchlichen, liturgischen Ursprung erhalten. Grund hierfür war wohl, daß das Gefühl für die enge Verbindung zwischen 114

Chr. Klein, Die Versöhnung, a.a.O., S. 113-123; 136-200.

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Gottesdienst und Fest, verbunden auch mit Lustbarkeit, nicht verlorengegangen ist, was auch vor Ausschweifungen oder totaler Verweltlichung des Festes bewahrt hat. Wir beklagen darum zu Recht den Verlust der Festlichkeiten in der Kirche und sehen darin einen bedeutsamen Wandel im kulturellen Klima unserer Welt: den Verlust der Kraft der Feier und der Phantasie. Das hängt mit den neuen sozialen und wirtschaftlichen Praktiken zusammen, die ihren Höhepunkt in der industriellen Revolution und im kapitalistischen Wirtschaftsethos erreicht haben. Andere Dinge wurden wichtiger: die Tugend der Nüchternheit, der Sparsamkeit, des Fleißes und der Strebsamkeit, doch dieses auf Kosten so wichtiger Werte wie es die Festlichkeit ist, die zusammen mit Spiel, Heiterkeit und Beschaulichkeit einer vernichtenden Kritik verfallen waren. Die Rekonziliation als Feier der Buße und Versöhnung, die im Laufe der Zeit immer mehr „festliche" Formen angenommen hat, ist vielleicht auch darum später so selten geworden, weil ihr dieser festliche Charakter abhanden gekommen und damit eine wichtige religiöse Dimension verlorengegangen ist. Die neuen Versuche, Gottesdienste „festlich" zu gestalten, entstanden aus dieser Erkenntnis heraus. Sie haben in der liturgischen Erneuerungsbewegung und besonders in der Ökumene Fuß gefaßt. In dieser Hinsicht ist besonders das „Feierabendmahl" zu erwähnen, das sich innerhalb des Kirchentags entwickelt hat. Es versteht sich als „festliches Abendmahl in offener Gestalt mit thematischer Ausrichtung und versucht durch bewußt angestrebte liturgische Vielgestaltigkeit die unterschiedlichen Ströme der gottesdienstlichen Auffassungen zusammenzuführen". 115 Hier sei besonders die „Liturgische Nacht" erwähnt, die auf dem Kirchentag in Düsseldorf 1973 einen Durchbruch in dieser Hinsicht darstellte. Sodann ist vor allem innerhalb der ökumenischen Bewegung stets neu versucht worden, Formen des gottesdienstlichen Feierns zu finden, die allen beteiligten Christen die Teilnahme ermöglichen. Dabei wurden vor allem drei Wege beschritten: 1. durch eine Gottesdienstform, „die einen Minimalkonsensus repräsentiert", in dem „alles vermieden wird, das irgend einen Teilnehmer in seinem Gewissen vergewaltigen könnte"; 2. durch ,¿ídditionierung", indem jede beteiligte Konfession einbringt, was ihr unumgänglich erscheint und sich bemüht, die Grenzen der Verletzlichkeit der anderen Teilnehmer zu achten. Dabei wird aus dem Reichtum der Gaben, die die beteiligten Kirchen einbringen, das zusammengefugt, was der gemeinsamen Feier dienlich ist; 3. durch Gewährung der „ökumenischen Gastfreundschaft". Die weiteste Öffnung dabei erfolgt, wenn Kirchengemeinden sich gegenseitig zur Eucharistiefeier einladen, die

115

H. Lindner, Feierabendmahl, in: H.-Chr. Schmidt-Lauber/K.-H. Bieritz (Hg.), Hand-

buch der Liturgik, a.a.O., S. 874f.

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aufgrund von Vereinbarungen in bestimmten christlichen Kirchen gewährt wird. Dabei kann - meist zu besonderen Gelegenheiten - der Zugang zum Altarsakrament fur alle im Gottesdienst Anwesenden geöffnet werden, indem eine ausdrückliche Einladung ausgesprochen wird. Die Beschränkung oder Erweiterung der Freiheit, an Abendmahlsfeiern anderer kirchlicher Gemeinschaften teilzunehmen, wird durch die Kirchen verschieden bestimmt, in den meisten Fällen allgemein festgelegt und in Einzelfällen ausgesprochen.116 Wichtig ist jedoch, daß an gemeinsamen ökumenischen Gottesdienstformen gearbeitet wird, in denen der Gottesdienst als „Fest der Versöhnung" verstanden und gefeiert wird. Es lohnt daher, einen Blick auf die Gottesdienste zu werfen, die sich als „Fest der Versöhnung" verstehen.

c) Der Gottesdienst als,,Fest der Versöhnung"

Welches sind solche neue Formen der Versöhnung, die den Gottesdienst zum Fest machen? Auf der sechsten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirche in Vancouver 1983 hat sich mit der Formel „Das Fest des Lebens", ein Verständnis des Gottesdienstes angebahnt, das neue Dimensionen entdecken ließ, die bis dahin - besonders im protestantischen Raum - verloren schienen. Was bedeutet das für die Versöhnung? Zunächst muß allgemein festgestellt werden: Symbole und Gesten der Versöhnung, wie Handauflegung, Friedensgruß bzw. Friedenskuß und andere Zeichen der Versöhnung und des Friedens durch Handreichen, Umarmen und Vergebungsformeln sollten auch im Gottesdienst wieder mehr Bedeutung erhalten. Vielen Menschen fällt es schwer, dabei ein passendes Wort zu finden, zumal wenn es um Versöhnung in einem engen, vertrauten Kreis geht, wo konkrete Vergehen und Schuldzuweisungen vorliegen. Darum sind Versöhnungsformeln hilfreich. In der siebenbürgischen Kirche war eine Reihe zum Teil sehr ähnlich klingender kurzer Versöhnungsformeln üblich, die jeder kannte, wie auch die Antworten, die ebenso formelhaft festgelegt waren. Heute lächeln wir leicht über solche „formelle" Worte der Bitte um Vergebung. Doch zeigt sich, wie Formeln und feststehende Reden - auch bei anderen Gelegenheiten - eine Hilfe dafür sind, nicht in Wertlosigkeit oder totales Schweigen zu verfallen. Zur Geste soll das Wort hinzukommen. Oft werden „Spiele" mit symbolischen Gesten als hilfreich empfunden, wenn „Versöhnung gefeiert" werden soll. Auch bei Übergangsriten, Lebenszyklen und Festen im Kreislauf des Lebens,

116

Hinweise für Einheitsbemühungen in der Gemeinde siehe in: A. Birmelé (Hg.), Öku-

mene am Ort. Einheitsbemühungen in der Gemeinde (BensH Nr. 60), hg. v. Evangelischen Bund, Göttingen 1983, S. 45ff.

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des Jahres und der Welt gibt es Möglichkeiten verschiedener versöhnender und versöhnlicher Gesten und Handlungen. Die „Kultur der Versöhnung" fuhrt zur Pflege des Wieder-Zueinander-Findens im Alltag und das heißt zur Bewältigung der Lebens- und Arbeitswelt, die zwar heute ganz anders aussieht, aber auch in dieser Andersartigkeit des friedlichen und versöhnten Zusammenlebens bedarf. Wo die Gemeinde Jesu Christi als „Kirche fur andere", „Sauerteig", „Salz der Erde" oder „Licht der Welt" sein soll, wird das versöhnte Zusammenleben eine Notwendigkeit. Das immer neue Geschenk der Versöhnung wird in der Gemeinschaft Auswirkungen haben auf das Zusammenleben der Menschen in Gesellschaft und Welt. Das ist schon längst eine Grundidee in der ökumenischen Auffassung von der Rolle der Kirche fur die Welt: Kirche als Avantgarde, als Bild der zukünftigen Gemeinschaft in der Welt. Die Kirche muß das Zeichen der Versöhnung zuerst in ihrer eigenen Mitte aufrichten, im Sinne des Jesuswortes, „daß sie alle eins sein [...] damit die Welt glaube" (Joh 17,21). Die Kirche wird durch ihre Gespaltenheit eher ein Ärgernis für die Welt als ein Zeichen des Glaubens und der Hoffnung. In diesem Zusammenhang ist bedeutsam, daß die Gemeinsame Internationale Kommission zwischen Katholiken und Lutheranern in ihrem Bericht „Einheit vor uns" (1985) betonte, daß ökumenische Versöhnung ihren Ausdruck in liturgischen Feiern finden muß. 117 „Konvergenzerklärungen", wie die von Lima (1982) und andere Konsensbemühungen, wie sie in der Kommission für Glaube und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rats der Kirchen erarbeitet werden, sind nicht die einzige Möglichkeit der Versöhnungsarbeit: sie müssen durch die liturgische Feier vertieft, „gekrönt" werden. Das ist bezüglich der „Konvergenzerklärung von Lima" in der sogenannten „Lima-Liturgie" geschehen. Diese von Max Thurian entworfene Ordnung für einen ökumenischen Gottesdienst wurde für die Plenarversammlung der Kommission für Glaube und Kirchenverfassung in Lima/Peru vorbereitet und zum erstenmal am 15. Januar 1982 angewendet. Sie wurde sodann am 28. Juli desselben Jahres in der Kapelle des Ökumenischen Zentrums in Genf und schließlich bei der VI. Vollversammlung des ORK in Vancouver 1983 dem festlichen Gottesdienst zugrunde gelegt. Die Lima-Liturgie sollte die soliden theologischen Errungenschaften des sogenannten BEM-Dokuments (Baptism, Eucharist and Ministry) veranschaulichen, wobei sie für feierliche Gelegenheiten 118 gedacht ist und die Fülle des ökumenischen Gottesdienstes darstellen will.

117

G. Wainwright, The Reconciliation of Divided Churches: A Witness to the Gospel, in: StLi, a.a.O., S. 81. 118 Vgl. M. Thurian, The Eucharistie Liturgy of Lima, in: M. Thurian/G. Wainwright (Hg.), Baptism and Eucharist. Ecumenical Convergence in Celebration, Genf 1983, S. 241.

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Wenn dieses Modell auch variiert werden kann und - bei verschiedenen späteren wichtigen ökumenischen Ereignissen - auch variiert wurde, so hat sich die Dreiteilung des Gottesdienstes und die Bezeichnung der einzelnen Teile als „Eingangsliturgie", „Liturgie des Wortes" und „Liturgie der Eucharistie" durchgesetzt. Ebenso haben sich der einführende Teil (Sündenbekenntnis und Absolution, Kyrie und Gloria), der Wortteil (Kollekte, alttestamentliche Lesung, Epistellesung, Evangeliumlesung, Predigt, Glaubensbekenntnis und Fürbitten) und der Abendmahlsteil (eucharistisches Hochgebet, Vaterunser, Friedenszeichen und Kommunion) als „konstitutive Elemente" herausgebildet. Bemerkenswert ist, daß dem Vaterunser eine „Friedenshandlung" folgt. Der Geistliche leitet sie mit den Gebetsworten ein: „Herr Jesus Christus, du hast deinen Aposteln gesagt: den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Siehe nicht auf unsre Sünden sondern auf den Glauben deiner Kirche. Damit dein Wille geschehe, schenke uns allezeit diesen Frieden und führe uns zu der vollkommenen Einheit deines Reiches in Ewigkeit." Es folgt der Friedensgruß, der zwischen dem leitenden Zelebranten und der Gemeinde ausgetauscht wird („Der Friede des Herrn sei mit euch" - „Und mit deinem Geist"). Dann folgt die Aufforderung: „Laßt uns einander ein Zeichen der Versöhnung und des Friedens geben". Im Dankgebet - nach der Kommunion - heißt es sodann: „O Herr, unser Gott, wir danken dir, daß du uns in der Taufe im Leib Christi vereinigt hast und daß du uns im heiligen Mahl mit Freude erfüllt hast. Führe uns zur vollen sichtbaren Einheit deiner Kirche und hilf uns, alle Zeichen der Versöhnung, die du uns gewährt hast, zu bewahren. Nun, da wir das Mahl geschmeckt haben, das du uns bereitet hast in der zukünftigen Welt, mögen wir eines Tages alle zusammen am Erbe der Heiligen im Leben deines Reiches teilhaben, durch Jesus Christus, deinen Sohn, unseren Herrn, der lebt und regiert mit dir in der Einheit des heiligen Geistes, ein Gott in Ewigkeit".119 Diese Liturgie als Akt der Gemeinschaft soll auch dadurch zum Ausdruck kommen, daß sie nicht eine klerikale Selbstdarstellung ist, sondern ein „Konzert der ganzen christlichen Kirche", an dem bestimmte Glieder eine besondere Rolle spielen, gemäß ihren Charismen und ihrem Mandat. Die „Liturgie des Wortes" soll darum auf Gottesdienstleitern verschiedener Traditionen aufgeteilt werden, während die „Liturgie der Eucharistie" einen „leitenden Zelebranten" mit anderen „Assistenten" - gemäß dem Mandat der eigenen Kirche zu einem 120 solchen - Auftrag vereinigen.

119

M. Thurian, The Eucharistie Liturgy of Lima, in: M. Thurian/G. Wainwright (Hg.),

Baptism and Eucharist, a.a.O., S. 254. 120

M. Thurian, The Eucharistie Liturgy of Lima, in: M. Thurian/G. Wainwright (Hg.),

Baptism and Eucharist, a.a.O., S. 242.

263

Die Bemühungen um eine „Grundform" der Liturgie als ein „Ordo" von Texten und Handlungen sind indessen weitergegangen. Durch die Aufarbeitung der Erfahrungen mit der „Lima-Liturgie" versucht man eine Beschreibung von Merkmalen einer „ökumenischen Eucharistiefeier". Der „Vorschlag von Bossey" will eine Art Erneuerung und Fortsetzung der „Lima-Liturgie" darstellen, 121

die den Kirchen als „Grundform" vorgelegt wird. Dabei wird ein „deutlich erkennbarer" Wortteil und ein „deutlich erkennbarer" Abendmahlsteil unterschieden. Der Wortteil besteht aus zwei deutlich erkennbaren Elementen: Lesung aus dem Alten Testament und dem Neuen Testament und Verkündigung des gekreuzigten und auferstandenen Christus. Lesung und Verkündigung sollen zu einer Antwort der Gemeinde auf das Gehörte hinfuhren, die sich in der Fürbitte, im Glaubensbekenntnis und im Gesang ausdrückt. Der Abendmahlsteil hat zwei klare Bestandteile: eine Danksagung am Tisch und gemeinsames Essen des Brotes und Trinken aus dem Kelch der Danksagung. Danksagung und Austeilung sollen zusammen zur Sendung der Gemeinde hinfuhren. Fehlen darf hier auch der „Friedensgruß" nicht, von dem es heißt: „Den Friedensgruß austauschen, um unsere Bitte zu bestätigen, uns auf das Abendmahl vorzubereiten und um uns für alle Notleidenden zu sammein".122 Wenn es zu Feiern der Versöhnung zwischen getrennten christlichen Kirchen kommen soll, werden freilich tiefgehende ekklesiologische Fragen geklärt werden müssen: Wer - so fragt G. Wainwright - kann in der gespaltenen Christenheit fur „die Kirche" handeln? Wer hat die Autorität, die „Beichte" der christlichen getrennten Kirchen zu hören, die die Schuld ihrer Trennung bekennt, und um Vergebung und Einheit bitten? Wer hat die Autorität, sie von ihrer Sünde der „Un-Einheit" loszusprechen? Wer will sich mit wem oder mit was versöhnen? Wie sich die einzelnen Kirchen auch immer dazu verhalten würden, muß deutlich bleiben, daß alle sich der Sünde gegen die Einheit der Kirche schuldig gemacht haben und Vergebung benötigen und suchen sol, 123 len. In einigen Fällen sind Kirchen in eine neue Verbindung getreten, haben sich zusammengeschlossen und - unterschiedliche - Formen der Einheit gesucht und gefunden. Es ist interessant, aufgrund der vorhandenen liturgischen Formulare oder verwendeten liturgischen Ordnungen zu untersuchen, wie solche 121 Eucharistiefeier bei ökumenischen Zusammenkünften. Ein Vorschlag, in: ER 47/3, 1995, S. 387-391. Der 15. Kongreß der Societas Liturgica 1995 in Dublin befaßte sich ebenfalls mit dem Thema „Die Zukunftsgestalt der Liturgie" (StLi 26/1 1996). 122 Vgl. zum Ganzen: G.W. Lathrop, Die Grundform der Liturgie - ein Leitfaden für die Kontextualisierung, in: S.A. Stauffer (Hg.), Christlicher Gottesdienst. Einheit in kultureller Vielfalt, Genf 1996/Hannover 1997, S. 76-78. 123 G. Wainwright, The Reconciliation of Divided Churches, in: StLi, a.a.O., S. 81.

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christliche Gemeinschaften ihre Versöhnung miteinander vollzogen und „gefeiert" haben, zum Beispiel die Feier der Inauguration der „United Church of Australia" (1977). George Wainwright stellt zwei diesbezügliche Dokumente vor: den Bericht des englischen „Churches' Council for Covenanting" von 1980, der einen Gottesdienst für einen „Bundesschluß" vorschlägt,124 und die amerikanische COCU (Consultaion on Church Union), die ein Modell eines kirchlichen Bundes zur Einheit bietet: „An order for declaring covenant, reconciling ministries, 125 and celebrating the Lord's Supper". George Wainwright hat 1987 auch eine liturgische Ordnung für eine umfassende konstitutive Versöhnung zwischen katholischen, orthodoxen und protestantischen ekklesialen Gemeinschaften vorgeschlagen, die angewendet werden kann, wenn die dogmatischen Bedingungen dafür geschaffen sind. Sie enthält einen Eingangspsalm (122 oder 133), ein Eröffnungsgebet, eine Lesung der Epistel (Eph 4,1-16) und des Evangeliums (Joh 17), über die gepredigt wird. Die Rezitation des Credo wird als Antwort auf Text und Predigt verstanden und soll den Charakter einer Tauf-Anamnese haben: die gemeinsame Taufe als die Grundlage, auf der die Versöhnung erfolgt. Auch gemäß dem Ökumenismusdekret des Zweiten Vatikanischen Konzils ist die Taufe und der durch sie bezeichnete Glaube an Christus die Grundlage des ökumenischen Engagements der Kirche. Auf dieser Grundlage der gemeinsamen Taufe könnte dann so etwas wie eine „Versöhnung der Poenitenten" stattfinden. Zuerst würden Vertreter jeder Gemeinschaft vor der anderen Gemeinschaft ein Bekenntnis ablegen, eventuell mit Worten aus dem Bußakt vor der Messe („Ich bekenne Gott, dem Allmächtigen und euch, meinen Brüdern und Schwestern [...]"). Bei jedem solchen Bekenntnis würde die die Schuld bekennende Gemeinschaft von den anderen Gemeinschaften die Zusicherung vernehmen, daß ihr Bekenntnis wenigstens auf der Ebene der christlichen Brüder und Schwestern - vernommen worden sei und ihr Vergebung gewährt werde. Nach diesem gegenseitigen Schuldbekenntnis und der wechselseitigen Vergebung würden dann alle Gemeinschaften miteinander im Gebet ein Schuldbekenntnis gegenüber Gott ablegen. Dies wäre zumindest ein kollektives, wenn nicht ein gemeinschaftliches Sündenbekenntnis. Die Frage, wer die Absolution aussprechen sollte, ist schwierig, könnte aber so gelöst werden, daß man unmittelbar zu den „Fürbitten" übergeht. Die Fürbitten könnten die drei Themen beinhalten: 1. Die Bitte um die Vergebung Gottes. Für die „Absolution" in dieser rhetorischen 124

Ausführlich darüber in G. Wainwright, The Reconciliation of Divided Churches, in: StLi, a.a.O., S. 83ff. 125 „Ordnung zur Erklärung eines Bundes der Versöhnung der Ämter und der Feier des heiligen Abendmahls", 1985; ausführlich darüber in: G. Wainwright, The Reconciliation of Divided Churches, in StLi, a.a.O., S. 85ff.

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Fonti liegt ein Modell aus der alten Kirche vor: Der „feste Kern" der Versöhnung von Poenitenten sind danach drei Gebete, die vom Bischof verrichtet werden; er spricht über sie die Rekonziliation, und zwar in deprekativer (furbittender) oder - genauer - in supplikativer Form, das heißt in Form der sogenannten supplicationes (Bitten an Gott, er möge den Sündern verzeihen). 2. Gebete um die innere Erneuerung der Kirche und um die glaubwürdige Fortsetzung ihres Versöhnungsdienstes in der Welt. 3. Fürbitten, die an die Vergangenheit erinnern (Kommemoration bedeutsamer Gestalten in unserer gemeinsamen - und getrennten - Kirche, worin ihre Tugenden geehrt werden und ihrer Fehler nicht mehr gedacht wird). Der Abschluß der Feier würde der Friedenskuß sein, als Besiegelung der Versöhnung, der Gemeinschaft unter sich und mit Gott. Der Vorschlag sieht sodann eine gemeinsame Eucharistie vor, in der die Freude über die erfolgte Versöhnung zum Ausdruck käme. Gerade wegen der heiklen Frage der Anerkennung der Ämter wäre eine solche gemeinsame Eucharistiefeier zumindest ein konstitutives Element in der Versöhnung der Dienstämter, besonders am Gründonnerstag selbst, wodurch die Einsetzung und Gabe des Sakraments und des Dienstamtes Christi selbst in Erinnerung gerufen würde. Darum ist der geeigneteste Termin für eine solche Büß- und Dankfeier der Kirchen, durch den sie miteinander versöhnt werden, der Gründonnerstag, der Donnerstag in der Karwoche. Denn einerseits ist es der Tag der Einsetzung der Eucharistie und andererseits der Tag, an dem in der früheren Kirche die Poenitenten wieder aufgenommen (rekonziliert) wurden. 126 Modelle von „Versöhnungsfesten" haben wir auch aus Taizé. Im März 1980 wurde von Sevilla (Spanien) aus der „Pilgerweg der Versöhnung" angetreten. Über die Station in Erfurt gibt es einen eindrücklichen Bericht: „Mehrere tausend Jugendliche erlebten bei strahlendem Sonnenschein in Erfurt ein Fest wie ein vorweggenommenes Pfingsten. In großer Zahl waren sie aus ganz Thüringen und weit darüber hinaus gekommen, um gemeinsam mit Frère Roger zu beten, zu meditieren und ihren Glauben an den Auferstandenen zu bekennen. Überaus eindrucksvoll, ergreifend und für alle Teilnehmer wohl unvergeßlich war bereits am Samstagabend das .Gebet im Volk Gottes', zu dem im überfüllten Dom ein Großteil der Bänke entfernt wurde. In österlicher und auch pflingstlicher Freude sangen und beteten Jugendliche aller Konfessionen im größten Gotteshaus der Stadt, das nur durch den Schein unzähliger Kerzen erhellt wurde, ähnlich wie in Taizé. Verschiedene Lesungen und das Osterevangelium, die in deutscher, russischer, polnischer, ungarischer und tschechischer Sprache vorgetragen wurden, sowie Fürbitten in den aktuellen Nöten der Menschheit und aller Christen verdeutlichten das Anliegen der Jugendlichen. Eindringlich forderte Frère Roger die Gläubigen auf, als versöhnte Menschen zu handeln. Auf der Kopie eines Kirchenfensters aus Taizé - die Verklärung Christi - die er als Geschenk in den Erfurter Dom mitgebracht hatte, war ein Gedanke zu lesen, auf den Frère Roger zu sprechen kam: ,Wende dich im Augenblick Gott zu und versöhne dich!' Außerdem übergab 126

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G. Wainwright, The Reconciliation of Divided Churches, in StLi, a.a.O., S. 86ff.

er eine große Kreuzikone, auf die viele Jugendliche am Ende des fast vierstündigen Domnachtgebets die Stirn legten, um damit zu bekunden, daß sie in echter Christusnachfolge den vorgezeichneten Pilgerweg bei sich selbst anfangen wollen".127

Abschließend ein Wort von Frère Roger als Antwort auf die Frage, wie sich die Versöhnung der Christen vollziehen wird. Er sagt: „Am meisten fesselt uns die Suche nach Versöhnung der ganzen Menschheitsfamilie. Wenn die Christen nach Versöhnung suchen, dann nicht, um anderen gegenüber stärker dazustehen, sondern um als Mittler des Friedens selbst noch in die Risse der Menschheitsfamilie hineinzugehen. Versöhnt, auch wenn nur als winzige Schar, können die Christen die angebliche Zwangsläufigkeit von Haß und Krieg umstoßen und allen neue Hoffnung geben, die der Passivität, der Entmutigung und einem Leben ausgesetzt sind, das keinen Sinn mehr hat".128 Das Anliegen der vorliegenden Schrift kann man mit den Worten zusammenfassen, die beim Eröffnungsgottesdienst der Zweiten Europäischen Ökumenischen Versammlung in Graz gesprochen wurden: „Wir können Versöhnung finden, weil Gott sich mit uns in Jesus Christus versöhnt hat. Wir wollen Versöhnung suchen, weil es noch so viele Unversöhntheiten unter uns gibt. Wir wissen, daß das viel Arbeit, Mühe und Selbstüberwindung braucht. Wir können Versöhnung feiern, weil wir als durch Gott versöhnte Menschen zusammengehören".129 Zeugnis, Dienst und Feier der Versöhnung mögen im Beten und im Tun des 130 Gerechten das bleibende Anliegen der Christen sein.

127 J. Hildebrandt/Chr. Müller (Hg.), Taizé - Wege der Versöhnung. Gegenwart einer Gemeinschaft, Berlin 21986, S. 21f. 128 J. Hildebrandt/Chr. Müller (Hg.), Taizé - Wege der Versöhnung, a.a.O., S. 32f. 129 H. Beiglböck/W. Nausner (Hg.); Versöhnung: Gabe Gottes und Quelle neuen Lebens. Zweite Europäische Ökumenische Versammlung, 23.-29. Juni 1997 in Graz/Österreich, Graz 1997, S. 25. 130 D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, München 131966, S.203.

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Sachregister

Abendmahl 57, 73f, 119, 156f, 161, 166, 184, 206, 211, 215, 219, 223f, 226, 228, 23Off, 233ff, 238ff, 259ff, 263f Abendmahlsfeier 120, 161f, 206, 225, 231,261 Abendmahlsgemeinschaft 155, 162f, 183 Abendmahlslehre 162 Abendmahlsverständnis 73 Ablaß 169 Ablaßwesen 143, 214 Absolution 5 7 , 8 4 , 1 6 9 , 2 0 7 , 2 1 4 f f , 217, 226,228f, 233,235,238f, 249,263, 266 Amt 47, 53, 55f, 76f, 89ff, 113, 119f, 141, 143, 163, 168ff, 187, 220, 223, 247 Anglikaner 160 Angst 36, 46, 91, 106, 122, 230, 237 Aposteldienst 91 Ausgleich ( Ί 3 3 ) 6 l f , 83, 121, 123, 182f, 253,258 Ausgleich (zwischenmenschlicher) 58 Befreiung 50, 77, 82f, 85, 92, 103, 106f, 147f, 173, 165f, 196, 256 Befreiungstheologie 103, 184 Begegnung 60, 126, 143, 154, 158f, 164, 225, 248, 257 Beichte 57, 70, 95, 169ff, 172, 206, 21 Off, 213ff, 216ff, 219, 227ff, 230, 232ff, 236ff, 239ff, 248, 264 Beichtstuhl 169 Beziehung 31, 73, 77, 84f, 121f, 124, 126ff, 129ff, 144, 166, 175f, 178, 180, 182, 190f, 196f, 199, 201,211, 223, 227, 233, 243, 248 Bibel 31, 34, 58, 68, 84,100, 125, 137, 139, 182, 196, 235 Bibel(Arbeit) 43, 46, 50, 159, 196 B i s c h o f - B i s c h ö f e 55, 74, 95, 120, 163f, 185f, 198f, 207, 209ff, 217, 221, 229, 231,237, 240, 266 Bruderliebe (φιλαδελφία) 73, 100

Bruderschaft (αδελφότης) 73, 167, 243, 254 Buße, Umkehr ( μ ε τ ά ν ο ι α ) 36f, 40,44f, 59, 6 2 , 6 6 , 6 9 f , 102, 108f, 166f, 170f, 187, 205ff, 208ff, 21 Iff, 214, 216f, 219f, 226f, 229f, 232ff, 235ff, 240f, 248f, 260 Christologie 76f, 80f, 162, 241f Credo 160,221,265 Dialog 94, 109f, 128ff, 131, 133, 138f, 141, 143ff, 147, 149ff, 152, 157, 159, 163, 182, 184,213 Didache 2 2 5 , 2 3 0 Didascalia 231 Dienst der Versöhnung 85, 115, 205f Diskurs 93, 97, 141, 143 Disziplin 169f, 212,219, 228, 233, 237ff Dogmatik 35, 45, 62, 76f, 83, 86ff, 91, 93, 108, 182 Einheit 41, 73, 77, 90, 93, 100, 120, 138, 142, 144, 153ff, 156, 158, 160ff, 164, 167, 179, 183, 197, 223, 261ff, 264f Einheitskonzept, -Verständnis 154,156, 158 Entfremdung 34, 44f, 77, 81, 89, 93, 114, 137f, 175, 192, 197 Erziehung 51, 63, 96, 164, 201, 235ff Ethik 88, 93, 98, 133, 151, 170, 173, 175, 179, 190, 198, 200, 241, 243, 253 ethisch 43f, 54, 82, 84, 93f, 96, 149, 170, 175, 179, 183, 185, 190,216, 241 Eucharistie 164, 168, 171, 208f, 219, 22Iff, 224ff, 227ff, 230, 232, 254, 261, 263f, 266 Feier 44, 67f, 73f, 158ff, 217, 220ff, 223 Feier (der Versöhnung) 205f, 210, 217ff, 232, 255f, 260, 264, 267 Feier (des Abendmahls) 72ff, 161f, 164, 167 Feind 60, 68, 70, 74, 80, 85, 88, 146, 153, 161f, 192, 224, 243,245

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Feindschaft 34, 59, 69f, 83, 88f, 104, 106, 177, 187, 191, 193,243,245 Fest 42ff, 65, 67, 159f, 164, 250ff, 253f, 256, 258, 260f Freiheit 51, 81, 92, 112, 150, 156, 174, 194f, 201, 241, 248, 251, 254, 261 Friede(n) ( Ώ ^ ν ) 56, 70, 74, 83, 87f, 92, 98,120,124,129, 140, 145f, 165, 167, 175ff, 177f, 179, 183f, 185f, 188, 187ff, 205,231, 246f, 263, 297 Friedensgebete 140, 160 Friedenskuß, Heiliger Kuß (φίλημα αγιον) 74, 221, 224, 23If, 261, 266 Friedensstiftung 86f, 132, 169, 178f, 254 Fürbitte 64, 162, 164, 168, 223, 229, 263f, 266 Fürsprache 64, 162 Fürsprecher 56, 64, 162 Gebet 67, 74, 115, 155f, 162, 164, 207, 213, 221, 223, 231, 256f, 263, 265f Gemeinschaft 45f, 66, 72, 73f, 77f, 84f, 88,91, 101, 106, 109, 111, 131, 137, 146, 153, 155ff, 160, 163, 165f, 168f, 176ff, 179, 206ff, 209ff, 214, 216ff, 219, 222ff, 227, 225f, 237, 240, 248, 250ff, 26Iff, 265 Gemeinwohl 168f, 180 Gerechtigkeit (np~IS) 37,43f, 46, 50f, 54, 59, 62, 65, 85f,Vo, 93f, 96f, 98ff, 101, 104, 112, 142, 145, 148, 171, 175f, 177ff, 180ff, 183 ff, 186f, 198ff, 241 Gericht 59, 103f, 112, 133, 135, 168, 258 Gerichtsverfahren 11 Of, 133, 259 Gesellschaft 84f, 88, 102f, 106, 120, 124, 126, 134, 136, 146, 151, 154, 164, 166, 168ff, 172ff, 175, 179ff, 183, 188, 200, 217f, 226f, 237, 258, 262 Gespräch 112, 114f, 126ff, 130f, 133, 139, 144, 149ff, 153, 157, 163, 213, 217, 246 Gewalt 39, 59f, 62, 64, 79f, 92, 103, 105, 22f, 143, 148, 171, 178f, 193 Glaube 82, 104, 113ff, 128, 139, 151, 155ff, 208ff, 214ff, 219f, 222, 225, 228f, 234, 238, 24Iff, 244, 246, 253f, 256, 262ff, 265f Gottesdienst 83, 158ff, 161ff, 164, 174, 198, 206, 222, 226, 232ff, 254, 256, 259ff, 262f, 265

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Halljahr 86f Haß, hassen 3 1 , 4 3 , 4 9 , 1 2 2 , 1 2 4 f , 2 5 2 , 267 Haus 38,42, 44, 46, 51, 61, 84, 91, 95, 97, 171, 179, 197,226,245, 259 Haushalt 52ff, 55ff, 179, 200 Heil 70, 78, 80, 87, 91, 100, 11 Iff, 128, 130, 167, 172, 176, 195, 201,219, 226, 237, 248f Heiligkeit 155 Heilshandeln 166 Herrschaft über die Natur 191, 196 Institution 70, 13Iff, 147, 168, 171, 182, 208 Integration 100, 126, 146, 193, 196 Integrität 177, 196, 199f Interessenausgleich 134, 136 Interzelebration 163 Judentum 65, 176, 207, 257 Kampfes- und Siegeschristologie 80f Kanzel-Abendmahlsgemeinschaft 155, 162, 183 katholisch 161 ff, 164f, 166f, 174, 198, 206, 212f, 216f, 219, 221, 223, 226f, 232f, 265 Katholizität 155f Kirche 45, 57, 62, 73ff, 76, 78, 80f, 84f, 90, 92f, 103, 119f, 126, 129ff, 132f, 137ff, 140ff, 143, 145ff, 148ff, 151ff, 154ff, 157ff, 160ff, 163ff, 166ff, 69ff, 172ff, 175f, 178f, 182ff, 185ff, 198ff, 205ff, 208ff, 211 ff, 214ff, 217ff, 220ff, 223, 225ff, 228ff, 23Iff, 234ff, 237ff, 240f, 247f, 253, 257ff, 260ff, 263ff, 266f Kommunikation 12 lf, 125ff, 128ff, 131, 134, 137, 15 Of, 159 Konfession 130, 149, 157f, 160, 169, 228, 261,266 Konfessional 169 Konflikt 34, 36, 43, 60, 62, 64, 83ff, 87, 92, 96, 114, 120fF, 123ff, 126, 131ff, 134ff, 138, 142fT, 145ff, 149fr, 153, 155,160,162, 165, 177, 185, 187, 190 Konfliktbeilegung, -regelung 85, 120, 125, 132f, 135, 151 Konsens, -findung 132,138,140f, 153, 159 Kontrolle 169ff, 172, 212, 237ff, 258

Konvergenz, -erklärungen 130, 159, 229, 262 Konzil 140f, 155ff, 160, 213, 216, 258 Konzil von Trient 160 konziliare Gemeinschaft 156f Kultur der Versöhnung 205,254,256,262 Kuß (der Liebe), s. Friedenskuß 74,231 Lebenshilfe 169,213, 217f, 238 Leuenberger Konkordie 162f Liebe 31,44, 49, 57, 70ff, 74, 79, 81, 84, 89f, lOOf, 106, 124, 129, 138, 153, 155ff, 182, 189, 194, 196f, 223, 231, 239ff, 242ff, 246f, 255 Lima-Dokument 220, 222f, 262, 264 Liturgie (λειτουργία) 74, 120, 139,162, 164, 182, 205, 209, 213, 224, 226, 23If, 250, 255,258, 262ff Lösegeld (= Sühnegeld) ("IE 3) 59 Lutheraner 161, 233 Lutherischer Weltbund 157, 183,185, 200f, 217 Macht 108, 133, 147ff, 151, 161, 168, 172, 178f, 190, 192f, 196, 220 Macht(-Strukturen) 138, 147, 149 Machtausübung 88, 147f, 179 Mönchsbeichte 213 multikonfessionell 159 Nachbarschaft 84, 258f Nachricht 126ff, 129ff Natur 3lf, 88, 176, 188dd, 19Iff, 194ff, 197f, 200, 222,241, 244, 253f, 256 Neuschöpfung 187, 195,213 Nicaeno-Konstantinopolitanum 160, 219 Ökologie 34, 133, 197f,201 Ökumene 93, 140f, 151ff, 155, 158ff, 161 f, 165f, 175, 179, 185, 198, 260f Ökumenischer Rat der Kirchen (ORK) 156, 174, 198, 200, 220, 262 Opfer 32, 37, 40, 63ff, 66ff, 69ff, 73, 77, 81,83,89,94,96,98f, lOlff, 104ff, 107, 109f, 112f, 171, 226f, 230, 244, 252 Ordination 163 Ordnung 43f, 46, 49, 74, 84f, 98, 134, 139, 163, 177, 192f, 205, 210, 228, 233, 262, 265 Orthodoxie/orthodox 68, 77, 156, 162, 206,213,221,225,232,241,246,265 Ostkirche 169, 212f, 221, 224

Paradigma - Paradigmen 31, 100, 25 8 Parteinahme 150,177,132,134,147,149 Pfarrer 213,215,238f Philosophie 9 3 , 1 2 6 , 1 3 8 , 1 7 9 , 1 8 9 Politik, politisch 82, 85ff, 93f, 96, 102, 109, 120f, 131, 132ff, 135, 140, 144, 146ff, 151, 156, 162, 166ff, 172ff, 175, 177ff, 181 ff, 185f, 191,200, 205 Prädestination 162 Predigt 89f, 119f, 129, 164, 219, 226, 234ff, 237f, 240, 248, 259, 263, 265 Predigtamt 119 Priester 65f, 95, 105f, 161, 169, 21 Of, 215,225,228, 232, 258 Protestant(en) 160, 163, 234 Psychologie 31, 123f Rache 31, 33, 36f, 49ff, 58ff, 61ff, 96f, 99, lOlf, 104, 106ff, 111, 113f Rechtfertigung 78, 92f, 242 Rechtfertigungslehre 79,216 Reformation 140f, 163, 169,214, 221, 230, 238, 240 Reformiert(e) 160 Rekonziliation 36,80, 84, 121, 167f, 206, 21 Of, 216f, 229,233,239,241,258, 260, 266 Reparation 170 Reue 36ff, 40,66, 95, 106, 170, 210, 214, 235,237 Richter 38f, 56, 103, 110, 112, 133, 135, 169, 186,210, 244 Sabbat 193f, 197, 253, 256 Sakramente 90, 167, 170, 205, 219, 228, 232, 248, 257 Satisfactio/Satisfaktion 63, 79ff, 90, 167, 169,211,241 Schicksal 39, 89, 189, 195 Schiedsverfahren 133 Schlüssel(-Amt) 169, 215, 240 Schöpfung 85, 89, 93, 120, 145, 155, 175, 184, 186ff, 192ff, 195ff, 198ff, 201,207, 225, 229 Schuld 31, 36f, 39f, 42f, 45, 47f, 50f, 53ff, 56f, 59ff, 63ff, 66f, 70f, 77, 81, 83, 85, 89,93,96ff, 99ff, 102ff, 106ff, 109ff, 112ff, 114, 130, 138, 160, 162, 168ff, 187,193, 207, 215f, 218, 231, 235f, 239, 246, 254, 261, 264ff sozialer Ausgleich 86f, 121, 123, 182f

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Spiritualität 160, 199f Staat 86, 98,133,135,146,149,168, 172ff, 175, 183, 209,211,237 Strafe-Straferlaß 37f, 48, 55, 59ff, 62ff, 65, 67, 98, lOOf, 104, 107f, 112, 237, 246, 259 Sühne 34f, 37f, 58, 59, 61ff, 64ff, 69, 77, 79, 81, 89f, 94, 96f, 99ff, 106ff, 109, 162, 188, 254, 256 Täter 96, 99, lOOff, 103ff, 106ff, 109f, 112f, 182, 186 Täterproblematik 94, lOlf Teilhabe (κοινωνία) 73, 137, 159, 181, 220, 222 Tischdienst 119f Tischgemeinschaft 161f Toleranz 168 Tradition 31,54,77,92,95,130,137, i39, 142f, 149,151,153,156ff, 159,158f, 185,207,21 Iff, 214,225,233f, 239ff Tribunal 99, 239 Trient, Konzil von 160 Übertretung 33, 71, 97, 134, 236, 257f Ungerechtigkeit 54f, 56, 85, 182f Urteil 33, 38ff, llOff, 143, 145 Vaticanum 167, 226, 231 Verbrechen 31, 34f, 38, 61, 95, 97, 104 Vergebung 31, 36ff, 40, 44, 48ff, 51f, 54ff, 57, 63f, 66f, 71, 73, 78, 83, 93ff, 96ff, 100, 102ff, 106ff, 109ff, 112, 168f, 186, 207ff, 211, 214ff, 218ff, 22Iff, 224, 227ff, 230ff, 233, 236f, 243, 254, 256, 259, 261f, 264ff Vergehen 67, 84, 96f, 169, 207, 21 Of Vergeltung 39, 49, 58f, 61f, 97, lOlf, 104, 108, 11 Off, 168 Verkündigung 43, 86f, 128, 148, 160, 163,172,176,194,234,240,248,264 Vermittlung 45, 77, 92, 121, 126, 128, 132ff, 149, 151, 172, 248 Verschiedenheit (versöhnte) 85, 90, 154, 157ff, 162f, 165, 184 Versöhnung (Ablehnung der) 34, 46, 48f Versöhnung (Akte der) 31, 74f Versöhnung (Dienst der) 45, 82, 85, 115, 117, 119f, 137, 145ff, 161, 166, 205f Versöhnung (Dimensionen der) 78, 82, 89, 224

284

Versöhnung (Elemente der) 40,45, 76, 78, 206, 255 Versöhnung (Schritte der) 101, 111 Versöhnung (therapeutische Funktion der) 169 Versöhnung (Typen der) 58, 60, 62, 68, 76, 82 Versöhnungsarbeit 51 f, 205 Versöhnungsaspekt 70f, 76, 85, 89,111 Versöhnungsfest 67f, 221, 254, 256, 258, 266, 206 Versöhnungslehre - Typen 45f, 76ff, 79f, 81f, 89f Versöhnungsordnung 66,74,85,165, 245 Versöhnungsprozeß 45, 52,94, lOlf, 107, 109f, l l l f , 114f Versöhnungstag 65ff, 71, 86, 255ff Versöhnungstat 84, 88, 75, 82, 125, 166f Versöhnungsvorgang 35, 37, 58, 81, 83, 89, 113f,244f Verzeihung 36, 38, 51, 257, 259 Volk Gottes 85, 159, 161, 166, 255, 266 Volkskirche 142f Wahrheit 35, 97ff, 103, 112, 126, 128f, 138ff, 142ff, 145f, 153,156f, 186, 190, 230 Welt 33, 36, 43ff, 46ff, 53f, 67, 70, 72, 79ff, 82, 85, 88f, 113, 119ff, 125, 137ff, 140, 146f, 149, 151, 154ff, 157f, 162, 164, 166f, 169, 172ff, 175, 177f, 181, 183ff, 187ff, 190, 193 ff, 196f, 199f, 205, 213, 216ff, 220, 224ff, 228f, 236, 240, 25Iff, 254, 260, 262f, 266 Wiedergutmachung 37, 39f, 60ff, 86f, 102ff, 104ff, 109, 111, 167, 169ff, 216, 235, 237, 254 Wirklichkeit 72, 83, 125f, 128, 146, 149, 153, 158, 196f, 206, 225, 250, 255, 257f Zeichen 33, 35, 40, 44, 48, 51, 66f, 85, 102, 106, 143, 146, 156, 162f, 167, 172, 195, 198, 206, 209, 218, 22Iff, 230ff, 233, 255, 261ff Zeugnis = Bekenntnis 29, 81,40, 57, 74, 128, 139, 149, 155f, 158, 160, 163, 170, 184, 199, 210ff, 214, 216f, 226, 23Of, 233, 235, 238, 240, 245, 252, 256, 265, 267.

Namenregister

Aagaard, Anna Maria 201 Abälard 79 Abel (biblische Gestalt) 31, 32,33,34 Abraham (bibl. Gestalt) 31 Adam (bibl. Gestalt) 31 Adams, Jay E. 104 Albertz, Rainer 86 Alpers, Harm 16, 78, 80 Althaus, Paul 243 Anselm von Canterbury 79 Antonius (Heiliger) 212 Appel, André 161 Arendt, Hans-Peter 216 Argenti, Pater 156 Asendorf, Ulrich 241 Athanasius (Kirchenlehrer) 212 Augustin (Kirchenvater) 178, 223 Aulén, Gustav 78ff, 81 Avemarie, Friedrich 65, 67, 257 Bach, G. 146 Barth, Karl 16,45,76,77,172ff, 182, 190 Bastian, Hans-Dieter 122, 126, 129, 131 Baumgartner, Konrad 153, 157, 164f, 206,217, 222, 232 Beda (Venerabiiis) 211 Beiglböck, H. 267 Beinert, Wolfgang 126, 130f Bériou, Nicole 237 Berlioz, Jaques 237 Bieritz, Karl-Heinrich 21, 215, 221f, 224, 229, 254, 260 Billerbeck, Paul 71 Binder, Hermann 57 Binder, Ludwig 7 Birmelé, André 261 Böhme, Wolfgang 217, 232 Bohren, Rudolf 248f Boner, Charles 23, 24 Bonhoeffer, Dietrich 92, 140, 159, 267 Bornhamm, Karin 214 Brunner, Emil 79, 126, 159, 180ff Buber, Martin 88, 159

Büchsei, Friedrich 70 Bultmann, Rudolf 190 Calliess, Jörg 134 Calvin, Johannes 173, 238ff Chagall, Bella 257 Claß, Helmut 15, 69 Coenen, Lothar 18,198 Cox, Harvey 25If, 258 Cyprian (Kirchenvater) 207, 212, 240 Dahrendorf, Rolf 146 Dantine, Johannes 139ff Dantine, Wilhelm 16, 70, 87f, 176, 188 David (bibl. Gestalt) 31, 37ff, 40, 61, 87, 235 De Clerck, Paul 209 Denis, Philippe 239 Deshner, John 156 Dietrich, Walter 35 Dombois, Hans 229 Dörrfuss, Ernst M. 86 Duchrow, Ulrich 149 Ebeling, Gerhard 108, 114f, 214 Ekesparre, Dorothee von 123 Eiert, Werner 22, 73f, 225, 231 Elgeti, Ricarda 123 Eliade, Mircea 253 Esau (bibl. Gestalt) 19, 32, 34, 60f Eva (bibl. Gestalt) 31 Fahlbusch, Erwin 157 Feine, Hans-Erich 23 Fichte, Johann Gottlieb 137 Firmilian von Caesarea 212 Förster, Werner 178 Frère, Roger 251,254, 266f Freud, Sigmund 122ff, 137 Fritzsche, Hans-Georg 77, 83, 86ff, 90f Galerius (Kaiser) 168 Garhammer, Erich 41, 248, 250, 255 Gaßmann, Günther 199 Gasteiger, Franz 41 Gerstenberger, Erhard S. 191 Gese, Hartmut 194

285

Gestrich, Christof 236 Gollwitzer, Helmut 43, 46, 50, 95 Goppelt, Leonhard 246 Grünberg, Wolfgang 21 Guy, Jean-Claude 213 Habermas, Jürgen 140 Hänisch, Gottfried 160 Hanisch, Günter 160 Harnack, Adolf 79 Hasselmann, Niels 157 Havel, Václav 105 Heller, Dagmar 199 Hengel, Martin 65, 257 Hentig, Hartmut von 20, 96, 98 Herdieckerhoff, Eberhard 31,34, 123 Herrmann, Wilhelm 190 Hild, Helmut 85 Hildebrandt, Jörg 267 Hjelm, Norman A. 201 Hobelsberger, Hans 41 Hoffmann-Riem, Wolfgang 134, 136 Holl, Karl 79 Höppner, Reinhard 46, 109 Hume (Kardinal) 161 Hummel, Gerd 123, 125f, 137 Hühnemann, Theodor 205 Isaak ((bibl. Gestalt) 31 Jäger, Alfred 179, 190 Jakob (bibl. Gestalt) 19,31,34,60ff, 64, 113 Jakubiny, György 49, 51, 111 Jaspers, Karl 126 Jeremias, Joachim 37, 41, 42, 44, 47, 54 Jeremias, Jörg 37 Jesus (Christus) 19, 34, 41, 43, 45f, 48, 5Off, 54, 56f, 71 f, 79, 81, 83 f, 90f, 100, 113, 148, 162, 164, 177f, 182, 194, 197, 214, 219, 225f, 234, 236, 243, 253, 262f, 267 Jilek, August 221 Johannes Paul II. (Papst) 164, 217 Jordahn, Ottfried 233 Josef (bibl. Gestalt) 31, 34ff, 37, 41, l l l f f , 114, 120, 231,251,255 Judas (bibl. Gestalt) 162, 246 Kafka, Franz l l l f Kain (bibl. Gestalt) 19, 31, 32, 33, 34 Kähler, Martin 68, 77 Kinnamon, Michael 199

286

Klein, Christoph 5f, 8, 22, 24f, 119, 171, 259 Klein, Hans 18,41,43,47, 53f Klostermann, Ernst Konsonaho, Erkki 120 Konstantin (Kaiser) 168 Körtner, Ulrich H. J. 154f, 159, 163 Kraus, Hans-Joachim 146 Kretschmar, Georg 168f, 179, 208 Krusche, Werner 139 Kühn, Ulrich 167, 205f, 216 Künneth, Friedrich-Wilhelm 217, 218 Landmann, Michael 190 Lathrop, Gordon W. 264 Lehmann, Paul L. 179 Lindner, Herbert 260 Link, Hans-Georg 68f Lins, Hermann 215, 217, 229 Lochman, Jan Miliö 16,82,83,85,165, 166 Löhe, Wilhelm 17 Loewenich, Walter von 243,248 Lohmeyer, Ernst 49 Löwenstein, Kathrin 54 Luther, Martin 21, 37,48, 59f, 66, 79f, 87, 119, 160f, 171 ff, 206, 214f, 238ff, 34Iff, 244ff, 247f Maass, Friedrich 54 Magirius, Friedrich 160 Magonet, Jonathan 67 Mann, Ulrich 20 Marahrens-Schürg, Christa 123 Martin, Hervé 171 Marx, Karl 137 Mau, Carl H. Fr. 185 Mbise, Loe Rose 201 Merkel, Helmut 69f Metz, Jean-Baptist 173f Meyer, Harding 155, 157 Michel, Karl-Heinz 90 Möckel, Gerhard 6 Moltmann, Jürgen 85, 88, 165, 173f, 184, 188f, 194, 197f, 250, 253f Müller, Christine 267 Müller, E. 147 Müller, Josef 83, 250, 255 Müller-Fahrenholz, Geiko 16, 50, 96, 103f, 106ff Müller-Römheld, Walter 147, 198

Müller-Schwefe, Hans-Rudolf 158 Nausner, Wilhelm 267 Noah (bibl. Gestalt) 19 Oppen, Dietrich von 6, 43, 139 Otto, Rudolf 79 Pannenberg, Wolfhart 76, 78, 85, 88, 187 Paulus (bibl. Gestalt) 45, 69f, 72f, 76, 89, 119,137,141,145,148,162,177, 187, 195, 208, 210, 222f, 227f, 230, 242, 246, 253 Peters, Albrecht 216 Petrus (bibl. Gestalt) 19, 51 Petzoldt, Martin 45 Peukert, H. 174 Philippi, Paul 72, 119f,225 Picht, Georg 179 Pieper, Josef 251 Pierse, Gerry 213 Planck, Oskar 17 Planer-Friedrich, Götz 183 ff Pöhlmann, Horst Georg 182 Poschmann, P. 216 Rad, Gerhard von 32, 87 Rahner, Karl 216 Rawls, John 181 Rendtdorff, Trutz 93, 174 Ribaucourt, Colette 237 Rich, Arthur 175 Richter, Johannes 160 Ritsehl, Albrecht 79, 89 Roloff, Jürgen 222, 224 Rother, Werner 20 Rousseau, Jean-Jaques 137 Rubellin, Michel 210,212 Ruff, Wilfried 123ff Ruh, Hans 146, 179, 181f Sara (bibl. Gestalt) 31 Schavan, Annette 144f Schelling, Friedrich Wilhelm 137 Schenker, Adrian 15, 35, 37, 38, 58, 62, 65,66, 67, 162, 255 Schleiermacher, Friedrich 21, 79, 190f Schmauch, Werner 49 Schmidt-Lauber, Hans-Christoph 9, 18, 21, 215, 22lf, 224, 229, 254, 260 Schober, Theodor 119 Schorlemmer, Friedrich 99, 105 Schräge, Wolfgang 196 Schramm, Tim 54

Schröer, Henning 21 Schrüfer, Werner 248 Schubert, Hans-Achim 24 Schütte, H. 158 Schupp, Friedrich 140 Schutz, Roger 251, 254, 267 Schwankl, Otto 41,44,255 Schweizer, Eduard 56 Simeon von Thessaloniki 212 Slenczka, Reinhard 213 Söderblom, Nathan 156 Solle, Dorothee 167, 174 Stauffer, S. Anita 264 Stäniloaie, Dumitru 78, 213, 241 Steffenski, Fulbert 143, 145 Stolt, Peter 21 Strack, Hermann L. 71 Striegnitz, Meinfried 134 Stückelberger, Christoph 16, 92, 132, 134, 146ff, 173, 176, 178 Stuhlmacher, Peter 15, 69 Suhr, Ulrike 21 Sundermeier, Theodor 159 Tafft, Robert F., S. J. 153f, 160f, 212, 227f, 234 Thurian, Max 220f, 262ff Tillich, Paul 137f Tischler, Günter 41 Topel, John L., S.J. 54 Track, Joachim 196f Traumüller, Wolfgang 18, 198 Trillhaas, Wolfgang 21f Troeltsch, Ernst 79 Uria (bibl. Gestalt) 31, 37ff, 40 Vencser, Ladislaus 84, 207 Venturini, Nereo 160 Vetter, Dieter 257 Vismann, D. 158, 163 Wainwright, Geoffrey 220f, 223f, 226, 262ff, 265f Weber, Georg 258 Weber, Max 188 Weber, Otto 239 Weizsäcker, Carl Friedrich von 140, 186 Wenz, Gunther 69, 77 Weth, Rudolf 179 Weymann, Volker 103 Wiesel, Elie 105 Wiesenthal, Simon 96

287

Wiesnet, Eugen lOOf, 108f, 177, 182 Wildermuth, Armin 179, 190 Windisch, Hubert 248 Winkler, Klaus 123ff Wolf, Erik 173 Wolf, Ernst 246

288

Wiinckhaus, Oscar 53 Wyden, P. 146 Yannoulatos, Anastasios 18 Zahrnt, Heinz 109, 139 Zwingli, Huldreich 173