Wendemarken in der deutschen Verfassungsgeschichte: Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 11.3.–13.3.1991. Red.: Reinhard Mußgnug [1 ed.] 9783428477784, 9783428077786

Spätestens seit Goethes Kommentar zur Kanonade von Valmy »Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte au

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German Pages 211 Year 1993

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Wendemarken in der deutschen Verfassungsgeschichte: Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 11.3.–13.3.1991. Red.: Reinhard Mußgnug [1 ed.]
 9783428477784, 9783428077786

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Wendemarken in der deutschen Verfassungsgeschichte

BEIHEFTE ZU "DER STAAT" Zeitschrift für Staatslehre, Öffentliches Recht und Verfassungsgeschichte Herausgegeben von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Rolf Grawert, Johannes Kunisch, Fritz Ossenbühl, Helmut Quaritsch, Rainer Wahl

Heft 10

Wendemarken in der deutschen Verfassungsgeschichte

Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 11. 3. - 13. 3. 1991

Duncker & Humblot . Berlin

Redaktion: Prof. Dr. Reinhard Mußgnug, Heidelberg

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wendemarken in der deutschen Verfassungsgeschichte : Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 11. 3. - 13. 3. 1991 / [Red.: Reinhard Mussgnug]. - Berlin : Duncker und Humblot, 1993 (Der Staat : Beiheft; H. 10) ISBN 3-428-07778-4 NE: Mussgnug, Reinhard [Red.]; Vereinigung für Verfassungsgeschichte; Der Staat / Beiheft

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6828 ISBN 3-428-07778-4

Inhaltsverzeichnis Paul-Joachim Heinig: Die Vollendung der mittelalterlichen Reichsverfassung Aussprache ....................................................... . ..................

7

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Georg Schmidt: Der Westfälische Frieden - eine neue Ordnung für das Alte Reich?

45

Aussprache ............. . .................................. . ...... . ..................

73

Thomas Würtenberger: Staatsverfassung an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert Aussprache...... . ...... . .................... . ............. . .........................

85

109

Hans-Peter Ullmann: Staatsverwaltung an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert

123

Aussprache ................................................ . ...... . ...... . ...........

139

Hans Boldt: Von der konstitutionellen Monarchie zur parlamentarischen Demokratie

151

Aussprache ............. . .................................. . .........................

173

Zusammenfassende Aussprache (Leitung: Peter Moraw) .........................

187

Verzeichnis der Redner...............................................................

201

Satzung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte .............................. 202 Verzeichnis der Mitglieder ........................................................... 205

Die Vollendung der mittelalterlichen Reichsverfassung Von Paul-Joachim Heinig, Mainz - Gießen

I.

Wenn ich mein im Tagungsprogramm fixiertes Thema zeitlich konkretisiere und über "Die Vollendung der mittelalterlichen Reichsverfassung um 1500" sprechen will, mag sich unverzüglich Widerspruch regen. Dieser mag wurzeln in der Überzeugung, daß die Vorgänge um 1500 nicht mehr in der mittelalterlichen Entwicklungslinie der Reichsverfassung stehen, die mit dem Ende der Staufer abgeschlossen gewesen sei, sondern als neuzeitliche Prozesse anzusehen sind 1, als die sie ja auch tatsächlich gewirkt haben. Hinzutreten könnten Vorbehalte gegen den Begriff der "Vollendung". Denn mit diesem wird das ältere Bild vom "staatlichen" Abstieg des Reichs im Spätmittelalter geradezu umgekehrt und überdies eine Kontinuität zwischen Hoch- und Spätmittelalter bis hin zur Wendemarke um 1500 propagiert, gegenüber welcher die immer wieder in Anschlag gebrachten klassisch-"mittelalterlichen" Zäsuren wie das Wormser Konkordat (1122), die sogenannte Zerschlagung der Stammesherzogtümer durch Friedrich I. (1180), der frühe Tod Heinrichs VI. (1197), die spätstaufischen Fürstengesetze (1220/1231) und sogar das vermeintliche "Interregnum" zu Trendwenden, allenfalls zu Binnenzäsuren degradiert werden 2. 1 Diese Anschauung erwächst in der Regel aus einer zu scharfen Antinomie zwischen unstaatlichem Reich und staats bildenden Territorien. Zu einer möglicherweise schärfer als beabsichtigt gesetzten Zäsur nach der Stauferzeit führt die Einschätzung von H. Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte. Politische Strukturen und ihr Wandel, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ende des älteren deutschen Reiches 1806, 1984, S. 93, die Anfänge des modernen Staats in den Territorien des Spätmittelalters führten "über den Rahmen dessen, was sich noch als mittelalterliche Struktur bezeichnen läßt, hinaus." 2 Man vergleiche damit außer dem in FN 1 genannten Werk die hier nicht näher zu spezifizierenden Periodisierungen der geläufigen Rechts- und Verfassungsgeschichten, vor allem H. Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte Bd. 1: Frühzeit u. Mittelalter, 2., neubearb. Aufl. 1962; ders., Der deutsche Staat. Epochen seiner Verfassungsentwicklung (843 -1945), 2. Auf!. 1970; F. Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 9. Auf!. 1969; K. Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte Bd. 2: 1250 -1650, 1973; H. Mitteis, Deutsche Rechtsgeschichte, neubearb. v. H. Lieberich, 15., erg. Aufl., 1978. Mit neuen Akzenten und weiterführenden Literaturangaben, die somit im folgenden knapp gehalten werden können, zuletzt auch D. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich zur Teilung Deutschlands, 1990 und K.-F. Krieger, König, Reich und Reichsreform im Spätmittelalter, 1992.

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Paul-Joachim Heinig

Ich möchte im folgenden beide Vorbehalte - und mögliche andere - zu zerstreuen suchen durch die Herleitung eines um 1500 erfolgten Abschlusses einer keineswegs bruchlosen und geradlinigen, aber doch einheitlichen mittelalterlichen Verfassungsgeschichte in Gestalt eines Höhepunkts in der Selbstorganisation des Reiches, der als ein Komprorniß verschiedene ältere, bis dahin nahezu unvereinbare und miteinander rivalisierende Prinzipien zusammenführte. Auch dadurch wurde das Reich nicht der "Staat", der es im gesamten Mittelalter nicht gewesen war. Aber auf dem Wege einer Transformation eines Herrschaftsgefüges in eine höherentwickelte (Gesamt-)Verfassungsordnung erlangte es doch ein Mehr an Staatlichkeit, welches seine Fortexistenz in der Neuzeit ermöglichte 3 • Dieser Auffassung liegt statt des älteren "anstaltsstaatlichen" Modells 4 die Vorstellung des Reichs als eines politischen Systems mit dem Strukturprinzip von anfänglichem Nebeneinander zu größerem Miteinander, von ursprünglicher Vielfalt zu mehr, besser entfalteter und zu einem Ganzen gegliederter Einheit, von Verfaßtheit zu Verfassung zugrunde 5. Weil dem 3 H. Angenneier, Die Reichsreform 1410-1555. Die Staatsproblematik Deutschlands zwischen Mittelalter und Gegenwart, 1984, S. 16 meint - freilich nicht durchgängig derart strikt -, die "Reichsreform" als "der maßgebende Verfassungsbildungsprozeß in Deutschland" sei "nicht ein Vorgang des Aufbaus, der Emanzipation, der Expansion und des Fortschritts", sondern ausschließlich konservativkonservierend gewesen. Verständlicherweise können Einzelheiten im folgenden nicht diskutiert werden. 4 Einer längeren Auseinandersetzung über die viel- und immer wieder diskutierte, häufig mit der nach den Grundlagen des modernen Staates verbundenen Frage der Staatlichkeit des Reiches bedarf es an dieser Stelle ebensowenig wie umfassender Literaturhinweise. Ohne Wertung genannt seien lediglich Th. Mayer, Die Ausbildung der Grundlagen des modernen deutschen Staates im Hochmittelalter: (zuerst) HZ 159 (1939), S. 457 -478; O. Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen einer territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, Ndr. (d. 5. Aufl. 1965) 1973; H. Mitteis, Der Staat des hohen Mittelalters. Grundlinien einer vergleichenden Verfassungsgeschichte des Lehnszeitalters, 9. Aufl. 1974; G. Barraclough, Die mittelalterlichen Grundlagen des modernen Deutschland, dt. v. F. Baethgen, Weimar 1953; E. W. Böcken!örde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert. Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder, Berlin 1961; Die Entstehung des modernen souveränen Staates, hrsg. v. H. H. Hofmann, 1967; ebd. bes. (wieder) W. Näf, Frühformen des "Modernen Staates" im Spätmittelalter, ebd. S. 101-114; H. Quaritsch, Staat und Souveränität, Bd. 1: Die Grundlagen, 1970; J. R. Strayer, Die mittelalterlichen Grundlagen des modernen Staates, 1975; F. Rapp, Les origines medievales de l'Allemagne moderne Charles IV aCharIes Quint (13461519), Paris 1989. 5 Dazu vor allem P. Moraw, Fragen der deutschen Verfassungsgeschichte im späten Mittelalter: ZHF 4 (1977), S.59-101; ders., Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Das Reich im späten Mittelalter 1250-1490, 1985; ders., Art.: Deutschland. Spätmittelalter, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 3 (1986), Sp. 835-862,868 f. Unterschiedliche Verfassungs- (und Verfassungsgeschichts-)Begriffe vertreten im Anschluß an: Gegenstand und Begriffe der Verfassungsgeschichtsschreibung. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar am 30. / 31. März 1981, 1983 (= Der Staat, Beih. 6), z. B. Boldt (FN 1) und Willoweit (FN 2); vgl. auch F. GraUs, Verfassungsgeschichte des Mittelalters: HZ 243 (1986) S. 529589.

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am Beginn der deutschen Geschichtsentwicklung schwachen, nur unter Umständen entwicklungsfähigen Miteinander ein viel tiefer verankertes Nebeneinander gegenüberstand, welches den fränkischen, dann bayerischen und sächsischen sowie schließlich schwäbischen Hegemonieversuchen 6 als retardierendes Prinzip entgegenstand, war die Zunahme der "deutschen" Züge des aus christlichen, römischen und germanischen Erbschaften erwachsenden Reichs und damit deutsche Geschichte und "deutsche Einheit" das keineswegs selbstverständliche Ergebnis eines jahrhundertelangen vielgestaltigen Prozesses 7 • Dieser Prozeß vollzog sich - durch weiteres Wachstum erschwert - unter allmählichem Ausgleich beträchtlicher "innerer" Entwicklungsunterschiede, die gleichwohl nie vollständig überwunden werden konnten 8. Diese langgestreckte Entstehung Deutschlands und der Deutschen als einer politischen Schicksalsgemeinschaft war zweifellos das mehr ungewollte als beabsichtigte Produkt der Auseinandersetzungen vor allem der beiden Pole Königtum und Adel/Dynastie. Ihre Beziehungen entschieden über die Frage der Kontinuität und der Kohärenz des Gemeinwesens und über das von Beginn an bestehende Problem von Monismus und Dualismus, welches erst am Ende des Mittelalters einer Lösung zugeführt wurde.

6 Die hier erwähnten Hegemonieversuche bezeichnen die aktiven Gestaltungsversuche des Königtums zur herrschaftlichen Durchformung des Reichs, denen H. Angermeier, König und Staat im deutschen Mittelalter: Blätter für dtsch. Landesgeschichte 117 (1981), S. 167 -182 skeptisch gegenübersteht. Zuletzt die Staufer versuchten eine solche auf den alten Grundlagen des Stammesherzogtums, "modernisierten" jedoch die königliche Politik bereits in der für das Spätmittelalter maßgebenden Weise des Hausmachtkönigtums. Ihr "Erbe" bestand auch bezüglich des Königtums in der Gewißheit, daß nur ein (groß-)dynastisch etabliertes, territorial möglichst gut fundiertes Königtum erfolgreich sein könne. 7 Zum ganzen zusammenfassend K. F. Werner, Art.: Deutschland, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 3, 1986, Sp. 782-787, bes. Sp. 786 f. 8 Als Grundlage des Verständnisses aller hoch- und spätmittelalterlichen Wandlungs- und Verdichtungsvorgänge muß die Tatsache in den Vordergrund gerückt werden, daß das Reich weder in Bezug auf seinen räumlichen Umfang noch - damit zusammenhängend - in Bezug auf seine innere Beschaffenheit eine von einem wie immer datierten Beginn an konstante, einheitlich-gleichförmige Größe war. zu Recht betont Moraw, Von offener Verfassung (FN 5), S.67, daß gegenüber den "punktuell"-kleinräumigen Bindungen in Dorf, Stadt und allenfalls Region eine der Ausdehnung des Reichs oder der deutschen Sprache adäquate "Gesamtgesellschaft" von ausreichendem Zusammenhalt, genügender Einheitlichkeit und einem Mindestmaß an Selbst-Bewußtsein bis ins 15. Jh. hinein nicht existierte. s. vertiefend z. B. ders., Über Entwicklungsunterschiede und Entwicklungsausgleich im deutschen und europäischen Mittelalter. Ein Versuch, in: FS Wolfgang von Stromer, hrsg. v. U. Bestmann / F. Irsigler / J. Schneider, Bd. 2, 1987, S. 575 - 582. s. auch die Beiträge in: Nord und Süd in der deutschen Geschichte des Mittelalters. Akten des Kolloquiums veranstaltet zu Ehren von Karl Jordan, 1907 -1984, hrsg. v. W. Paravicini, 1990 und in: Deutschlands Grenzen in der Geschichte, hrsg. v. A. Demandt, 1990.

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Die Problematik der geringen Kohärenz des Reiches 9, mit der sich die notgedrungen knappe Skizze der vielschichtigen, gleichzeitig horizontal wie vertikal ablaufenden Vorgänge beginnen läßt, war - prozeßhaft gewendet - das Ergebnis der ständigen Überforderung des Königtums mit der Integration des Reichsganzen. Das frühe Reich hatte sich bekanntlich als ein vornehmlich zur Abwehr "äußerer" Bedrohung geschlossenes Bündnis weniger (Hoch-)Adelsfamilien als der Führer mehrerer in sich zusammenhängender, gegeneinander aber eher isolierter, auch verschiedensprachiger Altstämme gebildet und seinen bedeutendsten Ausdruck und Höhepunkt in der Erhebung eines gemeinsamen Königs nach dem Modell des karolingischen Königtums gefunden 10. Jeder Herrscher war zuerst Angehöriger des dünnen, wenig integrierten und überwiegend punktuell, allenfalls regional orientierten und sich selbst genügenden Hochadels als der bis weit ins späte Mittelalter hinein einzigen politischen Führungsschicht. In dem als Aristokratie mit monarchischer Spitze, im späten Mittelalter dann als System weitgehend unterschiedlich entwickelter Landesherrschaften verfaßten Reich wurden die Großen durch die Wahl und die anschließende Huldigung zu Gefolgsleuten des Königs, der seine Herrschaft über diejenigen, die nicht an diesem Akt teilgenommen hatten, auf dem anschließenden Königsumritt zu begründen suchte. Dieses Königtum war auch nach dem Verlust seines sakralen Charakters, der ihm in der Praxis der Herrschaftsausübung einen Vorsprung vor den konkurrierenden Fürsten verschafft hatte, stets der Kernpunkt des politischen Gemeinwesens und seines Zusammenhalts l1 . Als lange Zeit einzige 9 Vgl. dazu P. Moraw, Organisation und Funktion von Verwaltung im ausgehenden Mittelalter (ca. 1350 -1500), in: Jeserich / Pohl / von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1, 1983, S. 21-65. 10 Zur früh- und hochmittelalterlichen Reichsgeschichte und speziell zum Königtum s. immer noch: Das Königtum. Seine geistigen und rechtlichen Grundlagen, Mainauvorträge 1954; heute vor allem J. Fleckenstein, Grundlagen und Beginn der deutschen Geschichte, 1974; F. Prinz, Grundlagen und Anfänge. Deutschland bis 1056, 1985; A. Haverkamp, Aufbruch und Gestaltung. Deutschland 1056 -1273, 1984; H. Keller, Zwischen regionaler Begrenzung und universalem Horizont. Deutschland im Imperium der Salier und Staufer 1024 bis 1250, 1986; ders., Zum Charakter der "Staatlichkeit" zwischen karolingischer Reichsreform und hochmittelalterlichem Herrschaftsausbau: Frühmittelalterliche Studien 23 (1989) S. 248-264 (u. ders., Zur Einführung: Das Problem der Reichsintegration in ottonischer Zeit, ebd. S. 244247); C. Brühl, Deutschland - Frankreich. Die Geburt zweier Völker, 1990; Die Salier und das Reich. In Verbindung mit O. Engels, F.-J. Heyen und F. Staab hrsg. v. St. Weinfurter, 3 Bde., 1991. s. auch J. Fried, Deutsche Geschichte im früheren und hohen Mittelalter. Bemerkungen zu einigen neuen Gesamtdarstellungen: HZ 245 (1987), S. 625 - 659. 11 So konsequent und gerade auch für das Verständnis des Königtums weiterführend die Feststellung erscheint, der Adel bzw. die Fürsten hätten von Anfang an Anteil am Reich gehabt, so sehr ist gegenüber einer gelegentlichen, offenbar im

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Kulmination politischen Lebens des Gesamtreichs wurde mit der Königswahl, dann mit dem Heraustreten des Gewählten aus seiner vormaligen regionalen Bindung in Königsgut und Königsrechte sowie mit dem integrativen Verschmelzen seiner eigenen vorköniglichen Gefolgschaft mit der traditionellen Klientel des Königtums über die Kraftlinien des Gemeinwesens entschieden. Nicht länger darf dabei die Rolle der Dynastie unterschätzt werden, denn dynastische oder Familien-Politik war die dem Hochadel auch noch im "territorialen" Zeitalter angemessene Politik. Nicht nur wegen der allgemein hohen Bedeutung des personalen Elements in hochadelig geprägten vormodernen Gemeinwesen, sondern deshalb, weil sich die Transpersonalität des Reichs gegenüber der herrscherbezogenen Personalität nur allmählich entwickelte, ist besonders deutsche Verfassungsgeschichte in hohem Maße Dynastiegeschichte. Von all dem hingen Kontinuität, Kohärenz und Wandel des ganzen, auf Personenbeziehungen beruhenden Gemeinwesens ab 12. Wenn man die fundamentale Bedeutung des Hofes sowie die prinzipielle Gleichrangigkeit des Hochadels mit dem König, den regionalen Ausgangspunkt jedes Herrschers sowie die im Vergleich dazu schwachen Konzentrationsmittel erkennt, mit denen die "Zentralgewalt" ausgestattet war, legt man den Grund für ein angemessenes Verständnis des entscheidenden, in immer neuen Anläufen unlösbaren Problems der Weiterentwicklung der Reichsverfassung durch die zentrale Gewalt: die durch den Wechsel der Herrschaftszentren bedingte räumliche Ungleichmäßigkeit der Königsherrschaft. Zum einen, weil keine der hochmittelalterlichen Herrscherdynastien lange genug in einem Raum verankert blieb, zum anderen, weil die Versuche zur Intensivierung der Raumbeherrschung von einem Punkt aus (Grafschaftsverfassung, ottonisch-salisches Reichskirchensystem und Krongutpolitik durch Reichsministerialität) gescheitert waren, hinterließen die Herrscher des Hochmittelalters ihren spätmittelaIterlichen Nachfolgern ein Reich ohne festen Mittelpunkt und Zentrallandschaft. Seitdem die Kurfürsten bei der Königswahl einen "institutionalisierten Dynastiewechsel" zwischen den rivalisierenden Häusern Habsburg, Anschluß an Ergebnisse der Ständeforschung erfolgenden Überbetonung der Rolle des Adels für die "Einheit" der deutschen Geschichte an der komplementären Funktion des Königtums und der Dynastien festzuhalten. 12 Da z. B. die Vorstellung des Reiches als eines Lehnsverbandes eine Gleichmäßigkeit nur vortäuscht, geht man heute davon aus, daß das Reich des König-Kaisers nicht in der Theorie, aber in der Praxis stets mehr oder weniger "partikularistisch" war. Dennoch und ungeachtet früh aufkommender genossenschaftlicher ReichsBilder, wie dem von der Gründung des Reiches auf die Ehre der Fürsten, setzte sich jeder König-Kaiser im Prinzip mit dem Reich in eins und beanspruchte, allein den zentralen Willen des Gemeinwesens zu formulieren. Da jeder neue König nicht a priori in der Mitte eines vorhandenen Beziehungssystems stand, sondern sich den überwiegenden Teil eines solchen in Konkurrenz zu anderen Systemen erst schaffen mußte, waren seine Erfolgsaussichten räumlich ganz unterschiedlich.

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Luxemburg und Wittelsbach praktizierten 13, war die Reichsverfassung ihrer vormaligen dynastischen Stütze beraubt1 4 . Zumal unter schwachen Herrschern und durch die Konkurrenz modernerer Beziehungsformen (Bündnisse, Soldverträge, Verpfändungen etc.) verlor die lehnrechtliche Bindung der Großen an den König, auf deren Grundlage Friedrich 1. das Reich zu einer im König gipfelnden Lehnshierarchie integriert, durchgeformt und neuorganisiert hatte, weiter an realer Verbindlichkeit1 5 • In weiten Reichsteilen sank sie in den reinen Legitimations- und Konsensbereich ab mit der Folge, daß die Kohärenz des Gemeinwesens sich weiter abschwächte. Die Gesamtverfassung war zwar auf dem schwachen Niveau der tradierten gewohnheitsrechtlich-mündlichen Regeln und Verfahren sowie der überwiegend personal geprägten Beziehungen stabil und behielt ein unter Umständen aktivierbares Potential, konnte zunächst aber aus sich selbst heraus allenfalls punktuell weiterentwickelt werden. Um die Mitte des 15. Jahrhunderts war jedenfalls längst Interessenwahrung eine wichtigere Triebfeder als Gebotsgewalt, der König mußte sich mehr politisch verhalten als daß er tatsächlich regieren konnte. Im Vordergrund stand die reaktiv-legitimierende Komponente des Königtums. Gleichermaßen im Mittelpunkt der Existenz dieser "extensiven", personal-orientierten und punktbezogenen Gewalt wie der Reichsverfassung 13 A. Gerlich, Habsburg-Luxemburg-Wittelsbach im Kampf um die deutsche Königskrone. Zur Vorgeschichte des Königtums Ruprechts von der Pfalz, 1960. 14 Es ist an dieser Stelle nicht vonnöten, die bekannte früh- und hochmittelalterliche Herkunft und Formveränderung der maßgeblichen Sozial- und Verfassungsformen Adel, Königtum, Lehnswesen und Grundherrschaft, die das Spätmittelalter als Erbe übernahm, ihrer Beziehungsformen und deren Entwicklung, durch die sie zu einem eher weniger als mehr integrierten Ganzen geordnet wurden, im einzelnen herzuleiten und auszubreiten, s. dazu H. K. Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, 2 Bde., 1985-86. Während diese gänzlich oder in Vorformen vordeutscher Herkunft und damit in ihrer Struktur "archaisch" waren, waren genuin "deutsche", also jüngere und in gewisser Hinsicht "modernere" Vorgänge einerseits die spezifische Entwicklung dieser "Pfeiler der Reichsverfassung" (z. B. geistliche Reichsfürsten) sowie andererseits die neuen Elemente der Ausbildung der Städte, der Entstehung der Territorien und die Ostsiedlung. Dieses im Hochmittelalter herangewachsene "gemeindeutsche Substrat" (Moraw, Königliche Herrschaft [FN 16], S. 189) hätte im späten Mittelalter nur durch eine Großdynastie umgeformt werden können. Zur spätmittelalterlichen Reichs- und Verfassunggsgeschichte s. außer den in FN 2-5 u. 9 genannten Titeln vor allem E. Schubert, König und Reich. Studien zur spätmittelalterlichen deutschen Verfassungsgeschichte, 1979; H. Thomas, Deutsche Geschichte des Spätmittelalters 1250-1500, 1983; H. Boockmann, Stauferzeit und spätes Mittelalter. Deutschland 1125 -1517, 1987; H. Koller, Das Reich von den staufischen Kaisern bis zu Friedrich IH. 1250-1450, in: Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 2, hrsg. v. Th. Schieder, 1987, S. 383-467; Das spätmittelalterliche Königtum im europäischen Vergleich, hrsg. v. R. Schneider, 1987 (= VuF Bd. 32). 15 K.-F. Krieger, Die Lehnshoheit der deutschen Könige im Spätmittelalter (ca. 1200 -1437), 1979, S. 449 hat für die Zeit des Luxemburgers Sigmund ermittelt, daß die Reichslehnsverfassung nur noch in den ost- und süddeutschen Reichsteilen, nicht aber mehr in Nord- und Nordwestdeutschland sowie in den westlichen Grenzgebieten wenigstens weitgehend "intakt" war.

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stand der königliche Hof 16 • Das Reich war im Hinblick auf seine Spitze bis zum 15. Jahrhundert ein Hof-"Staat" und wurde nach entsprechenden Verhaltens- und Verfahrensmustern "patrimonial" regiert. Der Hof war das einzige Zentrum königlichen Regierungs- und Verwaltungshandelns. Er bündelte, konzentrierte und organisierte die tradierten Bindungen der Reichsglieder an die Person des Herrschers und - auch auf besonderen Hoftagen - die aus dem gefolgschaftlichen Verhältnis von Schutz und Schirm sowie Rat und Hilfe beruhenden Beiträge der Reichsglieder zu den vom Herrscher definierten und organisierten Gesamtbelangen. Der Hof war somit das wichtigste reichsbezogene Integrationsinstrument der königlichen Gewalt. Die integrative Kraft und die Reichweite des Hofes waren wie die Wirksamkeit der Zentralgewalt überhaupt ganz wesentlich abhängig vom Interesse, welches "das Reich" am königlichen Tun hatte. König und Hof -hatten dieses Interesse zu organisieren und zur Entscheidung zu bringen. Dafür war eine personelle Vertretung möglichst weiter und ständisch möglichst hochgestellter Interessenten (-gruppen) am Hof wenn nicht unabdingbar, so doch die beste Voraussetzung. Der Begriff der Destruktion des Hofes im 15. Jahrhundert bezeichnet die Tatsache, daß dieses noch unter Karl IV. erfolgreiche Modell nicht mehr erreicht wurde. Wenn nicht ausnahmslos, so doch prinzipiell ist zunächst der Tatbestand der Entlassung bzw. Emanzipation der Kurfürsten und der großen weltlichen Fürsten aus dem Zusammenhang des engeren Herrscherhofs und damit der direkten integrativen Gewalt des Herrschers zu konstatieren. Es ist dies ein Vorgang des 14. Jahrhunderts, der mit der Territorialverdichtung 17 und dem Ausbau höfischer Territorialzentren zusammenhängt und der Dualisierung der Reichsverfassung weitere Impulse verlieh. Da die vornehmlich durch den Hof vermittelte Wirksamkeit der Herrscher weder zeitlich noch räumlich gleichmäßig sein konnte, sondern sich entsprechend den zeitgenössischen Möglichkeiten nach den Kriterien von räumlicher Nähe, zeitlicher Beziehungsdichte, Machtdifferenz und Konkur16 Wenngleich die gängigen Rechts- und Verfassungsgeschichten diesen Sachverhalt ignorieren, allenfalls anhand des karolingischen Hofes über Hofämter referieren, bildet der Hof das Zentrum des "höfischen", dem anstaltsstaatlichen Verständnis konträr zuwiderlaufenden Verfassungsmodells, dem hier gefolgt wird. s. zum Hof z. B. Moraw, Verwaltung (FN 9); ders., Königliche Herrschaft und Verwaltung im spätmittelalterlichen Reich (ca. 1350-1450), in: Das spätmittelalterliche Königtum (FN 14), S. 185-200; ders., The Court of the Emperor at the End of the Middle Ages, in: Princes, Patronage and the Nobility. The Court at the Beginning of the Modern Age c. 1450-1650, ed. by R. G. Asch and A. M. Birke, Oxford 1991, S. 103-137; P.J. Heinig, How Large was the Court of Emperor Frederick III?, ebd. S. 139 -156; ders., Musik und Medizin am Hof Kaiser Friedrichs III. (1440-1493). Studien zum Personal der deutschen Herrscher im 15. Jahrhundert: ZHF 16 (1989), S. 151-181 sowie die in FN 20 genannte Arbeit. 17 Zur Entwicklung der Territorialherrschaft D. Willoweit, Die Entwicklung und Verwaltung der spätmittelalterlichen Landesherrschaft, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte (FN 9), S. 66 -142_

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renz zu anderen Kräften bemaß, zerfiel die zentralgewaltliche Raumherrschaft grob in einen Sanktions- und einen bloßen Legitimierungsbereich. Etwa ein Dutzend regionaler Hegemonialsysteme konkurrierte damit und schuf eine politisch-geographische Ordnung des Reichs, die nicht allein auf den alten isolierend-vertikalen Gefolgschaftsstrukturen der Zentralgewalt basierte, sondern bereits Ansätze territorienübergreifend-horizontaler Strukturen zeigte 18. Deren Weiterentwicklung, also die raumübergreifende Zunahme der Interessenverflechtung vor allem von gleichrangigen Systemführern war eine wesentliche Voraussetzung zunehmender Reichs-Kohärenz. Die durch die Herauslösung der Kurfürsten und Fürsten bewirkte eigentümliche dauerhafte soziale Rangminderung des römisch-deutschen Herrscherhofes hatte für die Integration des Reiches solange keine einschneidenden Folgen, wie am Hof bestallte Angehörige der königsnahen Landschaften als Medium zwischen Zentralgewalt und "Großen" wirkten. Die vielfach der staufischen Ministerialität erwachsenen königsnahen Personen, Personengruppen und -verbände, also die aufgrund ihrer politischen Existenzbedingungen besonders an der Wirksamkeit der Zentralgewalt interessierten königs- (reichs-)unmittelbaren Grafen, Herren, Ritter und Städte in den nicht eindeutig hegemonial überherrschten Landschaften, suchten aus wohlverstandenem eigenen Interesse traditionell den Königsdienst. Sie gewährleisteten auf diese Weise die personelle Kontinuität zwischen Reich und Hof und trugen wesentlich zur integrativen Vermittlung der königlichen Wirksamkeit im Reich bei. Von jedem neuen König erwarteten sie die Fortführung des überkommenen höfischen Modells, d. h. die Integration in den Hof und in das königliche Regierungssystem möglichst durch die Vergabe der Positionen (Hofämter), die sie, ihre Familie, Sippe oder Gruppe traditionell bekleidet hatten. Wenn einem Herrscher die Bewältigung dieser integrativen Anforderung seiner Gefolgschaft im Reich nicht gelang, traten mit der Entfernung der Königsnahen vom Hof ernsthafte Integrationsdefizite auf. Während die Regierung Karls IV. in den letzten Jahren durch einen dominant gewordenen reichischen Einfluß am Hof in die Krise geraten war, geschah dasselbe am Hof Wenzels durch die Exklusivität erbländischen Einflusses, und solches drohte zeitweilig auch Sigmund 19. Die Destruktion erreichte ihren Höhepunkt in den ersten Jahrzehnten Friedrichs IH., als der erbländisch-steirische Zuschnitt des Hofes nur völlig unzureichend durchbrochen

Moraw, Von offener Verfassung (FN 5), S. 175-180. s. allgemein die Beiträge in: Europa 1400. Die Krise des Spätmittelalters, hrsg. v. F. Seiht / W. Eherhardt, 1984. Zu Sigmund zuletzt S. Wefers, Das politische System Kaiser Sigmunds, 1989. 18

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werden konnte. Wie ich in einer abgeschlossenen prosopographischen Untersuchung über das Regierungs- und das politische System Friedrichs Ur. detailliert zeigen kann 20 , hat sich damals insbesondere der königliche Rat als das entscheidende und natürlich höfisch gebundene Beschlußgremium des Herrschers derart territorial verengt, daß sich die strukturelle Entfremdung von König und Reich kraß zuspitzen mußte. Nachdem seit Wenzel zuerst die Höfe der rheinischen Kurfürsten, dann in Konkurrenz mit diesen auf die Dauer die Höfe einiger (Kur-)Fürsten (Böhmen, Sachsen, Brandenburg-Ansbach, Pfalz, Bayern, Württemberg, Baden) schon zu "Kristallisationskern(en) gleichsam heimatlos gewordener ehemaliger Besucher des Königshofes" geworden waren - also von den Herrschern mangelhaft erfüllte Funktionen kompensiert hatten -, wurden diese unter Friedrich IU. auch Auffangbecken der vom Herrscherhof nicht integrierten Königsdiener aus den königsnahen Landschaften des Binnenreichs. Unter der Bedingung des Randkönigtums um die Mitte des 15. Jhs. weitete sich die Hofkrise vollends zur Herrschaftskrise aus, weil auch andere königliche Integrationsinstrumente und -mechanismen entwertet waren, nicht mehr funktionierten oder nicht genutzt wurden. Zu einer Zeit, in der der Anspruch auf Ausübung von Herrschaft und seine Realisierung noch stark an die persönliche Anwesenheit gebunden war und die am Wirken des Königs interessierten Kräfte seine Dauerpräsenz in wechselnden Landschaften und Orten des Binnenreichs erwarteten, wurden die ohnehin schwach gewordenen Beziehungsstränge infolge der fast dreißig Jahre langen Abwesenheit Friedrichs IU. vom Binnenreich zwischen 1444 und 1471 überdehnt. Königliche Rätetage konnten Hoftage (curia solemnis, curia generalis, convocatio etc.), die als Erweiterung des täglichen Hofs stets festliche Aufgipfelungen der Königsherrschaft und bedeutende Integrationsinstrumente gewesen waren, nicht ersetzen. Damit schritt die Formveränderung bzw. Substituierung des Hoftags voran. War er bis dahin primär eine Gefolgschaftsversammlung gewesen, indem er eine größere Zahl Hilfswilliger und Interessierter um den allein zu seiner Einberufung berechtigten Herrscher geschart hatte und dem nicht Geladene, nicht Interessierte und Kontrahenten vielfach ferngeblieben waren, so wurde nun sein Funktionselement dominant, eine Antwort des Herrschers auf Mitbestimmungsverlangen zu sein. Der Weg vom Hoftag, der immer nur wenige Teile des Reichs umfaßt hatte und dessen Besuch vor allem durch die weltlichen Fürsten bis dahin nur sehr sporadisch gewesen war, zum Reichstag, der das Reich gleichmäßiger erfaßte und in den sich zuletzt auch die weltlichen Fürsten einordneten, beschleunigte sich und damit die Dualisierung der Reichsverfassung. 20 P.-J. Heinig, Kaiser Friedrich III. (1440 -1493) Mskrpt. Mainz-Gießen 1993.

Hof, Regierung und Politik,

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Der Erfolg dualistischer Gewalten in ihrem Anspruch, ihrerseits für das Reich zu sprechen oder dieses gar selbst zu sein, hatte von je her komplementär zu Mißerfolgen des Königs gestanden. Diese zweite, ebenfalls aus dem Hochmittelalter überkommene Problematik des monarchischen oder des dualistischen Charakters des Reichs besaß ihren Ursprung bekanntlich in der Tatsache, daß die Großen des Reichs autogene, nicht vom Königtum abgeleitete Herrschaftsrechte inne hatten, folglich ebenso wie der König Träger "staatlicher" Funktionen waren und sich als eine zusammen mit dem König das Reich bildende Gemeinschaft (communitas imperii) verstanden 21 . Auf der anderen Seite war aber ein Vorgehen der Großen ohne den König, gewissermaßen aus eigenem Recht, weder "theoretisch" vorgesehen noch mit bleibenden Konsequenzen praktisch eingeübt. Entsprechend der privilegialen Grundstruktur der Verfassung stets auch von starken Herrschern individualisiert, schlossen sie untereinander allenfalls sachlich und zeitlich begrenzte Bündnisse, bildeten jedoch keinen organisierten Verband, der aus sich heraus handlungsfähig war. Die Entwicklung des Dualismus als des gemeinsamen Wirkens der politischen Kräfte neben dem König/ Kaiser erlangte zwar im Rhenser Kurverein (1338) einen ersten Höhepunkt, aber die damals erkennbar werdenden Ansätze eines horizontalen Ständewesens im Reich wurden durch das hegemoniale Königtum Karls IV. fast ganz zugunsten der klassischen vertikalen Gefolgschaftsstrukturen zurückgedrängt 22. Die Kurfürsten, denen die Goldene Bulle (1356) in "vernünftiger Interessenabgrenzung" 23 zwischen monistischen und dualistischen Tendenzen an der Reichsspitze testierte, daß das Reich eine Gemeinschaftsaufgabe von König und Kurfürsten sei, bildeten bis zur Hussitenzeit kein Kolleg; der vorgesehene Kurfürstenrat scheiterte an mangelndem Zusammenhalt, die "Willebriefe" gewannen keine Verbindlichkeit. Ständisches Verhalten im strengeren Sinne, also in Form horizontalraumübergreifender Kooperation einer ansehnlichen Zahl Gleichrangiger, die selbsttragende Kontinuität und Institutionalisierung zu gewinnen vermochte, zeigte sich im Reich erstmals infolge der Herausforderung durch die Hussiten, als die - freilich durch einen päpstlichen Legaten besonders legitimierten - Kurfürsten in Abwesenheit des Königs Abwehrmaßnahmen in Form von Selbstverpflichtungen der Reichsangehörigen (Matrikel 1422, 21 Hierzu zuletzt dezidiert Keller, Zwischen regionaler Begrenzung (FN 10), S. 49 f. 22 Hierzu und zur im folgenden skizzierten Ständeentwicklung Moraw, Von offener Verfassung (FN 5), S. 236 - 238, 247 - 249; ders., Versuch über die Entstehung des Reichstages, in: Politische Ordnungen und soziale Kräfte im Alten Reich, hrsg. v. H. Weber, 1980, S. 1-36 sowie ders., Fürstentum, Königtum und "Reichsreform" im deutschen Spätmittelalter: Blätter für dtsch. Landesgeschichte 122 (1986), S.117-136. 23 Moraw, Von offener Verfassung (FN 5), S. 248.

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Steuer 1427) sowie das Reich überterritorial organisierende Maßnahmen zu deren Realisierung initiierten und damit trotz ihrer "Erfolglosigkeit" belegten, daß sie zur Weiterentwicklung der Reichsverfassung beizutragen vermochten. Allerdings reichte der "Stand" des Dualismus immer noch nicht über die Kurfürsten und die Reichsstädte hinaus. Wie schon zu Zeiten Ludwigs des Bayern erwuchs (proto-)ständisches Verhalten folglich zuerst aus einer besonderen Nähe zum Königtum, die den Fürsten mangelte; sie blieben bei der konkreten Organisation der gegen die Hussiten beschlossenen Abwehrmaßnahmen ebenso abseits und unberücksichtigt wie in den Reichsreformplänen des Nikolaus von Kues. Entsprechend diesem Entwicklungsstand des Dualismus waren es um 1440 natürlich die Kurfürsten unter Führung der geistlichen Metropoliten am Rhein, die die Politik des Königs und die entscheidenden Institutionen seines Hofs zu besetzen versuchten und schließlich neuerlich das Absetzungsrecht, das sie im Widerspruch zum römischen Recht aus ihrem Wahlrecht ableiteten, praktizieren wollten 24. Nach der Kaiserkrönung Friedrichs IH. (1452) haben sie versucht, den Herrscher mittels eines Kurfürstenrats zu dominieren bzw. einen von ihnen abhängigen König neben dem Kaiser zu installieren. Daß sie im Unterschied zu 1400 scheiterten, hängt auch mit der Weiterentwicklung des Dualismus infolge beträchtlicher, vom Kaiser politisch genutzter Machtverschiebungen zugunsten der weltlichen Fürsten zusammen. Diese hatten sich seit der Verengung des Rechts der Königswahl auf die Kurfürsten zu Beginn des Zeitalters der offenen Verfassung primär auf ihre jeweiligen territorialen Belange konzentriert und am stärksten und am längsten der Partizipation an Gemeinaufgaben widerstrebt 25. Nun begannen sie wieder in die Geschicke des Gesamtreichs einzugreifen und mit und ohne sowie für und wider König und Kurfürsten zwei- oder mehrseitige dynastisch geprägte politische Handlungsgemeinschaften zu bilden. Ihnen gegenüber verloren die Reichsstädte und die Freien Städte um 1450 zunächst ihren vormaligen Rückhalt am Herrscher und dann endgültig ihre eigenständige verfassungsgestaltende Relevanz 26.

24 Hierzu und zum folgenden A. Bachmann, Die ersten Versuche zu einer römischen Königswahl unter Friedrich III.: Forschungen zur dtsch. Geschichte 17 (1877), S. 277 -330; H. Weigel, Kaiser, Kurfürst und Jurist. Friedrich III., Erzbischof Jakob von Trier und Dr. Johannes von Lysura im Vorspiel zum Regensburger Reichstag vom April 1454, in: Aus Reichstagen des 15. und 16. Jahrhunderts, 1958, S. 80-115; 1. Miller, Jakob von Sierck 1398/99 -1456, 1983. 25 s. dazu P. Moraw, Die Entfaltung der deutschen Territorien im 14. und 15. Jahrhundert, in: Landesherrliche Kanzleien im Spätmittelalter, 1984, S. 61-108 und ders., Fürstentum (FN 22), bes. S. 127 -13l. 26 Zur Rolle der Städte P. Moraw, Reichsstadt, Reich und Königtum im späten Mittelalter: ZHF 4 (1979), S. 385-424; P.-J. Heinig, Reichsstädte, Freie Städte und Königtum 1389 -1450. Ein Beitrag zur deutschen Verfassungsgeschichte, 1983; ders.,

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Die politisch-militärischen Dauerkonflikte der ersten dreißig Regierungsjahre Friedrichs III., die erfolgreiche Expansion und Verdichtung der Territorialherrschaft und ein allgemeiner Modernisierungsschub ebneten wenigstens auf der Ebene der Kurfürsten und Fürsten sukzessive die gravierendsten Rangunterschiede zwischen nominell Gleichrangigen ein und bewirkten überdies einen nennenswerten Ausgleich der bis dahin beträchtlichen Entwicklungsunterschiede zwischen den Territorien. Gleichzeitig schritt die "ständische" Emanzipation der weltlichen Fürsten von den Kurfürsten voran. Auf diesen Grundlagen läßt sich eine erste, mit fürstlicher Ständebildung verbundene Stufe der Reichsverdichtung kurz nach 1470 erkennen, eine zweite wohl von 1485/86 an. Der Aufbau relativ stabiler Bündnissysteme über die Reichsgrenzen hinaus führte zu diplomatischen Dauerkontakten und politischer Koordination. Das eigentliche Motiv dafür war mehr noch als rein territoriale Rivalität die eine europaweite Dimension gewinnende Auseinandersetzung zwischen Dynastien (Habsburg-Zollern-Wettin-Wittelsbach), von denen sich jede dem hilfsbedürftigen habsburgischen Herrscher als der bessere Exekutor des zentralen Willens zu empfehlen suchte, um durch König und Reich gedeckt territorialen Vorteil und Rangerhöhung zu erlangen. Wichtig war darüber hinaus die Schwächung der politischen Kohärenz der geistlichen Kurfürsten am Rhein und ihr machtpolitischer Abstieg, wie er sich seit Beginn der 1430 Jahre irreversibel vollzog (1427, 1462 Kurmainz; 1444-49, 1473-75 Kurköln).

ID.

Mit der Aufbrechung der regionalen Fixierung der weltlichen Fürsten wurde die durch die Größe und Vielgestaltigkeit des Reichs bedingte Schwäche der Ständeentwicklung ab etwa 1470 zusehends überwunden. Neben das vertikale Organisationsprinzips des Reichs (König / Kaiser mit seiner Gefolgschaft, seine Gegner, Kurfürsten), trat allmählich eine horizontale Gliederung nach Ständen. Dieser Vorgang war gleichermaßen Bestandteil wie bewegendes Element eines durch äußeren Druck, monarchisch-monistisches Königtum und territorial-dynastisches Ringen beschleunigten Verfassungswandels im Reich. Komplementär dazu vollzogen sich an der "Basis" erhebliche Wandlungs- und Modernisierungsprozesse (römisches Recht und Rezeption, Buchdruck und Rezeption, Söldnerwesen, Wirtschaftsaufschwung etc.) 27. Städte und Königtum im Zeitalter der Reichsverdichtung, in: La ville, la bourgeoisie et la genese de l'etat moderne (XIIe-XVIIIe siecles), ed. par N. Bulst et J. Ph. Genet, Paris 1988, S. 87 -111. 27 s. allgemein: Europa 1500. Integrationsprozesse im Widerstreit: Staaten, Regionen, Personenverbände, Christenheit, hrsg. v. F. Seibt/W. Eberhard, Stuttgart 1987,

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Vom Höhepunkt der Desintegration des Reichs um die Mitte des 15. Jahrhunderts führt folglich kein direkter Weg zum Verfassungskompromiß von 1495. Denn ein solcher würde zum einen die auf dynastisch-territorialem und römisch-rechtlichem Fundament erfolgte Erneuerung der königlichen Gewalt sowie zum anderen außer acht lassen, mit welcher Intensität dieses Königtum das Reich unablässig herausforderte, um die Abwehr der "äußeren" Bedrohungen durch Türken, Burgunder, Ungarn und Franzosen zu organisieren. Erst diese Dauerbeanspruchung des Reichs hat durch ihre reichsweite Zielrichtung erstmals reichsweit Reaktionen der Betroffenen und eine neue Stufe der Organisation von Abwehrverhalten bzw. von Forderungen nach Gegenleistungen des Herrschers hervorgebracht, von denen die Gewährung der Hilfen abhängig gemacht wurde. Daß Friedrichs III. Kombination aus einem neuen, römisch-rechtlich geprägten Majestätsverständnis und dynastischem Selbstbewußtsein zu einer Neufundierung der Herrschergewalt geführt und damit entscheidend dazu beigetragen hat, die Reichsverfassung aus ihrer Statik herauszutreiben, ist heute unabweisbar 28 . Die geplanten und die zufälligen dynastischen Erfolge dieses Habsburgers gaben der römisch-deutschen Zentralgewalt ein neues Fundament, von dem er selbst nicht mehr profitierte, von dem aus aber schon sein Sohn Maximilian I. tätig wurde und das sich unter Karl V. zu neuem Universalismus ausweitete. Aber indem Friedrich III. zu guter Letzt die Krise des Königtums überwand, hat er - seinen Intentionen gänzlich zuwider - die Dualisierung des Reichs befördert und erste Schritte zu deren Institutionalisierung zugestehen müssen. Mit Friedrichs persönlicher "Rückkehr" ins Binnenreich (1471) gewann der Herrscher an Durchsetzungskraft und Weite des Wirkungsbereichs 29. zusammenfassend bes. H.-D. Heimann, "Ordnung schaffen" und "Sich-Einordnenlassen" als Koordinaten eines Strukturprofils, ebd. S. 526 - 563. 28 Die Neubewertung Friedrichs 111. durch die Lhotsky-Schule fand ihren ersten, noch vorsichtigen Nachhall bei E. Meuthen, Das 15. Jahrhundert, 1. Auf!. 1980. s. immer noch A. Lhotsky, Art.: Friedrich III., in: NDB 5, 1961, S. 484-487 und ders., Kaiser Friedrich 111., sein Leben und seine Persönlichkeit, in: Kaiserresidenz Wiener Neustadt, Wien 1966 (= Katalog d. Niederösterr. Landesmuseums N. F. 29), S. 1647, dann R. Schmidt, Friedrich 111. 1440 -1493, in: Kaisergestalten des Mittelalters, hrsg. v. H. Beumann, München 1984, S. 301-331; G. Hödl, Habsburg und Österreich 1273 -1493. Gestalten und Gestalt des österreichischen Spätmittelalters, Wien-KölnGraz 1988; H. Koller, Art.: Friedrich III., in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 4, 1988, Sp. 940-943; P.-J. Heinig, Art.: Friedrich III., in: Goldenes Vlies Mechelen (vorauss. 1993). 29 P.-J. Heinig, Zur Kanzleipraxis unter Kaiser Friedrich III.: AfD 31 (1985), S. 383 -442; ders., Einleitung zu: Regesten Kaiser Friedrichs III. (1440 -1493) nach Archiven und Bibliotheken geordnet, hrsg. v. H. Koller, H. 4: Die Urkunden und Briefe aus dem Stadtarchiv Frankfurt am Main, bearb. v. P.-J. Heinig, 1986; H. Koller, Der Ausbau königlicher Macht im Reich des 15. Jahrhunderts, in: Das spätmittelalterliche Königtum (FN 14), S. 425-464; ders., Probleme der Schriftlichkeit und Verwaltung unter Kaiser Friedrich III., in: Europa 1500 (FN 27), S. 96 -114. 2*

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Unter Zurückdrängung des vormals dominierenden erbländischen Adels erfolgte eine personale Umgestaltung des Hofs, die die Wiederaufnahme klassischer und die Ausbildung neuer Beziehungsstränge ermöglichte. Es wurde besonders in Rat und Kammergericht, aber auch durch die anfänglich kurmainzische Kanzleiführung auf Pachtbasis die "reichische" Dimension des Hofes gestärkt und damit dessen Integrationsfähigkeit erhöht. Dies zeitigte nicht unbeträchtliche Erfolge, band besonders schwäbische, fränkische und mittelrheinische Königsnahe wieder in das Regierungssystem ein und öffnete den Hof sogar für Interessierte aus ehedem königsoffenen und sogar königsfemen Landschaften (Niederrhein, Hessen 30). Durch die Einbindung der gegenüber dem territorialen Expansionismus der weltlichen Kurfürsten und Fürsten schutzbedürftigen, überwiegend studierten geistlichen Fürsten und Prälaten in den Rat sowie durch die breite Rezeption "bürgerlicher", überwiegend aber immer noch kirchlich gebundener Juristen in das Kammergerichts 1 partizipierten Herrscher und Hof an der breiter werdenden Akademikerschicht, die "modemes" Herrschaftswissen vermittelte. Begünstigt durch das Aufgreifen der aufkommenden "nationalen" Gemeinempfindungen entfalteten jetzt auch die kompensatorischen Maßnahmen eine integrative Wirkung. Die Abkömmlichkeit der mittelgroßen und kleineren Adeligen als eine Voraussetzung für ihr höfisches Engagement weitab ihrer eigenen Herrschaft wurde im Zuge effektiver gehandhabter Landfrieden größer. Im Zuge der "Modernisierung" des Hofs wirkte die zunächst noch fortgesetzte Verpachtung von Kanzlei und Kammergericht an einen vom Kaiser weitgehend abhängigen Kurfürsten nicht länger desintegrativ. Die Leistungsfähigkeit dieser Institutionen wurde durch Verwaltungsreformen gesteigert, so daß die fortgesetzte Fiskalisierung der Erteilung von Lehen, Privilegien und allen anderen Gnadensachen die Interessenten nicht abgeschreckt hat 32 • Durch die Verbesserung des Gesandtschaftswesens (Räte von Haus aus; Mit-Beauftragung von Vertretern befreundeter Fürsten; Kommissionen; ständige Prokuratoren an der Kurie) wurden Wirkungsund Informationsbereich ausgedehnt. Die Zahl derjenigen Herrschaftsträger und Interessenten, die wenigstens durch "Geschäftsträger" und Agenten dauernd am Hof präsent sein wollten, nahm zu. 30 s. dazu z. B. P. Moraw, Hessen und das deutsche Königtum im späten Mittelalter: HJL 26 (1976), S. 43 - 95; P.-J. Heinig, Kaiser Friedrich III. und Hessen: Hess. Jahrbuch für Landesgeschichte 32 (1982), S. 63-101. 31 s. dazu nach P. Moraw, Die gelehrten Juristen der deutschen Könige im späten Mittelalter (1273 -1493), in: Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modemen Staates, hrsg. v. R. Schnur u. a., 1986, S. 77 -147 auch Heinig, Hof (FN 20). 32 Dazu z. B. E. Isenmann, Reichsfinanzen und Reichssteuern im 15. Jahrhundert: ZHF 7 (1980), S. 1-76, 129-218, doch wäre die Annahme eines regelmäßigen oder auch nur überwiegenden Automatismus Privileg - Geld ohne Beteiligung rechtlicher und besonders politischer Motive gerade unter Friedrich II!. irrig.

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Zur Kompensation seiner machtpolitischen Labilität hat Friedrich IU. der seit den Staufern weitverbreiteten Vorstellung Geltung verschafft, derzufolge der König die Quelle allen Rechts und geradezu mit dem Recht zu identifizieren sei3 3 . Nicht legitimierte Herrschafts ausübung (z. B. Blutgerichtsbarkeit) wurde besonders gegenüber Reichsfürsten, die sich entsprechend ihren Standesvorrechten nicht dem Kammgericht unterworfen fühlten 34, als Majestätsverbrechen verfolgt und ggf. mittels befreundeter oder interessierter Fürsten durchgesetzt. Den Abwehrkampf gegen die oppositionellen rheinischen Kurfürsten entschied der Kaiser zu seinen Gunsten; die drei geistlichen Kurfürstentümer wurden personal-politisch kontrolliert, der Pfalzgraf isoliert. Die Zahl der weltlichen Fürsten, die sich dem Kaiser sogar durch die Annahme des Ratstitels verpflichteten, stieg deutlich an. Überhaupt weitete sich das politische System im Kampf gegen die wittelsbachischen Rivalen und deren Bündnispartner durch ein politis~hes Zusammenspiel mit den weltlichen Fürsten und schließlich durch den Schwäbischen Bund 35, mit dessen Hilfe die bayerischen Rivalen ausgeschaltet wurden, beträchtlich aus. Der im Zeitalter der offenen Verfassung eingebüßte Rangabstand des Königtums zu den Fürsten wurde wiederhergestellt. Nach den tiefgreifenden Krisen der ersten Regierungsjahrzehnte zeitigte die erbländische Territorialpolitik mit dem Anfall der albertinisch-österreichischen Länder (1463) den ersten bedeutenden Erfolg. Weiterhin auf die Rechtsform des Seniorats gestützt, beanspruchte der Kaiser neben der reichsrechtlichen erfolgreich eine dynastisch-politische Oberhoheit über die Tiroler Linie. Indem diese ausgangs der 1480er Jahre gegenüber dem wittelsbachischen Zugriff "exekutiert" wurde und Tirol mit den Vorlanden an Maximilian gelangte, waren alle Länder des Hauses Habsburg-Österreich als das Fundament groß dynastischen Aufschwungs wieder in einer Hand vereinigt. Daß Friedrich sich überdies nicht mit dem 1459/63 erworbenen Titel eines Königs von Ungarn begnügte, sondern den konkreten und später realisierten Herrschaftsanspruch aufrechterhielt, bildete zunächst ein Konflikt-Kontinuum und hatte ab 1483 die Eroberung eines Teils der Erblande durch Matthias Corvinus zur Folge 36. Zu deren Rückeroberung 33 S. z. B. K-F. Krieger, Rechtliche Grundlagen und Möglichkeiten römisch-deutscher Königsherrschaft im Spätmittelalter, in: Das spätmittelalterliche Königtum (FN 14), S. 465-489. 34 K-F. Krieger, Fürstliche Standesvorrechte im Spätmittelalter: Blätter für dtsch. Landesgeschichte 122 (1986), S. 91-116. 35 s. dazu bis auf weiteres noch E. Bock, Der schwäbische Bund und seine Verfassungen (1488-1534). Ein Beitrag zur Geschichte der Zeit der Reichsreform, Nachdr. (d. Ausg. 1927) 1968 sowie vor allem H. Hesslinger, Die Anfänge des Schwäbischen Bundes. Ein Beitrag zur Geschichte des Einungswesens und der Reichsreform unter Kaiser Friedrich IH., 1970. 36 K Nehring, Matthias Corvinus, Kaiser Friedrich III. und das Reich. Zum hunyadisch-habsburgischen Gegensatz im Donauraum, 2., erg. Aufl., 1989; Matthias

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forderte der Kaiser unter starker Betonung ihrer Reichszugehörigkeit sowie ihrer Schild- und Pfortenfunktion für das Binnenreich Reichshilfe. Auch der gleich am Anfang der Verdichtungsphase stehende Konflikt mit Burgund war dynastisch (nämlich durch das Interesse am Erbe Karls des Kühnen) verursacht, erhielt durch Königsambitionen des Burgunders und dessen nachfolgende militärische Intervention im Kölner Stiftsstreit eine "reichsrechtliche" Komponente und wurde schließlich mit der burgundischen Erbschaft des Hauses Habsburg wieder dynastisch beendet (1477)37. Die Auseinandersetzung mit Burgund in den Jahren 1474-1477 war dessenungeachtet wohl das erste politische Ereignis seit den Hussitenkriegen, das tatsächlich reichsweite Beachtung und Solidarität hervorgerufen hat. Zum Feldzug zur Befreiung von Neuß (1475) wurde ein Heer zusammengebracht, das unter persönlicher Beteiligung des Kaisers erstmals als "kaiserliches Reichsheer" in einem neueren Sinne bezeichnet werden kann. Die Form, in der die beteiligten Kurfürsten dem Burgunder Fehde anzusagen und ein Bündnis mit dem König von Frankreich abzuschließen hatten, wurde ihnen vom Kaiser diktiert. Durch die stufenweise Erweiterung und Durchdringung der - freilich immer noch gefährdeten - erbländischen Machtbasis mehrte das noch zu Beginn der Regierungszeit Friedrichs IH. eher problematisch ausgestattete Haus Habsburg-Österreich und damit die Zentralgewalt ihr eigenes Modernisierungspotential. Schon dadurch, daß sich Friedrich nach 1475 in Köln fast hauspolitisch etablierte 38 und damit den Wirkungsbereich in eine dem Königtum seit langem verschlossene Landschaft vorschob, vor allem aber infolge der burgundischen Erbschaft (1477) und der auch für die Beziehungen nach Italien wichtigen Rückgliederung Tirols fand das deutsche Königtum erstmals seit langem wieder Anschluß an die wirtschaftlich führenden Großlandschaften Europas. Nicht widerspruchslos, aber letztlich doch erfolgreich, wurde durch die Gleichsetzung des Hauses Österreich mit Kaisertum und Reich das eigene Legitimationspotential dermaßen erhöht, daß 1486 erstmals seit mehr als einem Jahrhundert wieder die Nachfolge des Sohnes im Königsamt3 9 und damit der Anspruch auf die faktische ErblichCorvinus und die Renaissance in Ungarn 1458 -1541. Ausstellung auf der Schallaburg 1982, Wien 1982 (= Katalog des Niederösterreichischen Landesmuseums, N. F., Bd. 118). 37 Zu den durch die burgundische Expansion hervorgerufenen Konflikten und der erfolgreichen "West-Politik" Friedrichs III. zuletzt P.-J. Heinig, Friedrich III., Maximilian I. und die Eidgenossen, in: Die Eidgenossen und ihre Nachbarn in Deutschland und Österreich, hrsg. v. P. Rück/H. Koller, 1991, S. 267-293. 38 Dies dokumentieren schlagend die Regesten Kaiser Friedrichs III. (wie FN 29), H.7: Die Urkunden und Briefe aus den Archiven und Bibliotheken des Reg.bez. Köln, bearb. v. Th. R. Kraus, 1990, ausgewertet von Heinig (FN 20). 39 Die Quellen dazu in: Deutsche Reichstagsakten, hrsg. durch die Hist. Komm. b. d. Bayer. Akad. d. Wiss., Mittlere Reihe: Bd. 1, Reichstag von Frankfurt 1486,

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keit des römischen Königtums im Haus Habsburg durchgesetzt werden konnte. Seit das Königtum seine Herrschaftskrise durch eine enge politische Kooperation mit dem seinerseits durch den Konziliarismus geschwächten Papsttum überwunden hatte, verstärkte sich die Tendenz zur relativ rigorosen Ausschaltung des Papsttums aus den "inneren" Belangen Deutschlands. Die Konkurrenz der kurialen Gerichtsbarkeit in (vermeintlich) weltlichreichischen Streitfällen (Appellationen von Kurfürsten, Fürsten und Reichsstädten, bis hin zur Auseinandersetzung um den Rechtsstand des Initiators eines neuen Baseler Konzils 40 ) wurde scharf kontrolliert und eingedämmt. Von der gesamtgesellschaftlichen Bewegung profitierte der Herrscher mehr als die Territorien, indem er sich unter Abstützung auf seine Funktion als oberster Kirchenvogt Rechte verbriefen ließ oder solche einfach ausübte, die eine faktische Revision des Wormser Konkordats von 1122 bedeuteten 41. Auf seine lehnsherrlichen Befugnisse (Regalien- / Temporalienleihe) als der einzigen Legitimation zur Ausübung weltlicher Herrschaft durch geistliche Herren, dann auf die Rechtsfigur der Vogtei sowie auf päpstliche Privilegien gestützt, gewann der Kaiser auch schon vor 1478, als er vom Papst das Vorrecht zur Wahlentscheidung bei 19 Bistümern erhielt, maßgeblichen Einfluß auf die Reichskirchen. Wiederholt verweigerte er die Regalienleihe oder widerrief sie, um eine ihm mißliebige Wahl zu korrigieren oder einen unbotmäßigen Bischof zu strafen. Die Partizipation des Herrschers an der integrativen Funktion der geistlichen Fürstentümer, nach deren Macht- und Versorgungsstellen ja der jeweilige regionale Adel strebte, hatte beträchtliche Bedeutung für die Steigerung der ReichsKohärenz. Das zunehmende Schutzbedürfnis der geistlichen Gewalten gegenüber dem expandierenden weltlichen Fürstentum, welches die Geistlichkeit zu mediatisieren suchte, brachte die königliche Schutzgewalt hier ebenso ins Spiel wie im Falle der bedrohten kleineren (königsnahen) Kräfte. Der Herrscher substituierte den Machtverlust des Papstes gegenüber den bearb. v. H. Angermeier unter Mitwirkung v. R. Seyboth, 1989; s. dazu P.-J. Heinig, Reichstag und Reichstagsakten am Ende des Mittelalters: ZHF 17 (1990) S. 419-428. 40 J. Petersohn, Ein Diplomat des Quattrocento. Angelo Geraldini (1422 -1486), 1985; ders., Zum Personalakt eines Kirchenrebellen. Name, Herkunft und Amtssprengel des Basler Konzilsinitiators Andreas Jamometic (t 1484): ZHF 13 (1986), S. 1-14; Diplomatische Berichte und Denkschriften des päpstlichen Legaten Angelo Geraldini aus der Zeit seiner Basel-Legation (1482 -1483), bearb. u. hrsg. v. J. Petersohn, 1987. 41 Zum Wiener Konkordat selbst zuletzt A. Meyer, Das Wiener Konkordat von 1448 - eine erfolgreiche Reform des Spätmittelalters: Quellen u. Forschungen aus italienischen Archiven u. Bibliotheken 66 (1986), S. 108 -152; zur Papst- und Kirchenpolitik Friedrichs III. z. B. H. Dopsch, Friedrich III., das Wiener Konkordat und die Salzburger Hoheitsrechte über Gurk: Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs 34 (1981), S. 45-88; Krieger, Rechtliche Grundlagen (FN 33); P.-J. Heinig, Kaiser Friedrichs III. Preces-Register der Jahre 1473 -1475, in: FS H. Zimmermann, 1991, S. 135-158.

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weltlichen Fürsten. Die Reichskirche trug um 1480 deutlich Züge einer königlich gelenkten deutschen Nationalkirche. Die Bindung aller Erscheinungsformen der königlichen Gerichtsbarkeit an die Person des Herrschers blieb bestehen, ja sie wurde seit der Ablösung des alten Hofgerichts (1451/52) durch das Kammergericht noch beträchtlich verstärkt. Das Kammergericht wurde zur" beherrschenden Gerichtsinstanz für alle möglichen Klagen ohne feste Zuständigkeitsabgrenzung mit Ausnahme der Fürstensachen ... " 42. Herrscherliche Eingriffe in das Verfahren waren jederzeit möglich, so daß die Verfahren, in denen dies angebracht schien, nach politisch-fiskalischer Zweckmäßigkeit "gesteuert" werden konnten. Für die Verdichtung des Reichs entscheidender als die wenigen "politischen" Prozesse, in denen der Kaiser seine Rechtsautorität und Gerichtsgewalt zur politischen Disziplinierung einzelner Fürsten einsetzte 43, war die tägliche Verfassungswirklichkeit königlicher Rechtsprechung, und die bestand in einer nie gekannten Masse von Alltagsverfahren mit oder ohne den König als Partei 44. Wenn von den über 5000 Urkunden und Briefen, die von der "römischen" Kanzlei (i. e. später: Reichs-Hofkanzlei) in knapp vier Jahren zwischen 1471 und 1474 expediert wurden, wohl zwei Drittel dem Wirken des schon damals auf das außererbländische Binnenreich beschränkten Kammergerichts zuzurechnen sind 45, erkennt man, welche Bedeutung dieses Gericht für die Wirksamkeit des Herrschers und welchen Einfluß es auf das gesamte Rechtsleben besessen hat. Nicht zuletzt suchte Friedrich IH., das stadtherrschaftliche Element des Königtums neu zur Geltung zu bringen. Zum einen griff er fiskalisch durch, 42 Krieger, Rechtliche Grundlagen (FN 33), S. 483, dort auch zum folgenden. s. zum Kammergericht außerdem und neben den in FN 20 u. 31 genannten Beiträgen immer noch (trotz mancher Irrtümer über das 15. Jh.) die älteren Arbeiten von o. Franklin, Das königliche Kammergericht vor dem Jahre 1495, 1871; K. Lechner, Reichshofgericht und königliches Kammergericht im 15. Jahrhundert: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung EB 7 (1907), S. 44-186 und R. Smend, Das Reichskammergericht. Geschichte und Verfassung, Nachdr. (d. Ausg. 1911) 1965, aber auch U. Knolle, Studien zum Ursprung und zur Geschichte des Reichsfiskalats im 15. Jahrhundert, 1965 (= Diss. jur. Freiburg); F. Battenberg, Beiträge zur höchsten Gerichtsbarkeit im Reich im 15. Jahrhundert, 1981; ders., Wege zu mehr Rationalität im Verfahren der obersten königlichen Gerichte im 14. und 15. Jahrhundert: Akten des 26. Deutschen Rechtshistorikertages Frankfurt am Main 1986, hrsg. v. D. Simon, 1986, S. 313-331 und (v. a. zur frühen Neuzeit): Das Reichskammergericht in der deutschen Geschichte - Forschungsstand und Forschungsperspektiven, hrsg. v. B. Diestelkamp, 1989. 43 Ein Beispiel dafür analysiert K.-F. Krieger, Der Prozeß gegen Pfalzgraf Friedrich den Siegreichen auf dem Augsburger Reichstag vom Jahre 1474: ZHF 12 (1985), S.257-286. 44 Ders., Rechtliche Grundlagen (FN 33) S. 486. 45 Diese in meiner FN 20 angekündigten Monographie näher ausgeführten Ergebnisse fußen auf meiner Auswertung des sogenannten "Taxregisters 1471-1474" der römischen Kanzlei Friedrichs 111. im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Reichshofrat-Antiquissima, dessen Edition als Sonderband der Regesten Kaiser Friedrichs III. ich vorbereite.

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indem er die regelmäßigen Stadtsteuern und anderen Abgaben sowie ggf. Strafzahlungen tatsächlich eintreiben und Steuer-Verpfändungen mit dem Ziel der Annulierung überprüfen ließ, notfalls die Auszahlung verbot und die Verpfändung kassierte. Direkte Eingriffe in die Rats-Herrschaft waren selten, wurden aber vereinzelt - so in Regensburg - bis hin zur örtlichen Konfliktregelung durch eigens ernannte Hauptleute praktiziert. Den problematischen Status der Freien Städte hat schon Friedrich 111. in allen Fällen, in denen er eine entsprechende Gelegenheit hatte (Köln, Regensburg), zugunsten des Reichsstadt-Status ignoriert 46 . Die sehr weitgehende Fiskalisierung hat eine nicht unbeträchtliche, aber doch ungenügende Steigerung der herrscherlichen Einnahmen erbracht, die entsprechend dem Identitätsverstandnis von Kaiser, Haus und Reich in der Regel natürlich nicht von den Territorialeinkünften geschieden wurden. Hier lag ein wesentlicher Grund für die ständische Forderung nach Mitbestimmung und Kontrolle bei der Verwendung der vom Reich aufgebrachten Gelder. Dennoch: Trotz dieser gesteigerten Wirksamkeit und Integrationsleistung ließ sich die durch die vormalige Krise des Königshofes mithervorgerufene faktische Transformation des Reiches auf die Dauer nicht ignorieren, ließ sich das Reich nicht mehr allein höfisch organisieren. Die nicht mehr abreißende gefolgschaftliche Hilfspflicht, die der Herrscher aufgrund seines monarchisch-monistischen Verständnisses einforderte und der er möglichst weite Kreise zu unterwerfen suchte, forderte das Reich als Ganzes heraus und förderte dessen Konstituierung. Ebenso wie einst die Hussitenbewegung, wirkte jetzt das Motiv der Türkenabwehr raumübergreifend-integrativ, weil sich niemand dem Kampf gegen Ungläubige entziehen durfte 47. Wegen dieser "Leistungsfähigkeit" wurden mit dem Türkenmotiv sowie weiteren durchschlagenden Motiven auch Hilfsforderungen begründet, deren tatsächlicher Anlaß ihnen nur partiell oder schwerlich genügte. Die Motiv-Prüfung erschien den zur Hilfe Aufgebotenen umso dringlicher, als sich in ihnen auch die groß-dynastischen, überwiegend von den Rändern des Reichs definierten Interessen des Hauses Österreich kundtaten, die allein keine Hilfspflicht begründet hätten. Der mit der rapiden Entwicklung der Habsburger zur Großdynastie gekoppelten monarchisch-monistischen Gleichsetzung trat die bereits in den 1460er Jahren praktizierte, unter dem Druck der Herausforderungen nun weiter eingeübte Trennung von Kaiser, Reich und Haus Österreich mit erheblichen Folgen für eine 46 P. Moraw, Zur Verfassungsposition der Freien Städte zwischen König und Reich, besonders im 15. Jahrhundert, in: Res publica. Bürgerschaft in Stadt und Staat. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar am 30. / 31. März 1987, 1988 (= Der Staat, Beih. 8), S. 11-39. 47 E. Isenmann, Integrations- und Konsolidierungsprobleme der Reichsordnung in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, in: Europa 1500 (FN 27), S. 115 -149.

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präzisere Definition der Begriffsinhalte und ein entsprechendes Selbstverständnis entgegen. Alle Forderungen, die die Stände in dieser Phase sich verdichtender Handlungszusammenhänge erhoben und die in raschen Stufen den im Kompromiß von 1495 fixierten Verfassungswandel bewirkten, erwuchsen primär dem jeweils punktuellen Zusammenhang mit herrscherlichen Hilfsforderungen. Insbesondere Maximilian I., der eine nachgiebigere Fürstenpolitik verfolgte als sein Vater 48 , war bereit, derlei Vorschläge zu akzeptieren, sofern diese die Hilfeleistung ermöglichten bzw. effektivierten oder optimierten und dabei die herrscherliehe Obrigkeit nicht grundsätzlich antasteten. Als Voraussetzung für Hilfeleistung wurde vor allem ein reichsweiter beständiger und praktisch gewährleisteter Frieden gefordert, weil den im Gesamtinteresse Aktiven aus ihrem Gehorsam keine Nachteile erwachsen durften. Die Forderung nach dem "Mitleiden" aller entsprechend ihren jeweiligen Möglichkeiten wirkte horizontal-integrativ, die angestrebte Ausschaltung der Dispensationsmöglichkeit des Herrschers versachlichend. Die Reichstage und ihre Vor- und Nachbereitung evozierten zuerst bei den Schwächsten, den deshalb am meisten belasteten Städten, eine raumübergreifende Dauerkommunikation 49 • IV.

Der Wormser Reichstag von 1495 stand prinzipiell in der Tradition des mittelalterlichen Hoftags, dessen Umbildung von der Gefolgschaftsversammlung zum Reichstag freilich in den Vorjahren schon insoweit vorangeschritten war, als Berthold von Henneberg zunächst die Kurfürsten separiert hatte, um der gewohnten Zergliederungstechnik des Herrschers zu entgehen 50. Auch in Hinsicht auf seinen Zweck setzte der Wormser Tag die Versammlungen der Vorjahre fort, insofern König Maximilian in Anbetracht des französischen Einfalls in Italien abermals umfangreicher Hilfe des Reichs bedürftig war. Eine besondere Bedeutung besaß er vor allem dadurch, daß er der erste selbständige und deshalb außergewöhnlich gut besuchte Hoftag Maximilians war und weil er im Aufeinandertreffen von 48 E. Isenmann, Kaiserliche Obrigkeit, Reichsgewalt und ständischer Untertanenverband. Untersuchungen zu Reichsdienst und Reichspolitik der Stände und Städte in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, ms. Habil. Tübingen 1982. 49 In dieser Hinsicht tritt die Notwendigkeit einer differenzierenden Neubewertung der beiden vermeintlich so konträren Habsburger immer deutlicher hervor. s. vorläufig noch E. Bock, Die Doppelregierung Kaiser Friedrichs III. und König Maximilians in den Jahren 1486 bis 1493, in: Aus Reichstagen des 15. und 16. Jahrhunderts (wie FN 24), S. 283-340, vor allem aber H. Wiesflecker, Kaiser Maximilian I. Das Reich, Österreich und Europa an der Wende zur Neuzeit, 5 Bde., Wien 1971-85. 50 G. Schmidt, Der Städtetag in der Reichsverfassung, 1984.

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Herrscher und ständisch verdichtetem Reich, für das zu sprechen Berthold von Henneberg 51 den traditionellen Primat des Kurmainzer Erzkanzlerturns weiterentwickelt hatte, Vereinbarungen über lange Jahre aufgestaute Fragen des Dualismus versprach. Daß seine Ergebnisse irreversibel wurden, war wohl weder vorauszusehen noch intendiert. Der hier geschlossene Verfassungskompromiß goß in mancherlei Hinsicht Regelungen, die im Prinzip schon unter Friedrich III. erkennbar sind, in eine festere Form. Er fußte auf dem Verzicht der Kontrahenten auf Maximalpositionen und bestand zunächst aus der Selbstorganisation der Hilfszusagen, die die Stände aufgrund ihrer Pflicht zu Rat und Hilfe abgaben sowie aus dem Versuch der Stände und Städte, aus sich heraus nicht anwesende Gleichrangige zum "Mitleiden" zu verpflichten. Um diese Zusagen zu erlangen und soweit dies zu ihrer Durchführung notwendig erschien, fand sich der Herrscher zur vorläufigen Umgliederung eines Teils seiner Königsrechte auf die Stände bereit. Dies erfolgte bekanntlich zunächst in Form des reichsweite Geltung beanspruchenden sowie erstmals unbefristet erlassenen "Ewigen Landfriedens". Dieser stärkte oberhalb der überkommenen königlichen "Gesetzgebung", die ja überwiegend in der Privilegierung einzelner Personen oder Personengruppen bestand, Rechtsnormen für das gesamte "öffentliche" und "private" Leben im Reich. Er schränkte mit seinem grundsätzlichen Fehdeund Pfändungs-Verbot die überkommene adelige Selbsthilfe und damit Herrengewalt drastisch ein und machte stattdessen den spätestens seit dem Regierungsbeginn Friedrichs III. angestrebten rechtlichen Austrag von Konflikten verbindlich. Nach gut einer Generation setzte er sich wirklich durch und überführte das Reich aus dem mittelalterlichen Aggregatzustand eines im König zentrierten "individualrechtlichen " Privilegiengebäudes in den einer von König und Ständen garantierten Rechtsgemeinschaft. Das königliche Kammergericht5 2 wurde 1495 ff. nicht neugeschaffen, sondern es wurde das bestehende Forum unter Weiterentwicklung früherer Tendenzen zugunsten größeren und institutionalisierten Ständeeinflusses umgebildet. Vor allem wurde es aus dem Herrscherhof und damit seiner gleichsam "privaten" Sphäre herausgelöst, seines vorherigen Charakters als herrscherlicher Gnadenakt entkleidet sowie örtlich fixiert und damit verstetigt. Den Großteil seiner Legitimation bezog es aus seiner königlichen Tradition. Die Prozeßführung erfolgte nach dem römischen "Kaiserrecht" und die Urteile wurden im Namen des Königs ausgestellt, der sich in Theorie und Praxis deutlich als Herr dieses Gerichts betrachtete. Da diesem 51 A. Schröcker, Unio atque concordia. Reichspolitik Bertholds von Henneberg 1484-1504, Diss. WÜTzburg 1970. 52 s. zu ihm die Hinweise in FN 42.

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Anspruch zufolge das alte königliche Kammergericht fortbestand, konnte der König kein konkurrierendes Gericht unter demselben Namen aufrichten und bildete deshalb aus seinem Rat den rasch erfolgreichen Reichshofrat. Auch in Gestalt einer beschränkten "Zuständigkeit" für die Kurfürsten und Fürsten ragte der mittelalterlich-privilegiale Charakter des Reichs in die Institutionalisierung des Kammergerichts hinein. Nicht grundsätzlich zu überwinden vermochte man 1495 das mittelalterliche Erbe des auf Freiwilligkeit angelegten, nur im Falle äußerer Reichsbedrohung zu handhafter Hilfe der Lehenträger oder deren finanzieller Ablösung verpflichtenden, ganz auf den König bezogenen Steuerwesens. Der von Berthold von Henneberg und den ihm folgenden ständischen Kräften zur Finanzierung ihrer Regimentskonzeption gedachte, auf vier Jahre befristete Gemeine Pfennig war die erste tatsächliche Reichssteuer, denn alle früheren Steuern waren im Kern "Königssteuern". Mit dem Scheitern der Regimentskonzeptionen wurde sie gemeinsam mit der Eilenden Hilfe zu einem bloßen "Äquivalent für die vom König gewährten Verfassungskonzessionen" 53 depraviert. Insofern sie als kombinierte Kopf- und Vermögenssteuer direkt auf alle einzelnen Reichsuntertanen zugegriff, war sie systemwidrig und scheiterte deshalb. Stattdessen erfolgte 1521 die endgültige Festlegung der erstmals 1422 zur Abwehr der Hussiten eingeführten Matrikularbeiträge, die somit auch über die Reichsunmittelbarkeit entschieden. Von diesen und anderen Ergebnissen des Tages, die z. T. in königlicher Mandatsform einen Teil des öffentlichen Lebens von der Reichsebene aus zu normieren trachteten, war das bei weitem wichtigste die nicht urkundlich fixierte, sondern faktisch erfolgte Etablierung und Legitimierung des heranwachsenden Reichstags als Organ des mit ihm institutionalisierten Dualismus. Durch ihn trat das ständische Reich dem Herrscher gegenüber, er wurde neben dem natürlich fortbestehenden und von Maximilian rasch konkurrierend modernisierten Herrscherhof "das zweite Hauptforum der politischen Existenz im Reich" 54. In die Konstituierung des Reichstags flossen die "ständischen" - also kurfürstlich / fürstlichen - wie auch die "monarchischen" Elemente seiner langen Entstehungsgeschichte ein. Der König respektierte in der "Handhabung" den aktuellen Stand des Dualismus in Gestalt der augenblicklichen Versammlungskonstellation von Kurfürsten, Fürsten und Herren sowie Städtegesandten. Diese Versammlung behielt einen nicht unbeträchtlichen Teil von Hoftagselementen und blieb trotz gegenläufiger Bestrebungen vom König abhängig. Sie sollte jährlich zusammentreten, doch vom König einberufen werden. Reichstage, zu denen 53 Angermeier, Reichreform (FN 3), S. 178, auch zum folgenden; s. speziell P. Schmid, Der Gemeine Pfennig von 1495. Vorgeschichte und Entstehung, verfassungsgeschichtliche, politische und finanzielle Bedeutung, 1989. 54 Moraw, Von offener Verfassung (FN 5), S. 419.

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der König nicht persönlich erschien, blieben schlecht besucht und verhandlungsunfähig. Auch die Ausschaltung des Königs aus den Reichstagsberatungen war relativ theoretisch. Erst durch die Praxis entwickelte sich aus der de-facto-Mitbestimmung des Reichstags über die Modalitäten der Aufbringung von Reichshilfe und deren Verfügung allmählich eine Mitherrschaft, die die beiden Pole des Dualismus z. T. in vertraglicher Form fixierten. Insofern ist zu Recht davon gesprochen worden, daß die Konstituierung des Reichstags einen "gravierenden Einbruch in die königliche Gewalt" 55 bedeutete, indem er im Exekutionsbereich ehedem ausschließlich monarchische Kompetenzen an sich zog. Wenngleich er in der Ausführung seiner Exekutionskompetenz für Urteile des Kammergerichts, bei der Beschlußfassung von Abwehrmaßnahmen gegen äußere Bedrohungen des Reichs sowie bei der Beilegung innerer Reichskonflikte und Verstößen gegen den "Ewigen" Landfrieden relativ unbeweglich blieb, wuchs er doch zu einer Schlichtungs- und Vermittlungsinstanz heran, die nicht zu umgehen der König sich in der "Handhabung Friedens und Rechts" ausdrücklich verpflichtete. Die allmähliche ständische Binnenorganisation (Kurienbildung) des Reichstags erfolgte entsprechend den gewachsenen Strukturen. Während Kurfürsten und Reichsstädte, auf deren verfassungsrechtliche Stellung nun in einem eigenen Verdichtungsvorgang die Freien Städte herabgedrückt wurden, ihre seit langem mit unterschiedlicher Intensität geübte Selbstorganisation fortsetzten, "schob sich als Rest ... ein weiterer Rat (Kurie) mit demgemäß recht unorganischer Abgrenzung gleichsam dazwischen"56; unter Ausschluß der Kurfürsten bezog er "in Gestalt der Grafen, Herren und Prälaten viele Nichtfürsten mit ein, die sich dann durch das Kuriatstimmenwesen ,technisch' zurückgedrängt sahen." Aufgrund der Tatsache, daß der Herrscher dem Reichstag keinen Einfluß auf seine österreichischen und burgundischen Erblande gestattete, wurde der seit langem angelegte Dualismus Reich-Erblande verschärft. Für alle diejenigen, die im Zeitalter der offenen Verfassung praktisch leistungsfrei gewesen waren, bedeutete diese Selbstorganisation des Reiches, derzufolge jedem einzelnen jetzt neben dem König auch noch der Reichstag mit Forderungen gegenübertrat, eine schwere Einbuße ihrer Selbständigkeit. Es nimmt deshalb nicht wunder, daß außer der Legitimation auch die Akzeptanz des so beschaffenen Reichstags keineswegs überwältigend war und ein dermaßen "verdichtetes" Reich z. B. von den Eidgenossen nicht akzeptiert wurde 57. Seine größten Probleme waren folglich 55 Angermeier, Reichsreform (FN 3), S. 177. 56 Dies und das folgende nach Moraw, Fürstentum (FN 22), S. 134. 57 P. Moraw, Reich, König und Eidgenossen im späten Mittelalter: Jb. d. Histori-

schen Gesellschaft Luzern 4 (1986), S. 15 - 33; Heinig, Eidgenossen (FN 37).

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weniger die Regelung der internen Beschlußfassung nach dem Mehrheitsprinzip als die Einforderung der festgelegten Leistungen von den Abwesenden - deren Anspruch zu stärken man sich ohne weiteres der direkten königliche Legitimation in Form von Mandaten bediente - und die Ausschaltung von zweiseitigen Sonderregelungen zwischen einzelnen Ständen und dem König. Alte Verfahrensweisen und Verhaltensmuster perpetuierend, suchten nicht wenige gegenüber Reichstag wie Kammergericht lieber weiterhin den traditionellen Weg zum Herrscher und seinem täglichen Hof selbst, deren sie zur Erlangung und Abwicklung der üblichen Lehen-, Privilegien- und Gnadensachen ohnehin bedurften. Dies gilt wegen der sozialen Überlegenheit des Königs nicht nur für das Hochadelsmilieu, sondern auch für die Reichsstädte als denjenigen, die nicht nur am stärksten belastet, sondern aufgrund ihrer Genese auch am stärksten zwischen dem König und dem Reichstag, auf dem sie selbst kein volles Stimmrecht erlangten, hin- und hergerissen waren.

v. Überblickt man vom Ende her den Weg der deutschen Verfassungsgeschichte im Mittelalter, dann war dies wohl tatsächlich ein Weg von einfacheren zu höheren Formen staatlicher Organisation. Wie überall in Europa, vollzog sich dies im Ringen zwischen zentraler Gewalt und regionalen Kräften. Auch die Tatsache, daß das Ergebnis ein Kompromiß war, weil keiner der beiden Pole den anderen überwinden konnte, war kein speziell deutsches Phänomen, allenfalls der Grad dieses Kompromisses. Schon in seinen schriftlich fixierten Teilen ist dieser nicht zu werten als endgültiges Scheitern der staatlichen Entwicklung Deutschlands, sondern als Erlangung eines höheren Maßes an Staatlichkeit; es setzte sich der Gedanke durch, daß schon der "Mitgliedschaft" im Reich, nicht erst der Teilhabe am Reich die Erfüllung von Pflichten gegenüber der Gesamtheit korrespondiere. Ebenso wichtig sind die Voraussetzungen und Ergebnisse dieses Kompromisses, die nicht schriftlich fixiert wurden, vor allem die Steigerung der Reichs-Partizipation sowie die Selbsterfahrung und gegenseitige Kenntnisnahme der Beteiligten (Nationsbildung 58 ). Davon unbeschadet ist die Einsicht, daß die an diesem Kompromiß beteiligten Partner oder Kontrahenten ihre jeweiligen Vorstellungen - also die monarchische 58 W. Conze, Die deutsche Nation. Ergebnis der Geschichte, 1963; P. Moraw, Bestehende, fehlende und heranwachsende Voraussetzungen des deutschen Nationalbewußtseins im späten Mittelalter, in: Ansätze und Diskontinuität deutscher Nationsbildung im Mittelalter, hrsg. v. J. Ehlers, 1989, S. 99-120; E. Isenmann, Kaiser, Reich und deutsche Nation am Ausgang des 15. Jahrhunderts, ebd. S. 145246;

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bzw. oligarchische Reichsstrukturierung - weiter verfolgten und der Komprorniß selbst sich erst im Nachhinein als irreversibel erwies. Der uralte Dualismus von Fürstentum und Königtum wurde zwar nicht im Sinne moderner, abschließender Klärungen gelöst5 9 • Aber: "Umgeben vom Mantel des fortbestehenden Alten trat ein neuartiger dauerhafter Zugewinn an Verfahrensqualität, eine realistischere Machtverteilung und damit ein mehr an politischer Substanz ein"60. Damit wird klar, daß das Mittelalter nicht nur die mehr oder weniger weit entwickelte Staatlichkeit der Territorien an die Neuzeit weitergab 61 , sondern unter anderem auch eine Gesamtverfassung Deutschlands, wie es bald heißen sollte, die u. a. in der Abstützung auf " Institutionen " mehr staatliche Elemente als jemals zuvor besaß und weiter entwicklungsfähig, freilich auch entwicklungsbedürftig war.

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Moraw, Fürstentum (FN 22), S. 136.

60 Ebd. 61 Hierzu V. Press, Das römisch-deutsche Reich - Ein politisches System, in:

Spezialforschung und "Gesamtgeschichte" , hrsg. v. G. Klingenstein / H. Lutz, Wien 1982, S. 221-242; zusammenfassend z. B. H. Lutz, Das Ringen um deutsche Einheit und kirchliche Erneuerung. Von Maximilian 1. bis zum Westfälischen Frieden 1490 bis 1648, 1983 und H. Rabe, Reich und Glaubensspaltung. Deutschland 1500 -1600, 1989.

Aussprache * Kühne: Herr Heinig hat von dem Verfassungskompromiß von 1495 gesprochen. Ist das wirklich ein Verfassungskompromiß gewesen oder hat es sich, zugespitzt formuliert, nur um eine Art dilatorischen Formelkompromiß gehandelt? Denn es ist 1495 vieles mißlungen, z. B. die Finanzverfassung; Herr Heinig hat selbst darauf hingewiesen. Das Gleiche gilt auch für die etwas zu kurz gekommene Idee insbesondere Berthold von Hennebergs, die Regimentskonzeption, den Dualismus von Kaiser und Ständen zugunsten einer breiteren Lösung zu durchstoßen, in die auch die Städte eingebunden werden sollten. Das hätte eine höchst interessante Entwicklung auslösen können. Aber die Besetzung des Reichsregimentes wurde vom Kaiser eher nachlässig behandelt, wenn nicht gar hintertrieben. Meine Frage lautet also: Ging es Maximilian nicht in erster Linie darum, Subsidien für die Türkenkriege zu erstreiten? Heinig: Die Aspekte, die Herr Kühne angesprochen hat, schließen sich nicht unbedingt aus. Dies jedenfalls suchte ich zu vermitteln, indem ich sagte, daß beide Seiten versucht haben, dasjenige, was ihnen in der Auseinandersetzung von 1495 von der Gegenseite abgerungen worden war, in der Folgezeit wieder rückgängig zu machen, um damit doch noch ihre Maximalpositionen durchzusetzen. Diese Positionen mögen zu "Konzeptionen" verdichtet gewesen sein, über die ich hinweggegangen bin, die aber z. B. Angermeier in seinem Buch über die "Reichsreform" schon seit etwa 1410 zu erkennen vermeint und genauer beschreibt. Es hat natürlich vor 1495 eine theoretische, mehr noch praktische Auseinandersetzung über die sogenannte "Reichsreform" gegeben, die mit den Beschlüssen des Wormser Tages keineswegs beendet war. Gerade Berthold von Henneberg hat längst vor 1495 eine ausgeprägte Vorstellung von dem gehabt, was erreicht werden sollte. So wurde schon in den letzten Jahren Friedrichs III. intensiv um eine Umgestaltung und ortsfeste Fixierung des Kammergerichts gerungen. Der alte Kaiser hatte sich in dieser und anderen Fragen weitgehend unzugänglich gezeigt. Maximilian hat dann punktuell nur soviel konzediert, wie er glaubte, künftig wieder einziehen zu können, nicht ahnend, daß er später sogar zur Bewilligung z. B. des Reichsregiments genötigt sein würde. Dieses

* Die Aussprache konzentrierte sich absprachegemäß zunächst auf die Referate und ihre Thesen, um in einem letzten Teil (S. 187 ff.) auf das Hauptthema der Tagung einzugehen.

Aussprache

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ist erstmals 1502 installiert worden; es ist aber nicht zuletzt daran gescheitert, daß es als Bestandteil der Maximalposition der von Berthold geführten Stände nicht durch den Komprorniß von 1495 getragen war.

Battenberg: Hinsichtlich des Kammergerichts stellt sich für mich eine Frage, die über die Rolle des römischen Königs hinaus auch andere Bereiche betrifft. Herr Heinig, Sie hatten diesbezüglich sehr starkes Gewicht auf Kontinuität und die traditionalistischen Elemente gelegt. Sie hoben u. a. hervor, daß das Kammergericht, das 1495 neu gebildet wurde, seine Legitimation vor allem auf Tradition begründen konnte. Mir scheint, daß damit eine Seite übertrieben betont wird. Sie sprachen von der großen Urkundenproduktion in den 70er Jahren. Diese hatte jedoch spezifische Ursachen. Im Laufe des Jahrhunderts gab es immer wieder Reformimpulse, die weiter wirkten, auch bis 1495 hinein. 1495 kam jedoch etwas entscheidend Neues hinzu: Die Installierung eines festen Gerichtsorts und die Lösung des Gerichts vom Kaiser. Auf diese Art und Weise ist die Tradition, die ohne Zweifel vorhanden war, in den Hintergrund gedrängt worden. Ich denke, daß damit neue Elemente verstärkt hervortraten und etwas Neues ausgelöst wurde, vielleicht sogar eine gewisse Wende gebracht hatten. Ich würde deshalb doch eher das Gewicht darauf legen, daß 1495 die Neuerung das Alte und die Tradition überwogen und überwunden hat. Heinig: Darin stimme ich Ihnen zu. Es war nicht meine Absicht, isoliert die traditionalen Elemente des Kammergerichts als solche hervorzuheben. Es ging mir darum, auch in Bezug auf das Kammergericht die ambivalente Koinzidenz des Alten und Neuen hervortreten zu lassen, die den gesamten Verfassungskompromiß kennzeichnet. Trotz qualitativer Veränderungen ragt das Mittelalter in die Neuzeit hinein. Das muß, wie ich meine, umso mehr betont werden, weil das Kammergericht von 1495 in der Literatur überwiegend als "Reichskammergericht" bezeichnet und somit ausschließlich "ständisch" definiert wird, obwohl es doch nach wie vor königliches Kammergericht heißt. "Anteil" an diesem Gericht hatten also Stände und Kaiser, deren jeweiliges Gewicht durchaus variieren konnte. Daß dessenungeachtet das Kammergericht von 1495 einen anderen Charakter trug und gewann, als das an den Hof gebundene herrscherliche Kammergericht zuvor, und daß Maximilian Veranlassung hatte, auf dieses neuartige Instrument mit dem Reichshofrat zu antworten, ist mir natürlich klar. Ich bin Ihnen aber dankbar, daß Sie darauf hingewiesen haben. Battenberg: Mir sind aus der zeitgenössischen Chronistik Stellungnahmen bekannt, die das Neue eindeutig zum Bewußtsein bringen. Als Beispiel möchte ich den Wormser Stadtschreiber Reinhard Nold nennen, der in seiner Chronik mit Nachdruck festhält, daß 1495 etwas Neues geschaffen 3 Der Staat, Beiheft 10

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wurde. Das ist offenbar im Bewußtsein der Zeit gewesen. Ich will aber auch die verbindenden Elemente zur Vergangenheit nicht in Abrede stellen. Heinig: Die Tätigkeit des Kammergerichts ist ausgangs des Mittelalters von entscheidender Bedeutung gewesen. Mit der Steigerung der Schriftgutproduktion der kaiserlichen Kanzleien seit den 70er Jahren des 15. Jh. haben Sie zu Recht ein Element aufgegriffen, auf das ich im Rahmen eines auf große Linien ausgerichteten Referats ausnahmsweise etwas konkreter eingehen konnte. Die angeführte Zahl der expedierten Kaiserschreiben habe ich aufgrund eines Taxregisters eruiert, das wohl alle ins außererbländisehe Binnenreich ausgehenden Schreiben der römischen (Reichshof-) Kanzlei umfaßt; eine Edition dieses Registers bereite ich vor. Daß in ihm aus nur knapp vier Jahren etwa 5.000 "produzierte" und expedierte Urkunden und Briefe verzeichnet sind, ist schon außerordentlich; immerhin war das in diesen wenigen Jahren etwa die Hälfte der Schriftgutproduktion, die 100 Jahre zuvor Karl IV. im Verlaufe seiner gesamten Regierungszeit hervorgebracht hatte. Hält man sich vor Augen, daß ungefähr zwei Drittel davon seinen Ursprung im Kammergericht gehabt haben dürfte, dann werden der durch die Kammergerichtsbarkeit bewirkte qualitative Sprung der kaiserlichen Wirksamkeit und die reichsvereinheitlichende Bedeutung des höfischen Kammergerichts deutlich. Das Kammergericht konnte durch seine Lösung aus der personalen und sachlichen Verfügbarkeit des Herrschers nur gewinnen. Um das Neue von 1495 richtig zu erfassen, ist es wichtig, gegenüber dem zu raschen institutionellen Bild des Kammergerichts in den Rechts- und Verfassungsgeschichten sowie in der Literatur dessen ausschließlich auf den Herrscher bezogenen Charakter genau zu fixieren. Dazu gehört, daß das Kammergericht von Friedrich IH. nicht nur politisch instrumentalisiert wurde, sondern schon seine Einberufung ein aus politischem Kalkül erwachsender Gnadenakt war. Die Rechtsgewährung zu suspendieren, war ein mehrfach praktiziertes Druckmittel Friedrichs gegenüber den heranwachsenden Reichsständen und ihrem Mitbestimmungsbegehren. Wie hier, so muß bei allen mittelalterlichen Landfrieden bis hin zum Ewigen Landfrieden von 1495 viel stärker der Privilegiencharakter sowie überhaupt der weitgehend auf Gnade und Gunst der Zentralgewalt fußende Charakter der gesamten "öffentlichen Ordnung" des Reichs im Mittelalter hervorgehoben werden. In dieser Hinsicht haben die Fixierungen des Verfassungskompromisses von 1495 tatsächlich neue, eben "staatlichere" Verhältnisse geschaffen, in denen freilich das nach wie vor Alte weiterlebte. Wolf: Herr Heinig sagte, die Kurfürsten bildeten erst zur Hussitenzeit ein Kollegium. Nun würde ich zwar auch die herrschende Lehre seit Zeumer bestreiten, daß das siebenköpfige Kurfürstenkolleg schon 1256 entstanden

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sei. Hostiensis sagte um 1270 noch, den Fürsten komme das Wahlrecht "non ut collegium sed ut singulares" zu. Aber bei der Wahl Albrechts von Oesterreich im Jahre 1298 kommt dann doch erstmals das Wort "collegium" auf. Es ist zwar interessanterweise der junge Wittelsbacher und spätere Kaiser Ludwig der Bayer, der es in einer Urkunde zum erstenmal verwendet. Auch "collega" und das deutsche Wort "Kurfürsten" kommen zum ersten Mal 1298 vor. Lupold von Bebenburg wehrt sich um 1340 gegen Hostiensis und sagt, die Kurfürsten seien doch ein "collegium ". In der Goldenen Bulle allerdings, und das ist wirklich merkwürdig, kommt das Wort "collegium" nicht vor. Dort bilden die Kurfürsten ein "consortium" oder eine "unio". Das ist wenig bekannt. Warum gehen Sie, Herr Heinig, bis in die Hussitenzeit, um das "collegium" anzuerkennen?

Heinig: Ich habe für das Wort "collegium" und seine Bedeutungsgeschichte nicht eigens im Brunner / Conze nachgeschlagen, so daß meine späte Ansetzung des Kurfürstenkollegs nicht auf einer Auseinandersetzung mit den Bedeutungsinhalten von "collegium", "consortium" und "unio" beruht. Ich messe aber der Tatsache großes Gewicht bei, daß die Kurfürsten in der Goldenen Bulle, also in einer m. E. vom hegemonialen Königtum hervorgebrachten Verfassungsurkunde, eben nicht als "collegium" bezeichnet werden, obwohl dies zuvor in der Literatur gelegentlich der Fall gewesen war. Mir scheint, daß der Begriff "collegium" tatsächlich dem Gremium mehr Geschlossenheit, mehr Körperhaftigkeit verliehen hätte als die Konkurrenzbegriffe und deshalb vermieden wurde. Wenn ich ein "Kolleg" erst zur Hussitenzeit erkenne, hebe ich vor allem auf die bis dahin keineswegs durch Gleichrangigkeit gekennzeichnete innere Kohärenz und praktisch-politische Handlungsfähigkeit der Kurfürsten als eines lediglich auf einen Punkt hin legitimierten Verfassungsinstruments ab. Die Kurfürsten waren eine Machtgruppe. Aber abseits der Königswahl war die Konsistenz besonders durch die Tatsache erschwert, daß geistliche und weltliche Mitglieder unterschiedliche Interessen vertraten. Auch dadurch wurde es, wie ich gezeigt habe, noch Friedrich III. erleichtert, die geistlichen Kurfürsten am Rhein als den am ehesten "kollegialen" Kern der Kurfürsten politisch auseinanderzudividieren und sogar zu dominieren. "Collegium" in der Hussitenzeit heißt also, daß erst damals eine von den geistlichen Kurfürsten angeführte, relativ einheitliche und sich selbst ergänzende Gruppierung hervortrat, die sich aber durch eine besondere Nähe zum Königtum legitimierte und auf dieser Grundlage, nicht etwa ständisch, stellvertretend für den König das ganze Gemeinwesen zu organisieren suchte. Baumgart: Ich möchte an die Diskussion um die Vollendung der Reichsverfassung um 1500 anknüpfen, wie es Herrn Heinigs Ausgangsthese ist. 3'

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Nun haben Sie, Herr Heinig, selbst Heinz Angermeier zitiert und Sie wissen, daß er diese Konzeption in dieser Form sicherlich nicht teilt, sondern daß er die Entwicklung an die mittelalterliche Verfassungsgeschichte anknüpfend bis 1548 oder 1555 führt. Ich frage mich, welches nun Ihre Unterscheidungskriterien gegenüber der angermeierschen Konzeption sind. Auf einen Einzelsachverhalt der Vorgänge um 1500 eingehend, frage ich mich ferner, ob es genügt, das ganze Problem auf die Auseinandersetzung zwischen König Maximilian einerseits und dem Erzbischof von Mainz andererseits zu reduzieren, den man als einen Reichsverfassungskonflikt sieht? Ist es nicht doch so, daß Maximilian die europäischen Dimensionen seiner Politik in dieser Phase seiner Auseinandersetzung mit den Reichsständen vor allem anderen geleitet haben? Es ging um seine burgundische, um seine italienische Politik; man kann es mit einem Biographen dieses Kaisers und Königs auch übergreifend sagen, um seine dynastische Politik. Ich frage mich, ob es genügt, hier rein verfassungsgeschichtliche Kriterien einzuführen, zumal Sie, Herr Heinig, selbst auch an Einzelbeispielen, was die Reichsfinanzverfassung und natürlich auch, was die Reichsjustizverfassung betrifft, immer wieder zeigen, daß dies eben kein Endpunkt, keine Vollendung, keine Zäsur ist? Wir haben es hier lediglich mit transitorischen Vorgängen zu tun, die Sie an einer bestimmten Stelle fixieren und sich auf sie, wenn ich das so sagen darf, auch kaprizieren und die weitere Entwicklung einfach abschneiden. Sie sollten sich mit den Thesen von Heinz Angermeier auseinandersetzen; darum möchte ich Sie bitten. Heinig: Das ist eine große Frage. Ich gehe zunächst auf Maximilian ein. Hier wollte ich herausarbeiten, daß im 15. Jh. mit dem Haus Habsburg nicht mehr nur eine Dynastie "mittelalterlicher" Dimension und Beschaffenheit herangewachsen ist, sondern eine Großdynastie, die in einer staatlich verdichteten Umgebung auf die europäische Ebene griff. Die Herausforderungen des Reichskörpers wurden stets durch diese Dynastie vermittelt und haben somit immer deren dynastischen "Filter" durchlaufen. Auf die Reichsstände kamen stets kombinierte reichsrechtliche und dynastische Ansprüche und Anforderungen zu, wobei beide Elemente im Einzelfall unterschiedlich gewichtet waren. Diese Struktur war - so denke ich kennzeichnend für die äußeren Konflikte der frühen Neuzeit - vor allem mit Frankreich - und ihre reichsinternen Reflexe einschließlich der Verfassungskontroversen.

Was nun den grundsätzlichen Ansatz angeht und das, was mich z. B. von Angermeier unterscheidet, so ist vorauszuschicken, daß mir die Reduktion Angermeiers auf einige bündige Grundthesen nicht leicht fällt, zumal ich zwischen dem Anfang und dem Ende seines wichtigen Buches über die Reichsreform einige Wandlungen zu erkennen glaube. Als Kernthese zieht sich aber hindurch, daß das Reich nicht an staatlichen Charakterzügen

Aussprache

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gewonnen habe. Angermeier meint, daß "Reichsreform" - ich spreche demgegenüber mit Herrn Moraw lieber von einem Wandlungsprozeß der Verfassung - von vornherein einen konservierenden und konservativen Charakter getragen habe, weil die Notwendigkeit zu ihr immer schon von vornherein gegeben gewesen sei. Wenn der Begriff "Reichsreform" aber nichts Spezifisches bezeichnet, sondern etwas, das man gleichsam immer hat machen müssen, dann verliert er m. E. seine Tauglichkeit, konkrete Veränderungsvorgänge beschreiben und erfassen zu können. Demgegenüber erscheint mir etwas wesentlich, worauf Herr Willoweit in seiner Verfassungsgeschichte erneut hingewiesen hat: Daß man im 15. Jh. unter dem Begriff des Reformierens der Meinung war, alte Ordnungen wiederherzusteIlen, aber gar nicht mehr wußte, worin diese bestanden hatten, und somit in der Absicht, das vermeintlich Alte zu erneuern, Neues geschaffen hat. Dieses Neue waren m. E. eben doch vermehrt staatliche Merkmale. Dazu zählt auch ein anderer Strang. Zwar gehe ich mit etlichen Ausführungen Angermeiers zur monarchisch-monistischen Vorgehensweise Friedrichs III. konform. Aber meine Bewertung des starken Einflusses dieses Kaisers auf die Reichskirchen und anderer Elemente als unwiderrufliche Tendenz zu einer deutschen Nationalkirche unterscheidet sich doch beträchtlich von der Auffassung Angermeiers. Dieser sieht den von ihm so stark betonten nichtstaatlichen Charakter des mittelalterlichen Imperium wesentlich in der auch um 1500 ungebrochenen Abhängigkeit des Kaisers vom Papst begründet. Eine solche Abhängigkeit lag m. E. aber kaum noch vor. Vielmehr war der schon im beginnenden 14. Jh. einsetzende Prozeß der allmählichen Verdrängung des Papsttums aus der deutschen Verfassungsgeschichte nach einer ebenfalls um 1470 einsetzenden Beschleunigungsphase um 1500 schon weitgehend abgeschlossen. Die These, König Maximilian habe sich um 1500 aus Rücksicht auf den Approbationsanspruch des Papstes politisch nicht regen können, halte ich für einen Irrtum.

Willoweit: Herr Heinig, bei Ihnen kommt das Königtum Friedrich III., der sonst in der Geschichtsschreibung eher die Rolle einer Negativfigur spielt, recht eindrucksvoll zur Geltung. Bei Ihnen klang es anders. Sie haben dazu an einer Stelle einen interessanten Hinweis gegeben. Sie sprachen von der Erhöhung des Legitimationspotentials des Kaisers, das dann auch die Königswahl Maximilians ermöglicht habe. Meine persönlichen Eindrücke sind ähnlich. Nur: woher kommt diese Erhöhung des Legitimationspotentials? Haben Sie bei Ihren Studien Hinweise darauf finden können, daß der Gedanke der monarchia eine zunehmende Rolle spielt? Es muß doch irgendeinen Grund haben, daß man den Kaiser jetzt anders einschätzte als zuvor. Die Idee der monarchia imperii scheint im 16. Jh., selbst noch im 17. Jh. allgegenwärtig. Schlägt sich dieses gewandelte Selbstverständnis am Hofe nieder?

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Sie haben ferner gesagt, es gebe am Ende doch mehr Verfahrensqualität. Da wäre nun ein Ergänzungsbedarf von meiner Seite insofern anzumelden, als diese zunehmende Verfahrensqualität schon zuvor in den Territorien zu beobachten ist. Am Hof in München hat man seit 1489 eine Hofratsordnung. Allgemein läßt sich in den größeren Territorien feststellen, daß in der zweiten Hälfte des 15. Jh. die Verfahrensabläufe technisiert werden. Was am Ende des Jahrhunderts im Reich geschieht, entspricht also einer Gesamttendenz, die zu mehr Formalisierung und Technizität, rationaler Entscheidung mit Regelung der Abstimmungsmodalitäten usw. führt. Damit aber relativiert sich der Einschnitt um 1495. Es handelt sich um einen Prozeß, der sich vielleicht doch über 100 Jahre hingezogen hat.

Heinig: Könnte ich diesen Prozeß nur halbwegs ausloten, wäre ich schon zufrieden! Tatsächlich hat sich das Bild des in früheren Zeiten als "des Heiligen Reiches ErzschlaJmütze" bezeichneten Friedrich IH. in den vergangenen Jahren verändert und wird künftig zweifellos in der von mir aufgezeigten Richtung seines monarchisch-monistischen Ansatzes revidiert werden. Gleichwohl muß man die von Ihnen, Herrn Willoweit, angesprochene Diskrepanz zwischen einer schwachen politischen Durchsetzungsfähigkeit und einer offenbar zunehmenden Legitimität konstatieren. Dies gehört zum transitorischen Charakter des 15. Jh. Dabei sind unterschiedliche zeitliche Phasen zu unterscheiden. Der Tiefpunkt im machtpolitischen Einfluß des Königtums wurde wohl zwischen 1440 und 1465 erreicht. Hernach trat eine Erholung ein, die bisher nur ungenügend beachtet worden ist. Deshalb habe ich die Entwicklungen der Jahre seit etwa 1470 besonders beleuchtet. Bemerkenswert ist aber, daß Friedrich IH. auch schon zuvor anscheinend ohne Rücksicht auf seine machtpolitische Schwäche gehandelt hat. So setzte er z. B. zu Beginn der 1460er Jahre gemeinsam mit dem Papst den Mainzer Elekten ab und installierte den ihm genehmen Adolf von Nassau. Ungeachtet eines durch die Mainzer Frage mit hervorgerufenen und für ihn keineswegs günstig ausgehenden Reichskriegs ging er nur wenig später gegen den Kurfürsten von Köln vor. Bei der Erklärung dieses vermeintlich unklugen Verhaltens kommt der dynastischen Komponente wohl eine erhebliche Bedeutung zu. Seinem besonderen Haus-Österreich-Bewußtsein hat Friedrich IH. schon vor seiner Königswahl in seinem eigenhändigen Notiz- oder Memorienbuch Ausdruck gegeben. Sein dort hervortretendes tiefes dynastisches Empfinden hat sich später offensichtlich noch verstärkt und mit einem allgemeinen Verständnis vom Königtum untrennbar zu einem speziellen Herrscherbewußtsein verquickt, in dem die dynastische Komponente möglicherweise das Übergewicht besaß. Aus diesem Bewußtsein heraus bestand und überwand Friedrich IH. die machtpolitischen Niederlagen der ersten Jahrzehnte seiner Regierung ebenso wie an deren

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Ende die Vertreibung aus seinen Erbländern. Trotz oder gerade wegen seiner machtpolitischen, d. h. auch exekutiven, Schwäche zog sich Friedrich auf das überkommene Gehäuse herrscherlicher Rechte zurück, hielt an jedem einzelnen Recht fest und suchte es in einer Weise politisch auszuüben, die Parallelen zum Vorgehen seines französischen Zeitgenossen Ludwig XI. aufweist. Herausragende Bedeutung besitzt insbesondere das Phänomen, daß Friedrich IH. seiner oberstrichterlichen "Kompetenz" in Theorie und Praxis neue Intensität verliehen hat. Wenn Sie nach den Ursachen dafür fragen, erscheinen einfache mental-anthropologische Erklärungen nicht ausreichend, wenngleich man nicht ganz von einem persönlichen Stil absehen kann. Ausgehend von der Tatsache, daß Friedrich außerordentlich viele Juristen an seinen Hof gezogen hat, erscheint mir der Zusammenhang zwischen einem in einer Zeit zunehmender territorialer Konflikte und Bedrohung des Einzelnen stark wachsenden Rechtsbedarf und der eben weder aufeinander abgestimmten noch funktionierenden territorial-städtischen Gerichtsbarkeit wirkungsmächtiger. Das Zusammentreffen von zunehmendem Bedarf an herrscherlicher Rechtsprechung (Konfliktlösung) mit dem Zwang des Herrschers, seine eigenen Rechte zu wahren und der Erfahrung, Schwächen durch die politische Instrumentalisierung der Gerichtsbarkeit kompensieren zu müssen, hat die Juridifizierung des Königtums sowie einen Legitimitätszuwachs bewirkt; dadurch wurde die "Verrechtlichung" des öffentlichen Lebens im Reich ungemein befördert. Daß dieser ganze Vorgang nicht geradlinig, sondern äußerst komplex verlief, erkennt man daran, daß Friedrich bis in die 1460er Jahre hinein keineswegs unangefochten, sondern mehrfach von Absetzung bedroht war bzw. - nach der Kaiserkrönung - durch die Wahl eines Königs neben ihm entmachtet werden sollte. Dafür standen Kandidaten zur Verfügung, die alle mächtiger waren als er, so König Georg (Podibrad) von Böhmen. Als Absicht binnenreichischer Oppositionsgruppen haben sich auch diese Bestrebungen ausgangs der 1460er Jahre totgelaufen, also just zu dem Zeitpunkt, den ich hier als zeitliche Zäsur vorgeführt habe. Damals hat sich die Position Friedrichs im Reich merklich gefestigt. Er blieb nun relativ unangefochten. Wenn er angefochten wurde, dann von dynastischen Rivalen wie etwa Karl dem Kühnen und besonders Matthias Corvinus. Gegen beide hat er das "Reich" aufgeboten; dabei schärfte sich dessen Fähigkeit, zwischen eigenen und dynastischen Zwecken der Habsburger zu unterscheiden. Die wichtigsten Elemente meiner Antwort auf die Frage nach der wachsenden Verfahrensqualität sind damit schon genannt. Eher als zu der Annahme, in dieser Hinsicht habe der Herrscherhof lediglich ein an den Territorialhöfen ausgebildetes Potential und eine Modernisierung rezipiert, neige ich dazu, die Priorität innerhalb der natürlich durch gegenseitige Beeinflussung gekennzeichneten Entwicklung umzukehren. Zahlreiche Juristen jedenfalls, die auf einer ansehnlichen Ebene an den Fürstenhöfen

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wirkten, vor allem also in den Ratsgremien und Hofgerichten, sind zuvor am Herrscherhof gewesen oder haben in direktem Kontakt mit Kollegen gestanden, die dort beschäftigt waren. Es hat den Anschein, als habe dies besonders für die beschlagendsten unter den Juristen wie Gregor Heimburg und Martin Mair gegolten. Moraw: Es gibt in der Tat bis jetzt einen einzigen Versuch, diese schwierige Frage zu beantworten. In einer noch ungedruckten Arbeit, die in meinem Institut entstanden ist, sind alle Juristen im Territorialdienst zwischen 1250 und 1440 untersucht worden, während ich dieselben gelehrten Juristen selbst für das Königtum von 1273 bis 1493 untersucht habe. Es hat sich klar ergeben, daß das Königtum den Territorien vorangeht. Ich kann damit nicht die Frage beantworten, was diese Juristen getan haben. Es ist eine rein historische Untersuchung mit all den Schwächen, die die historische Sichtweise mit sich bringt. Aber sie liefert einen deutlichen Anhaltspunkt. Die Hauptfragestellung geht nicht in diese, sondern in eine etwas abgewandelte Richtung, die aber auf einer höheren Ebene für unsre Frage auch einmal wichtig werden wird, wenn auch noch nicht heute. Es ist die Frage, wie sich die deutschen Territorien voneinander unterscheiden. Auch die Frage, wo der König sitzt und auf welcher Basis er sich entfalten kann, ist außerordentlich bedeutsam. Dies wird bei all den Diskussionen, die bis jetzt geführt worden sind, überhaupt nicht gesehen, und man kann, wenn man vergleichend auf das Habsburgische Haus blickt, durchaus sagen, daß Österreich nicht so modern war wie etwa der Niederrhein. Aber es ist in einer recht respektablen gehobenen Mittellage zu finden, so daß also sehr wohl im österreichischen Bereich schon Juristen vorhanden gewesen sein mögen. Das hat aber wiederum etwas mit dem Hause und mit seinen Königsambitionen zu tun. Das ist ein anderer Zusammenhang, den man getrennt davon betrachten sollte.

Boldt: Ich habe eine grundsätzliche Frage. Wenn ich Sie recht verstanden habe, Herr Heinig, haben Sie im ersten Teil Ihres Referats unter anderem auf die schwindende Hofbezogenheit der Kurfürsten hingewiesen, die bis ins 14. Jh. noch vorhanden war. Es gab offenbar so etwas wie eine regionale Verengung in der Wirksamkeit des kaiserlichen Hofes. Sie haben das mit den Schwierigkeiten der Herausbildung einer effektiven Reichszentrale im Mittelalter überhaupt in Verbindung gebracht. Im zweiten Teil Ihres Referates setzen Sie dem jedoch einen deutlichen Prozeß der Herrschaftsverdichtung, der Institutionalisierung und Organisation von Herrschaft auf der Reichsebene und im kaiserlichen Hof entgegen. Ähnliche Erscheinungen gibt es auch auf der Landesebene in den großen Territorien. Das ganze hatte dann einen gewissen Höhepunkt im Verfassungskompromiß von Worms. Meine Frage ist nun: Sollte man im Hinblick darauf Ihr Referat statt mit

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"Vollendung der mittelalterlichen Reichsverfassung" nicht besser mit "Überwindung der mittelalterlichen Reichsverfassung" betiteln oder von "beginnender" Überwindung sprechen, um den Zäsurcharakter von 1495 abzumildern? Damit wären wir allerdings wieder bei einer etwas "altertümlicheren" Sichtweise, die das Neue, das Heraufkommen der Neuzeit im 15. und 16. Jh. betont - eine Sichtweise, die mir nach Ihren Ausführungen aber auch durchaus zulässig zu sein scheint. Heinig: In dem Bestreben, Anachronismen zu vermeiden, mag ich dadurch, daß ich für meinen gesamten Betrachtungszeitraum bis zum Ende des 15. Jh. mit dem Hof einem Element zentrale Bedeutung eingeräumt habe, das in der früheren verfassungsgeschichtlichen Betrachtung allenfalls für das Früh- und Hochmittelalter in Anschlag gebracht worden ist, das Spätmittelalter tatsächlich in Ihrem Sinne "mittelalterlicher" machen. Auf das Jahr 1495 wollte ich mich keineswegs isoliert festlegen. Hier schloß sich jedoch im Prinzip der von mir über das gesamte Mittelalter gespannte Bogen des Grundkonflikts zwischen Monismus und Dualismus. Jedenfalls in dieser Hinsicht erscheinen mir spätere Einschnitte, seien es nun die Jahre 1519/20, 1550 oder gar 1555, bis zu denen das "Zeitalter der Reichsreform" gelegentlich weitergezogen wird, keine entscheidenden Wendemarken mehr. Bei allem Hin und Her und beträchtlichen Strukturveränderungen betrachte ich die ersten Jahrzehnte des 16. Jh. verfassungsgeschichtlich als einen Zeitraum der Einübung und endgültigen Fixierung des Kompromisses von 1495. Die Bewertung dieser Zäsur als" Vollendung" oder "Überwindung" ist eine Frage der Perspektive, die zweifellos weiter diskutiert werden wird. Dazu habe ich meine Auffassung ebenso dargelegt wie zu der gelegentlichen Bewertung des gesamten nachstaufischen Zeitalters als Ende und "Überwindung" des Mittelalters. Schneider: Ich habe Schwierigkeiten mit dem Begriff "Reichsverfassung". Sollte man nicht lieber von der "Verfaßtheit des Reiches" sprechen, weil sonst zu statische Vorstellungen erweckt werden? Zieht man vor allem Friedrich III. heran und folgt man dem Verfassungsbegriff von Herrn Heinig, so muß man den Verdacht hegen, daß Herr Heinig den Reichsbegriff dramatisch auf den Bereich der klassischen Hausmachtpolitik, also auf Süddeutschland und die österreichischen Erblande, verkürzt. Alles andere gehört zwar auch zum Reich. Aber dort hatte Friedrich III. nicht die Spur einer Chance, sich durchzusetzen, geschweige denn, überhaupt in relevanten Umfange gehört zu werden. Insofern muß eine Verfassungsgeschichte, die das Reich des 15. Jh. erfassen will, wohl auch andere Kategorien berücksichtigen. Beispielsweise gilt dies für die Kategorie der Nation. Davon habe ich in dem Referat nichts gehört. Fragt man danach, was dieses

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Reich im politischen und rechtlichen Sinne zusammenhielt, dann muß man die Antwort wohl in dieser Richtung suchen.

Heinig: Wie bezüglich etlicher anderer "Basisprozesse" muß ich, was die Nationbildung angeht, einige Defizite meiner - sachlich ohnehin überfrachteten - Ausführungen eingestehen. Immerhin habe ich auf das mit der Türkenfrage einhergehende Heranwachsen nationaler Gemeinempfindungen im allgemeinen und im besonderen in und seit dem Burgunderkonflikt in der ersten Hälfte der 1470er Jahre hingewiesen. Bei der Vorbereitung eines Vortrags, den ich im vergangenen Jahr über "Friedrich III. und die Eidgenossen" gehalten habe, ist mir noch einmal bewußt geworden, wie rasch und wie stark sich im Zuge der Auseinandersetzung mit Karl dem Kühnen speziell am Oberrhein ein nationales Bewußtsein ausgebildet hat. Dieses hat später in Gestalt des schwäbisch-elsässischen Humanismus nicht wenig auf Maximilian eingewirkt. Aber schon Friedrich IH. hat sowohl in seinen Aufrufen zur Türkenabwehr wie in seiner Spätzeit in seinen Hilfsmandaten an die Reichsstände gegen Ungarn vehement an diese Gefühle appelliert und sie dadurch reichsweit befördert. Allein schon deshalb ist die Nation selbstverständlich eine Kategorie, die bei der Analyse der "Reichsverdichtung" im 15. Jh. beachtet werden muß. Ebenso einverstanden bin ich mit dem im Vergleich zur" Verfassung" weniger starren Begriff" Verfaßtheit", zumal ich selbst bemüht war, statt der gering ausgeprägten institutionellen die personale Seite der Verfassung herauszuarbeiten. Was den anderen von Ihnen, Herr Schneider, genannten Punkt angeht, demzufolge Friedrich außerhalb der erbländischen Hausmacht und Oberdeutschlands nichts habe bewegen können, sind Differenzierungen nicht nur in Hinsicht auf die Nationbildung angebracht. Natürlich stand der Norden der Zentralgewalt weiterhin fern. Aber schon in der Reichsgeschichte Bachmanns, der immer noch maßgeblichen Ereignisgeschichte dieser Epoche, finden sich etliche Passagen über das Eingreifen des Herrschers in norddeutsche Belange, wie etwa den Lüneburger Prälatenkrieg. Um dies zu erkennen, ist es notwendig, neben der direkten auch die indirekte Einflußnahme des Herrschers zu berücksichtigen. Es war eine der wesentlichen "Transportschienen" der kaiserlichen Wirksamkeit, daß sich interessierte Fürsten immer wieder darum bemüht haben, die "Fähigkeiten" der Zentralgewalt zur reichsrechtlichen Legitimation ihrer eigenen Interessen und zur Steigerung ihrer Durchsetzungskraft auszunutzen. Auf diese Weise wurde die Wirksamkeit Friedrichs IH. in Bezug auf den Norden, in dem sich auch dieser Kaiser nie persönlich bewegt hat, vor allem durch den ihm nahestehenden Markgrafen (seit 1471 Kurfürsten) Albrecht von Brandenburg vermittelt; eng damit hängt z. B. auch zusammen, daß die

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Herzöge von Braunschweig seit dieser Zeit die reichspolitische Bühne betraten. Wie dieser Kaiser seine Wirksamkeit an dem traditionell gleichfalls königsfernen Niederrhein bis hin zur Entscheidung über die Besetzung des Kölner Erzstuhls zur Geltung gebracht hat, habe ich zu zeigen versucht. Mir scheint, daß überhaupt kein römisch-deutscher Herrscher des späten Mittelalters in vergleichbarer Häufigkeit und Nachhaltigkeit Einfluß auf die Kurfürstentümer genommen hat. Krieger hat dies am Beispiel des arrogierten Pfalzgrafen verdeutlicht und darüber hinaus in Bezug auf geistliche (Kur-)Fürstentümer die Temporalienleihe als das wohl entscheidende Mittel analysiert. Auf diese Weise hat Friedrich III. z. B. seit 1475 das Erzbistum Köln in der Hand gehabt. Nach der Inhaftierung des wittelsbachischen Erzbischofs Ruprecht im Zuge des Neußer Krieges hat der Kaiser den Landgrafen Hermann von Hessen zum Administrator bestellt und diesem eine unter anderem mit kaiserlichen Räten besetzte Stiftsverwaltung zugeordnet. Vergleichbares ist keinem Herrscher seit Karl IV. gelungen.

Battenberg: Ich habe eine Frage zu der von Herrn Heinig dargelegten neuen Qualität der Königsherrschaft nach 1470. Mir fiel im Zusammenhang mit den von ihm genannten Daten zu den Gerichtsurkunden des Kammergerichts die gesteigerte gerichtliche Tätigkeit auf, die irgendwo eine Ursache haben mußte. Mir fällt da zunächst das von Niklas Luhmann eingeführte Schlagwort von der "Legitimation durch Verfahren" ein, das man vielleicht auch hier anwenden kann. In der Tat ist es so, daß Friedrich III. offenbar nach 1470 sehr viel bewußter als vorher das Mittel des förmlichen Verfahrens für politische Zwecke instrumentalisierte. Man kann dies z. B. auch im Hinblick auf die in dieser Zeit verstärkt genutzte Form des Mandatsprozesses am Kammergericht feststellen. Diese Form hatte bis dahin nie eine Rolle gespielt. Andererseits kann man aber auch hier eine Anknüpfung an alte Tradition feststellen. Friedrich III. übernahm also ältere Verfahrensformen ganz bewußt; sie waren vorhanden; doch formte er sie um, etwa durch das Mittel des Mandatsprozesses oder durch die Ausweitung des Verfahrens der Majestätsbeleidigung. Ich kenne eine Reihe von Verfahren in Judenangelegenheiten, z. B. im Zusammenhang mit einem Regensburger Judenvertreibungsversuch. Hier wurden politische Angelegenheiten, die normalerweise auch politisch geregelt wurden, mandatsweise oder durch ein Privileg, ganz bewußt in ein gerichtliches Verfahren überführt und aufgrund dieses Verfahrens entschieden. Zu beobachten ist ein bewußter Einsatz von Prozeßverfahren, um eine größere Legitimation von politischen Akten zu erzielen.

Der Westfälische Frieden eine neue Ordnung für das Alte Reich? Von Georg Schmidt, Jena

I.

Als der Dreißigjährige Krieg mit dem Westfälischen Frieden zu Ende ging, hielten schon die Zeitgenossen das Jahr 1648 für einen ganz entscheidenden Einschnitt: Gleich ob ihre Annahmen über die Verluste an Menschen und Ressourcen, ihre Berichte über die bis dahin in ihrer Massenhaftigkeit unvorstellbaren Grausamkeiten und Leiden und ihr Bewußtsein von einem Neubeginn nach 1648 immer der historischen Wahrheit entsprachen oder bei der Schilderung der Greuel und der Armut aus Sensationslust bzw. aus durchaus ehrenwerten Motiven (Steuererleichterungen, Ächtung des Kriegs etc.) übertrieben wurde, es bleibt der Eindruck des allgemeinen Schreckens und Entsetzens. Der Dreißigjährige Krieg wurde zum Trauma des deutschen Volks. Sein Ende hat sich daher - wie kaum eine andere Zäsur in der älteren deutschen Geschichte - als markantes und erstaunlich wenig hinterfragtes Epochendatum oder gar als Zeitenwende verselbständigt und tief in das Bewußtsein von Historikern und Öffentlichkeit eingegraben. Bereits ein flüchtiger Blick in die Handbücher und übergreifende Darstellungen verdeutlicht das Gesagte: Die einzelnen Bände oder Teile enden bzw. beginnen mit dem Jahr 1648. Während Herausgeber und Autoren normalerweise die von ihnen gewählte Periodisierung eingehend begründen, scheint dies für die Zäsur von 1648, die so praktisch in der Mitte der drei Jahrhunderte frühneuzeitlicher Geschichte liegt und die traditionell "als Epochendatum der deutschen Geschichte in nahezu jeder denkbaren Hinsicht" giltl, nicht notwendig. Sie versteht sich von selbst und dafür gibt es viele gute Gründe - zum Beispiel: 1. der sehr große Bevölkerungsverlust, eine bisher nicht gekannte Ressourcenvernichtung und die allgemeine Finanzkrise; 2. die Zurückdrängung der religionspolitischen Problematik, die die erste Hälfte der frühen Neuzeit, das Zeitalter der Konfessionalisierung und 1

Christo! DippeT, Deutsche Geschichte 1648-1789,1991, Vorbemerkung.

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Georg Schmidt

der Glaubenskriege, beherrscht hatte, zugunsten von macht- und mächtepolitischen Fragen; 3. die Einbindung der Reichsverfassung in eine gesamteuropäische Friedensordnung, die Festschreibung der (staatlichen) Zersplitterung Deutschlands und die Sicherung der fürstlichen Herrschaftsrechte (Absolutismus) zu Lasten des Kaisers. Dennoch stellt sich selbstverständlich auch für das Jahr 1648 die Frage nach den Brüchen und den Kontinuitäten, die beispielsweise für die vergleichbaren Einschnitte am Beginn und am Ende der Frühen Neuzeit längst und mit großem Erfolg diskutiert wird. Die mit den gängigen Band- oder Kapiteleinteilungen auch schon äußerlich dokumentierte "Weichenstellung" des Jahres 1648 relativiert sich jedoch in gewisser Weise, wenn nun in einem Band der "Neue(n) Deutsche(n) Geschichte" die eigenständige Kontinuität des gesamten 17. Jh. betont wird 2. Wie dort geschehen, soll auch hier der tiefe Einschnitt nach dem langen Krieg keineswegs geleugnet, wohl aber versucht werden, einige für die Verfassungsordnung des Reiches und die staatliche Verfaßtheit Deutschlands langfristig wirksame Strukturen mit den Regelungen des Friedensvertrags zu konfrontieren, um so insbesondere das "ius territoriale" und das in seinen Konsequenzen maßlos überschätzte reichsständische Bündnisrecht3 einer neuerlichen Diskussion zu öffnen. Der Westfälische Frieden gilt der übergroßen Mehrheit der deutschen Verfassungshistoriker - wie die folgende eher zufällige Auswahl belegtals "bedeutsamer Wendepunkt" 4 mit dem "politisch und rechtsgeschichtlich ein Endpunkt erreicht" wurde 5. Nicht nur nach Ansicht Albrecht RandelzhoJers hatte der Friedensschluß die Reichsstände zu Staaten im Sinne und zu Subjekten des entstehenden europäischen Völkerrechts gemacht 6 • Für Martin Heckel bedeutet der Vertrag "die Klärung und AkzenVolk er Press, Kriege und Krisen. Deutschland 1600-1715, 1991. Vgl. etwa Fritz Dickmann, Westfälischer Friede und Reichsverfassung, in: Max Braubach (Hrsg.), Forschungen und Studien zur Geschichte des Westfälischen Friedens, 1964, S. 5-32, S. 29; Ernst Walter Böckenförde, Der Westfälische Frieden und das Bündnisrecht der Reichsstände: Der Staat 8 (1969), S. 449 -478, hier S. 471 ff.; Reinhart Koselleck, Art. Bund - Bündnis, Föderalismus, Bundesstaat, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, S. 582 - 671, hier S. 615 ff. 4 Martin Heckel, Deutschland im konfessionellen Zeitalter, 1983, S. 196. 5 So Koselleck (FN 3), S. 615. 6 Albrecht Randelzhofer, Völkerrechtliche Aspekte des Heiligen Römischen Reiches nach 1648, 1967, S. 144, 193 und passim; Böckenförde (FN 3), S. 473; Johannes Kunisch, Absolutismus. Europäische Geschichte vom Westfälischen Frieden bis zur Krise des Ancien Regime, 1986, S. 128. - Etwas vorsichtiger spricht Heinz Duchhardt dagegen davon, daß "Landeshoheit und Bündnisrecht" wenigstens die größeren Territorialstaaten in die Lage versetzten, "mit dem Anspruch selbständiger, "quasi-souveräner" Mitwirkung in das europäische Kräftespiel und die Völkerrechtspraxis einzugreifen". Heinz Duchhardt, Das Zeitalter des Absolutismus, 1989, S. 8. 2

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Der Westfälische Frieden - eine neue Ordnung für das Alte Reich?

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tuierung des bisher schwankenden Gefüges im Sinn der Reichsstände" 7; Gerhard Oestreich hält ihn mit Blick auf das Reich "für mehr zerstörend als aufbauend". 8 Hermann Conrad spricht von einer Anerkennung der Staatlichkeit der Territorien 9 , Dietmar Willoweit, der wie Reinhart Koselleck das "ius territoriale" dicht an die "Souveränität" heranrückt, erblickt im Bündnisrecht einen "Schritt zu neuen Ufern" 10 und nach Werner Conze wurde den Fürsten des Reichs hier die "Souveränität" gewährt 11.

ß.

Unter der lange Zeit alles andere dominierenden Leitkategorie des Staates kann die deutsche Geschichtsschreibung auf eine bemerkenswerte Tradition der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Alten Reich zuruckblicken 12. Im Grunde war man sich jedoch weithin einig: Das frühzeitig unregierbar gewordene Reich wurde mit dem Westfälischen Frieden nicht nur aller nationalstaatlichen Entwicklungsansätze beraubt, sondern überhaupt als ein politisch zielgerichtet handlungsfähiges System zerschlagen. Fortschritt und Dynamik in der deutschen Staatswerdung verkörperten von nun an lediglich die der lästigen Fesseln des Reichsverbandes enthobenen großen Territorialstaaten - allen voran Brandenburg-Preußen. Das Friedenswerk von 1648 erschien - wie Volker Press diese ältere Forschung charakterisiert hat - "als ein Markstein deutscher Zersplitterung und des nationalen Niedergangs" 13, der Funktionsverlust des Habsburger ReichsHeckel (FN 4), S. 197. Gerhard Oestreich, Verfassungsgeschichte vom Ende des Mittelalters bis zum Ende des alten Reiches (= Gebhardt. Bd. 11 der dtv-Ausgabe), 1974, S. 41. 9 Hermann Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2: Neuzeit bis 1806, 1966, 7 8

S.119.

10 Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 1990, S. 138; Koselleck (FN 3), S. 616 f. - Kürzlich hat Koselleck jedoch "Souveränität" für die Zeit vor 1800 in Deutschland als einen "Zielbegriff" bezeichnet, "den es zu verwirklichen galt". Reinhart Koselleck, Staat und Souveränität, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6, S. 1. 11 Werner Conze, in: ebd., S. 15. 12 Vgl.: Ernst-Walter BöckenJörde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jh., 1961; Stephan Skalweit, Der "moderne" Staat, 1975; Werner NäJ, Frühformen des "modernen Staates" im Spätmittelalter: HZ 171, 1951, S. 225-243. - An neueren Beispielen seien herausgegriffen: Heinz Angermeier, Die Reichsreform 1410-1555. Die Staatsproblematik in Deutschland zwischen Mittelalter und Gegenwart, 1984; Kersten Krüger, Finanzstaat Hessen. Staatsbildung im Übergang vom Domänenstaat zum Steuerstaat, 1980; Gerhard Oestreich, Geist und Gestalt des frühmodernen Staats, 1969; Heinz Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung. Eine Fallstudie über das Verhältnis von religiösem und sozialem Wandel in der Frühneuzeit am Beispiel der Grafschaft Lippe, 1981. 13 Volk er Press, Die kaiserliche Stellung im Reich zwischen 1648 und 1740 Versuch einer Neubewertung, in: Georg Schmidt (Hrsg.), Stände und Gesellschaft im Alten Reich, 1989, S. 51- 80, Zitat S. 55.

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oberhauptes als ein erster Schritt zur preußisch-kleindeutschen Staatsgründung des 19. Jh. Die fortschreitende Verstaatung der reichsständischen Herrschaften seit dem späten Mittelalter, der von den historischen Karten so eindrucksvoll belegte Flickenteppich aus mittleren, kleinen und kleinsten Gebilden, wurde zum kontinuierlichen Integrations- und Konzentrationsverlust des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation: ein stetiger Abstieg vom "Staat des Mittelalters" 14 zur reichsständischen "Souveränität" des Westfälischen Friedens. Doch bereits die von Jean Bodin an den französischen Verhältnissen entwickelte Kategorie "Souveränität" sperrt sich - wie auch immer modifiziert - gegen eine Übertragung auf die Verfassungsverhältnisse im Reich. Sie ist kein" ungeschichtlicher Kunstbegriff" 15 und vermag das komplizierte Nach-, Mit- und Nebeneinander im Reich nicht befriedigend wiederzugeben 16. Bodin selbst sprach den auf dem Reichstag vertretenen Ständen die Souveränitätsrechte zu und verstand das Reich als reine Aristokratie 17. Mit Ausnahme Preußens hielt sich zudem auch noch im 18. Jh. kein Reichsstand für "souverän" 18. Erst der Preßburger Frieden machte 1805 die Könige von Bayern und Württemberg sowie den Markgrafen von Baden zu Souveränen - "ainsi et de la meme maniere qu'en jouissent Sa Majeste l'Empereur d'Allemagne et d'Autriche et Sa Majeste le Roi de Prusse sur Leurs etats allemands" 19. Ganz im Gegensatz zu den restaurativen Regelungen des Jahres 1648 empfand die interessierte Öffentlichkeit dies nun als etwas grundlegend Neues, das sich nur sehr schwer mit der alten Reichsverfassung in Einklang bringen lassen würde. Dennoch wurden auch noch 1805/06 die verbleibenden Bindungen zum Reich und die daraus abzuleitenden Pflichten der neuen Souveräne ausführlich diskutiert. Wenn in diesem Zusammenhang in einer anonymen Flugschrift die Ansicht auftauchte, der Sprachgebrauch verwende den französischen Begriff ,souverainete' "öfters für landesherrliche Gewalt" 20, so mögen sich auch dafür in deutschen oder 14 Georg von Below, Der deutsche Staat des Mittelalters, Bd. 1, 2. Aufl. 1925; Heinrich Mitteis, Der Staat des Hohen Mittelalters, 7. Aufl. 1962. 15 Helmut Quaritsch, Souveränität. Entstehung und Entwicklung des Begriffs in Frankreich und Deutschland vom 13. Jh. bis 1806, 1986, S. 38; vgl. auch Wolfgang Quint, Souveränitätsbegriff und Souveränitätspolitik in Bayern. Von der Mitte des 17. bis zur ersten Hälfte des 19. Jh., 1981, S. 29. 16 Vgl. Diethelm Klippel, Staat und Souveränität (Kap. VI- VIII), in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6, S. 99 und 119. 17 Jean Bodin, Six livres de la Republique, Buch 2, Kap. 6. In deutscher Übersetzung leicht zugänglich: ders., Über den Staat, 1976, S. 60. - Vgl. Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1, 1988, S. 176. 18 Quint (FN 15), S. 32 f.; Quaritsch (FN 15), S. 85. 19 Vertragstext bei Rudolfine Freiin von Der, Der Friede von Preßburg. Ein Beitrag zur Diplomatiegeschichte des napoleonischen Zeitalters, 1965, S.271-279, Art. 14, S. 275. 20 Vgl. ebd., S. 206 f.

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lateinischen Texten vereinzelte Belege finden lassen; durchgesetzt hatte sich dieser Sprachgebrauch allerdings nur in den französischsprachigen Übersetzungen und als Titel, mit dem - wie Johann Jacob Moser schreibt - "Franzosen und andere Ausländer" die deutschen regierenden Herren belegen, um den Unterschied zu verdeutlichen, "welcher sich zwischen solchen Teutschen und ihren Fürsten, Grafen etc. befinde." Dieser vielleicht größte Kenner des Reichsstaatsrechts wendet sich entschieden gegen alle Fürsten, denen die "Souverainitäts-Gedanken zu Kopfe" steigen, und er bezeichnet die ihre Ambitionen unterstützenden Juristen als "Ober- oder Kerzen-Meister der Souverainitäts-Macher-Zunft", die Gleichsetzung von ,Landeshoheit' und ,Souveränität' als "ein Wort-Spil oder eine solche Schmeichelei, womit man bei allen Verständigen ... schlechte Ehre einlegen wird"21. Allen Versuchen, den Reichsständen oder auch nur den größeren unter ihnen für die Zeit nach 1648 die Souveränität zuzuschreiben, sind damit enge Grenzen gesetzt: Die Adaption des von Bodin eindeutig als Konzentration der gesamten Staatsgewalt beim Souverän definierten Begriffes, der auch die Unabhängigkeit des Fürsten bzw. des Landes bei der Regelung seiner auswärtigen Beziehungen einschließt, auf die Verhältnisse im Alten Reich ist nur bei einer weitreichenden Umdefinition möglich. Doch damit verliert diese Kategorie nicht nur ihre präzise Erklärungskraft, sondern es entsteht darüber hinaus aus den reichsständischen Staatswesen die ("souveräne") deutsche Staatenwelt des 18. Jh. Diese Metamorphose läßt das Jahr 1648 dann in der Tat auch zu einem verfassungsgeschichtlich irreversiblen Umkehrpunkt werden: Da dem Reich alle staatlichen Entwicklungsmöglichkeiten abgeschnitten wurden, mußte der deutsche (National-)Staat beinahe zwangsläufig aus einem der Landesstaaten herauswachsen. Ein Perspektivenwechsel zu den politischen Problemen Europas im späten 20. Jh., den gleichzeitig überstaatlichen Integrationsund den sich verschärfenden nationalen und regionalen Autonomiebestrebungen, wirft jedoch gerade im Lichte der deutschen Wiedervereinigung die Frage auf, ob die (national-)staatliche Konzentration die einzig denkbare Entwicklungslinie der deutschen Geschichte ist und sein muß? Bis zum ausgehenden 18. Jh. galt das durch Kaiser, Reich und Reichsstände konstituierte und repräsentierte politische System "mitten in Europa" den Zeitgenossen keineswegs als eine überholte Ordnung: Die mehr als vagen Forderungen, das Reich nach englischem oder französischem Vorbild in einen deutschen (National-)Staat umzuwandeln, werden überhaupt erst nach dem Siebenjährigen Krieg vernehmbar 22 , und kein geringerer als Jean 21 Johann Jacob Moser, Von der Landeshoheit derer Teutschen Reichsstände überhaupt (= Neues teutsches Staatsrecht, 14), 1773, Zitate S. 17, S. 252, S. 256 und S. 18. Vgl. Klippel (FN 16), S. 119 f. 22 Vgl. als herausragenden Vertreter dieser Richtung: Friedrich earl von Moser, Vom deutschen Nationalgeist, o. O. 1765. - Zum eher zaghaften Entstehen eines

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Jacques Rousseau sah noch 1758 in der Reichsverfassung und im öffentlichen Recht der Deutschen eine zentrale Stütze für den Bestand des europäischen Staatensystems in seiner hergebrachten Form 23 • Tatsächlich brach die politische Ordnung Alteuropas erst in dem Augenblick zusammen, als Napoleon das Reich zerschlug. Doch neben Preußen und Österreich etablierte er an dessen Stelle den Rheinbund - einen Staatenbund, der viele Strukturmerkmale des Alten Reiches transzendieren sollte 24. Selbst der Deutsche Bund blieb sehr stark dem Vorbild des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation verhaftet. Die Frage muß daher noch einmal gestellt werden: War dieses System mit seiner doppelten Staatlichkeit wirklich schon 1648 zur leeren Hülse geworden und allenfalls noch dazu gut, die volle Souveränitätsentfaltung der reichsständischen Staatswesen zu behindern? Der kontinuierliche und 1648 festgeschriebene Abstieg der Reichsgewalt ist eben nur eine Wahrheit, vor allem diejenige der im 18. Jh. aus dem Reichsverband herausgewachsenen europäischen Großmächte Preußen und Österreich und der aus dieser bzw. aus der Sicht der deutschen Staatenwelt des 19. Jh. argumentierenden Historiker. Für die anderen Reichsstände, insbesondere für die in diesem Zusammenhang meist vergessenen mindermächtigen, blieb der Reichsverband als übergeordnetes, militärischen und rechtlichen Schutz bietendes Verfassungsgefüge das unverzichtbare Gehäuse, das ihre Staatlichkeit, ihre eigene relative Selbständigkeit überhaupt erst ermöglichte und zugleich garantierte. Um der Reichsverfassung insgesamt gerecht zu werden, müssen diese gegenläufigen, anachronistisch erscheinenden und nicht selten skurril wirkenden Phänomene aus dem Bereich der kleineren Stände, der Einungen, Bünde und Korporationen in das Bild vom Alten Reich integriert werden - und zwar stimmiger als dies bisher unter dem Diktat des "Staatsmodells" und der dabei häufig mitschwingenden "Souveränitätsvorstellungen" der Fall war und sein konnte 25 . Die sicherlich einmalige Verfassungsordnung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, die sich so beharrlich allen aristotelischen Systekollektiven nationalen Bewußtseins in Deutschland zusammenfassend: Horst Möller, Fürstenstaat oder Bürgernation. Deutschland 1763 -1815, 1989, S. 43 - 58. 23 Vgl. Karl Otmar Frhr. v. Aretin, Das Heilige Römische Reich im Konzert der europäischen Mächte im 17. und 18. Jh., in: Schmidt (FN 13), S. 81-91. 24 Dazu demnächst Georg Schmidt, Der napoleonische Rheinbund - ein erneuertes Altes Reich? in: Volker Press (Hrsg.), Alternativen zur Reichsverfassung in der frühen Neuzeit (= Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien). 25 Peter Moraw / Volker Press, Probleme der Sozial- und Verfassungsgeschichte des Heiligen römischen Reiches im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit: ZHF 2 (1975), S. 95 -108; Volker Press, Das römisch-deutsche Reich - ein politisches System in verfassungs- und sozialgeschichtlicher Fragestellung, in: Grete Klingenstein / Heinrich Lutz (Hg.), Spezialforschung und ,Gesamtgeschichte', 1981, S. 221242.

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matisierungsbemühungen entzog, war fraglos voller Widersprüche - ein Gefüge von Autonomien und Abhängigkeiten, von eindeutigen Herrschaftsund mehrdeutigen Zuordnungsverhältnissen, von exakten Grenzen und fließenden Übergängen, von zentralen Ordnungen, alten Rechten und uraltem Herkommen. Sie hatte um 1500 eine Ausgestaltung erfahren, die bis in die napoleonische Zeit weithin intakt blieb 26 . Daraus ergibt sich die erste These: Der Westfälische Frieden ist für die Reichsverfassung keine neue Ordnung im Sinne einer Wendemarke; es wurden lediglich die Entwicklungen und Erfahrungen des vorangegangenen Jahrhunderts verarbeitet und in konservierender Absicht festgeschrieben. Der Reichsverfassung nähert man sich daher - wie schon die Reichspublizistik wußte - am besten deskriptiv und nicht von vornherein systematisierend und kategorisierend. Ein solches Verfahren kommt der doch nach wie vor juristisch geprägten Verfassungsgeschichtsschreibung nicht unbedingt entgegen, scheint aber die beste Gewähr gegen unter Umständen vorschnelle Verallgemeinerungen zu bieten. Über die Beschreibung unterschiedlich erfolgreich verlaufener Staatsbildungsprozesse soll daher im folgenden gezeigt werden - und dies ist die zweite These -, daß die forcierte Territorialisierung des 16. Jh. eine verstärkte Integration innerhalb des Reichsverbandes nicht nur nicht ausschloß, sondern erst ermöglichte 27. Die politische Expansion der Reichsstände nach innen und außen, der Prozeß der herrschaftlichen Durchdringung und Vereinheitlichung möglichst großer Räume von einem Zentrum aus, wird hier als "frühneuzeitliche Staatsbildung" 28 oder "Territorialisierung des Reiches" begrifflich gefaßt. Alle, wirklich alle Rechte, Gerechtigkeiten und Privilegien, aber auch vage Ansprüche wurden nun als Teil oder zumindest als Folge der landesfürstlichen Obrigkeit interpretiert und, wenn irgend möglich, unter dem Signum der Landesherrschaft zusammengefaßt. Summarisch beansprucht, diente die "superioritas territorialis" zur Unterwerfung aller im Lande gesessenen Personen und Korporationen. Der Weg zum schließlich auch vielfach absolutistisch regierten frühneuzeitlichen Territorialstaat war jedoch geprägt von erbitterten Auseinandersetzungen der Fürsten mit dem Adel, der Kirche, den Städten und sogar den Bauern, die sich allesamt 26 Karl Otmar Frhr. v. Aretin, Heiliges Römisches Reich 1776 -1806. Reichsverfassung und Staatssouveränität, Tle. 1-2, 1967; ders., Vom Deutschen Reich zum Deutschen Bund, 1980; ders., Das Reich, Friedensgarantie und europäisches Gleichgewicht 1648 -1806, 1986. 27 Stolleis (FN 17), S. 162; Georg Schmidt, Einleitung: Integration im Alten Reich, in: ders. (FN 13), S. 1-16. 28 Zum Staatsbegriff neuerdings zusammenfassend Dietmar Willoweit, Staat, in: HRG, S. 1792-1797.

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der vom Landesherrn beanspruchten zentralen Satzungs- und Regierungsgewalt widersetzten und ihre alten Rechte, d. h. die Autonomie in ihren jeweiligen Bereichen, zu bewahren suchten. Die für die Bestimmung von Staatlichkeit im Alten Reich wichtigen Wechselwirkungen zwischen der frühneuzeitlichen Staatsbildung auf der Ebene der Reichsstände und dem übergeordneten Reichsverband werden hier mit Beispielen aus dem hessischen Raum "illustriert", bevor abschließend versucht wird, das "ius territoriale" des Westfälischen Friedensvertrages neu zu würdigen.

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Die "territoriale Epoche" der Landgrafschaft Hessen begann in der zweiten Hälfte des 15. Jh. nach dem Anfall der Grafschaften Ziegenhain und Nidda, einem Teil von Eppstein und vor allem des reichen Katzenelnbogener Erbes 29. Aus dem reichspolitisch unbedeutenden Fürstentum in einer eher königsfemen Landschaft wurde binnen kürzester Zeit eine Hegemonialmacht der allerersten Kategorie in einem zentralen Konstellationsraum des spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Reiches: an Rhein, Main und in der Wetterau 30. Das von den Landgrafen direkt beherrschte oder doch wenigstens kontrollierte Gebiet erstreckte sich, wenn auch vielfach von mindermächtigen Ständen durchbrochen, von der Bergstraße bis an die Weser, von der Rhön bis in den Westerwald. Der Vorstoß nach Süden bedeutete das endgültige Hineinwachsen in das oberdeutsch geprägte Reich und bewirkte, daß sich die hessischen Fürsten den Reichshilfen nicht mehr entziehen konnten. Von der Vergrößerung, dem verstärkten inneren Ausbau und den eindeutiger werdenden Grenzen der reichsständischen Herrschaften profitierte das Reich ebenfalls. Die Zahl der wirklich wichtigen und vom Kaiser entsprechend zu beachtenden Ansprechpartner verringerte sich spürbar: Dies verbesserte zwangsläufig die Integrationsmöglichkeiten und erlaubte auch erst die Fortentwicklung vom vergleichsweise offenen Hof- zum stärker ständisch geprägten Reichstag mit seinen normierten Zugangskriterien 31 . Das Reich, verstanden als Handlungszusammenhang von Kaiser und Reichsständen, gewann damit 29 Vgl. auch zum folgenden Karl E. Demandt, Geschichte des Landes Hessen, 2. Aufl. 1980, S. 216 und passim. 30 Peter Moraw, Das späte Mittelalter, in: Walter Heinemeyer (Hrsg.), Das Werden Hessens, 1986, S. 195-223, hier S. 196; vgl. auch ders., Hessen und das deutsche Königtum im späten Mittelalter: HessJbLG 26 (1976), S. 43-95. 31 Ders., Versuch über die Entstehung des Reichstags, in: Hermann Weber (Hrsg.), Politische Ordnungen und soziale Kräfte im Alten Reich, 1980, S. 1-36.

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endlich einen institutionalisierten Mittelpunkt - ein sicherlich nicht zu unterschätzender Fortschritt. Die Territorialisierung als regionaler Abgrenzungs-, Ein- und Unterordnungsvorgang und die verbesserten Wirkungsmöglichkeiten des Gesamtverbundes - die Landfriedenswahrung oder die Türkenabwehr stehen als Beispiel - sind somit die beiden Seiten ein und desselben Verdichtungsvorgangs, den Peter Moraw für das spätmittelalterliche Reich herausgearbeitet hat und der sich in der frühen Neuzeit fortsetzte 32. Die Perspektiven der hessischen Landgrafen schienen allerdings zu Beginn der Neuzeit weniger günstig. Da ihnen der Besitz des Katzenelnbogener Erbes von den Nassauer Grafen mit gutem Recht streitig gemacht wurde 33, drohte ihnen ständig der Verlust ihrer gerade erst errungenen Vormachtstellung. Philipp von Hessen mußte erfahren, welchen Druck "Kaiser und Reich" im Zusammenwirken mit einem benachbarten Reichsstand mobilisieren konnten. Der Katzenelnbogener Erbfolgestreit band viele Ressourcen und zwang die hessischen Fürsten - vielleicht früher als ihre Standesgenossen -, die Verwaltung zu rationalisieren und zu effektivieren, um die Finanzierung des kostspieligen Streits sicherzustellen. Zudem mußten sie sich auf die Spielregeln der mehr und mehr römischrechtlich geprägten Konfliktaustragung vor Kaiser und Reich einstellen. Die Kanalisierung territorialer Streitigkeiten in den Bahnen des Reichsrechts gehört ebenfalls zu dem vor allem im oberdeutschen Raum festzustellenden Verdichtungs- und Befriedungsschub um die Wende vom Mittelalter zur Neuzeit und hat entscheidenden Anteil daran, daß der mehrmals drohende Krieg um das Katzenelnbogener Erbe letztlich stets verhindert werden konnte. Weil das Reich als ein auf Ausgleich und Frieden bedachter Verbund sich gegenüber größeren territorialen Veränderungen wegen der damit verbundenen Machtverschiebungen äußerst spröde verhielt, blieb das in den Rechtsverfahren stets den Grafen von Nassau zugesprochene Katzenelnbogener Erbe dennoch im Besitz der Landgrafen - und dies, obwohl oder vielleicht sogar weil Philipp von Hessen in der Reformationszeit zum wichtigsten Opponenten Karls V. avanciert war. Selbst auf dem Höhepunkt seiner Macht konnte der Kaiser das durch die hessische Erbverbrüderung mit den Häusern Sachsen und Brandenburg und die Eventualhuldigung der 32 Peter Moraw, Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Das Reich im späten Mittelalter 1250 bis 1490, 1985. 33 Otto Meinardus, Der katzenelnbogische Erbfolgestreit, Bde. 1-2, 1899 und 1902; Karl E. Demandt, Die Grafen von Katzenelnbogen und ihr Erbe: HessJbLG 29 (1979), S.1-35; Georg Schmidt, Landgraf Philipp der Großmütige und das Katzenelnbogener Erbe: Archiv für hessische Geschichte, N. F. 41 (1983), S. 9-54; ders., Die Lösung des Katzenelnbogischen Erbfolgestreits - Ausdruck der Wiederherstellung traditioneller Verfassungsverhältnisse im Reich: ebd. 42 (1984), S. 9-72.

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Untertanen an diese Dynastien gesicherte Katzenelnbogener Erbe 34 den Landgrafen nicht mehr entfremden. Verlauf und Ausgang des Erbkonflikts, der den hessischen Raum ein halbes Jahrhundert in Atem gehalten hatte, bestätigten letztlich nur das der Reichsverfassung inhärente Patt zwischen dem Kaiser und den mächtigen Ständen. Reichsständische Einungen wie diese Erbverbrüderung hat es in unterschiedlichen Varianten während der gesamten frühen Neuzeit und auf allen Ebenen der Reichsverfassung gegeben. Sie waren meist am Modell des äußerst erfolgreichen Schwäbischen Bundes orientiert, der in der Umbruchphase um 1500 im oberdeutschen Raum viele Funktionen übernommen hatte, die das bereits merklich verdichtete, aber noch immer zu "große" Reich (noch) nicht erfüllen konnte. Seine auf rechtlichen Austrag und eine friedliche Konfliktregulierung, also auf die Sicherung des Landfriedens und die Anerkennung des territorialen Status quo, notfalls aber auch auf eine schnelle Exekution zielenden Prinzipien wirkten richtungweisend 35. Sie zu ignorieren bedeutete im Einflußbereich des Bundes ein unkalkulierbares Risiko, wie nicht zuletzt Herzog Ulrich von Württemberg nach der Okkupation der Reichsstadt Reutlingen hatte erfahren müssen 36. Mit dem Schwäbischen Bund war das Reichsoberhaupt handlungsfähig geworden. Selbst nach seiner Auflösung - und das unterscheidet ihn von den vielen spätmittelalterlichen Landfriedenseinungen, Eidgenossenschaften oder Städtebünden - fiel das "oberdeutsche" Reich nicht mehr prinzipiell hinter diesen einmal erreichten Stand der Friedenswahrung zurück. Der Einfluß des Bundes auf die Ausgestaltung der frühneuzeitlichen Reichsverfassung ist noch keineswegs erschöpfend untersucht, doch das letztlich für alle vorteilhafte friedliche Nebeneinander von kleineren und größeren Ständen war fraglos ausgesprochen attraktiv und wirkte auf den Reichsverband zurück. Alle späteren, als Alternativen zur Reichsverfassung gedachten, reichsständischen Bündnissysteme - erinnert sei nur an den projektierten kaiserlichen Bund 1547 37 , den Heilbronner Bund von 1633 38 , den ersten Rhein34 Edgar Löning, Die Erbverbrüderungen zwischen den Häusern Sachsen und Hessen und Sachsen, Brandenburg und Hessen, Frankfurt a. M. 1867. 35 Karl Klüpjel (Hrsg.), Urkunden zur Geschichte des Schwäbischen Bundes, Bde. 1-2, Stuttgart 1846 und 1853; Ernst Bock, Der Schwäbische Bund und seine Verfassungen (1488-1534), 1927; Helmo Hesslinger, Die Anfänge des Schwäbischen Bundes. Seine verfassungspolitische Bedeutung bis 1492, 1970. 36 Heinrich Ulmann, Fünf Jahre Würtembergischer Geschichte unter Herzog Ulrich 1515-1519, Leipzig 1867. 37 Horst Rabe, Reichsbund und Interim. Die Verfassungs- und Religionspolitik Karls V. und der Reichstag von Augsburg 1547/1548, 1971; Volker Press, Die Bundespläne Kaiser Karls V. und die Reichsverfassung, in: Heinrich Lutz (Hrsg.), Das römisch-deutsche Reich im politischen System Karls V., 1982, S. 55 -106. 38 Johannes Kretzschmar, Der Heilbronner Bund 1632-1635, Bde. 1-3, 1922.

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bund 39 oder den Fürstenbund 40 - konnten dagegen nie die hochgesteckten Erwartungen ihrer Gründungsväter erfüllen 41. Das hing einerseits mit der inzwischen eingetretenen Verfestigung der Territorien, aber andererseits ebenso mit dem durch die Ausgestaltung der Kreisverfassung überschaubarer und handlungsfähiger gewordenen und nun auch leidlich "funktionierenden" Reichsverband zusammen. Die nach der Mitte des 16. Jh. ihre volle Wirksamkeit entfaltenden Reichsgerichte und vor allem die Kreise, denen die Aufgaben der alten Landfriedenseinungen übertragen worden waren, sowie die faktisch in den Händen der mächtigen Fürsten konzentrierten Kreisexekutionen sorgten dafür, daß im Reich wenigstens die Minimalanforderungen an eine geregelte Rechts- und Friedenswahrung erfüllt wurden 42 . Der Reichstag und die anderen reichsständischen Versammlungen ermöglichten und erzwangen eine kontinuierliche Beschäftigung mit den Problemen des Reiches 43, die Türkenbedrohung sorgte darüber hinaus wenigstens für eine gewisse Identifikation und Integration 44, so daß die Notwendigkeit des überterritorialen Rahmens von niemandem ernsthaft in Frage gestellt wurde. Damit waren alle BÜlldnissysteme, die wie der Schwäbische Bund Aufgaben und Funktionen von Kaiser, Reich und Reichskreisen in einem möglichst großen Gebiet substituieren sollten oder mußten, unter normalen Bedingungen überflüssig geworden. Selbst der Heilbronner Bund von 1633 war - wenn auch gegen den Habsburger Kaiser gerichtet - zukunftsträchtig als Assoziation der vorderen Kreise konstruiert und auf diese Weise in die Reichsverfassung eingebunden. Von den unten noch zu behandelnden Reichskorporationen der mindermächtigen Stände abgesehen, besaßen die meisten anderen Bündnissysteme deshalb von vornherein nur begrenzte politische, regionale oder konfessionelle Zielsetzungen. Die vom Reich gesetzte Rahmenordnung blieb jedoch flexibel genug, um die meisten Einungen ebenso zu integrieren und für den Gesamtverband nutzbar zu machen, wie dies auch mit der Territorialisierung gelungen war. Solange keine größeren Konflikte auftraten, blieb den Reichsständen bei der Regelung ihrer Beziehungen untereinander beinahe der gleiche Freiraum, den sie für die Ausgestaltung ihrer Staatlichkeit beanspruchten und 39 Roman Schnur, Der Rheinbund von 1658 in der deutschen Verfassungsgeschichte, 1955. 40 Aretin, Vom Deutschen Reich (FN 26), S. 45 ff. 41 Dazu demnächst die einzelnen Beiträge in: Press (FN 24). 42 Vgl. Karl Otmar Freiher von Aretin (Hrsg.), Der Kurfürst von Mainz und die Kreisassoziationen 1648-1746, 1975; Winfried Dotzauer, Die deutschen Reichskreise in der Verfassung des Alten Reiches und ihr Eigenleben (1500-1800), 1989. 43 Helmut Neuhaus, Reichsständische Repräsentationsformen im 16. Jh. Reichstag - Reichskreistag - Reichsdeputationstag, 1982. 44 Winfried Schulze, Reich und Türkengefahr im späten 16. Jh., 1978.

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den eine zunehmend effektiver arbeitende Landesverwaltung auch zu nutzen wußte. Sie mußte die fürstlichen Rechte bzw. Ansprüche konkretisieren, behaupten oder durchsetzen und zeichnete so in erster Linie für das Zusammenwachsen der unterschiedlichen Landesteile verantwortlich. Die hessische Administration gehörte im 16. Jh. fraglos zu den "modernsten" im Reich: eine Gruppe eng miteinander verwandter, vorwiegend aus den ratsfähigen Familien der hessischen Städte stammender bürgerlicher Räte 45 • Amtssitz, Mitgliedschaft, Aufgaben und Kompetenzen waren oder wurden nun bindend geregelt 46. Zur besseren Erfassung und Abschöpfung aller Ressourcen kannte man schon seit 1497 eine eigenständige Kammerverwaltung. Drei Jahre später erfolgte eine Rechtsreformation und die Gründung des Marburger Hofgerichts 47 • Es wurde rasch zum Kristallisationskern all jener Juristen, die mit immer neuen Gutachten die hessische Position im Katzenelnbogener Rechtsstreit zu stabilisieren suchten. Die Universitätsgründung von 1527 ermöglichte dann die personale Verflechtung von Hofgericht, juristischer Fakultät und Rechtsberatung der Kasseler Regierung. Die Auswirkungen des Katzenelnbogener Erbfolgestreits auf die hessische Staatsbildung blieben daher ambivalent: Er hat die Finanzkraft des Landes zwar außerordentlich belastet, aber indem er nicht nur zur Auseinandersetzung mit den neuen Spielregeln der Reichsverfassung, sondern auch zum rationaleren Umgang mit den vorhandenen Ressourcen zwang, gab er dem Fürstentum wichtige Impulse zur staatlichen Verdichtung. Philipp nutzte das ihm mit der Marburger Juristenschar zur Verfügung stehende, vergleichsweise "moderne" Instrumentarium nicht nur, um die territoriale Integrität der Landgrafschaft, eine Grundvoraussetzung seiner erfolgreichen Reichspolitik, zu behaupten, sondern auch, um seine Herrschaft gegenüber allen von außen in das Territorium einwirkenden oder zu autonomen Regelungen berechtigten Kräften zu stärken 48 . Mit der Ausschaltung Franz von Sickingens domestizierte er 1523 gleichzeitig den Adel in seinem engeren Machtbereich: Die Ritter wurden landsässig und 1532 erstmals zur Türkensteuer herangezogen. 45 Karl E. Demandt, Amt und Familie. Eine soziologisch-genealogische Studie zur hessischen Verwaltungsgeschichte des 16. Jh.: HessJbLG 2 (1952), S. 79-133. 46 Vgl. Dietmar Willoweit, Allgemeine Merkmale der Verwaltungsorganisation in den Territorien, in: Kurt G. A. Jeserich u. a. (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1, 1983, S. 289-347. 47 Hans Philippi, Der oberrheinische Kreis, in: Jeserich (FN 46), S. 634-658, hier S. 637 f. 48 Der alte Streit, ob die Konsolidierung der Territorialstaaten durch die Rezeption gefördert wurde, kann hier nicht aufgegriffen werden. Die Rechtsprechung der Hofgerichte wirkte aber in jedem Fall vereinheitlichend und hat so die Integration der unterschiedlichen Landesteile fraglos unterstützt. Zum Diskussionsstand Karl Kroeschell, Die Rezeption der gelehrten Rechte und ihre Bedeutung für die Bildung des Territorialstaates, in: Jeserich (FN 46), S. 279-288.

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Den nicht direkt zu unterwerfenden umliegenden Wetterauer, Odenwälder und mittelrheinischen Niederadel drängte er aus dem sich nun schnell verfestigenden Territorialstaat hinaus. Sein Vorgehen entsprach der allgemeinen Tendenz, im Zuge der Territorialisierung möglichst eindeutige Verhältnisse zu schaffen. Innerhalb der eigenen Landesherrschaft sollten keine von der Zentrale weithin unabhängige und mithin unkalkulierbare ständische Reliktpositionen erhalten bleiben. Sie galten als potentielle Unruheherde, die deswegen besonders gefährlich waren, weil diese Adeligen in Konfliktsituationen andere Machtzentren der Reichsverfassung mobilisieren konnten - im Falle Hessens war dabei vor allem an den Kaiser oder den Kurfürsten von der Pfalz, aber auch an die rheinischen Erzbischöfe und - mit Einschränkungen - an die Wetterauer Grafen zu denken. Eine solche Intervention beinhaltete zumindest die Möglichkeit, daß Kräfte außerhalb des eigenen Territorialstaates Einfluß auf den gesamten Adel des Landes gewannen und die mühsam erreichte Vereinheitlichung sowie die Exklusivität der Landesherrschaft bedrohten 49. Allein der landsässige Adel bildete deswegen fortan das Zentrum der sich von Lehens- zu Landtagen wandelnden Ständeversammlungen. Zwar opponierten auch die so eingebundenen Adeligen gegen allzu forcierte Veränderungen zu ihren Lasten, doch sie erlagen immer wieder den Drohungen des Landesherrn, aber auch den Verlockungen seines Dienstes und des höfischen Repräsentations- und Gratifikationssystems. Hinzu kam, daß die Einführung der Reformation mit der Säkularisierung des geistlichen Besitzes und der Übernahme des Kirchenregiments einen enormen Ressourcen- und Machtzuwachs und einen kaum zu überschätzenden Schub zugunsten der vom Landesherrn ausgehenden und gegen die Mediatgewalten gerichteten Vereinheitlichung bedeutete. Dennoch blieb die landesfürstliche Obrigkeit alles andere als unumschränkt. Selbst die als Zeichen der Landesherrschaft gewertete Satzungsgewalt konnte oft nur in direkter Anlehnung an die Regelungen des Reiches oder des Kreises sinnvoll zur Geltung gebracht werden. Aber sie diente der Demonstration landesherrlicher Macht und Kompetenz 50. Darüber hinaus wurden die alten kommunalen Rechte der Untertanen und die korporativen Befugnisse der Mediatgewalten mit den neuen einheitlichen Regelungen für das ganze Land zielstrebig ausgehöhlt 51. Kirchen- und Polizeiordnungen waren ein 49 Volker Press, Patronat und Klientel im Heiligen Römischen Reich, in: Antoni Maczak (Hrsg.), Klientelsysteme im Europa der Frühen Neuzeit, 1988, S. 19 -46, hier S.33. 50 Vgl. Hans Maier, Die ältere deutsche Staats- und VeIWaltungslehre, 2. Aufl. 1980, besonders S. 75; Rolf Grawert, Historische Entwicklungslinien des neuzeitlichen Gesetzesrechts: Der Staat 11 (1972), S. 1-25. 51 Dietmar Willoweit, Struktur und Funktion intermediärer Gewalten im Ancien Regime: Der Staat, Beiheft 2: Gesellschaftliche Strukturen als Verfassungsproblem, 1978, S. 9-27, hier S. 16.

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wesentliches Mittel in dem von Gerhard Oestreich treffend als ,Sozialdisziplinierung' umschriebenen Vorgang 52, der in Hessen mit der Ziegenhainer Zuchtordnung von 1539 in seine entscheidende Phase getreten und mit der "Reformation in Polizei- und Kirchensachen" 1543 verschärft fortgesetzt worden war. Die Regelungsbereiche, Kirchen- und Sittenzucht, Daseinsvorsorge oder Verfügungen zu Produktion und Konsumtion, blieben fließend und gingen ineinander über. 53 Nach Christof Dipper war die Landeshoheit überhaupt "ein lebendiger Komprorniß von Tradition und Modernität, dessen Entwicklungspotential allerdings fast ausschließlich von der Fähigkeit des Fürsten abhing, seine Ziele mit Hilfe der Policey durchzusetzen" 54. Der Fürst blieb Zentrum und einigendes Band des von ihm mehr und mehr vereinheitlichten frühneuzeitlichen Territorialstaats. 55 Die Verselbständigung der Herrschaft gegenüber seiner Person oder der Dynastie kam nur langsam voran. Selbst größere Fürstentümer wurden im 16. Jh. noch immer als eine Art privatrechtlicher Besitz aufgefaßt und als Familienerbe geteilt. Auch das Testament Landgraf Philipps zeigt einen im dynastischen Denken der Zeit verhafteten Fürsten, der die ursprünglich geplante Primogeniturregelung nicht durchzuhalten vermocht hatte und schließlich ein kompliziertes "Gegeneinander von familiären und territorialen Prinzipien" verordnete, wobei "das Land gleichermaßen als Domäne der Familie und als Staatswesen angesehen wurde" 56. Dagegen erwies sich mittelfristig - so paradox das klingen mag - die mit dem Augsburger Religionsfrieden auch offiziell in die Verfügungsgewalt der Reichsstände übergegangene bindende Konfessionsentscheidung für alle, nun tatsächlich mehr und mehr zu Untertanen werdenden Einwohner des Landes als ein überaus wichtiges Integrationsmittel. In Augsburg war das zwischen den mächtigen Fürsten und dem Kaiser herrschende Patt zum gültigen Reichsrecht erhoben worden. "Das unkonfessionelle Reichskirchenrecht schützte ... die konfessionelle Geschlossenheit der Territorien, deren Stärkung wiederum die politische Paritätsordnung im Reiche stützte und im Gleichgewicht hielt." Die Reichsstände erlangten mit dem Bekenntnisbann einen Hebel, um den Widerstand aller mediaten Gewalten endgültig zu brechen, die Staatstätigkeit zu intensivieren und auf immer 52 Gerhard Oestreich, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, in: ders. (FN 12), S. 179-197; vgl. Winjried Schulze, Gerhard Oestreichs Begriff ,Sozialdisziplinierung in der frühen Neuzeit': ZHF 14,1987, S. 265-301. 53 Willoweit (FN 10), S. 115. 54 Dipper (FN 1), S. 233. 55 Kurt Düljer, Fürst und Verwaltung. Grundzüge der hessischen Verfassungsgeschichte im 16.-19. Jh.: HessJbLG 3,1953, S. 150-223. 56 Volker Press, Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567 -1655), in: Heinemeyer (FN 30), S. 267 - 331, Zitat S. 268.

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neue Bereiche auszudehnen 57. Konfessionalisierung und forcierte Terri torialisierung bedingten sich gegenseitig. Doch auch dies ist nur die eine Seite des Augsburger Friedenswerkes, denn der als Landfrieden verkündete Kompromiß zwischen Katholiken und Protestanten, zwischen Kaiser und Reichsständen, zwischen Monarchie und Aristokratie, zwischen "spanischer Servitut" und "teutscher Libertät" nahm alle Reichsstände für den Erhalt dieser Ordnung weit stärker als je zuvor in die Pflicht. Das Reich verschwand nicht hinter den Territorialstaaten, sondern es wurde durch diese konstituiert, und sie waren - durchaus im eigenen Interesse - für dessen Wohlergehen verantwortlich. Der Kaiser akzeptierte, was er ohnehin nicht zu ändern vermochte und erkannte die Territorialisierung an: Er gewährte den Fürsten, nicht jedoch seiner eigentlichen Klientel, den mindermächtigen Ständen, hohe Appellationsprivilegien und nahm den Reichsgerichten damit praktisch jede Möglichkeit, in die inneren Angelegenheiten der großen Territorialstaaten prüfend und regelnd einzugreifen 58. Die Sicherung der in Augsburg gefundenen Balance besaß für viele evangelische wie katholische Fürsten absolute Priorität: Die konfessionelle und territorialpolitische Neutralität des Reiches und die Staatswerdung der Territorien hingen unmittelbar zusammen. Mit seinem pointierten Diktum: Man solle "das alte bruchfällige Reichsgebeu lieber stützen als vollends brechen" 59, formulierte Kurfürst J ohann Georg von Brandenburg eine unter den Fürsten weitverbreitete Meinung. Selbst in dem zwischen dem calvinistischen Marburger Professor Hermann Vultejus und seinem lutherischen Gießener Pendant Gott/ried Antonius erbittert geführten Streit um die Stellung des Kaisers wurde die prinzipielle Notwendigkeit des Reiches nie bestritten 60. Und dennoch begannen die Konfessionskonflikte, das Augsburger Balancesystem mit seinen Verrechtlichungstendenzen seit dem ausgehenden 16. Jh. mehr und mehr zu überlagern und schließlich die Reichsverfassung insgesamt zu blockieren. In der zwischenzeitlichen Friedensphase wurde das Territorialitätsprinzip jedoch zum unwiderruflichen Bestandteil der politischen Ordnung des Reiches. Es hat auch in Hessen die auf eine vollständige Trennung der Teilfürstentümer zielenden Kräfte gefördert. Die für Gesamthessen geplanten Land-, Polizei- und Rechtsordnungen kamen 1577, 1581 und 1591 nicht

Heckel (FN 4), S. 64 f., Zitat S. 64. Jürgen Weitzel, Der Kampf um die Appellation ans Reichskammergericht, 1976. 59 Zit. n. Ernst Walter Zeeden, Deutschland von der Mitte des 15. Jh. bis zum Westfälischen Frieden (1648), in: Theodor Schieder (Hrsg.), Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 3, S. 449-580, hier S. 550. 60 Vgl. auch Karl Otmar Frhr. v. Aretin / Notker Hammerstein, Art. Reich, Frühe Neuzeit, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, S. 456-486, hier S. 467. 57 58

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mehr zustande. Den Landgrafen gelang es jedoch, 1582 und 1583 in Verträgen mit Kurmainz und den Wetterauer Grafen die Interessen gegenseitig abzugrenzen und die neben dem Lehenswesen und dem Landtag weiter gemeinsamen Institutionen - Hofgericht, Universität, Samtarchiv und Zölle - im "Gemeinen Verlag" zusammenzufassen 61. Ansonsten festigten die Söhne Philipps ihre jeweils eigene Herrschaftsgewalt. Vor allem Landgraf Wilhelm IV. erwarb sich durch seine administrativen Neuerungen den Ruf einer vorzüglichen Landesverwaltung 62 • Seine Ordnungen wurden entsprechend oft kopiert und selbst von einigen Grafen übernommen. Zum lange vorhersehbaren Streit kam es 1604 nach dem kinderlosen Tod Landgraf Ludwigs in Marburg. Er hatte in seinem Testament das lutherische Bekenntnis für seinen Landesteil festgeschrieben 63. Der ebenfalls lutherische Ludwig V. von Hessen-Darmstadt beanspruchte deswegen das gesamte Erbe, denn in Kassel herrschte inzwischen das reformierte Bekenntnis. Doch obwohl er Kaiser und Reichshofrat einschaltete und auch ein Urteil zu seinen Gunsten erhielt, gelang es ihm und seinem Sohn Georg II. nicht, sich dauerhaft in Marburg festzusetzen 64. Auch in diesem, mit dem machtpolitischen Wechselspiel des Krieges eng verknüpften Fall ließ das auf die Konservierung der bestehenden Ordnung zielende Verfassungsgefüge des Reiches keine größeren Veränderungen mehr zu. Gleichwohl wird auch hier deutlich, daß sich dem Kaiser Einwirkungsmöglichkeiten immer dann eröffneten, wenn die Fürsten untereinander in Streit gerieten, wenn ihm also eine Schiedsrichterrolle zufiel. Die innerhessischen Ausgleichsverträge der Jahre 1648/49 stellten schließlich ein annäherndes Gleichgewicht zwischen der Kasseler und der Darmstädter Linie her. Zu souveränen Staaten im Sinne Bodins hat der Westfälische Frieden aber weder die beiden Landgrafschaften noch irgendeinen anderen Territorialstaat gemacht. Ein, wenn auch weiter reduziertes, dafür aber bald wieder entschieden genutztes kaiserliches Eingriffspotential bestand fort. 65 Das kompakter gewordene Reich - "ein Balancespiel der Mächte, kein Staat unter Staaten"66 - und die weiter gefestigten Demandt (FN 29), S. 239-242. Press (FN 56), S. 277 - 281; Reinhard Mußgnug, Der Haushaltsplan als Gesetz, 1976, S. 43-46. 63 Manfred Rudersdorf, Lutherische Erneuerung oder Zweite Reformation? Das Beispiel Württemberg und Hessen, in: Heinz Schilling (Hrsg.), Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland - Das Problem der "Zweiten Reformation", 1986, S. 130-154; ders., Ludwig IV. Landgraf von Hessen-Marburg 1537 -1604. Landesteilung und Luthertum in Hessen, 1991. 64 Vgl. Demandt (FN 29), S. 243-263. 65 Bernd Mathias Kremer, Der Westfälische Frieden in der Deutung der Aufklärung. Zur Entwicklung des Verfassungsverständnisses im Hl. Röm. Reich Deutscher Nation vom konfessionellen Zeitalter bis ins späte 18. Jh., 1989, S. 223 -239. 61 62

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Territorialstaaten befanden sich nicht in einem Konkurrenz-, sondern in einem Komplementärverhältnis. Noch im Zeitalter des Absolutismus konkretisierte sich die reichsfürstliche Herrschaft daher in vier Zonen unterschiedlich intensiver Einwirkungsmöglichkeiten, die sich wie konzentrische Ringe um das Herrschaftszentrum gruppierten. Den innersten Zirkel bildete das Kammergut, wo der Fürst alle Befugnisse in seiner Person vereinigte. Als zweite Zone folgten all jene Gebiete, in denen andere Herrschaftsträger einen Teil dieser Rechte besaßen. Hier konnte der Landesherr seine Vorstellungen im Konfliktfall nur unter Reibungsverlusten durchsetzen. Noch komplizierter gestaltete sich dieser Kampf zwischen den fürstlichen Unterordnungs- und den lokalen oder korporativen Autonomiebestrebungen im dritten Bereich, in den Rand- und Schütterzonen der Landesherrschaft, in Enklaven sowie in den noch nicht aufgelösten Kondominaten. Der Vereinheitlichung waren hier durch die im jeweiligen Einzelfall von Kaiser und Reichsgerichten konkretisierte Lehens- und Rechtsordnung des Reiches spürbare Grenzen gesetzt. Im Falle Hessens läßt sich beispielsweise zeigen, daß die vollständige Einordnung der Adelsgerichte zwischen Marburg und Gießen erst im 17. Jh. gelang und daß sich die Ganerbschaft Buseck noch im 18. Jh. gegen eine allzu umstandslose Unterwerfung wehrte. Auf Dauer konnten diese kleineren Gewalten dem Sog des hessischen Territorialstaats zwar nicht widerstehen, doch die Konfliktgeschichte ihrer Ein- und Unterordnung und das immer wieder zu beobachtende Eingreifen des Kaisers und der Reichsgerichte bleibt erstaunlich genug 67 • In der vierten Herrschaftszone, dem Hegemonialbereich, verfügte der Fürst lediglich über Lehens-, Zoll- oder Geleitsrechte sowie anderweitige rudimentäre Berechtigungen, die aber keinen wie auch immer gearteten obrigkeitlichen Anspruch legitimierten. Deswegen verliefen auch fast alle Versuche der Territorialherren erfolglos, das vorhandene Machtgefälle zur Unterwerfung der mindermächtigen Reichsstände "ihres" Raumes zu nutzen. Kaiser, Reichsgerichte, die Machtbalance unter den Hegemonialmächten und die petrifizierte Rechtsordnung des Reiches sicherten und stützten die kleineren Stände. Die landesfürstliche Obrigkeit - und dies ist ein wichtiges Kennzeichen der Reichsverfassung - endete an den gleichen oder an ähnlichen Rechten anderer reichsunmittelbarer Stände. Die im Zuge der frühneuzeitlichen Staatsbildungen im Reich immer dichter werdenden Grenzen drohten aber dennoch die kleinen selbständi66 Aretin / Hammerstein, (FN 60), S. 474. Zur reichsständischen Klientel der europäischen Großmächte im 18. Jh.: Karl Otmar Frhr. v. Aretin, Die Großmächte und das Klientelsystem im Reich am Ende des 18. Jh., in: Maczak (FN 49), S. 63-82. 67 Georg Schmidt, Agrarkonflikte und Territorialisierung, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 16 (1989), S. 39-56.

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gen Gewalten wirtschaftlich und politisch zu isolieren und damit auch zu ruinieren 68. Dem Grafen, dem Ritter oder dem Magistrat einer Reichsstadt blieb letztlich gar nichts anderes übrig, als sich den Bedingungen ihres Raumes zu stellen und darauf zu achten, daß ihre eigene Politik sich nicht zu weit von den Zielen und Vorstellungen des regionalen Hegemons entfernte. Alle mindermächtigen Stände gehörten zu einem der zunächst etwa ein Dutzend zählenden Klientelverbände des Reiches 69, die im 16. Jh. durch die Kompetenzzuweisungen an die Kreise reichsrechtlich legitimiert und zementiert worden waren. Die Selbständigkeit und Unabhängigkeit der mindermächtigen Reichsstände war und blieb daher stets eine relative. Mißlang die Koordination mit der regionalen Führungsmacht, besaß diese genügend Möglichkeiten, ihre Klientel zum Einlenken zu zwingen. Die Blockade einer Reichsstadt oder nur Beschränkungen im Handel ihrer Bürger, die Unterstützung opponierender Untertanen oder die konsequente Destabilisierung der Herrschaftssysteme der kleineren Reichsstände durch ständige Ein- und Übergriffe reichten völlig aus. Um nicht in einem Meer von Territorialstaatlichkeit zu ertrinken, blieb ihnen seit der zweiten Hälfte des 16. Jh. nichts anderes übrig, als ihre nichtterritorialen Herrschaftstechniken zu modifizieren und die fürstlichen "Staatsbildungen" nachzuahmen. IV.

Alle Versuche der Grafen, Ritter und Städte, die frühneuzeitliche Staatsbildung nachzuholen, verliefen aber stets nur bis zu einem gewissen Punkt erfolgreich, denn es gelang ihnen nicht, die fürstlichen Hegemonialbereiche zu sprengen. Das Territorialitätsprinzip der Reichsverfassung und die voranschreitende Konfessionalisierung zwangen allerdings auch die in der ersten Hälfte des 16. Jh. noch nicht auf territoriale Herrschaftstechniken setzenden Stände, ihre Gebiete möglichst eindeutig abzugrenzen und die Zwischengewalten zurückzudrängen 70. Daß dies nicht ohne Konflikte abging, versteht sich beinahe von selbst: Die zum hessischen Konstellationsraum gehörende Wetterauer Grafenregion steht daher als Beispiel für solchermaßen "verspätete" und nur bedingt erfolgreiche Staatsbildungsprozesse. 68 Vgl. ders., Die politische Bedeutung der kleineren Reichsstände im 16. Jh.: Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus 12 (1989), S. 185 - 206. 69 Press (FN 49); Peter Moraw, Landesgeschichte und Reichsgeschichte: JbWestdtLG 3 (1977), S. 175 -191. 70 Vgl. zum folgenden Georg Schmidt, Der Wetterauer Grafenverein. Organisation und Politik einer Reichskorporation zwischen Reformation und Westfälischem Frieden, 1989, besonders S. 193 ff.; auch Ernst Böhme, Das fränkische Reichsgrafenkollegium im 16. und 17. Jh. Untersuchungen zu den Möglichkeiten und Grenzen der korporativen Politik mindermächtiger Reichsstände, 1989.

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Zu Beginn der Neuzeit gab es hier noch wenige exakte Grenzen; das "graven lant" setzte sich aus Gebieten unterschiedlichster Herrschaftsberechtigung und -intensität zusammen und war darüber hinaus geprägt von zahllosen konkurrierenden und sich überlagernden Rechten, von Kondominaten und dem Gefühl des Hochadels, irgendwie gemeinsam für diese Region verantwortlich zu sein. Mit der frühneuzeitlichen Staatsbildung beanspruchten die benachbarten Fürsten jedoch immer häufiger alle herrschaftlich nicht eindeutig zugeordneten Bereiche. In der Wetterau und im Westerwald mißlang jedoch der großangelegte Versuch der hessischen Fürsten, nach Nidda, Ziegenhain, Katzeneinbogen und der Hälfte von Eppstein mit Solms, Waldeck und Sayn-Wittgenstein weitere Grafschaften zu vereinnahmen. Sie hatten sich noch 1509 an einer "hessischen Einungen" beteiligt und dabei die Formel "mitsampt ingeleipten grafschaften diß löblich fürstenthumbe zu Hessen" akzeptiert 71. Während sich die Solmser Grafen dann aber sehr schnell aus dieser bedrohlichen Liaison lösten, versprachen sich die beiden anderen, der hessischen Lehensherrschaft unterworfenen Grafenhäuser noch in der ersten Hälfte des 16. Jh. von einer möglichst engen Kooperation mit dem Landgrafen größere Vorteile als von der durch den Grafenverein symbolisierten, jedoch noch recht abstrakten Reichsstandschaft. Daß damit auf Dauer auch die Sicherung der eigenen Selbständigkeit verbunden war, mußte sich erst noch zeigen. Doch selbst die recht vage Beteiligung der Grafen von Waldeck und von Sayn-Wittgenstein an einigen Grafeneinungen erwies sich später als unschätzbarer Vorteil. Weniger der machtpolitisch nicht sonderlich effektive Rückhalt am Grafenverein selbst, als vielmehr der damit verbundene Status der Reichsstandschaft sollte es beiden Häusern schließlich doch noch ermöglichen, sich aus den Klauen des hessischen Löwen zu befreien. Die Gefahr einer hessischen Mediatisierung blieb aber bis zum Westfälischen Frieden für alle Grafen virulent: Zwar verringerte sich die Gefahr der Eingliederung ganzer Grafschaften mit der zunehmenden Verfestigung der politischen Ordnung des Reiches, doch das mächtige Fürstentum richtete seine Annexionspläne in der Wetterau und im Westerwald auf die Kondominate und auf die aus anderen Gründen umstrittenen Gebiete mithin auf die Rand- und Schütterzonen. Die Grafen mußten auf diesen drohenden Einbruch der Landesherrschaft in "ihre" Region reagieren und - wenn man so will - ihre anachronistische Herrschaft über Land und Leute modernisieren, sie in eine solche über alle Bewohner eines fest umgrenzten Gebietes umwandeln. Sie waren daher ebenfalls bemüht, "sich als Territorialherren zu profilieren" 72. Schmidt (FN 70), S. 30. Volker Press, Soziale Folgen der Refonnation in Deutschland, in: Marian Biskup / Klaus Zernack (Hrsg.), Schichtung und Entwicklung der Gesellschaft in Polen und Deutschland im 16. und 17. Jh., 1983, S. 196-243, Zitat S. 205. 71

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Die geringe Größe und die nicht immer eindeutig mögliche Abgrenzung der Herrschaft, die Geleits- und Zollrechte sowie die traditionelle, durch die Kreisverfassung zementierte Hegemonialstellung der benachbarten Fürsten, zudem die Lehensabhängigkeit, die mindere ständische Dignität und der zwar viele Ressourcen bindende, dennoch aber meist unzureichende Repräsentationsaufwand markierten eine für die kleineren Reichsstände nie zu überwindende Schwelle. Es war und ist der grundlegende Fehler einer zu schematisch verfahrenden Verfassungsgeschichte, daß sie versucht, ganz unterschiedliche Tatbestände wie den fürstlichen Territorialstaat und die Herrschaft eines Reichsritters über ein halbes Dorf einfach unter dem gemeinsamen Signum der Reichsunmittelbarkeit zu subsumieren. Fürsten und Ritter verband jedoch lediglich ihr gemeinsames Interesse an der Erhaltung der feudalen Gesellschaftsordnung, darüber hinaus wurden ihre Beziehungen vor allem durch Abhängigkeits-, Dienst- und Zuordnungsverhältnisse bestimmt. Um im territorialisierten Reich bestehen zu können, mußten Ritter wie Grafen das "Fehlende" bestmöglichst ersetzen oder dies doch wenigstens nach außen, also gegenüber den anderen Mitgliedern des Reichsverfassungssystems, vortäuschen. Mittel hierzu wurden die aus den alten Einungen hervorgegangenen sogenannten Reichskorporationen der mindermächtigen Stände. Mit diesem nicht den Quellen entlehnten Terminus soll ihre feste Verankerung im Reichsverfassungsgefüge hervorgehoben werden. Grafen und Prälaten waren korporativ im Fürstenrat, die Freien und Reichsstädte mit einer eigenen Kurie auf dem Reichstag vertreten. Die hoch privilegierten Reichsritterschaften qualifizierten sich durch ihre direkten Beziehungen zum Reichsoberhaupt und durch die Entrichtung der Caritativsubsidien. Insgesamt substituierten die Reichskorporationen die Kleinräumigkeit ihrer Mitglieder und ermöglichten ihnen eine den Territorialstaaten vergleichbare, übergreifende und einheitliche Regelung des Polizei-, Rechts-, Wirtschafts- und MÜllZwesens sowie die ausgesprochen kostspielige Präsenz in den ständischen Institutionen des Reiches. Hier konnten die Grafen, aber auch die Prälaten nur gemeinsam bestehen, selbst wenn sie größten Wert darauf legten, daß die Reichsstandschaft jedem einzelnen von ihnen zustehe. Dieser neue Status der Reichsunmittelbarkeit wurde im 16. Jh. zum eindeutigen Abgrenzungskriterium nach unten und sicherte zugleich vor den Mediatisierungsabsichten der Fürsten. Wer auf dem Reichstag vertreten war, genoß bald einen beinahe absoluten Schutz - auch dies verdeutlicht die gesteigerte Wirkungsmächtigkeit der Reichsverfassung. Die Grafen bildeten eine eigene Gruppe zwischen Fürsten und Rittern hinsichtlich des Konnubiums und der Ausgestaltung ihrer Herrschaft. Ihre Bindung an das Land glich derjenigen der Fürsten und unterschied sich

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wesentlich von den flexibleren Herrschaftstechniken der deswegen auch deutlich mobileren Ritter. Die Grafenvereine waren gegenüber dem einzelnen Mitglied auch nie in einer vergleichbar starken Position wie die Ritterkantone, die notfalls den Gehorsam erzwingen konnten. Zwar ermöglichten oft nur Absprachen auf der Ebene des Verbundes sinnvolle Regelungen, doch diese wurden von den einzelnen Grafen dann in ihrem jeweiligen Herrschaftsbereich verkündet. So demonstrierten auch sie ihre landesherrliche Kompetenz. Obrigkeitsrechte wurden daher weder auf die Korporation übertragen noch dort neu gebildet. Dennoch ermöglichte der Grafenverein seinen Mitgliedern in der zweiten Hälfte des 16. Jh. die unumgängliche herrschaftliche Intensivierung und Rationalisierung sowie die Ausdifferenzierung der einzelnen "Grafschaften" als festumrissene Herrschaftskomplexe. Die Reibungsverluste waren jedoch unübersehbar. Zahllose Konflikte mit den Untertanen und mit den noch nicht eingebundenen oder nicht einzubindenden Mediatgewalten boten den benachbarten Fürsten, den Reichsgerichten und nicht zuletzt dem Kaiser immer wieder Eingriffsund Einwirkungsmöglichkeiten. Ein Minimalkonsens mit den Untertanen blieb somit eine zentrale Bedingung ihrer Herrschaftsausübung, sollten nicht die Reichsgerichte und die kaiserlichen Kommissionen, d. h. die benachbarten Reichsstände, ständig die Rechtmäßigkeit ihrer Herrschaftsakte überprüfen. Die "verspätete" gräfliche Territorialisierung besaß allerdings in der Konfessionalisierung ebenfalls eine beträchtliche Stütze: Das einheitliche Bekenntnis wurde zum wichtigen Abgrenzungsmerkmal nach außen und zum Integrationsfaktor im Inneren 73 • Für die Ritter offenbarte sich der Unterschied zwischen der "selbständigen" Herrschaft als Vasall und der "abhängigen" als fürstlicher Amtmann in seiner vollen Tragweite überhaupt erst im Zuge der Territorialisierung 74 • Der nicht landsässige Niederadel war weder in den Reichstag noch in die Reichskreise, die beiden Foren des territorialisierten Reiches, eingebunden und damit kein Reichsstand. Seine "Zwitterstellung" zwischen Reich und Territorien nutzte König Ferdinand geschickt zur Formierung einer ihm und dem Haus Habsburg treu ergebenen Klientel, den späteren Reichsritterschaften. 75 Ihre Organisation in drei Ritterkreise ließ in Schwaben, 73 Vgl. Georg Schmidt, Die "Zweite Refonnation" im Gebiet des Wetterauer Grafenvereins. Die Einführung des reformierten Bekenntnisses im Spiegel der Modernisierung gräflicher Herrschaftssysteme, in: Heinz Schilling (Hrsg.), Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland - Das Problem der "Zweiten Refonnation" , 1986, S. 184-213; ders., Die Zweite Refonnation in den Reichsgrafschaften. Konfessionswechsel aus Glaubensüberzeugung und aus politischem Kalkül? in: Meinrad Schab (Hrsg.), Territorialstaat und Calvinismus, 1993, S. 197 -236. 74 Vgl. ders., Ulrich von Hutten, der Adel und das Reich um 1500, in: Johannes Schilling/Ernst Giese (Hrsg.), Ulrich von Hutten in seiner Zeit, 1988, S. 19-34. 75 Volker Press, Kaiser Kar! V., König Ferdinand und die Entstehung der Reichsritterschaft, 2. Auf!. 1980; Ders., Die Reichsritterschaft in der frühen Neuzeit: Nass. Annalen 87 (1976), S. 101-122.

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Franken und am Rhein neue "quasi-territoriale" Gebilde zwischen den Reichsständen entstehen. Viel stärker als die Grafenkorporationen mußten die Ritterkantone die mangelnde "Staatlichkeit" ihrer Mitglieder substituieren, doch sie bewältigten diese Aufgabe erstaunlich gut. War ihre Entstehung auch eine notwendige Konsequenz des Territorialitätsprinzips der Reichsverfassung, so bildeten sie doch als vom Reichsoberhaupt initiierte, privilegierte und geschützte Corpora ein kleines Gegengewicht zu den fürstlichen Landesstaaten und hielten ihrem Protektor und Patron Einwirkungsmöglichkeiten in diesen alten Zentrallandschaften des Reiches offen 76. Etwas außerhalb dieser Herrschaftsverfassung des Reiches standen die Freien und Reichsstädte. Sie hatten sich schon um 1470 in einem eigenen korporativen Verbund organisiert und damit die vom Territorialitätsprinzip ausgehenden Zwänge in gewisser Weise antizipiert 77 . Ihre Reichsstandschaft blieb zwar unstrittig, ihr Einfluß auf den Reichstagen aber trotz des ihnen 1648 zugestandenen votum decisivum 78 sehr gering. Den selbständigen Kommunen war es nur in Ausnahmefällen - hinzuweisen wäre vor allem auf Nürnberg, UIm, Rottweil und Rothenburg - gelungen, eigene kleine Territorialherrschaften aufzubauen. Wie alle mindermächtigen Reichsstände profitierten auch sie - nicht jedoch die in der Hanse organisierten, nominell einem fürstlichen Stadtherrn unterstehenden Kommunen - von der um 1500 eintretenden Verfestigung der Verfassungsordnung, die fortan von Kaiser und Reich gemeinsam garantiert wurde. Erst das Rechts-, Exekutions- und Verteidigungssystem des Reiches ermöglichte die relativ selbständige Existenz der meisten Reichsstände, denn es entlastete von "staatlichen" Aufgaben, die sie nicht nur wegen der damit verbundenen hohen Kosten auf keinen Fall wahrnehmen konnten. Reichsständische Staatlichkeit definierte sich auch noch nach 1648 als möglichst selbständige und unabhängige Herrschaft unter dem Schutz und neben der Staatlichkeit eines Reichsverbandes, dessen "immerwährende Gesetze" zugleich "eine Bastion" gegen jegliche Art von "Staatsallmacht sein konnten" 79. 76 Die Diskussion des reichsritterschaftlichen Staatsrechts innerhalb der Reichspublizistik bei Dietmar Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt. Landesobrigkeit, Herrschaftsrechte und Territorium in der Rechtswissenschaft der Neuzeit, 1975, S. 307 -338. 77 Georg Schmidt, Der Städtetag in der Reichsverfassung. Eine Untersuchung zur korporativen Politik der Freien und Reichsstädte in der ersten Hälfte des 16. Jh., 1984; Hans-Wollgang Bergerhausen, Die Stadt Köln und die Reichsversammlungen im konfessionellen Zeitalter. Ein Beitrag zur korporativen reichsständischen Politik 1555 -1616, 1990. 78 Eberhard Isenmann, Zur Frage der Reichsstandschaft der Frei- und Reichsstädte, in: FS Naujoks, 1980, S. 91-110. 79 Kremer (FN 65), S. 52.

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v. Daß das "ius territoriale" des Friedensvertrages, ob als Landeshoheit, Landesobrigkeit, Territorialherrschaft oder - in der offensichtlich bewußt falschen französischen Übertragung - als "Souverainete" verstanden 80, nicht alle Ausprägungen selbständiger Herrschaft im Reich abdecken konnte, sollte nach den bisherigen Ausführungen deutlich geworden sein. Dem trägt der Artikel VIII § 1 IPO auch insofern Rechnung, als er lediglich den Status quo ante bellum festschreibt 81. Er ist eindeutig eine Reaktion auf die verfassungsrechtliche Krisensituation des langen Krieges. Territoriale Veränderungen wurden verboten - eine sicherlich notwendige Rückkehr zur Normalität, keine "neue Ordnung". Das "ius territoriale", diese neue, von der Staatsrechtslehre erst zu Beginn des 17. Jh. eingeführte Kategorie, die die entstandene landesfürstliche Obrigkeit mehr zusammenfassend beschreibt, als sie juristisch abzuleiten oder zu begründen 82, steht im Friedensvertrag nicht für sich alleine, sondern mitten in einer Aufzählung von Dingen, deren Besitz den Kurfürsten, Fürsten und Ständen des Römischen Reiches nun derart bestätigt wird, daß sie künftig von niemandem darin beeinträchtigt werden dürfen. Im einzelnen sind dies zunächst die alten Rechte, Prärogativen, Freiheiten, Privilegien - also die traditionellen Merkmale ständischer Hervorhebung - und erst dann die freie Ausübung der Landeshoheit in geistlichen und weltlichen Angelegenheiten. Damit ist die Aufzählung jedoch keineswegs beendet. Es folgen noch die "ditiones", ein mittelalterlich anmutender Begriff, der als Botmäßigkeiten oder vielleicht auch als Herrschaftsrechte zu verstehen ist, und schließlich die Regalien. Wenn dies alles ohnehin vom "ius territoriale" oder vom "ius territorii et superioritatis" 83 abgedeckt wurde, wieso führte man es hier noch einmal auf? Oder gehörte diese Landeshoheit, der auch der Kaiser auf den ersten Blick erstaunlich schnell zugestimmt hatte 84, inzwischen schlichtweg zum Kanon, der die ständische Libertät konkretisierenden Bestimmungen und wurde deswegen hier ohne größere Bedenken aufgenommen 85? 80 Vgl. Quaritsch (FN 15), S. 82 ff.

81 Konrad Müller (Hrsg.), Instrumenta Pacis Westphalicae, 1949; Arno Buschmann (Hg.), Kaiser und Reich. Klassische Texte und Dokumente zur Verfassungsgeschichte des Hl. Römischen Reiches Deutscher Nation, 1984, S. 285-402. 82 Willoweit (FN 76), S. 123 -132. 83 IPO Art. V § 30. 84 Fritz Dickmann, Der Westfälische Frieden, 2. Aufl. 1964, S. 326 ff.; Karsten Ruppen, Die kaiserliche Politik auf dem Westfälischen Friedenskongreß (16431648), 1979, S. 113 ff. 85 Nach Böckenförde tritt Landeshoheit "als neuer, übergreifender Begriff zu den überkommenen abgegrenzten Herrschaftspositionen und -rechten hinzu ... " Bökkenjörde (FN 3), S. 457.

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Die selbständige Herrschaft von Rittern und Kommunen war damit ohnehin nicht gemeint, denn Art. IV § 17 IPO garantiert ausdrücklich und ausschließlich den Bestand der Reichsritterschaft, und Art. VIII § 4 definiert, was für die Freien und Reichsstädte die Landeshoheit ausmachen sollte. Beide besaßen also das "ius territoriale" nicht von vornherein und nicht in gleicher Weise wie die Fürsten. Ihnen mußten Selbständigkeit und Herrschaftsrechte noch einmal eigens zugesichert werden. Die Absicht einer zusätzlichen Garantie für die Schwachen und Mindermächtigen läßt sich im Kontext der Erfahrungen des vorangegangenen Jahrhunderts auch aus dem berühmten § 2 des Art. VIII überzeugender herauslesen, als alle Versuche, die Masse der Reichsstände zu Völkerrechtssubjekten und zu potentiellen Bündnispartnern der europäischen Mächte zu machen. Man muß den Text ernst nehmen, der den Reichsständen ein Bündnisrecht unter sich und mit Auswärtigen zu ihrem eigenen Schutz und ihrer Sicherheit einräumt ("pro sua cuiusque conservatione et securitate"), aber ausdrücklich alle Bündnisse verbietet, die gegen den "Kaiser und Reich" geleisteten Treueeid sowie den Landfrieden oder den Westfälischen Frieden verstoßen. Dieser Vorbehalt erscheint dementsprechend nicht, als Basel und den anderen Orten der Eidgenossenschaft die völlige Freiheit und Exemtion vom Reich garantiert wird ("in possessione vel quasi plenae libertatis et exemptionis ab Imperio")86. Selbst in diesem Fall umgeht der lateinische Text den Souveränitätsbegriff, obwohl der eidgenössische Gesandte sich schon 1647 auf den "freyen, souverainen stand" der Eidgenossen vor allem gegenüber dem Reichstag berufen hatte. 87 "Souveranitet" oder "souveranitas" hatten sich als staats- und völkerrechtlich eindeutig definierte Termini in den offiziellen, lateinisch oder deutsch abgefaßten Urkunden mit Blick auf das Reich um die Mitte des 17. Jh. ganz offensichtlich noch nicht durchgesetzt oder genauer gesagt: Sie wurden bewußt vermieden - dies belegt sogar die kaiserliche Ratifikation des spanisch-niederländischen Friedensvertrages. Der spanische König hatte den tatsächlichen Verhältnissen Rechnung getragen und die Generalstaaten im französischen Originaltext als "libres et souverains Etats" bezeichnet 88 . In der Ratifikationsurkunde Kaiser Ferdinand III., die diesen Text in lateinischer Übersetzung aufgreift, werden sie jedoch bezeichnenderweise zu "liberos et supremos ordines" 89. Obwohl 86 IPO Art. 6. 87 Zit. n. Klippel (FN 16), S. 120. 88 Zit. n. Klippel (FN 16), S. 116.

89 Josej Karl Mayr (Bearb.), Urkunden und Aktenstücke des Reichsarchivs Wien zur reichsrechtlichen Stellung des Burgundischen Kreises, Bd. 3, 1944, S. 8.

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damit nichts anderes als die staatliche Souveränität gemeint war, vermied der Kaiser doch diese im Reichsstaatsrecht bisher ungebräuchliche Kategorie. Dagegen waren die deputierten kaiserlichen Räte im Mai 1648 in einem Gutachten, in dem sie dem Kaiser sogar eine Konföderation mit den Niederlanden nahelegten, von deren "souveräner" Staatlichkeit ausgegangen. Allerdings verschwiegen sie - angesichts der fortbestehenden Rechte des Reiches und des Hauses Habsburg - die mit einem Bündnis verbundenen Probleme keineswegs, doch sie bestätigten ausdrücklich die Möglichkeit eines "aequale foedus ... auch inter inaequales status et personas, wangleich einer dem andern an Stand und Wesen überlegen ist, wan nur beide Teile soverani sein ... " Sie befürchteten aber, daß die Generalstaaten viele Reichsstände an sich ziehen und versuchen könnten, diese "sub specie maioris libertatis et securitatis gleichfalls soverein zue machen" 90. Der Souveränitätsbegriff bleibt somit auch in den internen Schriftstükken des kaiserlichen Hofes der Kennzeichnung einer selbständigen und vom Reich unabhängigen Staatlichkeit vorbehalten. Er ist ungebräuchlich für die Mitglieder des Reichsverbandes, wobei die Gefahr eines Ausscheidens weiterer Reichsstände durchaus gesehen wird. Dagegen hatte der Kaiser wie Karsten Ruppert ausführt - auf die schwedische und französische Forderung, den Reichsständen ein Bündnisrecht mit auswärtigen Mächten zuzugestehen, ausgesprochen "gelassen" reagiert. Selbst nach dem Gutachten des Reichshofrats vom Juli 1645 entsprachen Bündnisse mit auswärtigen Mächten dem Reichsherkommen: In diesem Fall stellte sich daher gar nicht das Problem eines Ausbrechens aus dem Reichsverband und damit der "Souveränität" für einzelne Reichsstände. Da es kaum möglich schien, den Ständen dieses Bündnisrecht wieder zu entziehen, kam es darauf an, eine Vorbehaltsklausel einzufügen, die dem Kaiser einen möglichst großen Interpretationsspielraum beließ. Zwar ist es nicht gelungen, aus dem Treuevorbehalt ein kaiserliches Recht zur Prüfung aller Bündnisverträge abzuleiten, doch das Entgegenkommen Ferdinands IH. führte dazu, daß die Reichsstände in den Verfassungsfragen seine Vorstellungen akzeptierten und viele der weitergehenden Vorschläge Schwedens und Frankreichs zurückwiesen 91. Hier wurde dann ganz deutlich, daß die Mehrheit der Stände keineswegs wünschte, "sich allen Pflichten gegen das Reich, allem Gehorsam gegen den Kaiser zu entziehen ... " 92. Letztlich setzte der Westfälische Frieden das ohnehin rein theoretische spätmittelalterliche Einungsverbot, das der Kaiser im Prager Frieden noch einmal zu bekräftigen versucht hatte, offiziell außer Kraft und legitimierte 90 91 92

Vgl. ebd., S. 12 - 20, Zitate S. 17 und S. 13. Ruppert (FN 84), S. 113 ff. Dickmann (FN 3), S. 28.

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so unter anderem den Fortbestand der Reichskorporationen und damit der relativen Autonomie der mindermächtigen Reichsstände. Die nun erlaubte Verbindung mit auswärtigen Mächten gab ihnen eine zusätzliche Möglichkeit, sich vor den Mediatisierungsabsichten der Großen zu schützen. Das Bündnisrecht diente somit fraglos der Erhaltung und der Festigung des territorialen Status quo. 93 In diese Richtung weist im übrigen auch der erste Teil dieses § 2 Art. VIII IPO, in dem das Stimmrecht aller Reichsstände auf dem Reichstag bei der Verabschiedung von Gesetzen und Steuern sowie bei Beschlüssen zu Krieg und Frieden ebenso festgeschrieben wird wie das dennoch nie Realität gewordene "votum decisivum" der Freien und Reichsstädte. Dieser Kontext, das Reichsherkommen, die schnelle Zustimmung des Kaisers und auch die Wirkungsgeschichte lassen nur den Befund zu, daß das Bündnisrecht weder dazu geplant war noch dazu diente, das Herauswachsen der Territorialstaaten aus dem Reichsverband zu ermöglichen. Wer - außer Frankreich - hätte daran auch interessiert sein können? Den auf dem Friedenskongreß präsenten Reichsständen lag ganz offensichtlich nichts ferner, als auf eine Auflösung des Reichsverbandes hinzuarbeiten. Sie wollten lediglich die 1629 und 1635 denkbar gewordene Möglichkeit eines kaiserlichen Reichsabsolutismus ein für allemal zunichte machen. 94 Doch sie dachten und handelten nach wie vor in den Kategorien und Zusammenhängen des Reichsverfassungssystems, das in Osnabrück und Münster eine Bestandsgarantie erhielt. Diese Festschreibung des Status quo bedeutete sicherlich auch eine Optimierung der Landesherrschaft: der Weg in den territorialstaatlichen Absolutismus ist mit dieser "Magna Charta der deutschen Landesfürsten" 95 erheblich beschleunigt, nicht jedoch initiiert oder ermöglicht worden. Doch der Friedensvertrag setzte allen weitergehenden Entwicklungstendenzen ein abruptes Ende und band selbst die künftig absolutistisch regierenden Landesherren in das sozial konservativ wirkende Rechtssystem des Reiches ein. Dies führte beispielsweise dazu, daß die Verrechtlichung aller Streitigkeiten, ein zentraler Zug der frühneuzeitlichen Reichsverfassung, zu einer Art Bestandsgarantie 93 Ähnlich hat zuletzt Burkhardt argumentiert, wenn er für die Zeit nach 1648 betont, "daß das bündische Prinzip, das einseitig als Merkmal einzelstaatlicher Souveränität in Anspruch genommen worden ist, die korporative Reichsverfassung keineswegs aufgekündigt, sondern sogar gestützt hat." Johannes Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg, 1992, S. 107. Vgl. auch Anton Schindling, Die Anfänge des Immerwährenden Reichstags zu Regensburg. Ständevertretung und Staatskunst nach dem Westfälischen Frieden, 1991, S. 32 f. 94 Vgl. Adam Wamdruszka, Reichspatriotismus und Reichspolitik zur Zeit des Prager Friedens von 1635, 1955; Burkhardt (FN 93), S. 96 - 99. 95 Volker Press, Denn der Adel bildet die Grundlage und die Säulen des Staates. Adel im Reich 1650-1750, in: Evelin Oberhammer (Hrsg.), Der ganzen Welt ein Lob und Spiegel, 1990, S. 11-32, Zitat S. 11.

Der Westfälische Frieden - eine neue Ordnung für das Alte Reich?

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nicht nur für die kleineren Reichsstände, sondern oft sogar auch für die Landstände und Landschaften wurde. Der Friedensvertrag blockierte das dynamische Spiel der politischen Kräfte: Die petrifizierte Reichsverfassung überantwortete die Konflikte dem auf Konservierung der bestehenden Zustände bedachten Rechtssystem. Da die Grafen, Prälaten, Ritter und Städte nun weder von den Hegemonialmächten vereinnahmt, noch zu deren gleichberechtigten Partnern werden konnten, blieb alles mehr oder weniger beim Alten. Die eingespielten Verhältnisse, d. h. Schutz und Schirm, aber auch Kontrolle durch Kaiser und Reich, bestanden nach dem Westfälischen Frieden fort. Wo keine entsprechenden Appellationsprivilegien vorhanden waren, also in den kleineren, meist stände- und landschaftslosen Herrschaften, überwachten die Reichsgerichte auch nach 1648 die Rechtmäßigkeit und die Sozialverträglichkeit der von Grafen, Rittern, Prälaten und städtischen Obrigkeiten gesetzten Normen. Hier ersetzte die Reichsjustiz die Kontrolle, die in den größeren Territorien die Landstände ausübten. All dies hatte sich bereits vor dem Dreißigjährigen Krieg eingependelt und all dies ließ der Westfälische Frieden unangetastet. 96 Er machte das Reich keineswegs überflüssig, sondern garantierte dessen Fortbestand in seiner bisherigen bewährten Form. Er blockierte allerdings dessen Staatswerdung oder die Umwandlung in ein monarchisches System 97 - eine Reaktion auf das während des Krieges lange Zeit drohende Übergewicht des Kaisers. Das Vertragswerk beinhaltete insofern doch einen "Aufbruch zu neuen Ufern": Es beraubte den Reichsverband fast jeglicher Entwicklungsmöglichkeit und machte ihn reformunfähig. Dies und nicht etwa, daß die "monströse" Reichsverfassung viele und gravierende Unzulänglichkeiten enthielt, war der entscheidende Punkt, denn die zeitlos ideale Verfassungsordnung gibt es ohnehin nicht. Das unspektakuläre Ende des Alten Reiches, das den Schlägen der Armeen Napoleons und dessen Veränderungswillen beinahe wehrlos erlag, darf daher nicht zum alleinigen Beurteilungsmaßstab werden. In ihrem - erst in jüngster Zeit vorsichtig revidierten - Verdikt über das Alte Reich hat sich die historische Forschung zu lange von den Kriterien der um die Souveränität ihrer Landesstaaten bemühten oder um die Größe Deutschlands besorgten Politiker und deren Propagandisten im 18. und 19. Jh. leiten lassen. Die staatliche bzw. - für die Zeit nach 1800 - nationalstaatliche Entwicklungslinie geriet so scheinbar alternativlos zur Einbahnstraße des "Fortschritts" oder der "Modernität". 96 Die Kontinuität der Reichsverfassung nach 1648 wird auch hervorgehoben bei Schindling (FN 93) bes. S. 46-49. 97 Willoweit (FN 10), S. 138.

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Georg Schmidt

Verläßt man jedoch die Ebene des politischen Systems und fragt nach den sozialen, wirtschaftlichen oder kulturellen Zuständen, Leistungen und Errungenschaften, die durch oder innerhalb dieser angeblich überkommenen Ordnung ermöglicht wurden, so scheint die Bilanz kaum ungünstiger auszufallen als für viele andere europäische Staaten. Ginge man noch einen Schritt weiter und ließe den gemeinen Mann in Stadt und Land selbst zu Wort kommen, so wäre die Verblüffung wohl noch größer, das Verdikt noch stärker relativiert. Dies alles kann beim derzeitigen Forschungsstand nicht viel mehr als eine hypothetische Vermutung sein 98. Obwohl sich die diesbezüglichen Einstellungen und Einschätzungen von Untertanen und Bürgern nicht mit der eigentlich erforderlichen Validität ermitteln lassen werden und obwohl es sicherlich auch keineswegs gleichgültig ist, ob der Betreffende im Gebiet der Gutsherrschaft des preußischen Königs oder unter einem geistlichen Herrn, ob er in Bayern, in einer Reichsstadt oder in den kleinräumigen Zentralgebieten des Alten Reiches lebte, geben doch alle derzeit objektivierbaren Kriterien von den Petitionen bis zur Anzahl und Heftigkeit der Revolten keinerlei Hinweise, daß die Unzufriedenheit mit dem politischen System im Reich größer gewesen wäre als anderswo. Wenn überhaupt, dann ließe sich viel eher das Gegenteil vermuten 99 • Dieser Perspektivenwechsel unter Einbeziehung der Wahrnehmungs- und Erfahrungsgeschichte kann und soll hier nicht weiter ausgeführt werden. Er scheint jedoch lohnend und könnte viele tradierte Ansichten und Vermutungen über die Zustände und die Lebensbedingungen im Deutschland vor 1800 in Frage stellen. Die Kritik am und das Bild von der Agonie des Alten Reiches gehen jedenfalls nur zu einem geringen Teil auf die Einschätzungen der Zeitgenossen zurück. Beides basiert vor allem auf den durchaus gegenwartsbezogenen Zielsetzungen der aus Sorge um die nationale Größe und den deutschen Staat argumentierenden HIstoriker des 19. Jh., die retrospektiv das Alte Reich für den fehlenden Nationalstaat verantwortlich machten. Für sie war der Westfälische Friede zwangsläufig eine negative Wendemarke in der deutschen Geschichte, weil er die Umwandlung des Reiches in einen Staat unmöglich gemacht hatte. Tatsächlich wurde in Osnabrück und Münster jedoch lediglich in einer Art defensiver Systemerhaltung versucht, die Reichsordnung zu retten - und zwar so, wie sie sich im 16. Jh. herausgebildet und letztlich auch bewährt hatte.

98 Vgl. vorerst Peter Hersehe, Intendierte Rückständigkeit: Zur Charakteristik des Geistlichen Staates im Alten Reich, in: Schmidt (FN 13), S. 133 -149. 99 Dazu vorerst Georg Sehmidt, Die frühneuzeitlichen Hungerrevolten: ZHF 17 (1991), S. 257 -280.

Aussprache Wolf: Herr Schmidt, Sie haben von dem berühmten "Flickenteppich " gesprochen, den viele historische Karten sehr eindrucksvoll zeigen. Dieser "Flickenteppich" ist eine historische Projektion. Er erschien erstmals in Putzgers Historischem Schul-Atlas von 1877. Dort illustrierte er das Geschichtsbild des wilhelminischen Reiches. Man wollte das Reich als "Flikkenteppich" darstellen, damit seine Kleinstaaterei als etwas Schreckliches ins Auge springt. Das steht so auch seit 1900 in den Vorworten zum Putzger: Jedes Kind sollte "durch einen Blick" die "deutsche Kleinstaaterei" und "territoriale Zerrissenheit" erkennen, offenbar um die Einigung Deutschlands durch Preußen besser verinnerlichen zu können. Noch in Geschichtsatlanten aus der ersten Hälfte des 19. Jh. wurde das Reich auf einer Landkarte zum Dreißigjährigen Krieg ganz anders gezeichnet, nämlich in fünf nach kirchenrechtlichen Gesichtspunkten verteilten Farben, die es in katholische geistliche Länder, katholische weltliche Länder, protestantische Länder, säkularisierte geistliche Länder und paritätische Länder gliederten. Noch interessanter wird es, wenn wir auf die zeitgenössischen Atlanten zurückgehen. Dort finden wir nichts von einem "Flickenteppich". Wenn sie eine Landkarte des Reiches enthalten, so zeigen die Atlanten des 17. und 18. Jh. das Reich in aller Regel in der Einteilung der Reichskreise. Wenn es einen "Flickenteppich" gab, dann erst eine stufe tiefer bei den Spezialkarten zu den Reichskreisen. Man erkennt dann aber auch, daß von den zehn Reichskreisen nur fünf "Flickenteppiche" waren. Das sind Franken, Schwaben, Niederrhein, Westfalen und Niedersachsen. Die anderen fünf sind zwei kaiserliche und daher einfarbige (Österreich und Burgund), und drei kurfürstliche, die so wenig zersplittert waren, daß zwei oder drei Farben ausreichen. Ich unterstütze daher sehr, was Sie zur Bedeutung der Reichskreise gesagt haben. Aber wollten Sie an dem Bild vom "Flickenteppich" festhalten oder sich von ihm distanzieren? Schmidt: Der "Flickenteppich" ist der Intention nach zeitgenössisch und entspricht keineswegs meiner Sicht der Dinge. Es sollte damit lediglich eine Forschungsposition markiert werden, die in dieser thesenhaften Form sicherlich zu verkürzt wiedergegeben wird. Aber dazu sind Thesen auch da, daß man erst ein Raster entwickelt, an dem man die eigene Position dann abarbeiten kann. Der "Flickenteppich" spielt jedenfalls bereits im Vorfeld der napoleonischen Flurbereinigung eine Rolle: Es ist vom "Flickenteppich" des Alten Reichs die Rede - natürlich bei den Befürwortern des Rheinbundes.

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Mohnhaupt: Herr Schmidt, Sie hatten das Reich qualifiziert als einen Verband und - sehr treffend - als ein Gehäuse für Eigenstaatlichkeit. Sie haben dafür u. a. als rechtliche Institutionen die Einungen, Bünde, KOl'POrationen benannt. Ich möchte diese Beurteilung mit einer Parallelbeobachtung unterstreichen, die aus der Begriffsgeschichte kommt. Die Begriffsgeschichte zeigt nämlich, daß der Begriff "Verfassung" zunächst nicht für den Gesamtverband des Reichs, sondern zunächst und vor allem innerhalb des Reichs für die kleinen Organisationseinheiten wie Bünde und Kreise zur Anwendung kommt. Dieser Entwicklungsprozeß beginnt etwa um 1530 und läßt sich bis ungefähr 1650 verfolgen. Eine zweite Bemerkung betrifft die Frage des Bündnisrechts, wie es 1648 im "Instrumentum Pa cis Osnabrugense" festgelegt ist. Man kann dieses Bündnisrecht zwar als ein " Herkommen " bezeichnen, als eine im rechtlichen Sinne unzweifelhaft bereits vorhandene und praktizierte "consuetudo" oder einen "usus", der im IPO grundsätzlich nichts Neues brachte. Aber dieses schon gewohnheitsrechtlich bestehende Bündnisrecht hat im IPO auch im rechtlichen Sinne eine völlig neue Qualität erlangt, indem dieses " Herkommen " nun in eine schriftliche Fonn übergeleitet worden ist. Das machte das Bündnisrecht hinfort unbestreitbar und verlieh dem "Herkommen" innerhalb der Hierarchie der Rechtsquellen den höchsten Rang einer "lex fundamentalis", als welche der Westfälische Friedensschluß immer galt. Daran änderte auch die traditionelle Begrenzung des Bündnisrechts nichts, daß seine Ausübung nicht gegen Kaiser und Reich, den Landfrieden und entsprechende Reichsstatuten bzw. Reichsgesetze gerichtet sein durfte, um ein Herauswachsen der Reichstände aus dem Reich zu blockieren. Das entsprach in der Tat den alten Rechtsgrundsätzen, wie sie auch in den Wahlkapitulationen - bis zu den letzten - immer wieder festgeschrieben wurden. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach dem Einfluß, den die beteiligten auswärtigen Mächte in Bezug auf das Bündnisrecht innerhalb des Westfälischen Friedensschlusses gehabt haben. Ist damit nicht auch zugleich in Bezug auf das bisher nur als " Herkommen " qualifizierbare Bündnisrecht ein zusätzlicher außenpolitischer Faktor mit ins Spiel gebracht worden, der die reichsinterne Organisation und Verfassung betraf, nämlich die Balance zwischen Kaiser und Ständen? Über den Einfluß und die Teilnahme der ausländischen Mächte an diesem Friedensschluß kommt somit sicherlich auch ein unterschiedlich rechtlich zu gewichtender außenpolitischer Aspekt in den Blick, der Beachtung verdient.

Schmidt: Herr Mohnhaupt, den ersten Teil Ihrer Ausführungen verstehe ich als Anregung und Zustimmung. Was Sie zum Bündnisrecht gesagt haben, bleibt eine Frage der Gewichtung. Wird wirklich dadurch eine neue

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Qualität erreicht, daß man eine schon zuvor gängige Verhaltensweise schriftlich anerkennt? Die Aufnahme des Bündnisrechts in den Westfälischen Friedens bedeutete - da gebe ich Ihnen recht - eine Verstärkung und eine zusätzliche Legitimations; von nun an konnte sich jeder auf den betreffenden Artikel berufen. Doch den von Schweden und Frankreich gewünschten Automatismus, daß bei einem Verstoß des Kaisers gegen die Bestimmungen des Friedens die Reichsstände von sich aus zusammen mit den Garantiernächten gegen ihn vorgehen müssen, haben die Stände verhindert. Von daher ist das Bündnisrecht eben nicht gegen den Kaiser gerichtet, sondern bleibt als eine allgemeine Norm eher vage. Führt man sich die Wirkungsgeschichte vor Augen, so gerät vor allem der erste Rheinbund ins Blickfeld. Wir wissen aber, wie dieses Experiment endete. Auch die Tatsache, daß der Kaiser zwar den Treuevorbehalt einfügen ließ, ansonsten das Bündnisrecht aber sehr schnell akzeptierte, sollte uns veranlassen, das Ganze ein bißchen niedriger zu hängen. Ich sehe jedenfalls im Bündnisrecht nicht den Sprung nach vorne zu etwas völlig Neuern. Zur Diskussion um die Reichsreform möchte ich noch etwas zum "Nationalgefühl" anfügen. Das klang so, als sei bereits um 1500 die Rede von Deutschland. Da wäre ich vorsichtig. Die gleiche Diskussion wird auch noch im späten 18. Jh. geführt. Mit einem Begriff wie "Nationalgefühl" kommt man aber sehr schnell in unheimliche Begründungszwänge. Das beginnt im 16. Jh. mit den Niederlanden und den Eidgenossen. Aber man hat auch große Schwierigkeiten, den Bereich der Hansestädte, den nördlichen Teil des Reiches also, hier zu verorten. Das Ganze ist sehr kompliziert und bleibt lange offen. Wenn von der deutschen Nation die Rede ist, wird der Begriff meist in einem sehr mittelalterlichen Sinn gebraucht. Ich kenne jedenfalls keine eindeutigen Quellenbelege, die es erlauben würden, ein entstehendes Deutschland schon im 16. Jh. zu sehen.

Schindling: Aus meiner Sicht und vor allem aus meiner Beschäftigung mit dem Reichstag kann ich eigentlich alles nur unterschreiben, was Herr Schmidt vorgetragen hat. Die Frage des Bündnisrechtes würde auch ich sehr viel niedriger hängen, als das in der älteren Geschichtsschreibung manchmal geschehen ist. Vor allem aber ist die sog. Souveränität der Reichsstände von 1648 eine Legende. Die Reichsstände waren vor 1806 keineswegs souverän. Man muß stets im Auge behalten, daß das Reich 1806 von den Rheinbundstaaten gesprengt worden ist, indem diese sich unter dem Vorangehen Bayerns für souverän erklärten. Wären die Reichsstände schon 1648 für souverän erklärt worden, so wäre all das Aufheben, das um die Reichsauflösung von 1806 gemacht wird, unsinnig. Daß 1648 nichts dergleichen geschehen war, wußte man in den Kurfürstenresidenzen nur zu genau. Deshalb betrachtete man dort die Souveränität von Napoleons Gnaden, die der Zweite Rheinbund von 1806 mit sich brachte, als eine so

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große Errungenschaft. Deshalb war es für Bayern 1806 auch so wichtig, das Reich zu sprengen. Daraus folgt, daß Bayern zuvor nicht souverän war. Das gilt für die anderen Kurfürstentümer ebenso. Herr Schmidt hat völlig richtig gesagt, daß nur Preußen souverän war. Preußen war freilich nur souverän wegen seines außerreichischen Territoriums. Von Ostpreußen kam die Souveränität des Königtums Preußen in das Reich und hat gewissermaßen die Mark Brandenburg und die anderen preußischen Territorien überlagert. Übrigens gilt dasselbe für die Habsburger. Die Habsburger haben, wenn es um Souveränitätsfragen ging, gerne die Königswürden von Böhmen und vor allem von Ungarn ins Spiel gebracht. Sie waren eben nicht als Erzherzöge von Österreich souverän, auch wenn der Erzherzog von Österreich hochprivilegiert war. Selbst der König von Böhmen war eigentlich nicht souverän. Aber der König von Ungarn war es. Maria Theresia trat in der Zeit des nichthabsburgischen Kaisertums zwischen 1740 und 1745 daher vor allem als Königin von Ungarn auf. Als Königin von Ungarn und Böhmen konnte Maria Theresia mit den europäischen Souveränen auf einer Ebene verhandeln; als Erzherzogin von Österreich nicht. Die Reichsstände sind also ganz eindeutig nicht souverän. Das gilt für den Kurfürsten von Brandenburg genauso wie für den Erzherzog von Österreich. Es sind außerreichische Würden: Preußen, Ungarn, eingeschränkt auch Böhmen, die einzelne Reichsstände zu Souveränen machen. Drum sollte man der zählebigen Legende von der Souveränität der Reichsstände dezidiert entgegentreten. Aus der Sicht des Reichstages ist das alles so, wie Herr Schmidt es dargestellt hat: 1648 bedeutet eine Restauration vorangegangener Verhältnisse. Der Reichstag nach 1648 ist der wiederhergestellte Reichstag des 16. Jh. Da ist von der Staatstheorie auch entsprechend vorgearbeitet worden. Friedrich Hermann Schubert hat eindringlich nachgewiesen, daß die Staatstheoretiker in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges gerade den maximilianeischen Reichstag als Modell empfohlen haben. Hier hat in der Tat die Staatstheorie einer späteren verfassungsgeschichtlichen Entwicklung vorgegriffen. Mit der Literatur vom beginnenden 17. Jh. dürfte übrigens die Diskussion über die Reichsreform einsetzen. Nicht irgendwelche Vorgänge im fernen Mittelalter, sondern die maximilianeische Zeit war für die Reichsjuristen des 17. Jh. der Anfang ihrer Gegenwart. Sie haben ein Wiederanknüpfen an diese Gründerzeit empfohlen. Noch eine letzte Bemerkung: Herr Schmidt, Sie haben die Rolle der Konfessionalisierung betont als einen Ausweis der gesteigerten Landeshoheit der Territorialfürsten. Da stimme ich Ihnen voll und ganz zu. Die Konfessionalisierung ist sicher von der Verfassungsgeschichte lange unterschätzt worden. Neuerdings ist sie stärker in das Blickfeld der Profangeschichte getreten. Die Entwicklung nach 1555 in der Ausbildung von

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konfessionell geschlossenen Territorien ist sicher für die Entstehung des Staates in den deutschen Ländern von größter Wichtigkeit gewesen. Gerade hier zeigt sich die Ambivalenz des Westfälischen Friedens. Denn die Konfessionalisierung ist ein Weg hin zu einer souveränitätsähnlichen Landeshoheit. Gerade die Konfessionalisierung aber wird durch den Westfälischen Frieden gebremst und zurückgenommen. Durch das "Normaljahr" 1624 wird ihr ein Riegel vorgeschoben, so daß der Landesherr nicht mehr frei über die Konfession der Untertanen verfügen darf und der konfessionelle status quo, so wie auch der territoriale status quo in Osnabrück 1648 eingefroren wird. Die Normaljahrbestimmung des Osnabrücker Friedens zeigt, daß 1648 für die Landeshoheit kein Mehr, sondern eigentlich sogar ein Weniger brachte. Die Landeshoheit der Fürsten wurde in manchen Punkten zurückgenommen und rechtlich eingegrenzt, also gewissermaßen an die Kette gelegt, so daß eine Entwicklung wie in Frankreich mit der Austreibung der Hugenotten im Reich zumindest vom Reichsrecht her nicht mehr möglich war.

Willoweit: Herr Schmidt, ich weiß nicht, was "Juristische Verfassungsgeschichtsschreibung" ist. Jurisprudenz ist eine Methode der Problemlösung. Wenn Juristen Geschichte schreiben, arbeiten sie als Historiker - vielleicht als schlechte Historiker - aber eben gerade nicht als Juristen. Sie haben da eine Alternative aufgebaut, die - wie ich glaube - für niemanden hier existiert. Damit sind Sie 30 Jahre zu spät gekommen. Wo die Geschichte juristische Texte überliefert, wie im Westfälischen Frieden, kommt man allerdings um juristische Schlußfolgerungen nicht herum, weil die Zeitgenossen sie selber gezogen haben. Sie haben das am Ende Ihres Referates auch gemacht. Dort haben Sie plötzlich an Hand von Artikeln und Paragraphen exakt auseinandergelegt, wie das Bündnisrecht der Reichsstände zu verstehen ist. Das insofern bestehende Methodenproblem haben Sie aber unnötig zugespitzt, indem Sie die Existenz einer "Juristischen Verfassungsgeschichtsschreibung" behaupten. Ich sehe keinen Grund für einen solchen Angriff auf ein Phantom. Lassen Sie mich das an Ihren beiden Beispielen Bündnisrecht und ius territoriale exemplifizieren: Zum Bündnisrecht hat Herr Mohnhaupt schon einiges gesagt. Sie haben, Herr Schmidt, auch bereits ausgleichend geantwortet. In der Literatur ist eigentlich das Thema abgeklopft, wenngleich ich gerne zugestehe, daß Sie noch einige Gesichtspunkte hinzugefügt haben. In das Bündnisrecht hat man eine weltumstürzende Bedeutung hineingeheimnist, die es in Wahrheit nicht besaß. Nur möchte ich folgendes zu bedenken geben: Ich habe mir bei der Formulierung der einschlägigen Passagen in meiner "Verfassungsgeschichte" Gedanken gemacht, wie man das Bündnisrecht nun charakterisieren soll. Böckenförde geht auch mir etwas zu weit, wenn er sagt, das Bündnisrecht sei 1648 etwas völlig anderes geworden. Aber die Argumenta-

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tion Böckenfördes enthält im Kern etwas Richtiges: Die Umwelt ist eine andere geworden. Das darf man nicht vernachlässigen. Schweden und Frankreich haben sehr wohl gewußt, was sie mit dem Bündnisrecht wollten. Es ist in dieser Zeit schon ein Symbol für Machtpolitik. Das war eine völlig veränderte Situation gegenüber dem späten 16. Jh. Daher verwundert nicht weiter, daß das Bündnisrecht, das vor 1648 in den Darstellungen des ius publicum praktisch keine Rolle spielte, nach diesem Jahr zum wichtigen Thema aufgestiegen ist. Es ist jetzt normativ positiviert, wird daher hervorgehoben und entfaltet mit Sicherheit auch gewisse politische Eigenwirkungen. Bei der Darstellung dieses geschichtlichen Wandels geht es im Grunde genommen um Nuancen des Ausdrucks und nicht um prinzipielle unterschiedliche Positionen von Schmidt oder Willoweit. Und nun zum ius territoriale, das nach Ihrer Meinung zu nah an die Souveränität herangerückt worden ist. Gewiß! Aber das geschieht schon seit sehr langer Zeit. Ist das wirklich eine so zählebige Legende, Herr Schindling? Wir wissen doch seit langem, daß die Staaten des Reiches keine souveränen Staaten waren und daß die Terminologie der zeitgenössischen Juristen ziemlich konsequent und sehr sorgfältig gewesen ist. Nach meinem Eindruck wurde das Wort "ius territoriale" im Westfälischen Frieden mit Bedacht gewählt, um nicht "superioritas territorialis" verwenden zu müssen. Die Franzosen haben dann wohl bewußt versucht, diese begriffliche Ebene wieder zu erreichen oder sogar darüber hinaus die volle Souveränität der Territorialherren zu behaupten. Ius territoriale ist eigentlich weniger als superioritas, weniger als Obrigkeit. Das ist jenes Territorialrecht, das in der juristischen Literatur auch den Reichsrittern zuerkannt wird. Es ist eigentlich auch nicht so recht mit Polizei und Gesetzgebung verbunden. Es ist eher die herkömmliche Herrschaftsgewalt, nur ein wenig mehr als die Grundherrschaft. Ius territoriale ist im übrigen ein Begriff, der keine besondere Konjunktur hatte. Er wurde relativ selten gebraucht. Neben dem Superioritätsbegriff hatte er keine Chance hatte, sich durchzusetzen. Daß gerade im Westfälischen Frieden vom ius territoriale die Rede ist, scheint mir darauf hinzudeuten, daß man die Bedeutung der Territorialhoheit herunterspielen wollte. Die Gesamttendenz Ihrer Ausführungen gefällt mir. Nur glaube ich nicht, daß man methodisch das ius territoriale mit noch so eindrucksvollen Überlegungen zu Hessen erklären kann. Das eine ist Begriffsgeschichte, das andere Strukturgeschichte. Für mich sind das zwei verschiedene Ebenen. Das eine ist zeitgenössische Reflexion, die sich in Texten niedergeschlagen hat; das andere ist unsere nachträgliche Rekonstruktion der Vergangenheit durch Herstellung von Zusammenhängen. Noch eine letzte Bemerkung: Wenn Sie sagen, es sei "juristisch ", sowohl Fürsten wie Reichsritter als reichsunmittelbar zu bezeichnen, so scheint mir auch dies ein Mißverständnis zu sein. Diese Gleichsetzung haben schon die

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Juristen des 17. und 18. Jh. vorgenommen; demnach ist es zeitgenössisches Denken. Wenn Sie jetzt sagen, man müsse das Verhältnis beider Gruppen zum Reich unterscheiden, dann bringen Sie sich methodisch in Schwierigkeiten, indem Sie den Leuten von damals beibringen, daß sie falsch gedacht haben.

Klippel: Herr Schmidt, ich möchte fragen, ob nicht doch etwas, und wenn ja, was denn am Westfälischen Frieden neu ist? Vielleicht ist die Frage nicht fair, da Sie gerade nachweisen wollten, daß der Westfälische Friede die alten Verhältnisse zementiert hat. Aber ich glaube, daß einige Bemerkungen von Ihnen den Schluß darauf zulassen, daß das Neue gerade in dieser Zementierung lag, mit der die Reichsverfassung festgeschrieben und in ihrer Weiterentwicklung blockiert worden ist. Wir haben zudem, um eine Bemerkung von Herrn Willoweit aufzugreifen, nun mit dem Westfälischen Frieden ein Rechtsnormengefüge, das selbst Gegenstand von Interpretationen wird, nicht zuletzt im Hinblick auf die Frage, wer denn im Reich souverän ist; ob die Reichsstände souverän sind. Die Diskussion darüber geht etwa im 18. Jh. bis in die Lexika hinein. In französischen Lexika z. B. findet man in Übereinstimmung mit den politischen Interessen Frankreichs den Hinweis, daß die Reichsstände souverän seien; umgekehrt entsprach es den Interessen der absolutistischen Politik einiger Reichsstände, nun zu behaupten, daß sie nach innen und nach außen souverän seien. Wir begeben uns demnach auf eine andere Ebene, wenn wir heute sagen, im Rückblick seien ihnen nicht die Merkmale der Souveränität zuzuerkennen. Baumgart: Herr Schmidt, auch mir scheint, daß Sie zunächst gegen Forschungspositionen vorgegangen sind, die nicht mehr aktuell sind, so daß Sie, um Herrn Willoweit zu zitieren, 30 Jahre hinter der aktuellen Diskussion zurückgeblieben sind. Aber unabhängig davon, stelle auch ich mir die Frage, die Herr Klippel formuliert hat. Wenn das ius joederis und das ius territoriale schon nicht die zukunftweisende Bedeutung in diesem Friedenswerk gehabt haben, die man ihnen nachgesagt hat, gibt es dann nicht wenigstens andere Elemente dieses Friedenswerkes, die von einer Weggabelung oder auch von einer Wende oder tatsächlich von einem neuen Anfang sprechen lassen? Mir fällt dazu doch mehrerlei ein. Von der Konfessionalisierung der Territorien und ihrer Bedeutung ist schon die Rede gewesen. Die religionsrechtlichen Regelungen des Westfälischen Friedens haben m. E. mit ihrem konstitutiven Gewicht über das hinausgegriffen, was wir an Vorgeschichte von 1555 an kennen. Es verbindet sich mit ihnen nicht zuletzt auch die Toleranzproblematik im Reich. Wir haben bei einer früheren Tagung in Hofgeismar über die Entwicklung der Menschenrechte gesprochen. Einer der Ausgangspunkte der Diskussion ist damals der Westfälische Frieden gewesen. Mir scheint, daß das ganz zu Recht gesche-

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hen ist. Dann wäre dies ein Ansatzpunkt für eine Wendemarke dieses Friedens. Damit hängt natürlich auch die Frage der itio in partes zusammen, der Bildung der corpora nach Konfessionen. Auch das ist ein Novum, das auf die Reichsverfassung aufgestülpt worden ist und nicht unerwähnt bleiben sollte. Schließlich ein anderes Element, von dem ich meine, daß es ebenfalls einen Wendecharakter gehabt haben könnte: Das europäische Garantiesystem, in das der Westfälische Frieden das Reich eingebettet hat. Dieser Doppelfrieden ist nicht ein Werk, das sich auf das Reich als solches beschränkt; es hat das Reich in einen europäischen Zusammenhang eingefügt. Diese europäische Tragweite des Friedens, den Fritz Dickmann in seiner seinerzeit wegweisenden Monographie betont hat, ist neu. Diese Europäisierung des Reiches scheint mir ein ganz wesentliches Element zu sein. Das wären also schon drei oder vier zusätzliche Gesichtspunkte, die über das ius foederis und das ius territoriale hinausgehen, das Sie sicherlich sehr zutreffend charakterisiert haben.

Kroeschell: Herr Willoweit betonte im Zusammenhang mit dem Bündnisrecht die veränderte Umwelt in Europa in der 2. Hälfte des 17. Jh. Das möchte ich nach der theoretischen Seite hin konkretisieren. Es ist die Zeit, in der sich auch die Vorstellung von der Völkerrechtsordnung ausbildet. Das ius publicum europaeum wird theoretisch fundiert, und es bildet sich jetzt die Vorstellung von einer Gesellschaft (um Bodins Ausdruck zu verwenden) "souveräner" Mächte, die u. a. durch Verträge miteinander in Beziehung treten. Auch wenn man den deutschen Fürsten nach ihrer reichsrechtlichen Stellung die Souveränität im umfassenden Sinne absprechen muß, so meine ich doch, daß man nach dem Westfälischen Frieden beobachten kann, wie sie als Handelnde auf diese europäische politische Bühne treten. Herr Willoweit hat das Beispiel des Großen Kurfürsten genannt mit seiner Schaukelpolitik zwischen Schweden und Frankreich. Man kann dies aber auch bei anderen beobachten. So ist am Ende diese merkwürdige Verankerung der großen Fürstentümer des Reiches in auswärtigen Königreichen nach allen Himmelsrichtungen hin entstanden. Das ist gewiß eine andere Situation als die, in der das Bündnisrecht älterer Zeiten seine Wirkungen entfaltet haben mag. Im Konzert der europäischen Mächte beginnen nun auch die deutschen Fürsten mitzufiedeln. Schmidt: Natürlich hat sich gegenüber dem 15. Jh. im 17. Jh. manches verändert. Denn Geschichte ist ein Prozeß. Ich muß auch auf die vorbereitenden Gespräche zu dieser Tagung zwischen dem Vorstand und den Referenten hinweisen. Denn wir haben vereinbart, uns in den Referaten auf die Ebene der Territorialstaaten zu konzentrieren. Deshalb habe ich die europäischen Aspekte des Westfälischen Friedens bewußt in den Hintergrund gerückt. Den diesbezüglichen Einschätzungen der Herren Baumgart,

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Kroeschell und Willoweit stimme ich voll zu: Eine Verankerung der Reichsverfassung in einem europäischen BÜlldnissystem hat es vorher nicht gegeben. Allerdings haben die deutschen Fürsten auch vorher schon kräftig versucht, im Konzert der europäischen Mächte mitzuspielen. Ich erinnere nur an den Kurfürsten Moritz von Sachsen oder an die Bündnisse der Reichsstände mit den Schweden. Es gab 1643 das Wittelsbacher Bündnis mit Frankreich, das vom Kaiser toleriert wird. Aber die Verankerung des Bündnisrechts im Westfälischen Frieden, die Verankerung der deutschen in einer europäischen Friedensordnung, zumal in der Phase des entstehenden Völkerrechts, ist sicherlich etwas Neues und auch für die Zukunft Richtungweisendes. Nun noch zu den einzelnen Fragen: Herr Kroeschell, nach Ihrer Ansicht waren die Reichsfürsten zwar keine Souveräne, handelten aber auf der europäischen Bühne. Das ist sicherlich richtig, zeigt aber auch, daß man sich die "Souveränität" außerhalb des Reichs besorgen mußte. Man denke nur an den Wettlauf um die polnische Krone oder an die Bemühungen der bayerischen Wittelsbacher, eine der europäischen Kronen zu erringen. Zu Herrn Baumgarts Einwurf: Ich habe in der Tat nicht die aktuelle Forschungsposition dargelegt, sondern pointiert Positionen herausgearbeitet und vielleicht auch manches überzeichnet. So wie ich die juristisch geprägte Verfassungsgeschichtsschreibung charakterisiert habe, wird das heute niemand mehr vertreten. Aber ich habe versucht, Positionen zu 1648 herauszuarbeiten, und ich glaube, daß man in der Verfassungsgeschichtsschreibung nach wie vor die Tendenz feststellen kann, den Territorialstaat als die Entwicklungslinie anzusehen, die für Deutschland maßgeblich geworden ist. Die pauschale Formulierung "Vom Staat des Mittelalters zur Souveränität des Westfälischen Friedens" markiert vielleicht eher die Sicht der Dinge in den zwanziger Jahren. Doch sie bietet noch immer einen Verankerungspunkt zur deutlichen Herausarbeitung differenzierter Auffassungen. Damit komme ich zu den religionsrechtlichen Regelungen des Friedens. Das scheint mir sehr wichtig zu sein, obwohl auch die Toleranzpolitik und alles was mit ihr zusammenhängt, nichts völlig Neues ist. Denken Sie nur an den Konfessionswechsel des Kurfürsten von Brandenburg 1613, den aus bestimmten Gründen seine Untertanen nicht mitmachen mußten. Der totale Umbruch beim Konfessionswechsel eines Fürsten brachte eben das Konfessionsgefüge des Reiches insgesamt durcheinander. Dem sollte der Westfälische Frieden einen Riegel vorschieben; deswegen hat er den Konfessionsstand der Territorien festgeschrieben. Dies ist sicherlich eine Abstraktion gegenüber 1555 und sicherlich eine positive Fortentwicklung. Die itio in partes gibt es ebenfalls schon im 16. Jh. Ich komme hier immer wieder in die Rolle, sagen zu müssen: "Das gab es schon früher". 6 Der Staat, Beiheft 10

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Wenn die evangelischen Reichsstände in den 1540er Jahren auf dem Reichstag versucht haben, Religionszusicherungen gegen Türkenhilfe durchzusetzen, so ist das im Prinzip nichts anderes. Man wollte unter religionspolitischem Aspekt ein Corpus auf dem Reichstag formieren, um die Überstimmung in den einzelnen Kurien zu vermeiden. Im Endeffekt haben allerdings Karl V. und auch die Kaiser der zweiten Hälfte des 16. Jh. diese Pläne abgelehnt. Herrn Klippels Ausführungen stimme ich zu. Daß die Festschreibung das Neue im Westfälischen Frieden ist und daß damit die Entwicklungsmöglichkeiten abgeblockt werden, dem kann ich mich voll anschließen. Ich glaube sogar, daß man dies von reichsständischer Seite 1648 ausdrücklich so gewollt hat, um jede Fortentwicklung zu einem monarchischen System auszuschließen, wie sie noch 1635 gedroht hatte. Reichsreformpläne, wie sie verschiedentlich angesprochen worden sind, hat es gegeben wie Sand am Meer. Man hat die Reform immer wieder versucht; sie ist aber nie gelungen. 1648 markiert in dieser Hinsicht einen Endpunkt. Danach waren m. E. keine tiefgreifenden Verfassungsreformen mehr möglich. Denn es war nichts mehr zu bewegen. Mit einem Begriff wie Endpunkt muß man dennoch vorsichtig sein. Die Diskussion um die capitulatio perpetua hat im 18. Jh. angedauert. So gab es zwar immer wieder Ansätze, das Reich zu reformieren. Aber die Ordnung von 1648 hielt offensichtlich keine Entwicklungsmöglichkeiten mehr offen. Alle Reformversuche bis hin zum Fürstenbund sind nicht eben sehr erfolgreich gewesen.

Neuhaus: Eine Zwischenfrage, Herr Schmidt: Wie schätzen Sie dann die sog. "Reichskriegsverfassung" von 1681/82 ein? Ist sie nicht im Rahmen dessen, was noch an Reformmaßnahmen möglich war, dann doch eine Reform, die tatsächlich zu Ende geführt werden konnte? Damit wären wir bei einer anderen Periodisierung, die natürlich in der zusammenfassenden Schlußdiskussion eine Rolle spielen wird. Schmidt: Da kennen Sie sich besser aus als ich. Die Reichskriegsverfassung ist ein Feld, das 1648 als regelungsbedürftig erkannt, aber offengelassen worden ist. Auch bei den Kreisassoziationen ist, wenn ich jetzt genauer darüber nachdenke, noch einmal Entscheidendes passiert. Ich muß also meine flinke These über die Nicht-Reformierbarkeit der Reichsverfassung insofern einschränken, als sie sich nicht auf die Bereiche beziehen kann, die 1648 ungeregelt geblieben sind. Nun zu Ihnen, Herr Willoweit. Sie haben mir die "Juristische Verfassungsgeschichtsschreibung" vorgeworfen. Diesen Passus habe ich inzwischen erläutert und relativiert. Das Ganze war ursprünglich als Widerlager zu der von mir geplanten stärker deskriptiven Darstellung der Entwick-

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lungsgeschichte des Westfälischen Friedens gedacht. Diese Passagen sind dann aber größtenteils dem Zeitmangel zum Opfer gefallen, so daß auch dieses Referat mehr strukturelle Analyse geblieben ist. Ob ich mit der "Juristischen Verfassungsgeschichtsschreibung" wirklich nur ein Phantom angegriffen habe, weiß ich nicht so recht. Verfassungsgeschichte wird in der Bundesrepublik nun einmal vorwiegend von Juristen geschrieben, die deutlicher zur Kategorisierung und Systematisierung neigen, als sich Historiker das im Vorfeld der Untersuchung erlauben würden. Damit ist nicht gesagt, daß nicht beide Vorgehensweisen ihre Vorzüge besitzen. Das Ganze sollte auf methodologische Unterschiede hinweisen, mehr nicht. Daß das Bündnisrecht 1648 in einem veränderten Umfeld steht, beispielsweise zum Bündnisrecht des 16. Jh., wird vernünftigerweise niemand bestreiten wollen. Die Entstehung wie die Wirkung des Bündnisartikels zeigen aber m. E., daß dessen Bedeutung von der historischen Forschung bisher eher überschätzt worden ist. Der Treuevorbehalt ist vom Kaiser auf Anraten des Reichshofrates - nicht etwa von den Bayern - formuliert und durchgesetzt worden. Das Reichsoberhaupt hat den Artikel ansonsten erstaunlich schnell akzeptiert. Im Reichshofrat hoffte man, mit dem Artikel eine Rechtsgrundlage zu bekommen, um jedes künftige Bündnis überprüfen zu können. Dem haben die Reichsstände aber ebenso einen Riegel vorgeschoben, wie den Wünschen der Krone nach einer automatischen Bündnispflicht im Falle eines kaiserlichen Verstoßes gegen den Friedensvertrag. Von daher sehe ich nicht so recht - um meine Position zu wiederholen -, wo das Bündnisrecht etwas ganz Neues ist. Das Umfeld hat sich zwar verändert, doch das Bündnisrecht bleibt eine Festschreibung des vorgefundenen Reichsherkommens.

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Staatsverfassung an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert Von Thomas Würtenberger, Freiburg*

I.

1776, 1789, 1806 und 1815 gelten als Zäsurjahre moderner deutscher Verfassungsgeschichte 1 . Die verfassungsrechtlichen Umwälzungen dieser Jahre markieren die Anfänge einer neuen politischen Ordnung. Die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und der Erlaß von Verfassungen in der Zeit nach dem Wiener Kongreß sind Ausdruck der Diskontinuität in der deutschen Verfassungsrechtsgeschichte. Dennoch hat der Genius der Zeitenwende, le genie du siec1e, nicht in plötzlicher Erleuchtung die neuen Verfassungen auf die ehernen Verfassungstafeln geschrieben 2 • Vielmehr bringt die Wendung zum Verfassungsstaat in diesen Zäsurjahren einen langsamen Prozeß politischer Bewußtseinsbildung und verfassungsrechtlicher Erneuerung zu einem vorläufigen Abschluß. Denn bereits vor diesen Zäsurjahren liegen engagierte verfassungspolitische Diskussionen und vorsichtig tastende verfassungsrechtliche Reformen, in denen die neuen verfassungsstaatlichen Prinzipien Konturen gewinnen. Die Verfassungsentwicklungen des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jh. sind von einem sich zunächst langsam formierenden, dann aber in eine Verfassungsbewegung mündenden Verfassungsbewußtsein getragen. Im Einklang mit den verfassungsrechtlichen Veränderungen bemächtigt sich des kollektiven Bewußtseins ein neuer Zeitgeist, der für eine neue Ordnung streitet. Die Zeitgenossen beobachten vielfach staunend die Geschwindigkeit der eruptiven Umwälzungen und zugleich die alles beherrschende Macht eines neuen Zeitgeistes, der auf Verfassungsreform dringt.

* Herrn Matthias Beermann danke ich für die kritische Durchsicht des Manuskripts. 1 D. Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 -1866, 1988; E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, 1957 ff.; K. Kröger, Einführung in die jüngere deutsche Verfassungsgeschichte, 1988; E.-W. Böckenförde (Hrsg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815-1918),2. Auf!. 1981. 2 Vgl. die zeitgenössischen Darstellungen z. B. auf der Rückseite des "ecu constitutioneI" von 1792 (V. Gadoury, Monnaies fran~aises 1789-1979, 1985, Nr. 21).

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Zwar sind die verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Entwicklungen in Deutschland ebenso wie die Entwicklungen im Verfassungsbewußtsein durch die genannten Zäsurjahre geprägt, es zeigen sich aber zwischen 1750 und 1820 gleichwohl bemerkenswerte Kontinuitäten. Die These von der historischen Evolution verfassungsrechtlicher Entwicklungen und des Verfassungsbewußtseins stellt entgegen dem bekannten "Verfassungsrecht vergeht" weniger ab auf den Wechsel des Vergänglichen, sondern eher auf die Traditionslinien in der Entwicklung der Rechtskultur. Das Verfassungsrecht wurzelt in der politischen Kultur einer Rechtsgemeinschaft und in den zur sozialen Anerkennung gebrachten politischen Ideen. Im Verfassungsrecht wird normiert, was an politischem Konsens in der Staatspraxis und an politischen Einsichten in einem langen und nie abgeschlossenen Prozeß der "Aufklärung" gewonnen werden konnte. So gesehen knüpfen Verfassungen immer an geschichtlich Gewordenern, immer an der Herkunft an. Deutsche Verfassungsgeschichte als Geschichte der rechtlichen Grundverfassung und der politischen Institutionen fragt unter anderem nach jenen Traditionen, die die Entwicklung der Staats- und Verwaltungsstrukturen, die Durchsetzung zentraler politischer Ideen sowie die Entwicklung Deutschlands zum Verfassungs staat bestimmten. Die Kontinuitäten im Übergang von der spätabsolutistisch-aufgeklärten zur frühliberalen Verfassungsordnung werden in einem ersten Abschnitt (11.) behandelt. Der zweite Abschnitt (III.) sucht das Netzwerk für den Wandel im politischrechtlichen Bewußtsein in der zweiten Hälfte des 18. Jh. nachzuzeichnen. Das abschließende dritte Kapitel (IV.) befaßt sich mit den geistigen Wurzeln des deutschen Konstitutionalismus in den Verfassungsentwicklungen und im Zeitgeist des ausgehenden 18. Jh. 11. Im Deutschland der zweiten Hälfte des 18. Jh. sich entfaltende Ansätze eines modernen Verfassungsstaates herausarbeiten, widerspricht manchem Vorverständnis von der Diskontinuität in der deutschen verfassungsrechtlichen Entwicklung 3 , von deutscher Rückständigkeit im politischen Denken 3 Zu Kontinuität und Diskontinuität zwischen altständischer und konstitutioneller Verfassung: H. Hofmann, Zur Idee des Staatsgrundgesetzes, in: ders., Recht Politik - Verfassung 1986, S. 261 ff.; M. Stolleis, Verfassungsideale der Bürgerlichen Revolution: Rättshistoriska Studier 16 (1990), S. 79 ff.; E. Weis, Kontinuität und Diskontinuität zwischen den Ständen des 18. Jh. und den frühkonstitutionellen Parlamenten von 1818/1819 in Bayern und Württemberg, in: ders., Deutschland und Frankreich um 1800, 1990, S. 218 ff., 238 ff.; J. Gerner, Vorgeschichte und Entstehung der württembergischen Verfassung im Spiegel der Quellen (1815-1819), 1989, S. 255 u. passim (zur Forderung der Wiederherstellung der alten Verfassung mit den

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und von Entwicklungslinien im deutschen Obrigkeitsstaat 4. Und doch haben sich in den letzten Jahrzehnten des Heiligen Römischen Reiches zukunftsweisende Verfassungsentwicklungen und Verfassungsprojekte abgezeichnet und hat eine unabhängige Rechtsprechung einen fast grundrechtlichen Freiheitsschutz garantiert, ja selbst Verfassungsreformen behutsam den Weg geebnet 5 . 1. In der zweiten Hälfte des 18. Jh., der Sattelzeit der modernen politischrechtlichen Sprache 6 , wurde der Begriff der Verfassung neu bestimmt.

Die alte Reichsstaatslehre handelte unter dem Begriff der "Grundgesetze"7, später auch unter dem Begriff "Grundverfassung" bzw. "Staatsverfassung" , jene Regelungen ab, "ohne welche der Staat von Teutschland nicht so wäre, wie er wirklich ist" 8. Hierzu zählten u. a. die Goldene Bulle, "dem Geist der Zeit angemessenen Modificationen"); D. Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, 1988, S. 12 ff. (zum Frühliberalismus als politischer Verfassungsbewegung); D. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 1990, S. 176 f. (zur sich in der zweiten Hälfte des 18. Jh. entwickelnden Verfassungsidee); G. Dilcher, Vom ständischen Herrschaftsvertrag zum Verfassungsgesetz: Der Staat 27 (1988), S. 161 ff., 166 ff. m. Nw. zu Kontinuität und Diskontinuität einzelner Verfassungsprinzipien; D. KlippeI, Die Theorie der Freiheitsrechte am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland, in: H. Mohnhaupt (Hrsg.), Rechtsgeschichte in den beiden deutschen Staaten (1988-1990), 1991, S. 348 ff., 383 ff. (zur deutschen Tradition der Menschenrechte, die bereits vor 1789 beginnt); K. Bosl (Hrsg.), Der moderne Parlamentarismus und seine Grundlagen in der ständischen Repräsentation 1977; G. Oestreich, Zur Vorgeschichte des Parlamentarismus: Ständische Verfassung, landständische Verfassung und landschaftliche Verfassung: Zeitschrift für historische Forschung 6 (1979), S. 63 ff.; teilweise abweichend die von Dieter Grimm (FN 1), S. 9, 10 ff.) vertretene Diskontinuitäts-These, die die Entwicklung deutschen Verfassungsdenkens im 18. Jahrhundert ausblendet und den Verfassungsbegriff sehr verengt; ähnlich Stammen / Eberle, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Deutschland und die Französische Revolution 1789 -1806, 1988, S. 5 (mit der These vom "klaren Bruch zwischen alt und neu" bzw. mit der Revolution von 1789 habe "das Zeitalter der Ideologien ... begonnen", sie sei "Ausgangspunkt der politischen Strömungen in Deutschland"). 4 Nachweise bei D. KlippeI, Politische Theorien im Deutschland des 18. Jahrhunderts: Aufklärung 2 (1987), S. 57 ff. 5 C. Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, 1979, S. 178 ff.; W. NäJ, Der Durchbruch des Verfassungsgedankens im 18. Jahrhundert, in: Schweizer Beiträge zur Allgemeinen Geschichte, Bd. 11, 1953, S. 108 ff.; vgl. auch die von E. Bussi (Das Recht des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation als Forschungsvorhaben der modernen Geschichtswissenschaft: Der Staat 16 (1977), S. 520 ff., 530 ff.) aufgestellte und im folgenden vielfach belegte These, daß die Themenkreise und Argumentationsmuster der deutschen Staats- und Naturrechtslehrer des 17. und 18. Jahrhunderts sehr modern seien und mannigfache Verbindungslinien zu den heutigen politischen Ordnungssystemen bestünden. 6 R. Koselleck, Einleitung, in: Brunner / Conze / Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, 1972, S. XIII ff. 7 Zu "lex fundamentalis" und "Grundgesetze" vgl. H. Mohnhaupt, Art. "Verfassung I", in: Geschichtliche Grundbegriffe (FN 6), Bd. 6, 1990, S. 831 ff., 852 f., 867 f. 8 J. J. Moser, Von Teutschland und dessen Staats-Verfassung überhaupt, Stuttgart 1766, S. 195; [Franz Anton Felix Edler von Zeiller], Das Staatsrecht des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Eine Darstellung der Reichsverfassung gegen

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die Wahlkapitulationen, die Landfriedensordnungen, der Religionsfriede von 1555, die Kammergerichtsordnung, die Reichshofratsordnung oder der Westfälische Friede. Sehr allmählich kristallisierte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jh. ein dazu gegenläufiger Verfassungsbegriff heraus. Grundlagen dieses neuen Verfassungsverständnisses waren nicht mehr "Verfassungsverträge ", sondern die Volkssouveränität, nicht die Souveränität des Herrschers, sondern eine nach dem Grundprinzip der Gewaltenteilung organisierte Staatsgewalt, nicht allein der Schutz der überkommenen "iura et libertates" , sondern auch der Schutz von Menschen- und Bürgerrechten. All dies wurde natürlich nicht als Gesamtkonzept, sondern zunächst nur sehr punktuell entwickelt. Solche neuen Ansätze verfassungsstaatlichen Denkens sind zunächst andeutungsweise in den dem aufgeklärten Absolutismus verpflichteten Naturrecht, seit den siebziger Jahren des 18. Jh. im kritischemanzipativen Naturrecht auszumachen 9. Die Wendung zu einem neuen Verfassungsverständnis ist zugleich mit einem akzentuierten Bekenntnis zum Vernunftrecht verbunden. Auch das Vernunftrecht war dehnbar und hatte seine Varianten: War der Verfassungsbegriff der alten Reichsstaatslehre vom historisch gewachsenen Recht, also von der historischen Vernunft, geprägt, so fragte die neue vernunftrechtliche Bestimmung des Verfassungsbegriffs nach dem Wesen und nach den Kriterien für inhaltlich richtige Verfassungsnormen. Eine frühe, sehr grundsätzliche vernunftrechtliche Neuformulierung des Verfassungsbegriffs findet sich bei Justi. In seinem 1759 erschienenen "Grundriß einer guten Regierung" bekennt er sich nicht dem Begriff, aber der Sache nach zur Volkssouveränität, die er "Grundgewalt" nennt - ein Begriff, der die aufgeklärte staatsrechtliche Literatur der zweiten Hälfte des 18. Jh. beherrschte. Der vereinigte Wille des Volkes regele durch "Grundverfassungen oder die Grundgesetze", wie die "oberste Gewalt" im Staate ausgeübt werden solle 10. Die vom Volk zu gebende und zu ändernde Grundverfassung der Monarchie betrifft u. a. die Thronfolge, die im Staat eingeführte Religion, das Verbot rückwirkender Gesetzgebung oder die nach Möglichkeit unabhängige Rechtsprechung. Ende des 18. Jahrhunderts nach einer Handschrift der Wiener Nationalbibliothek, hrsg. von W. Wagner (1968); zu J. J. Mosers Staatsrecht: M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1, 1988, S. 260 ff. m. Nw. 9 Zum hier nicht zu verfolgenden "Aufstieg des Naturrechts" vgl. M. Stolleis (FN 8), S. 271 ff. 10 J. H. G. von Justi, Der Grundriss einer guten Regierung in fünf Büchern verfasset, Frankfurt und Leipzig 1759, S. 7 ff., 228 ff.; G. Achenwall, Die Staatsklugheit nach ihren ersten Grundsätzen entworfen, 3. Aufl. Göttingen 1774, S. 24 ff., 43 ff., bezeichnet Gewaltenteilung als Voraussetzung dauerhafter "Grundverfassung".

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Insgesamt gesehen finden sich bei Justi bereits die Grundzüge der konstitutionellen Monarchie entwickelt 11. In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts häufen sich bei Johann Georg Schlosser, Ewald Friedrich Graf von Herzberg und anderen vorsichtig geäußerte Vorwegnahmen konstitutioneller Staatstheorie 12. Das in dieser Zeit entwickelte vernunftrechtliche Verfassungsverständnis blieb nicht ohne Einfluß auf den Geltungsanspruch des alten Reichsstaatsrechts 13. Das vernunftrechtliche Allgemeine Staatsrecht forderte zur Kritik am überkommenen Reichsstaatsrecht geradezu heraus. Mit Hilfe des vernunftrechtlichen Verfassungsverständnisses ließen sich einzelne verfassungsrechtliche Bestimmungen kritisieren, Lücken im positiven Staatsrecht ausfüllen, Rechte der Untertanen, gegenläufig aber auch neue Rechte des Fürsten, begründen und Gegenentwürfe zum positiven Staatsrecht der Epoche entwickeln 14. Die Versuche einer vernunftrechtlichen Begründung, Begrenzung, aber auch Ausweitung des Reichs- und Landesstaatsrechts riefen frühzeitig heftige Reaktionen der Staatsrechtsdogmatik hervor. Der am positiven Recht orientierten Rechtswissenschaft ist eben seit jeher eine Auflösung der Rechtsordnung durch Rückgriff auf Naturrecht oder ethische Werte suspekt. Der große Reichspublizist Johann Jakob Moser l 5, und mit ihm die traditionelle Linie in der zeitgenössischen Staatsrechtslehre, bekämpfte mit Entschiedenheit das "neu erfundene vernünftige Staatsrecht des teutschen Reichs" 16. Habe doch das überkommene Staatsrecht die historische Ent11 So H. Dreitzel, Justis Beitrag zur Politisierung der deutschen Aufklärung, in: Bödeker / Herrmann (Hrsg.), Aufklärung als Politisierung - Politisierung der Aufklärung, 1987, S. 158 ff., 170. Unverständlich ist, inwiefern man Justi eine "absolutistische Haltung" zurechnen kann (z. B. H. Klueting, Die Lehre von der Macht der Staaten, 1986, S. 102). 12 Nachweise bei Th. Würtenberger, An der Schwelle zum Verfassungsstaat: Aufklärung 3 (1988), S. 53 ff., 64 ff. - Diese Entwicklungslinie wird von D. Grimm, Art. "Verfassung 11", in: Geschichtliche Grundbegriffe (FN 6), Bd. 6, 1990, S. 863 ff., 870 ff. weitgehend ausgeblendet. 13 D. Willoweit (FN 3), § 25 11 l. 14 So begrenzt etwa Pütter die Landeshoheit durch die "echten Grundsätze des allgemeinen Staats- und Völkerrechts" (J. S. Pütter, Beyträge zum teutschen Staatsund Fürstenrecht, Bd. 1, Göttingen 1777, S. 319; vgl. weiter ders., Was es insonderheit im Staatsrechte mit allgemeinen Grundsätzen und Hypothesen für eine Bewandtniß habe?, ebd., S. 8 ff.) 15 Zu J. J. Mosers "Positivismus" vgl. M. Stolleis (FN 8), S. 265 f. 16 J. J. Moser, Gedanken über das neu-erfundene vernünftige Statsrecht des Teutschen Reiches, Frankfurt, Leipzig 1767; weitere Verwahrungen gegen ein vernunftrechtlich orientiertes Staatsrecht finden sich bei Johann Heinrich Eberhard, Abhandlung von dem Begriffe und der Bearbeitung der Deutschen Staatsklugheit, Wittenberg und Zerbst 1768, S. 18 ("Der Staatsrechtsgelehrte ist an die Gesetze gewiesen. Es ist ihm wohl erlaubet, den Geist derselben zu erforschen; aber über die Fehler der Gesetzgeber seine Gedanken zu sagen, ist ihm nicht verstattet"); Johann Friedrich Freiherr von Tröltsch, Gedanken von dem ächten Begriff und Grunde der

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wicklung auf seiner Seite, nämlich die Verträge des Kaisers und der Stände, deren Rechtsverbindlichkeit nicht durch Vernunftrechtsdenken verunsichert oder gar aufgehoben werden könnte. Mit der kritischen Frage: "Ob und wessen oder welche Vernunft allen Reichsgesetzen ... und ... unserer Reichsverfassung vorgehe" 17, wirft er dem Vernunftrecht Beliebigkeit und die Zerstörung der politischen Ordnung vor. Mit der Frage, welche "Vernunft vernünftiger" sei, ist eine dritte Ebene des Verfassungsverständnisses des ausgehenden 18. Jh. angesprochen. Das eher konservativ-organisch orientierte Verfassungsverständnis stellte die historische Vernunft gegen die vernunftorientierte Gestaltung der gesamten gesellschaftlichen Ordnung, da erlebte Geschichte und praktische Erfahrung die besten politischen Lehrmeister seien. In diesem Sinne wurde Justus Möser nicht müde, die Vorteile unterschiedlicher "Lokalverfassungen" gegenüber abstrakten vernunftrechtlichen Verfassungsentwürfen zu betonen 18. Nicht soziale Uniformität, nicht allgemeine Gesetze und Verordnungen, sondern soziale Vielfalt und Selbstverwaltung örtlicher Angelegenheiten waren Mösers Leitideen, die er seinen Modellen von einer Verfassungsreform zugrunde legte. Es verwundert kaum, daß trotz aller Zensur seit den achtziger Jahren Stimmen laut wurden, die Verfassungsreformen einforderten. So äußerte ein anonymer Autor 1785 in der Berlinischen Monatsschrift: "Will ein Fürst seinen Gesetzen ... eine ungewöhnliche Dauer verschaffen, so muß er dem Staat eine Verfassung geben (... ). Er muß bewirken, daß von nun an keine Gesetze anders als mit Einwilligung des gesamten Staates gegeben werden können; (... ) er muß den Staat in eine Republik verwandeln, in welcher das Haupt der regierenden Familie den bloßen Vorsitz hat." 19 2. Vielfältige Verfassungsprojekte und punktuelle Verfassungsreformen am Vorabend der Französischen Revolution und in den beginnenden neunziger Jahren zeigen, daß den politischen Systemen und Institutionen im Heiligen Römischen Reich die Fähigkeit zu allmählichen verfassungsstaat-

Unmittelbarkeit und Territiorialgerechtigkeit in vermischten Reichslanden, Frankfurt, Leipzig 1786, S. 50 ff. (die "Landeshoheit ist nicht nach abstrakten Begriffen des allgemeinen Staatsrechts, ... nicht nach willkürlich sich selbst gebildeten Ideen eines Staates" zu bestimmen; entscheidend seien vielmehr das Herkommen, die Reichsgesetze und die Reichsverfassung). 17 J. J. Moser (FN 16), S. 13, 26. 18 Justus Möser, Sollte man nicht jedem Städtgen seine besondere politische Verfassung geben? (Patriotische Phantasien, Bd. III, Osnabrück 1778), in: Sämtliche Werke, hrsg. v. der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Bd. 6, 1954, S. 64 ff. 19 Anonym, Neuer Weg zur Unsterblichkeit der Fürsten: Berlinische Monatsschrift, Jg. 3 (1785), S. 239 ff.; auch andernorts wird die Forderung, eine Verfassung zu geben, zum Ausdruck gebracht: J. Claproth, Ohnmasgeblicher Entwurf eines Gesetzbuches, Frankfurt 1773, Vorrede.

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lichen Reformen nicht gänzlich abgesprochen werden kann. Hierfür mögen das Verfassungsprojekt Leopolds 11. für die Toskana, Pläne der Reichsreform und Vorschläge zur Reform der "inneren Grundverfassung" der geistlichen Fürstentümer stehen. a) Besonders bedeutsame Verfassungsentwicklungen vollzogen sich in Preußen. In der zweiten Hälfte des 18. Jh. setzten sich dort eine Reihe von rechtsstaatlichen Prinzipien durch. Auf die Emanzipation der Justiz zur eigenständigen Gewalt wird noch zurückzukommen sein. Ebenso wichtig sind die Versuche, das Gesetzgebungsverfahren zu "verfassen". Erste Ansätze einer vernunftrechtlichen Beschränkung der Gesetzgebungsgewalt finden sich in der Institution der Gesetzkommission. Gebildet aus den besten Mitgliedern der höheren Kollegien Berlins hatte sie darauf zu achten, ob die Gesetze dem Staatszweck und den Grundsätzen der Gesetzgebung gemäß waren, ob sie dem Gebot der Gerechtigkeit entsprachen und keine iura quaesita verletzten sowie hinreichend bestimmt waren. Wenn diese Gesetzkommission auch nur beratende Funktion hatte, so war sie gleichwohl ein nützliches Gegengewicht zum "Ministerdespotismus" und zu den Sonderinteressen der Landstände 20 • Das preußische Allgemeine Landrecht von 1794 war insofern eine Verfassung für den preußischen Staat, als es die rechtsstaatlichen Errungenschaften fast eines Jahrhunderts preußischer Rechtspolitik gesetzlich festlegte 21 . Ein Verfassungswerk zu schaffen, entsprach den wiederholt geäußerten Absichten. In der Kabinettsordre Friedrichs des Großen vom 14. April 1780, der Grundlage für den Entwurf des preußischen Allgemeinen Landrechts, wurde eine Zusammenfassung "der heutigen Verfassung" und damit eine Kodifikation der bestehenden Ordnung angeordnet, dabei am Rande aber auch deren Einklang mit dem "Naturgesetz" gefordert. Dieser Auftrag wurde von Carmer und Svarez dahin verstanden, die vorgegebene Ordnung des Absolutismus durch systemimmanente Verfassungsreform den zeitgenössischen Ideen des Vernunftrechts anzupassen. 20 So C. G. Svarez, Vorträge über Recht und Staat (1791/92), hrsg. von H. Conrad/G. Kleinheyer (1960), S. 17, 232 ff., 478 ff.; zur Gefahr des Ministerdespotismus vgl. weiter E. F. Klein, Freyheit und Eigentum, abgehandelt in acht Gesprächen über die Beschlüsse der französischen Nationalversammlung, Berlin und Stettin 1790, S. 41. 21 Zur Kontroverse, ob das ALR von 1794 als Verfassung bezeichnet werden kann: H. Conrad, Das Allgemeine Landrecht von 1794 als Grundgesetz des friderizianischen Staates, 1965, S. 6 ff.; K. Epstein , Die Ursprünge des Konservatismus in Deutschland, 1973, S. 436 ff.; G. Birtsch, Zum konstitutionellen Charakter des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794, in: FS Theodor Schieder, 1968, S. 97 ff. m. Nw.; ablehnend bereits C. W. von Dohm, Denkwürdigkeiten meiner Zeit, Bd. 4, Lemgo und Hannover 1819, S. 548 ff. (weder Friedrich der Große noch seine Zeitgenossen noch sein Volk hätten auch nur auf den Gedanken kommen können, durch eine Verfassung den preußischen Monarchen "und seine Nachfolger in den wichtigsten Regierungsrechten zu beschränken").

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b) Ausgangs des 18. Jh. war eine Vielzahl von vorrevolutionären Verfassungskonflikten in den kleinen Territorien und Reichsstädten zu schlichten. Die Ausgangspunkte dieser Verfassungskonflikte waren meist sehr komplex: Mißwirtschaft, die Verschiebung sozialer Strukturen, die Erhebung neuer Steuern sowie die in Reaktion hierauf erhobenen Forderungen nach Rechnungsprüfung und Mitbestimmung einer bürgerlichen und bäuerlichen Oppositionsbewegung. Legitimationsgrund solcher Forderungen waren in erster Linie alte genossenschaftliche Ideen, aber auch die politischen Forderungen aufgeklärter Staatsphilosophie 22, wobei diese beiden Legitimationsstränge am Vorabend der Französischen Revolution ineinander übergingen. Ein fortschrittliches Modell einer Stadtverfassung im Geiste aufgeklärter Verfassungstheorie ausgangs des 18. Jh. entwickelte Dohm in seinem "Entwurf einer verbesserten Constitution der kaiserlich freyen Reichsstadt Aachen" 23. Um,der politischen Kontinuität willen wies Dohm der "zünftigen Bürgerschaft" die " Landeshoheit " zu. An den Zünften wurde nur festgehalten, um die Bürgerschaft politisch zu gliedern, sie waren aber nicht länger berufsständische Korporationen. Von Bedeutung sind weiterhin ein relativ ausführlicher Grundrechtsteil, die Formulierung des Gesetzesvorbehalts, Regelungen von Wahlverfahren und anderes mehr. Insgesamt gesehen scheint dieser Verfassungsentwurf, an dem Dohm seit Ende 1788 arbeitete, nicht entscheidend durch die revolutionären Ereignisse in Frankreich beeinflußt gewesen zu sein. Bedenkt man seine bereits früher geäußerten Überlegungen zu grundrechtlicher Freiheit und Gleichheit, so schöpft er wesentlich aus der preußischen Aufklärung, aber auch aus einem idealisierten Verständnis englischer Verfassungsverhältnisse 24. 3. In der zweiten Hälfte des 18. Jh. kam es zu einer " Verfassung " der "ordentlichen Justiz" als einer weitgehend unabhängigen Gewalt. Die Entwicklung der Justiz zu einer relativ eigenständigen Gewalt beruhte auf einer Professionalisierung des Richterstandes, nachdem Prüfungen 22 Hierzu R. Hildebrandt, Rat contra Bürgerschaft: Zeitschrift für Stadtgeschichte, Stadtsoziologie und Denkmalpflege, Bd. 1, 1974, S. 221 ff., 241; K. Müller, Studien zum Übergang von Ancien Regime zur Revolution im Rheinland. Bürgerkämpfe und Patriotenbewegung in Aachen und Köln: Rheinische Vierteljahresblätter 46 (1982), S. 102 ff., 121 ff.; K. Gerteis, Vorrevolutionäres Konfliktpotential und Reaktionen auf die Französische Revolution in west- und südwestdeutschen Städten, in: H. Berding (Hrsg.), Soziale Unruhen in Deutschland während der Französischen Revolution, 1988, S. 6-76; H. Zükert, Republikanismus in der Reichsstadt des 18. Jahrhunderts: Aufklärung 4 (1989), S. 53 ff. 23 Aachen, 1790. Zu weiteren Verfassungsentwürfen vgl. A. Kuhn, Jakobiner im Rheinland, 1976, S. 125 ff. 24 1. Dambacher, Christian Wilhelm von Dohm - Ein Beitrag zur Geschichte des preußischen aufgeklärten Beamtentums und seiner Reformbestrebungen am Ausgang des 18. Jahrhunderts, 1974, S. 74 ff.

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und persönliche Qualifikation zur Einstellungsvoraussetzung gemacht waren. Besetzung der Richterstellen nach Leistung und nicht nach fürstlichem Belieben sowie das Verbot willkürlicher Entlassung 25 verengten den fürstlichen Einfluß auf die Rechtsprechung erheblich. Hinzu trat ein "justizjuristisches Denken" der Richterschaft: Rechtsfälle wurden entsprechend der Entwicklung zum Gesetzgebungsstaat streng am Gesetz orientiert entschieden, nicht aber orientiert an politischer Zweckmäßigkeit oder an der Staatsräson 26 • Die Stoßrichtung der Verfassung der Rechtsprechung wurde von Ernst Ferdinand Klein deutlich formuliert: "Mitten in der unumschränktesten Monarchie kann die größte persönliche Freiheit herrschen, wenn nur eine weise und unparteiische Rechtspflege zu haben ist". 27 4. Der Schutz jener natürlichen und bürgerlichen Freiheit, die in älteren Quellen wurzelnd allmählich mit naturrechtlichen Freiheitsvorstellungen verschmolz, durch die Rechtsprechung in der zweiten Hälfte des 18. Jh. verdient als "Verfassung durch Rechtsprechung" besondere Beachtung. Unter Berufung auf die natürliche bzw. bürgerliche Freiheit wurden vielfach Eingriffe in die Rechtssphäre des Bürgers, für die keine gesetzliche Grundlage bestand, aufgehoben. Die Baufreiheit etwa wurde als Bestandteil der natürlichen Freiheit definiert 28 oder - modern gesprochen - die Niederlassungsfreiheit aus der "deutschen bürgerlichen Freiheit" 29 hergeleitet. Gleiches gilt für die freilich nur ansatzweise bestehende Gewerbefreiheit, in die nur "zur Beförderung des gemeinen Besten" aufgrund von Rechtsnormen eingegriffen werden durfte. So konnten etwa Eingriffe in das natürliche Recht, Bier zu brauen und zu vertreiben 30, oder als Apotheker bestimmte Medikamente zu vertreiben 31, abgewehrt werden.

25 Zur Unentlaßbarkeit der Richter und der Verwaltungsbeamten: B. Wunder, Privilegierung und Disziplinierung, 1978, S. 60 f. u. passim. 26 R. Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat? Zur Justiztheorie im 19. Jahrhundert, 1985, S. 28 f. 27 E. F. Klein, Von der Würde des richterlichen Amtes: Annalen der Gesetzgebung und Rechtgelehrsamkeit in den preußischen Staaten, Bd. 2, Berlin und Stettin 1794, S. 10 ff. 28 Zur "praesumtio libertatis" und zur Baufreiheit als Bestandteil der natürlichen Freiheit: J. U. Freiherr von eramer, Wetzlarische Beyträge, 1. Bd., 2. Teil, Wetzlar 1763, S. 52; vgl. weiter W. Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz in Preußen von 17491842, 1962, S. 38 ff. 29 Zum bekannten Rechtsstreit zwischen den Eheleuten Heißler und dem Fürstbischof von Speyer: Schlözer, Staatsanzeigen Bd. 11, H. 43 (1787), S. 258 ff.; zum "Anspruch" auf Bürgerrecht: D. G. Struben, Rechtliche Bedenken, 3. Teil, Hannover 1768, S. 55 f.; vgl. weiter B. Heusinger, Vom Reichskammergericht, seinen Nachwirkungen und seinem Verhältnis zu den heutigen Zentralgerichten, 1972, S. 10. 30 D. G. Struben, Rechtliche Bedenken, Hannover 1761, S. 100 f.; ders., ebd. 2. Teil, 1763, S. 164. 31 B. Heusinger (FN 29), S. 10 f.; Wulffen, Richterliches Prüfungsrecht im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation des 18. Jahrhunderts, 1968, S. 72 ff.

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Diese freiheitsrechtliche Begründung der Rechtsprechung wurde vom Berliner Kammergericht in der Sache Würzer auf den Punkt gebracht: Es wird als "unter Philosophen und Rechtsgelehrten bekannter Satz" bezeichnet, "daß es unverletztliche Menschenrechte gebe, über welche die Majestätsrechte nicht ausgedehnt werden dürfen". 32 Mit derartigen Formulierungen machte sich die Rechtsprechung zur Sachwalterin modemen Grundrechtsschutzes. Auf dieser Linie liegt es, wenn das Reichskammergericht die Anwendung jenes Partikularrechts ablehnte, das dem "Recht der Natur" oder den "guten Sitten" widerspreche 33. Der Rekurs auf das Naturrecht diente als Verfassungsersatz, ihm wird der Prüfungsmaßstab des Territorialrechts entnommen. So konnte man - bei aller Kritik im übrigen - 1792 das Reichskammergericht für seinen Schutz von "Menschenrechten und Bürgerfreiheit" rühmen 34. Legitimationsgrund dieser Rechtsprechung war der Konsens der Philosophen und Rechtsgelehrten, also eine "communis opinio doctorum", wie sie auch heute Grundlage richterrechtlicher Rechtsfortbildung sein sollte. Ob ein solcher Konsens in den zwei oder drei Jahrzehnten vor dem Zäsurjahr 1789 wirklich bestand, mag man mit guten Gründen bezweifeln. Sicher ist aber, daß die Idee einer naturrechtlichen Ersatzverfassung auf der großen Linie eines fortschrittlichen zeitgenössischen Denkens lag. Zu den zentralen Thesen aufgeklärter Staatsphilosophie gehörte, daß jenseits gesetzlicher Regelungen der Raum bürgerlicher Freiheit beginne, daß sich der Landesherr an die Gesetze binden lassen müsse, und daß gesetzliche Eingriffe in die Freiheit nur aus vernünftigem Grunde zulässig seien 35 . Verlassen wir die Perspektive des Freiheitsschutzes und wenden wir uns den Verfassungsstreitigkeiten des ausgehenden 18. Jh. zu, die vom Reichskammergericht und Reichshofrat entschieden wurden. Entgegen manchem Vorurteil nahmen diese höchsten Reichsgerichte eine vorsichtige verfassungsrechtliche Rechtsfortbildung für sich in Anspruch, die über die überkommene rechtsbewahrende Rechtsprechungsfunktion hinausging 36. Be32 Zur Entscheidung in der Sache Würzer vgl. H. P. Henke, Beurteilung aller Schriften, welche durch das Königlich Preußische Religionsedikt ... veranlaßt sind, Kiel 1793, S. 99. 33 J. J. Moser, Von der teutschen Justizverfassung, Frankfurt und Leipzig 1774, S. 1159; zum Einfluß der Aufklärung auf die Spruchtätigkeit des Reichskammergerichts: T. Bloem, Verfassungsgerichtliche Promleme von 1495 -1806, 1970, S. 109 ff., 113 ff. 34 Danz, Deutschland, Wie es war, wie es ist und wie es vielleicht werden wird, in: F. C. von Mosers Neuem Patriotischen Archiv 11, Mannheim , Leipzig 1794, S. 142 f., 157 f. 35 D. Klippel, Art. "Freiheit VI", in: Geschichtliche Grundbegriffe (FN 6), Bd. 2, 1975, S. 476 ff. (zu H. G. Scheidemantel, J. A. Philippi, J. A. Eberhard, J. F. v. Pfeiffer); R. Schulze, Policey und Gesetzgebungslehre im 18. Jahrhundert, 1982, S. 151 ff., 200 (zur Rücksichtnahme des Gesetzgebers auf den "natürlichen Freiheitsbereich" des Einzelnen).

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reits 1777 wies Pütter darauf hin, daß die Verfassung vieler Territorien und Reichsstädte "durch reichsgerichtliche Erkenntnisse erst ihre grundgesetzliche Bestimmung erhalten hat"37. Die Aachener Mäkelei ist ein berühmtes Argument für die These, daß Deutschland keiner Revolution bedürfe, sondern Verfassungsreformen auf dem Gerichtswege möglich seien. Damals übernahm das Reichskammergericht Dohms Verfassungsvorschlag, die Zünfte in gleichberechtigte politische Korporationen umzuwandeln. Zugleich betonte es seine Kompetenz, künftig über strittige Verfassungsfragen zu entscheiden und damit eine Verfassunggebung durch reichsgerichtliche Rechtsprechung zu institutionalisieren 38. Die Aachener Mäkelei steht stellvertretend für lokale Verfassungskrisen ausgangs des 18. Jh. Die auf Selbstverwaltung bzw. Mitverwaltung drängende bürgerliche, bäuerliche oder reichsstädtische Opposition suchte über die Reichsgerichtsbarkeit Verfassungsverbesserungen zu erreichen 38a. In solchen Fällen mußte die Opposition die sog. Syndikatsklage erheben. Hier knüpfte die Prozeßfähigkeit an das Mehrheitsprinzip an, so daß die auf Verfassungsreformen drängende Partei in einem ursprünglichen Sinn demokratisch legitimiert sein mußte. Das Reichskammergericht schützte in diesem Zusammenhang die Versammlungsfreiheit, derer man bedurfte, um die Prozeßführung durch gemeinsame Willensbildung zu legitimieren 39 . 5. a) Um zu einem weiteren verfassungs staatlichem Prinzip, dem Vorrang der Verfassung, überzugehen: Im Verfassungsstaat kommt der Verfassung höchster Rang in der Normenordnung zu. Jede einfachgesetzliche Norm muß sich an der Verfassung messen lassen. Einfaches Recht ist nichtig oder zumindest vernichtbar, wenn es mit der Verfassung nicht vereinbar ist. Die Idee des Vorrangs der Verfasung war, wenn auch unter anderen Vorzeichen, bereits in der überkommenen Staatsrechtslehre des Reiches

36

Anders R. Herzog, Reichskammergericht und Bundesverfassungsgericht, 1989.

37 J. S. Pütter (FN 14), S. 307. 38 Nw. bei Würtenberger (FN 12), S. 77 mit FN 117. 38a Zum Verfassungskonflikt in Aachen und Köln vgl. K. Müller (FN 22) S. 156 ff.;

zum Verfassungskonflikt in Esslingen vgl. U. Eberlein, Die Esslinger Bürgerprozesse, iur. Diss. Tübingen 1987, S. 192 ff.; allgemein zu den Verfassungskonflikten in den Reichsstädten: K. O. Freiherr von Aretin, Heiliges Römisches Reich 1776 -1806, Teil 1, 1967, S. 90 ff.; M. Braubach, Rheinische Geschichte, Bd. 2, 1976, S. 320 ff.; zum Verfassungskonflikt in Hohenzollern-Hechingen vgl. V. Press, Der hohenzollernhechingische Landesvergleich von 1798: Zeitschrift für Hohenzollerische Geschichte 14 (1978), S. 77 ff.; zu den verfassungspolitischen Zielsetzungen bäuerlicher Opposition: C. H. Hauptmeyer, Bäuerlicher Widerstand in der Grafschaft SchaumburgLippe im Fürstentum Calenberg und im Hochstift Hildesheim, in: W. Schulze (Hrsg.), Aufstände, Revolten, Prozesse, 1983, S. 217 ff., 222 ff.; allgemein zur Konsensgebundenheit von Rechtsänderungen vgl. G. Dilcher (FN 3), S. 172. 39 J. J. Moser, Von der reichsstättischen Regimentsverfassung, Frankfurt, Leipzig 1772, S. 450 ff.

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und der Territorien angelegt. Nichtig war, was etwa gegen die kaiserliche Wahlkapitulation, also ein Grundgesetz des Reiches, geschah 40. In der politischen Theorie wurde seit dem 16. Jh. das dem Vorrang der Verfassung zugrundeliegende Prinzip formuliert, indem zwischen ewigen und unabänderlichen Gesetzen auf der einen Seite und den zur Disposition des Gesetzgebers stehenden sogenannten Zeitgesetzen auf der anderen Seite unterschieden wurde 41 . In den ewigen Gesetzen sind - wie in der Verfassung - die unabänderlichen Grundlagen menschlichen Zusammenlebens naturrechtlich oder gemäß göttlicher Offenbarung festgeschrieben, während der Erlaß von Zeitgesetzen Aufgabe der zur Normsetzung berufenen Instanzen ist.

Der Vorrang der Verfassung vor Akten des Gesetzgebers wurde seit der naturrechtlichen Staatstheorie von Christian Wolffund Justi auf die Souveränität und verfassunggebende Gewalt des Volkes gestützt. Ein Vorrang der Verfassung war für all jene zwingend, die in der Verfassung - in Fortsetzung der Unterscheidung von naturrechtlich unabänderlich geltenden Gesetzen und Zeitgesetzen - geronnenes Naturrecht sahen. Waren in der Verfassung unabänderliche Grundsätze des Natur- und Vernunftrechts normiert, so durfte sich keine staatliche Gewalt, auch nicht der Gesetzgeber, über die Verfassung hinwegsetzen. Bevor freilich geschriebene Verfassungen erlassen waren, diente das Naturrecht und das aus ihm entwickelte Allgemeine Staatsrecht bisweilen als Verfassungsersatz 42 . In den Worten der damaligen Zeit: "Jetzt stimmt man ziemlich darin überein, daß auch in Ermangelung aller positiven Grundgesetze schon aus der Natur und dem 40 J. J. Moser, Grund-Riß der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reiches, Tübingen 1754, Lib. 3 cap. 6 § 59; ders., Von denen teutschen Reichstagsgeschäften, Frankfurt 1768, S. 284; F. C. K. Freiherr von Creutz, Versuch einer pragmatischen Geschichte von der merkwürdigen Zusammenkunft des teutschen Nationalgeistes, Frankfurt 1766, S.8 (Unterordnung der Gesetze unter die "Staatsverfassung"); J. S. Pütter (FN 14), S. 308 f. (zur Bestätigung der Landesverfassungen durch Kaiser oder Reichsschluß); vgl. weiter M. Stolleis (FN 8), S. 181 f. (zur Begrenzung des Souveränitätsgedankens durch göttliches Recht, Natur- und Völkerrecht, Reichsgrundgesetze und Reichsherkommen); H. Mohnhaupt, Die Lehre von der "lex fundamentalis" und die Hausgesetzgebung europäischer Dynastien, in: J. Kunisch (Hrsg.), Der dynastische Fürstenstaat, 1982, S. 3 ff., 11 ff. 41 So J. Oldendorp, Ratsmannenspiegel (1530), hrsg. von Erik Wolf (1948), S. 38; hierzu H. Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, 2. Aufl. 1980, S. 111 f.; vgl. weiter J. H. Jung, Lehrbuch der Staats-Polizey-Wissenschaft, Leipzig 1788, S. 210; w. Nw. bei R. Grawert, Artikel "Gesetz", in: Geschichtliche Grundbegriffe (FN 6), Bd. 2, 1975, S. 863 ff., 890, der die Unterscheidung zwischen "allgemein"-dauernden Gesetzen und Zeitgesetzen allerdings in das 18. Jahrhundert verweist. 42 Des Freyherrn von Bielfeld Lehrbegriff der Staatskunst, I. Theil, 3. Aufl., Breslau und Leipzig 1777, S. 154 f.; zum jüngeren Naturrecht als Verfassungsersatz vgl. D. Klippei, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jh., 1976, S. 184 ff.; ders. (FN 3), S. 384; P. Krause, Naturrecht und Kodifikation: Aufklärung 3 (1988), S. 12 f. (mit Anm. 13 u. 14).

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Begriff eines Staates gewisse wesentliche Grundsätze fließen, nach welchen das Verhältnis zwischen Regenten und Untertanen, und ihre wechselseitigen Rechte und Verbindlichkeiten beurtheilt werden müssen (... )".43 Nach der Französischen Revolution ließ sich ohne größeren Perspektivenwechsel der Vorrang jener Verfassungen, die aufgeklärtes Naturrecht kodifizierten, mit der Erfordernis eines umfassenden Grundrechtsschutzes begründen: "Die Gesetzgeber (... ) sind an die in der Konstitution aufgestellten Grundgesetze streng gebunden, und jeder denselben zuwidergehende Gesetzesentwurf ist ein kühnes Attentat wider die Konstitution, und greift die Freiheit, die Gleichheit und das Eigentum aller Gesellschaftmitglieder unmittelbar an".44 Die Frage, wie sich der Vorrang der Verfassung rechtlich sichern lasse, war als Problem frühzeitig erkannt worden. Johann Friedrich von Pfeiffer will die vollziehende Gewalt durch Parlamentsauflösung und Ausschreibung von Neuwahlen darüber wachen lassen, daß sich die gesetzgebende Gewalt an die "Grundverfassungen" hält 45 . Der Kölner Anwalt Christian Sommer schlägt vor, die Verfassung solle einen "Erhaltungssenat" vorsehen, der die Vereinbarkeit von Gesetzentwürfen mit der Verfassung überprüft 46 . Hier mögen französische Verfassungsreformen ebenso wie die preußische "Gesetzkommission" oder Justis "Gesetzesverwahrung" 47 Pate gestanden haben. Und wenn der Spruch des "Erhaltungssenats" "für die Gesellschaft die höchste Wahrheit und das höchste Recht enthalten (soll), worüber zu erkennen, keine höhere Gewalt anzuordnen ist"48, so werden dieser Institution Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit zugesprochen. 43 C. A. Günther, Ueber den Werth des allgemeinen Staatsrechts: Leipziger Magazin für Rechtsgelehrte, 1. Jg. Bd. 2, 1784, S. 102; w. Nw. bei K. Gerteis, Bürgerliche Absolutismuskritik im Südwesten des Alten Reiches vor der Französischen Revolution, 1983, S. 181 ff.; D. KlippeI, Naturrecht als politische Theorie. Zur politischen Bedeutung des deutschen Naturrechts im 18. und 19. Jahrhunderts, in: Bödeker / Herrmann (Hrsg.) (FN 11), S. 275 f. 44 Ch. Sommer, Grundlage zu einem vollkommenen Staat, Köln 1802, S. 54; J. G. Buhle, Lehrbuch des Naturrechts, Göttingen 1798, S. 240 f., 298; K. H. Heidenreich, Grundsätze des natürlichen Staatsrechts, Bd. 2, Leipzig 1795, S. 3 f.; L. F. Freddersdorf, System des Rechts der Natur, auf bürgerliche Gesellschaften, Gesetzgebung und das Völkerrecht angewandt, Braunschweig 1790, S. 523; vgl. weiter J. Schröder, "Naturrecht bricht positives Recht" in der Rechtstheorie des 18. Jahrhunderts, in: FS für Paul Mikat, 1989, S. 419 ff., 432 m. FN 78. 45 J. F. von Pfeiffer, Grundsätze der Cameral-Wissenschaft, Bd. 1, Frankfurt 1783, S. 70 mit Ausführungen zu einem Kondominium zwischen Legislative und Exekutive bei Erlaß der Gesetze. 46 Ch. Sommer (FN 45), S. 67 f. 47 Vgl. Des Herrn von Justi Natur und Wesen der Staaten als die Quelle aller Regierungswissenschaften und Gesetze, hrsg. von Heinrich Godfried Scheidernantel, Mitau 1771, § 67. 48 Ch. Sommer (FN 45), S.68; vgl. weiter F. Bühler, Verfassungsrevision und Generationenproblem, 1949, S. 30 f. 7 Der S taa t, Beiheft 10

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b) In der zweiten Hälfte des 18. Jh. waren Demokratie und Volkssouveränität als Leitprinzipien politischer Organisation oftmals angesprochen, aber meist sehr zurückhaltend behandelt worden. Justi etwa entfaltete unter dem Begriff der "Grundgewalt" eine Lehre, die die verfassunggebende Gewalt dem Volk zuordnete 49 • Johann Friedrich von Pfeiffer forderte in seinen "Grundsätze(n) der Universal-Cameral-Wissenschaft", die gesetzgebende Gewalt solle durch eine Repräsentativkörperschaft ausgeübt werden, die von "Besitz-Bürgern" zu wählen sei 50. Friedrich earl von Moser wollte dem "Dritten Stand" in einem neu geschaffenen Unterhaus des Regensburger Reichstages Sitz und Stimme geben 51. Eine prononcierte Distanzierung gegenüber der demokratischen Idee manifestiert sich in der seit den achziger Jahren geläufigen Differenzierung zwischen bürgerlicher und politischer Freiheit. Aus vielerlei Gründen votierte man für eine die bürgerliche Freiheit sichernde, aufgeklärte Monarchie, die das Verlangen nach politischer Freiheit überflüssig mache. In diesem Sinne war für Svarez ein in rechtsstaatliche Bande gelegter aufgeklärter Absolutismus - wie in Preußen praktiziert - verfassungspolitisches Ideal. Es galt das Motto "die Tugend und Weisheit des Monarchen (kann) den Mangel aller politischen Freyheit ersetzen". 52 Die Begründung machtbegrenzender und die Freiheit sichernder Institutionen 53 stand in den preußischen politisch-rechtlichen Diskussionen im Vordergrund. Erreichbar erschien die verfassungsrechtliche Sicherung der bürgerlichen Freiheit, die der politischen Freiheit war aber eher ein Fernziel, das ein weiteres Mündigwerden des Volkes voraussetzte. Denn daß im Volk des ausgehenden 18. Jh. jene Mündigkeit noch fehlte, die eine demokratische politische Teilhabe voraussetzt, war eine harte Realität 54, die eine Forderung nach Demokratisierung absurd machte 55 • 49

50

Vgl. bei FN 48

J. F. von Pfeiffer (FN 46), S. 68 f.; ähnlich auch A. Freiherr von Knigge, Sechs

Predigten gegen Despotismus, Dummheit, Aberglauben ... , 1783, in: Sämtliche Werke, hrsg. von P. Raake (1978), Bd. 9, S. 9. 51 F. C. von Moser, Patriotische Briefe, o. O. 1767, S. 62 ff.; zur Realitätsferne dieser Forderung: J. G. Gagliardo, Reich and Nation, 1980, S. 63. 52 J. A. Eberhard, Über die Freyheit des Bürgers und die Prinzipien der Regierungsformen, in: ders., Vermischte Schriften, 1. Theil, Halle 1784, S. 1 ff., 28; ähnlich 1. [selin, Versuch über die gesellige Ordnung, Basel 1772, S. 113. 53 R. Wahl, Die Entwicklung des deutschen Verfassungsstaates bis 1866, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 1987, S. 9 f. 54 Horst Möller, Wie aufgeklärt war Preußen, in: Puhle / Wehler (Hrsg.), Preußen im Rückblick, 1980, S. 185 spricht in diesem Zusammenhang von der durch die "kulturelle Elite" der Aufklärer "postulierte(n) Mündigkeit aller Bürger", die allerdings mit "der faktischen Unmündigkeit ihrer überwältigendne Mehrheit" einhergegangen sei. 55 Ebenso anachronistisch ist es, angesichts dieser Realität den preußischen Reformen des ausgehenden 18. Jh. Demokratiefeindlichkeit (so E. Hellmuth, Naturrechtsphilosophie und bürokratischer Werthorizont, 1985, S. 284 f.) vorzuwerfen.

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Die Staatsphilosophie Kants, die auf die preußische Aufklärung erheblichen Einfluß hatte, lieferte das theoretische Fundament für diese Verengung des Blickwinkels auf einen freiheitlich-rechtsstaatlichen Konstitutionalismus. "Eine vollkommen gerechte bürgerliche Verfassung" zeichnet sich nach Kant dadurch aus, daß "Freiheit unter äußeren Gesetzen im größtmöglichen Rahmen (... ) angetroffen wird".56 Die Demokratie und damit auch das Mehrheitsprinzip gilt ihm als eine despotische Herrschaftsform, da "alle über und allenfalls auch wider einen (der also nicht mit einstimmt), mithin alle, die doch nicht alle sind, beschließen" 57. Die Erfahrung der Französischen Revolution bestärkt das Mißtrauen gegen den Absolutismus demokratischer Mehrheiten. Ernst Ferdinand Klein bringt die Skepsis gegenüber der Demokratie auf den Begriff: "Wozu nützt es, unter Tausenden eine Stimme zu haben, wenn die übrigen Neuhundertneunundneuzig vermöge ihrer Mehrheit mit mir machen können, was ihnen beliebt." 58 In der Staatsphilosophie Kants spiegelt sich jene bürgerliche Mentalität um die Wende des 18. zum 19. Jh., die Freiheit durch den Staat erwartete. Gleichzeitig vertraute man eher auf die Reformfähigkeit des Absolutismus und seiner Bürokratie als auf die Rationalität parlamentarischer Lösungen politischer Konflikte. Hierin eine für Deutschland spezifische Retardierung demokratischen Gedankengutes zu sehen, erscheint durchaus fragwürdig. Immerhin bedurfte es auch in Frankreich des Werkes eines Benjamin Constant, um die Idee der Volkssouveränität und zugleich ihrer grundrechtlich-freiheitsschützenden Bindung durchzusetzen 59.

III.

1. Das Verfassungsrecht besitzt eine eigentümliche Ambivalenz in der Geschichte des Entstehens und Vergehens politischer Ordnungen. Zum einen werden politische Ideen im Verfassungsrecht normiert und beeinflus56 Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 1784, hier und im folgenden zitiert nach der Werkausgabe in 12 Bänden, hrsg. von W. Weischedei (1977), Bd. 11, S.39 ("Fünfter Satz"); zum folgenden W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, 1984, S. 279 ff., 288 ff., 305 ff.; H. Dreier, Demokratische Repräsentation und vernünftiger Allgemeinwille: AöR 113 (1988), S. 450 ff., 469 ff. 57 Immanuel Kant, Zum Ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, 1794/ 1795: Kant Werkausgabe Bd. 11, S. 207 ("Erster Definitivartikel "). 58 E. F. Klein, Von der Würde des richterlichen Amtes: Annalen der Gesetzgebung und Rechtsgelehrsamkeit in den preußischen Staaten, Bd. 2 , Berlin und Stettin 1794, S.12. 59 Einzelheiten bei Th. Würtenberger, Zur Legitimiation der Staatsgewalt in der politischen Theorie von Benjamin Constant: Annales Benjamin Constant 10 (1989), S. 65 ff.

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sen kraft der dem Recht eigenen normativen Kraft das politisch-rechtliche Bewußtsein und das Handeln der Generationen, die unter der Verfassung leben. In einem durchaus gegenläufigen Sinn werden aber auch das Entstehen und der Wandel von Verfassungen durch einen Wandel im politischrechtlichen Bewußtsein der staatstragenden Elite oder auch der Bevölkerung ganz wesentlich beeinflußt 60 • So gesehen läßt sich die Entwicklung der Staatsverfassung an der Wende vom 18. zum 19. Jh. auch unter diesem sozialpsychologischen Aspekt betrachten, wonach das politisch-rechtliche Bewußtsein Entwicklungen des Verfassungsrechts widerspiegelt, der Wandel im politisch-rechtlichen Bewußtsein zugleich aber auch Agens der verfassungsrechtlichen Entwicklung ist. 2. Die politische Theorie der Aufklärung, zunächst von einer kleinen Elite entwickelt und diskutiert, wurde im letzten Drittel des 18. Jh. Gegenstand eines engagiert geführten öffentlichen Diskurses 61. Diese "Demokratisierung der politischen Auseinandersetzungen" zeigt sich rein quantitativ an der Zunahme von Zeitschriften und Druckwerken 62 politischen Inhalts. In Lesegesellschaften, Salons 63, Logen 64 und Geheimbünden setzte sich eine breiter werdende bürgerliche Schicht mit den neuen politischen Ideen auseinander. Diese neuen Formen gesellschaftlicher Assoziation trugen zu den Veränderungen politischen Bewußtseins wesentlich bei. Sie sind der Nährboden jenes mächtigen Zeitgeistes, der nach 1800 Verfassungsreformen einforderte 65 • 60 Th. Würtenberger, Zeitgeist und Recht, 2. Auf!. 1991, S. 94 ff., 191 ff.; vgl. weiter V. Sellin, Mentalität und Mentalitätsgeschichte: HZ 241 (1985), S. 555 ff. 61 Einzelheiten bei H. E. Bödeker, Prozesse und Strukturen politischer Bewußtseinsbildung der deutschen Aufklärung, in: ders. / Herrmann (Hrsg.) (FN 11), S. 10 ff., 23 ff.; R. Vierhaus, Politisches Bewußtsein in Deutschland vor 1789, in: ders., Deutschland im 18. Jh., 1987, S. 182 ff., 194 ff. - Diese Entwicklungslinien sind bei D. Grimm (FN 1), S. 11 ff. und ders., Entstehungs- und Wirkungsbedingungen des modernen Konstitutionalismus, in: D. Simon (Hrsg.), Akten des 26. Deutschen Rechtshistorikertages, 1987, S. 45 ff., 50 ff., weitgehend ausgeblendet. 62 W. Ruppert, Bürgerlicher Wandel, 1984, S. 125 ff. 63 O. Dann (Hrsg.), Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation, 1981; U.lm Hof, Das gesellige Jahrhundert. Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung, 1982; P. Wilhelmy, Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert (1780-1914), 1989, S. 64 (zum "revolutionären" Charakter der Berliner Salons in der preußischen Ständegesellschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts). 64 W. Ruppert (FN 63), S. 140 ff. 65 Erwähnt sei an dieser Stelle nur "Des Geh. Oberfinanzrats von Altenstein Denkschrift über die Leitung des Preußischen Staats" vom 11. 9.1807: "Wenn der Zeitgeist oder die Summe der Fortschritte der Menschheit zu einem höheren Ziel mächtig eingreift und im Innern oder von außen kräftig wirkt und die Lage der Dinge ändert, der Geist nach anderen Formen strebt (... ), dann ändert sich die Verfassung von selbst, wenn ihr nicht Fesseln angelegt sind, die solches unmöglich machen. Die Änderung der Grundverfassung ist bloß ein Nachgeben gegen das, was der Zeitgeist erheischt" (Die Reorganisation des Preußischen Staates unter Stein und

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3. Das politisch-rechtliche Bewußtsein wird nicht allein durch die politische Theorie, sondern auch durch kollektive Erlebnisse und bewußtseinsprägende Ereignisse gewandelt. Ganz besonders bewußtseinsprägend war die Französische Revolution von 1789 66 • Diese hat die deutsche politische Öffentlichkeit für Verfassungsfragen zunächst sensibilisiert und sodann in der Frage der Wünschbarkeit von Verfassungen gespalten 67. Gleichwohl läßt sich keinesfalls von völliger Diskontinuität im politischrechtlichen Bewußtsein vor und nach 1789 sprechen. In den Diskussionen vor 1789 waren fast alle der nun engagiert diskutierten Verfassungsfragen bereits behandelt. Dies gilt etwa für Grundrechte, Gewaltenteilung oder Volkssouveränität. Selbst das Recht des Volkes zur Verfassunggebung 68 und der Gestaltung einer demokratischen Ordnung war in Deutschland ansatzweise auch schon vor 1789 diskutiert worden. Die Kontinuität in der verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Diskussion wird auch daran deutlich, daß die politisch-rechtliche Begrifflichkeit vor und nach 1789 im wesentlichen gleich blieb. Das deutsche politisch-rechtliche Bewußtsein war eben bereits seit den siebziger Jahren des 18. Jh. mit den Ideen von 1789 vertraut gemacht worden. Nur so ist die anfängliche Begeisterung über die Ereignisse in Paris begreiflich. Wurden doch in Frankreich Prinzipien und Ideen verwirklicht, die in Deutschland im aufgeklärten Diskurs verbreitet und positiv besetzt waren. In diesem Sinne sah man die Französische Revolution und die preußische Reformgesetzgebung in gleichem Geist wurzeln, nämlich die "Gesetze der Menschlichkeit" auf vernünftigem Wege zu verwirklichen 69. Im Gegenzug gilt es natürlich auch, Wandlungen im politisch-rechtlichen Bewußtsein zu betonen, die erst durch die Französische Revolution bewirkt wurden. In der Zuspitzung der Ereignisse in Paris hatte man nun die Hardenberg, hrsg. von G. Winter, Bd. I, 1931, S. 389); vgl. weiter Th. Würtenberger (FN 61), S. 56 ff., 73 ff. (zu Recht und Verfassung unter dem bestimmenden Einfluß des Zeitgeistes zu Beginn des 19. Jahrhunderts). 66 E. Weis, Konservatives oder progressives Geschichtsbild? Der Einfluß der Französischen Revolution, in: B. Rill (Hrsg.), Freiheitliche Tendenzen der Deutschen Geschichte, 1989, S. 46 ff.; ders., Deutschland und die Französische Revolution, in: V. Schubert (Hrsg.), Die Französische Revolution, 1989, S. 117 ff. 67 Dies ..wird auch von den Zeitgenossen zum Ausdruck gebracht (vgl. C. M. Wieland, Uber die Revolution, in: Batscha / Garber (Hrsg.), Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft, 1981, S. 355 ff., 363; C. F. Häberlin, Über die Güte der deutschen Staatsverfassung: Deutsche Monatsschrift, 4. Jg., Leipzig, Januar 1793, Vorrede). 68 Zur Diskussion der verfassunggebenden Gewalt des Volkes vgl. die Beiträge von C. M. Wieland, von einem anonymen Autor, und von J. Möser, in: Stammen / Eberle (Hrsg.) (FN 3), S. 28 ff., 36 ff., 69 ff., 137 ff. 69 Carl von Clauer, Noch ein Beitrag über das Recht der Menschheit: Berlinische Monatsschrift, 1790, S. 452 ff.

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Möglichkeit, die realen Auswirkungen demokratischer Verfassunggebung zu bewerten. Die früher latent vorhandene Spaltung des politisch-rechtlichen Bewußtseins wird nunmehr offenkundig. In der publizistischen Auseinandersetzung formiert sich nunmehr die konservative Strömung gegen die liberalen und gegen die nur kurz auflodernden demokratisch-jakobinischen Ansätze zur Verfassungsreform 70. 4. Mitte des 18. Jh. rückten Verfassungsbewußtsein und Patriotismus in das Zentrum des Interesses. Je nach politischem Standort wurden unterschiedliche Bezugspunkte des Patriotismus artikuliert. Neben dem sich zu Ende des alten Reiches wiederbelebenden, an der Reichsverfassung orientierten Reichspatriotismus stand ein Patriotismus, der den landständischen Institutionen anhing, der sich in Vaterlandsliebe und Akzeptanz der gegebenen Obrigkeit äußerte 71. Dementgegen entwickelte sich ein Verfassungspatriotismus, der sich für eine aufgeklärte Rechts- und Verfassungsordnung einsetzte. Seit der Mitte des 18. Jh. wurden Freiheit, Republikanismus, beziehungsweise konstitutionell begrenzte Monarchie und auch ein gewisses Maß an Gleichheit als Voraussetzungen von Patriotismus angesehen 72. Zur Beförderung eines solchen Patriotismus empfahl man eine Popularisierung des Allgemeinen Staatsrechts, das den Zweck des Staates und seiner Institutionen, die Rechte und Pflichten der Bürger und damit die erforderlichen Grundlagen des Staatsund Verfassungsbewußtseins vermitteln sollte 73. Auf dieser Linie entfalteten sich nach der Französischen Revolution ein Verfassungsbewußtsein und 70 Zur Diskussion von Verfassungsreformen nach 1789: Krug, Grundlinien zu einer allgemeinen deutschen Republik, 1797, abgedr. bei Stammen / Eberle (FN 3), S. 393 ff. (Volkssouveränität, Grundrechte und Repräsentation als Leitlinien der Verfassunggebung); Anonym, Entwurf einer republikanischen Verfassungs-Urkunde (1799), abgedr. ebd., S. 427 ff.; C. von Dalberg, Von Erhaltung der Staatsverfassungen, 1795 (Reform der Verfassung bei Achtung ihrer historischen Kontinuität). 71 Vgl. W. Sheldon, Patriotismus bei Justus Möser, in: R. Vierhaus, " Patriotismus " - Begriff und Realität einer moralisch-politischen Haltung, in: ders. (Hrsg.), Deutsche patriotische und gemeinnützige Gesellschaften, 1980, S. 31 ff. ; K. O. Freiherr von Aretin, Reichspatriotismus: Aufklärung 4 (1989), S. 37 ff. m. Nw.; vgl. weiter C. F. Bahrdt, Handbuch der Moral für den Bürgerstand, Tübingen 1789, S. 153 ff.; hierzu kritisch D. Sternberger, Begriff des Vaterlandes, in: ders., Staatsfreundschaft. Schriften, Bd. IV, 1980, S. 9 ff., 27 ff. 72 J. G. Schlosser, Politische Fragmente, in: Kleine Schriften, Bd. 2, Basel 1780, S. 224 f., 236 (zu Patriotismus und Reform der Landstände), S. 237 ("Frey muß der Staat sein, jeder Bürger sich Theil des Staates fühlen, wo Patrioten möglich sind"); Th. Abbt, Vom Tode für das Vaterland, Berlin 1761 (Nachdruck 1915), S. 24 f. (bürgerliche Gleichheit und Freiheit als Voraussetzung von Vaterlandsliebe), S. 79 (zur Verteidigung der "Staatsverfassung", weil sie "Schutz und Freiheit" gewährt); J. G. Zimmermann, Vom Nationalstolz, Zürich 1758, S. 177 (Freiheit, Gleichheit und republikanische Regierungsform als Voraussetzungen von Nationalstolz); w. Nw. bei K. Gerteis (FN 44), S. 161 ff.; M. Stolleis, Reichspublizistik und Reichspatriotismus vom 16. bis zum 18. Jahrhundert: Aufklärung 4 (1989), s. 7, 19 f. 73 C. A. Günther (FN 44), S. 118 f.

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ein Verfassungspatriotismus, die die Idee des modernen Verfassungsstaates zum Bezugspunkt hatten. Dieser sich um die Jahrhundertwende entwickelnde Verfassungspatriotismus war Voraussetzung dafür, daß in den Befreiungskriegen bürgerliche Freiheit, Repräsentativsystem und Nationalstaat jene weit verbreiteten politischen Forderungen wurden, in deren Namen mit politischem Engagement gegen Napoleon gekämpft werden konnte. Und er war zudem die Basis jenes sich zu Beginn des 19. Jh. durchsetzenden Zeitgeistes, der auf den Erlaß konstitutioneller Verfassungen gerichtet war. 5. Im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jh. wurden die Reformprojekte im Bereich von Staat und Verwaltung von einer reformorientierten Bürokratie getragen. Dies gilt in besonderem Maße für das hohe preußische Beamtentum, dies gilt aber auch, wenngleich bisweilen mit Abstand, für die übrigen Territorien, in denen das hohe Beamtentum ebenfalls treibendes Element bei Reformen von Staat und Verwaltung war. Für das aufgeklärte Beamtentum Berlins steht die "Gesellschaft von Freunden der Aufklärung", kurz Mittwochsgesellschaft genannt, die zwischen 1783 und 1798 in Berlin bestand 74. Ihr gehörten führende Beamte im Justiz-, Verwaltungs- und Bildungswesen, geistliche Amtsträger, aber auch Philosophen und Publizisten an. Von den Juristen seien nur Christian Wilhelm von Dohm, Ernst Ferdinand Klein oder Carl Gottlieb Svarez genannt. Teilweise durch Christian Wolf!, später durch die Auseinandersetzung mit Kant geprägt, verfolgten sie ein gemeinsames Anliegen: Vernunftgeleitet sollte zur Reform von Staat und Gesellschaft ein verantwortungsvoller Beitrag geleistet werden. 6. Die Frage, die sich aufdrängt: Worauf beruht diese geistige Kohärenz des hohen Beamtentums, das in verschiedenen Territorien unabhängig von einander und gleichwohl in überraschender Harmonie Verfassungs- und Verwaltungsreformen vorantreibt? Eine erste Antwort mag darauf hinweisen, daß das hohe Beamtentum - wie es auch sonst zu beobachten ist in ganz besonderem Maße unter den Einflüssen der geistigen Strömungen der Zeit stand. Der Zeitgeist der Jahrhundertwende, wie er sich in zahlreichen Zeitschriftenartikeln und Flugschriften äußerte, drängte auf fortschrittliche Verfassungs- und Verwaltungsreformen, derer sich das Beamtentum bereitwillig annahm. Zeitgeist um 1800 war ein emanzipatorischer Begriff: In Entwürfen von Beamten und in den Verfassungsberatungen nach 1815 findet sich häufig der Hinweis, der Zeitgeist erfordere Reform.

74 Zum folgenden G. Birtsch, Die Berliner Mittwochsgesellschaft, in: Bödeker / Herrmann (Hrsg.), Über den Prozeß der Aufklärung in Deutschland im 18. Jahrhundert, 1987, S. 94 ff.

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Auch ein weiterer Erklärungsversuch kann an der geistigen Prägung des hohen Beamtentums der damaligen Zeit ansetzen. Dieses hatte in aller Regel während seiner akademischen Ausbildung Zugang zur Geisteswelt des Liberalismus gefunden 75. Eine Sonderstellung im akademischen Bereich nahm in diesem Zusammenhang Göttingen ein. Bei Pütter, Achenwall und Schlözer wurde ein insgesamt gesehen "aufgeklärtes Staatsrecht" und fortschrittliches Naturrecht vermittelt, gleichzeitig aber an die Geschichte und Formkraft der überkommenen Ordnung angeknüpft. Durch diese Göttinger Schule, deren Erfolge auch auf ihrer Lehrfreiheit beruhten, sind zahlreiche Persönlichkeiten gegangen, die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in Staat und Verwaltung führend tätig waren 76. Die Mehrzahl dieser Beamten hatte Vorlesungen der seit Mitte des 18. Jh. neu geschaffenen Lehrstühle für Kameralwissenschaften besucht. Die bedeutenden kameralistischen Lehrbücher jener Zeit, zugleich auch Gegenstand und Grundlage von Vorlesungen, stellten die Kameral- und Polizeiwissenschaften in einen größeren staatstheoretischen Zusammenhang. Das positive Staatsrecht vielfach beiseiteschiebend wurden hier Systeme eines natürlichen Staatsrechts und Modelle einer vernünftigen Staatsorganisation entwickelt. Auf diese Weise lernte der kameralistisch und polizeiwissenschaftlich geschulte Verwaltungsbeamte bereits in seiner Ausbildung ein vernunftrechtliches Verfassungsverständnis kennen - und erst in zweiter Linie die Verfassungskonzeption der älteren Reichstaatslehre 77 • Dies umso mehr, als Kenntnisse im Naturrecht im preußischen Staatsexamen zur Übernahme in den Verwaltungsdienst nachgewiesen werden mußten 78. So wurden über den Umweg der Kameral- und Polizeiwissenschaften naturrechtliche Ideen der Volkssouveränität, der Gewaltenteilung, des Freiheitsschutzes, der Umbildung der Ständeversammlungen oder der gesetzgebenden Gewalt des Volkes entwickelt und an den Universitäten gelehrt. Wer über die Curricula bestimmt, bestimmt über das Denken: Nach 75 Vgl. zur Rezeption der Ideen von Adam Smith: H. H. Gerth, Bürgerliche Intelligenz um 1800, Diss. von 1935, Neuauflage 1976, S. 41 ff., 45. 76 Vgl. W. Ebel, Der Göttinger Professor Johann Stephan Pütter aus Iserlohn, 1975, S.53; W. Hennies, Die politische Theorie August Ludwig von Schlözers zwischen Aufklärung und Liberalismus, 1985, S. 192 ff.; R. Saage, August Ludwig Schlözer als politischer Theoretiker, in: Herlitz / Kern (Hrsg.), Anfänge Göttinger Sozialwissenschaft, 1987, S. 13 ff. 77 Die Verknüpfung von positivem Staatsrecht und naturrechtlich entwickeltem Allgemeinen Staatsrecht, die für den akademischen Unterricht der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kennzeichnend war, läßt sich bis in die sog. Kronprinzenvorträge verfolgen (vgl. H. Conrad, Reich und Kirche in den Vorträgen zum Unterricht Josephs H., in: FS Braubach, 1964, S. 602 ff., 612). 78 W. Bleek, Kameralistische Beamtenbildung im 18. Jahrhundert, in: U. Hermann (Hrsg.), Die Bildung des Bürgers, 1982, S. 306 ff., 315 f. mit dem Hinweis, daß gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Mehrzahl der höheren preußischen Verwaltungsbeamten ein rechts- und kameralwissenschaftliches Studium absolviert hatte.

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diesem Prinzip wurde hier - freilich unbeabsichtigt - durch Einführung der kameralwissenschaftlichen Lehrstühle einem neuen politisch-rechtlichen Denken der Beamtenschaft und der juristisch-kameralistisch Ausgebildeten der Weg geebnet.

IV. Der deutsche Konstitutionalismus wurzelt zwar unbestritten auch in der vom Westen kommenden politischen Theorie, in sehr starkem Maße aber auch in der aufgeklärten Staatstheorie und in den Ansätzen zur Rechtsund Verfassungsreform des ausgehenden 18. Jh. 79 Die süddeutschen Verfassungen nehmen in dieser Zeit erfolgte Uminterpretationen auf: Die landständischen Versammlungen sind Vertreter des ganzen Landes, Gesetze kommen nur mit Zustimmung der Stände zustande, der Standesbegriff wird politisch eingeebnet, ein Mindestmaß an Grundrechten und unabhängigem Rechtsschutz wird gewährt. 1. Die These, die konstitutionelle Bewegung der ersten Hälfte des 19. Jh. setze die Verfassungsdiskussionen des ausgehenden 18. Jh. fort und habe eine von verfassungsstaatlichem Geist inspirierte bürgerliche Öffentlichkeit zum Nährboden, erscheint auf den ersten Blick zunächst wenig plausibel. Vielmehr scheint die Entwicklung von Diskontinuität geprägt.

Auf einen Traditionsbruch deutet insbesondere die Tatsache hin, daß sich nach 1815 keine breiter angelegte Auseinandersetzung mit Autoren der zweiten Hälfte des 18. Jh. findet. Die emanzipatorischen Ansätze des aufgeklärten Naturrechts und die naturrechtlichen Staatslehren sind im Vormärz offenbar bald in Vergessenheit geraten 80. Vor allzu raschen Schlußfolgerungen aus diesem Befund sollte man jedoch zunächst die Gegenfrage stellen: Welche staatsrechtlichen und verfassungstheoretischen Auseinandersetzungen von vor mehr als einem halben Jahrhundert sind denn für uns heute literarisch überhaupt noch präsent? Hier würde sich rasch zeigen, daß nur ein äußerst kleiner Teil älterer Literatur die zeitgenössischen Auseinandersetzungen überdauert hat. Ist es nicht generell Schicksal der rechtswissenschaftlichen Literatur, meist nur für den Tag geschrieben zu sein - und dabei paradoxerweise gleichwohl auf lange Sicht die Entwicklung der Rechtskultur zu prägen? 79 Zur Kontinuitäts-Hypothese ausführlich: R. Vierhaus, Aufklärung und Reformzeit. Kontinuitäten und Neuansätze in der deutschen Politik des späten 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, in: E. Weis (Hrsg.), Reformen im rheinbündischen Deutschland, 1984, S. 287 ff. 80 Zum Beitrag der Geschichtsschreibung zu diesem Verdrängungsprozeß D. Klippel (FN 3), S. 385.

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Interessanter als die Frage nach den "Zitaten" und "Inbezugnahmen" auf die Literatur der zweiten Hälfte des 18. Jh. erscheint angesichts dieser Einsicht die Suche nach verfassungsrechtlichen und verfassungstheoretischen Klassikern jener Epoche. Als Klassiker, der unser historisches Bewußtsein mit dem geistigen Gehalt dieser Zeit nach wie vor prägt, läßt sich eigentlich nur Kant nennen, vielleicht ergänzend auch Justus Möser oder Wilhelm von Humboldt. Durch Kants Philosophie und Staatstheorie sind ältere naturrechtliche Ansätze staatsphilosophischen Denkens verdrängt und als veraltet stigmatisiert worden, vor allem auch das Werk Christian Wolffs und seiner Schule. Bemerkenswerterweise steht Kant als Klassiker der Staatsphilosophie letztlich für eine undemokratische Verfassungsentwicklung in Deutschland. Wie gezeigt, finden sich aber auch zahlreiche andere beachtliche Ansätze politischen Denkens, selbst solche demokratischer Prägung. Studieren wir so gesehen nicht seit langem nur recht einseitig unsere Klassiker? Gilt für die Wende vom 18. zum 19. Jh. gleiches wie für jene vom 16. zum 17. Jh., wenn wir Bodin allein und nicht gemeinsam mit Althusius 81 studieren? Ähnlich verhält es sich im Grunde genommen mit den Leistungen der Reichsgerichtsbarkeit. Bereits bei Errichtung des Reichsgerichts in Leipzig war die Traditionslinie zu den alten Reichsgerichten in Vergessenheit geraten. Hier mag nicht allein Goethes Verdikt über das Reichskammergericht eine Rolle gespielt haben. Dem neuen nationalstaatlichen Bewußtsein war ein Anknüpfen an die lockere föderale Organisation des Heiligen Römischen Reiches suspekt. Erst neuerdings wird gesehen, daß die Rechtsprechung des Reichskammergerichs durchaus ein Markstein in der Entwicklung zum Rechtsstaat und Rechtswegestaat deutscher Prägung war. Blickt man auf den Beitrag des Reichskammergerichts zur Bildung rechtsstaatlichen Bewußtseins, lassen sich Traditionslinien und Systemvergleiche mit neuen Augen sehen 82. 2. Die Polarisierung im politischen Denken im Gefolge der Französischen Revolution war nicht nur für die deutsche Verfassungsentwicklung, sondern auch für eine kontinuierliche Fortentwicklung des politisch-rechtlichen Bewußtseins eher schädlich als förderlich. Zwar gingen von der französischen politischen Theorie der Aufklärung und von den französischen Revolutionsverfassungen wichtige Impulse aus, die die weitere deutsche verfassungspolitische Diskussion prägten. Negativ wirkte aber, daß diese Diskussion, soweit sie sich den Grund- und Menschenrechten, der Gewaltenteilung oder der Repräsentativverfassung zuwandte, sogleich mit der Hypothek des Vorwurfs belastet war, im Lager des französischen Radikalismus zu stehen 83. 81

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Th. O. Hüglin, Sozialer Föderalismus, 1991, S. 243 ff.

G. Schmidt-von Rhein, Das Reichskammergericht in Wetzlar: NJW 1990, S. 494.

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Die Grande Peur 84 vor der Revolution ist Hemmnis für Verfassungsdiskussionen in Deutschland. Durch die Französische Revolution wurde in Deutschland jene politische Entwicklung diskreditiert, die durch Reform von oben, durch aufgeklärten Geist der Regierung in die Wege geleitet worden war. Reformen zur Gewährung von mehr Freiheit oder zur Neuordnung der Nationalrepräsentation konnten ohne erheblichen Argumentationsaufwand mit dem Hinweis auf die negativen französischen Erfahrungen mit derartigen Projekten abgeblockt werden. Um nur ein Beispiel zu nennen: Bekanntlich ist das preußische Allgemeine Landrecht hinter den verfassungsrechtlichen Fortschritten des Entwurf gebliebenen Allgemeinen Gesetzbuchs für die preußischen Staaten von 1791 zurückgeblieben. Das Verbot des Machtspruchs, die Garantie der natürlichen Freiheit der Bürger und die weitreichenden Mitwirkungsrechte der Gesetzkommission wurden wieder gestrichen. Grund für den Verzicht auf die Vollendung der Rechtsetzung im Geiste aufgeklärter Staatslehre waren die von den Ständen nachdrücklich geäußerten Bedenken und - diese noch verstärkend - die revolutionären Ereignisse in Frankreich, die - wie immer im Falle von Umstürzen - beharrenden Tendenzen starken Auftrieb verliehen und einer harschen Kritik an dem fortschrittlichen Reformwerk reiche Nahrung gaben. Hier zeigt sich mit besonderer Deutlichkeit, daß die Wirkung der Französische Revolution für eine kontinuierliche Entwicklung Deutschlands zum Verfassungsstaat ambivalent einzuschätzen ist. 3. Neben der hohen Akzeptanz monarchischer bzw. fürstlicher Regierung gab es in Deutschland weitere, eher unterschwellige Manifestationen politisch-rechtlichen Bewußtseins, die aus dem 18. in das 19. Jh. hinübereichen. Genannt seien etwa die Freimaurerlogen, die sich an Demokratie, Gleichheit und Freiheit orientierten 85, weiterhin die burschenschaftliche Bewegung, die u. a. aus dem Bemühen um eine Verbesserung des geistigen Klimas an den Universitäten hervorging, oder die (auch) politischen Salons, in denen vor und nach 1800 aufgeklärte politische Ideen diskutiert wurden. 4. Bei der Entwicklung der Grundprinzipien konstitutioneller Theorie hat man immer wieder auf die Verfassungsentwicklung in Frankreich, England oder Skandinavien zurückgegriffen 86. Zwischen der Charte Ludwigs XVIII. und den süddeutschen Verfassungen gibt es bemerkenswerte ÜbereinstimNw. bei D. Klippel (FN 3), S. 378. Hierzu eindringlich M. Vovelle, La mentalite revolutionnaire. Societe et mentalites sous la Revolution franr;aise, 1985, S. 37 ff. und S. 88 ff. 85 H. Reinalter, Das demokratische Potential der Freimaurerei der Spätaufklärung, in: ders. (Hrsg.), Die demokratische Bewegung in Mitteleuropa von der Spätaufklärung bis zur Revolution 1848/49, 1988, S. 74 ff. 86 Zum letztlich nur geringen Einfluß der Verfassungsentwicklung in den Vereinigten Staaten von Amerika: E. Angermann, Der deutsche Frühkonstitutionalismus und das amerikanische Vorbild: HZ 219 (1974), S. 1 ff. 83

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mungen. Gleichwohl hat der deutsche Konstitutionalismus B7 auch eigenständige historische Wurzeln: Anders als im vorrevolutionären Frankreich suchte man in Deutschland einer Modernisierung des Rechts - auch des Verfasssungsrechts - den Weg zu ebnen. Hier gab es keine Zäsuren durch revolutionäre Ereignisse, sondern das Bestreben, eine sich langsam entwikkelnde Rechts- und Verfassungskultur weiter zu entfalten. Eine wesentliche und zentrale Traditionslinie bildete dabei die deutsche verfassungsgeschichtliche Entwicklung. So wurde beim Kampf um die württembergische Verfassung in den Jahren 1815 - 1819 auf das gute alte Recht, aber zugleich auf modeme Prinzipien zurückgegriffen. Zu Beginn des 19. Jh. herrschte ein ausgeprägtes Kontinuitätsbewußtsein. In der "alten deutschen Freiheit" oder in der Genossenschaftsidee sah man das Urbild moderner Demokratie in Deutschland BB. Ähnlich bedeutsam ist, daß das liberal-rechtsstaatliche Programm des deutschen Konstitutionalismus in der Tradition deutscher Staatstheorie und der Verfassungsreformen des 18. Jahrhunderts steht B9 • Nach dem Untergang der Reichsverfassung bildete das Allgemeine Staatsrecht "die letzte wissenschaftliche Klammer der staatsrechtlichen Einheit des Reichs, indem es die allen deutschen Territorialstaatsrechten gemeinsamen Elemente unter einem Dach als "gemeindeutsches Staatsrecht" versammelte. "90 Das Allgemeine Staatsrecht ist sozusagen die Brücke, die von den staatstheoretischen Diskussionen der zweiten Hälfte des 18. Jh. zu den Verfassungen des Vormärz führte.

87 W. von Rimscha, Die Grundrechte im süddeutschen Konstitutionalismus. Zur Entstehung und Bedeutung der Grundrechtsartikel in den ersten Verfassungsurkunden von Bayern, Baden und Württemberg, 1973, S.40. 8B Vgl. etwa J. F. Benzenbergs "Entwurf einer Verfassung, die auf altgermanischem Recht beruht, auf neu germanischen Ständen und auf einem gesalbten Könige" (Über Verfassung, Dortmund 1816, S. 272); dieser private Verfassungsentwurf war in bemerkenswerter Weise bereits der Idee der konstitutionellen Monarchie verpflichtet. 89 R. Vierhaus, Aufklärung und Reformzeit. Kontinuitäten und Neuansätze in der deutschen Politik des späten 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, in: E. Weis (Hrsg.) (FN 80), S. 287 ff.; E. Weis, Absolute Monarchie und Reform im Deutschland des späten 18. und 19. Jahrhunderts, in: FS K. Bosl, 1974, S. 436 ff., 442 ff.; M. Stolleis, Verwaltungslehre und Verwaltungswissenschaft 1803 -1866, in: Jeserich / Pohl / von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte Bd. 11, 1983, S. 56 ff., 61 f. 90 M. Stolleis (FN 8), S. 296 f.

Aussprache Stolleis: Herr Würtenberger, ich kann mich mit den meisten Ihrer Thesen sehr gut anfreunden. Deshalb greife ich nur zwei Punkte heraus: Der eine betrifft die Brückenfunktion der allgemeinen Staatslehre an der Wende vom 18. zum 19. Jh. Was Sie dazu gesagt haben, unterschätzt die Brückenfunktion der Reichspublizistik. Denn die Reichspublizistik besitzt das gleiche Gewicht wie die allgemeine Staatslehre. Die Juristen-Generation, die die Verfassungen des frühen 19. Jh. geschaffen hat, war noch in den Zeiten des alten Reichs ausgebildet worden und hat so zwangsläufig die reichspublizistische Tradition in die Ära des Deutschen Bundes hinübergerettet. Es gibt das schöne Bild von Robert von Mohl, Klübers Gelehrsamkeit sei die "Arche" gewesen, in der das 18. Jh. die Sintflut überlebt habe. Die großen Lehrbücher des frühen 19. Jh., ich nenne vor allem Klüber und Karl Salomon Zachariae, fußen samt und sonders auf der Göttinger Reichspublizistik. Die sog. historisch-pragmatische Methode des öffentlichen Rechts in der ersten Hälfte des 19. Jh. ist geprägt von der Reichspublizistik. Man kann also schwerlich sagen, daß mit dem Jahr 1806 das frühere Staatsrecht versunken sei und allein die allgemeine Staatslehre noch eine Brücke vom alten Reichs- zum neuen Bundes- und Landesstaatsrecht geschlagen habe. Das hielte ich für eine Übertreibung. Meine zweite Bemerkung bezieht sich auf Ihre Feststellung, daß die Autoren der Aufklärung nach 1815 nicht mehr zitiert worden sind, und die Verwunderung, mit der Sie das registrieren. Dieses Übergehen der Aufklärung beruht auf dem inzwischen eingetretenen geistigen Bruch, der eine Abwertung und Verachtung der Aufklärung mit sich gebracht hat. Schellings Wort "Aufkläricht" bringt deutlich zum Ausdruck, was man 1815 von der Aufklärung hielt. Denken Sie an Adam Müller, Genz und an die heidelberger Romantiker jener Zeit. Für sie war die Aufklärung eine vergangene Welt, aber nicht eine vergessene, sondern eine solche, von der man sich lösen wollte. Man wollte mit Schlözers Vorstellung vom Staat als einer Maschine nichts mehr zu tun haben. Adam Müller und Dahlmann haben mit Nachdruck betont, daß für sie der Staat keine Maschine, sondern ein Organismus ist. Dabei ging es um wesentlich mehr als um das vertraute Phänomen, daß juristische Literatur nach 50 Jahren nicht mehr zur Kenntnis genommen wird. Man bezog eine kämpferische Position gegen das, was Historie geworden war.

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Aussprache

Eine dritte Bemerkung noch: Ich halte traditionell 1789 und 1806 für die eigentlichen Wendemarken. Denken Sie an das Grundgefühl in Deutschland im Jahr 1789, an die Tübinger Jugend, die um den Freiheitsbaum tanzte. Man spürte eine Morgenröte der Zeit. Es wurde von heiligen Schauern, von einem grundstürzenden Erlebnis der Menschheit gesprochen. Natürlich fiel auf das alles ein Reif, als der Terror in Paris einsetzte. Zunächst aber erfüllte eine Ausnahmesituation alle Denkenden, den alten Klopstock ebenso wie den jungen Hegel, den jungen Schelling und Hölderlin. Sie waren bewegt von dem Gedanken, eine Weltwende zu erleben, wie sie noch nie dagewesen war. Ich glaube, dieses Zeitgefühl muß man respektieren. Wenn man von "Wenden" spricht (das im Vorgriff auf die Schlußdiskussion), dann muß man auf die Kollektiv-Stimmung der Zeit schauen. Man muß sich Klarheit darüber verschaffen, wie die Zeitgenossen das für sie Neue empfunden haben. Auch wenn die deutsche Geschichte anders verlaufen ist, so macht dies das Jahr 1789 zum Wendejahr. Verfassungspolitisch und realpolitisch handelt es sich natürlich um sanfte Übergänge. Das ist den Historikern klar, die wissen, daß im 18. Jh. schon Dinge diskutiert worden sind, die sich später in der frühkonstitutionellen Bewegung realisiert haben. Der Konstitutionalismus fiel schließlich nicht vom Himmel. Aber die Kollektiv-Psyche von 1789 vollzog die Zäsur, indem sie das, was bis dahin diskutiert worden ist, nun einforderte.

Schulze: Meine Bemerkungen schließen unmittelbar an das an, was Herr Stolleis sagte. Auch ich empfand Herrn Würtenbergers Nachweis, daß es

Verbindungen zwischen dem Verfassungsdenken des 18. und dem des 19. Jh. gibt, sehr lehrreich. Aber muß man hier nicht die völlig veränderte Umwelt aufgreifen, die Herr Stolleis gestern in anderem Zusammenhang angesprochen hat? Ich meine weniger die verworrene politische Umwelt nach der französischen Revolution, sondern vor allem die wissenschaftliche und die geistige Umwelt. Wie Herr Stolleis angedeutet hat, ist an der Wende vom 18. zum 19. Jh. eine neue Art des Denkens und damit auch ein neues Verständnis der Rechtswissenschaft entstanden. Die ganz anders als zur Zeit des Naturrechts arbeitende Rechtswissenschaft kann nicht mehr auf die alten Autoren zurückgreifen. Sie muß sich gestützt auf einige Brükkenschläger - als wichtigsten nenne ich Kant - etwas Neues aufbauen. Darüber verlor wohl die Literatur selbst der jüngeren Vergangenheit ihre Bedeutung. Man kennt sie. Man steht mit seinem Staatsrechtsdenken noch ganz auf dem von ihr gelegten Boden. Aber man zitiert sie nicht mehr. Auf diese Weise gewinnt die Rechtswissenschaft ein neues Gesicht, ohne freilich ihre Kontinuitätslinien zu kappen. Ist dem so, so wird das von Herrn Würtenberger erwähnte Kontinuitätsbewußtsein des frühen 19. Jh. erläuterungsbedürftig. Denn dieser Begriff changiert.

Aussprache

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Barmeyer: Auch ich möchte den Zäsurcharakter des Jahres 1789 stärker betonen. Herr Würtenberger hat viel Gewicht auf die Kontinuität des rechtsstaatlichen Denkens und der rechtsstaatlichen Verhältnisse gelegt. Aber die politische Legitimationsfunktion, die der Verfassung nach 1789 zufällt, scheint mir etwas qualitativ Neues zu sein. Daß die Verfassung nun als die Grundlage der Herrschaft angesehen wird und sie legitimiert, ist das entscheidend Neue, das es rechtfertigt, von einer verfassungsgeschichtlichen Zäsur zu reden. Im übrigen hätte ich Hemmungen, das Aufkommen politischer Diskussionen und ihrer Ausbreitung in alle Schichten der Gesellschaft als einen Demokratisierungsvorgang zu bezeichnen. Die Göttinger Schule würde das "Liberalismus" nennen, und auch das würde ich in Anführungszeichen setzen.

Würtenberger: Besten Dank, Herr Stolleis, für ihren Hinweis auf die Brückenfunktion der Reichspublizistik, die ich nicht leugnen möchte. Ich habe sie nur deshalb ausgeklammert, weil es mir darum ging, das verfassungsstaatliche Denken in seinen Traditionslinien vorzuführen. Aber die Reichspublizistik verdient es in der Tat, genauer angeschaut und in meine Überlegungen einbezogen zu werden. Ich wollte beleuchten, daß durch die Kritik an der französischen Revolution vieles an älteren Denktraditionen kurzerhand abgebrochen worden ist. Das läßt sich daran ablesen, daß bei Rotteck und anderen keine Bezugnahmen auf das 18. Jh. mehr zu finden sind. Dabei hätte es gut in die Leitlinien des Staatslexikons von Rotteck und Welcker gepaßt, an das 18. Jh. - etwa bei Justi - anzuknüpfen. Hier sind in der Tat Brüche, die so weit gehen, daß die ältere Literatur selbst dann nicht mehr berücksichtigt wird, wenn sie die Sichtweisen des 19. Jh. stützt. Wichtig ist der Hinweis, daß 1789 und 1806 als Wendemarken in der kollektiven Stimmung der Zeit zu betrachten sind. Ich habe mir ebenfalls überlegt, ob man hier - sozialpsychologisch gesehen - von großen Zäsuren reden darf. Ich möchte dem allerdings entgegenhalten, daß auch das z. B. in der Strömung des Verfassungspatriotismus schon angelegt war. Die Diskussionen in den Lesegesellschaften in der Zeit vor 1789 wurden nicht nur literarisch geführt. In ihnen regte sich nicht nur das Interesse für die Politik, sondern auch die Lust am politischen Handeln. Es ging um geistige Strömungen, die darauf angelegt waren, in Aktivitäten einzumünden. So betrachtet sind die Jahre 1789 und 1806 schon Zäsuren. Hätte ich eine Stunde länger reden können, so hätte ich auch zu den sozialen Verschiebungen in jener Zeit einiges gesagt und betont, daß auch bei ihnen eine gewisse Kontinuität gewaltet hat. Denn auch die sozialen Umwälzungen haben sich nicht abrupt Bahn gebrochen.

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Aussprache

Daß man nun nach 1789 konkrete Verfassungen hat, das ist - wie Frau Barmeyer zu Recht gesagt hat - etwas qualitativ Neues. Diese Verfassungen begrenzen die Staatsrnacht und legitimieren sie zugleich damit auch. Ich muß hier wieder einwenden, daß auch dies schon vor 1789 so gesehen worden ist. In der Berliner Monatsschrift ist bereits 1785 dezidiert eine Verfasssung gefordert worden. Die amerikanische Verfassungsgebung ist aufmerksam beobachtet worden. Man hat aber nicht gewagt, aus den Vorgängen in Amerika Konsequenzen für Europa zu ziehen. Mit der französischen Revolution änderte sich das. An ihren Verfassungen hat sich das staatsrechtliche Bewußtsein neu orientiert. Bei den Stichworten "Demokratisierung" und "Liberalisierung" habe auch ich meine Anführungszeichen gemacht. Es ist freilich nicht zu bestreiten, daß es zu einem demokratischen, öffentlichen Diskurs gekommen ist. Das "Demokratisierung" zu nennen, ginge zu weit. Ein demokratischer Diskurs bedeutet für mich, daß jeder, der an ihm teilnehmen will, auch teilnehmen kann. Das war gewährleistet. Die Zensur setzte erst nach 1789 schärfer ein. Bis 1789 wirkten die Lesegesellschaften recht unbeaufsichtigt. Erst danach bekamen sie die staatliche Bevormundung schärfer zu spüren. Was sie angeht, möchte ich den Demokratiebegriff nicht im Sinne der Staatslehre verstanden wissen.

Botzenhart: Ich möchte an eine eher beiläufige Bemerkung Herrn Würtenbergers anknüpfen, die mir sehr einleuchtet. Es geht um Herrn Würtenbergers These von der bürgerlichen Mentalität, die auf die Reformfähigkeit des Absolutismus und seiner Bürokratie mehr vertraut als auf die Rationalität parlamentarischer Lösungen. Herrn Würtenberger zufolge war das für Deutschland freilich nicht typisch, sondern in Frankreich ebenso zu beobachten. Ich frage mich, ob sich da nicht doch ein spezifisches Element deutscher politischer Kultur herauskristallisiert hat, das über Hegel oder Lorenz von Stein in den Konstitutionalismus des 19. Jh. eingeflossen und nachhaltiger vom Vertrauen auf das Verwaltungsrecht und das Verfassungsrecht geprägt ist, als vom Vertrauen auf die parlamentarische Vertretung des Bürgerwillens. Das ist auf die Formel gebracht worden: Fühlt sich ein Deutscher in seinen Rechten gekränkt, zieht er vor das Verwaltungsgericht; fühlt sich ein Engländer in seinen Rechten gekränkt, geht er zu seinem Abgeordneten. Das läßt mich daran zweifeln, ob die Lage in Deutschland wirklich mit der in den anderen europäischen Staaten vergleichbar ist. Wäre dem so, so könnten wir alles, was in Deutschland auf Veränderungen und Reformen abzielte, als "revolutionär" bezeichnen und mit der französischen Revolution in Verbindung bringen, was für Metternich und seine Politik gesprochen hätte. Aber der Liberalismus fand gerade in seiner Auseinandersetzung mit der Revolution zur "Reform von oben", mit der sich Deutschland vorbildhaft und wertestiftend hervorgetan hat.

Aussprache

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Schmidt: Ich habe vier kurze Punkte. Als erstes möchte ich Herrn Botzenhart zustimmen: Die "Protestkultur" der Deutschen in der frühen Neuzeit - die Anführungszeichen setze ich bewußt - nährte eine Grundhaltung, die zum einen auf die Rechtssicherheit des alten Reichs und seiner Gerichtsbarkeit baute, und zum anderen im Vertrauen auf die Obrigkeit, die eingreift, wann immer es Not tut. Wurde die Nahrung knapp, so erwartete man Hilfe von der Obrigkeit, die diese in aller Regel auch leistete. Im späten 18. Jh. schliff sich diese Grundhaltung allmählich ab, weil die Obrigkeiten den in sie gesetzten Erwartungen nicht mehr gerecht werden konnten. Die Städte, die versorgt werden wollten, waren größer geworden; die Obrigkeit kam daher mit ihnen nicht mehr zurecht. Aber die Tendenz zum Hoffen auf die Obrigkeit machte sich auch im 19. Jh., z. B. in der Hungerkrise 1816/17, noch bemerkbar, und die Obrigkeit hat dieser Erwartungshaltung auch nach wie vor Rechnung zu tragen versucht. Als zweites beschäftigt mich die Abwendung des 19. Jh. vom Staatsrecht der vorangegangenen Epoche. Könnte sie damit zusammenhängen, daß die Rheinbundpublizistik, die noch ziemlich nahtlos an die Reichspublizistik angeknüpft hat, nach 1815, aus welchen Gründen auch immer, gänzlich aus der Diskussion ausgeblendet worden ist? Als drittes erscheint mir zweifelhaft, ob 1789 für Deutschland wirklich das Zäsurjahr war, als das wir es in unsrer Diskussion feiern. 1789 hat sicherlich im Bewußtsein der Zeitgenossen eine gewichtige Rolle gespielt. Herr Stolleis hat auf die Ereignisse in Tübingen hingewiesen; dergleichen gab es auch andernorts. Aber diese Vorfälle haben nicht gezündet. Die Begeisterung schäumte kurzfristig auf, um wenig später umso gründlicher wieder abzuschäumen, als die Entäuschung über die als Besatzer in den oberdeutschen Raum einströmenden Franzosen die Oberhand gewann, denen die Sicherheit ihrer Versorgung wichtiger war als die Umwälzung der politischen Verhältnisse in Deutschland. Deshalb haben die Franzosen mit den deutschen Monarchen paktiert und alle "jakobinischen" Regungen sofort unterdrückt. Das bringt mich zu meinem vierten Punkt. Er bezieht sich auf das, was Herr Würtenberger "vorsichtige verjassungsrechtliche Rechtsausbildung" genannt und in der zweiten Hälfte des 18. Jh. festgemacht hat. Das entspricht dem, was 1789 auf die Formel gebracht wurde: "Wir brauchen keine Revolution, wir haben das Reichskammergericht" . Das Gericht und das von ihm angewandte Recht sorgten dafür, daß der übersteigerte Absolutismus und das Duodez-Fürstentum in ihre Schranken gewiesen wurden, wenn sie das Volk zu sehr ausbluteten. Aber sehen Sie wirklich eine so deutliche Entwicklung in der zweiten Hälfte des 18. Jh.? In mir spricht wieder der Historiker. Wenn wir Historiker die Konflikte der Zeit um 1600 betrachten, 8 Der Staat, Beiheft 10

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Aussprache

fällt uns auf, daß die Berufung auf das alte Herkommen im Vordergrund stand, wenn es galt, übersteigerte absolutistische Ansprüche der kleinen Fürsten, Grafen und Ritter zurückzudrängen, daß es also nicht um etwas Neues, sondern um das Bewahren des Alten ging. Auch das von Ihnen erwähnte Recht der Mehrheit, in rechtsförmigen Verfahren gegen die Obrigkeit vorgehen zu können, finde ich schon um 1600, wo Grafen den Klagen ihrer Dorfgemeinden dadurch die Grundlage zu entziehen versuchten, daß sie ein paar folgsame Bauern aufboten und diese als die "neue" Gemeinde ausgaben, die gar nicht klagen will und damit der unbotmäßigen "alten" Gemeinde den Gang vor das Kammergericht abriegelte. Das hat sich das Kammergericht nicht bieten lassen. Es hat schon immer das Klagerecht der Untertanen-Mehrheit geschützt. Auch den "Durchgang", der dem Reichskammergericht den Beweis dafür lieferte, daß die Mehrheit der Gemeinde das Verfahren betreibt, hat es schon sehr früh gegeben. Denn es mußte von Anbeginn an sichergestellt werden, daß nicht einzelne Bürger klagen, sondern die durch Mehrheitsentscheid handelnde Gemeinde. Daher sehe ich auch in diesem Punkt einen weiter in die Vergangenheit zurückreichenden Entwicklungsstrang. Auch die Konfliktfreudigkeit des 18. Jh. findet möglicherweise ihre Erklärung darin, daß wir allzu fasziniert auf die französische Revolution geschaut und allzu einseitig nur die sich zeitgleich mit ihr in Deutschland zugetragenen Konflikte untersucht haben. An die Konflikte der vorangegangenen Zeit tasten wir uns erst neuerdings heran. Erste Ergebnisse besagen, daß ab den 1770er Jahren ein stärkerer Anstieg der Konflikte zu verzeichnen ist. Die Verfahren, die in den 1790er Jahren anhängig sind, sind zum großen Teil Verfahren, die schon in den 1780er Jahren begonnen haben!

Würtenberger: Zwei Bemerkungen zur Realisierung des demokratischen Gedankens in Deutschland. Ich habe nur den Zeitraum zwischen 1750 und 1820 behandelt. Ich wende mich gegen die immer wieder zu lesende Behauptung, Preußen sei schon ausgangs des 18. Jh. völlig undemokratisch gewesen, weil in den preussischen Diskussionen Demokratiefragen entweder keine Rolle gespielt hätten oder negativ besetzt gewesen seien. Gegen diese Tendenz wollte ich die Gegenthese stellen, daß auch in Frankreich die Verbindung zwischen bürgerlicher Freiheit und politischer Freiheit, wenn ich es richtig sehe, erst von Constant nach 1817/1818 in Parlamentsreden und Veröffentlichungen auf den Begriff gebracht und dann natürlich auch in französischen Diskussionen über die Rolle der Parlamentarier extrem hoch gehandelt wurde. Die deutsche Entwicklung ist später mit der Restauration andere Wege gegangen. Aber in der Entwicklung des verfassungsstaatlichen Denkens haben bis 1820 zwischen Deutschland und Frankreich keine so großen Unterschiede bestanden, wie das in der Literatur gelegentlich anklingt.

Aussprache

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Für Herrn Schmidts Bemerkungen zu den langen Traditionen des reichsgerichtlichen Schutzes bin ich sehr dankbar. Ich mußte das aus zeitökonomischen Gründen ausblenden. Streitigkeiten zwischen Städten und Dörfern mit ihren Herrn gab es natürlich seit langer Zeit; sie wurden auch immer wieder vor die Reichsgerichte, meist vor das Reichskammergericht, getragen. Dabei scheint mir aber doch bedeutsam - deshalb habe ich die Aachener Mäkelei relativ herausgestellt - daß die Beamten auf moderne Gedanken abstellen, und das Reichskammergericht zumindest bei dieser Aachener Geschichte ohne jedes breitere Ausholen sagt, die alten Korporationen seien aufgebrochen worden; sie stellten nur noch politische Organisationsformen dar, so daß auch ein Nichtbäcker der Bäcker-Korporation beitreten könne. Das ist m. E. revolutionär. Dank der korporativen, an das Mehrheitsprinzip anknüpfenden Prozeßfähigkeit der bürgerlichen oder bäuerlichen Opposition gegen die Obrigkeit entwickelten sich frühe Formen von Versammlungsfreiheit, um die Prozeßführung durch gemeinsame Willensbildung - die sog. Syndikatsklage - zu legitimieren. Zur Legitimation der Prozeßführung mußte man in den Ortschaften Versammlungen abhalten. In die Freiheit dieser Versammlungen einzugreifen, war dem Herrn verboten. Das ist ein sehr früher Ansatz des Schutzes von Versammlungsfreiheit mit dem Ziel, Verfassungsreformen justiziell auf den Weg zu bringen. Ob in den kleinen Ländern schon früher die Mehrheit der Landschaft klagen mußte, wäre nochmals zu überprüfen.

Schmidt: Ganz kurz: Die alte Gemeindeversammlung gab es schon im 16. Jh. Sie befand beispielsweise mehrheitlich darüber, ob man Klage gegen den eigenen Herrn erheben wollte oder nicht. Dazu bedurfte es nicht der Landschaft, die es nur in einigen wenigen, vor allem oberdeutschen Gebieten gab. Baumgart: Ich frage mich, ob zum Verfassungsbegriff nicht auch die Frage nach der politischen Repräsentation der Untertanen und der Regierten gehört. Das führt zu der Frage, ob es Kontinuitäten in der Theorie und natürlich auch in der Praxis vom altständischen Wesen des späten 18. Jh. zu den Parlamenten des frühen 19. Jh. gibt, eine Frage, die schon in einer Reihe von Tagungen behandelt worden ist, ohne freilich ein wirklich klares Ergebnis zu zeitigen. Eine dieser Tagungen über Ständetum und Staatsbildung habe ich in Berlin mitveranstaltet. Ein klares Resultat hat auch sie nicht erbracht. Eine Tagung, die Herr Vierhaus zusammen mit Herrn Bosel vor etwa 10 Jahren veranstaltet hat, hatte diese Problematik ebenfalls zum Gegenstand. Ich meine, wir sollten sie auch hier zur Sprache bringen. Würtenberger: Das habe ich bewußt ausgespart, weil ich Ihnen nicht Streitfragen vortragen wollte, die Sie ohnehin schon kennen. Wenn man S"

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die Autoren des ausgehenden 18. Jh. liest, so finden sich in der Tat Traditionslinien, die von der alten ständischen Repräsentation zur Repräsentation in den vormärzlichen Verfassungen führen. So wird u. a. spätestens ab den 70er Jahren gesagt, daß die Stände nicht nur für sich, sondern für das gesamte Land zu sprechen hätten.

Brandt: Es scheint das Schicksal dieser Tagung zu sein, daß die Referenten die Vorgaben der Themenplaner nur in Ansätzen zu teilen scheinen. Wie gestern das Jahr 1648 als Zeitenwende in Zweifel gezogen wurde, so treten auch im vorliegenden Referat eher die Kontinuitäten als die Brüche hervor. Immerhin kann man die Jahre nach 1789 für Deutschland, wenn schon nicht als Zäsur der allgemeinen, so doch als eine Zäsur der politischen Bewußtseinsgeschichte gelten lassen. Ich würde auch andere Zäsuren schärfer setzen, als es hier geschehen ist. Etwa die von 1815, die ja nicht nur dadurch bezeichnet ist, daß eine Verfassungsbewegung ins Rollen kam, sondern auch dadurch, daß das politische Denken eine neue Struktur erhielt, will sagen, daß es ideologisch wurde. Dies tritt z. B. auf dem Wiener Kongreß zutage, bei dem wir mit Wolfgang Mager eine erste rückwärts gewandte von einer zweiten moderneren Phase unterscheiden. Damals bildete sich in Deutschland nicht zuletzt der Widerstreit von Konservatismus und Liberalismus heraus. Während sich beides zuvor noch in gedanklicher Gemengelage befand, das Libertäre sich mit dem Traditionellen überschnitt, beginnt danach ein Prozeß der Scheidung. Stein und Arndt waren eben noch Vertreter der alten, der ungemischten Verhältnisse, während Dahlmann und Haller schon die neuen Fronten repräsentieren. Auch die Zäsur des Jahres 1830 verdiente schärfer akzentuiert zu werden. 1830 ist das Jahr, in dem die modeme politische Kultur in Deutschland beginnt, eine Zeit, in der die Verfassungen beim Wort genommen werden, in der Öffentlichkeit und politische Presse zu Institutionen werden. Eine Zeit übrigens auch, in der das modeme Parteienspektrum sich ausbildet. In Ansehung der politischen, der verfassungspolitischen Geschichte also eine Zeit der "Wende", eine Epoche des Umbruchs.

Kleinheyer: Ich beziehe mich zunächst auf Herrn Baumgarts Erwähnung der alten Stände. Vielleicht sollte man deutlicher zwischen demokratischen und rechtsstaatlichen Traditionen unterscheiden. Was die rechtsstaatliche Tradition angeht, so war in der Gerichtsbarkeit die Rolle der Stände immer eine sehr bedeutende. Ich verweise auf das Reichskammergericht und auf das eigentlich unerklärliche Selbstbewußtsein der preußischen Richter in der Zeit, die Sie ansprechen. Ob sich dieses Selbstbewußtsein nur aus der Berufsausbildung, der besseren Sachkenntnis dieser Richter erklärt, oder

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ob es mit der Herkunft zusammenhängt, wäre zu fragen. Es finden sich in diesem Richterturn auffällig viele Angehörige der alten Stände wieder, die hier in ähnlicher Weise bevorzugt worden sind wie beim Militär. Vielleicht sollte man auch bedenken, daß Rechtsstaatlichkeit und rechts staatliches Denken nicht selten mit demokratischem Denken in Konflikt geraten. Später, als über die Grundrechte diskutiert wurde, hat man bald erkannt, daß sich die Grundrechte als Minderheitenschutz gegen die Mehrheit auswirken. Da liegt eine andere Entwicklungslinie vor als in der demokratischrepublikanischen Tradition. Sodann noch kurz ein anderer Punkt: Sie haben bemerkt, daß sich die Rangordnung zwischen Verfassungsgrundgesetzen und einfachen Gesetzen schon bei Althusius und früher findet. Es würde mich interessieren, ob nach dieser Rangordnung das Verfassungsgesetz das einfache Gesetz außer Kraft setzt. Daß es eine Rangordnung gibt und eine unterschiedliche Bestandskraft von Verfassungsrecht und einfachen Gesetzen, kann man in der Wahlkapitulation Ferdinands 1. von 1558 finden. Hier wird die Stellung des Kaisers gegenüber den Reichsgrundgesetzen von der Stellung gegenüber einfachen Gesetzen deutlich unterschieden: Die Reichsgrundgesetze sind sakrosankt, die einfachen Gesetze sollen verbessert werden. Hamza: Meine Frage bezieht sich auf das verfassungsrechtliche Experiment in den britischen Kolonien. Haben es die deutschen Staatsrechtier der Zeit vor 1787 beachtet? In dem groß angelegten Werk von Johann Stephan Pütter z. B. werden - soweit ich mich erinnerne - die unterschiedlichen gouvernements und charters von Virginia und Massachussetts mit keinem einzigen Wort erwähnt, obwohl, wenn ich mich nicht täusche, ausgerechnet Johann Stephan Pütter derjenige Verfassungsrechtler war, der großen Wert auf die Vergleichung gelegt hat.

Klippel: Im Anschluß an Herrn Stolleis möchte ich zurückkommen auf die Kontinuität der deutschen Staatsrechtslehre, in diesem Falle des allgemeinen naturrechtlichen Staatsrechts vom 18. Jh. bis zum Vormärz. Mich wundert, um es pointiert zu sagen, nicht, daß im Vormärz das Naturrecht der zweiten Hälfte des 18. Jh. kaum noch diskutiert wird. Dieses Naturrecht - vor allem Wolf und seine Schule sowie Nettelbladt und all die anderen -, war im Vormärz tot, und zwar für alle politischen Richtungen, selbst für die Konservativen. Herr Stolleis hat das mit seinem Hinweis auf Schelling angedeutet; man kann es auch am Beispiel Hallers, Stahls und anderer zeigen. Kontinuitäten zwischen dem Vormärz, dem deutschen Naturrecht und dem allgemeinen Staatsrecht sind allerdings ab ungefähr 1790 vorhanden. Diese Autoren finden sich zustimmend zitiert in den Literaturlisten von Rotteck, Welcker und anderen Liberalen des Vormärz. Dementsprechend sollte man das Naturrecht in der zweiten Hälfte des 18.

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Jh. diversifizieren. Damit möchte ich das Einheitsbild der deutschen verfassungsstaatlichen Tradition stören. Die von Herrn Würtenberger angesprochene kameralistische Ausbildung des hohen Beamtentums war eigentlich eine aufgeklärt absolutistische Ausbildung. Gerade von solchen Einflüssen aber hat sich das liberale Verfassungsverständnis Ende des 18. Jh. und im Vormärz abgesetzt. Ich könnte auch noch einen Streit vom Zaun brechen über die angeblich verfassungsstaatlichen Traditionen des aufgeklärten Absolutismus in Preußen; aber das lasse ich lieber.

Willoweit: Vielleicht kann ich das übernehmen, Herr Klippel? Ich weiß nur nicht, ob wir dasselbe meinen. Herr Würtenberger, Sie haben sehr eindrucksvoll auf die Kontinuität hingewiesen. Ich möchte die Frage stellen, ob Ihre Kontinuitätssicht nicht doch zu einseitig positiv ist. Es gibt auch problemschwangere Konstellationen, die Kontinuität haben. Zum Beispiel die Bürokratisierung und die Verdichtung von Staatsfunktionen. Toqueville und seine Sicht der Dinge sind bei uns nie richtig populär geworden. Und der zweite Punkt ist, daß die aufgeklärten Staaten in Deutschland aufgeklärt in einem vorkritischen Sinne waren. Sie sahen die Vernunft der Politik beim Staat am besten aufgehoben. Für mich ist das ein zentraler Orientierungspunkt. Verfassungsrechtlich schlägt sich das nieder in der Errichtung eines Staatsrats in Österreich und Preußen (1761 und 1781) und im conseil d'etat in Frankreich. Von diesen Institutionen führt kein Weg zur Demokratie. Die Ansicht, Politik sei nur eine Sache vernünftiger Einsicht, war im späten 18. Jh. hochmodern. Sie wurde erst zur Bastion der Reaktion. Mohnhaupt: Ich stimme Herrn Würtenberger grundsätzlich zu. Das belegen die Auswahlkriterien für die Texte, die er zitiert hat. Allerdings läßt sich insoweit natürlich auch eine Gegentendenz festmachen, die Ambivalenz signalisiert. Herr Würtenberger hat mit einer Art salvatorischer Klausel zum Schluß seines Referats diese Interpretationsmöglichkeit selbst geöffnet. Dazu will ich beispielhaft auf Gönner, einen der letzten Reichspublizisten, verweisen, der sich z. B. 1804 zum "Volkswillen" bekannt und mit diesem Begriff den der "volonte generale" ins Deutsche übersetzt hat. Gönner sagt dazu ausdrücklich - bezeichnenderweise nur in einer Fußnote -, daß dieser Volkswille mit dem empirischen Volkswillen nichts zu tun habe. Der Volkswille sei in der Person des aufgeklärten Herrschers am besten aufgehoben. Das zeigt, daß die Texte oft eine seltsame Ambivalenz aufweisen und Vorbehalte mitdenken, die nicht immer offenkundig zutage treten. Ich wollte ferner darauf hinweisen, daß die traditionellen Stände, die in Herrn Würtenbergers Vortrag zu Recht mit angesprochen worden sind, in der Phase um 1791 - und das setzt sich bis Ende des Jahrhunderts fort -

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sehr geschickt die moderne Terminologie aufnehmen, aber im Grunde genommen nur ihre alte ständische Interessenpolitik fortsetzen und im neuen Gewand der neuen politischen Sprache weiter verfolgen. So verlangen z. B. die böhmischen Stände 1791 eine neue Verfassung, die sie "Constitution" nennen, die ewig gelten soll; gemeint ist aber nur eine Aufzeichnung der Ständerechte im Sinne der alten Privilegien, die durch Fundamentalgesetze festgeschrieben werden sollen.

Würtenberger: Herr Brandt, Sie betonen, daß man schärfere Zäsuren in den Jahren 1789, 1815, aber auch 1806, 1830 sehen sollte, vor allem weil es zu Spaltungen zwischen den politischen Richtungen komme. Dies läßt sich dadurch ergänzen, daß diese Spaltungen und Ideologisierungen zwischen den politischen Richtungen um 1792 einsetzen, als man die französische Revolution in ihren Auswirkungen bewerten konnte und sich nun verschiedene politische Lager heftig befehden. Gleichwohl möchte ich sozialpsychologisch nochmals auf folgendes hinweisen: Etwa ab 1790 bei Herder und Brandes, aber auch bei anderen Literaten, wird der Begriff " Zeitgeist " ein Mode- und politischer Kampfbegriff. Mit dem Zeitgeist wird eine emanzipative politische Theorie verbunden. Der Zeitgeist fordert dies, der Zeitgeist fordert jenes; er fordert Verwaltungsreformen; er fordert Repräsentativverfassungen und Grundrechte. In dem Begriff "Zeitgeist" spiegelt sich ein Denken wider, von dem man sich damals beeinflußt glaubte. Es kommt auch nicht von ungefähr, daß bei Hegel die Idee überhöht wird, die zuvor schon andiskutiert worden war, nämlich daß der Weltgeist die Verfassung bestimme. Diese Neuinterpretation der ZeitgeistMetapher beeinflußte sodann die Links- und Rechtshegelianischen Schulen. Das zeigt, daß man in der Zeitgeist-Diskussion ebenfalls starke Kontinuitäten herausarbeiten kann, die auch den Konstitutionalismus als Verfassungsbewegung erfassen. Wenn man sich die Texte genau anschaut, ist diese Metapher vom Zeitgeist das Band, welches das Denken jener Jahrzehnte zusammenhält und weiter vorantreibt. Wichtig ist Ihr Hinweis, daß die Richter, Herr Kleinheyer, rechtsstaatliche Prinzipien durchgesetzt haben und daß man hier auch auf die Herkunft der Richter schauen müsse. Es ist interessant, daß man beim Reichskammergericht ab Mitte des 18. Jh. darauf geachtet hat, daß derjenige, der zum Assessor ernannt werden sollte, aus einer höheren bürgerlichen Schicht kommt. Das liegt genau auf der Linie dessen, was Sie angesprochen haben. Ich würde zustimmen, daß hier ansatzweise eine Selbstrekrutierung der Verwaltungs- und Richterelite stattfindet, was diesem Stand ein besonderes Selbstbewußtsein gibt. Was die Traditionslinien im demokratischen Denken betrifft, war ausgangs des 18. Jh. noch nichts von einer breiten politische Mündigkeit der

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Bevölkerung zu sehen, die ein demokratisches System hätte tragen können. So forderten denn auch Svarez und Klein, daß die Aufklärung noch fortschreiten müsse und man erst bei fortgeschrittener Aufklärung über demokratische Systeme nachdenken könne. Mir scheint es Realitätssinn zu beweisen, daß man sich mit demokratie-theoretischen Fragen wenig auseinandersetzt, schon gar nicht nach den Erfahrungen der französischen Revolution. Interessant ist auch, daß vor 1789 geplant war, das preußische Allgemeine Landrecht einer Approbierung seitens der Stände und der Gesetzeskommissionen zu unterwerfen, daß dieser Plan aber nach 1789 ad acta gelegt wurde. Die Rangordnung von Gesetzen findet sich vor Althusius bereits bei Oldendorp im Ratsmannenspiegel angesprochen. Die Gesetze, die mit den natürlichen oder göttlichen Gesetzen nicht in Einklang stehen, sind je nach Autor nichtig oder zu reformieren. Was die Auseinandersetzung mit der Verfassungsgebung in den britischen Kolonien betrifft, nach der Herr Hamza fragte: Sie hat in den 70er Jahren und Anfang der 80er Jahre sehr zurückhaltend stattgefunden. In seiner groß angelegten Arbeit kommt Dippel zu dem mir richtig scheinenden Ergebnis, daß man in Deutschland noch nicht soweit war, überhaupt daran denken zu können, eine solche grundlegende Verfassungsreform auf den Weg zu bringen. Auch die berühmten Gedichte über die amerikanische Freiheit sind sehr distanziert geschrieben. Der Frage von Herrn Klippel zum Naturrecht des 18. Jh. und im Vormärz möchte ich lediglich die Arbeiten Justis entgegenhalten, der sich bereits 1759 für die Volkssouveränität ausspricht und der monarchischen Gewalt demokratische Grenzen zu ziehen sucht. Man könnte auch auf den Kameralisten Pfeiffer verweisen, der nicht allein das aufgeklärte Naturrecht des absolutistischen Staates formuliert, sondern ebenfalls für grundlegende politische Reformen eintritt. Im kameralistischen Werk Pfeiffers findet man etwa die Forderung nach einer repräsentativen Verfassung oder Überlegungen, wie man die Verfassung auch gegenüber einem Gesetzgeber schützen kann, der sie durchbrechen möchte. In derartigen polizeiwissenschaftlichen Systemen ist vielfach ein Staatsdenken entwickelt worden, das emanzipativ war und weit über das hinausging, was damals möglich war. Je nach Standpunkt, Herr Willoweit, mag meine Kontinuitätssicht in der Tat die deutschen verfassungsstaatlichen Diskussionen übertrieben positiv bewertet haben. Ihre Skepsis im Hinblick auf den deutschen Weg zur Demokratie würde ich freilich nicht teilen. Der deutschen Diskussion Mangel an Demokratieverständnis vorzuwerfen, hieße übersehen, daß zur Zeit der französischen Revolution in Deutschland die sozialen Voraussetzungen für einen demokratischen Staat noch nicht gegeben waren. Blickt man nur auf die preußischen Gebiete im Osten, so ließe sich über die

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Organisation eines demokratischen Staates im modernen Sinn kaum nachdenken, ohne den Bezug zur Realität zu verlieren. Ihre Bemerkung zu Gönner, Herr Mohnhaupt, möchte ich voll zustimmen. Hier zeigt sich, wie die kantsche Staatsphilosophie die älteren Traditionen und die Begriffe überlagert. Gleichwohl scheinen mir die älteren Traditionen in das 19. Jh. hinüber gewirkt zu haben.

Staatsverwaltung an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert Von Hans-Peter Ullmann, Tübingen Im Jahre 1790 trat Karl Heinrich, später geadelter Ritter von Lang als "Hofsecretaire" in die Dienste von Kraft Ernst Fürst von OettingenWallerstein. Kraft Ernst hatte der Regierung, "da sie in ihrer collegialisehen Centripedalkraft dem raschen Fluge seiner Nachtgedanken nicht folgen konnte oder wollte", alle wichtigen Entscheidungen entzogen und "zu seinem ausschließenden, unbeschränkten Befehl" gestellt, "den er aus einem Gewölbe neben der Hofküche, Kabinet genannt, ergehen ließ". "Dabei war des Fürsten Art zu arbeiten diese, daß er alle an ihn eingehende Berichte, nachdem er sie geöffnet, neben seinem Schreibtisch so hoch aufschichtete, als er mit seinem Arm reichen konnte. Hatten aber die Geschäfte diese Höhe erreicht, so wurde beschlossen, den Stoß wieder kleiner zu machen. Im plaudernden Auf- und Abgehen zog also der Fürst bald oben, bald unten, bald aus der Mitte einen Bericht hervor, ... bemerkte dann mit einem Silberstift in wenigen treffenden Worten seinen Beschluß, und gab mir die Sache zum Expediren ... Leider erwuchsen jedoch aus diesen schockweis an die Collegien fliegenden Kabinettsentschließungen beinahe wieder eben so viele neue Drachenköpfe. Die Regierung nämlich, empfindlich darüber, daß oft in den nöthigsten Sachen die Beschlüsse jahrelang ausblieben, glaubte den Fürsten sein Unrecht dadurch fühlen zu lassen, daß sie endlich alle Monate, mit abschriftlicher Beilage des ersten Berichts, in jeder einzelnen Angelegenheit eine neue Erinnerung abgehen ließ. Dadurch machte sie aber die Sache erst recht schlimm. Denn indem der Fürst diese Erinnerungsberichte ebenfalls auf den großen Stoß legte, so konnte es nicht fehlen, daß, so wie er im Verfolg entweder den ersten Bericht oder die späteren Erinnerungsberichte herauszog und auf jeden derselben besonders resolvirte, am Ende in derselben Sache oft fünf- und sechserlei verschiedene Entschließungen unter demselben Expeditionsdatum ankamen ... Ich weiß einen armen Teufel, der viele Jahre lang im Kerker zu Harburg saß, weil die Regierung nicht wußte, welches von den vorliegenden Urtheilen sie an ihm sollte vollziehen lassen, ob als Dieb ihn hängen, auspeitschen, ins Zuchthaus setzen, des Landes verweisen, oder mit angerechneter Arreststrafe zu entlassen." 1 1 Memoiren des Kar! Heinrich Ritters von Lang. Skizzen aus meinem Leben und Wirken, meinen Reisen und meiner Zeit, Tl. 1, Braunschweig 1842 (Neudruck 1984), S. 196 f. bzw. 203 ff.

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Karl Heinrich Lang, dies steht außer Zweifel, überzeichnet die Schwächen des frühmodernen Staates. Und ebenso sicher ist: In anderen Territorien des Heiligen Römischen Reiches war die Entwicklung moderner Staatlichkeit weiter vorangekommen als im Fürstentum Oettingen. Trotzdem enthält die Schilderung Langs einen wichtigen wahren Kern. Denn sie illustriert, daß die Staatsbildung vor 1800 jene entscheidende Wendemarke noch nicht erreicht hatte, die den frühmodernen vom modernen Staat trennte. Begreift man nämlich die Entstehung moderner Staatlichkeit als einen langwährenden Prozeß, treten zwei Beschleunigungsphasen klar hervor. Die eine lag im 16. Jahrhundert, die andere an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Während der erste Entwicklungsschub zu Frühformen moderner Staatlichkeit führte, brachte der zweite den entscheidenden Durchbruch zum modernen Staat. Dabei kam den Erschütterungen der deutschen Staatenwelt durch die Französische Revolution und die napoleonische Machtexpansion eine besondere Bedeutung zu, vor allem in Preußen und im "Dritten Deutschland". War es dort der Zusammenbruch des alten Systems, der die Staatsbildung vorantrieb, ging es hier darum, die zahlreichen neu erworbenen Gebiete mit den Kernlanden überhaupt erst zu einem einheitlichen Staat zu verschmelzen. Andere Herausforderungen traten hinzu: der Zwang, im napoleonischen Europa zu überleben und Eingriffen des französischen Kaisers zuvorzukommen; außerdem der Wunsch, den Entwicklungsrückstand gegenüber Westeuropa aufzuholen; sowie schließlich die Notwendigkeit, einen drohenden Staatsbankrott abzuwenden und die öffentlichen Finanzen auf solide Grundlagen zu stellen. So wirkten Modernisierungszwänge von außen und Modernisierungsanstöße von innen zusammen, beschleunigten die Staatsbildung und setzten in einem komplexen Transformationsprozeß den modernen Staat frei. Dieser Umbruch an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert soll unter fünf verschiedenen, wenngleich eng miteinander zusammenhängenden Gesichtspunkten betrachtet werden. Es geht erstens um die Vereinheitlichung, zweitens um die Bürokratisierung, drittens um die Finanzierung, viertens um die Monopolisierung und fünftens um die Konstitutionalisierung politischer Herrschaft 2.

I.

Bis an die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert war die Vereinheitlichung politischer Herrschaft in der Mitte Europas noch nicht weit vorangekom2 Helmut Berding / Etienne Fran~ois / Hans-Peter Ullmann (Hrsg.), Deutschland und Frankreich im Zeitalter der Französischen Revolution, 2. Auf!. 1989; Barbara Vogel (Hrsg.), Preußische Reformen 1807 -1820, 1980; Helmut Berding / Hans-Peter Ullmann (Hrsg.), Deutschland zwischen Revolution und Restauration, 1981; Eberhard Weis (Hrsg.), Reformen im rheinbündischen Deutschland, 1984; Hans-Ulrich WehleT, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1 u. 2, 2. Auf!. 1989.

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men. Zwei Grundgegebenheiten prägten nach wie vor die politische Ordnung der deutschen Staatenwelt. Erstens bewahrte das Heilige Römische Reich trotz mancher Funktionsverluste Recht und Frieden in der Mitte Europas. Das Reichsrecht sorgte dafür, daß Konflikte zwischen den Reichsständen, aber auch Auseinandersetzungen zwischen diesen und den Untertanen verrechtlicht und gewaltfrei ausgetragen wurden, schützte die kleinen Territorien vor den großen und garantierte damit den Bestand aller Glieder des Reiches. Diese zählten nach Hunderten. Im Jahre 1792 umfaßten die reichstagsfähigen Stände 8 Kurfürsten, 94 Fürsten, 141 Prälaten oder Grafen sowie 51 Reichsstädte; hinzu kamen noch etwa eineinhalbtausend reichsritterschaftliche Besitzungen. So setzte sich die deutsche Staatenwelt alles in allem aus bald zweitausend verschiedenen politischen Gebilden zusammen, besonders im Südwesten des Alten Reiches territorial nur selten klar voneinander abgegrenzt, sondern meist in Gemengelage miteinander verschränkt. Zweitens war der Staatsbildungsprozeß auf der Ebene der Territorien unterschiedlich weit vorangekommen. Österreich und Preußen hatten ihre Landeshoheit soweit ausbauen können, daß ihnen zur vollen Souveränität nicht mehr viel fehlte. Die anderen Territorialstaaten waren dagegen zurückgeblieben, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich ungleich weniger aus dem Reichsverband herauszulösen vermochten und das Reichsrecht bei ihnen den Spielraum innerer Staatsbildung stärker einengte. Viele Territorien bündelten lediglich Herrschaftsrechte über Gebiete, die weitgehend unverbunden nebeneinanderstanden, zusammengehalten nur durch die Person des Herrschers. Und selbst dort, wo sich die Konturen eines Einheitsstaates schon deutlicher abzuzeichnen begannen, in Preußen vor allem, aber auch in Österreich, pochten die einzelnen Länder oder Provinzen nach wie vor auf ihre hergebrachten Autonomien und Sonderrechte, erhielt sich die typische Vielgestaltigkeit der Alten Welt. So war die Vereinheitlichung politischer Herrschaft im Spannungsfeld zwischen Reich und Territorien zwar nicht völlig stecken-, aber doch im europäischen Vergleich erheblich zurückgeblieben. Territoriale Vielfalt im Reich und Vielgestaltigkeit innerhalb der einzelnen Territorien kennzeichneten die politische Ordnung der deutschen Staatenwelt3. An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert wandelte sich diese Situation von Grund auf. Zunächst einmal, und das war die erste Veränderung, fiel 3 Reichsstände im Jahre 1792: G. Oestreich / E. Holzer, Übersicht über die Reichsstände, in: Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 2, 9. Auf!. 1970, S. 769-784. Reich und Territorien: Karl Otmar Frhr. v. Aretin, Heiliges Römisches Reich 1776 -1806. Reichsverfassung und Staatssouveränität, 2 Bde., 1967; ders., Das Reich. Friedensgarantie und europäisches Gleichgewicht, 1986; Bernd Roeck, Reichssystem und Reichsherkommen. Die Diskussion über die Staatlichkeit des Reiches in der politischen Publizistik des 17. und 18. Jahrhunderts, 1984; Heinz Schilling, Höfe und Allianzen. Deutschland 1648-1763, 1989; Rudolf Vierhaus, Deutschland im Zeitalter des Absolutismus (1648-1763), 1978; ders., Staaten und Stände. Vom Westfälischen bis zum Hubertusburger Frieden 1648 bis 1763, 1984.

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das Heilige Römische Reich den Auswirkungen von Französischer Revolution und napoleonischer Machtexpansion zum Opfer; und mit ihm ging auch die überkommene politische Ordnung Mitteleuropas zugrunde. Reichsdeputationshauptschluß und Rheinbundakte, Auflösung des Alten Reiches und Wiener Kongreß, dies waren die wichtigsten Etappen auf dem Weg zu einer territorialen Flurbereinigung, die zwischen 1803 und 1815 die Landkarte Mitteleuropas völlig umgestaltete. Die meisten der fast zweitausend politischen Gebilde der Alten Welt blieben im Zuge der Säkularisation geistlicher Fürstentümer sowie der Mediatisierung weltlicher Reichsstände, Reichsstädte und Reichsritter auf der Strecke. Lediglich einige Dutzend Staaten überlebten. Diese vergrößerten sich jedoch erheblich, am meisten Baden, das sein Territorium verfünffachte und seine Bevölkerung vervierfachte. Am Ende der "territorialen Revolution" (Huber) gab es in Mitteleuropa nur noch 41 weitgehend arrondierte Staaten: die Vormächte Österreich und Preußen; die Mittelstaaten Bayern und Württemberg, Hannover und Sachsen, Baden und Hessen sowie knapp drei Dutzend Kleinstaaten. Sie alle gehörten dem Deutschen Bund als souveräne Mitglieder an. Denn das war die zweite wichtige Veränderung: Mit der Auflösung des Alten Reiches erlangten jene Staaten, die seinen Untergang überdauerten, ihre volle Souveränität. Gewiß vermochte sich diese, vor allem nach außen hin, nicht uneingeschränkt zu entfalten, weder im Rheinbund noch im Deutschen Bund. Entscheidend war indessen, daß jetzt auch die Mittel- und Kleinstaaten des "Dritten Deutschland" im Inneren unbegrenzte Handlungsfreiheit gewannen. Sie konnten nun ebenfalls überkommene Landesverfassungen aufheben und Sonderrechte der einzelnen Landesteile beseitigen. Damit stand die Tür zum Einheitsstaat weit offen, und verwirklicht wurde er über eine neue Territorialgliederung. Während Österreich auf dem Stand der theresianischen Reformen verharrte, zerschlugen Preußen sowie die meisten süd- und mitteldeutschen Staaten ihre historisch gewachsene Territorialstruktur und gliederten ihr Staatsgebiet in eine Anzahl gleichförmiger Verwaltungseinheiten: Provinzen und Regierungsbezirke in Preußen, Kreise in Bayern und Baden, Landvogteien in Württemberg. Nirgendwo ließ sich das Vorbild der französischen Departements verleugnen; allenthalben wurde versucht, alte regionale Identitäten aufzubrechen, Vielgestaltigkeiten einzuebnen und Gebiete ganz unterschiedlicher politischer, kultureller und konfessioneller Tradition zusammenzulegen, um die Integration der neuen Staaten zu fördern. Dem gleichen Zweck diente eine Reihe von Maßnahmen, angefangen von der Vereinheitlichung von Maßen, Münzen und Gewichten über die Verbreitung von Staats symbolen bis hin zur Förderung eines auf den neuen Staat bezogenen Nationalbewußtseins. Äußere und innere Flurbereinigung beseitigen also manches von der Vielfalt und Vielgestaltigkeit der Alten Welt und führten, alles in allem, zu einer Vereinheitlich ung politischer Herrschaft 4 .

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11.

Die Vereinheitlichung schuf wichtige Voraussetzungen für eine Bürokratisierung politischer Herrschaft. Bis an die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert hatten die Territorialstaaten mit höchst unterschiedlichem Erfolg versucht, eine leistungsfähige Verwaltung aufzubauen, indem sie, ausgehend vom Geheimen Rat, ihre Zentralkollegien erweiterten und differenzierten. Am erfolgreichsten dabei war ohne jeden Zweifel Preußen. Seit den Verwaltungsreformen Friedrich Wilhelms I. diente es deshalb vielen Staaten als Vorbild. Zu ihnen gehörte auch Österreich, das mit den Reformen Maria Theresias wichtige Elemente der preußischen Administration übernahm. Viele mittlere und kleinere Territorien konnten in diesem Bürokratisierungsprozeß nicht mithalten und fielen zurück. Bei ihnen traten deshalb die fünf Hauptschwächen frühmoderner Verwaltung wesentlich deutlicher zutage als in Preußen oder Österreich, obwohl auch hier zum Ende des 18. Jahrhunderts hin die Folgen von Halbheiten, Inkonsequenzen und Rückbildungen unübersehbar wurden. So krankte die frühmoderne Verwaltung erstens an einem Kompetenzenwirrwarr an der Staatsspitze. In vielen Territorien regierte der Fürst noch selber "aus dem Kabinett". Dieses Kabinettsystem funktionierte freilich nur dann, wenn der Herrscher wirklich alle wichtigen Entscheidungen in der Hand behielt. Gelang ihm dies jedoch nicht, brachen heftige Kompetenzkonflikte zwischen Kabinett und Regierung auf, machte sich das Fehlen einer zentralen Koordinierungsinstanz zunehmend negativ bemerkbar. In aller Regel konnte die Regierung nämlich ein Machtvakuum an der Staatsspitze nur schwer ausfüllen. Sie war zumeist in mehrere Zentralbehörden und zahlreiche Sonderverwaltungen aufgespalten, ließ eine klare Aufteilung der Zuständigkeiten sowie eindeutige Über- und Unterordnungen der Kollegien vermissen. Mängel wies die frühmoderne Verwaltung zweitens auf, weil ihr Behördenzug nicht streng durchgegliedert war. Zwar gab es unterhalb der Zentralorgane Provinzialbehörden unterschiedlichster Gestalt. Diese genossen jedoch überall dort erhebliche Selbständigkeit, wo einzelne Landesteile ihre überkommenen Sonderrechte behauptet hatten. Stärker noch als auf der mittleren versickerte die frühmoderne Staatlichkeit auf der unteren Verwaltungs4 Elisabeth Fehrenbach, Vom Ancien Regime zum Wiener Kongreß, 2. Aufl. 1986; Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 1, Neudruck 2. Aufl. 1990; Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Teilung Deutschlands, 1990, 197 ff. Zu Baden: Hans-Peter Ullmann, Baden 1800 -1830, in: Handbuch der baden-württembergischen Geschichte, Bd. 3, 1992, S. 26 ff. Zur Territorialgliederung: Franz-Ludwig Knemeyer, Regierungs- und Verwaltungsreformen in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts, 1970; ders., in: Jeserich / Pohl / von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 2, 1983, S. 122 ff., 333 ff. Zur Integration: Werner K. Blessing, Staatsintegration als soziale Integration. Zur Entstehung einer bayerischen Gesellschaft im frühen 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 41 (1978), S. 633 -700.

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ebene. Hier begrenzten die eigenberechtigten Herrschaftsbezirke von Klerus, Adel und Städten die Reichweite staatlicher Gewalt. Drittens ließ die funktionale Arbeitsteilung innerhalb der frühmodernen Administration zu wünschen übrig. Zivil- und Finanz-, Justiz- und Militärverwaltung waren allenfalls auf der oberen, selten hingegen auf der mittleren und kaum je auf der unteren Behördenebene vollständig voneinander gesondert. Besonders häufig fielen Zivil- und Justizorgane zusammen. Viertens litt die frühmoderne Verwaltung unter der Art und Weise, wie die Geschäfte verteilt und behandelt wurden. Die meisten Zentralbehörden arbeiteten entweder ganz oder teilweise nach dem Territorial-, fast alle nach dem Kollegialprinzip. Ihre Zuständigkeiten verteilten sich also nach geographischen Gesichtspunkten, und die Entscheidungen fielen nach gründlicher Beratung im Kreis der hohen Beamten. Fünftens stand es mit der Beamtenschaft oft nicht zum Besten. Rechtlich gesehen waren die Beamten eher Fürsten- als Staatsdiener. Für ihre Rekrutierung, Anstellung und materielle Versorgung fehlte es an verbindlichen Regelungen. Von einer einheitlichen, leistungsfähigen Beamtenschaft konnte mithin noch keine Rede sein. Die Verwaltungen der Territorialstaaten wiesen also bei allen Fortschritten, die gerade Preußen und Österreich durchgesetzt hatten, insgesamt doch erhebliche Schwächen auf. Diese standen nicht nur einer staatlich-administrativen Durchdringung des Landes im Weg, sondern erschwerten zugleich auch eine einheitliche und stetige Politik 5 • An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert wurden die Verwaltungsstrukturen einschneidend und dauerhaft umgestaltet. Erstens setzte sich auf breiter Front die Ministerialorganisation durch. Vier bis sechs Fachministerien traten an die Spitze der Administration, durchweg ein Außen- und Innen- sowie ein Kriegs- und Finanzministerium, oft aber auch noch ein Justiz- und Kultusministerium. Ihre Zuständigkeiten waren nach sachlichen Gesichtspunkten klar abgegrenzt. Kompetenzkonflikte, zwischen den Zentralkollegien früher die Regel, wurden nun eher zur Ausnahme. Jeder Minister leitete sein Ressort selbständig, zeichnete die fürstlichen Entschließungen gegen und übernahm damit die staatsrechtlich-politische Verantwortung. Mit der Einrichtung einer solchen Ministerialorganisation, in Bayern schon 1799, in Preußen und den meisten anderen Staaten nach 1806, trat an die Stelle des bisher verbreiteten Kabinettsystems die für moderne Staaten charakteristische Ministerregierung. Sie formte sich, bei mancherlei Übergängen in der Regierungspraxis, entweder nach dem Kollegial- oder nach dem Kanzlersystem aus. Zweitens wurde der Behördenzug straff durchgegliedert und streng hierarchisiert. Unterhalb der Fachministerien entstanden weisungsgebundene Mittelbehörden. Ob sie nun Kreisregierungen hießen wie in Bayern, Kreisdirektorien wie in Baden oder Regie5

Jeserich / Pahl / Unruh (FN 4), Bd. 1, 1983, S. 468 ff.

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rungen wie in Preußen, tat nichts zur Sache. Entscheidend war vielmehr, daß diese Mittelbehörden zu einer Art von Transmissionriemen wurden, der die Entscheidungen der Zentrale im ganzen Land umsetzte. Auf der unteren Verwaltungsebene stieß der Ausbau eines staatlichen Behördenzuges dagegen auf erhebliche Schwierigkeiten. Die süddeutschen Staaten konnten die lokalen Verwaltungs- und Justizorgane des Adels entweder ganz aufheben oder zumindest doch staatlicher Aufsicht unterwerfen und damit in den Behördenzug eingliedern. In Preußen hingegen blieb die Landgemeindeund Kreisreform stecken. 1812 scheiterte mit dem Gendarmerie-Edikt der letzte Versuch, dem Adel das Verwaltungsmonopol auf dem Land zu entwinden. Drittens nahm die Differenzierung der Bürokratie zu. Zivilund Finanzadministration wurden auf allen Behördenebenen getrennt. Bei Verwaltung und Justiz gelang dies nur auf der oberen und mittleren, nicht dagegen auf der unteren Ebene. Dies hatte vor allem finanzielle Gründe. Viertens änderten sich Geschäftsverteilung und -behandlung. Das Realverdrängte das Territorialprinzip; die Zuständigkeiten wurden also zunehmend mehr nach sachlichen und weniger nach geographischen Kriterien verteilt. Zugleich hielt nach französischem Vorbild das Bureausystem mit seinen ausgeprägten Weisungsbefugnissen und Gehorsamspflichten Einzug in die staatliche Verwaltung. Es setzte sich vor allem in den süddeutschen Staaten, weniger dagegen in Preußen durch. Fünftens entstand als Schöpfung der Rheinbundstaaten ein modemes Berufsbeamtentum. Um über ein gut ausgebildetes, stark motiviertes und in jeder Hinsicht verläßliches Verwaltungspersonal zu verfügen, wurden die Beamten im Rahmen eines jetzt öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisses einerseits privilegiert, andererseits diszipliniert. Dienstpragmatiken nach bayerischem Vorbild verbürgten ihnen Anstellung auf Lebenszeit sowie materielle Sicherstellung, führten zugleich aber auch höhere Qualifikationsanforderungen ein und verschärften das Disziplinarrecht. Aufs Ganze gesehen kam die Bürokratisierung politischer Herrschaft an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ein großes Stück voran. Dabei lagen die Staaten des "Dritten Deutschland" an der Spitze; Preußen folgte ihnen; Österreich dagegen fiel immer weiter zurück 6. 6 Knemeyer (FN 4); ders., in: Jeserich / Pohl / Unruh (FN 4), Bd. 2, S. 333 ff.; Paul Nolte, Staatsbildung als Gesellschaftsreform. Politische Reformen in Preußen und den süddeutschen Staaten 1800-1820, 1990. Zu Preußen: Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, 4. Auf!. 1987. Zu Bayern: M. Doeberl, Entwicklungsgeschichte Bayerns, Bd. 2, 3 Auf!. 1928, S. 457 ff.; Eberhard Weis, Die Begründung des modernen bayerischen Staates unter König Max I. (1799-1825), in: Max Spindler (Hrsg.), Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. 4/1, 1974, S. 55 ff. Zu Württemberg: Friedrich Wintterlin, Geschichte der Behördenorganisation in Württemberg, 2 Bde., 1904/06; Erwin Hölzle, Württemberg im Zeitalter Napoleons und der deutschen Erhebung. Eine deutsche Geschichte der Wendezeit im einzelstaatlichen Raum, 1937. Zu Baden: Willy Andreas, Geschichte der badischen Verwaltungsorganisation und Verfassung in den Jahren 1802-1818, Bd. 1, 1913; Ullmann (FN 4),

9 Der Staat, Beiheft 10

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III.

Vereinheitlichung und Bürokratisierung verursachten hohe Kosten. Mit besonderer Dringlichkeit stellte sich deshalb das Problem der Finanzierung politischer Herrschaft. Bis zur Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert hatte es beachtliche Fortschritte in Richtung auf eine moderne öffentliche Finanzwirtschaft gegeben. Doch blieben diese wiederum auf Preußen, Österreich und einige der größeren Territorien beschränkt; und selbst bei ihnen kam der finanzielle Wandel über jene entscheidende Wendemarke nicht hinaus, die die frühmodernen von den modernen öffentlichen Finanzen trennte. Dies galt erstens für den rechtlichen und institutionellen Rahmen der Finanzwirtschaft. Zwar gelang es manchen Fürsten und ihren Regierungen, den Einfluß des Alten Reiches zurückzudrängen und dadurch einen größeren Spielraum für Finanzreformen zu gewinnen, das Steuerbewilligungsrecht der Stände und deren Teilhabe an der Finanzgewalt zu beschneiden sowie Zugriffe des Herrscherhauses auf die Finanzen zu unterbinden. Preußen war bei alledem besonders erfolgreich, aber auch Bayern und Österreich schritten auf diesem Weg voran. Gleichwohl behauptete sich die überkommene Finanzverfassung mit erstaunlicher Zähigkeit. Von einer ungeteilten öffentlichen Finanzgewalt war man im 18. Jahrhundert noch weit entfernt. Diese Teilung der Finanzhoheit wirkte sich nicht zuletzt auf die Finanzverwaltung aus. Sie spiegelte die Entwicklung des Steuerwesens sowie die tradierte Aufgabenteilung zwischen Landesherr und Ständen wider. So war die Finanzadministration nach wie vor in zwei Stränge aufgegliedert: einen landesherrlichen einerseits, der Domänen und Regalien verwaltete, sowie einen landständischen andererseits, der die Steuern erhob und oft auch die Schulden bediente. Selbst dort, wo diese althergebrachte Duplizität, etwa durch Inkammerierung von Steuern, Zusammenlegung der Behörden oder personelle Verflechtungen, schon aufgebrochen worden war, hielten sich noch Reste der alten Strukturen. Moderne öffentliche Finanzen gab es zweitens nicht, weil die notwendigen Instrumente und Verfahren regelhafter finanzpolitischer Willensbildung entweder ganz fehlten oder erst in Ansätzen ausgebildet waren. In den meisten Territorien wirtschaftete man nach dem Generalkassenrechnungsstil. Das heißt: Soweit überhaupt Budgets aufgestellt wurden, umfaßten diese keineswegs die Einnahmen und Ausgaben aller, sondern lediglich jene der zentralen Kassen; sie beruhten zudem auf dem Nettoprinzip, wiesen also die Erhebungskosten nicht nach, und wurden schließlich mehr als nachträgliche Übersichten über den Finanzzustand angesehen, denn als vorherige und vollzugsverbindliche Haus-

s. 38 ff. Zum Berufsbeamtentum: Bernd Wunder, Privilegierung und Disziplinierung. Die Entstehung des Berufsbeamtentums in Bayern und Württemberg (17801825), 1978; ders., Geschichte der Bürokratie in Deutschland, 1986, S. 21 ff.

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haltspläne. Drittens gab es keine modernen öffentlichen Finanzen, weil der Aufbau leistungsfähiger Steuersysteme schleppend vor sich ging. Nach wie vor trugen Domänen und Regalien mit starken Prozentsätzen zu den Einnahmen bei, vor allem in Preußen. Gewiß, der Aufstieg des Steuerstaates vollzog sich unaufhaltsam, dank der theresianischen Steuerrektifikation nicht zuletzt in Österreich. Doch türmten sich viele Probleme auf, die unüberwindlich schienen: die Vielfalt des historisch gewachsenen Steuerwesens, die zahlreichen Steuerbefreiungen oder die Mängel der Besteuerungstechnik. So erwiesen sich aufs Ganze gesehen die frühmodernen Finanzwirtschaften als wenig leistungsfähig, öffnete sich die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben immer weiter, folgte deshalb eine Finanzkrise auf die andere 7. An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert gab es einschneidende Neuerungen auf dem Gebiet der öffentlichen Finanzen. Grundlegend umgestaltet wurden erstens Finanzverfassung und Finanzverwaltung. Durch die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches erlangten alle Staaten mit der vollen Souveränität auch die uneingeschränkte Finanzhoheit. Sie konnten jetzt die Teilhabe ständischer Gewalten, soweit diese noch bestand, zurückdrängen, die dynastischen Privat- von den Staatsfinanzen trennen und die Finanzgewalt in der Hand des Staates konzentrierten. Dadurch wurden im strengen Verständnis überhaupt erst öffentliche Finanzen freigesetzt. Jetzt ließ sich auch die Finanzverwaltung vereinfachen und in einem einzigen, dreistufigen und hierarchisch gegliederten Behördenzug zusammenfassen. Zweitens bürgerten sich moderne Instrumente und Verfahren finanzpolitischer Willensbildung ein. Nach langen, zähen Vorarbeiten kamen funktionale Budgets auf. Sie umfaßten die Einnahmen und Ausgaben aller Kassen, wiesen sämtliche Lasten und Erhebungskosten aus, waren also ebenso einheitlich wie vollständig. Diese öffentlichen Haushalte wurden in einen regelhaften Budgetkreislauf eingegliedert, der in jährlich wiederkehrendem Turnus Planung, Vollzug und Kontrolle des Etats sicherstellte und dafür sorgte, daß sich die öffentlichen Finanzen rational und effizient bewirtschaften ließen. Drittens setzten sich ergiebige Steuersysteme durch, die den Grundsätzen der Steuergerechtigkeit stärker Rechnung trugen. Überkommene Steuerprivilegien entfielen entweder ganz oder wurden zumin7 K. Th. Eheberg, Art. Finanzen 11: Geschichte der Finanzen, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 4, 4. Aufl. 1927, S. 9-98; Ernst Klein, Geschichte der öffentlichen Finanzen in Deutschland (1500 -1870), 1974; Adolf Friedrich Riedel, Der Brandenburgisch-Preußische Staatshaushalt in den letzten beiden Jahrhunderten, 1866; P. G. M. Dicksan, Finance and Government under Maria Theresia 1740-1780, 2 Bde., Oxford 1987; Hans Schmelzle, Der Staatshaushalt des Herzogtums Bayern im 18. Jahrhundert mit Berücksichtigung der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Verhältnisse des Landes, 1900; Manfred Rauh, Verwaltung, Stände und Finanzen. Studien zu Staats aufbau und Staatsentwicklung Bayerns unter dem späteren Absolutismus, 1988.

9*

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dest stark eingeschränkt. Einfache und einheitliche Steuersysteme mit abgestimmten Teilsteuern traten an die Stelle des historisch gewachsenen und deshalb in seiner Vielfalt oft chaotischen Steuerwesens. Dies alles erhöhte die Leistungsfähigkeit der öffentlichen Finanzen, verminderte, wenn auch nicht immer in kurzer Zeit, ihre Krisenanfälligkeit und verbesserte damit die Finanzierung politischer Herrschafts. IV.

Durch Vereinheitlichung, Bürokratisierung und Finanzierung wuchs die Macht des Staates. Dies erleichterte eine Monopolisierung politischer Herrschaft. Bis an die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert verfügte der Staat nicht über das uneingeschränkte Gewaltmonopol. Denn es gab neben ihm Personen und Korporationen, die aus eigenem Recht Herrschaft ausübten. Zu ihnen zählten erstens der Fürst selbst und zweitens eine Reihe eigenberechtigter Gewalten angefangen vom Adel über den Klerus bis hin zu den Städten. Sicher, der aufgeklärte Absolutismus in Österreich, Preußen und einigen größeren Territorien des Reiches förderte den Grundsatz der Rechtspersönlichkeit des Staates und seiner Eigenständigkeit gegenüber der Dynastie, und es gelang ihm auch, die Macht von Adel, Kirche und Städten zurückzuschneiden. Aber selbst dort, wo sich die öffentliche Gewalt am stärksten Bahn brach, wurde beileibe nicht jene staatliche Durchdringung des Landes und Vereinheitlichung des Untertanenverbandes erreicht, die der Staat in der Theorie beanspruchte. Umso schlechter war es um das öffentliche Gewaltmonopol in jenen zahlreichen kleinen und mittleren Territorien bestellt, die meist noch patrimonialstaatliche Züge trugen und in denen Adel, Kirche und Städte ihr überkommenes Recht, qua Tradition und altem Herkommen Herrschaft auszuüben, erfolgreich verteidigten, vor allem ihre ständische Mitwirkung, Teilhabe an der Finanzgewalt und Ausübung lokaler Verwaltung sowie niederer Gerichtsbarkeit. Hier stieß der Anspruch des entstehenden modernen Staates auf das uneingeschränkte Gewaltmonopol nach wie vor auf die eigenständigen Herrschaftsbezirke der privilegierten Stände, schoben sich diese als intermediäre Gewalten zwischen Staat und Bevölkerung 9 • s Hans-Peter Ullmann, Staatsschulden und Reformpolitik. Die Entstehung moderner öffentlicher Schulden in Bayern und Baden 1780 -1820, 2 Bde., 1986; ders., Öffentliche Finanzen im Übergang vom Ancien Regime zur Moderne: die bayerische Finanzreform der Jahre 1807/08, in: Archiv für Sozialgeschichte 23 (1983), S. 5198; ders., Zur Finanzpolitik des Großherzogtums Baden in der Rheinbundzeit: die Finanzreform von 1808, in: Weis (FN 2), S.99-120; Alexander von Witzleben, Staatsfinanznot und sozialer Wandel. Eine finanzsoziologische Analyse der preußischen Reformzeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts, 1985; Harm-Hinrich Brandt, Der österreichische Neoabsolutismus. Staatsfinanzen und Politik 1848 -1860, 2 Bde., 1978; Erika Müller, Theorie und Praxis des Staatshaushaltsplans im 19. Jahrhundert, 1989; Walter Steitz, Feudalwesen und Staatssteuersystem, Bd. 1, 1976.

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An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert änderte sich dies weitgehend. Der Staat entwickelte sich, um mit Max Weber zu sprechen, zu einem anstaltsmäßigen Herrschaftsverband mit legitimem physischen Gewaltmonopol. Er drängte auf diesem Weg erstens die Herrscherrechte der Fürsten zurück. Die meisten Staaten des "Dritten Deutschland" holten jetzt jene Trennung von Staat und Dynastie nach, die sich in Österreich und Preußen schon während des 18. Jahrhunderts weitgehend durchgesetzt hatte. Zugleich wurde der Fürst als ein Organ in den Staat eingegliedert und ihm untergeordnet. Dies schränkte die fürstliche Macht zugunsten der Bürokratie ein, verwandelte den aufgeklärten in einen bürokratischen oder "Staatsabsolutismus" (Demei). Im Gegenzug aber nahm der Regent als Staatsorgan teil an der Kompetenzausweitung öffentlicher Gewalt. Zweitens schaltete der entstehende moderne Staat die konkurrierenden, eigenberechtigten Herrschaftsträger aus. Verhältnismäßig leicht gelang dies bei den Landund ehemaligen Reichsstädten. Viele Staaten des "Dritten Deutschland" unterwarfen in einem ersten Schritt die Städte öffentlicher Aufsicht, stellten dabei Stadt- und Landgemeinden auf eine Stufe und gliederten sie als unterste Verwaltungseinheit in den Staat ein. Diese Verstaatlichung der Kommunen bildete die Voraussetzung, um ihnen mit den Gemeindereformen in einem zweiten Schritt wieder größere Selbstverwaltungsrechte einzuräumen, die sich freilich jetzt im Staat und nicht mehr neben ihm verwirklichten. Ganz anders sah die Situation in Preußen aus. Hier lief die Entwicklung von Stadt- und Landgemeinden auseinander. Während die Steinsehe Städteordnung mit Staatsbindung und Selbstverwaltung wichtige Elemente moderner Kommunalverfassung verwirklichte, kam eine Landgemeindeordnung nicht zustande. Das zementierte die Trennung zwischen Stadt und Land sowie die Vormacht der Guts- und Grundherrn. Größere Schwierigkeiten bereitete es auch, die katholische Kirche der öffentlichen Gewalt zu unterwerfen. Vor allem die süddeutschen Staaten nutzten die Säkularisation, um den Klerus aller herrschaftlichen Funktionen zu entkleiden, und den Zusammenbruch der Kirchenorganisation im deutschen Süden, um Staat und Kirche strikt zu trennen, die geistliche der weltlichen Gewalt unterzuordnen und ein staatskirchliches System aufzurichten. Selbst wenn Erfolge auf manchen Gebieten ausblieben, etwa beim Schulwesen oder Eherecht, und die Staaten beim Abschluß von Konkordaten später auch Abstriche an ihren ursprünglichen, weiterreichenden Zielen machen mußten, setzte die öffentliche Gewalt doch ihren Führungsanspruch durch. Auf den stärksten Widerstand stießen alle Bemühungen, die ehemaligen Reichsstände in die neuen Staaten einzufügen und sowohl den mediatisierten wie landsässigen Adel dem öffentlichen Gewaltmonpol zu 9 Heinz Duchardt, Das Zeitalter des Absolutismus, 1989; Ernst Hinrichs (Hrsg.), Absolutismus, 1986; Johannes Kunisch, Absolutismus. Europäische Geschichte vom Westfälischen Frieden bis zur Krise des Ancien Regime, 1986.

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unterwerfen. Die Staaten des "Dritten Deutschland" brachen die Widerstände des Adels am erfolgreichsten. Sie nahmen ihm seine korporativen Rechte, vor allem die ständischen Mitwirkungsmöglichkeiten, und schafften wichtige Adelsprivilegien ab; sie entzogen ihm die lokale Verwaltung und niedere Gerichtsbarkeit entweder ganz wie in Baden oder zwangen ihn zumindest, seine Herrschaftsrechte nur noch aufgrund eines staatlichen Auftrags wahrzunehmen wie in Bayern. Dagegen behauptete der Adel in anderen Staaten, vor allem in Preußen und Österreich, seinen Anspruch, qua eigenen Rechts über Land und Leute zu herrschen. Während Österreich keine nennenswerten Versuche unternahm, die Adelsgewalt einzugrenzen, scheiterten in Preußen alle Anläufe an der mächtigen Adelsopposition und dem komplizierten Gefüge der Gutsherrschaft. Obwohl sich der "Staatsabsolutismus" an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert unterschiedlich stark durchsetzte, am stärksten wohl in den Staaten des "Dritten Deutschland", weniger schon in Preußen und am schwächsten sicher in Österreich, kam doch die Monopolisierung politischer Herrschaft aufs Ganze gesehen entscheidend voran 10.

v. Der Aufstieg eines einheitlichen, bürokratisch verwalteten Staates mit öffentlichen Finanzen und Gewaltmonpol warf die Frage einer Konstitutionalisierung politischer Herrschaft auf. Bis an die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert hatte sich das Verfassungsproblem in ganz anderer Weise gestellt. Es war im Reich und in den Territorien von einem höchst wechselvollen Gegen- und Miteinander von Ständewesen und absoluter Monarchie geprägt. Die Entwicklung im 17. und 18. Jahrhundert lief in ihrer Haupttendenz darauf hinaus, daß die absolute Monarchie vordrang und das Ständewesen zurückschob. Während die Fürsten ihre Macht ausdehnten, 10 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5. Aufl. 1980, S. 824; Nolte (FN 6); Heinz Gollwitzer, Die Standesherren. Die politische und gesellschaftliche Stellung der Mediatisierten, 2. Aufl. 1964. Zu Bayern: Walter Demei, Der bayerische Staatsabsolutismus 1806/08 -1817. Staatsund gesellschaftspolitische Motivationen und Hintergründe der Reformära in der ersten Phase des Königreichs Bayern, 1983; Hans Hubert Hofmann, Adelige Herrschaft und souveräner Staat. Studien über Staat und Gesellschaft in Franken und Bayern im 18. und 19. Jahrhundert, 1962; Werner K. Blessing, Staat und Kirche in der Gesellschaft. Institutionelle Autorität und mentaler Wandel in Bayern während des 19. Jahrhunderts, 1982. Zu Württemberg: Bernhard Mann, Württemberg 1800 bis 1866, in: Handbuch (FN 4), S. 235 ff.; Paul Sauer, Napoleons Adler über Württemberg, Baden und Hohenzollern. Südwestdeutschland in der Rheinbundzeit, 1987, S. 170 ff. Zu Baden: Erwin Arndt, Vom markgräflichen Patrimonialstaat zum großherzoglichen Verfassungsstaat Baden. Ein Beitrag zur Verfassungsgeschichte Badens zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit Berücksichtigung der Verhältnisse in Bayern und Württemberg, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 101 (1953), S.157-264, 436-531; Ullmann (FN 4), S. 51 ff.

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Zuständigkeiten an sich zogen und nicht zuletzt mit Hilfe von Heer und Bürokratie die Staatsbildung vorantrieben, gerieten die Landstände in die Defensive und entwickelten sich zu einer eher retardierenden Kraft. Doch blieb nicht nur eine klare Diskrepanz bestehen zwischen dem Willen zu absolutistischer Herrschaft auf der einen und den Chancen, sie durchzusetzen, auf der anderen Seite, sondern die Stände behaupteten sich auch dank des Rückhalts bei Kaiser und Reichshofrat in vielen Bereichen, ja, es wurden nicht zuletzt im Zuge der "ständischen Renaissance" des späteren 18. Jahrhunderts sogar Gegenbewegungen erkennbar. So lassen sich die unterschiedlichen territorialstaatlichen Verfassungen im Alten Reich auf einem Kontinuum einordnen, an dessen einem Ende die Territorien mit "absolutistischer" Verfassung und an dessen anderem Ende jene mit "landständischer" Verfassung standen. Hier traten dem Landesherrn nach wie vor Landstände mit dem Anspruch gegenüber, ein eigenes, weil auf Tradition und Herkommen gegründetes Recht zu besitzen, an der Regierung des Landes mitzuwirken und solchen Maßnahmen zustimmen zu müssen, die sie selber, ihre Untertanen oder das ganze Land betrafen. Diese ständische Repräsentation beruhte darauf, daß nur die privilegierten Stände direkt beteiligt waren. Auch übten die Stände ihre Rechte aufgrund alter Privilegien aus, vertraten nur die Interessen ihres Standes gegenüber dem Landesherrn und waren an Instruktionen ihrer Mitstände gebunden. Im Kern beruhte also die landständische Verfassung auf einer Repräsentation eigenberechtigter, korporativ handelnder Herrschaftsträger und verwirklichte sich in Form ihrer unmittelbaren Teilhabe an der politischen Herrschaft 11. An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert stellte sich das Verfassungsproblem anders als vordem, einerlei, ob man mehr die Kontinuität zwischen ständischer und moderner Repräsentation betont oder eher auf die Diskontinuität der Entwicklung abhebt. Denn zum einen ging zusammen mit dem Heiligen Römischen Reich auch seine Rechtsordnung unter, entfiel der reichsrechtliche Schutz für die landständischen Verfassungen. Zum anderen nutzten viele Fürsten die volle Souveränität, um die überkommenen Landesverfassungen aufzuheben. Schließlich tat sich mit dem Aufbau moderner Staatlichkeit auf der einen Seite sowie der Unterwerfung aller Untertanen unter das öffentliche Gewaltmonpol und ihrer Nivellierung zu einem einheitlichen Untertanenverband auf der anderen Seite zwischen Staat und Gesellschaft eine wachsende Kluft auf, und es stellte sich immer drängender die Frage, wie diese überbrückt werden könnte. Dabei ging es sowohl um die Legitimation politischer Herrschaft mit weitreichenden 11 Vierhaus, Deutschland (FN 3), S. 116 ff.; ders., Staaten (FN 3), S. 105 ff.; ders., Ständewesen und Staatsverwaltung in Deutschland im späteren 18. Jahrhundert, in: ders., Deutschland im 18. Jahrhundert, 1987, S. 33-49; Dietrich Gerhard (Hrsg.), Ständische Vertretungen in Europa im 17. und 18. Jahrhundert, 1969; Peter Baumgart (Hrsg.), Ständetum und Staatsbildung in Brandenburg-Preußen, 1983.

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Konsequenzen bis hinein in die Bereiche von Steuern und Kredit als auch um die Möglichkeit einer Partizipation und Repräsentation der Untertanen. An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert kam es zu drei charakteristischen Lösungen der Verfassungsfrage. Da war erstens der Weg, den Österreich und manche Mittel- und Kleinstaaten im deutschen Norden einschlugen. Sie hielten an den tradierten Landesverfassungen mit ihren überkommenen Formen altständischer Repräsentation fest oder belebten diese aufs neue. Eine solche Kontinuität war freilich nur zu wahren, weil sich hier der moderne Staat gegenüber den eigenberechtigen Gewalten weniger stark durchgesetzt hatte, und erkauft wurde sie mit einer Stagnation der Staatsbildung. Zweitens gab es den Weg, den Preußen beschritt. Für ihn war der Versuch kennzeichnend, einen modernen Staat aufzubauen und die Untertanen an seiner Entstehung teilhaben zu lassen. Damit gerieten die Reformer freilich in ein Dilemma. Griffen sie auf altständische Formen der Repräsentation zurück, arbeitete dies den Gegnern ihrer Politik in die Hände. Moderne Formen der Repräsentation setzten hingegen einen nivellierten Untertanenverband voraus, der erst am Ende des Staatsbildungsprozesses stehen konnte. Aus diesen Schwierigkeiten fanden die Reformer erst heraus, als eine gesamtstaatliche Verfassung und Repräsentation aus innen- wie außenpolitischen Gründen nicht mehr durchsetzbar war. Übrig blieben als Kompromiß aus altständischen, konstitutionellen und bürokratischen Verfassungsvorstellungen die Provinzialstände der zwanziger Jahre. Den dritten Weg gingen die süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg und Baden. Für sie gehörten moderne Staatlichkeit einerseits sowie Partizipation und Repräsentation der Untertanen andererseits zusammen. Doch gab es bei ihnen klare Prioritäten: erst der Aufbau moderner Staatlichkeit, dann die Gewährung von Partizipationsrechten. Daß die süddeutschen Staaten mit dieser Politik erfolgreicher fuhren als Preußen lag zum einen daran, daß sie die eigenberechtigten Gewalten konsequenter zurückgedrängt hatten; zum anderen sprachen bei ihnen gewichtigere Argumente für eine Konstitutionalisierung politischer Herrschaft: das Problem staatlicher Integration, die katastrophale Finanzlage, die Verteidigung der Souveränität nach außen und zentraler Reformerrungenschaften wie des öffentlichen Gewaltmonopols nach innen. Obwohl sich in den Landtagen der süddeutschen Staaten noch manches altständische Relikt hielt, verwirklichten sie doch in der Zusammensetzung der Zweiten Kammern sowie mit Wahl, Gesamtverantwortung und freiem Mandat entscheidende Grundsätze des modernen Repräsentativsystems. Die süddeutschen Staaten brachten so den Staatsbildungsprozeß mit einer Konstitutionalisierung politischer Herrschaft zum Abschluß 12.

* 12 Kontinuität und Diskontinuität: Eberhard Weis, Kontinuität und Diskontinuität zwischen den Ständen des 18. Jahrhunderts und den frühkonstitutionellen

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Für die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, so läßt sich zusammenfassend und abschließend sagen, war dreierlei charakteristisch. Erstens setzte sich in einer Phase beschleunigter Entwicklung die moderne Staatlichkeit durch. Dieser Transformationsprozeß lief in vielen Staaten des "Dritten Deutschland" rascher ab und wälzte die überkommenen Strukturen gründlicher um als in Preußen, vor allem aber als in Österreich. Hatte der aufgeklärte Absolutismus hier im 18. Jahrhundert zu einem Vorsprung gegenüber den kleinen und mittleren Territorien geführt, holten die süddeutschen Staaten diesen Rückstand jetzt nicht nur auf, sondern setzten sich an die Spitze des politischen Modernisierungsprozesses. Zweitens war die Wende um 1800 durch erhebliche sektorale Entwicklungsunterschiede gekennzeichnet. Im Zentrum standen Aufbau und Konsolidierung moderner Staatlichkeit. Diese strahlten zwar auf weite Bereiche von Gesellschaft und Wirtschaft aus, und der Staat trieb den sozialen Wandel auch gezielt voran. Doch blieb, bei allen Wechselwirkungen im einzelnen, insgesamt das Gefälle beachtlich, das sich zwischen dem Durchbruch moderner Staatlichkeit auf der einen Seite sowie der Entstehung einer egalitären Staatsbürgergesellschaft und einer liberalen Marktwirtschaft auf der anderen Seite ergab. Diese Diskrepanz trat besonders in Staaten des "Dritten Deutschland" hervor, weniger in Preußen, das die Wirtschaftsreformen konsequenter vorangetrieben hatte, kaum in Österreich, das auf allen Gebieten zurückgefallen war. Drittens hatte die Wende um 1800, obwohl sie von der neueren Forschung zu Recht positiv bewertet wird, auch Schattenseiten. Denn was aus Sicht der Bürokratie, die die Staatsbildung in erster Linie voranbrachte, als Vereinheitlichung des Staatsgebiets, Aufbau einer effizienten Verwaltung, Schaffung leistungsfähiger öffentlicher Finanzen, Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols sowie Gewährung von ReParlamenten von 1818/19 in Bayern und Württemberg, in: Pankraz Fried / Walter Ziegler (Hrsg.), Festschrift für Andreas Kraus zum 60. Geburtstag, 1982, S. 337 -355; Volker Press, Landtage im Alten Reich und im Deutschen Bund. Voraussetzungen ständischer und konstitutioneller Entwicklungen 1750 -1830, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 49 (1980), S. 100-140. Lösungen der Verfassungsfrage: ebd.; Nolte (FN 6), S. 79 ff., 165 ff.; Karl Otmar Frhr. v. Aretin, Vom Deutschen Reich zum Deutschen Bund, 1980, S. 166 ff. Finanzen und Verfassung: Ullmann, Staatsschulden (FN 8), S. 427 ff., 636 ff; Herbert Obenaus, Finanzkrise und Verfassungsgebung. Zu den sozialen Bedingungen des frühen deutschen Konstitutionalismus, in: Gerhard A. Ritter (Hrsg.), Gesellschaft, Parlament und Regierung. Zur Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland, 1974, S. 57 -75. Zu Preußen: ders., Anfänge des Parlamentarismus in Preußen, 1984; Koselleck (FN 6). Bayern: Weis (FN 6), S. 74 ff.; Karl Möckl, Der moderne bayerische Staat. Eine Verfassungsgeschichte vom aufgeklärten Absolutismus bis zum Ende der Reformepoche, 1979. Zu Württemberg: Volker Press, Der württembergische Landtag im Zeitalter des Umbruchs 1770-1830, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 42 (1983), S. 255-281; Joachim Gerner, Vorgeschichte und Entstehung der württembergischen Verfassung im Spiegel der Quellen (1815 -1819), 1989; Hartwig Brandt, Parlamentarismus in Württemberg 1819-1870. Anatomie eines deutschen Landtags, 1987. Zu Baden: Friedrich von Weech, Geschichte der Badischen Verfassung. Nach amtlichen Quellen, 1868; Andreas (FN 6), S. 396 ff; Ullmann (FN 4), S. 59 ff.

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präsentations- und Partizipationsrechten im Rahmen einer Konstitution erschien, stellte sich aus der Perspektive der Untertanen ganz anders dar. Für sie wurden Gebiete ganz unterschiedlicher politischer, kultureller und konfessioneller Tradition zwangsweise zusammengefügt, erhöhten sich Uniformierung und Reglementierung, wuchsen finanzielle Belastungen und Zugriff des Fiskus, wurden mit der Vielgestaltigkeit der tradierten Herrschaftsverhältnisse überkommene Lebensformen und Identitäten beseitigt, gingen Freiräume "korporativer Libertät" verloren. So dauerte es Jahre, bis die Untertanen die Erfahrung gemacht hatten, daß sie im modernen Bayern besser lebten als im Fürstentum Oettingen unter der Herrschaft von Kraft Ernst 13.

13 Werner K. Blessing, Umbruchkrise und ,Verstörung'. Die ,Napoleonische' Erschütterung und ihre sozialpsychologische Bedeutung (Bayern als Beispiel), in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 42 (1979), S. 75-106; Bernd v. Münchow-Pohl, Zwischen Reform und Krieg. Untersuchungen zur Bewußtseinslage in Preußen 1809-1812,1987.

Aussprache Rückert: Herr Ullmann, Sie haben in eleganter Weise die Klippen von Kontinuität, Diskontinuität und Wendemarke umschifft und sich Ihre eigenen Wendemarken gesetzt. Ich würde gerne zwei Punkte modifizieren. Den einen möchte ich positiv zuspitzen und den anderen, eine zentrale Metapher, kritisch beleuchten. Zunächst zu dem positiv zuzuspitzenden Punkt: Muß man nicht nachdrücklich unterstreichen, daß die Dreipoligkeit des alten Reichssystems 1806 verschwindet und einer Zweipoligkeit Platz macht? Das öffnet die Möglichkeit zur modemen Staatsbildung in Ihrem Sinne. Mit Dreipoligkeit ist gemeint: Der Kaiser, der stets über allem steht, die Landesherren und die Landstände sowie der Landesadel, die ihrerseits dem Landesherrn gegenüberstehen, aber 1806 wegfielen. Die bayerischen reichsunmittelbaren Klöster sahen ihre Säkularisation 1802 und 1803 noch ziemlich gelassen in der Zuversicht, daß es ja noch das Reichskammergericht gebe. Also schickten sie ihre Anwälte los. Die Klagschriften sind alle noch vorhanden. Als dann aber das Reichskammergericht dahinschied, sahen die reichsunmittelbaren Klöster ihre Sache verloren. Also resignierten sie. An diesem zentralen Beispiel kann man sehen, wie das Reich die Dinge doch sehr entscheidend beeinflußt hat. Der andere Punkt betrifft Ihre Formulierung "Durchbruch moderner Staatlichkeit", der mir im Kontext dessen, was Sie gesagt haben, überhaupt nicht gefällt. In ihm klingt die Vorstellung an, es sei etwas von selbst gewachsen und dann durchgebrochen. Das ist genau das, was - wie Sie eindringlich gezeigt haben - nicht der Fall war.

Ableitinger: Herr Ullmann, ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, daß Sie immer wieder auf Österreich Bezug genommen haben. Aber ich bin nicht ganz zufrieden damit, daß Sie gesagt haben, bei der Bürokratisierung sei in Österreich die theresianische Struktur verhärtet worden; Bayern und Preußen dagegen hätten die historischen Territorien auf der administrativen Ebene zerschlagen. Versteht man unter "Österreich" nicht den ganzen habsburgischen Herrschaftskomplex, sondern die böhmisch-österreichischen Kemgebiete (später ergänzt um den Zuwachs aus den polnischen Teilungen), so hat die theresianische Behördenorganisation in Österreich schon geraume Zeit früher besorgt, was Bayern und Preußen erst später getan haben. Sie hat die damals neu eingerichteten Mittelbehörden, die Gubernien und die Appellationsgerichte, gerade nicht nach den histori-

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schen Territorien ausgerichtet, sondern neue Gouvernementbezirke geschaffen. Das hat sich z. T. bis 1918 erhalten. Vorarlberg ist zwar immer ein Land mit eigenem Landtag geblieben; aber es hatte nie ein eigenes Gubernium oder später eine Statthalterei erhalten. Für Vorarlberg war Innsbruck zuständig. Das galt anfangs auch für die innerösterreichischen Gebiete, wo das Gubernium in Graz saß und von dort aus Kärnten und Krain mitverwaltet hat. Man könnte das fortführen. Freilich gibt es dann später Rückbildungen, so daß es einen gewissen Trend gibt, die staatlichen Mittelbehörden auf die älteren Länder zu beziehen, die so in der zweiten Hälfte des 19. Jh. eine gewisse Revitalisierung erfahren haben. Meine zweite Bemerkung bezieht sich auf Ihre Aussage zur Lokalverwaltung. Es ist richtig, daß es in den österreichischen Ländern eine staatliche Lokalverwaltung bis 1848 nicht gibt. Aber es ist sehr gut zu beobachten, daß die bis 1848 vorhandene Lokalverwaltung (hauptsächlich die grundherrlich adlige, gelegentlich auch - allerdings in einem insgesamt sehr viel bescheideneren Umfang - die städtische Lokalverwaltung) sehr eng unter staatlicher Anleitung arbeitet. Die als zweite Mittelbehörden unter den Gubernien stehenden Kreisämter machten ihr massive Vorgaben. Sie schrieben den Grundherren z. B. vor, akademisch ausgebildete Justitiare anzustellen. Bei einer jüngeren Untersuchung über die Herrschaft des Klosters Admont ist herausgekommen, daß der dortige sog. Hofrichter der Grundherrschaft darüber Klage führt, daß er 12/13 seiner Geschäftsfälle im Dienste des Staates erledigen müsse, so daß er fast nichts mehr im Sinne des grundherrschaftlichen Amtes bewirken könne und als Bezirkskommissar, wie er auch heißt, hoffnungslos überfordert sei. Es ist immer die Rede von Bezirken, die zwar noch keine staatlichen Behörden sind. Aber es existiert so etwas wie eine Bezirksverwaltung, die von der adeligen Verwaltung geleistet werden muß, überwiegend, wie mir scheint, auch auf deren Kosten. Aber das ist eine sehr komplizierte Angelegenheit. Ich glaube nicht, daß man das, was Sie für Preußen gesagt haben, nämlich, daß der Adel das Verwaltungsmonopol auf der lokalen Ebene behält, auf Österreich übertragen kann. Mich würde interessieren, ob man für Preußen Forschungen angestellt hat, aus denen hervorgeht, wieviel dem Adel an Vollzug staatlicher Verwaltung vor Ort, sozusagen in einem "übertragenen Wirkungsbereich", auferlegt gewesen ist. Was die Konstitutionalisierung betrifft, so sagen Sie: Österreich blieb beim alten Konstitutionalismus, weil es überhaupt altertümlich geblieben ist. Das läßt sich so nicht halten. Daß die Erneuerung des Konstitutionalismus auch sehr stark daran gehangen habe, ob man eine mehr oder minder egalitäre Untertanengesellschaft gehabt hat, leuchtet mir für Österreich nicht ein. Eine solche Untertanengesellschaft hat Österreich natürlich nicht gehabt. Aber es hat sie in einem erheblichen Maße erzeugt. Als 1848 mehr

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oder weniger revolutionär ein erster Durchbruch zum Konstitutionalismus erfolgte, ergaben sich daraus allerdings keine Probleme. Keine der bis dahin privilegierten oder eigenständig herrschenden Sozialgruppen war in der Lage, einen Protest vorzubringen. Diese Gruppen versuchten später, auf lokaler Ebene öffentlich-rechtliche Gutsverwaltungen neben oder gar außerhalb der neuen Ortsgemeinde zu erhalten. Aber bei der Konstitutionalisierung vermochten diese älteren sozialen Eliten keine ernsthaften Schwierigkeiten zu bereiten, obwohl das Österreich der ersten Hälfte des 19. Jh. ganz anders als das der zweiten Hälfte des 18. Jh. zweifellos ein stagnierendes Gebilde gewesen ist, worüber sehr viel weniger Rühmendes zu sagen wäre, als ich in diesem Diskussionsbeitrag gesagt habe.

Ullmann: Sie haben mich, Herr Rückert, im ersten Teil Ihrer Ausführungen sehr bestätigt. Allerdings würde ich Ihren Gedanken von der Dreipoligkeit des alten Reichssystems und dem Übergang zu einer Zweipoligkeit im Jahre 1806 aus der Sicht der süddeutschen Staaten gerne modifizieren. Hier gab es zunächst mit der Auflösung des alten Reiches und dem Gewinn voller Souveränität den Schritt zur Einpoligkeit und erst später dann, im Zuge der Konstitutionalisierung, eine Weiterentwicklung hin zu einer Zweipoligkeit des politischen Systems. Im übrigen bin ich aber ganz Ihrer Meinung, daß eine entscheidende Voraussetzung für den Modernisierungsprozeß, den ich geschildert habe, das Ende des alten Reiches gewesen ist. Das Ende des Reichs wirkte sich nachhaltig auf die Staaten des Rheinbundes aus, weil diese jetzt, aus dem Reichsverband entlassen, die Möglichkeit zu weitreichenden Reformen erhielten. Daß Sie der Begriff "Durchbruch moderner Staatlichkeit" nicht freut, verstehe ich gut. Mich freut er auch nicht. Doch schleppe ich ihn seit einiger Zeit mit mir herum, weil ich bis jetzt keinen besseren gefunden habe. Daß ich die Klippen von Kontinuität, Diskontinuität und Wendemarke, wie Sie sagen, "elegant umschifft" habe, sehe ich nicht. Mir ging es darum, den Umbruch an der Wende vom 18. zum 19. Jh. entlang von fünf Entwicklungslinien zu analysieren. Dies ist nur möglich, wenn man, und vielleicht haben Sie das als etwas schematisch empfunden, Altes und Neues in einem ersten Schritt zunächst gegeneinandersetzt. Würde man meinen Ansatz dann in einem zweiten Schritt stärker differenzieren, kämen die Probleme von Kontinuität und Diskontinuität sicher stärker zur Geltung, auf allen fünf Ebenen im übrigen, die ich unterschieden habe. Dennoch dürfte die Richtung meiner Interpretation klar geworden sein: Es gab starke Kontinuitäten über die Jahre des Umbruchs hinweg, doch messe ich den Diskontinuitäten mehr Gewicht bei. Herrn Ableitinger bin ich für seine Hinweise zu Österreich dankbar. Sie haben zwar an einzelnen Aspekten meiner Darlegungen zur österreichi-

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schen Mittel- und Lokalverwaltung, die hier notgedrungen knapp ausgefallen sind, Kritik geübt. Wichtiger aber war mir, daß Sie die Richtung der Interpretation teilen. Auf sie kommt es mir entscheidend an. Ich wollte erstens die Modernität Österreichs im 18. Jh. an einigen Beispielen festmachen und zweitens das Zurückbleiben Österreichs im Vergleich zu den süddeutschen Staaten und auch zu Preußen im 19. Jh. herausstellen. So gesehen könnte man überlegen, ob die Reformen im Österreich des 18. Jh. nicht eher modernitätshemmend als modernitätsfördernd gewesen sind.

Kühne: Herr Ullmann, Sie haben einen Kontrapunkt gesetzt, indem Sie das Thema dieser Tagung im Sinne von echten Wendemarken behandelt haben, während in den anderen Referaten eher uneigentliche Wendemarken vorgeführt wurden. Gleichwohl meine ich, daß bei Ihrer Auflistung, so greifbar und plastisch sie von Ihnen erstellt worden ist, eine Entwicklung, die das ganze 19. Jh. umfaßt, zu sehr wie ein Teleskopstab auf die Jahre 1800 bis 1820 zusammengeschoben worden ist. Das sei mit einigen wenigen konkreten Punkten belegt, wobei ich mich an die von Ihnen geleistete Innengliederung halte. Sie haben den Transformationsprozeß wie die Beschleunigungsphase unter anderem thematisiert unter dem Stichwort der Bürokratisierung und dabei auf die Beamtenrekrutierung i. S. einer rationalen abgehoben. Sie haben gesagt, der Beamte wird zum Staats-, nicht mehr zum Fürstendiener, nicht mehr zu einer Art Kleinfürst. Ich bin da skeptisch. Ist die Beamtenrekrutierungsfrage nicht ein Dauerbrenner des ganzen 19. Jh.? In Preußen werden erst in der zweiten Hälfte des 19. Jh. Einstiegsexamina und -prüfungen eingeführt; das dauert bis an den Beginn dieses Jahrhunderts. Bis dahin ist eine faktische Adelsbevorzugung zu beobachten; denken Sie an die adligen Landräte, Polizeipräsidenten u. ä. Das zweite, was ich unter dem Stichwort Bürokratisierung vermißt habe, ist, daß zu dieser Bürokratisierung materiell auch die Entwicklung und Entfaltung der Gewaltenteilung gehört. Sie ist mit Sicherheit ebenfalls erst in der zweiten Hälfte des 19. Jh. abgeschlossen, als z. B. in der bayrischen Reformzeit auf den unteren Etagen der Behördenorganisation die Trennung von Exekutive und Gerichtsbarkeit erfolgte. Bei der Bürokratisierung ist weiter zu erwähnen, daß (im Gegensatz zu Ihrer deutlichen Unterstreichung und Herausstreichung der süddeutschen Staaten) unter dem Aspekt der Militärverwaltung sicherlich anders zu gewichten wäre, wie ich überhaupt glaube, daß das Potential der Verwaltung in Preußen irgendwann im Laufe des 19. Jh., vielleicht schon in der ersten Hälfte, zeitgenössisch an Attraktivität gewinnt. Das kann auch durch die höheren Ressourcen dort bedingt sein: industrielle Revolution und Zollverein. Denken Sie an das Wort, das der unverdächtige nassauische Politiker und später bedeutende Reichstagsabgeordnete Karl Braun früh gesprochen hat: Lieber die schärfste preußische Militärverwaltung als weiter die "kleinstaatliche Misere".

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Zum Punkt der Finanzierung haben Sie m. E. sehr stark raffend den Enderfolg zu früh angesiedelt. Sie hatten zum Vorfeld, vor dem Beginn des 19. Jh. gesagt, daß hier von Finanzkrise zu Finanzkrise geschritten worden sei. Das können sie ebenso für die ersten 30 Jahre des 19. Jh. sagen, wenn Sie sich z. B. die Akten ansehen, die Kehr ermittelt hat. Preußische Dauerfinanzkrise, die erst in den 30er Jahren bewältigt werden konnte; dazu noch chronische Domänenstreitigkeiten, von denen der Domänenstreit in Nassau nur der berühmteste ist und eigentlich erst 1866 mit der Einverleibung durch Preußen beendet wurde. Zweifel hege ich auch an Ihrem Wort von den ergiebigen Steuersystemen. Die preußische Steuerreform, die unter Miquel in den 90er Jahren in Preußen mit einem Spitzensteuersatz von 3 % - wohlgemerkt 3 % - durchgeführt wird, wurde damals als Konfiskation bezeichnet. War das wirklich ein ergiebiges Steuersystem? Im übrigen sind die Staatseinnahmen bis in die Mitte des 19. Jh. ganz überwiegend Domäneneinnahmen. Einzelne Angaben für Nassau, Hannover und auch Württemberg zeigen, daß die Domäneneinnahmen prozentual bei 50 % liegen. Ein letzter Punkt zur Finanzverfassung noch: Die Dauerstreitigkeiten mit den Ständen stehen quer zu Ihrer Formulierung vom modernen Verfahren der finanzpolitischen Willens bildung. Ein Sachkenner wie Friauf spricht demgegenüber vom "Tollpunkt" der konstitutionellen Verfassung, von einer offenen Wunde in diesem System. Schließlich zur Monopolisierung der Staatsgewalt, die Sie im Ergebnis völlig zutreffend würdigen. Nur haperte das doch vorzugsweise in den süddeutschen Staaten. Dort begann die 48er Revolution gerade in den Standesherrschaften, weil dort Mittelalterlichkeiten tradiert wurden und nun die Bevölkerung auch für sich den modernen Staat verlangte. Im übrigen ist das Element des antimodernen Sperrpotentials in scharfer Weise in den süddeutschen Staaten durch die Ersten Kammern der Reichsräte usw. institutionalisiert. Beispielhaft sichtbar wird dies im Württembergischen Ablösungsstreit der 50er und 60 Jahre über die Entschädigung der Standesherren. In diesem Punkt ist Preußen zunächst in gewisser Weise im Vorteil. Es ist weniger belastet, weil es die Erste Kammer vor 1848 nicht hat, mangels Verfassung versteht sich. Insgesamt meine ich, daß die süddeutschen Staaten im Ansatz moderner sind, das ist richtig, aber irgendwann wird bei ihnen das Beharrungsmoment so stark, daß Preußen nach vorne kommt. Ullmann: Ich glaube, ich sollte gleich antworten, weil eine lange Liste von Fragen zusammengekommen ist. Ich beginne mit einer allgemeinen Bemerkung und gehe dann kurz auf die einzelnen Punkte ein, die Sie, Herr Kühne, angesprochen haben. Zunächst die allgemeine Bemerkung: Ich habe nicht gesagt, daß es den modernen Staat in allen seinen Ausformungen schon im frühen 19. Jh. gibt. Worauf es mir ankam, war zu zeigen, daß sich

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um 1800 - ich nehme jetzt diesen etwas unglücklichen Begriff wieder auf, über den wir uns vorhin unterhalten haben - der "Durchbruch moderner Staatlichkeit" vollzogen hat. Nach meiner Interpretation entstand damit etwas qualitativ Neues, ohne daß dieses Neue freilich schon in jeder Hinsicht völlig ausgestaltet gewesen wäre. Deswegen glaube ich, Herr Kühne, Sie haben mit Ihrem Einwand nicht recht, ich zöge Entwicklungen, die sich durch das ganze 19. Jh. hindurch verfolgen lassen, auf die wenigen Jahre zwischen 1800 und 1820 zusammen. Gewiß, es gab Entwicklungsunterschiede zwischen den deutschen Staaten, die dazu führten, daß manche auf einem Gebiet moderner, auf einem anderen dagegen rückständiger waren; dies hatte Anpassungsvorgänge, man könnte auch von nachholender Modernisierung sprechen, zur Folge. Doch ändert das alles nichts daran, daß die entscheidende Wendemarke um 1800 gelegen hat. Nun zu den einzelnen Punkten, die dies ein wenig illustrieren mögen: Bei den Staatsdienern gab es Unterschiede zwischen Preußen und den süddeutschen Staaten. Die Kodifizierung des Beamtenrechtes, davon habe ich gesprochen, begann in den süddeutschen Staaten mit der bayerischen Dienstpragmatik von 1805, und auch das moderne Prüfungswesen wurde in der Monteglas-Zeit entscheidend vorangebracht. Auf beiden Gebieten gab es Defizite in Preußen, wo sich die Entwicklung länger hinzog und weniger weit vorankam als etwa in Bayern. Dadurch entstand eine Art Entwicklungsgefälle zwischen den deutschen Staaten, auf das ich hingewiesen habe. Ihren Ausführungen zur Gewaltenteilung kann ich nur zustimmen. Sie haben völlig recht, die Trennung von Justiz und Verwaltung auf der unteren Ebene wurde aus finanziellen und anderen Gründen erst im Laufe des 19. Jh. verwirklicht. Doch ist diese Gewaltentrennung nur eines der Merkmale der modernen Verwaltung, und sie wurde im übrigen auf den anderen Ebenen an der Wende vom 18. zum 19. Jh. vollzogen. Bei der Militärverwaltung waren es in der Tat die süddeutschen Staaten, die gewisse Rückständigkeiten im Vergleich zu Preußen aufwiesen. Was hingegen die Verwaltung angeht, vermag ich die Formulierung von der "kleinstaatlichen Misere", jedenfalls für die drei süddeutschen Staaten, nicht nachzuvollziehen. Man wird höchstens sagen können, daß sich ihr Modernitätsvorsprung immer stärker verringert hat. Dabei spielte sicherlich die unterschiedliche Entwicklung der Wirtschaft im süd- und norddeutschen Raum eine wichtige Rolle. Wechselt man jedoch die Perspektive, dann relativiert sich die Vorstellung von der abnehmenden Modernität der süddeutschen Staaten wieder. Die süddeutschen Staaten machten im ausgehenden 19. und 20. Jh. eine Art nachholenden Industrialisierungsprozeß durch, den Klaus Megerle sehr gut beschrieben hat.

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Sie haben dann, Herr Kühne, sehr viel über die öffentlichen Finanzen gesagt. Ich will darauf nur kurz eingehen. Die kritische Finanzlage, in der die süddeutschen Staaten während des ganzen ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jh. gesteckt hatten, entspannte sich um 1820. Nicht zuletzt unter dem Druck der Landtage, die finanzielle Stabilität einforderten, verschwanden die Defizite in den Staatshaushalten. Baden ist dafür ein gutes Beispiel. Es hatte in der Reformzeit mit hohen Defiziten zu kämpfen; in den zwanziger Jahren hielten sich Einnahmen und Ausgaben die Waage. Die Domänenstreitigkeiten waren kein Problem der süddeutschen Staaten. Nassau, da haben Sie recht, ist ein gravierender Fall; aber Nassau war auch ein Staat, bei dem die Trennung von öffentlichen Finanzen und Privatfinanzen des Regenten vergleichsweise geringe Fortschritte gemacht hatte. Die Modernität von Steuersystemen können Sie, aus heutiger Sicht, an der Einkommensteuer festmachen. Ich habe mich dagegen auf die Realsteuersysteme der süddeutschen Staaten bezogen, die, jedenfalls für das frühe 19. Jh., modern gewesen sind. Daß die Realbesteuerung von der preußischen Einkommensteuer überholt worden ist, die Johannes Miquel eingeführt hat, trifft aber sicher zu. Nun zur finanzpolitischen Willensbildung: Wenn ich mir Bayern, Württemberg und Baden anschaue, kann ich Ihren Überlegungen nicht folgen. Sie haben zwar recht, daß sich im Vormärz immer wieder heftige Konflikte am Budget entzündet haben. Doch ändert dies nichts daran, daß die finanzpolitische Willensbildung selbst regelhaft geblieben ist, konkret: daß Budgets aufgestellt, die Kammern an ihrer Verabschiedung beteiligt worden sind und eine Budgetkontrolle stattgefunden hat. Es gab also trotz politischer Konflikte genau das, was ich als regelhafte finanzpolitische Willensbildung in Form eines modernen Budgetkreislaufs beschrieben habe. Der letzte Punkt, den sie angesprochen haben, berührt die Frage der Monopolisierung der Staatsgewalt. Sicher, es hat in den süddeutschen Staaten und namentlich in Baden große Probleme mit den Standesherrn gegeben. Doch zeigen die Arbeiten von Elisabeth Fehrenbach, wenn man sie auf ihre Kernaussage zuspitzt, daß hier in den zwanziger und dreißiger Jahren von einer generellen Restauration der Adelsherrschaft nicht gesprochen werden kann, allenfalls von begrenzten Zugeständnissen des Staates im Rahmen individueller Verträge mit den Standesherren. Das öffentliche Gewaltmonopol wurde dadurch aber nicht in Frage gestellt. Alles in allem sehe ich also nicht, daß die Entwicklung von mir unzulässig verkürzt und auf die Jahre 1800 bis 1820 zusammengedrängt worden ist, unter der Prämisse freilich, daß die moderne Staatlichkeit um 1800 durchbricht, aber nicht in jeder Hinsicht bereits voll ausgeformt ist. 10 Der Staat, Beiheft 10

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Quaritsch: Ich möchte zurückkommen auf den von Ihnen, Herr Ullmann, ganz zu Unrecht als "unglücklich" bezeichneten Begriff des modernen Staates und der modernen Staatlichkeit. Für Diskussionen unter Juristen und Verfassungshistorikern ist dieser Begriff unverzichtbar. Man muß sich nur über seine Grenzen klar sein und wissen, daß damit abkürzend zunächst nur die Struktur und Eigenart der modernen Exekutive bezeichnet werden, im gewissen Sinne auch der Judikative, also eine Gerichtsbarkeit gemeint ist, die an Rechtsnormen orientiert und nicht nur Vollzugsorgan des Fürsten oder der Stände ist. Als modernen Staat bezeichnen wir solche staatlichen Strukturen, die strukturell mit unseren heutigen identisch sind. Das demokratische Element oder gar das demokratisch-parlamentarische System sind nicht eingeschlossen. Moderner Staat - Herbert Krüger hat ihn sogar mit einem großen "M" geschrieben -, bedeutet nicht Staatswillenbildung durch demokratisch legitimierte Repräsentationsversammlungen; es reicht aus, daß der Gesetzgeber "einseitig" entscheiden kann, der "Ständestaat" also überwunden ist. Nur wenn man den Begriff in dieser eingegrenzten Bedeutung verwendet, ist er brauchbar. Voraussetzung für den Durchbruch des Gedankens der modernen Staatlichkeit und der Versuche, diese moderne Staatlichkeit durchzusetzen, war natürlich die Souveränität. In Deutschland setzte aber auch die innere Souveränität den Wegfall der alten Reichsverfassung voraus, weil die territorialen Gewalten gegen die Versuche der Landesherren, die öffentliche Gewalt zu monopolisieren, durch den Kaiser geschützt wurden. Jene Bedingung erzwang Napoleon, als er den Rheinbund-Fürsten Souveränität zusprach und sie verpflichtete, die Souveränität gegen den Kaiser geltend zu machen. Die große Zäsur war also der Wegfall der Reichsverfassung. Erst jetzt konnte in den Territorien des Reiches (außerhalb Preußens) der moderne Staat auf den Weg gebracht werden.

Steiger: Meine Bemerkungen knüpfen in etwa an das an, was Herr Quaritsch gesagt hat. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Herr Ullmann, haben Sie im fünften und letzten Punkt zusammenfassend darauf aufmerksam gemacht, daß die süddeutschen Staaten sich von Preußen zwar nicht dadurch unterschieden haben, daß sie moderne Staatlichkeit in dem Sinne, wie Herr Quartisch es eben erläutert hat, gehabt hätten, sondern in der Frage der Partizipation. So hätten also die süddeutschen Staaten eine größere moderne Staatlichkeit gehabt. Sie hätten dann, um einen noch moderneren, wenn auch nicht erfüllten Auspruch zu erwähnen, "überholt, ohne einzuholen". Sie haben aber auch gesagt, der soziale Wandel sei in Preußen wiederum stärker gewesen als in den süddeutschen Staaten. Das provoziert mich zu der Frage, welcher Zusammenhang da besteht? Was bedeutet das gerade jetzt im Hinblick auf Partizipation der Untertanen? Sie haben von den Untertanen gesprochen, wahrscheinlich nicht ganz ohne

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Absicht. Man sollte meinen, wenn die Untertanen an der Staatlichkeit partizipieren, dann sollte der soziale Wandel schneller eintreten. Nun entnahm ich Ihrer Bemerkung, daß dieses gerade nicht der Fall war. Und da frage ich, warum?

Klippel: Herr Ullmann, mit Ihrer Grundthese, die Sie an fünf Punkten dargestellt haben, kann ich mich gut anfreunden. Allerdings provoziert diese These die Frage, wie denn das Verhältnis dieser Entwicklungen zu den Reformen des aufgeklärten Absolutismus aussieht. Darauf haben Sie mit der Bemerkung angespielt, man müsse sich Gedanken darüber machen, ob diese Reformen nicht kontraproduktiv gewesen seien. Trotzdem möchte ich fragen, ob da nicht Verbindungslinien existieren; denn wenn ich mir Ihre Liste von fünf Punkten ansehe, könnte man zumindest einige dieser Punkte auch auf den Reformprogrammen des aufgeklärten Absolutismus wieder finden, z. B. bei Friedrich Karl von Moser in Hessen-Darmstadt oder auch beim Markgrafen von Baden. Liegt die Kontraproduktivität - das war Ihre Hypothese - darin, daß diese Reformen gescheitert sind? Mohnhaupt: Ich möchte drei kurze Bemerkungen machen. Für das Anschwellen des Verwaltungsstaates Ende des 18. Jh. namentlich in Österreich während der josephinischen Ära können als ein guter Indikator die Gesetzessammlungen gelten. Sie enthalten keine Gesetze und Landesordnungen im herkömmlichen Sinne mehr, wie sie häufig im Wege vertragsähnlicher Mitwirkung der Stände zustande gekommen waren, sondern in einer massenhaften Fülle nur noch Verwaltungsvorschriften. Darin kommt ein verwaltungsmäßiger Perfektionstrieb zum Ausdruck, wobei die besonderen traditionellen Formen in Gestalt der Reskripte oder Mandate immer wieder verwendet werden und Adressat mehr die Verwaltungsstellen der unteren und mittleren Ebene als die Bürger sind. Daraus könnte man, wenn man in dieser Beziehung einen Vergleich mit den anderen Territorien anstellt, sicherlich über das, was man den "Verwaltungsstaat" und sein Entstehen nennt, interessante Befunde ermitteln. Das zweite betrifft - Sie haben es mit einem kurzen Stichwort angedeutet - das französische Vorbild. Ich wollte in diesem Zusammenhang auf die Erfahrung verweisen, die man zwischen 1807 und 1813 im Königreich Westfalen gemacht hat. Das französische Modell wurde total auf einen neu gebildeten großen territorialen Staatsbereich übertragen und in einer Art und Weise durchgeführt, die einen gänzlichen Bruch mit den herkömmlichen Strukturen darstellte. Es ist erstaunlich zu sehen, wie radikal man dann nach der Niederlage Napoleons und der Auflösung des Königreichs Westfalen wieder direkt zu den alten Verhältnissen zurückkehrte oder zurückzukehren versuchte. Inwieweit sich aber durch diese Erfahrungen ein neues und weiterwirkendes Bewußtsein von dem gebildet hatte, was Sie 10·

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sehr klar die "Vereinheitlichung" genannt haben, wäre doch auch zu bedenken, ebenso wie es mit dem Bewußtsein von den Möglichkeiten und Techniken stand, mit denen man zur Vereinheitlichung gelangen konnte. Gervinus hat einmal über diese Zeit praktischer Erfahrungen mit der französischer Verfassung und vor allem der Verwaltung gesagt, daß sie für Deutschland eine große "politische Schule" gewesen sei. Was das im einzelnen bedeutet, wird man noch zu untersuchen haben. Aber da von "Bewußtsein" hier öfter die Rede war, gehört sicher dieser Erfahrungsbereich mit seinen verwaltungsrechtlichen und verwaltungstechnischen Modellen zu einem Bewußtseinsstand, der Wirkungskraft besaß, wenn es um die Gestaltung der staatlichen Ordnung in Deutschland ging. Zum dritten Punkt: Wenn man sich die Vorlesungsverzeichnisse vom Ende des 18. Jh. und vor allen Dingen aus der ersten Hälfte des 19. Jh. anschaut, so tritt "Verwaltungsrecht" zuerst in den süddeutschen Universitäten und Staaten auf. Dieser Befund deckt sich also genau mit dem, was Sie gesagt haben. Der Priorität in der Modernität der Verwaltung folgt mit zeitlichem Abstand gleichfalls eine Priorität des Faches an den süddeutschen Universitäten.

Ullmann: Erlauben Sie mir, daß ich meine Antworten auf Ihre Fragen um drei Gesichtspunkte herum gruppiere. Der erste Gesichtspunkt weist ins 18. Jh. zurück. Herr Klippel hat danach gefragt, ob es Kontinuitäten oder Diskontinuitäten zwischen dem aufgeklärten Absolutismus und der Reformzeit gegeben hat. Ganz sicher gab es Verbindungslinien. Doch scheint mir, daß die Reformen der Rheinbundstaaten und vor allem der süddeutschen Länder über den aufgeklärten Absolutismus hinausgewiesen haben. Nun zum zweiten Gesichtspunkt, der auf die Zeit um 1800 verweist. Herr Quaritsch hat noch einmal das Problem und den Begriff der modernen Staatlichkeit angesprochen. Ich glaube, da gab es ein Mißverständnis. Ich habe nicht Unbehagen gegenüber dem Begriff "moderne Staatlichkeit" geäußert, was ich auch gar nicht könnte, da er meinem ganzen Vortrag zugrunde liegt; es ging allein um den Begriff "Durchbruch", und da waren wir uns einig, daß dies kein sehr glücklicher Begriff ist, allein schon der Assoziationen wegen, die er auslöst. Was mir aber wichtig ist, und das kann ich an dieser Stelle noch kurz zur Differenzierung einbringen: Es ist gewiß die Auflösung des alten Reiches, die den Durchbruch zur modernen Staatlichkeit ausgelöst hat. Doch kommen noch manche anderen Faktoren hinzu. Denn es war nicht einfach so, daß die Staaten auf den Zerfall des alten Reiches gewartet hätten. Am ehesten trifft dies noch für Bayern und Württemberg, mit Sicherheit aber nicht für Baden zu. Wenn Sie sich etwa die Politik eines Karl Friedrich Brauer anschauen, dann werden Sie feststellen, daß er Baden äußerst vorsichtig an die neuen Entwicklungen

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heranzuführen versucht hat. Nach 1806 verstärkten sich die Reformen. Dies lag wohl auch an der Auflösung des Reiches, hing aber noch mehr mit der Staatenkonkurrenz im napoleonischen Europa zusammen, die den Reformdruck massiv steigerte. Man wird also, wenn man die Wendemarke um 1800 betont, nicht nur auf das Ende des Reiches schauen können, sondern den ganzen Kranz von Problemen sehen müssen, die sich in der damaligen Zeit stellten. Damit hängt die Frage eng zusammen, die Herr Mohnhaupt aufgeworfen hat: Welche Bedeutung hatte das französische Vorbild im allgemeinen und das Königreich Westfalen im besonderen? Das französische Vorbild wirkte stark auf die Reformen in den süddeutschen Staaten ein, daran gibt es gar keinen Zweifel. Eine wichtige Vermittlungsfunktion übernahm dabei das Königreich Westfalen. Es wurde von Napoleon also nicht nur als Modellstaat konzipiert, sondern erfüllte auch tatsächlich die ihm gestellte Aufgabe, wobei seine Wirkungen weit über die kurze Zeit, in der es existierte, hinausgingen. Vermittelt wurden die Errungenschaften des Modellstaates auf vielfältige Art und Weise, zum Beispiel durch Reformer, die im Königreich Westfalen wichtige Positionen eingenommen hatten. Die wohl faszinierendste Person, die in diesem Zusammenhang erwähnt werden sollte, ist Karl August Freiherr von Malchus. Er stand zunächst in Diensten des Hildesheimer Fürstbischofs, wurde dann nach der Säkularisation preußischer Kriegs- und Domänenrat bei der Halberstadter Kammer und brachte es schließlich im Königreich Westfalen bis zum Finanzminister. Nach dem Ende des Modellstaats wurde er als Finanzminister nach Stuttgart gerufen, um die württembergischen Finanzen zu sanieren. Der letzte Gesichtspunkt, den Herr Steiger angesprochen hat, weist nach vorn ins 19. Jh.: Es geht um den Zusammenhang von sozialem Wandel und Partizipation. Beides trat, so scheint mir, zumindest in der ersten Hälfte des 19. Jh. zeitweilig auseinander. Die süddeutschen Staaten hatten eine insgesamt modernere Verwaltung und gewährten mit ihren Konstitutionen auch größere Partizipationsrechte; Preußen dagegen, dessen Verwaltungsreformen auf der unteren Ebene steckengeblieben waren und dem es im Vormärz an einer gesamtstaatlichen Verfassung fehlte, hatte sich auf wirtschaftlichem Gebiet weiter entwickelt. Für dieses Auseinandertreten von politischer und wirtschaftlicher Modernität gab es viele Ursachen. So spielten die vorsichtigen Agrar- und Gewerbereformen im deutschen Süden und Südwesten eine Rolle. Wichtig war aber auch, wie die Staaten auf das Problem von sozialem Wandel und Partizipation in der Reformzeit reagiert hatten. Sowohl in Preußen als auch in den süddeutschen Staaten standen die Reformer an sich vor derselben Schwierigkeit: Gestanden sie den Untertanen Partizipationsrechte zu, profitierten davon gerade die Gegner der Reformen. Daß Preußen und die süddeutschen Staaten diesem Problem

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auf unterschiedliche Weise Herr zu werden versuchten, trug ebenfalls dazu bei, daß im Vormärz politische und wirtschaftliche Modernität auseinandertraten.

Von der konstitutionellen Monarchie zur parlamentarischen Demokratie Von Hans Boldt, Düsseldorf

I.

Das Thema, das mir gestellt worden ist, läßt sich auf verschiedene Weise abhandeln. Ausgehend von Theodor Eschenburgs bekannter These, daß die Weimarer Republik eine "improvisierte Demokratie" gewesen seil, könnte man den Vorgang des improvisierten Übergangs von der konstitutionellen Monarchie zur parlamentarischen Demokratie in Deutschland, etwa von den Septembertagen des Jahres 1918 bis zur Vollendung des Werks der Nationalversammlung, darstellen. An dieser ja schon zeitgenössisch, z. B. von keinem Geringeren als Hugo Preuß, vertretenen These des improvisierten Überganges 2 ist seit der von Erich Matthias und Rudolf Morsey besorgten Edition der Quellen des Interfraktionellen Ausschusses des Reichstags indessen grundlegende Kritik geübt worden 3, zeigt die Publikation doch, daß es Parlamentarisierungsbestrebungen schon seit 1917, zumindest unter den politischen Führern der im Interfraktionellen Ausschuß versammelten Parteien gab, daß die Parlamentarisierung des Deutschen Reichs nicht einfach, wie noch Arthur Rosenberg behauptet hat, "von Ludendorff angeordnet worden" ist. 4 Udo Bermbach hat in Auswertung dieser Quellen von einem "allmählichen Wandel der Regierungsstruktur des Kaiserreichs" gesprochen, dessen Beginn "lange vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs" gelegen habe. 5 Er konnte dabei an Vorstellungen anknüpfen, die schon in den fünfziger Jahren Werner Frauendienst entwickelt hatte, wo1 Theodor Eschenburg, Die improvisierte Demokratie. Gesammelte Aufsätze zur Weimarer Republik, 1964, S. 41 und 59 f. 2 Hugo Preuß, "Die Improvisierung des Parlamentarismus", zuerst erschienen in der NAZ Nr. 549 vom 26. Oktober 1918, in: ders., Staat, Recht und Freiheit. Aus Vierzig Jahren Deutscher Politik und Geschichte, 1964, S. 361-364. 3 Erich Matthias / Rudolf Morsey, Der Interfraktionelle Ausschuß 1917/ 18. 2 Bände Düsseldorf 1959. Siehe auch dies., Die Regierung des Prinzen Max von Baden, 1962, S. XI. 4 Arthur Rosenberg, Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik, hrsg. von Kurt Kersten, 1955, S. 218. 5 Udo Bermbach, Vorformen parlamentarischer Kabinettsbildung in Deutschland. Der interfraktionelle Ausschuß 1917/ 18 und die Parlamentarisierung der Reichsregierung, 1967, S. 16.

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Hans Boldt

nach ein schrittweiser Übergang zum parlamentarischen System im Kaiserreich seit langem im Gange gewesen sei. 6 Damit hatte sich Frauendienst im Gegensatz zu früher gültigen, zeitgenössisch vor allem von Otto Hintze vertretenen Auffassungen von der deutschen konstitutionellen Monarchie des Kaiserreichs als einer erfolgreichen Alternative zu den parlamentarischen Systemen des westlichen Europas gesetzt. 7 Zugleich hatte er damit nach der endgültigen Durchsetzung der parlamentarischen Demokratie in Deutschland, in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre, dieser eine über das verunglückte Weimarer Experiment hinausgreifende, angemessene Vorgeschichte geschaffen. Indem die Entwicklung zum parlamentarischen System schon in den Konstitutionalismus des Kaiserreichs hineingelegt wurde, erschien sie auch als in Deutschland schon seit langem intendiert, um nicht zu sagen als "unausweichlich", was ausschloß, Weimar noch weiterhin als Abweichung von einem andersartigen, spezifisch deutschen Verfassungsverlauf zu verstehen. Das Scheitern der Weimarer Republik hatte in dieser Perspektive die eigentliche Entwicklung lediglich unterbrochen. Und dies ließ sich nach 1945, nach der Festigung der parlamentarischen Demokratie in der Bundesrepublik, ja in der Tat so sehen. Nun ist Frauendienst zuzugeben, daß sich das Problem des Übergangs zur parlamentarischen Demokratie auch in Deutschland nicht auf einige, aus der Notlage des Ersten Weltkriegs geborene Maßnahmen und politische Konstellationsänderungen reduzieren läßt. Betrachtet man es jedoch in einem größeren Zusammenhang, so ist zu fragen, ob eine ereignisgeschichtliche Darstellung, wie sie Frauendienst bevorzugte, seiner Behandlung noch angemessen ist oder ob man nicht strukturgeschichtlich anzusetzen hat, genauer: ob man das Problem des Übergangs von der konstitutionellen Monarchie zur parlamentarischen Demokratie nicht als ein Strukturproblem der konstitutionellen Monarchie überhaupt ansehen muß. Daß die konstitutionelle Monarchie, die typische Staatsform Europas im 19.Jahrhundert, möglicherweise nur eine Übergangserscheinung sei, war bekanntlich schon eine im Vormärz geläufige Vorstellung. 8 Dabei dachte man zunächst unter dem Eindruck der Französischen Revolution und der Etablierung der Vereinigten Staaten von Amerika an einen Übergang von der Monarchie zur Republik, von der fürstlichen Souveränität zur Volkssouve6 Werner Frauendienst, Demokratisierung des deutschen Konstitutionalismus in der Zeit Wilhelms Ir.: Zeitschrift für die Gesamte Staatswissenschaft 113 (1957), S.721-746. 7 So Otto Hintze in seinem zuerst 1911 in den Preußischen Jahrbüchern erschienenen Aufsatz "Das monarchische Prinzip und die konstitutionelle Verfassung", abgedruckt u. a. in: ders., Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, 1941, S. 349-379. Siehe auch Hans Delbruck, Regierung und Volkswille, 1914. 8 Siehe dazu Hans Boldt, Deutsche Staatslehre im Vormärz, 1975, S. 299 ff.

Von konstitutioneller Monarchie zu parlamentarischer Demokratie

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ränität, später aber auch - auf das englische Beispiel reflektierend - an einen Übergang vom monarchischen zum parlamentarischen Regierungssystem, zur parlamentarischen Demokratie. Unter diesem Blickwinkel gesehen verschiebt sich die anfangs umrissene Thematik allerdings erheblich. Streng genommen dürfte dann nicht mehr vom "Übergang der konstitutionellen Monarchie zur parlamentarischen Demokratie" die Rede sein, sondern müßte es heißen: "die konstitutionelle Monarchie als Übergang zur parlamentarischen Demokratie". Ob die konstitutionelle Monarchie als bloße Übergangserscheinung gedeutet werden darf, ist jedoch bekanntlich eine bis heute höchst umstrittene Frage. 9 Wenn im weiteren, dem Geheiß des Vorstands folgend, das Problem des Übergangs von der konstitutionellen Monarchie zur parlamentarischen Demokratie unter Rückgriff auf die Ursprünge der konstitutionellen Monarchie behandelt wird, so geschieht dies daher nicht von vornherein unter Zugrundelegung jener Ansicht vom Übergangscharakter dieser Monarchie, sondern deshalb, weil in der Tat schon von Beginn an in ihr Entwicklungen der Demokratisierung und Parlamentarisierung zu beobachten sind - auch in Deutschland - , die eine Beschränkung der Erörterung der Thematik auf Vorgänge im deutschen Kaiserreich inopportun erscheinen lassen. Die konstitutionelle Monarchie ist - das sollten wir uns von vornherein vergegenwärtigen - jedenfalls auf dem europäischen Kontinent kein Gebilde gewesen, das erst allmählich im Laufe seiner Entwicklung durch demokratische Ambitionen und Parlamentarismus in Frage gestellt wurde, sondern dem von Anfang an in der Französischen Revolution und in den Vereinigten Staaten von Amerika Alternativen republikanischer, demokratischer und parlamentarischer Art als andere Möglichkeiten gegenüberstanden. Nur als dauernd und von Beginn an in der Auseinandersetzung mit andersartigen politischen Formen und Bestrebungen stehend, ist die konstitutionelle Monarchie, zumal in Deutschland, zu begreifen. Sie ist - so gesehen - nie eine selbstverständliche Staatsform gewesen. Lassen Sie mich das im Folgenden, in der durch die Vortragsform gebotenen Kürze, näher skizzieren.

9 Bejahend vor allem: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Verfassungstyp der deutschen konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert, in: ders., (Hrsg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte 1815 -1918, 1972, S. 146-170. Dagegen Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band 3,1970 2 , S. 3 ff. und ders., Die Bismarcksche Reichsverfassung im Zusammenhang der deutschen Verfassungsgeschichte, in: Theodor Schieder / Ernst Deuerlein (Hrsg.), Reichsgrundung 1870/71. Tatsachen, Kontroversen, Interpretationen, 1970, S. 164-196. Dazu wiederum Hans Boldt, Rezension von Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. 7 Bände, 1957-1984: GuG 11 (1985), S. 252-271.

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ll. Als sozusagen erste These möchte ich formulieren: Die konstitutionelle Monarchie, so wie sie sich in Deutschland zunächst in den süddeutschen Staaten zwischen 1818 und 1820 etabliert hatl°, ist eine bewußte Staatsschöpfung gewesen, die dennoch von Anfang an von einer grundsätzlichen Unsicherheit geprägt war. Die konstitutionelle Monarchie ist nicht einfach nur eine verfassungsmäßig beschränkte Monarchie gewesen. Sie war vielmehr - ungeachtet anderer, hier nicht weiter zu behandelnder Einschränkungen und Bindungen monarchischen Handelns etwa an die Gegenzeichnung der Minister oder durch die sich herausbildende Unabhängigkeit der Rechtsprechung - eine von parlamentarischer Mitbestimmung beschränkte "Einherrschaft" .11 Gerade in der Bestimmung dieses Momentes lag indessen, wie bekannt, eine grundsätzliche Schwierigkeit von vornherein. Weder sah man sich angesichts des grundlegenden gesellschaftlichen Wandels in jener Zeit in der Lage, die Zusammensetzung der parlamentarischen Mitbestimmungskörper, der Landtage, eindeutig und dauerhaft zu bestimmen, d. h. die Wahlrechtsfrage in einer ein für allemal verbindlichen Weise zu lösen, noch war man in jener Zeit sich herausbildender moderner Staatlichkeit imstande, für die Mitbestimmungsrechte der neuen Stände oder Volksvertretungen und für deren Grenzen eine allgemein akzeptierte Formel zu finden. Was eine den deutschen Staaten in Art. 13 der Deutschen Bundesakte von 1815 vorgeschriebene "Landständische Verfassung" eigentlich sei, blieb demzufolge unklar und umstritten. 12 In dem berühmten Art. 57 der Wiener Schlußakte von 1820 gelang es den Regierungen lediglich, die Forderung aufzustellen, daß "die gesammte Staats-Gewalt in dem Oberhaupte des Staats vereinigt bleiben" müsse und der "Souverain" durch "eine landständische Verfassung nur in der Ausübung bestimmter Rechte an die Mitwirkung der Stände gebunden werden" dürfe; bei welchen Rechten dies der Fall sein dürfe und wo nicht, darauf konnten sich indessen selbst die Regierungen nicht einigen. Das blieb der einzelstaatlichen Verfassungsgebung überlassen. 13 In den Verfassungen der Staaten jener Zeit finden wir dann zwar Regelungen der Zusammensetzung der Landtage und ihrer Rechte, ihres "Wirkungskreises", aber sie sind doch nur positivrechtlicher Art und konnten auf dem Weg, den die Verfassung selbst vorsah, geändert werden, wurden auch im Laufe der Zeit geändert. Ganz im Einzelheiten bei Huber (FN 9), Bd. 1, S. 314 ff. Vgl. K. S. Zachariä, Über erbliche Einherrschaft mit einer Volksvertretung, in: Allgemeine Politische Annalen, Bd. 9 (1823), S. 201-248. 12 Siehe dazu: Wolfgang Mager, Das Problem der landständischen Verfassungen auf dem Wiener Kongreß 1814/15: HZ 217 (1973), S. 296-346 und Bernd Wunder, Landstände und Rechtsstaat. Zur Entstehung und Verwirklichung des Art. 13 DBA: ZHF 5 (1978), S. 139-185. 13 Vgl. Art. LIV f. WSA vom 8.6.1820. 10

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Gegensatz zur Idee des Verfassungsstaats mit einer "written constitution", mit aufgezeichneten und daher unverbrüchlichen Rechtszusicherungen 14, ist die konstitutionelle Monarchie ein Veränderungen gegenüber offenes System gewesen; die "Leerformel" des monarchischen Prinzips, so würde ich Art. 57 WSA auch heute noch bezeichnen, und der nicht enden wollende Streit um die Verfassungspositionen zeigen das deutlich. 15 Das eigentlich Bemerkenswerte daran ist nun freilich nicht, daß es eine Fülle divergierender Vorstellungen über die Organisation der neuen parlamentarischen Mitbestimmungskörper gab, wie Hartwig Brandt gezeigt hat,16 und daß die Landtage von Staat zu Staat recht unterschiedlich zusammengesetzt sein konnten 17 - das war angesicht des gesellschaftlichen Wandels in jener Zeit und recht heterogener politischer Auffassungen kaum anders zu erwarten - , das Bemerkenswerte ist vielmehr, daß die Veränderung der Systeme, die allgemeine Verfassungsentwicklung, nicht, wie die Vielfalt der Ansichten vermuten lassen könnte, regellos erfolgte, hier so - da so, sondern gerichtet, eben alle Anzeichen einer "Entwicklung" aufwies, die zwar nicht gradlinig verlief, sondern auch "Rückschläge" kannte, aber sich ungeachtet dessen doch mit einer bestimmten Tendenz fortbewegte - hin zu einer Erweiterung der Zusammensetzung der Volksvertretungen und ihrer Rechte, kurz: daß sie als "Demokratisierung" und "Parlamentarisierung" im weitesten Sinne des Wortes erfolgte. Beachtenswert ist dabei in meinen Augen noch folgendes: Der Anstoß zu dieser Entwicklung wurde in den Verfassungsstaaten vom Parlament her, von der landständischen Opposition, gegeben. Die Reformen erfolgten nicht länger, wie in der Übergangszeit zum Konstitutionalismus in den ersten Jahren des 19.Jahrhunderts, durch eine wohlmeinende Bürokratie und sie gewähren lassende Monarchen. Zwar hatte der Monarch nach der Anlage der neuen Verfassungen die alleinige Initiative, hatten die Stände bei der Gesetzgebung und der Steuerbewilligung nur ein Zustimmungs- bzw. Vetorecht,18 aber Reformvorstellungen entwickelten gerade sie, und konsequenterweise verlangten sie über die reinen Zustimmungsbefugnisse hinaus das Recht zur Gesetzesinitiative und zur Mitsprache bei den Staatsausgaben, 14 Siehe dazu Gerald Stourzh, Vom aristotelischen zum liberalen Verfassungsbegriff. Staatsformenlehre und Fundamentalgesetz in England und Nordamerika im 17. und 18. Jahrhundert, in: ders., Wege zur Grundrechtsdemokratie. Studien zu Begriffe und Institutionengeschichte des liberalen Verfassungsstaates, 1989, S. 1- 35. 15 Boldt (FN 8), Staatslehre, S. 33. 16 Hartwig Brandt, Landständische Repräsentation im deutschen Vormärz. Politisches Denken im Einflußfeld des monarchischen Prinzips, 1968. 17 Vgl. Peter Michael Ehrle, Volksvertretung im Vormärz. Studien zur Zusammensetzung, Wahl und Funktion der deutschen Landtage im Spannungsfeld zwischen monarchischem Prinzip und ständischer Repräsentation, 2 Bände, 1979. 18 Dies formuliert sehr klar Robert von Mohl, Das Staatsrecht des Königreichs Württemberg, Bd. 1, 1828, S. 453 f.

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bei der Aufstellung des Budgets. Vom Monarchen hieß es konsequenterweise nur noch, daß in einer konstitutionellen Monarchie "nichts ohne und nichts gegen seinen Willen" geschehen könne,19 doch beschrieb dies offenbar nur noch eine Vetofunktion,20 charakteristischerweise nicht aber mehr die ihm verfassungsmäßig zukommende und mit seinen Ministern zu bewältigende Regierungsaufgabe. Hier besaß die konstitutionelle Monarchie älteren Typs von vornherein eine bemerkenswerte Schieflage. 21 Und noch eins scheint mir wichtig genug, in Erinnerung gerufen zu werden: Daß die Entwicklung in eine bestimmte Richtung trieb, ist nicht nur im Nachhinein feststellbar, sondern ist auch das allgemeine Verständnis der Zeitgenossen selbst gewesen. Die politischen Ansichten in der konstitutionellen Monarchie wurden mehr und mehr nicht einfach als unterschiedliche Standpunkte verstanden, um deren Berechtigung man unter Rückgriff auf naturrechtliche und andere, jedenfalls überzeitlich allgemeingültige Prinzipien stritt, sondern als zeitlich einordenbare Positionen, die durch zukünftige spätere prinzipiell überholbar waren. Man verstand sich eben nicht einfach, der Sitzordnung im französischen Parlament folgend, als "rechts" oder "links" oder als "Zentrum", sondern deutete diese Unterschiede zugleich als reaktionär, konservativ und progressiv, man war gemäßigter "Halber" oder radikaler "Ganzer" usw. Zur konstitutionellen Monarchie in Deutschland gehörte von Anfang an die Unterscheidung gegensätzlicher politischer Positionen als "Bewegungs-" und "Beharrungspartei ",22 wobei dem historisch-evolutionistischen Zeitverständnis zufolge, das dieser Unterscheidung zugrunde lag, die Kräfte der Beharrung, die Konservativen, sich ungeachtet ihrer Überzeugung, die bessere Position zu vertreten, in einer subjektiv - und man muß sagen: auch objektiv - unvorteilhaften Lage befanden, denn sie verteidigten 19 So A. H. L. Heeren, Über die Entstehung, die Ausbildung und den praktischen Einfluß der politischen Theorien und die Erhaltung des monarchischen Princips in dem neuern Europa, in: Historische Werke. 1. Teil Göttingen 1821, S. 365 -451; weitere Nachweise bei Boldt (FN 8), Staatslehre, S. 39 f. 20 Siehe Heeren (FN 19); ebenso Friedrich Christoph Dahlmann in seiner berühmten Politik, auf den Grund und das Maß der gegebenen Zustände zurückgeführt, Nr. 113 ("Die königlichen Rechte"). In seiner Rede am 14.12.1848 in der PauIskirche hat Dahlmann das absolute Veto des Monarchen als "rettende Tat" gepriesen. Siehe Friedrich Christoph Dahlmann, Kleine Schriften und Reden. Stuttgart 1886, S. 447452. 21 Siehe dazu Werner Conze, Das Spannungsfeld von Staat und Gesellschaft im Vormärz, in: ders. (Hrsg.), Staat und Gesellschaft im Deutschen Vormärz 1815 -1848, 1962, S. 207 -269, bes. S. 223. 22 Vgl. dazu etwa Karl von Rotteck, Artikel "Bewegungspartei und Widerstandsoder Stillstandspartei", in: Kar! von Rotteck/Kar! Welcker: Staatslexikon Bd. 2, 1846 2 , S. 505-510; allgemein auch Klaus von Beyme, Artikel "Partei, Fraktion": Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. von Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck, Bd.4, 1978, S. 677 -735 (697 ff.).

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etwas, von dem sie selbst vermuteten, daß es vergehen werde, nur, daß sie das Künftige nicht gerade für "Fortschritt", sondern für "Verfall" hielten. Besonders deutlich wird diese heikle Position bei einem der prominentesten Verteidiger der konstitutionellen Monarchie mit monarchischem Prinzip, bei Friedrich Julius Stahl, der 1845 grundlegende Positionen des älteren Konservativismus preisgab, um den anbrandenden Wellen von links ein biblisches "bis hier her und nicht weiter" entgegenzuschleudern,23 das heißt, daß, was immer die Stände für Rechte reklamierten, der Fürst "thatsächlich Schwerpunkt der Verfassung, die positiv gestaltende Macht im Staate, der Führer der Entwicklung bleiben" sollte, oder mit anderen Worten: daß an die Stelle der monarchischen Regierung, des monarchischen Prinzips im so verstandenen Sinne, nicht eine parlamentarische Regierung, das "parlamentarische Prinzip", treten dürfe. 24 Das war die "Grenzlinie", 25 die man in den dreißiger und vierziger Jahren in Deutschland gegen die Entwicklung - die offene Interpretation des Art. 57 WSA abschließend zog26, und an der auch später bekanntlich von konservativer Seite festgehalten wurde 27 gegen alle sich schon im Vormärz regenden Versuche, die parlamentarische Mitbestimmungssphäre auf den Regierungssektor und die personelle Zusammensetzung des Ministeriums hin zu erweitern. 28

III.

Nun ist auch diese Grenzlinie in Deutschland bald überschritten worden, nämlich in der Revolution von 1848. Nicht nur für die Deutsche National23 Friedrich Julius Stahl, Das monarchische Prinzip. Heidelberg 1845, S. XII. Das Zitat ist entnommen aus dem Buch Hiob 38, 11. 24 Ebenda S. 12. 25 Boldt (FN 8), Staatslehre, S. 39, 41 f. 26 So als erster Friedrich Bülau, Der constitutionelle Staat in England, Frankreich und Teutschland: Neue Jahrbücher der Geschichte und Politik Bd. 1 (1843), S. 1-45 (39). 27 Besonders prononciert Max von Seydel, Constitutionelle und parlamentarische Regierung: Hirths Annalen des Deutschen Reiches 1887, S. 237 - 250. Siehe auch Heinrich-Otto Meissner, Die Lehre vom monarchischen Prinizp im Zeitalter der Restauration und des Deutschen Bundes, 1913. 28 Beispiele dafür bei Huber (FN 9) Bd. 2, S. 442 f. (Mißtrauensvotum der 2. badischen Kammer gegen Blittersdorf 1843) und Manfred Botzenhart, Der Süddeutsche Konstitutionalismus und die Revolution von 1848/49, in: Hans-Dietrich Loock / Hagen Schulze (Hrsg.): Parlamentarismus und Demokratie im Europa des 19. Jahrhunderts, 1982, S. 135 -156 (142) (Rücktritt des bayerischen Innenministers v. Schenk 1831). Nicht selten wurden in den vierziger Jahren "Vertrauensleute des Volkes in die Regierung" gefordert. Dezidiert trat für die Übernahme des englischen Systems zuerst Robert von Mahl ein: Über die verschiedenen Auffassung des repräsentativen Systems in England, Frankreich und Deutschland: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 3 (1846), S. 451-495.

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versammlung, sondern auch auf Landesebene wurde das allgemeine und gleiche Wahlrecht eingeführt, gab es Bekenntnisse zum parlamentarischen System, d. h. zur Abhängigkeit der Regierung vom Parlament, und fehlte es auch nicht an einer Praktizierung dessen, wie Man/red Botzenhart gezeigt hat. 29 Allerdings haben sich diese ersten Ansätze zur Etablierung einer, wie man sagen darf, "parlamentarischen Demokratie im konstitutionell-monarchischen Gewande" in Deutschland nicht durchgesetzt. Zwar ist obwohl man das oft unter charakteristischer Verkürzung des Blickwinkels auf die nationale, d. h. die Bundes- oder Reichsebene, behauptet hat - die Revolution von 1848 in Deutschland nicht einfach gescheitert: Die Ergebnisse auf Landesebene zeigen vielmehr, daß sie einen kräftigen Schub in einer zwischen den Polen eines autoritären Monarchismus und eines demokratischen Parlamentarismus hin und her oszillierenden, gleichwohl aber immer stärker zum letztgenannten Pol hin gravitierenden Entwicklung darstellte. 30 Dennoch ist der Rückschlag gerade in den uns hier interessierenden Positionen bedeutsam gewesen: Ein demokratisches, allgemeines und gleiches Wahlrecht, eine parlamentarische Regierung, das gab es nach 1848 zunächst nicht mehr. Gleichwohl blieb die Forderung nach parlamentarischer Regierungsteilhabe, in welcher Form auch immer, erhoben. So bei Robert von Mohl, der sie 1852 anonym als Heilmittel für das Repräsentativsystem empfahl,31 so 1851 bei Karl Biedermann, der seine Darstellung der "Entwicklung des parlamentarischen Lebens in Deutschland" mit der Versicherung schloß, daß "trotz der entgegenstehenden Thatsachen der Gegenwart ... der Sieg des parlamentarischen Systems in den Einzelstaaten und eine parlamentarische Gesamtverfassung" der "Typ deutscher Zukunftsgestaltung" sein werde. 32 Und Recht hatte er ja, obschon sich diese Äußerung im Jahre 1851 nach alldem, was seitens der Reaktion gerade geschehen war und noch geschah, etwas kühn ausnahm. Indessen, die neu installierten bürokratischen Systeme in Österreich, Preußen und anderswo, fallierten schnell. Keine zehn Jahre dauerte es, bis sie wieder verschwanden, nicht vertrieben 29 Prägnant die Erklärung des sächsischen Märzministeriums Oberländer v. d. Pfordten am 22.5.1848 in der Adreßdebatte der 2. Kammer. Dies und weitere Nachweise bei Manfred Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit 1848 -1850, 1977, S. 55 und passim. 30 Zu dieser Sicht Hans Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd. 2, 1990, S. 85 ff., bes. S. 103 ff. 31 Robert von Mohl (anonym), Das Repräsentativsystem, seine Mängel und Heilmittel. Politische Briefe eines Altliberalen: Deutsche Vierteljahresschrift 1852, S.145-235. 32 Karl Biedermann, Die Entwicklung des parlamentarischen Lebens in Deutschland: Germania 1 (1851), S. 128-174 und 433-473 (473).

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von einer übermächtigen parlamentarischen Opposition, sondern zusammengebrochen an ihrer eigenen Insuffizienz 33. Eine "Neue Ära" begann, die liberaldemokratische Hoffnungen wieder aufblühen ließ. Baden bot zarte, allerdings bald wieder welkende parlamentarische Regierungsansätze. 34 Das neu gegründete Deutsche Reich wartete mit einem demokratisch, nach allgemeinem und gleichen Wahlrecht gewählten Reichstag auf, dessen Bedeutung laufend zunahm. Und am Ende dieser Entwicklung stand dann tatsächlich 1918/19 der Übergang zur parlamentarischen Demokratie - in Deutschland wie, zum Teil schon früher, überall in Europa. Das Faktum ist bekannt, aber wieso ist es eigentlich dazu gekommen? Ich möchte behaupten, daß wir zwar eine Reihe von Beschreibungen des Vorgangs der Demokratisierung und Parlamentarisierung in Deutschland und Europa besitzen,35 und trotzdem - vielleicht gerade weil er so allgemein und selbstverständlich erscheint - ihn nicht hinreichend verstehen. Man kann die Ursache für diese Entwicklung ja nicht einfach - dem klassentheoretischen Ansatz folgend - in jenem ominösen Bürgertum sehen, dem es - zur wirtschaftlichen Macht gelangt - um politische Mitspracherechte, vielleicht sogar Alleinregierung ging, denn in diesem Bürgertum gab es recht unterschiedliche politische Vorstellungen, natürlich auch solche parlamentarischer Art, aber bekanntlich bei seinen liberalen Repräsentanten auch ein Abblocken demokratischer Tendenzen. 36 Waren Demokratisierung und Parlamentarisierung daher erst eine Folge nachrükkender, sich emanzipierender Schichten, des Auftretens der Arbeiterschaft auf der politischen Bühne? Auch diese Frage läßt sich nicht ohne weiteres bejahen. 37 In Deutschland jedenfalls erfolgte die Demokratisierung des 33 Günther GTÜnthal, Parlamentarismus in Preußen 1848/49-1857/58. Preußischer Konstitutionalismus - Parlament und Regierung in der Reaktionsära, 1982. Für Österreich siehe Anton Mayr-Haning, Der Untergang. Österreich-Ungarn 18481922, 1988, S. 112 ff. 34 Lothar Gall, Der Liberalismus als regierende Partei. Das Großherzogtum Baden zwischen Restauration und Reichsgründung, 1968. Die Betrauung der Führer der Liberalen mit Regierungsgeschäften wurde allerdings auch damals vom Großherzog vorgenommen. Dahinter stand bemerkenswerterweise keine Forderung der liberalen Kammerfraktion. 35 Vgl. etwa Klaus von Beyme, Die parlamentarischen Regierungssysteme in Europa, 1970; sowie den Sammelband von Loock / Schulze (wie FN 28). 36 Botzenhart (FN 28), S. 136. Siehe auch Walter Gagel, Die Wahlrechtsfrage in der Geschichte der liberalen Parteien, 1958. 37 Vgl. dazu z. B. Erich Matthias, Kautsky und der Kautskyanismus. Die Funktion der Ideologie in der deutschen Sozialdemokratie vor dem ersten Weltkriege: Marxismusstudien II, 1957, S. 151 ff. (196) unter Berufung auf Siegmund Neumann, Die deutschen Parteien, Berlin 1932, S. 20 f. Siehe auch Dieter Groh: Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Frankfurt am Main 1973, S. 81 ff. und 265 ff. sowie Dieter Grosser: Vom monarchischen Konstitutionalismus zur parlamentarischen Demokratie. Die Verfassungspolitik der deutschen Parteien im letzten Jahrzehnt des Kaiserreiches, 1970, S. 33 ff.

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Parlaments "von oben" durch Bismarck bei der Gründung des Norddeutschen Bundes und dies nicht zuletzt aus einer tiefen Aversion gegen den parlamentarischen Gegenspieler in Preußen, also nicht um der Parlamentarisierung des neuen Staates willen, sondern eher als ein, übrigens nicht ganz erfolgloses Mittel, diese zu verhindern. 38 Das alles weist darauf hin, daß Demokratisierung und Parlamentarisierung nicht einfach sich gegenseitig bedingende Vorgänge gewesen sind, auch wenn sie am Ende, in der parlamentarischen Demokratie des 20.Jahrhunderts, miteinander verbunden erscheinen. Kann man dann aber, angesichts der offenbar nicht notwendigen Verbindung dieser beiden Elemente der parlamentarischen Demokratie, angesichts der Möglichkeit, daß sie sogar in einen gewissen Gegensatz zueinander treten konnten, von einer selbstverständlichen, vielleicht sogar unausweichlichen Entwicklung hin zu eben dieser Demokratie in Deutschland wie in Europa sprechen, nur weil die Entwicklung tatsächlich diesen Weg eingeschlagen hat? Gewiß, man kann sich angesichts der emanzipatorischen Entwicklung der europäischen Gesellschaft im 19.Jahrhundert die "Demokratisierung" und angesichts der vorhandenen Parlamente als Forum politischer Artikulation und Mitbestimmung auch die "Parlamentarisierung" der modernen Staaten verständlich machen. Man wird dabei allerdings nicht nur auf Demokratisierungsund Parlamentarisierungswünsche aus der Bevölkerung achten müssen, sondern auch ein erhebliches Interesse der Regierungen selbst an einen Kontakt mit dem Volk in Rechnung zu stellen haben - ein Interesse, das darin begründet lag, die für die Erfordernisse modernen staatlichen Handelns notwendigen Informationen über Sachverhalte, Wünsche und Beschwerden in der Gesellschaft zu erhalten sowie deren Initiative und ihre Bereitschaft zur Mitarbeit zu entfachen - alles Vorstellungen, die schon der Reformbürokratie zu Beginn des 19.Jahrhunderts geläufig war, der preußischen zumal, 39 und die zu beherzigen spätere Bürokratien sich so schwer taten, woraus sich eine ganze Anzahl der Friktionen der konstitutionellen Monarchie und nicht zuletzt auch der Fehlschlag des bürokratischen Neoabsolutismus der fünfziger Jahre erklären. Aber genügt das wirklich, um nachzuweisen, daß es eben so kommen mußte, wie es gekommen ist? 38 Klaus Erich PoUmann, Parlamentarismus im Norddeutschen Bund 1867 -1870, 1985, S. 66 ff. Die Propagierung des allgemeinen Wahlrechtes erfolgte bei Bismarck auch, um politische Vorteile für Preußen gegenüber Österreich in der deutschen Öffentlichkeit herauszuschlagen. 39 Vgl. etwa die Denkschriften von Altenstein und Hardenberg über die Reorganisation des Preußischen Staates von 1807 ("Rigaer Denkschrift"), in: Georg Winter (Hrsg.): Die Reorganisation des Preussischen Staates unter Stein und Hardenberg. 1. Teil, Bd. 1 (= Publikationen aus den Preussischen Staatsarchiven Bd. 93), 1931, S. 304-363. Für Süddeutschland siehe Paul Nolte: Staatsbildung als Gesellschaftsreform. Politische Reformen in Preußen und den süddeutschen Staaten 1800 -1820, 1990.

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Hätte sich nicht z. B. das Zusammenwirken von Regierung, Bürokratie und Gesellschaft auch anders organisieren lassen als über die schließlich überall eingetretene Parlamentarisierung des Repräsentativsystems? Die Frage ist so akademisch nicht, wie sie klingt, denn letztlich hängt von ihrer Beantwortung die Einschätzung der speziellen deutschen Entwicklung, der Rolle, die das Kaiserreich mit seinen deutlich antiparlamentarischen Tendenzen in dieser Entwicklung spielte, ab. Dieser, bis heute umstrittenen Frage möchte ich mich im Folgenden zuwenden. IV.

Das Deutsche Reich von 1871, das Kaiserreich, ist immer wieder als ein zu der allgemeinen Parlamentarisierungsentwicklung quer liegendes Gebilde angesehen worden. Im Gegensatz zu den älteren konstitutionellen Monarchien in Deutschland, auch der preußischen von 1848/50, schloß es in seiner Verfassung eine Parlamentarisierung der Regierung explizit aus. Waren die Verfassungen der älteren konstitutionellen Monarchie noch insofern offen gewesen, als sich eine Parlamentarisierung in ihnen trotz aller theoretischen und praktisch-politischen Vorbehalte ohne Verfassungsänderung vollziehen konnte, so war dies im Kaiserreich nicht mehr möglich. Auch tatsächlich ließ die Parlamentarisierung der Reichsregierung bis in die letzten Tage des Reichs, bis zum Oktober 1918, auf sich warten. Deutschland trat damit in einen deutlichen Gegensatz zur Verfassungsentwicklung, wie wir sie sonst im Europa der Zeit, in Großbritannien, Frankreich oder Italien finden. Von den ersten Ansätzen zu einer parlamentarischen Demokratie 1848 vergingen immerhin siebzig Jahre, zwei Menschenalter, bis diese Demokratie auch in Deutschland Fuß faßte. Mehr noch: Im Bewußtsein der Zeitgenossen handelte es sich dabei keineswegs um eine reaktionäre Verzögerung einer, wie es Biedermann 1851 noch gesehen hatte, wünschenswerten und notwendigerweise eintretenden gesellschaftlichen Entwicklung,40 sondern stellte das Kaiserreich eine ernsthafte, in vielem überlegene und bessere Alternative zu den westeuropäischen parlamentarischen Demokratien, zur parlamentarischen Monarchie Englands und vor allem auch zur parlamentarischen Republik Frankreichs, dar. Im Gefolge der schon in den sechziger Jahren vorgelegten großen Deutung der verfassungsgeschichtlichen Entwicklung in Deutschland und Europa durch Otto von Gierke wurde nunmehr der Blick auf die Herausbildung freier Assoziationen und genossenschaftlicher Selbstver40 Biedermann (FN 32), S. 473. Siehe dagegen die zunehmend skeptische Haltung von Robert von Mohl in seinen späteren Werken. (Angaben bei Boldt [FN 8], Staatslehre S. 260 f.).

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waltung gerichtet, zugleich aber betont, daß es in dieser europäischen Verfassungsentwicklung um eine Vermittlung der beiden Pole von Freiheit und Einheit, von "Imperium" und "Libertas" gehe, deren die Stärke des Staates und das Wohl seiner Gesellschaft sichernde Versöhnung gerade im Deutschen Reich, in der konstitutionellen Monarchie mit überparteilich bürokratischer Regierung und parlamentarischer Mitbestimmung, gelungen sei. 41 Noch Otto Hintze hat 1911, als diese Sichtweise schon sehr fragwürdig geworden war, die konstitutionelle Monarchie als eine für Deutschland notwendige Staatsform gerechtfertigt42 und noch die neueste große Darstellung der deutschen Verfassungsgeschichte jener Zeit, die von Ernst Rudolf Huber, ist dieser Sichtweise verpflichtet. 43 - Echte Alternative oder nur vorübergehend wirksame Aufhaltung einer sich mit Notwendigkeit durchsetzenden Entwicklung, diese gleichsam abfedernd, wie Ernst Wolfgang Böckenförde meinte,44 - was ist die verfassungsgeschichtliche Rolle des Kaiserreichs tatsächlich gewesen? Bei der Beantwortung dieser Frage wird man zunächst darauf hinweisen müssen, daß es im preußischen Verfassungskonflikt gelungen war, trotz grundsätzlicher Aufrechterhaltung der konstitutionellen Kompromißlage, die prekär gewordene monarchische Position zu stabilisieren. 45 Deutschland konnte infolgedessen von einem monarchischen Preußen aus geeinigt werden. Die sog. Einigungskriege taten ein Übriges, das Ansehen der Monarchie zu festigen. 46 Zweitens: In der Verfassung des Norddeutschen Bundes und späteren Deutschen Reiches kam Bismarck, der Reichsgründer, demokratischen Vorstellungen zwar insofern entgegen, als das Reich ein nach allgemeinem und gleichem Wahlrecht gewähltes Parlament erhielt, doch geschah dies offen41 Vgl. Qtto von Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht. Bd. 1, 1868, S. 3 f.; Egard Loening, Die Repräsentativverfassung im 19. Jahrhundert, Rektoratsrede, Halle 1899, bes. S. 28; Conrad Bornhak, Die Entwicklung der konstitutionellen Theorie: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 51 (1895), S. 597 -617 (617) (Verschmelzung von libertas und imperium). 42 Hintze folgerte diese Notwendigkeit aus der außenpolitischen Situation Deutschlands, die einen starken Militärstaat erforderlich mache, und aus der kulturellen Fragmentierung der deutschen Geschichte, insbesondere der Parteien, die eine feste parlamentarische Mehrheitsbildung nicht zulasse: Hintze (FN 7), bes. S. 367 f. 43 Huber (wie FN 9). 44 Böckenförde (FN 9), S. 161. 45 So Boldt (FN 30), Verfassungsgeschichte, bes. S. 106 ff. Zur Wirkung des preußischen Verfassungskonfliktes vgl. auch Rainer Wahl, Der preußische Verfassungskonflikt und das konstitutionelle System des Kaiserreiches, in: Böckenförde (wie FN 9) S. 171-194. A. A.: Carl Schmitt, Staatsgefüge und Zusammenbruch des Zweiten Reiches, 1934, S. 24 f. (Das deutsche konstitutionelle System als "dilatorischer Kompromiß" zwischen Königs- und Parlamentsherrschaft). 46 Siehe dazu allgemein Elisabeth Fehrenbach, Wandlungen des deutschen Kaisergedankens 1871-1918, 1969.

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sichtlich nicht, um die Parlamentarisierung der konstitutionellen Monarchie voranzutreiben, sondern es handelte sich dabei eher darum, die Etablierung einer starken liberalen parlamentarischen Konkurrenz für die Regierung zu verhindern. 47 Der Übergang zur Parlamentarisierung wurde zudem verfassungstechnisch durch die von Bismarck in den Putbuser Diktaten höchstpersönlich veranlaßte Verstärkung staatenbündischer Elemente im neuen Bundesstaat abgeblockt. 48 Indem nicht die Reichsverfassung von 1849 dem neuen Staat zugrunde gelegt, sondern auf den Bundesrat alten Stils zurückgegriffen wurde, nahm in der neuen Verfassung ein föderales, genauer: staatenbündisches Gremium die Position der Reichsregierung ein. 49 Seine Parlamentarisierung wurde durch Festlegung der Inkompatibilität von Bundesratsmitgliedschaft und Reichstagsmandat unterbunden. 50 Außerdem wurde, anders als in den älteren konstitutionellen Monarchien, nun auch die Innehabung eines Staatsamtes mit dem parlamentarischen Mandat grundsätzlich für unvereinbar erklärt. 51 Kurzum: In der Reichsverfassung wurde der Parlamentarisierung der - im übrigen zunächst nur in der Person des Reichskanzlers existenten - Reichsregierung ein für allemal ein Riegel vorgeschoben. Föderalismus und Parlamentarismus galten seitdem bis zum Ende des Kaiserreichs in Deutschland als sich einander ausschließende Größen. 52 Vgl. dazu Pollmann (FN 38). Friedrich Thimme (Hrsg.), Bismarck. Die Gesammelten Werke Bd. 6, 1929 2 , S. 168 ff. Dazu auch Otto Becker, Bismarck's Ringen um Deutschlands's Gestaltung. Hrsg. und ergänzt von Alexander Scharff, 1958, S. 211 ff. 49 Vgl. die Bemerkung über die ,,43 Plätze fassende(n) Ministerbank" in den Putbuser Diktaten: Bismarck (FN 48) GW Bd. 6, S. 169. Die erste Fassung des Entwurfs zur Verfassung des Norddeutschen Bundes durch den Geheimrat Duncker lehnte sich noch stärker an die Frankfurter Reichsverfassung an, sah aber schon eine "bundesrätliche" Lösung der Frage der Ländervertretung vor. Siehe Heinrich Triepel, Zur Vorgeschichte der Norddeutschen Bundesverfassung, in: FS Gierke, 1911, S.589-644. 50 Art. 9 Satz 2 RV. 51 Art. 21 Abs. 2 RV. 52 So noch Erich Kaufmann, Bismarcks Erbe in der Reichsverfassung, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 1. Göttingen 1960, S. 142-223. Im wesentlichen war es jedoch nicht die föderative Ordnung des Reichs, sondern die damit verbundene hegemoniale Stellung Preußens und die Vorherrschaft des Konservativismus dort, die einer Parlamentarisierung des Reichs entgegenstanden. Diese hätte den preußischen Einfluß auf Reichsangelegenheiten, zumindest die im Kaiserreich übliche Verbindung des Amts des Reichskanzlers mit dem des preußischen Ministerpräsidenten bzw. Außenministers aufgehoben, ohne daß - selbst bei gleichzeitiger Parlamentarisierung der preußischen Regierung - für eine notwendige Abgleichung der Politik Preußens und des Reichs gesorgt worden wäre. Zu welchen Problemen dies angesichts der Größe und Bedeutung Preußens führen konnte, zeigt die Entwicklung in der Weimarer Republik. Dieser Aspekt der Frage nach den Parlamentarisierungsmöglichkeiten des Kaiserreichs wird im Text indessen nicht weiter verfolgt. Er ist nicht unbedeutend, obwohl die Parlamentarisierung 1918 ohne Rücksicht auf die Entwicklung Preußens am Ende doch erfolgte. Nicht einmal Art. 9 Satz 2 RV wurde in der "Oktoberverfassung" gestrichen. Vgl. dazu Oswald Hauser (Hrsg.), Zur Problematik Preußen und das Reich, 1984. 47

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Drittens: Was zunächst verfassungstechnisch inszeniert wurde, fand seine gleichsam reale Absicherung in der "Wende" von 1878, als mit dem Übergang zur Schutzzollpolitik auf Drängen der Landwirtschaft und der Schwerindustrie sowie mit dem Fallenlassen des bisherigen parlamentarischen Partners, der Nationalliberalen, deutlich wurde, daß die wirtschaftliche Entwicklung und die in ihr tonangebenden Kräfte nicht mehr selbstverständlich den freihändlerisch gesinnten Liberalismus, also bis dato den Vorkämpfer parlamentarischer Rechte, stützten. 53 Das Scheitern der Ministerkandidatur Rudolf von Benningsens symbolisiert das Ende eines liberalen Zeitalters, in dem ökonomische Entwicklung und Erweiterung der parlamentarischen Machtbasis, vermittelt durch an beidem interessierten Exponenten der Wirtschaft, Hand in Hand gegangen waren. 54 Die konservative Wende in den Jahren seit 1878 schien im Zusammenhang mit dem Aufkommen neuer wirtschaftlicher Verbände vielmehr neue Formen der Abstimmung von monarchisch-bürokratischer Regierung und gesellschaftlichen Interessen zu erfordern - und möglich zu machen. Bismarcks Überlegung zur Einrichtung eines Volkswirtschaftsrats und zu einer berufs ständischen parlamentarischen Vertretung deuten das an. 55 Notabene: Wenn man das Kaiserreich ein "bonapartistisches" System genannt hat, was bekanntlich schon Zeitgenossen taten, so ist dies im Hinblick auf den nicht-revolutionären Charakter der deutschen Monarchie sicherlich falsch. 56 Doch zeichnete sich, zumindest in den neunziger Jahren, eine Entwicklung ab, die die Monarchie in ein neues plebiszitäres Verhält53 Helmut Böhme, Deutschland's Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von Wirtschaft und Staat während der Reichsgrundungszeit 1848 -1881, 1972 2 , bes. S.574. 54 Vgl. dazu Friedrich Zunkel, Der Rheinisch-Westfälische Unternehmer, 18341879, 1962; KarZ Georg Faber, Die Rheinlande zwischen Restauration und Revolution, 1966. Siehe auch die Denkschrift David Hansemanns vom August 1840 über die Lage Preußens, abgedruckt in: Rheinische Briefe und Akten zur Geschichte der politischen Bewegung 1830 -1850, hrsg. von Josef Hansen, Bd. 1, 1919, S. 197 -268. 55 Siehe dazu: Julius Curtius, Bismarcks Plan eines deutschen Volkswirtschaftsrats, 1919; Lothar Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär, 1980, S. 603 ff. Allgemein zur Entwicklung im Kaiserreich auch: Hans-Jürgen Puhle, Parlament, Parteien und Interessenverbände 1890-1914: Michael Stürmer (Hrsg.), Das kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870-1918. Düsseldorf 1970, S. 340-377. Vgl. auch Heinrich Herrfahrdt, Das Problem der berufsständischen Vertretung von der französischen Revolution bis zur Gegenwart, 1921 sowie Hans-Peter Ullmann, Interessenverbände in Deutschland, 1988. 56 Siehe dazu Heinz Gollwitzer, Der Cäsarismus Napoleons II!. im Wiederhall der öffentlichen Meinung Deutschland's: HZ 173 (1952), S. 23 -75; Lothar Gall, Bismarck und der Bonapartismus: HZ 223 (1976), S. 618-637; Elisabeth Fehrenbach, Bonapartismus und Konservatismus in Bismarcks Politik, in: Karl Hammer / Peter Claus Hartmann (Hrsg.), Der Bonapartismus. Historisches Phänomen und politischer Mythos, 1977 (Beihefte der Francia Bd. 6), S.39-55. Kritisch dazu Otto Pflanze, Bismarcks's Herrschaftstechnik als Problem der gegenwärtigen Historiographie: HZ 234 (1982), S. 561-599.

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nis zur Gesellschaft zu bringen schien, eine neuartige Verbindung von "Kaisertum" und "Demokratie", wie sie einer der politischen Seismographen jener Zeit, Friedrich Naumann, um die Jahrhundertwende heraufkommen sah, in der gesellschaftliche Interessen über die Verbände mit der Regierung des Reichs in direkte Verbindung traten. 57 Konnte das etwa zu einer modernen Alternative für die Parlamentarisierung des Systems werden? Und wenn nicht, warum nicht?

v. Nun ist indessen nicht zu leugnen, daß der Übergang zur wirtschaftlichen Interventionsmonarchie, zum Sozialstaat und zur ausgreifenden imperialistische Weltpolitik betreibenden Großmacht, wie er sich in Deutschland in den letzten Jahren des 19. und beginnenden 20.Jahrhunderts abzeichnete, nicht nur eine Stärkung der Reichsbürokratie mit sich brachte, sondern auch ihres parlamentarischen Gegenspielers, des Reichstags. Je größer der Gesetzgebungsbedarf wurde, je höher die finanziellen Anforderungen des Reiches, umso stärker sah sich die Regierung darauf angewiesen, im Parlament - nach Lage der Dinge dann doch dem bedeutendsten Vermittler gesellschaftlicher Unterstützung - Mehrheiten für ihre Vorhaben zu finden, wechselnde oder, wie unter Bülow, einen Block. Die dadurch wachsende Abhängigkeit der Regierung vom Parlament aber erweckte, besonders in der anfangs erwähnten Rückschau nach 1945, den Eindruck einer allmählichen, doch kontinuierlichen Parlamentarisierung des Reichs, die schließlich in der Regierungsübernahme durch Abgeordnete und in einer entsprechenden Änderung der Reichsverfassung im Oktober 1918 gipfelte. 58 Diese Sichtweise mußte umso plausibler erscheinen, als besonders nach der Daily-Telegraph-Affaire auch zeitgenössisch die Stimmen sich mehrten, die eine Parlamentarisierung der Reichsregierung wünschten oder doch für letztlich unausweichlich hielten. 59 Dennoch fand eine solche Parlamentarisierung nicht bzw. eben erst unter der außerordentlichen Bedingungs57 Friedrich Naumann, Demokratie und Kaisertum, 1900; vgl. dazu Peter Theiner, Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Naumann im wilhelminischen Deutschland (1860-1919),1983, bes. S. 61 ff. 58 So außer Frauendienst (FN 6) und Bermbach (FN 5) auch Fritz Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte, 1950, S. 275 ff. Skeptisch zur parlamentarischen Entwicklung dagegen Georg Jellinek in seinem großen, den Verfassungswandel des Kaiserreiches reflektierenden Aufsatz "Verfassungsänderung und Verfassungswandlung" , 1906, bes. S. 58 f. 59 So etwa Conrad Bornhak, Wandlungen der Reichsverfassung, in: Archiv des Öffentlichen Rechts 26 (1910), S. 373 -400 (399 f.), aber auch Bethmann Hollweg 1909 (Nachweis bei Hagen Schulze, Preussen und das Reich, in: Loock / Schulze [FN 28), S. 156 -172 [170]). A. a. selbst damals noch Georg Jellinek, Regierung und Parlament in Deutschland. Leipzig / Dresden 1909.

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konstellation des Ersten Weltkriegs, unter äußerem Druck, statt. 60 Das wiederum hat die ältere Ansicht, daß die deutsche konstitutionelle Monarchie doch etwas Eigenständiges, eine gültige Alternative zum westlichen Parlamentarismus, gewesen sei, gefördert und bis heute prominent vertreten lassen. Nun kann man sicherlich von der konstitutionellen Monarchie deutscher Prägung als einer eigenen, von anderen unterscheidbaren Staatsform sprechen, wiewohl die hochabstrakte typologische Fassung des Begriffs dieser Monarchie, wie wir sie bei Ernst Rudolf Huber, aber auch bei Ernst Wolfgang Böckenförde finden, etwas Mißliches an sich hat, denn die Behauptung, daß sie eine "selbständige Form" darstelle 61 , verdeckt, indem sie eine Vielfalt von Phänomenen zwischen 1818 und 1918 zusammenfaßt, einen nicht unerheblichen Wandel innerhalb dieses "deutsche konstitutionelle Monarchie" genannten Typs. So wurde diese Monarchie, wie wir gesehen haben, ursprünglich durch das monarchische Prinzip im Sinne von Art. 57 WSA konstituiert. Dieses war aber keineswegs mehr grundlegend für die Monarchie des Kaiserreichs, denn der Kaiser war kein Souverän, sondern ein Monarch von Verfassungs Gnaden. Auch der Charakter der Parlamente hatte sich grundlegend gewandelt. Aus neo ständischen Repräsentationsorganen mit konservativen und liberalen Honoratioren waren Institutionen geworden, die von modern organisierten Parteien beherrscht wurden und in denen auch die Arbeiterschaft vertreten war. Und manches, wie die von der ministeriellen Gegenzeichnung befreite monarchische Kommandogewalt, ist zwar für das Funktionieren der preußischen und der Reichs-Monarchie wichtig gewesen, aber dabei handelte es sich offensichtlich um ein sich erst allmählich herausbildendes Machtmittel der Monarchie, das keineswegs für alle deutschen konstitutionellen Staaten charakteristisch war. 62 Gewiß muß man einräumen, daß eine typologische Begriffsbildung immer etwas Willkürliches an sich hat. Abweichungen sind in einem gewissen Toleranzrahmen inbegriffen. Um sich eine allgemeine Orientierung in der Vielfalt der Erscheinungen zu verschaffen, ist ein solches Vorgehen dennoch zweckmäßig. So weit, so gut. Wie aber, wenn ein Typus nicht nur zur allgemeinen Orientierung gebildet wird, sondern behauptet wird, daß die mit ihm bezeichneten realen konstitutionellen Monarchien auch tatsächlich

60 Das betonen Rosenberg (FN 4) und Hans-Ulrich Weh leT, Das Deutsche Reich 1871-1918, 1988 6 , S. 216 f. Siehe auch EbeThaTd Pikart, Die Rolle der Parteien im deutschen konstitutionellen System vor 1914: Zfp 9 (1962), S. 12-32 (32) mit Hinweis auf Hugo Preuß. 61 HubeT (FN 9) Bd. III., S. 4. 62 Vgl. zur abweichenden bayerischen Praxis Max Spindler (Hrsg.): Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. 4/1, 1975, S. 374 f.

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"Eigenständigkeit",63 dauerhafte Lebensfähigkeit aus sich heraus, besessen haben, man jedoch gleichzeitig feststellen kann, daß es ein Charakteristikum eben dieser realen konstitutionellen Monarchien von Anfang an gewesen ist, daß sie einem fortwährenden Wandel unterworfen waren? Wobei es sich offensichtlich nicht nur um einen Wandel innerhalb des durch die Typusbildung gezeichneten Spielraums handelte, sondern es Tendenzen gab, die - in Deutschland, wie anderswo in Europa - daIiiber hinausdrängten. Diese Feststellung muß freilich nicht von vornherein bedeuten, daß eine konstitutionelle Monarchie nicht auch eine gewisse Stabilität aufweisen oder gerade durch Wandel erwerben konnte. Und das war ja denn auch das Empfinden so mancher Zeitgenossen, daß im Kaiserreich die Ausmittlung des für diese Monarchie konstitutiven Spannungsverhältnisses von monarchischer Regierung einerseits Parlament andererseits, nun endlich gelungen sei. Daß der Reichstag zu einem stärkeren Parlament als alle seine konstitutionellen Vorgänger geworden war, verschlägt dabei nichts, denn gerade in dualistischen Systemen sind Parlamente häufig unabhängiger und besitzen mehr Gewicht als in parlamentarischen, wie das Beispiel der USA lehrt. Eine Tendenz zum Übergang zum parlamentarischen Regierungssystem läßt sich aus einer solchen Stärkung nicht ohne weiteres folgern, obwohl manche Autoren dieses tun. 64 Wichtig war für das Überleben der konstitutionellen Monarchie offenbar, daß neben und in Verbindung mit dem Parlament eine starke, leistungsfähige Regierung existierte, die sich als fähig erwies, die Probleme des modernen Sozial- und Interventionsstaates zu lösen und die auf diese Weise die monarchische Staatsform vor der Bevölkerung legitimierte. Und gerade das schien bei der Reichsregierung, schien unter Bismarck, aber auch unter seinen Nachfolgern der Fall zu sein. Daß es der deutschen konstitutionellen Monarchie gerade an der Legitimation fehlte und sie darum zu einer bloßen Übergangserscheinung degenerierte, wie Böckenförde behauptet, dem vermag ich daher nicht beizupflichten. 65 Bis ins 20.Jahrhundert hinein jedenfalls hat es an dieser Legitimation nicht gemangelt. 66 63 So Huber (FN 9) Bd. III, S. 4. 64 So vor allem Manfred Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus im wilhelmi-

schen Reich, 1973 und ders., Die Parlamentarisierung des Deutschen Reiches, 1977. 65 Böcken!örde (FN 9), S. 159 ff. beruft sich dabei auf Otto Brunner, Vom Gottesgnadentum zum monarchischen Prinzip: Das Königtum. Vorträge und Forschungen Bd. 3, 1956, S. 279-305 (299 f.). Der Wandel von der religiösen Legitimation des Gottesgnadentums zu einer leistungsorientierten scheint mir keine grundsätzliche Schwächung der monarchischen Stellung zu bedeuten, zumal auch in älterer Zeit bestimmte "Leistungen" von einem Monarchen erwartet wurden und deren Ausbleiben auch damals schon - u. U. religiös verbrämt - zu negativen Folgen für einen König oder seine Dynastie führen konnten. Die Legitimation durch Leistung wurde für den Monarchen des 19. Jh. klassisch formuliert durch Lorenz von Stein, Zum Königtum der sozialen Reform: Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich,

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Allerdings, in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg gibt es offenbar ein wachsendes Unbehagen, gibt es Ansätze zu parlamentarischen Blockbildungen, mit denen man eine als Stagnation empfundene Lage überwinden will, aber doch nur bis zur gegenseitigen Blockierung im Parlament kommt, wie Gustav Schmidt gezeigt hat, 67 - ein sich parlamentarisch blockierendes System mit einer Regierung, die nicht mehr führt, sozusagen zwischen den Fronten. Daß das konstitutionelle System sich trotzdem hält, scheint in jenen Vorkriegstagen in der Tat weniger an der Leistungsfähigkeit der Monarchie und ihres damaligen Trägers gelegen zu haben, als an dem Umstand, daß es aufgrund eines stark fragmentierten Parteiensystems mit Parteien, die in unterschiedlichen "sozial-moralischen Milieus" 68 wurzelten, und nicht zuletzt aufgrund des allgemeinen und gleichen Reichstagswahlrechts zu einer stabilen, die Übernahme der Regierung mit Nachdruck anstrebenden Mehrheit im Parlament nicht kam und auch deswegen nicht kommen konnte, weil die Parteien sich von Verhandlungen mit der auf sie angewiesenen Reichsregierung mehr für ihre Klientel versprachen als von der Bildung einer parlamentarischen Mehrheitsregierung, an der teilzunehmen sich keine von ihnen mit Sicherheit ausrechnen konnte. Diese Erklärung, die vor allem Gerhard A. Ritter für das als allgemein erklärungsbedürftig erachtete Ausbleiben der Parlamentarisierung in der Bd. III, 1959, S. 1 ff. Allerdings kam im 19. Jh. hinzu, was auch Stein sieht, daß es nicht mehr nur um den Legitimationsverlust einer versagenden Person oder Dynastie, sondern - angesichts der möglich gewordenen republikanischen Alternativen - auch um die Abschaffung der Monarchie überhaupt gehen konnte. Ein schwacher König setzte nicht nur sich und seine Familie, sondern die ganze Institution aufs Spiel. 66 In diesem Zusammenhang darf nicht übersehen werden, daß die Frage der Parlamentarisierung der Regierung nicht nur die Monarchie und ihre Legitimation betraf, denn eine Monarchie kann - wie das englische Beispiel zeigt - auch als "parlamentarische" überdauern, sondern auch das Vertrauen, das man der herkömmlichen Beamtenregierung zu schenken bereit war. Nun hat aber das Vertrauen in die Bürokratie schon im Vormärz gelitten. Trotz allen Glaubens an die Leistungsfähigkeit und die Überparteilichkeit des bürokratischen Staates blieb die Legitimation der Bürokratie prekär, wie die um dieses Phänomen kreisenden Überlegungen Max Webers zeigen. Vgl. dazu Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Studienausgabe, hrsg. von Johannes Winckelmann, 1976 5 • 67 Gustav Schmidt, Innenpolitische Blockbildungen in Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkrieges: APuZ 20 (1972), S. 3 -32. Siehe auch Walfgang J. Mammsen, Die latente Krise des wilheminischen Reiches: MGM 1 (1974), S. 7-28. Siehe zur allgemeinen Entwicklung auch: Gerhard A. Ritter, Entwicklungsprobleme des deutschen Parlamentarismus: ders. (Hrsg): Gesellschaft, Parlament und Regierung. Zur Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland, 1974, S. 11-54. 68 M. Rainer Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur. Zum Problem der Demokratie der deutschen Gesellschaft, in: FS Lütge, 1966, S. 371- 393. So früher schon Friedrich Julius Stahl, Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche. 29 akademische Vorlesungen (1850/51),1863, bes. die 22. Vorlesung S. 157 ff. (162). Siehe auch Rabert van Mahl, Staatsrecht, Völkerrecht, Politik, 1869, Bd. 3, S. 71 f. und Dtta Hintze (FN 7), S. 368 ff. Weitere Nachweise bei Hans Baldt, Artikel "Parlamentarismus", Geschichtliche Grundbegriffe (FN 22)Bd. 4, S. 660.

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Zeit vor dem Ersten Weltkrieg angeboten hat,69 scheint mir nach wie vor plausibler zu sein als die These von einer "stillen Parlamentarisierung" des Reichs, die trotz allem in jenen Jahren ihren Fortgang genommen habe. 70 69 Gerhard A. Ritter, Die deutschen Parteien 1830-1914. Parteien und Gesellschaft im konstitutionellen Regierungssystem, 1985, S. 85 ff.; siehe auch ders. (Hrsg.), Deutsche Parteien vor 1918. Köln 1973, S. 9 -25 (10 ff.). Vgl. auch Grosser (FN 37), S. 207 ff. sowie Pikart (FN 61). 70 So Rauh (FN 64), Parlamentarisierung, bes. S. 36 f. Rauh versteht unter "stiller Parlamentarisierung" einen Übergang zum parlamentarischen Regierungssystem ohne formelle Verfassungsänderung, der in Form eines sukzessiven Lernprozesses vor sich geht (S. 364). Die einzelnen Lernschritte bestehen darin, daß das Parlament sich durch die Zusammenarbeit mit der Regierung "seiner Macht gewahr" wird, daß es begreift, "daß und wie die Regierung in Abhängigkeit von ihm geraten kann", daß daraufhin zunächst - idealtypisch gesehen - der "negative Wunsch eine mißliebige Regierung zu beseitigen" vorherrscht, der aber allmählich dem "positiven Bemühen" weicht, "die Regierung selbst zu bestellen und an der Macht zu halten" (S. 36). Dieser "Verlagerungsprozeß" vollzieht sich in "Übungsfällen", die unterschiedlichen Erfolg haben können, da auf den Prozeß mannigfache "Störfaktoren" einwirken. Der ganze Vorgang wird erleichtert, aber offenbar nicht notwendigerweise bedingt, durch die Bildung fester Mehrheiten im Parlament. Wenn "der Wille zur Parlamentarisierung mehrheitlich von der Volksvertretung Besitz ergriffen" habe, so werde "die Besetzung leitender Administrativpositionen" durch sie grundsätzlich "nur noch eine Frage der Zeit sein". (S. 37). - Rauh beansprucht mit diesem lerntheoretischen Ansatz eine "vollständige Theorie des reichsdeutschen Konstitutionalismus" zu bieten (S. 7), d. h. ein System empirisch überprüfbarer Hypothesen, dessen oberster Satz in der Behauptung besteht: "Der Konstitutionalismus ist von Natur aus ein transitorisches Phänomen" (S. 7 Anm. 2). Seine Bedeutung liege "in der Schaffung einer Situation, die automatisch den Prozeß der stillen Parlamentarisierung in Gang setzt" (S. 37). Bei diesem Prozeß handele es sich um "einen zwangsläufigen, quaSi-gesetzmäßigen Verlauf der weiteren Entwicklung des Reichskonstitutionalismus" (S. 8 Anm. 2). - Für Rauh ist die Grundannahme des Übergangscharakters des Konstitutionalismus hin zum Parlamentarismus beweisbar durch eine Reihe aus ihr abgeleiteter, empirisch überprüfbarer Hypothesen, die von ihm jedoch nicht systematisch entwickelt und operationalisiert werden. Er begnügt sich vielmehr damit, Vorgänge darzustellen, die - wie der Bedeutungsrückgang des Bundesrats - seine allgemeine Hypothese von der Zwangsläufigkeit der Parlamentarisierung stützen. Hypothesen, die seiner Theorie widersprechen, werden dagegen nicht ernsthaft in Betracht gezogen. Der angenommenen Entwicklung Widersprechendes wird von vornherein als (vorübergehender) "Störfaktor" gewertet, obwohl es in Deutschland vor dem Reichskonstitutionalismus eine abgebrochene Entwicklung zur Parlamentarisierung gegeben hat, nämlich die des Frühkonstitutionalismus hin zur Revolution von 1848. Das ist immerhin ein Vorgang gewesen, der die angestrebte allgemeine Gültigkeit der Rauh'schen Theorie einschränken könnte und zumindest zum generieren speziellerer Hypothesen über die Parlamentarisierungsentwicklung hätte führen müssen, zur Frage, unter welchen Bedingungen eine Parlamentarisierung Aussicht auf Erfolg hat und unter welchen möglicherweise nicht. Daß in Deutschland "Schritt um Schritt auf das Fernziel Parlamentarismus hingetan" wurde und es nie "eine ernsthafte Unterbrechung oder Abirrung vom Ziel" gegeben habe (S. 364), ist - gerade auf den Reichskonstitutionalismus bezogen - doch wohl eine etwas kühne These, zumal auch aus dem lerntheoretischen Ansatz keineswegs zwingend folgt, daß ein Parlament, das sich seiner Macht und der Abhängigkeit der Regierun.g von ihm bewußt wird, nun konsequenterweise auch die nächsten Lernschritte zur Ubernahme der Regierungsgewalt machen müßte, denn es kann - wie das deutsche Beispiel vor dem Ersten Weltkrieg zeigte - ja gerade die Situation der Abhängigkeit einer nicht-parlamentarischen Regierung von ihm für vorteilhafter halten als die Übernahme von Regierungsverantwortung. Im übrigen brauchten die Reichstagsabgeordneten kaum Schritt für Schritt einen parlamentarischen Lernprozeß durchzumachen, um ihre Macht und die Abhängigkeit der Regie-

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Freilich wissen wir noch immer zu wenig von den Ursachen und den unterschiedlichen Vorgängen der Parlamentarisierung in den konstitutionellen Systemen Europas, um etwa aus einem Vergleich Schlüsse ziehen zu können, die ein besseres Verständnis der Situation und (abweichende?) Entwicklungschancen im Deutschen Reich erlauben würden. Es fehlt uns hier ganz offensichtlich eine Vergleichende Verfassungsgeschichte, und auch die Entwicklung in den deutschen Ländern in jener Zeit, die es dabei zu beachten gilt, ist alles andere als zufriedenstellend aufgearbeitet. 71 So bleibt uns am Ende nichts anderes als zu konstatieren, daß der Übergang zum parlamentarischen System im Deutschen Reich eben doch erst im Verlauf des Ersten Weltkriegs einsetzte, in einer besonderen Situation, in der sonst verdeckte Strukturmängel des deutschen konstitutionellen Systems, das problematische Verhältnis von Monarch, Regierung und Militär, deutlich hervortraten und der Verfall dieser Stützen des Systems auch seine Legitimation schwinden ließ.72 Auch in dem sich hier ergebenden Machtvakuum hat es bekanntlich jedoch keine zielklare und zügige, von der Führung der Reichstagsparteien betriebene Parlamentarisierungspolitik gegeben und wurden vorsichtige Initiativen, die eher von der Vorstellung eines "deutschen Parlamentarismus" 73 mit Wahrung der monarchischen Prärogative beseelt waren als daß sie von einer selbstbewußten Bereitschaft zur Regierungsübernahme zeugten, wurden diese Initiativen am Ende sogar von einer "von oben" angeordneten Parlamentarisierung überholt. 74 rung zu erfahren, denn diese Faktenkonstellation war ihnen aus einem reichen europäischen und deutschen Parlamentsleben hinreichend bekannt. Möglicherweise haben sie aber gerade daraus für ihr Verhältnis zur Regierung andere Schlüsse gezogen, als die von Rauh für unabweislich gehaltenen. Dann aber hat der Kriegsausgang vielleicht doch nicht eine sich auch sonst durchsetzende Entwicklung nur "künstlich beschleunigt" und eine an sich vorhandene Kontinuität lediglich gestört (S. 364 f.). - Es ist natürlich einfach, post factum eine Theorie aufzustellen, um zu beweisen, daß eintreten mußte, was eingetreten ist. Schwieriger ist es schon nachzuweisen, daß eine Entwicklung auch dann zu einem bestimmten Ziel geführt hätte, wenn das Ereignis, das dieses Ergebnis tatsächlich hervorgebracht hat (in unserem Fall die Kriegsentwicklung) nicht eingetreten wäre. Man kann so etwas nie beweisen, sondern nur plausibel machen. Dazu bedarf es aber etwas mehr als das Bekenntnis zu einem Geschichtsdeterminismus, der in einer für einen Historiker erstaunlichen Weise von "quasi-gesetzmäßigen" Verläufen historischer Phänomene ausgeht, die "automatisch" etwas in Ga!lg setzen und "von Natur aus" zu einem bestimmten Ende führen. Eine derartige Ubernahme natur- und sozialwissenschaftlicher Theorieansätze in die Geschichtswissenschaft ist dann doch etwas zu simpel. 71 Daß es sich bei der vergleichenden Verfassungsgeschichte überhaupt um ein ausgesprochenes Desiderat der Forschung handelt, sei an dieser Stelle mit Nachdruck betont. 72 Im einzelnen dargelegt bei Boldt (FN 30), Verfassungsgeschichte S. 205 f. Vgl. auch Eugen Fischer-Baling, Politische und militärische Führung des 1. Weltkrieges in Deutschland: Schicksalsfragen der Gegenwart, Bd. 2, hrsg. vom Bundesministerium für Verteidigung 1958, S. 72 ff. 73 So der stellvertretende Vorsitzende der Zentrumsfraktion Trimborn am 19. November 1917 im Reichstag, Nachweis bei Bermbach (FN 5), S. 88.

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Wie unsicher man in dieser Hinsicht war, zeigt - das sei zum Schluß erwähnt - der Umstand, daß man sogar nach dem Abtreten der monarchischen Kontraparts der Parlamente in der Weimarer Republik, bei sozusagen freier Bahn zur Parlamentarisierung sogleich vor einem "Parlamentsabsolutismus" 75 zu warnen müssen glaubte und dem Reichstag einen neuen Gegenspieler, den gleichfalls vom Volk gewählten Reichspräsidenten, gegenüberstellte, obwohl dieser nach der Konstruktion der Weimarer Reichsverfassung kaum in der Lage gewesen wäre, einem starken Reichstag mit einer stabilen Mehrheit, die so etwas wie "absolut" hätte handeln können, wirklich Paroli zu bieten. Mehr als ein Nothelfer in schwierigen parlamentarischen Situationen konnte der Reichspräsident der Weimarer Verfassung kaum sein. 76 Ich sehe daher weniger in dieser, das im Kaiserreich erreichte Parlamentarismusverständnis wiederspiegelnden Institutionalisierung eines Gegenparts zum Parlament die eigentliche Gefährdung der in Weimar begründeten parlamentarischen Demokratie als in dem ebenfalls vom Kaiserreich tradierten Parteiensystem und Parteiverhalten - in der Unfähigkeit, stabile Mehrheitskoalitionen zu bilden und in der eingefleischten Neigung, der Regierung oppositionell gegenüberzutreten, auch wenn es nun die eigene war. 77 Und ich bin der Meinung, daß es weniger die verfassungstechnischen Neuerungen des Grundgesetzes - wie z. B. die Beschneidung der präsidentiellen Position oder die Einführung eines konstruktiven Mißtrauensvotums waren -, sondern der sich in den fünfziger Jahren ereignende durchgreifende, mit der Tradition radikal brechende Wandel des Parteiensystems und ein grundlegendes anderes Verständnis der Spielregeln des Parlamentarismus, die den Übergang vom Konstitutionalismus zum parlamentarischen System bei uns zu einem endgültigen gemacht haben. 78 Nicht 74 Vgl. auch die bezeichnende Formulierung des Staatssekretärs des Äußeren, Admiral v. Hintze, der von einer "Revolution von oben" sprach (Nachweis bei Matthias / Morsey (FN 3), Die Regierung des Prinzen Max von Baden, S. XVI.) Die Regierungsübernahme durch die Abgeordneten im Reich wurde im übrigen nicht nur durch einen mangelnden Willen zur Verantwortung und durch Rücksichtnahme auf den Monarchen sondern auch dadurch behindert, daß die an einer Parlametarisierung interessierten Fraktionen des Reichstags über die Ziele einer von ihnen zu verfolgenden Politik uneins waren. Das führte dazu, daß auch der letzte kaiserliche Reichskanzler, Prinz Max von Baden, nicht von den Parteien nominiert, sondern ihnen präsentiert wurde. Siehe auch Elisabeth Grundmann / Claus-Dieter Krohn, Die Einführung des parlamentarischen Systems in Deutschland 1918: APuZ 12 (1971), S. 25 -40. 75 Vgl. dazu Preuß (FN 2). 76 Dargelegt bei Boldt (FN 30), Verfassungsgeschichte S. 237 f. 77 Vgl. Boldt (FN 30), Verfassungsgeschichte S. 243 ff. sowie die Studie von Michael Stürmer, Koalition und Opposition der Weimarer Republik 1924-1928, 1967. Das vor allem gehört wohl zu den "historischen Vorbelastungen des deutschen Parlamentarismus", auf die Ernst Fraenkel so eindringlich aufmerksam gemacht hat; siehe ders., Deutschland und die westlichen Demokratien, 19644, S. 13-31. 78 Vgl. hierzu Gerhard Loewenberg, Parlamentarismus im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, 1969.

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die Parteien haben die parlamentarische Demokratie in Deutschland herbeigeführt, wohl aber hat der Wandel des Parteiensystems sowie der politischen Kultur überhaupt diese Demokratie in einer für die Zeitgenossen des Übergangs in den bewegten Jahren von 1918 und 1919 unvorstellbaren Weise bis heute stabilisiert. 79

79 In dem Zusammenhang ist auch auf die bedeutsame, Minderheiten Schutz gewährende und die Rechtsstaatlichkeit der parlamentarischen Demokratie absichernde Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit hinzuweisen. Die parlamentarische Demokratie erschöpft sich ja nicht im Verhältnis von Parlament und Regierung. Sie wird in der Bundesrepublik Deutschland sehr wirksam auch durch die verfassungsgerichtliche Kontrollinstanz mitgestaltet. Daß auch diese Institution in Deutschland ihre Tradition hat und ihr bereits beim ersten Versuch der Einführung einer parlamentarischen Demokratie in der Revolution von 1848 eine zentrale Rolle zugedacht war (vgl. § 125 f. RV 1849), sei hier zum Abschluß wenigstens erwähnt. Die parlamentarische Demokratie in Deutschland ist sowohl durch die föderative Aufspaltung der Beziehung von Regierung und Parlament sowie durch deren verfassungsgerichtliche Ergänzung gekennzeichnet. Zur Tradition der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland vgl. Ulrich Scheuner, Die Überlieferung der deutschen Staatsgerichtsbarkeit im 19. und 20. Jh.: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, hrsg. von Christian Starck, 1976, Bd. 1, S. 1-62.

Aussprache Steiger: Ich möchte die Parlamentarisierung im Kriege aufgreifen, die Herr Boldt am Schluß seines Referats angesprochen hat, und fragen, welche Bedeutung in diesem Zusammenhang der Verschiebung von Kompetenzen zwischen Reich und Ländern beizumessen ist. Von der Reichsgründung im Jahre 1871 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs fand eine Verlagerung von Länderkompetenzen zum Reich statt. Ist die Parlamentarisierung der Reichsgewalt darauf zurückzuführen, daß sie mit der schon vor dem Krieg einsetzenden, aber mit dem Krieg kumulierenden Zentralisierung des Reichs vollends unabweisbar geworden ist, weil die Parlamentarisierung der Landesregierungen, von der Sie gesprochen haben, nun ihre Fortsetzung in dem neuen Zentrum der politischen Macht verlangte? War, mit anderen Worten, die Parlamentarisierung ein notwendiges Instrument zur Bewältigung der Zentralisierung? War sie von daher vielleicht doch unaufhaltsam, obgleich sie sich im ersten Jahrzehnt für das Reich noch nicht so dringend gestellt hatte, aber immer dringlicher geworden war und so wohl auch ohne den Krieg gekommen wäre? Die Zentralisierung scheint mir alles in allem in diesem Zusammenhang Gewicht zu besitzen. Boldt: Ich muß vorausschicken, daß ich die Frage des Föderalismus und seines Verhältnisses zur Parlamentarisierung ebenso wie die Entwicklung in den Ländern bewußt ausgespart habe. Das konnte ich nicht auch noch berücksichtigen. Bis zu einem gewissen Grade läßt sich das damit rechtfertigen, daß es von Anfang an eine deutliche Gewichtsverschiebung von den Ländern zum Reich gab, die auch auf Reichsebene, nämlich vom Bundesrat auf die anderen Reichsorgane hin, stattfand, so daß sich im Weltkrieg schließlich die ganze Entwicklung sozusagen im Reich konzentrierte. Das ist das eine. Das andere, ob diese Entwicklung, auch wenn es nicht zum Weltkrieg gekommen wäre, unausweichlich zur Parlamentarisierung geführt hätte, kann ich nicht eindeutig beantworten. Das ist eine Frage, die ich offen gelassen habe. Alternativen sehe ich eigentlich so recht keine. Ich habe nur versucht anzudeuten, daß es auch andere Organisationsformen der Verbindung von staatlicher Regierung und gesellschaftlicher Interessenvertretung hätte geben können. Für mich ist das aber eine ganz offene Frage. Ich sehe den Übergang zum parlamentarischen Regierungssystem vor dem Weltkrieg nicht, sondern eher eine gegenseitige Blockierung der parlamentarischen Kräfte und der Regierung. Ich vermag aber nicht anzugeben, wie lange diese Blockierung ohne die Kriegsereignisse gedauert

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hätte, wie man ohne sie mit den anstehenden Problemen fertig geworden wäre, und was sich an anderen Lösungen angeboten hätte.

Steiger: Ich kam nur darauf, wenn ich das noch anschließen darf, weil gerade die beiden Schulfälle parlamentarisch regierter Staaten, Frankreich und England, zentrale Staaten sind, die alle ihre Probleme von Gewicht ausschließlich auf der zentralen Ebene lösen mußten. Boldt: Natürlich. Aber auch das Deutsche Reich mußte seine gravierenden Probleme zentral bewältigen. Darum dürfte der Hinweis darauf, daß der Föderalismus die Parlamentarisierung hindere, wie wir ihn noch bei Erich Kaufmann 1917 finden, doch mehr akademisch-wissenschaftlich gewesen sein; 1917 entsprach er jedenfalls nicht mehr der tatsächlichen Entwicklung. Der Föderalismus, d. h. die Position des Bundesrates, um die es in diesem Zusammenhang geht, war inzwischen viel zu schwach geworden, um eine Parlamentarisierung des Reichs aufhalten zu können. Auch Preußen hätte sich einer Parlamentarisierung im Reich kaum auf Dauer mit Erfolg entgegenstemmen können. Diese Frage mußte, ungeachtet der Entwicklung in den Ländern und des Gewichts der Länder, auf Reichsebene diskutiert und gelöst werden. Botzenhart: Die Veto-Position, die der preußische Landtag und das preußische Herrenhaus beide für sich gegenüber politischen und gesellschaftlichen Veränderungen im Kaiserreich hatten, sollte man m. E. stärker gewichten. Wenn man etwa an die Auseinandersetzungen um die "Reichsfinanzreform" im Rahmen der Flottenrüstung im Jahre 1909 und an die Verteidigung des Dreiklassenwahlrechts bis zum Ende des Weltkriegs denkt, so wäre ich doch skeptisch gegenüber der These, daß Preußen sich einer Parlamentarisierung des Reiches nicht hätte widersetzen können. Die einzelstaatlichen Regierungen verteidigten ihren Einfluß ebenso wie die Landtage ihre Befugnis, über die Verteilung der Steuerlasten zu entscheiden und keine Verlagerung der Gewichte zugunsten des Reichstags hinzunehmen. Der Föderalismus der Reichsverfassung und der preußische Konservativismus dürfen als beharrende Elemente gegenüber dem verfassungspolitischen und gesellschaftlichen Strukturwandel des ausgehenden Kaiserreiches nicht unterschätzt werden. Willoweit: Herr Boldt, ich wollte noch einmal auf die Frühzeit Ihres Zeitraumes zurückkommen. Sie haben den preußischen Verfassungskonflikt mehr en passant erwähnt. Der preußische Verfassungskonflikt fällt doch eigentlich in eine Zeit der Kooperation von Regierungen und Liberalen in der sog. "Neuen Ära". Darin sehe ich eine gewisse Tragik. Genau zu der Zeit, in der die beste Chance einer dauerhaften Kooperation zwischen

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Regierung und Parlamentsmehrheit bestand - es geht um die zwei Jahrzehnte, in denen alles wichtige geschah, was uns am liberalen Rechtsstaat lieb und teuer ist - platzt dieser Verfassungskonflikt hinein und blockiert die Parlamentarisierung. Gibt es nicht diesen Zusammenhang? Später dann, nach 1871 und seit 1878 kann Bismarck sein Vertrauen direkt in der Gesellschaft verankern. Der Überkanzler bedarf eines parlamentarischen Vertrauens nicht. Vielleicht kann man folgendes sagen: Vertrauen zwischen Regierung und Gesellschaft, also "Konsens" in unserer Sprache, ist auf jeden Fall notwendig. Dieses Vertrauen kann man auf verschiedene Weise herstellen. Der Volkskanzler erreicht es direkt mit den organisierten Heerscharen seiner Anhänger; er kann einen Volkswirtschaftsrat gründen, gesellschaftliche Verbände aktivieren oder sich auch auf das Parlament stützen. Aber das Parlament zieht den kürzeren, wenn sich andere Wege der Konsensbildung anbieten. Ist dem so, so verstehe ich nicht, warum man die Parlamentarisierung nicht als beherrschende Tendenz bis zum Ersten Weltkrieg und auch in der Kriegszeit ernst nehmen will. Ein charismatischer Kanzler war nicht mehr in Sicht; ein charismatischer Kaiser seit der Daily Telegraph-Affäre auch nicht. Wie sollte also die notwendige Vennittlung zwischen Gesellschaft und Regierung geleistet werden? Der einzige Weg, den alle europäischen Staaten gegangen sind, die sich frei entwickeln konnten, ist der Parlamentarismus, und das scheint mir auch plausibel zu sein. Ob die Verweigerungshaltung der Parteien wesentlich mitverantwortlich dafür ist, daß sich in Deutschland das parlamentarische System nicht wirklich durchsetzen konnte, wage ich nicht zu entscheiden.

Boldt: Den preußischen Verfassungskonflikt beurteile ich ähnlich wie Sie, Herr Willoweit, ebenso die Neue Ära, die sich da mit ihren vorteilhaften Konsequenzen für das Parlament etablierte. Man kann in diesem Zusammenhang auch darüber spekulieren, wie die Geschichte weitergegangen wäre, wenn Wilhelm I. abgedankt hätte und Friedrich III. zur Regierung gekommen wäre. Das ist eine nicht völlig unsinnige Fragestellung. Aber Faktum bleibt jedoch, daß durch den Verfassungskonflikt so, wie er nun einmal verlaufen ist, die Entwicklung in einer bestimmten Weise weitergetrieben wurde. Preußischer Verfassungskonflikt und Reichsgrundung wie auch die Wende von 1878 - über die Gewichtung dieser Ereignisse kann man sich streiten - sind Merkpunkte, die zeigen, daß hier etwas entsteht, das sich quer zu der in Europa üblichen Demokratisierungs- und Parlamentarisierungsentwicklung legt. Das gilt unbeschadet dessen, daß der Reichstag in der Folgezeit an Bedeutung gewinnt. In dieser Hinsicht muß man klar unterscheiden zwischen dem Bedeutungszuwachs beim Parlament und den Chancen eines Übergangs zum parlamentarischen Regierungssystem. Ich habe das am Beispiel der Vereinigten Staaten zu verdeutlichen versucht. Ich könnte mir in diesem Zusammenhang vorstellen, daß sich die konstitu-

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tionelle Monarchie vielleicht auch in Deutschland als dauerhafter hätte erweisen können, wenn man sie als monarchisches Pendant zur PräsidialRepublik amerikanischen Musters ausgebaut hätte. Das müßte man noch weiter durchdenken. Was die Parteien angeht, so ist darauf hinzuweisen, daß sie mit dem System nicht unglücklich waren. Sie besaßen in ihm ein großes Maß durch Mitsprache, das sie auch energisch wahrgenommen haben. Sie waren daher - ich würde fast sagen durch die Bank - nicht daran interessiert, das für einen beträchtlichen Teil von ihnen höchst einträgliche System gegen eine ungewisse "parlamentarische" Zukunft einzutauschen, von der sie nicht wußten, was sie ihnen bringen werde. Wie werden die Mehrheitsbildungen in einem parlamentarisierten Reichstag ausgehen? Wer wird auf der Regierungsbank sitzen? Den Parteien drohte der Verlust des für sie so nützlichen Kontakts zur Regierung, wenn sie auf der Oppositionsbank landeten. Das gilt es, mit zu berücksichtigen. Ich halte Überlegungen dieser Art nach wie vor für das Bedenkenswerteste, wenn man verstehen will, warum es in der Vorkriegszeit nicht zum parlamentarischen Regierungssystem gekommen ist. Da war auf der einen Seite die monarchische Regierung, immer noch anerkannt und stark genug eine Parlamentarisierung abzublocken. Auf der anderen Seite haben die Parteien die Parlamentarisierung nicht zügig genug betrieben. Die Parteien hatten sich offenbar mehr volens als nolens im monarchischen System eingerichtet. Nur so erklären sich letztlich die eher zaghaften Parlamentarisierungsbemühungen im Weltkrieg. Auch als das Feld frei wurde, zeigten die Parteien keine beherzte Bereitschaft zur Übernahme der Regierung. Sie tasteten sich zunächst weiterhin nur vorsichtig voran. Fraglich bleibt dabei allenfalls, ob aus taktischen Gründen, weil man immer noch mit der OHL und dem Kaiser zu rechnen hatte und deshalb Vorsicht üben mußte, oder weil man nicht sonderlich überzeugt war, mit der Übernahme der Regierung in eigene Hände das Richtige zu tun. Daneben ist zu berücksichtigen, daß gerade die Parteien, die sich für eine Parlamentarisierung des Reichs interessierten, kein einheitliches Programm besaßen. Die Nationalliberalen, die 1917 gegen Bethmann Hollweg zu Felde zogen, hatten bekanntlich ganz andere Ziele als der Fortschritt oder die Sozialdemokratie. Zu einer parlamentarischen Majoritätsbildung war die damalige Anti-Kanzlermehrheit eben nicht zusammenzuspannen. Trotz allen Drangs zur Parlamentarisierung war deren Realisierung offenbar eben doch höchst schwierig.

Kühne: Zunächst ein kurzer Punkt als Aufklärung: Die Föderalismussperre gegenüber dem Parlamentarismus wurde interessanterweise unter einer Reichsverfassung eingesetzt, die keine Homogenitätsklausel kannte, aber gleichwohl gebieten sollte, daß Preußen und das Reich vom gleichen

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Regierungschef bzw. Ministerpräsidenten geleitet werden müssen. Nur wenn das zutraf, hatte eine Parlamentarisierung in Preußen und im Reich auszuscheiden, weil unterschiedliche Mehrheiten zustandekommen und die Identität von Reichskanzler und preußischem Ministerpräsidenten hätten zerstören können. Mein zentraler Punkt ist freilich, daß m. E. Ihr Sprechen vom Parlamentarismus, Herr Boldt, zu deskriptiv und in gewisser Weise unkritisch geblieben ist, wenn ich das so hart sagen darf. Das Modell des Hochkonstitutionalismus, oder konkreter des Märzkonstitutionalismus 1848-1849, ist nach meinem Dafürhalten ein Modell der ganz entschiedenen Zweieinheitlichkeit von Fürst und Volk. Dies als Parlamentarismus zu bezeichnen, erscheint mir nicht angängig. Sie mögen sagen, es sei eine Stufe dazu. Aber die Innentendenz ist doch anders zu bestimmen. Die 48er sind Leute von anerkannt hoher Gelehrsamkeit. Sie haben zwei große Erfahrungen internalisiert: Einmal die englische Revolution mit ihrem zeitweisen Parlamentsabsolutismus; zum anderen die französische Revolution mit ihrem über die Stränge schlagenden Parlamentsausschußwesen. Beides waren für sie inakzeptable Modelle. Deshalb ging es der Paulskirche entschieden darum, dem Kaiser das Regierungsernennungsrecht zu belassen, ihn dabei aber zugleich auch zur Rücksichtnahme auf das Parlament anzuhalten. Deshalb hat sie ein verfassungsrechtliches Kräfteparallelogram errichtet: Auf der Seite des Monarchen Regierungsernennung und Parlamentsauflösung, auf der Seite des Parlaments Gesetzes- wie Haushaltsverwerfungsrecht und eine praktikable juristische Ministeranklage. Dieses Modell der Zweieinheitlichkeit, das übrigens in der damaligen Zeit von verschiedenen Mittelstaaten bis 1849 praktiziert wird, ist genaugenommen das Modell einer Regierung mit monarchischem Korsett. Da wird Rücksicht auf die liberalen Führer, wie etwa Eberhard in Kurhessen, genommen. Aber der Kriegsminister und der Innenminister sind meist Fachminister, in Wahrheit natürlich treue Anhänger der Krone. Der Hintergrund dieses Modells ist eine Parlamentsphobie aus einer bestimmten historischen Erfahrung. Daneben haben wir im Deutschland der 48er und 4ger Zeit auch Fälle eines eindeutigen Parlamentarismus in dem Sinne, wie wir ihn heute kennen, bei dem das Parlament allein über das Wohl und Wehe der Regierung entscheidet, sie also einsetzte absetzte, wie es ihm gefiel. Diese Fälle waren aber eher Unfälle. Das waren die Fälle der badischen Revolutionsregierung und die zum Gespött gewordenen Reichsregenten des Stuttgarter Rumpfparlamentes. Wenn Sie auf der anderen Seite in ein damals als so demokratisch verschrieenes Ländchen wie Anhalt-Dessau schauen, so findet sich dort in der Verfassung eine extrem penible Bestimmung einer sich in vielen Stufen steigernden Regierungsbeeinflussung, die gerade zeigt, daß man nicht zum vollen Parlamentarismus übergehen wollte. Das hochkonstitutionelle Wunschmodell ist der Versuch, den König in eine Widerla12 Der Staat, Beiheft 10

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gerolle zu bringen, wenn Sie wollen, ein konsularisches Modell. Man vertraut auf eine gewisse Qualität des Monarchen, die ihn befähigt, zu gegebener Zeit das Richtige zu sagen und auch dem Volk, falls nötig, den Spiegel vorzuhalten. Daß diese deutsche hochkonstitutionelle Tradition weiterlebt, will ich noch ein wenig belegen: Da sind einmal die Emigrationserfahrungen der 48er. Ich nenne etwa Bucher, der in England die Parteikorruption kennenlernt (king's influence, Bestechung, Postenvergabe usw.), und darüber in seinen Schriften berichtet. Entsprechend findet sich in der "Rechtspolitik" von Rochau das klare Erkennen, daß auch im Westen Defizite zu beklagen sind. Rochau kritisiert neben der Parteienwirtschaft der USA auch ihre Sklavenhaltung und die Indianerverfolgung. Die Tendenz einer äußerst kritischen Parlamentarismusvorstellung durchzieht die deutsche Entwicklung unübersehbar. Man will keine volle Parlamentarisierung, weil man glaubt, damit eine Gewaltenteilungschance zu vertun und so den Rechtsstaatsgedanken zu beeinträchtigen. Nach der Daily Telegraph-Affäre hören wir im Reichstag den Ruf nach einer umfassenden Parlamentsreform mit folgendem interessanten Ansatz des Abgeordneten Haußmann: Art. 15 der Bismarckschen Reichsverfassung besage nur, daß der Kaiser den Reichskanzler ernenne; das lasse sich auch formell verstehen; denn auch wenn der Kaiser den Kanzler ernenne, so lasse Art. 15 es diesem unbenommen, sich vor seiner Ernennung mit den Parteien abzustimmen und sich dem Kaiser zu verweigern, wenn sich dabei ergibt, daß ihm das Vertrauen der Mehrheit fehlt. Man hätte also auch ohne Verfassungsänderung parlamentarisieren können. Warum taten die Parteien das nicht? Man schritt zwar auf der Geschäftsordnungsebene etwas weiter voran, blieb aber doch im Vorfeld der Parlamentarisierung bei einem bloßen Mißbilligungsantrag stehen, der in der Zabern-Affäre eine Rolle spielte. Die durchgängige Parlamentarismusphobie indessen wird weitertradiert. Herr Boldt hat auf das rechtsvergleichende Buch von Redslob "Die parlamentarische Regierung in ihrer wahren und ihrer unechten Form" hingewiesen. Redslob benutzt Frankreich als abschreckendes Beispiel, aus dem er herleitet, daß die echte Parlamentsregierung des Widerlagers eines starken übergeordneten oder nebengeordneten Präsidenten bedürfe. Das lieferte das Vorbild für das Weimarer Regierungssystem. Die preußische Verfassung von 1920, die - wie Möller das gezeigt hat - an sich parlamentarisch in unserem Sinne ist, wurde von zeitgenössischen Autoren deshalb als eher verunglückt bezeichnet. Das hochkonstitutionelle Modell in Deutschland mit seiner Phobie vor dem Parlamentsabsolutismus wirkt damit bis in die Weimarer Zeit weiter. Die klarere Parlamentarisierung enthält demgegenüber die Oktoberverfassung; das war eine angelsächsische Parlamentarisierungsform.

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Lassen Sie uns über die normative Situation hinaus noch auf wenige juristische Stellungnahmen blicken: Da sind einmal Meyer / Anschütz. Ihnen zufolge verpflichtete Art. 15 RV den Kaiser keineswegs, vor der Kanzlerernennung ui Konsultationen mit wem auch immer. Dasselbe kehrt interessanterweise in Anschütz' Kommentar zur Weimarer Verfassung in Bezug auf den zu keiner Konsultation der Parteien verpflichteten Reichspräsidenten wieder. Das ist klare Parlamentsphobie. Die Mindermeinung, die im Grunde als hochkonstitutionell zu qualifizieren gewesen wäre, vertrat Glum, der den Reichspräsidenten bei der Kabinettsbildung zur Fühlungnahme mit den Parteien verpflichten wollte. Noch eine letzte Bemerkung zur Stellung des Parlamentes im Kaiserreich. Der Reichstag, der immerhin ein bedeutendes Organ war, wird von der Rechtslehre als Volksvertretung eher verdrängt. Er sei Staatsorgan, aber kein gleichberechtigt mitsouveränes Staatsorgan. Gierke ist der einzige, der demgegenüber im Sinne der alten hochkonstitutionellen Vorstellung für Parität eintritt. Im ganzen also eine ganz eigentümliche Tradierung der hochkonstitutionellen Vorstellungen, von denen ich ausdrücklich im Widerspruch zum Referat sagen möchte, daß dies bei den Beteiligten mehr oder weniger bewußt in Distanz zum Parlamentarismus westlicher Prägung geschah.

Boldt: Ich empfinde Ihre Ausführungen, Herr Kühne, eigentlich nicht als gegen die meinigen gerichtet, weil ich darauf verzichtet habe, exakt zu umreißen, was ich mit dem parlamentarischen Gegenpol zum monarchischen Konstitutionalismus meine. Wenn ich vom Parlamentarisierungstrend oder - im Zusammenhang mit Robert von Mohl- bewußt nur von einer "Forderung nach parlamentarischer Regierungsteilhabe, in welcher Form auch immer" gesprochen habe, so meinte ich damit nicht, daß man dezidiert auf ein parlamentarisches Regierungssystem westlicher Art drängte, sondern etwas im Auge hatte, was für die deutsche Tradition stets signifikant gewesen ist: die Erweiterung des Parlamentsaufgaben über die Mitspracherechte bei der Gesetzgebung, Besteuerung und beim Budget hinaus zur Mitsprache bei der Regierungsbildung. So heißt es schon 1840, daß Vertrauensmänner des Volkes, also des Parlamentes, in die Regierung aufgenommen werden sollten. Das schloß nicht aus, daß es der Monarch war, der diese Vertrauensmänner auswählte. Das ist offenbar jene von Ihnen so genannte "Zweieinheitlichkeit", die Robert von Mohl noch 1852 als "Heilmittel" des Repräsentativsystems gepriesen hat. Diese, wie man sagen könnte, "reduzierte Form der Parlamentarisierung" spielte auch im Weltkrieg noch eine Rolle, wenn man vom "deutschen Parlamentarismus" sprach. Auch da setzte man sich noch mit solchen Vorstellungen bewußt von den westlichen parlamentarischen Systemen ab. Der Monarch sollte 12"

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bleiben, aber das Parlament wollte nicht nur ein Mitspracherecht bei der Regierungsbildung haben, sondern selbst in der Regierung mit Abgeordneten vertreten sein. Diese Sichtweise führte in der Tat zu einer der "Vorbelastungen" des Parlamentarismusverständnis in der Weimarer Republik, wo es zu jener eigenartigen Symbiose oder Entgegensetzung von Reichspräsident und Reichstag kam. Eine dezidiert andere, nämlich nicht-parlamentarische Gegenposition wurde dagegen auf konservativer Seite von Stahl vertreten, der sagt, es gebe nur eine Entscheidung für das monarchische oder das parlamentarische Prinzip; tertium non datur. Diese Behauptung wurde von liberaler Seite, die gerade auf das "tertium" aus war, im preußischen Verfassungskonflikt noch zurückgewiesen. Die Liberalen wollten nicht in einen Gegensatz zum monarchischen Prinzip gerückt werden. Sie lehnten zwar die Regierung Bismarck ab, die gegen sie agierte, wünschten aber dennoch eine monarchische Regierung, nur eben eine solche, die für Harmonie zwischen König und Parlament sorgte. Ich glaube, daß man von dieser Form von Parlamentarisierung der Regierung auch in der 48er Zeit auf Bundes- und Landesebene sprechen kann. Eine Parlamentarisierung war damals zweifellos eingetreten, denn andere Leute als Abgeordnete aus dem Frankfurter Parlament konnte man in die damalige Reichsregierung kaum entsenden. Auch die Praxis der Länder in den Märzministerien war ähnlich. Das wird Herr Botzenhart bestätigen. 1848 sagte die öffentliche Meinung: Es kommt jetzt die Zeit, in der - in welcher Weise auch immer - die Regierungen vom Parlament abhängig sein werden. Und so ist es dann auch gekommen. Wenn man das, was man zum Teil schon im Vormärz und dann 1848 und ebenso 1917/18 erreichen wollte, nicht als ein parlamentarisches Regierungssystem im heutigen Sinne bezeichnet, so ist das ganz richtig. Nur war es keine Bewahrung der konstitutionellen Monarchie im Sinne Stahls, sondern eine Form von Parlamentarisierung der Regierung, die konservative Autoren, wie eben Stahl oder Seydel, als nicht mehr konstitutionell abgelehnt haben. Für Stahl und Seydel war das kein Konstitutionalismus mehr, was für andere damals erst den "wahren Konstitutionalismus" darstellte. Und wie es verschiedene Vorstellungen davon gab, was noch als "Konstitutionalismus" oder als "konstitutionelle Monarchie" gelten durfte, so gab es auch unterschiedliche Vorstellungen vom Parlamentarismus. Mir ging es lediglich darum zu zeigen, daß viele Tendenzen in Richtung einer stärkeren Berücksichtigung des Parlamentes vorhanden waren, auch im Hinblick auf seinen Einfluß auf das Personal der Regierung. Überlegungen und Forderungen dieser Art tauchten in Deutschland immer wieder in neuen Variationen auf, so auch 1917/18. Was im übrigen die Parlamentarisierungsentwicklung in der Vorkriegszeit betrifft, so haben Sie, Herr Kühne, sehr zu Recht auf die Einführung des Mißbilligungsvotums in der Geschäftsordnung des Reichstags 1913

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hingewiesen. Aber auch sie stellte bezeichnenderweise keine Parlamentarisierung des Systems im heutigen Verständnis dar; es handelte sich dabei gerade nicht um ein echtes parlamentarisches Mißtrauensvotum, sondern um etwas, über das sich der Reichskanzler, wie die Zabern-Affäre gezeigt hat, ohne große Schwierigkeiten hinwegsetzen konnte. Ich würde deswegen vorsichtig sein, darin schon einen eindeutigen Schritt hin zum parlamentarischen System in unserem modemen Verständnis zu sehen.

Brandt: Ich möchte an das anknüpfen, was Herr Kühne gesagt hat. Konstitutionelle Monarchie ist die große allgemeine Formel, unter die im 19. Jh. sehr verschiedene politische Regime gefaßt werden. Nach 1815 ist sie zunächst eher ein System der Gesellschaftsdisziplinierung. Nach 1830 wird sie durch den aufkommenden Liberalismus zu einem Gehäuse politischer Emanzipation, wobei freilich der Primat der Staatsspitze gewahrt bleibt. Später treten dann - immer noch unter den gleichen juristischen Formeln- Tendenzen hinzu, die Macht der Parlamente auszudehnen. Aber die Rückversicherungen sind Legion, so daß die Abgeordneten selbstredend ihre parlamentarische Ungebundenheit bewahren, also niemals zu Agenten der Regierung werden. So geht es bis in die 60er Jahre, und es scheint gar nicht abzusehen, welche Formen des institutionellen Ausgleichs am Ende obsiegen werden. Erst die Bismarcksche Reichsverfassung hat diese Phase der Offenheit beendet. Ableitinger: Ich möchte emlge Bemerkungen aus der österreichischen Szene beisteuern. Herr Hamza könnte genauer berichten, wie es sich nach 1867 in Ungarn verhalten hat. Meines Wissens sind dort die Minister überwiegend aus dem Parlament gekommen, so daß man in Ungarn sehr wohl von einer parlamentarischen Regierungspraxis reden kann. In der westlichen Reichshälfte lagen die Dinge differenzierter. Ich stelle einige Überlegungen darüber an, wie sich das erklärt: Man kann feststellen, daß es gleich 1868/69, also nach dem Dualismus von 1867, eine parlamentarische Regierung gab, in der die Mehrzahl der Minister inklusive des Innenministers Parlamentarier waren. Dann folgte eine Unterbrechung bis 1871, weil es noch einmal einen sehr heftigen Verfassungskonflikt gegeben hat, bei dem es um die Frage Zentralismus-Föderalismus gegangen ist. Anschließend hatten wir bis 1879 eine halbparlamentarische Regierung mit wenig parlamentarischen Ministern und vor allem mit weniger Durchschlagskraft gegenüber dem Monarchen. Dann kam es zu Kümmerformen der bloßen Präsenz von Parlamentariern in der Regierung, insbesondere von Landsmann-Ministern aus Galizien oder von Ministern, die von den polnischen oder tschechischen Parteien gestellt wurden; manchmal handelte es sich bei ihnen um Parlamentarier, manchmal nicht. Diese Minister gehörten der Regierung sozusagen als Vertrauensleute von Parlaments clubs an. Sie

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erhielten keinen Geschäftsbereich. Aber sie übten eine Art Aufpasserfunktion aus, jedenfalls was die Themen betrifft, die für ihre Region bzw. für ihre parlamentarischen Clubs relevant waren. Dann gab es 1898/99 einen tschechischen Finanzminister und einen deutschen Handelsminister in einer Regierung, die sich im übrigen sonst aus hohen Bürokraten zusammensetzte, und dann vor allem eine semiparlamentarische Regierungskonstruktion, die 1906/07 das allgemeine Wahlrecht durchsetzte. Diese Regierungskonstruktion wurde nach den Wahlen beibehalten, nun zusätzlich unter Beteiligung der durch das neue Wahlrecht gewichtiger gewordenen Parteien, z. B. der Christlich-Sozialen. Dieser Parlamentarisierung waren deutliche Grenzen gezogen. Denn die Ministerpräsidenten selber sind nie Parlamentarier gewesen. Es kommt hinzu, daß das Außenministerium und das Kriegsministerium nie Teil der Regierung gewesen sind. Sie gehörten zur sog. Gemeinsamen Regierung, in der es aber keine Parlamentarier - weder Ungarn noch Österreicher -, sondern nur Vertrauensleute des Kaisers gegeben hat. In der österreichischen Regierung saß ein Landesverteidigungsminister für die österreichische Unterarmee; auch er kam aus dem Bereich des Militärs, nicht aus dem Parlament. Beim Innenminister war das nicht ganz so eindeutig. Ich habe den Eindruck gewonnen, daß die das Parlament damals beherrschenden Liberalen es als Reflex der Vorgänge von 1867 nach 1868/69 als selbstverständlich nahmen, daß sie jetzt an die Regierung kamen. Nur der Ministerpräsident durfte kein gewählter Parlamentarier sein; er mußte zum Hochadel gehören, damit der Kaiser leichter mit ihm verkehren und sich bei feierlichen Anlässen leichter mit ihm zeigen konnte. Die Akzeptanz solcher wenigstens teilweise parlamentarischen Regierungen half, mit nicht allzu extremen Krisensituationen zurechtzukommen. Das war offenbar 1868/69 der Fall, als der Zusammenhalt aufs Äußerste belastet gewesen ist. Das ist ganz deutlich 1898/99 zu sehen, als der Nationalitätenkonflikt um sprachenrechtliche Fragen eine erste sehr bedrohliche Zuspitzung bekommen hatte; als Reaktion darauf wird versucht, je einen Vertrauensmann aus dem tschechischen und dem deutschen Parlaments club in die Regierung zu ziehen, in der Hoffnung, die Krise in den Griff zu bekommen. Das wird in der Regierung des Barons Beck 1906/1908 noch deutlicher, in die bewußt Vertreter der wichtigsten tschechischen, deutsch-österreichischen und polnischen Parteien aufgenommen wurden. "Nationale Ausgleichskonferenz in Permanenz" war dafür das Stichwort. Aufgrund des Wahlresultats wurde eine Umbildung vorgenommen. Damit reagierte die Krone auf die Krise mit der Demokratisierung der Regierung in einem positiven Sinne. Es ist ganz charakteristisch, woran die letzte dieser Regierungen gescheitert ist. Sie hat versucht, zur Annexion Bosniens und Herzegowinas 1908 eine prononcierte Meinung abzugeben. Darüber ist sie letztendlich gestürzt

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worden, obwohl es natürlich auch genug innenpolitischen Konfliktstoff gab. Der Außenminister argumentierte in einer Denkschrift massiv gegen den Ministerpräsidenten, der die staatliche Verwaltung den Parteien überantwortet und sie so entstaatlicht habe. Damit drang er beim Kaiser durch, der einer so verfaßten Regierung keine außenpolitische Mitkompetenz einräumen mochte. Der Föderalismus als Bremse spielt in Österreich keine Rolle, wenn man als seine Elemente die Länder nimmt. Die Länder hatten in Österreich keine Kompetenzen zur verfassungskonformen Mitwirkung auf der zentralen Ebene. Es machten sich nur die politischen Exponenten der Regionen bemerkbar. Das waren die Nationalitätenvertreter, die gerade die Regierung Beck trugen. Regionaler Einfluß wirkte also, wenn überhaupt, so nur fördernd, nicht hinderlich auf die Demokratisierung der Regierungen ein. Regionale Interessen, in Cisleithanien vor 1914 stets zugleich spezifisch nationale, wurden - da sie anders in den Verfassungsinstitutionen nicht geltend gemacht werden konnten und somit auf die bloße Fürsorge durch den traditionalen bürokratischen Staatsapparat des Monarchen angewiesen blieben - via Parlament und, tendenziell wirksamer, via Parlamentarisierung der Regierung vorgetragen. Das aber funktionierte nur, wenn es sich nicht um die Regierung einer parlamentarischen Mehrheit handelte, die notwendigerweise eine nationale war und zur Majorisierung der (nationalen) Minderheiten neigte. Die Regierung mußte (wie die Regierung Beck) als Konzentrationsregierung der drei gewichtigsten Nationalitäten und ihrer Hauptparteien verfaßt sein.

Barmeyer: Bei der Beurteilung des deutschen Konstitutionalismus -eigenständige Sonderform, deutscher Sonderweg oder Übergangsform - ist m. E. stärker zu berücksichtigen, daß Parlamentarisierung und Demokratisierung nicht notwendig zusammengehen müssen. Sie können durchaus auch getrennt und unabhängig voneinander durchgesetzt werden. Dies ist gerade in der deutschen Situation von großer Bedeutung, wo einem demokratisch gewählten Reichstag ein auf dem Dreiklassenwahlrecht basierendes preußisches Abgeordnetenhaus gegenüberstand. Bekanntlich hat Bismarck das demokratische Wahlrecht auf Reichsebene - genauer gesagt schon 1867 für den Norddeutschen Reichstag - aus antidemokratischen Gründen eingeführt. Mit der Einschätzung des Wählerverhaltens lag er für die 60er Jahre vermutlich noch gerade richtig; breite, noch nicht industrialisierte Bevölkerungskreise wählten monarchisch-staatstragend. Die soziale und politische Entwicklung lief Bismarcks Intentionen aber zuwider. Die Liberalen, die nach ihrer politischen Herkunft Anwalt eines starken Parlaments sein mußten, gleichwohl jedoch, überwiegend aus dem Bürgertum rekrutiert, bestimmte soziale und wirtschaftliche Interessen verteidigten, haben sich besonders schwer getan, eine klare politische Linie in Fragen

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von Parlamentarisierung und Demokratisierung zu finden. Ihre parlamentarische Stärke in Preußen beruhte gerade auf dem Zensuswahlrecht, während die Wahlentwicklung im Reich eher zu ihren Ungunsten verlief. Die häufig kritisierte Tradition eines starken Staates, die in Deutschland bei allen Parteien vorhanden war und in der Bismarckzeit fortgesetzt und verstärkt wurde, findet sich paradoxerweise sogar noch bei engagierten Befürwortern einer Parlamentarisierung, z. B. bei Max Weber. Er und andere Väter der Weimarer Verfassung haben im Wunsch, das Parlament sicher zu verankern, gleichzeitig aber von der Skepsis gegenüber dem Parlament erfüllt, für Weimar neben dem Parlament die Position des plebiszitär gewählten starken Reichspräsidenten als "Hüter der Verfassung" installiert und so die nach Bracher verhängnisvolle dualistische Verfassungs struktur Weimars geschaffen. Aus diesen Beobachtungen hinsichtlich der strukturellen Gegebenheiten und der fortwirkenden - auch mentalen- Traditionen in Deutschland und Preußen würde ich sehr zurückhaltend hinsichtlich angeblich vertaner Chancen der übergangenen Generation Friedrichs III. sein. Hier liegt die Gefahr einer unzulässigen Personalisierung. Es gibt auch wenig Anhaltspunkte aus den 99 Tagen der Regierung Friedrichs III., die auf eine energische Liberalisierung schließen lassen. Dies war angesichts der persönlichen Situation des todkranken Kaisers auch kaum zu erwarten. Anders steht es um Spekulationen über Chancen des Liberalismus eine Generation früher, wie sie Herr Boldt in seiner Antwort auf Herrn Willoweits Frage nach dem preußischen Verfassungskonflikt angestellt hat. Im preußischen Verfassungskonflikt wurden wohl in der Tat zur Unzeit Entwicklungsmöglichkeiten abgeblockt und Weichen für eine deutsche Sonderentwicklung gestellt.

Krüger: Ich möchte nach einmal ganz kurz auf den Föderalismus eingehen, damit hier nicht eine falsche Argumentation oder ein Streit um eine so gar nicht existierende Sache entsteht. Die Frage ist nicht, ob der Föderalismus eine Barriere gegen eine parlamentarische Entwicklung des Kaiserreichs gewesen ist. Es geht darum, um welche Form von Föderalismus es sich handelte: Ob der Bundesrat nur wegen seiner Funktion als föderatives Organ der Parlamentarisierung hinderlich war und ob er wirklich als typisch föderalistisches Organ bezeichnet werden darf, kann man wohl mit Recht bezweifeln. Darauf möchte ich im einzelnen nicht weiter eingehen. Aber auf diesen Aspekt der Reichsverfassung sind ausländische Beobachter, vor allem aus den USA, kritisch eingegangen. Sie haben nach 1871 darauf hingewiesen, daß eine Weiterentwicklung der Verfassung eine wie auch immer geartete Auflösung Preußens vorausgesetzt hätte. Dieser Gigant im Reich stand gegen jede föderative Ordnung. Mit ihm war ein homogen strukturierter moderner Föderalismus nicht zu erreichen. Viele spätere Vorbehalte und Animositäten gegen den Föderalismus beruhten auf

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der speziellen Konstruktion des Bundesrates und - Herr Boldt sprach von den weiterreichenden Wirkungen der RV 1871 - hinterließen ein unklares oder gebrochenes Verhältnis zum Föderalismus. Einen weiteren interessanten Aspekt hat Herr Boldt im Zusammenhang mit den Tendenzen zum Volkskaisertum angedeutet. Er hat zu Recht einerseits die staatenbündischen Elemente und andererseits die Rolle des Kaisers, insbesondere ab den 90er Jahren unter Kaiser Wilhelm II., betont. Es lohnt auch hier, auf das Ausland und die dortigen Beobachtungen zu schauen. Es wurde immer wieder die Hoffnung geäußert, daß sich der Kaiser wirklich zu einem erblichen Präsidenten im amerikanischen Sinne wandeln werde. Man wies auf die gesamte Politik der frühen 90er Jahre hin und folgerte aus ihr, es sei tatsächlich das Bestreben Wilhelms II., sich eine direkte Legitimation durch die Gewinnung aller Schichten des Volkes und durch plebiszitäre Elemente zu sichern. Darin lag für die Amerikaner die aufregende neue Tendenz der deutschen Entwicklung im weiteren Verlauf bis 1914. Auch das wirkte auf die Einengung der Alternativen und der Optionen.

Boldt: Ich bin Herrn Krüger für diese letzte Bemerkung sehr dankbar. Daß die Entwicklung auch im Ausland so gesehen wurde, ist interessant. Dabei taucht allerdings die Frage auf, ob es "strukturell", von den Umständen her gesehen, möglich gewesen wäre, daß sich so etwas wie eine "erbpräsidentielle" Alternative in Deutschland hätte herausbilden können. Was die von Ihnen noch einmal angeschnittene Frage: Föderalismus und Parlamentarisierung anlangt, so habe ich mich am Anfang unserer Diskussion vielleicht hinreißen lassen, die Bedeutung der föderativen Struktur des Reichs für die so zögernd einsetzende Parlamentarisierung zu stark herunterzuspielen. Das ist sicherlich vertretbar im Hinblick auf den Bundesrat, der im Laufe der Entwicklung des Kaiserreichs immer mehr an Gewicht verlor und ein Fortschreiten auf dem Wege der Parlamentarisieurng nicht verhindern konnte. Wie wenig es am Ende auf den Bundesrat ankam, zeigt sich daran, daß bei der Einführung der Oktoberverfassung 1918 der Artikel 9 der RV 1871, der bis dahin als derjenige galt, der die Parlamentarisierung des Reichs verhinderte, gar nicht geändert werden mußte. Er spielte offenbar keine Rolle mehr. Gewichtiger dagegen ist - worauf mehrfach hingewiesen wurde - das Problem Preußens als des hegemonialen Bundeslandes. Man muß sich überlegen, wie die angesichts der Stärke Preußens notwendige Verbindung von Preußen und Reich nach der Parlamentarisierung der Reichsregierung hätte weiter funktionieren können und was die Parlamentarisierung z. B. für die wichtigen personellen Verbindungen von Reichsregierung und preußischer Regierung bedeutet hätte. Beachtet man das, so wird verständlich, daß Preußen mit seinem ganz anderen Wahlrecht und seiner anderen politischen Struktur eine einfache Parlamentarisierung auf

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Reichsebene problematisch machte. Die "Neuorientierung" der Reichsverfassung im Weltkrieg war nicht von ungefähr mit einer Veränderung des preußischen Wahlrechts verbunden worden. Aber auch eine Homogenisierung des Wahlrechts hätte nicht alle Differenzen zwischen dem Reich und Preußen, selbst bei gleichzeitiger beiderseitiger Parlamentarisierung, beseitigt, wie die Weimarer Republik das zeigt. Herr Brandt hat meine Ausführungen in interessanter Weise ergänzt, dazu brauche ich wohl nichts mehr zu sagen. Mit Frau Barmeyer stimme ich wohl ebenfalls überein; ich möchte nur auf eines hinweisen: Wenn ich in der Diskussion davon gesprochen habe, wie es gewesen wäre, wenn Friedrich III. an die Regierung gekommen wäre, meinte ich nicht die 90 Tage, auf die Sie anspielen. Da war es für einen neuen Kurs, auf den eine ganze Generation vergeblich gehofft hatte, schon zu spät; Friedrich hätte ihn selbst dann wohl kaum einschlagen können, wenn er länger regiert hätte. Mich interessiert dabei vor allem die Frage, wie es gekommen wäre, wenn Wilhelm I. im preußischen Verfassungskonflikt abgedankt hätte und Friedrich schon 1863 zum Zuge gekommen wäre. Die Regierung Bismarck hätte das mit Sicherheit nicht überlebt. Es wäre eine liberale Regierung mit starken Verbindungen zur Mehrheit im Landtag gebildet worden, eine gemäßigt konservativ-liberale Allianz wie zur gleichen Zeit in Italien, allerdings wohl ohne einen Cavour. Ob das zu einer dauerhaften parlamentarischen Regierungsweise geführt hätte, bleibt zwar eine offene Frage. Dennoch möchte ich auf diese damals naheliegende Alternative hinweisen. Allein, daß man für diesen Fall eine grundsätzlich andere Entwicklung in Betracht ziehen muß, scheint mir für die auch im strukturellen Sinne ambivalente Situation der Zeit bezeichnend zu sein. Im übrigen möchte ich ganz besonders Herrn Ableitinger für seine Ausführungen danken, weil mir das Gelegenheit gibt, auf etwas hinzuweisen, was ich schon im Referat hatte anklingen lassen und was mir, wie man so schön sagt, ein grundsätzliches Anliegen ist, nicht nur im Zusammenhang mit meinem Referat, sondern mit unserer Arbeit überhaupt: Ich gebe zu bedenken, daß wir noch sehr viel fruchtbarer zusammenarbeiten könnten, als wir es ohnehin schon tun, wenn wir stärker die vergleichenden Aspekte der Verfassungsgeschichte in unsre Vorträge und Diskussionen einbeziehen würden. Manches, auch an der deutschen Entwicklung, die uns natürlich besonders interessiert, wird dann besser verstehbar und kann fruchtbarer diskutiert werden. Wenn man Alternativen und damit die spezielle Bedingungslage der eigenen Entwicklung sieht, können manche Probleme zwar nicht gelöst, aber in ihrer Bedeutung besser eingeschätzt werden. Wir sollten daher tatsächlich versuchen - wenn ich das despektierlich formulieren darf -, unsere Nabelschau einschränken, um unseren Nabel besser kennenzulernen.

Zusammenfassende Aussprache Leitung: Peter Moraw, Gießen

Moraw: Herr Boldt erleichtert mir das Umschiffen der Wendemarke von der Aussprache über die einzelnen Referate zu einer generellen Erörterung dessen, was sich aus den Referaten für das Gesamtthema unsrer Tagung ergeben hat. Dieses Thema war wohl - das kann man resümieren problematischer als der Inhalt der Tagung. Der Vorstand hat den Referenten eine Zuspitzung des Wendemarken-Aspekts auferlegt. In der Diskussion ist dann wieder "entspitzt" und zugeordnet worden. Genau das lag in der Absicht des Vorstands. Absicht war auch, daß zum Thema" Wendemarken in der deutschen Verfassungsgeschichte" Kontinuitäten und langfristige Prozesse hinzutraten. Das umgekehrte Thema "Kontinuitäten in der deutschen Verfassungsgeschichte" hätte gezwungen, korrigierend von Wendemarken zu sprechen. Immerhin hat sich herausgestellt, daß es in der Tat Wendemarken gegeben hat, wenn auch nicht allzu viele. Weil das Mittelalter aus Zeitnot nur gerafft und vom Ende her beobachtet werden konnte - darüber kamen der Investiturstreit und auch die Krise in der Stauferzeit zu kurz -, hat sich wohl die Zeit um 1800 als diejenige erwiesen, in der sich die Verfassungsgeschichte am entschiedensten gewendet hat. Ich nenne nur das Stichwort "moderne Staatlichkeit"; der Wegfall der Reichsverfassung schaffte die innere Souveränität als Voraussetzung des modernen Staates. An zweiter Stelle ist dann aber doch das Zeitalter zu nennen, das etwa von 1470 an zu datieren ist. Man sollte das auch deshalb so sehen, weil beide Phasen, die Epoche von 1770 an und die Epoche von 1470 an, durch Beschleunigungsprozesse gekennzeichnet sind, die mir persönlich wichtig zu sein scheinen. Wie es mit den Zäsuren von 1918 oder 1945/1950 steht, will ich offen gelassen, weil bei Ihnen meine Zuständigkeit endgültig erloschen ist. Aber es ist vielleicht nicht nur dem Zufall zuzuschreiben, daß gerade diese Termine unerörtert geblieben sind. Das weist darauf hin, daß sich unser Thema notwendigerweise im Umfeld anderer Themen bewegt hat, die mitbedacht werden müssen, wenn wir zu einem schlüssigen Ergebnis kommen wollen. Ich erwähne vier Punkte, die in der Diskussion zum Vorschein gekommen sind. Herr Willoweit hat gestern vom Machtstaat gesprochen, man könnte auch vom individuellen Machtwillen reden, der die "Logik" der Verfassungsgeschichte in Frage

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stellt. Zweitens ist das Problem, das mit "Sozialpsychologie", mit "politischer Kultur" oder mit "Zeitgeist" zu umschreiben ist, die Frage also, wie das geistige Umfeld beschaffen war, nur kurz angetippt worden. Zum dritten geht es um die Eliten-Frage. Wer waren die Leute, die die Verfassungsgeschichte getragen und "erlitten" haben? Endlich könnte man ganz nach unten gehen, die Basis gewissermaßen noch weiter verbreiternd von allgemeinen Prozessen reden, die sicherlich auch etwas mit unserem Thema zu tun hatten: von Prozessen aus der Sozialgeschichte, aus der Wirtschaftsgeschichte und anderswoher.

Kühne: Herr Schmidt ist zu dem Ergebnis gekommen, daß der Westfälische Frieden das Reich keineswegs überflüssig gemacht, aber dessen Staatswerdung blockiert und seine Umwandlung in eine absolute Monarchie ausgeschlossen hat. Hier ist ein Vergleich der deutschen mit der Entwicklung in England und Frankreich notwendig. Dieser Vergleich führt zu differenzierteren Aussagen darüber, warum das Deutsche Reich, dessen Verfassung nachdrücklich in einen Europäischen Friedenskontext gehört, aus der innerdeutschen Sicht bis auf den heutigen Tag als zweitrangig oder - um mit Pufendorf zu reden - als abnorm angesehen wird. Auch das Referat von Herrn Würtenberger lädt zum Vergleich ein. Es hat hinsichtlich des Verfassungsbegriffs eine deutliche Kontinuitätslinie herausgearbeitet. Wie aber reimt sich das mit der Beurteilung des Reichs im vorrevolutionären Frankreich, das die Reichsverfassung sehr positiv eingeschätzt hat? Für den AbM de Saint-Pierre, für Montesquieu und Rousseau war Deutschland ein Faszinosum. Montesquieu hat das Staatsrecht der Deutschen als ein Staatsrecht der Europäer bezeichnet, das ausgebaut zu werden verdient. In den USA war das Reichskammergericht Vorbild für den Supreme Court. In einem Brief von Madison an Jefferson heißt es, die soeben fertiggestellte amerikanische Verfassung sei eine Variante der Verfassung des Heiligen Römischen Reiches, zum einen wegen des Reichskammergerichts, zum anderen wegen des Föderalismus. Nach der Revolution wird Deutschland dann negativ bewertet. Aus ausländischer Sicht ist seine Verfassung nun kein Modell mehr. Wo bleibt da die Kontinuität? Hätte man nicht schärfer auf einzelne verfassungsrechtliche Grundbegriffe abstellen müssen? Zum Freiheitsbegriff beispielsweise sei nur angedeutet, daß er im Frankreich von 1789 eine erheblich stärkere individualistische Ausprägung als in Deutschland besaß. In der nachrevolutionären Diskussion ist der deutsche Freiheitsbegriff belastet durch den Einfluß individualistischer französischer Komponenten; die Geschlossenheit, die ihn vor der Revolution ausgezeichnet hatte, war verlorengegangen. Auch das Stichwort Volkssouveränität verdient Erwähnung. Herr Würtenberger hat es in den Zusammenhang mit Justis "Grund-

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gewalt" gestellt. Das halte ich für gewagt. Die Volkssouveränität war in Frankreich ein gegen die monarchische Souveränität gerichteter Kampfbegriff. In Deutschland hat man ihn anders gebraucht; man brachte ihn mit dem Ideal des aufgeklärten Monarchen zur Deckung. Ähnlich verhält es sich mit dem Konstitutionalismus. Dieser Begriff wurde in Deutschland zwar mit gewichtigen Annäherungen an das übernommen, was er in Frankreich und in den Vereinigten Staaten bedeutet hat. Aber er wurde mit dem Element des Altständischen befrachtet; Gentz stand darin nicht allein. Die Versuche einer Sicherung vor zu starken Konstitutionalismusforderungen holten breiter aus. Dies alles zeigt m. E., daß bei vergleichender Betrachtung Herrn Würtenbergers Kontinuitätsthese wohl doch einer erheblichen Relativierung bedarf.

Willoweit: Ergänzend zu den von Herrn Kühne angesprochenen vergleichenden Aspekten möchte ich auf die Besonderheit der deutschen Monarchie aufmerksam machen. Die deutschen Monarchen waren vor 1806 die Garanten von Freiheit, Partikularität, landschaftlicher Individualität und Kultur. Sie sorgten für die Kleinräumigkeit, die Nähe und Identifikationsmöglichkeit schafft, die in Frankreich im Hinblick auf den fernen König in Versailles unvorstellbar waren. Was den Zeitgeist angeht, den Herr Moraw angesprochen hat, so scheint mir in der Tat die Wende vom 18. zum 19. Jh. einen neuen Geist ins Leben gerufen zu haben. Was Herr Ullmann uns heute gezeigt hat, ist ein in die Realität umgesetztes Programm aufgeklärter Forderungen. Theorie wird Wirklichkeit, weil sich die Mentalität geändert hat. Das verstärkt den Eindruck einer enormen Wende. An dieser Zeit ist die schärfste Zäsur dingfest zu machen. Ich frage mich, ob diese Wende ein Modell auch für andere Wendezeiten hergibt? An der Wende vom 15. zum 16. Jh. beobachten wir zwar wenig Drang nach großen neuen Theorien, wohl aber einen beachtlichen Drang nach mehr Rationalität. Handelt es sich bei den verfassungsgeschichtlichen Wenden etwa um Rationalitätsschübe? Man denke z. B. an den Investiturstreit und die Stauferzeit; auch da begegnen wir einem okzidental-europäischen Rationalitätsschub. Vielleicht läßt sich sogar der Weg von der konstitutionellen Monarchie zum Parlamentarismus so verstehen? Schrittweise werden traditionelle Autoritäten aufgegeben im Interesse von mehr Rationalität, Durchsichtigkeit, Diskussion, schließlich Pluralismus.

Moraw: Mit der Zeit um 1470 verhält es sich komplexer, weil Legitimität und das, was faktisch passiert, auseinandertraten. Im Mittelalter mußte das Neue in den Mantel des Alten schlüpfen. Die Rationalität des Neuen reichte nicht aus, um eine neue Legitimität stiften zu können. Darum durfte es sich

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nicht als etwas Neues zu erkennen geben. Legitimität konnte es nur aus seinem Anknüpfen an das Alte gewinnen. Man hat sich daher nicht zu seinen Neuerungen bekannt, sondern auf das aus der Vergangenheit Überkommene zurückverwiesen. Es liegt auf der Hand, daß aus diesem Grunde die Wenden des Mittelalters weniger deutlich hervortraten als die der Neuzeit, über die offener geredet worden ist.

Würtenberger: Ein ganz wichtiges Phänomen, an dem wir eine Wendemarke festmachen können, ist die neue bürgerliche Öffentlichkeit, die den Zeitgeist zum Sprechen bringt und dabei selbst fest daran glaubt, von ihm beeinflußt und angetrieben zu sein. Dieser Zeitgeist ist rechtlich und politisch enorm aufgeladen. Dies ist etwas von dem Neuen, das uns um 1800 entgegentritt. Der Zeitgeist wird als ein sozialpsychologisches Element bewußt und entfaltet zugleich damit seine treibende Kraft. Steiger: Ich schließe mich in etwa an das an, was Herr Willoweit und Herr Moraweben gesagt haben. Wenn wir von Wendemarken sprechen, so ist methodisch zu fragen, ob das, was im Rückblick als Wendemarke erscheint, auch zeitgenössisch als Wendemarke empfunden worden ist. Herrn Moraws Bemerkung verführt mich zu dieser Frage. Gestern war von der Reformation die Rede. Auch sie war gerade nicht als etwas Neues, sondern als Rückkehr angelegt. Daß sie zu etwas umstürzend Neuem geführt hat, mag sein; gewollt war das nicht. Beim Begriff der Revolution im 17. Jh. ist ähnliches zu beobachten. Man meint stets zu etwas Altem zurückzukehren; es wird aber etwas Neues und erscheint für uns dann als Wendemarke, als die es die damalige Zeit keineswegs verstanden hat. 1789 liegen die Dinge anders. Die französische Revolution wurde wirklich als Wendemarke empfunden und gefeiert, obwohl auch sie aus einer Kontinuität herausgewachsen ist. Wenn man Kontinuität und Wendemarke gegeneinander setzt, dann ist das vielleicht nichts weiter als nur die Frage, unter welchem Blickpunkt wir die Vorgänge betrachten. Es ist etwas anderes, ob wir im Nachhinein feststellen, daß sich eine Entwicklung vollzogen hat, oder ob diese Entwicklung von denen, die sie miterlebt haben, bewußt vorangetrieben worden ist. Herr Würtenberger hat auf den Zeitgeist hingewiesen, den die Zeit selbst wahrnimmt und definiert. Wenn man von Wendemarken spricht, muß das m. E. den Ausschlag geben. Moraw: Es scheint mir völlig legitim, eine Wendemarke von der Gegenwart her zu verstehen. Man muß sich dessen nur bewußt sein und es auch sagen. Es stand auch den Referenten frei, so zu verfahren. Unter den nicht unproblematischen Verhältnissen um 1500 muß man, was die Kommunikations- und die Einsichtsmöglichkeiten von heute angeht, von einem schrittweisen Erkennen der neuen Situation sprechen. Es ist bei mir eine Arbeit

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im Gang über den Reichstag von 1495, die erstmals analysiert, was da konkret vorgefallen ist. Die Teilnehmer dieses Reichstags, der mehrere Monate dauerte, hatten am Ende ein anderes Bewußtsein als am Anfang. Wir können das daran erkennen, daß sie eine andere Sprache redeten und andere Begriffe verwendeten. Sie haben auch nach Hause geschrieben: "Ihr versteht nicht mehr genug von dem, was hier stattfindet. Wir allein haben den Überblick und kennen die Dinge besser, als Ihr sie kennen könnt". Das ist womöglich in der deutschen Geschichte das erste Mal, daß man dies so deutlich beobachten kann. Drum ist es erlaubt, 1495 für ein "Normaljahr" zu halten. Denn man rekurriert später immer wieder auf die Situation dieses Jahres. Auch das ist in meinen Augen ein Zeichen dafür, daß man jene Situation als eine ungewöhnliche Situation hervorhob. Im Überlieferungskorpus der Reichsgrundgesetze standen schließlich die Texte von 1495 unmittelbar nach der Goldenen Bulle. Es geht bei alle dem um den Umgang mit Geschichte insgesamt. Ich bin der Meinung, daß es in der Tat Entwicklungen gibt, die sich durch ihre Unumkehrbarkeit auszeichnen. Es lernten fortwährend mehr Leute lesen und schreiben; es vermehrten sich diejenigen, die kompliziertere Texte verstehen konnten. Das führte auf die Dauer dazu, daß man auch komplexer dachte. Das kann man für die Zeit um 1495, von der so viel gesprochen worden ist, mit Hilfe der italienischen Gesandtschaftsberichte über diesen Reichstag beweisen; die Berichte sind um mehrere Generationen moderner und intelligenter ausgefallen als die Versuche der Deutschen, selbst zu formulieren, was sie getan haben. Der jahrhundertelange Vorsprung Italiens an Schriftlichkeit, Rechtswesen und dgl. machte sich bemerkbar. Überträgt man das auf die allgemeine Situation, dann gab es wirklich eine Entwicklung von einem Punkt zum anderen, die trug, was wir als Wendemarken bezeichnen.

Rückert: Wenn man Wendemarke als Begriff benutzt, der das "Davor" vom "Danach" unterscheidet, dann wird dieser Begriff unergiebig, weil man nicht genau weiß, wo man aufhören und wo anfangen soll. Füllt man diese Sprechweise dagegen inhaltlich mit "moderner Staatlichkeit", wie das Herr Ullmann getan hat, dann hat man etwas Prägnantes in der Hand. Ohne Typologie und inhaltliche Konkretisierung kann man daher über Wendemarken nicht reden. Deshalb muß ich meine Enttäuschung darüber bekunden, daß ich zu den Wendemarken des Mittelalters noch nichts an Typologie gehört habe und deswegen auch nicht weiß, ob sie wirklich Wendemarken sind. Im übrigen noch eine Ergänzung, die rechtshistorisch nicht ganz unwichtig ist: Ein Element, das auch bei Herrn Ullmann nicht aufgetaucht ist, ist die Rolle des Rechts. Liefert das Recht nicht ebenfalls einen mit Inhalt gefüllten Beitrag zu der Frage nach den Wendemarken? Ich halte z. B. das

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Verschwinden des Rechtsquellenpluralismus des ius commune etwa um 1800 für einen wichtigen Vorgang, der für die Rechtsgeschichte Wendemarkencharakter haben könnte. Das Allgemeine Landrecht hat zwar kodifiziert und zusammengefaßt. Aber es steht bekanntlich noch unter dem Vorbehalt des Weitergeltens der Provinzialrechte. Es hat es also noch nicht geschafft, den Quellenpluralismus zu beseitigen. Was dagegen 1808 - dieses Datum wurde m. E. zuwenig genannt - in Westfalen und in Bayern geschah, war der erste Versuch eines zentralen hierarchischen Rechtsquellensystems. Darin sehe ich einen wichtigen Punkt, der gut in die Kategorie "moderne Staatlichkeit" paßt. Ich schlage vor, das in unsre Diskussion einzubeziehen. Vielleicht hilft das Recht auch bei der typologischen Verankerung der Wende um 1500.

Schindling: Auch ich bin ein großer Anhänger der Zäsur um 1500. Vor etwa 30 Jahren hat es eine Debatte darüber gegeben, ob man das späte Mittelalter und die frühe Neuzeit zusammenfassen und die beim Beginn der Neuzeit anzusetzende Zäsur nivellieren sollte. Diese Diskussion ist zu einer differenzierteren Bestätigung dieser Zäsur zurückgekehrt. Herr Moraw hat das aus der Sicht des Mediävisten soeben bestätigt. Wichtiger bei der Zäsur um 1500 ist die Veränderung in der Wahrnehmung. Was Herr Moraw über die rasche Veränderung von Redeweisen und Begriffen während des Reichstags von 1495 ausgeführt hat, kehrt in Kosellecks Konzeption von der Sattelzeit in der politisch-sozialen Sprache auch am Beginn der Neuzeit wieder. Der Humanismus hat sicher eine Veränderung der Wahrnehmung gerade auch für politische Phänomene gebracht. Thomas Nipperdey hat in einem Aufsatz über "Die Utopie des Thomas Morus" nachgewiesen, daß das utopische Denken eine neue Dimension des politischen Wahrnehmens bedeutet. Das hatte gewiß Rückwirkungen auf die Verfassungsgeschichte. Der zweite wichtige Bereich zu Beginn des 16. Jh. ist natürlich die Religion. Was für die Teilnehmer am Wormser Reichstag von 1495 gilt, gilt auch für Martin Luther und seine Kontrahenten in den Jahren von 1517 bis 1521. Martin Luther war 1521 ein anderer, als er es 1517 gewesen ist. Auch Johannes Eck war nach der Leipziger Disputation von 1519 ein anderer geworden. Die religiöse Spaltung hat bekanntermaßen ganz unmittelbar die Politik und die Verfassung des Reiches verändert, und zwar in einem Maße, wie kaum ein anderes Ereignis in der Neuzeit. Herr Schmidt hat herausgearbeitet, wie die Reformation mit der Glaubensspaltung als ihrer Folge das Grundproblem des Reiches war. Der Westfälische Frieden hat in der Tat hier keine Wendemarke gesetzt, sondern eine Stabilisierung vorgenommen.

Baumgart: Ist unsre Auseinandersetzung mit den Wendemarken der Verfassungsgeschichte mehr als nur eine neue Periodisierungsdiskussion?

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Periodisierungsdiskussionen sind etwas sehr altes; sie gehen bis auf Baltasar Zessarius und auf andere, also bis 1680 und noch weiter zurück. Ist das, was wir zu ihnen beitragen können, stimmig und einleuchtend? Es sieht so aus, als ob die Wende der Verfassungsgeschichte um 1800 von allen akzeptiert wird. Mit der Wendezeit um 1500 tun wir uns schwerer. Ich möchte nur darauf hinweisen, daß es eine Periodisierung gibt, die von der alteuropäischen Gesellschaft spricht. Diese alteuropäische Gesellschaft überlappt die Zäsur von 1500 ganz beachtlich. Sie reicht bis an die Schwelle des 19. Jh. Damit müssen wir uns auseinandersetzen, wenn wir bei 1500 eine Zäsur ansetzen wollen. Ich glaube, wir können diese Zäsur nur ansetzen, wenn wir uns nicht auf die Verfassungsgeschichte beschränken. Wenn wir die Zeit ab 1470 als Sattelzeit bezeichnen, in der aus einer Krise ein Neubeginn erwächst, so ist dieser Neubeginn nur partiell ein verfassungshistorischer; primär ist er ein mentalitätsgeschichtlicher und damit ein von der Religion bestimmter Neubeginn. Die Kirchenhistoriker meinen, die Zeit um 1500 sei eine der am tiefsten von der Religion geprägten Zeiten der Geschichte überhaupt gewesen. Erst in diesem Kontext scheint es mir gerechtfertigt und vertretbar zu sein, in dieser Zeit eine Wendemarke anzusetzen. Dabei ist zu bedenken, daß diese Gesichtspunkte keine rein deutschen sind, sondern ebenfalls im europäischen Zusammenhang diskutiert werden müssen. Herr Moraw hat zu Recht darauf hingewiesen, daß Deutschland hinter Italien herhinkte. Das legt es nahe, dem Phänomen des von Region zu Region zeitlich verschobenen Verlaufs mancher Entwicklung nachzugehen und damit die Unvergleichbarkeit der Zeit in die Diskussion einzuführen. Auch das relativiert die Problematik. Die Ausführungen von Herrn Schmidt haben gezeigt, daß wir es nicht mit einer wirklichen Zäsur zu tun haben. Es ist in anderem Zusammenhang das Stichwort von der Krise des 17. Jh. aufgebracht worden. Ist das die echte Zäsur des 17. Jh., die aus der europäischen Geschichte in die Argumentation eingebracht worden ist und als Stichwort in unserer Diskussion bisher zu Unrecht keine Rolle gespielt hat?

Moraw: Ich habe dasselbe Manko empfunden und deshalb zu Beginn dieser Debatte eine vorsichtige Relativierung der Verfassungsgeschichte vorgenommen durch die Aufzählung anderer Sektoren der Geschichte, die wir berücksichtigen müssen. Man könnte eine zweite Relativierung vornehmen: Niemand zwingt uns sämtliche Wendemarken gleich zu bewerten. Es gibt außerhalb der Verfassungsgeschichte viele wichtige Sektoren der Geschichte, die ebenso zu beachten sind, wenn man eine allgemeine Periodisierungsdiskussion führt, was von Zeit zu Zeit geschehen muß. Aber weil wir eine Tagung über Verfassungsgeschichte abhalten, scheint es nicht gerade illegitim zu sein, vor allem über Verfassungsgeschichte zu reden. 13 Der Staat, Beiheft 10

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Kroeschell: Mein Votum kann unmittelbar an das anschließen, was Herr Baumgart gesagt hat. Auch ich möchte unterstreichen, daß wir eine neue Periodisierungsdiskussion führen. Ich meine gleichfalls, daß wir uns vor der Gefahr der Verabsolutierung der einzelnen Perioden hüten müssen. Als. ich vor ungefähr 20 Jahren angefangen habe, meine kleine Rechtsgeschichte zu publizieren, habe ich bewußt von den üblichen rechtshistorischen Perioden Abstand genommen. Es war bei uns immer üblich, die Rechtsgeschichte einzuteilen in die Fränkische Zeit, das Mittelalter und die Neuzeit. Es gab also nur die Wendemarken 500 und 1500. Daß ich das als unzureichend empfunden habe, werden Sie gewiß verstehen. Mitteis hatte längst vorgeschlagen, das Mittelalter in ein frühes, hohes und spätes Mittelalter zu unterteilen. Ich habe meinerseits den Eindruck gehabt, daß man die fränkische Zeit nicht als eine Einheit betrachten könne, sondern zwischen der Merowinger- und der Karolingerzeit unterscheiden müsse, und daß die Karolingerzeit schon zum frühen Mittelalter gehöre, die der Merowinger dagegen noch nicht. Das ist natürlich alles eine Frage der Perspektive, und das scheint mir für jede Diskussion um "Wendemarken" zu gelten. Ich habe im weiteren Verlauf nicht um 1500 eine Zäsur gesetzt, sondern um 1450, um die Periode von Reform und Reformation im Zusammenhang betrachten zu können. Eine weitere Zäsur habe ich bei 1650 gemacht, die die Rechtshistoriker bis dahin noch nie diskutiert hatten. Denn jeder Versuch, eine neue Epoche zur Diskussion zu stellen, kann dazu führen, daß man Trennendes und Verbindendes auf eine neue Weise sehen lernt. Das scheint mir auch zu gelten für die Zäsur um 1800 oder die andere um 1880, die ich jetzt für die Rechtsgeschichte vorgeschlagen habe. Das sind Epochen von sehr unterschiedlichem Gewicht. Es leuchtet mir ein, wenn Herr Moraw sie verschieden hoch ansetzen will. Wenn man z. B. die privatrechtsgeschichtliche Literatur zum 19. Jh. betrachtet, dann stößt man mit Verblüffung darauf, daß schon die Zeitgenossen die Zeit um 1850 als einen "Wendepunkt der Rechtsentwicklung" betrachtet haben, was selbst den Rechtshistoriker auf den ersten Blick verwundern muß. Innerhalb der sonst als Einheit betrachteten Pandektenwissenschaft von Savigny bis zum BGB ist nämlich das Heraufkommen der neuen Begriffsjurisprudenz von Gerber und Ihering von den Zeitgenossen als ein tiefer Einschnitt empfunden worden ist. Das hat noch immer sein Richtiges. Ob man diese Zäsur so stark bewerten darf, daß sie auch aus dem Rückblick zu einem Epocheneinschnitt wird, bleibt allerdings fraglich. Das bringt mich auf das Problem des Empfindens der Zeitgenossen einerseits und der Periodisierung der Rechtsgeschichte in der historischen Darstellung. Ich glaube schon, daß das Empfinden der Zeitgenossen von einer Wende der Zeiten Gewicht besitzt. Aber für die Darstellung ex post kommt es darauf an, auf welcher Ebene und in welchem Bereich man nach

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Veränderungen fragt. Das kann dann von Fall zu Fall zu einer unterschiedlichen Periodisierung führen. Dabei muß man auch in Rechnung stellen, daß wir uns von allen diesen Wendemarken mit großer Geschwindigkeit immer weiter entfernen, so daß unsere Perspektive heute schon nicht mehr dieselbe ist wie vor 30 Jahren. Wir haben ja eben gerade eine neue Wende erlebt, und einige von uns werden sicher noch in ein paar Jahrzehnten Gelegenheit haben, sich die Frage zu stellen, ob es denn wirklich eine so große Wende gewesen ist.

Botzenhart: Nur eine kurze Bemerkung: Ich halte den Begriff "Wendemarke" nicht für sehr glücklich. Ich denke dabei immer an das Segeln, wo an den Wendemarken ein völlig neuer Kurs eingeschlagen wird. Derartige Wendemarken gibt es in der deutschen Verfassungsgeschichte nicht und in Europa höchstens im Fall von Revolutionen oder vielleicht beim Übergang von einem sozialistisch-planwirtschaftlichen Gesellschaftssystem zu einem System freier kapitalistischer Konkurrenz. In der deutschen Verfassungsgeschichte sehe ich - bestärkt durch die Vorträge und Diskussionen dieser Tagung- so viel evolutionäre Prozesse und Elemente der Kontinuität, daß ich lieber von Entwicklungsstufen sprechen würde, als von Wendemarken. Quaritsch: Ich habe das Stichwort "Wendemarke" nicht so sehr als Auftakt für eine neue Periodisierungsdiskussion empfunden, sondern mehr unter dem außerordentlich reizvollen Aspekt von Kontinuität und Diskontinuität bei einem deutlichen Umbruch in der Geschichte. Diesen Aspekt haben die Referenten auf ihre Weise sehr gut herausgearbeitet. Auf der einen Seite 1806 das Moment der Diskontinuität mit dem Ende der Reichsverfassung und der Möglichkeit der einzelnen Landesherren, innere Souveränität zu verwirklichen; auf der anderen Seite die Art und Weise, wie sie diese innere Souveränität, dieses für sie neue rechtliche Instrument handhaben, was sie daraus machen oder machen können. Das ist das Entscheidende und bildet den Unterschied. Bei den einen kommt das Element der geistigen Kontinuität zum Zuge. Ein Mann wie Montgelas beispielsweise lernte aus dem 1758 erstmals veröffentlichten Lehrbuch Emer de Vattels, das die Staatslehre und das Völkerrecht des aufgeklärten Absolutismus zusammenfaßte. Was Montgelas bis zu seinem Sturz 1817 in Bayern durchsetzte, war längst vor der Französischen Revolution auf den deutschen und europäischen Universitäten Gemeingut der juristisch und politikwissenschaftlich Gebildeten gewesen. Das Ende der Reichsverfassung, die rechtliche Diskontinuität, gewährte die Chance für geistig-politische Kontinuität und damit zugleich den Anschluß an die "moderne" staatliche Entwicklung, zum Beispiel in Preußen, indem lange vorher entwickelte Modelle realisiert werden konnten. Aber Bayern steht nicht für alle Territorien. Herr Ullmann erinnerte uns an die reizvollen Erinnerungen des Ritters von 13'

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Lang über die Zustände in den kleinen Territorien. Souveränität allein genügte eben nicht, auch nicht aufgeklärtes Denken. Aus den Diskussionen über die Raumordnung in der Bundesrepublik haben wir noch einmal gelernt, daß bestimmte staatliche Strukturen eine bestimmte Größe von Land und Leuten voraussetzen. Bei einem besseren Landesherrn hätte das Territorium des Herrn von Lang wenigstens eine erfolgreiche Gutsherrschaft werden können, nicht aber ein Staat. Zum Ende der Reichsverfassung, zum Erwerb der Souveränität nach innen, mußte das große geschlossene Territorium hinzukommen. Notwendig war also der Reichsdeputationshauptschluß mit der Aufhebung der geistlichen Herrschaften und der Ritterschaften. Diese materiellen Bedingungen waren Voraussetzung für die Entfaltung moderner Staatlichkeit in den deutschen Territorien. Andererseits genügen die materiellen Bedingungen allein wiederum nicht, wie folgende hypothetische Überlegung zeigt. Was wäre denn geschehen, wenn Friedrich der Große bereits im ersten Schlesischen Krieg nach Wien marschiert wäre und Maria Theresia auf Lebenszeit ins Exil an den Hof des Königs beider Sizilien hätte gehen müssen, das Reich also nicht erst durch Napoleon 1806, sondern durch Friedrich anno 1740 beendet worden wäre? Hätten dann die staatlichen Reformen der ersten Hälfte des 19. Jh. in Bayern oder in Württemberg schon jetzt stattfinden können? Vermutlich nicht. Zur modernen Staatlichkeit gehört ein bestimmter Verwaltungstyp, die vorwiegend monokratische Verwaltungsorganisation, die erst Napoleon eingeführt und der Freiherr vom Stein in Preußen übernommen hat. Friedrich der Große arbeitete noch mit Provinzialkollegien, und seine Herrschaft war im Grunde die Herrschaft eines sehr großen Gutsherrn. Was ich damit andeuten möchte: Der Fall der Reichsverfassung allein genügte nicht, es traten mehrere zusätzliche Faktoren hinzu, wie z. B. die Erfindung des Präfektursystems in Frankreich, dazu die Beseitigung der geistlichen Territorien und Ritterschaften. Der französische Staat in der Fassung Napoleons, Reichsdeputationshauptschluß und die Souveränität des aufgeklärten Absolutismus mußten zu dem Ende der Reichsverfassung hinzutreten, um ihm den Charakter einer wirklichen Wendemarke zu verschaffen.

Klippel: Vielleicht sollten wir wirklich von dem Begriff der Wendemarke aus der Welt des Seglers abkommen. Es ist nur schwierig, etwas besseres zu finden. Ich schlage vor, von Verwerfungen oder Brüchen zu sprechen. Damit wäre auch die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, etwa um 1800, besser in den Griff zu bekommen; dann kann man auch den unproblematischeren Begriff des Marksteins verwenden. Marksteine kann man in Brüchen und Verwerfungen setzen, aber auch in Zeiten von langfristigen Basisströmungen. Dann könnte man ohne Bedenken 1648 weiterhin als Markstein bezeichnen.

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Boldt: Mich hat dieses Bild der "Wendemarken" aus dem Segelsport auch geärgert. Die "Verwerfungen" wiederum kommen aus der Geologie. Wir sollten nicht fremde Wissenschaften bemühen! Nehmen wir doch einen Begriff aus der Verfassungsgeschichte. Mein Vorschlag wäre schlicht: Verfassungsänderung oder -umbruch. Mohnhaupt: Ich will die Wendemarken nicht umhängen und auch nicht umdeklarieren. Natürlich kann man fragen, warum sie zu diesem oder zu jenem Zeitpunkt gesetzt worden sind. Rekurriert man auf die Verfassung des Reiches, so muß man freilich auch an den juristischen Kern solcher Verfassungsvorstellungen erinnern. Die Verfassung des Reichs setzte sich zusammen aus seinen leges fundamentales. Diese wurden erst im 18. Jh. unter den Begriff "Verfassung" subsumiert. Der kollektive Singular "Verfassung" faßte damit eine Vielzahl von Einzelbestimmungen zusammen. Die leges fundamentales sind aber keineswegs leges im herkömmlichen Sinne. Sie sind Verträge. Und in diesem Begriff dokumentiert sich die Struktur des Reiches zwischen Herrscher und Ständen, zwischen Reich und Kaiser. Am deutlichsten sichtbar paktiert wurde in den Wahlkapitulationen: Mit jeder neuen Herrscherübernahme ist durch ein neues Paktum festzulegen, was verbindlich gelten soll. Die Varianten sind gering, aber sie kommen vor. Damit sind Reformmöglichkeiten in das Verfassungsrecht miteingebaut. Der Vertrag als Grundtypus gibt sein Leben 1789 mit einem radikalen Bruch auf, der Deutschland die grundlegend neue Erfahrung vermittelte, daß man einen Vertrag nicht aufkündigen muß; man kann auch einfach die andere Vertragspartei beseitigen. Das ist etwas völlig Neues. In Frankreich tritt die Nation als Verfassungsgeber in Erscheinung. Damit ist ein neuer Gesetzgeber entstanden, der nicht mehr per Paktum handelt. Denn das Volk kann nicht mit sich selbst paktieren. Damit hat sich eine Wende durchgesetzt. Das kann man auch beobachten, wenn man die Gesetzgebung des Reiches untersucht, von der hier bisher eigentlich gar nicht die Rede war. Sie war nicht besonders umfangreich. Das hängt damit zusammen, daß man an ein mühsames Verfahren von Oppositionen und Gegenoppositionen, dem Aushandeln bis zur Einigung, gebunden war. Diese Kompromisse besaßen enormen Wert, weil sie einen Konsens befestigten. Es blieb allerdings vieles offen, weil es nicht in den Konsens miteinbezogen worden ist. Wo der Konsens zu kurz griff, gab es unausgeräumtes Konfliktpotential. Aber es gibt eine sehr interessante Darstellung aus den 80er Jahren des 18. Jh. Man hat untersucht, warum sich das Reich zu keiner Kodifikation aufgeschwungen hat, obwohl sie in Preußen diskutiert und in Österreich realisiert worden war. Man sah die Ursache in der Verfassungssituation des Reiches. Das Verfahren des Reichstags verhinderte die Kodifikation. Darum hieß es:

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Zusammenfassende Aussprache

Wir müssen noch warten, bis eine Wende die Voraussetzungen für eine Reichskodifikation schafft. Schneider: Ich halte die Periodisierungsdiskussionen in der Regel für recht interessant. Es darf bei ihnen aber nicht vergessen werden, daß sie leicht ohne rechten Sinn nur um ihrer selbst willen geführt werden. Das ändert freilich nichts daran, daß wir schon aus didaktischen Gründen Periodisierungen brauchen. Darin erschöpft sich ihr Sinn aber bereits weitgehend. Hin und wieder gibt es freilich Ausnahmen. Eine solche Ausnahme ist für mich der Zerfall des Reiches. In ihm sehe ich eine durch die Ereignisse seit 1789 bedingte Zäsur. Sie lösten die großen Schübe aus, über die Herr Ullmann eindrucksvoll berichtet hat. Plötzlich verloren die Glieder des Reiches den Schutz, den ihnen das Reich garantiert hat. Man mußte erkennen, daß man zur "modernen Staatlichkeit" und zur Konzentration der Macht gezwungen ist, die lebensnotwendig geworden sind und in der Folgezeit gravierende Veränderungen nach sich zogen. Auch Wandlungen im Denken und der Mentalität spielten dabei sicher ihre Rolle. Aber die eigentliche Zäsur erfolgte mit den Ereignissen von 1789 und dann vor allem 1806. Anders ausgedrückt: Die Zäsur beruhte auf Machtfaktoren, die von außen auf Deutschland einwirkten. Diese außenpolitischen Machtfaktoren motivierten, wenn ich das richtig sehe, auch die Widerstände und die Versuche, sich anders zu orientieren und neu zu gruppieren. Ein Vergleich mit der Situation am Ende des 15. Jh. ist wahrscheinlich nur in sehr engen Grenzen möglich. Auch hier haben die Türkenkriege die Entwicklung im Reich außenpolitisch beeinflußt. Es machte sich ferner wie nach den Freiheitskriegen eine allgemeine Sehnsucht nach Frieden im weltlichen und im kirchlichen Bereich bemerkbar. Aber der entscheidende Unterschied zu 1800 liegt darin, daß die Reichsverfassung standgehalten hat. Das ist verfassungshistorisch nicht gerade ein Indikator für eine Zäsur. Moraw: Wenn man Herrn Heinig folgt, so wurde die Reichsverfassung um 1500 vollendet. Das gibt mir Anlaß zum Blick auf die Uhr. Sie zeigt an, daß die Zeit für die Schlußworte der Referenten gekommen ist. Heinig: Zu den Zuspitzungen und Bedenken in unsrer Diskussion über die Zäsur um 1500 wäre so viel zu bemerken, daß ich zu einem zweiten Referat ausholen könnte. Aber davor will ich mich hüten. Deshalb möchte ich mich darauf beschränken, Herrn Schneider zuzustimmen. Wir müssen uns aus didaktischen wie forschungspraktischen Gründen an verfassungsgeschichtlichen Wendemarken orientieren und Klarheit darüber gewinnen, wo sie am zweckmäßigsten anzubringen sind. Dabei darf man natürlich weder bei den Ereignissen noch bei den Faktoren der historischen Genese steckenbleiben. Man muß Basisprozesse und Strukturen eruieren sowie

Zusammenfassende Aussprache

199

Verfassungsgeschichte im weitesten Sinne betreiben, also auch soziale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungen berücksichtigen. Ich habe schon in der Aussprache über mein Referat darauf hingewiesen, daß wir zur qualitativen Bezeichnung dessen, was sich ergeben mag, viele Begriffe besitzen: Veränderung(en), Markstein, Wende, Wendemarke, Zäsur, Umbruch, Vollendung etc. Dies alles sind Begriffe, mit denen im Rahmen des kontinuierlich ablaufenden historischen Prozesses Divergenzen, Differenzen und Differenzierungen fixiert werden können. Dank ihrer wird Geschichte erst vermittelbar und "lehrbar". Diese Vorgehensweise ist im allgemeinen und konkret für den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit erkenntnistheoretisch unumgänglich. Die gesamte ältere Forschung hat bestimmte Jahre um 1500 herum als Zäsuren angeboten. Wir haben gelernt, dieses punktuelle Begreifen abzustreifen und zeitliche Übergangsphasen zu erkennen. So scheint mir ein gemeinsames Ergebnis unserer Beratungen zu sein, daß wir die Wendemarke um 1500 und alle anderen diskutierten Wendemarken als Zeiträume gravierender Veränderungen bestimmen. Sowohl bei der Wende um 1800 als auch bei der um 1500 handelt es sich um 50jährige Zeitspannen. Zwischen 1470 und 1520 sind auf der politischen und auf der Verfassungs-Ebene sowie in den Bereichen der Sozial-, Wirtschafts-, Mentalitätsgeschichte erhebliche Beschleunigungen der bis dahin eher beständig voranschreitenden Entwicklungsprozesse zu erkennen. Dies hat, noch ehe die konfessionelle Spaltung zusätzliche Bewegung in den Verlauf der Geschichte gebracht hat, einen qualitativen Sprung in der deutschen Verfassungsgeschichte hervorgerufen. Erstmals in der deutschen Geschichte ist der Herrscherhof als der alleinige Integrationspol des politischen Gemeinwesens "Reich" um zwei weitere Bühnen (Reichstag, Kammergericht) erweitert und damit die dualistische Verfassung institutionalisiert worden. Durch die nachfolgenden Referate und die Diskussion sehe ich meine Bewertung dieser Vorgänge als" Vollendung der mittelalterlichen Reichsverfassung" nicht widerlegt. Ich bin schon damit zufrieden, daß die in der Diskussion aufgekommene Skepsis sich jedenfalls nicht mehr aus dem früheren Verdikt vom Zerfall des Reichs nährte.

Schmidt: Mit der Formulierung von Herrn Klippel ,,1648 als Markstein der deutschen Geschichte" bin ich einverstanden. Ich weiß aber nicht, ob sich Herr Heinig oder Herr Ullmann darin wiederfinden. Das von Herrn Baumgart gegebene Stichwort der Krise des 17. Jh. hilft uns wohl nicht aus dem Dilemma unserer Periodisierungsdiskussion. Die Krise des 17. Jh. beginnt nach Auffassung der Wirtschaftsgeschichte in den 1560er Jahren, und die Historiker haben sich angewöhnt, vom "langen 16. Jahrhundert" zu sprechen, das bis etwa 1620 reicht. Periodisierungsdiskussionen führen immer zu neuen Schwierigkeiten: Denken Sie nur an den von Heinz Schilling kürzlich geprägten Begriff "Vorsattelzeit der Moderne".

200

Zusammenfassende Aussprache

Würtenberger: Ich möchte anknüpfen an die Frage: Wie lange sind eigentlich Wendemarken? Ein Jahr, ein Jahrzehnt, ein oder zwei Generationen? Wenn man eher auf die Kontinuitäten abstellt, dann kann man durchaus auch ca. 60 Jahre als Wendezeit kategorisieren. Die These von einer längeren Wendezeit erklärt das Phänomen, daß vor 1789 auch in Deutschland schon Ansätze verfassungsstaatlichen Denkens vorhanden waren. Auch die historisch politische Psychologie, die in der Diskussion verschiedentlich angesprochen worden ist, verweist auf Kontinuität in einer längeren Wendezeit. Davon abgesehen seien nochmals Justi und seine Lehre von der Grundgewalt erwähnt. Der Sache nach wird hier das Prinzip der Volkssouveränität entwickelt, das er von anderen Autoren übernommen haben mag. Erst wenn man diese deutschen Ansätze herausgearbeitet hat, kann man die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu der verfassungsstaatlichen Entwicklung anderer Staaten herausarbeiten. Ein derartiger Vergleich setzt voraus, daß auch in Deutschland bereits vor 1789 verfassungsstaatliche Diskussionen geführt wurden. Das habe ich zeigen wollen. Ein anderer wichtiger Punkt ist: Typologie und strukturierendes Denken erleichtern es natürlich, Wendemarken zu finden. Wenn man die richtige Struktur hat, werden die Wendemarken klarer sichtbar. Allerdings sind geistesgeschichtlich die Entwicklungen oft längerfristig angelegt. Typologie und strukturierendes Denken dürfen die historische Vielfalt und auch die Kontinuitäten nicht allzu schnell ausblenden. Boldt: Bis auf Herrn Ullmann haben wir weniger über" Wendemarken" gesprochen als über "Wendezeiten " oder farblos gesagt: über "Etappen" der Verfassungsgeschichte. Ich weiß nicht, ob das schönere Tagungstitel wären. Zudem würde der Leser des Tagungsbands nicht verstehen, warum er in unsrer Diskussion doch fortwährend auf die "Wendemarken" stößt. Wir müssen es wohl schon bei ihnen belassen, auch wenn Herr Schmidt behauptet, daß sein Thema gar keine Wendemarke berührt habe. Das wird den Kritikern Anlaß geben, zu sagen, daß wir die Sache ganz falsch angefaßt haben. Das wiederum wird dann viele andere anregen, unsre Publikationen zu lesen, was am Ende dann doch ein schöner Erfolg wäre.

Verzeichnis der Redner Ableitinger 139 ff., 181 ff. Battenberg 33 f., 43 Barmeyer 111; 183 f. Baumgart 35 f., 79 f., 115, 192 f. Brandt 116, 181 Boldt 40 f., 173 ff., 179 ff., 185 f., 197,200 Botzenhart 112, 174, 195 Hamza 117 Heinig 32 ff., 41 ff., 198 f. Kleinheyer 116 f. Klippel79; 117 f., 147, 196 Kroeschell 80, 194 f. Kriiger 184 f. Kühne 32, 142 f., 176 ff., 188 f. Mohnhaupt 74, 118 f., 147 f., 197 f. Moraw 40, 187 ff., 193, 198

Neuhaus 82 Quaritsch 146, 195 f. Rückert 139, 191 f. Schindling 75 ff., 192 Schmidt 73 ff., 80 ff., 113 ff., 199 Schneider 41 f., 198 Schulze 110 Steiger 146 f., 173 f., 190 Stolleis 109 f. Ullmann 141 ff., 148 ff. Willoweit 37 f., 77 ff., 118, 174 f., 189 Wolf 34 f., 73 Würtenberger 111 f., 114 ff., 119 ff., 190, 200

Vereinigung für Verfassungsgeschichte Satzung § 1 1. Die Vereinigung für Verfassungsgeschichte stellt sich die Aufgabe:

a) Wissenschaftliche Fragen aus der Verfassungsgeschichte, einschließlich der Verwaltungsgeschichte, durch Referate und Aussprache in Versammlungen ihrer Mitglieder zu klären; b) Forschungen in diesem Bereich zu fördern; c) auf die ausreichende Berücksichtigung der Verfassungsgeschichte im Hochschulunterricht sowie bei staatlichen und akademischen Prüfungen hinzuwirken. 2. Sie verfolgt ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige Zwecke im Sinne des Abschnitts "Steuerbegünstigte Zwecke" der Abgabenordnung in ihrer jeweils gültigen Fassung. 3. Sitz der Vereinigung ist Frankfurt am Main.

§ 2 Griindungsmitglieder der Vereinigung sind diejenigen Personen, die zur Griindungsversammlung am 4. 10. 1977 in Hofgeismar eingeladen worden sind und schriftlich ihren Beitritt erklärt haben. § 3 1. Mitglied der Vereinigung kann werden, wer

a) auf dem Gebiet der Verfassungsgeschichte, einschließlich der Verwaltungsgeschichte, seine Befähigung zu selbständiger Forschung durch entsprechende wissenschaftliche Veröffentlichungen nachgewiesen hat und b) an einer Universität bzw. gleichgestellten wissenschaftlichen Hochschule oder Hochschuleinrichtung als selbständiger Forscher und Lehrer, an einem wissenschaftlichen Forschungsinstitut als selbständiger Forscher oder im Archivdienst tätig ist. 2. Das Aufnahmeverfahren wird durch schriftlichen Vorschlag von drei Mitgliedern der Vereinigung eingeleitet. Ist der Vorstand einstimmig der Auffassung, daß die Voraussetzungen für den Erwerb der Mitgliedschaft erfüllt sind, so verständigt er in einem Rundschreiben die Mitglieder von seiner Absicht, dem Vorgeschlagenen die Mitgliedschaft anzutragen. Erheben mindestens fünf Mitglieder binnen Monats-

Satzung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte

203

frist gegen die Absicht des Vorstandes Einspruch oder beantragen sie mündliche Erörterung, so beschließt die Mitgliederversammlung über die Aufnahme. Die Mitgliederversammlung beschließt ferner, wenn sich im Vorstand Zweifel erheben, ob die Voraussetzungen der Mitgliedschaft erfüllt sind. 3. In besonders begründeten Ausnahmefällen kann Mitglied der Vereinigung auch werden, wer die Voraussetzungen nach Abs. llit. b nicht erfüllt. In diesem Falle wird das Aufnahmeverfahren durch näher begründeten schriftlichen Vorschlag von fünf Mitgliedern der Vereinigung eingeleitet. Über die Aufnahme entscheidet nach Stellungnahme des Vorstandes die Mitgliederversammlung mit %-Mehrheit der anwesenden Mitglieder. § 4 Die ordentliche Mitgliederversammlung soll regelmäßig alle zwei Jahre an einem vom Vorstand bestimmten Ort zusammentreten. In dringenden Fällen können außerordentliche Versammlungen einberufen werden. Auf Verlangen von 113 der Mitglieder ist der Vorstand verpflichtet, eine außerordentliche Mitgliederversammlung unverzüglich einzuberufen. Auf jeder ordentlichen Mitgliederversammlung muß mindestens ein wissenschaftlicher Vortrag mit anschließender Aussprache gehalten werden. § 5 Der Vorstand der Vereinigung besteht aus einem Vorsitzenden und zwei Stellvertretern. Die Vorstandsmitglieder teilen die Geschäfte untereinander nach eigenem Ermessen. Der Vorstand wird am Schluß jeder ordentlichen Mitgliederversammlung neu gewählt; einmalige Wiederwahl ist zulässig. Der alte Vorstand bleibt bis zur Wahl eines neuen Vorstandes im Amt. Zur Vorbereitung der Mitgliederversammlung kann sich der Vorstand durch Zuwahl anderer Mitglieder verstärken. Auch ist Selbstergänzung zulässig, wenn ein Mitglied des Vorstandes in der Zeit zwischen zwei Mitgliederversammlungen ausscheidet. § 6 Der Beirat der Vereinigung besteht aus fünf Mitgliedern; die Mitgliederzahl kann erhöht werden. Der Beirat berät den Vorstand bei der Festlegung der Tagungsthemen und der Auswahl der Referenten. Die Mitglieder des Beirats werden von der Mitgliederversammlung auf vier Jahre gewählt. § 7 Zur Vorbereitung ihrer Beratungen kann die Mitgliederversammlung, in eiligen Fällen auch der Vorstand, besondere Ausschüsse bestellen. § 8 Zu Eingaben in den Fällen des § 1 Ziff. 2 und 3 und über öffentliche Kundgebungen kann nach Vorbereitung durch den Vorstand oder einen Ausschuß auch im Wege schriftlicher Abstimmung der Mitglieder beschlossen werden. Ein solcher Beschluß

204

Satzung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte

bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder; die Namen der Zustimmenden müssen unter das Schriftstück gesetzt werden. § 9 Der Mitgliedsbeitrag wird von der Mitgliederversammlung festgesetzt. Der Vorstand kann den Beitrag aus Billigkeitsgründen erlassen.

Verzeichnis der Mitglieder (Stand 1. April 1993)

Vorstand 1. Battenberg, Dr. Friedrich, Professor, Schloß (Staatsarchiv), 64283 Dannstadt

2. Brauneder, Dr. Mag. Wilhelm, Professor, Universität Wien, Schottenbastei 1016, A-I0I0 Wien 3. Press, Dr. Volker, Professor, Hegelbau, Wilhelmstraße, 72074 Tübingen

Beirat 1. Baumgart, Dr. Peter, Professor, Universität Würz burg, Am Hubland, Philo-

sophiegebäude, 97074 Würzburg

2. Borck, Dr. Günther, Landeshauptarchiv Koblenz, 56068 Koblenz 3. Stolleis, Dr. Michael, Professor, Universität Frankfurt, Senckenberganlage 31, 60325 Frankfurt a. M. 4. Wadle, Dr. Elmar, Professor, Universität des Saarlandes, 66041 Saarbrücken 5. Wolf, Dr. Annin, MPI f. europ. Rechtsgeschichte, Hausener Weg 120,. 60457 Frankfurt a. M.

Mitglieder 1. Ableitinger, Dr. Alfred, Professor, Institut für Geschichte, Heinrichstraße 26,

A-8010 Graz

2. Badura, Dr. Peter, Professor, Am Rothenberg Süd 4, 82431 Kochel 3. Banneyer-Hartlieb, Dr. Heide, Professorin, Historisches Seminar, Schneiderberg 50, 30499 Hannover 4. Battenberg, Dr. Friedrich, Professor, Schloß (Staatsarchiv), 64283 Dannstadt 5. Baumgart, Dr. Peter, Professor, Universität Würzburg, Am Hubland, Philosophiegebäude, 97074 Würzburg 6. Becker, Dr. Hans-Jürgen, Professor, Universität Regensburg, Universitätsstraße 31, 93053 Regensburg 7. Behr, Dr. Hans-Joachim, , Ltd. Staatsarchivdirektor, Bohlweg 2, 48147 Münster

206

Verzeichnis der Mitglieder

8. Birke, Dr. Adolf M., Professor, 76 Westbourne Ferrace, GB-London W 26 QA (Universität Bayreuth) 9. Birtsch, Dr. Günther, Professor, FB III Geschichte, Universität Trier, 54286 Trier 10. Blaschke, Dr. Karlheinz, Professor, Am Park, 01468 Friedewald 11. Blickle, Dr. Peter, CH-3012 Bern

Professor,

Universität

Bern,

Engehaldenstraße

4,

12. Blockmans, Dr. Wim, Professor, Rijksuniversiteit te Leiden, Postbus 9515, NL-2300 Leiden 13. Böckenförde, Dr. Ernst-Wolfgang, Professor, Türkheimstraße 1, 79280 Au bei Freiburg 14. Boldt, Dr. Hans, Professor, Universität Düsseldorf, Universitätsstraße 1, 40225 Düsseldorf 15. Borck, Dr. Heinz-Günther, Landeshauptarchiv Koblenz, 56068 Koblenz 16. Botzenhart, Dr. Manfred, Professor, straße 40/43, 48143 Münster

Universität

Münster,

Spiekerhof-

17. Brandt, Dr. Hartwig, Privatdozent, Wilhelm-Röpke-Straße 6, 35039 Marburg 18. Brauneder, Dr. Mag. Wilhelm, Professor, bastei 10-16, A-1010 Wien

Universität Wien, Schotten-

19. Chittolini, Dr. Giorgio, Professor, Via Chiaravelle, 7, 1-20122 Milano 20. Dann, Dr. Otto, Professor, Universität Köln, Historisches Seminar, AlbertusMagnus-Platz, 50923 Köln 21. Diestelkamp, Dr. Bernhard, Professor, Kiefernweg 12, 61476 Kronberg 22. Dilcher, Dr. Gerhard, Professor, Kuckucksweg 18, 61462 Königstein/Ts. 23. Droege, Dr. Georg, Professor, Am Hofgarten 22,53117 Bonn 24. Duchhardt, Dr. Heinz, Professor, Domplatz 20-22, 48155 Münster 25. Eisenhardt, Dr. Ulrich, Professor, Feithstraße 152, 58097 Hagen 26. Endres, Dr. Rudolf, Professor, Universität Bayreuth, 95440 Bayreuth 27. Ermacora, Dr. Felix, Professor, Dr. Karl-Lueger-Ring 1, A-1010 Wien 28. Fenske, Dr. Hans, 79085 Freiburg

Professor,

Historisches

Seminar,

Werthmannplatz,

29. Fiedler, Dr. Wilfried, Professor, Universität Saarbrücken, 66041 Saarbrücken 30. Fioravanti, Dr. Maurizio, Professor, Universita degli Studi die Firenze, Piazza Indipendenza 9, 1-50129 Firenze 31. Friauf, Dr. Karl Heinrich, Professor, Universität Köln, Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln 32. Frost, Dr. Herbert, Professor, Kringsweg 24, 50931 Köln 33. Frotscher, Dr. Werner, Professor, Institut für Öffentliches Recht, Universitätsstraße 6, Savigny-Haus, 35037 Marburg

-Verzeichnis der Mitglieder

207

34. GaU, Dr. Lothar, Professor, Universität Frankfurt FB 8, Senckenberganlage 31, 60325 Frankfurt a. M. 35. Gangl, Dr. Hans, Professor, Universitätsplatz 3, A-8010 Graz 36. Giesen, Dr. Dieter, Professor, FU Berlin, FB Rechtswissenschaften, Van't-HoffStraße 8, 14195 Berlin 37. Grawert, Dr. Rolf, Professor, Universität Bochum, Fakultät für Rechtswissenschaften, Universitätsstraße 150, 44801 Bochum 38. Grimm, Dr. Dieter, Professor, Bundesverfassungsrichter, Schloßbezirk 3, 76131 Karlsruhe 39. Hamza, Dr. Gabor, Professor, Eötvös Lorand Universität, Egyetem ter 1-3, H-1364 Budapest 40. Hartlieb v. Wallthor, Dr. Alfred, Universität Münster, FB 10, Spiekerhof 40/43, 48143 Münster 41. Hartmann, Dr. Peter Claus, Professor, Universität Mainz, FB Geschichtswissenschaften, Saarstraße 21, 55099 Mainz 42. Heckei, Dr. Martin, Professor, Lieschingstraße 3, 72076 Tübingen 43. Heun, Dr. Werner, Professor, Universität Göttingen, Goßlertstraße 11, 37073 Göttingen 44. Heyen, Dr. Erk Volkmar, Professor, Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät, Domstraße 20, 17489 Greifswald 45. Hofmann, Dr. Hasso, Professor, Humboldt-Universität Berlin, 10099 Berlin 46. Hoke, Dr. Rudolf, Professor, Universität Wien, Dr. Karl-Luger-Ring I, A-1010 Wien 47. Isenmann, Dr. Eberhard, Professor, Universität Bochum, 44780 Bochum 48. Ishibe, Dr. Masakuke, Professor, Sumiyoshiku Sugimotocho, Osaka, Japan 49. Ishikawa, Dr. Takeshi, Professor, Faculty of Law, Hokaido-University, Kita-ku, Kita 9, Nishi 7, Sapporo, Japan 50. Jahns, Dr. Sigrid, Privatdozentin, Bommersheimer Weg 20,61348 Bad Homburg 51. Janssen, Dr. Wilhelm, Professor, Kalkstraße 14, 40489 Düsseldorf (Hauptstaatsarchiv Düsseldorf) 52. Johanek, Dr. Peter, Professor, straße 40/43, 48143 Münster

Universität

Münster,

Spiekerhof-

53. Kleinheyer, Dr. Gerd, Professor, Universität Bonn, AdenaueraUee 24-42, 53113 Bonn 54. Klippei, Dr. Diethelm, Professor, Universität Gießen, Postfach, 35394 Gießen 55. KoseUeck, Dr. Reinhard, Professor, Universität Bielefeld, Postfach, 33615 Bielefeld 56. Krieger, Dr. Karl-Friedrich, Professor, Universität Mannheim, Schloß M 404, 68161 Mannheim 57. KroescheU, Dr. Karl, Professor, Universität Freiburg, Alte Universität, Petershof, Schloßbergstraße 17, 79085 Freiburg

208

Verzeichnis der Mitglieder

58. Krüger, Dr. Peter, Professor, Universität Marburg, Wilhelm-Röpke-Straße 6 C, 35039 Marburg 59. Kühne, Dr. Jörg-Detlef, Professor, Universität Hannover, Hanomagstraße 8, 30449 Hannover 60. Kunisch, Dr. Johannes, Professor, Historisches Seminar, Universität Köln, 50923 Köln 61. Landwehr, Dr. Götz, Professor, Universität Hamburg, Rothenbaumchaussee 41, 20148 Hamburg 62. Laufs, Dr. Adolf, Professor, Institut für geschichtliche Rechtswissenschaft, Friedrich-Ebert-Platz 2, 69117 Heidelberg 63. Lieberwirth, Dr. Rolf, Professor, Rainstraße 3 B, 06114 Halle / Saale 64. Lingelbach, Dr. Gerhard, Professor, Universität Jena, Leutragraben 1, 07743 Jena 65. Link, Dr. Christoph, Professor, Universität Erlangen, Katholischer Kirchenplatz 9, 91054 Erlangen 66. Luntowski, Dr. Gustav, Professor, Staatsarchiv Dortmund, Postfach 10 50 53, 44122 Dortmund 67. Mager, Dr. Wolfgang, Professor, Universität Bielefeld, Universitätsstraße 25, 33615 Bielefeld 68. Majer, Dr. Diemut, Professor, Welfenstraße 30, 76137 Karlsruhe 69. Malettke, Dr. Klaus, Professor, Straße 6 C, 35039 Marburg 70. Maurer, Dr. Hans-Martin, 70567 Stuttgart

Universität

Marburg,

Staatsarchivdirektor,

Wilhelm-Röpke-

Lieschingstraße

47,

71. Mazzacane, Dr. Aldo, Professor, Ist. di storia deI diritto italiano, Mezzocannone 16, 1-80133 Napoli 72. Menger, Dr. Christian-Friedrich, Professor, Universität Münster, Universitätsstraße 14/ 16, 48143 Münster 73. Modeer, Dr. Kjell A., Professor, Universität Lund, Juridicum, S-22105 Lund 1 74. Mößle, Dr. Dr. Wilhelm, Professor, Universität Bayreuth, 95440 Bayreuth 75. Mohnhaupt, Dr. Heinz, Freiherr-vom-Stein-Straße 7, 60457 Frankfurt a. M. 76. Moormann van Kappen, Dr. Olav, Professor, Gerhard Noodt Instituut, Faculteit der Rechtsgeleerdheid, Postbus 9049, NL-6500 KK Nijmegen 77. Moraw, Dr. Peter, Professor, Universität Gießen, Historisches Institut, OttoBehaghel-Straße 10, Postfach 11 14 40, 35394 Gießen 78. Morsey, Dr. Rudolf, Professor, Hochschule für Verwaltungswissenschaften, Postfach 1409, 67324 Speyer 79. Murakami, Dr. Junichi, Professor, University of Tokyo, Faculty of Law, 7-3-1 Hongo, Bunkyo-ku, 113 Tokyo, Japan 80. Mußgnug, Dr. Reinhard, Professor, Institut für Finanz- und Steuerrecht, Friedrich-Ebert-Anlage 6-10,69117 Heidelberg

Verzeichnis der Mitglieder

209

81. Naujoks, Dr. Eberhard, Professor, Wildermuthstraße 32, 72076 Tübingen 82. Neuhaus, Dr. Helmut, Professor, Friedrich-Alexander-Universität, Kochstraße 4, 91054 Erlangen 83. Oexle, Dr. Otto Gerhard, Professor, MPI für Geschichte, Hermann-FoegeWeg 11, 37073 Göttingen 84. Ogris, Dr. jur. Wemer, Professor, Dr. Karl-Lueger-Ring 1, A-1010 Wien 85. Peterson, Dr. Claes, Professor, University of Stockholm, Faculty of Law, S-10691 Stockholm 86. Peyer, Dr. Hans Conrad, Professor, Rosenbühlstraße 28, CH-8044 Zürich 87. Press, Dr. Volker, Professor, Hegelbau, Wilhelmstraße, 72074 Tübingen 88. Prodi, Dr. Paolo, Professor, Italienisch-deutsches historisches Institut, Via S. Croce 77, 1-38100 Trento 89. Putzer, Dr. Peter, Professor, A-5101 Bergheim 311 (Universität Salzburg) 90. Quaritsch, Dr. Helmut, Professor, Hochschule für Verwaltungswissenschaften, Freiherr-vom-Stein-Straße 2, 67324 Speyer 91. Randelzhofer, Dr. Albrecht, Privatdozent, Van't-Hoff-Straße 8, 14195 Berlin 92. Ranieri, Dr. Filippo, Privatdozent, MPI für europäische Rechtsgeschichte, Hausener Weg 120, 60498 Frankfurt a. M. 93. Robbers, Dr. Gerhard, Professor, Universität Trier, FB V Rechtswissenschaft, Postfach 38 25, 54286 Trier 94. Rückert, Dr. Joachim, Professor, Universität Hannover, Hanomagstraße 8, 30449 Hannover 95. Ruppert, Dr. Karsten, Privatdozent, Am Unteren Schlittberg 19, 67354 Römerberg 96. Russocki, Dr. Stanislaw, Professor, Uniwersytet Warszawski, Instytut Historii Prawa, ul. Krakowskie Przedmiescie 26/28, PL-00-927 Warszawa 97. Scheel, Dr. Günter, Am Okerufer 23, 38302 Wolfenbüttel 98. Schiera, Dr. Pierangelo, Professor, Istituto Trentino Di Cultura, Via S. Croce 77, 1-381000 Trento . 99. Schindling, Dr. Anton, Professor, Universität Osnabrück, Postfach 44 69, 49074 Osnabrück 100. Schlaich, Dr. Klaus, Professor, Universität Bonn, Konrad-Adenauer-Allee 2442, 53113 Bonn 101. Schlink, Dr. Bemhard, Professor, Endenicher Allee 16, 53115 Bonn 102. Schmidt, Dr. Georg, Professor, Universität Jena, Historisches Institut, 07743 Jena 103. Schneider, Dr. Hans, Professor, Ludolf-Krehl-Straße 44, 69117 Heidelberg 104. Schneider, Dr. Hans-Peter, Professor, Universität Hannover, Hanomagstraße 8, 30449 Hannover 14 Der Staat, Beiheft 10

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Verzeichnis der Mitglieder

105. Schneider, Dr. Reinhard, Professor, FB 5, Universität des Saarlandes, 66041 Saarbrücken 106. Schnur, Dr. Roman, Professor, Lindenstraße 49, 72108 Rottenburg 107. Schott, Dr. Clausdieter, Professor, Dorfstraße 37, CH-8126 Zumikon 108. Schroeder, Dr. Klaus-Peter, Privatdozent, JuS Schriftleitung, Postfach 110241,60325 Frankfurt a. M. 109. Schubert, Dr. Werner, Professor, Universität Kiel, Olshausener Straße 40, 24118 Kiel 110. Schütz, Dr. Rüdiger, Privatdozent, Historisches Institut, Kopernikusstraße 16, 52074 AAchen 111. Schulz, Dr. Gerhard, Professor, Wilhelmstraße 36, 72074 Tübingen 112. Schulze, Dr. Reiner, Professor, Universität Trier, FB V Rechtswissenschaft, Postfach 38 25, 54286 Trier 113. Sprandel, Dr. Rolf, Professor, Institut für Geschichte, Am Hubland, 97074 Würzburg 114. Stehkämper, Dr. Hugo, Ltd. Stadtarchivdirektor, Historisches Archiv der Stadt Köln, Severinstraße 222 -228, 50676 Köln 115. Steiger, Dr. Reinhard, Professor, Universität Gießen, Licherstraße 76, 35394 Gießen 116. Stolleis, Dr. Michael, Professor, Universität Frankfurt, Senckenberganlage 31, 60325 Frankfurt a. M. 117. Stourzh, Dr. Gerald, Professor, Dr. Karl-Lueger-Ring 1, A-1010 Wien 118. Ullmann, Dr. Hans-Peter, Professor, Wirtschaftswissenschaftliches Seminar der Universität Tübingen, Nauklerstraße 47, 72074 Tübingen 119. von Unruh, Dr. Georg-Christoph, Professor, Universität Kiel, 24226 Heikendorf bei Kiel 120. Wadle, Dr. Elmar, Professor, Universität des Saarlandes, 66041 Saarbrücken 121. Wahl, Dr. Rainer, Professor, Institut für Öffentliches Recht, Werderring 10, 79098 Freiburg 122. Weis, Dr. Eberhard, Professor, Universität München, Geschwister-SchollPlatz 1, 80539 München 123. Weitzel, Dr. Jürgen, Privatdozent, Heinrich-Tessenow-Weg 23, 60488 Frankfurt a. M. 124. Willoweit, Dr. Dietmar, Professor, Institut für Rechtsgeschichte, Domerschulstraße 16, 97070 Würzburg 125. Wolf, Dr. Armin, MPI f. europ. Rechtsgeschichte, Hausener Weg 120, 60457 Frankfurt a. M. 126. Würtenberger, Dr. Thomas, Professor, Institut für Öffentliches Recht, Postfach, 79085 Freiburg 127. Wyduckel, Dr. Dieter, Privatdozent, Universität Münster, Universitätsstraße 14 /16, 48143 Münster 128. Zlinsky, Dr. Janos, Professor, Universität Miscolc, Vaci l1t 71, H-1139 Budapest