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German Pages [324] Year 2022
Grundorientierungen Philosophischer Praxis
Heidemarie Bennent-Vahle
Weltverflochtenheit, Verletzlichkeit und Humor Ethisch-anthropologische Überlegungen zur Philosophischen Praxis mit Helmuth Plessner
https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
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Heidemarie Bennent-Vahle
Weltverflochtenheit, Verletzlichkeit und Humor Ethisch-anthropologische Überlegungen zur Philosophischen Praxis mit Helmuth Plessner
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Heidemarie Bennent-Vahle World interconnectedness, Vulnerability and Humor Ethical-anthropological reflections on Philosophical Practice with Helmuth Plessner How we meet and talk to other people, especially in philosophical practice, depends to a large extent on our basic existential beliefs. Based on the anthropological considerations of Helmuth Plessner, Heidemarie Bennent-Vahle develops a special approach for interpersonal commitment within practical philosophical work. Following Plessner’s idea of the ultimate unfathomability of human existence, she makes a distinction from the currently prevailing tendencies of solution-oriented thinking. This combines reflections on the social constitution of human existence, on cultural diversity, on the question of human dignity, on the vulnerability and endangerment of the individual beyond the familiar sphere, as well as on the possibilities of humorous self-relativization. Plessner‘s ethics of behavior also offers valuable suggestions for an ethos of philosophical practice. The author: Dr. Heidemarie Bennent-Vahle is a philosopher and logotherapist. She runs a philosophical practice in Henri-Chapelle (Belgium) and is a member of the board of the International Society for Philosophical Practice (IGPP). She is co-editor of the IGPP yearbook. She also teaches in the course of the Professional Association for Philosophical Practice. Most recently at Alber: Thinking with Feeling – Insights into the Philosophy of Emotions (2013, 3rd edition 2014) and Prudence – a Political Virtue. On the Ethical Relevance of Feeling (2020).
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Heidemarie Bennent-Vahle Weltverflochtenheit, Verletzlichkeit und Humor Ethisch-anthropologische Überlegungen zur Philosophischen Praxis mit Helmuth Plessner Es hängt in hohem Maße von unseren existenziellen Grundüberzeugungen ab, wie wir anderen Personen begegnen und mit ihnen sprechen, insbesondere in der Philosophischen Praxis. In Anlehnung an anthropologische Überlegungen Helmuth Plessners entwickelt Heidemarie Bennent-Vahle einen besonderen Ansatz für das zwischenmenschliche Engagement innerhalb der philosophischen Praxisarbeit. Plessners Idee der letztgültigen Unergründlichkeit menschlichen Seins folgend, nimmt sie eine Abgrenzung gegenüber aktuell vorherrschenden Tendenzen lösungsorientierten Denkens vor. Hiermit verbinden sich Reflexionen zur sozialen Verfasstheit menschlichen Seins, zu kultureller Vielfalt, zur Frage menschlicher Würde, zur Vulnerabilität und Gefährdung des Einzelnen jenseits der Vertrautheitssphäre sowie auch zu Möglichkeiten humorvoller Selbstrelativierung. Auch bietet Plessners Verhaltensethik des Taktes wertvolle Anregungen für ein Ethos Philosophischer Praxis. Die Autorin: Dr. Heidemarie Bennent-Vahle ist Philosophin und Logotherapeutin. Sie führt eine Philosophische Praxis in Henri-Chapelle (Belgien) und ist Mitglied im Vorstand der Internationalen Gesellschaft für Philosophische Praxis (IGPP). Sie ist Mitherausgeberin des IGPP-Jahrbuches. Sie unterrichtet zudem im Bildungsgang des Berufsverbandes für Philosophische Praxis. Zuletzt bei Alber: Mit Gefühl Denken — Einblicke in die Philosophie der Emotionen (2013, 3. Aufl. 2014) sowie Besonnenheit — eine politische Tugend. Zur ethischen Relevanz des Fühlens (2020).
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Das Copyright für das Umschlagbild liegt bei Heidemarie Bennent-Vahle.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99981-3 (Print) ISBN 978-3-495-99982-0 (ePDF)
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1. Auflage 2022 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2022. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Inhalt
I.
Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Warum gerade Plessner? . . . . . . . . . . . . 2. Philosophiegeschichtliche Einordnung . . . . .
II.
Philosophische Anthropologie – Plessners Neuansatz . . . . . . . . . . . 1. Exzentrische Positionalität – »Homo absconditus« . . . . . . . . . a) Natürliche Künstlichkeit . . . . . b) Vermittelte Unmittelbarkeit . . . c) Utopischer Standort . . . . . . . 2. Unausdeutbarkeit des Menschen und menschliche Würde . . . . . . . . . . 3. Würde und Glück . . . . . . . . . . . 4. Ethos gelingenden Lebens . . . . . .
III.
11 11 18
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Plessners Konzept und Problemlagen der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Aktuelle Leitideale – das Dilemma des zeitgenössischen Menschen . . . . . . . . . a) Subjektivierung der Arbeit – neue Arenen der Selbstverwirklichung . b) Das Dilemma zeitgenössischer Menschen 2. Die Macht des Emotionalen – soziale und subjektive Folgen . . . . . . . . . a) Soziale Verwerfungen . . . . . . . . . . b) Verabsolutierung und Entgrenzung des Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . .
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72 72
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Inhalt
IV.
V.
Nachdenken in Philosophischer Praxis . . . . . . 1. Plessners Anregungen für ein Ethos Philosophischer Praxis . . . . . . . . . . . . . a) Unhintergehbare Positioniertheit . . . . . b) Vertrautheit und Fremdheit . . . . . . . . c) Die soziale Verfasstheit des Selbst . . . . . Exkurs 1: Rahel Jaeggi – Varianten der Selbstentfremdung . . . . . . . . . . . . . . . d) Politisch-ethische Verantwortlichkeit . . . e) Ethos der Grazie . . . . . . . . . . . . . . 2. Philosophische Praxis – Selbstwerdung jenseits von Ehrlichkeitsfanatismus und desinteressierter Professionalität . . . . . . . . . a) Akute Problemlagen . . . . . . . . . . . . b) Das Selbst ist unergründlich . . . . . . . . 3. Konsequenzen für ein praktisches Ethos . . . . Exkurs 2: Eine Sozialethik der Selbstumpanzerung und Distanziertheit? . . . . . . . . . . . 4. Das Phänomen der Scham – Bruchstellen des Selbst . . . . . . . . . . . . . Das Weinen – über Humor und Verletzlichkeit . 1. Das Weinen – ein vernachlässigtes Thema der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Selbstoffenbarung – der besondere Weltbezug des Weinenden . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 3: Und Nietzsche weinte nicht . . . . . . 3. Weinen – eine Frage des Geschlechts? . . . . . 4. Moralische Bewertungen . . . . . . . . . . . . 5. Zwischen Inszenierung und ehrlicher Selbstoffenbarung . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Was macht uns weinen? . . . . . . . . . . . .
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82 89 89 93 98 101 103 106
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Inhalt
7. Wahrer Humor kennt den Weltbezug des Weinenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
VI. Humor – ein zentrales Thema Philosophischer Praxis . . . . . . . . . . . . . 1. Humor als Tugend – mehr als eine selbstironische Pose . . . . . . . . . . . . . 2. Humor – selbstrelativierende Subjektivität 3. Menschliche Würde – ein verletzliches Gut 4. Der (un)sanfte Stoß . . . . . . . . . . . . . 5. Die Lächerlichkeit des Philosophen . . . .
. . 203 . . . . .
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VII. Abschlussüberlegung – Humor als Tugend und Selbsttäuschung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Humor als Tugend . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 4: Humor als Tugend – Begriffsgeschichtliche Überlegung . . . . . . 2. Selbsttäuschung . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Problem der Erinnerung . . . . . . . b) Selbsttäuschung – Wie man sich entgehen kann . . . . . . . . . . . . . . c) Stets aktuelle Gefährdungen . . . . . . . 3. Die Antwort Philosophischer Praxis . . . . . 4. Ein Nachtrag – Der Widersinn Philosophischer Praxis . . . . . . . . . . . .
205 214 220 227 233
. 241 . 241 . 243 . 247 . 248 . 253 . 260 . 268 . 295
VIII. Philosophische Praxis als Ethos des Selbstseins – Resümee zentraler Aspekte . . . . . . . . . . . . 303 1. Einige leitende Überlegungen . . . . . . . . . 303 2. Praktische Anregungen . . . . . . . . . . . . . 307 Literaturliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311
9 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
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I.
Hinführung
1. Warum gerade Plessner? In den folgenden Kapiteln wird es darum gehen, einen spezifisch modernen Blick auf das Unternehmen Philosophischer Praxis zu richten. Seit nun schon mehr als drei Jahrzehnten verfolge ich die niemals abbrechenden Debatten um ein Selbstverständnis Philosophischer Praxis unter den in diesem Bereich Agierenden. Beginnend bei einem unablässigen Ringen um angemessene Bezeichnungen für die unterschiedlichen Formate lebensbezogenen Philosophierens, bis hin zur Entwicklung disparater Bestimmungen dessen, was als Proprium Philosophischer Praxis zu fassen sei – vielfach auch in (mehr oder weniger dezidierter) Abgrenzung zur Akademischen Philosophie sowie zu Therapie und Coaching – wäre zu bilanzieren, dass wenig Aussicht auf abschließende Einigungen in dieser Angelegenheit zu bestehen scheint. Dies ist eine Gemengelage, die einige dazu veranlasst, ein derart ›ausgelutschtes‹ Thema endgültig zu den Akten legen zu wollen. Andere plädieren stattdessen nachdrücklich für ein tolerantes Nebeneinander verschiedener, oftmals heterogener, ja zum Teil unvereinbarer Ansätze. Im Blick auf diese Situation möchte ich heute fragen: Verschenken beide Reaktionsweisen nicht wesentliche Möglichkeiten? Laufen sie nicht gleichermaßen auf eine fragliche Indifferenz hinaus? Drängt sich angesichts der nicht abreißenden Schwierigkeiten beim Auffinden generalisierbarer Maßstäbe nicht die Notwendigkeit auf, verschiedene Gesichtspunkte, die sich im Zuge dieser notorischen Uneinigkeit ergeben, genauer zu bedenken? Lässt nicht möglicherweise gerade der anhaltende, offensichtlich untilgbare Dissens auf 11 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Hinführung
eine philosophische Grundausrichtung schließen, in der sich das spezifische Wahrheitsverständnis Philosophischer Praxis konturiert? Können damit einhergehend nicht im Rückschluss sogar einige anthropologische und ethische Festlegungen getroffen werden? Die folgenden Überlegungen versuchen in spezifischer Weise auf diese Fragen einzugehen. Sie tun dies weniger in Form einer kritischen Bestandsaufnahme vorliegender Theorieansätze Philosophischer Praxis – diese werden nicht einmal eigens vorgestellt, geschweige denn einer systematisch-kritischen Würdigung unterzogen 1 –, vielmehr wird der Versuch angestrengt, von einem bis dato unerprobten theoretischen Ausgangspunkt her neu den Weg einer Beantwortung zu beschreiten. Wie gezeigt werden soll, ergeben sich aus den anthropologischen Ausführungen Helmuth Plessners (1892–1985) einige philosophische und damit verknüpft gesellschaftsanalytische Perspektiven, die auf eine diskursive Praxis eigenständiger und verantwortungsbewusster Lebensorientierung hinlenken. Grundlegend wird hier die Erkenntnis der geschichtlichen und kulturellen Relativität des je eigenen Standpunktes. Zu akzentuieren wäre, inwieweit gerade diese Art des Philosophierens, die mit Michael Hampe als »nichtdoktrinäre Philosophie« bezeichnet werden kann 2 , von einem starken impliziten Ethos erfüllt ist, welches gleichsam wie Humus für existenzielle Aufrichtigkeit und zwischenmenschliche Begegnungsfähigkeit zu wirken vermag. Anders gesagt: Plessners anthropologische Sicht führt uns unweigerlich zu einer Art und Weise des Philosophierens, die zugleich den Charakter einer ethischen Praxis annimmt. Insofern aus Plessners Analysen menschlichen Seins eine Eine solche Überblick gewährende Bestandsaufnahme bieten u. a.: Krauß, 2022 u. Romizi, 2019. 2 Zu Hampe aus der Perspektive Philosophischer Praxis, siehe: Krauß, 2022. 1
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Warum gerade Plessner?
nichtmetaphysische Wahrheitsorientierung 3 hervorgeht, korrespondiert ihnen – so meine These – ein Anspruch diskursiver Redlichkeit, der lebensweltliche Selbstverständlichkeiten alteritätsbezogen aussetzt und (gegebenenfalls) auf Umdenken und Selbstveränderung hinzielt. Denn insbesondere im Blick auf Fragen existenzieller Wertorientierung kann kein vorgängiger Maßstab absolut gesetzt werden. Übertragen wir dies auf die Arbeit in Philosophischer Praxis, so ergibt sich, dass Praxisgespräche nicht bloß theoriegeleitet verlaufen können, etwa indem sie sich an vorgefertigte Glückskonzepte anlehnen bzw. zweifelsfreie Rationalitätsstandards und unverbrüchliche Wertordnungen zugrunde legen. Dies heißt für unser konkretes Tun: Die Praktikerin 4 sucht ihr Gegenüber keinesfalls von einem fraglosen, vermeintlich überlegenen Standpunkt aus zu belehren und in die Spur ›des Richtigen‹ zu bringen, sondern sie lässt sich – ihre eigenen Auffassungen zurückstellend – auf die spezifische Welt des/der Anderen ein, insbesondere auch auf die damit stets einhergehenden Risiken, Verluste, Erschütterungen, existentiellen Grenzerfahrungen und Aporien. Mit Michael Hampe gesprochen ist sie bestrebt, sich aus einem Korsett fertiger Urteile zu lösen »zwecks Reaktivierung der Auch wenn Plessners Anthropologie sich von einer Metaphysik apriorischer Vernunftwahrheiten abwendet, lässt sich nach meinem Ermessen durchaus sagen, dass er im Sinne einer naturalisierten Metaphysik verfährt, die ausgehend von bewährten (natur)wissenschaftlichen Erkenntnissen allgemeine Rückschlüsse über die Beschaffenheit der Welt zieht und diese weiterführt, Rückschlüsse, welche allerdings im Voranschreiten der Wissensbestände einer steten Revision unterzogen bleiben müssen. – Zur Naturalisierung der Metaphysik, siehe: Göhner u. a., 2020. 4 Um die Lesbarkeit des Textes nicht zu beeinträchtigen, werden im Folgenden nicht durchgängig beide Geschlechter grammatisch ausgewiesen. Vielmehr verwende ich im Wechsel die männliche oder die weibliche Form, wobei in der Regel jeweils beide Geschlechter sowie auch Menschen mit diverser und transsexueller Geschlechtlichkeit angesprochen sind. 3
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Hinführung
Fähigkeit auf die Welt zu reagieren« 5 , eine Welt, die ihr nun gerade in den mitgeteilten Erfahrungsweisen des/der Anderen entgegentritt. Wie ich an anderer Stelle näher ausgeführt habe, verschreibt sich Philosophische Praxis damit einem Konzept mutueller Empathie bzw. elaborierter Resonanz als Beziehungsqualität. 6 Der Kern des so bezeichneten Geschehens liegt darin, unterschiedliche Erfahrungsweisen gelten zu lassen, ihnen gleichsam mit Andacht zu begegnen, dabei leiblichaffektives Erleben aufmerksam einzubeziehen und für all dies im Austausch miteinander um eine präzisierende Sprache zu ringen, d. h. Übereinstimmungen zu suchen, Ungereimtheiten und Uneinigkeiten zuzulassen und zuletzt auch Grenzen der Verständigung anzunehmen bzw. zu erdulden. Nur eine Gesprächspraxis, die es erlaubt, vermeintlich eindeutige und zweifelsfrei adäquate Welterklärungen in Frage zu stellen, und in der man es zudem nicht einmal primär darauf anlegt, Einhelligkeit herbeizuführen, vermag die Möglichkeit zu eröffnen, der je eigenen Stimme Ausdruck und Gehör zu verschaffen. Und nur in einem solchen Praxisraum wird es vorstellbar, unsere je einzigartige Verwobenheit in überaus komplexe Wirklichkeiten letztlich auch als beeinträchtigend und behindernd für alle Verständigungsprozesse anzuerkennen, jedoch ohne zu verzagen oder entmutigt dabei stehen zu bleiben. Je mehr es gelingt, Vielfalt und Komplexität sichtbar werden zu lassen, umso intensiver und bereichernder wird unser Erleben der Wirklichkeit und umso größer vielleicht auch das Vermögen, angemessene Einsichten interaktiv zu erschließen. Im Folgenden kommt es mir darauf an, ausgehend von Plessners Überlegungen augenfällig zu machen, dass in ein derartiges Praxisgeschehen ein Ethos eingeschrieben ist, welHampe, 2014, S. 87. Bennent-Vahle, 2020, Kap. IV; siehe auch: Staemmler, 2009 – Zur Resonanz als Beziehungsqualität, siehe: Rosa, 2016, Kap. VII.
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Warum gerade Plessner?
ches ungeachtet aller im menschlichen Austausch auftretender Wertdifferenzen und weiterer zahlloser inhaltlicher Unvereinbarkeiten dennoch einem unwiderruflichen Standard zu folgen hat, einem impliziten operationalen Leitprinzip, dem mindestens zwei zentrale Komponenten entsprechen: Dies ist zum einen die Anerkennung des gleichen Rechts aller Menschen, aktiv ein selbstbestimmtes, erfüllendes Leben anzustreben, sofern dieses Streben nicht seinerseits die Lebensrechte anderer aushebelt oder unterminiert. Hierzu gehören unbedingt der Anspruch, respektvoll – um Aufrichtigkeit bzw. Tatsachenwahrheit bemüht – miteinander zu sprechen, sowie die Bereitschaft, praktische Interessen kooperativ miteinander abzustimmen. Darüber hinaus impliziert die anerkennende Haltung als zweite Komponente ein weiterführendes Interesse am Lebensentwurf des Anderen, welches sich in einer aufmerksamen, Anteil nehmenden Hinwendung zu seiner Geschichte, seinen Werthaltungen, Einsichten und Wünschen realisiert. Wie Simone Weil betont, besitzt das Vermögen der Aufmerksamkeit auch bei vordergründig fruchtlos erscheinenden Anstrengungen die Kraft, »mehr Licht in die Seele« zu bringen, weshalb es für sie als allerhöchstes Bildungsgut anzusehen ist. 7 Für das hier umrissene Ethos engagierter zwischenmenschlicher Anerkennung stellt Philosophische Praxis gewissermaßen ein Übungsfeld bereit, insofern die Beteiligten dieser Praxis die umrissenen ethischen Grundstandards in ihren Gesprächen unbedingt respektieren und zugleich mit Bedacht vertiefte Begegnungen zu schaffen suchen, wobei sie jedoch immer den bisherigen Beziehungsstand und den Situationsrahmen berücksichtigen, also insbesondere indiskretes, investigatives oder provokatives Vorpreschen vermeiden. Indem Philosophische Praxis diesem Anerkennungsgeschehen höchste Aufmerksamkeit zukommen lässt, überantworten sich alle daran Beteiligten unweigerlich kon7
Weil, 1961, S. 96 f. – Siehe hierzu auch: Krogmann, 1991, S. 28 ff.
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Hinführung
tinuierlichen Prozessen der Selbsttransformation. Sie gelangen nicht nur zu neuen theoretischen Einsichten, sondern sie modellieren, überprüfen und kontrollieren ihr In-der-WeltSein (und die dazugehörigen Überzeugungen) zugleich einfühlsam im konkreten, respektvollen Umgang miteinander – eine Interaktionsform, die auch unter dem Druck von Meinungskollisionen nicht aufgekündigt wird. 8 Was dies im Einzelnen mit sich bringt, wird im Folgenden noch weiter zu vertiefen sein. Insbesondere wäre das damit einhergehende Berufsethos des Philosophischen Praktikers detaillierter zu thematisieren. Will dieser tatsächlich im Sinne der Einsichten Plessners wirken, so hat er in vielfacher Hinsicht wachsam zu sein: Er muss zum einen der Versuchung widerstehen, sich dem oftmals gebieterischen Wort philosophischer Autoritäten oder Schulen mit übermäßiger Ehrfurcht zu unterwerfen. Stattdessen ist er herausgefordert, auch hier selbstverständlich Erscheinendes zu hinterfragen und festgezurrte Begrifflichkeiten zu verflüssigen. Vor allem den Universalitätsansprüchen eines idealistischen Vernunftbegriffs wäre mit Skepsis zu begegnen. So obliegt es ihm, das Philosophische der Philosophie im stetigen Philosophieren – als unermüdliches Fragen und In-Bewegung-Bringen – aufrechtzuhalten, ungeachtet der damit einhergehenden (temporären) Verunsicherungen und Risiken. Vor allem aber kann sich für ihn, und hiermit komme ich auf einen für diese Arbeit zentralen Punkt, das Philosophische des Philosophierens nicht allein auf der Ebene rein theoretischen Könnens manifestieren. Er hat es vielmehr tendenziell mit seinem gesamten Sein auszufüllen, muss mit seiner ganzen Person überzeugen. Dementsprechend strebt er idealerweise danach, diese Aufgeschlossenheit auch jenseits der Kontexte gemeinWie Krauß in Anlehnung an Lars Leeten darlegt, hat diese Verbindung von Logos und Ethos eine lange bis in die griechische Antike zurückreichende Tradition innerhalb der diskursiven Praxis. – Krauß, 2022.
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Warum gerade Plessner?
samen Philosophierens zu einem zentralen Bestandteil seiner Lebensweise zu machen. Ein solches Ansinnen konfrontiert nun aber gerade Philosophen mit besonderen Schwierigkeiten, da viele von ihnen aufgrund ihrer umfangreichen intellektuellen Bildung nur allzu leicht der Versuchung erliegen, einen überlegenen Standort für sich selbst zu reklamieren. Dies passiert bereits unentwegt im kollegialen Umfeld und im Umgang mit philosophischen Laien besteht ›naturgemäß‹ insoweit eine noch größere Gefahr. Gerd Achenbach formuliert: »Die konkrete Gestalt der Philosophie ist der Philosoph: und er, der Philosoph als Institution der Philosophie in einem Fall, ist die Philosophische Praxis.« 9 Diese Worte verweisen unmissverständlich auf den zentralen Stellenwert der Philosophischen Praktikerin, was grundsätzlich nicht in Abrede gestellt werden kann. Die Verantwortung der Praktikerin liegt aber weniger darin, wie eine Institution zu wirken, denn damit verbindet sich der Eindruck autoritativer Abgeschlossenheit. Vielmehr liegt diese immens hohe Verantwortung in einer vorbildhaften Reflexion des eigenen Menschseins, einer stetigen Bereitschaft zur dialogischen Prüfung der eigenen Person. Will sie den Anspruch erfüllen, nicht als Wissende zu agieren, sondern gemäß dem Vorbild des Sokrates allenfalls als weisende ›weise‹ Fragerin zu wirken, so bedarf dieses hohe Ziel zweifellos der Anstrengung steter kritischer Selbstbeobachtung und -relativierung. Nicht zuletzt um dieses Themenfeld soll es im Folgenden gehen. Plessner bietet diesbezüglich eine Reihe von überaus erhellenden Überlegungen. Darüber hinaus verhilft er uns zu einer differenzierten Perspektive auf die Dilemmata postmoderner – singularisierter – Subjektivität, die sich nach meiner Erfahrung in den Lebensproblemen unserer Gäste wiederfinden, von denen aber nicht zuletzt auch wir selbst in erheblichem Maße betroffen sind. 9
Achenbach, 2010, S. 138.
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Hinführung
2. Philosophiegeschichtliche Einordnung Wie weit man auch zurückblickt, man wird zugestehen müssen: Der unbeirrbare, oft vehement vertretene Wahrheitsanspruch vieler Philosophen steht seit jeher in einem auffälligen Missverhältnis zu den vielfach abgrundtiefen Zwistigkeiten zwischen unterschiedlichen Theorieschulen. Wenngleich die würdevollen Pfade rationaler Argumentation nur selten verlassen wurden, offenbart sich dennoch, dass es den Vertretern bestimmter Denkrichtungen häufig um sehr viel mehr als eine aufrechte, kritikfreudige, verbindend-verbindliche Wahrheitssuche ging. Wie allerorts spielen auch innerhalb der philosophischen Disziplin persönliche Beweggründe – das je eigene In-der-Welt-Sein – eine unsichtbare, vielfach unerkannte, zumeist aber uneingestandene Rolle. Da spezifische mentale Neigungen bzw. ein individuell geprägtes Wahrheitsverlangen kaum ernsthaft thematisiert werden, bleiben derartige Voraussetzungen üblicherweise unreflektiert. 10 Stets ist man stattdessen bemüht, das eigene Weltverstehen in sachliche, vermeintlich zeitlose Argumentationen zu kleiden, es von der Person in ihrer historischen und kulturellen Bedingtheit abzulösen, um den Anschein des Immergültigen zu erwecken. Dagegen wäre vorzubringen: Jeder wächst in ein spezifisches geistiges Milieu hinein, findet darin Möglichkeiten der Welterklärung sowie – vorzugsweise in religiös gefärbten Lehren – auch Wege des Trostes und der praktischen Lebenshilfe. Stellt man dies in Rechnung, so zeigt sich bald, dass emotionale Eigenheiten, konkrete Lebenserfahrungen und je persönliche Interessen der Akteurinnen auch in philosophischen Kontexten eine deutlich größere Rolle spielen, als mancher gerne zugestehen möchte. So mag für den einen das zentrale Anliegen darin bestehen, eine angestammte, nie ernsthaft hinterfragte, Schutz 10
Siehe hierzu: Bennent-Vahle, 2020.
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Philosophiegeschichtliche Einordnung
gewährende geistige Heimat zu verteidigen. In anderen Fällen regiert vielleicht gerade umgekehrt der Wunsch nach einer radikalen Abkehr von den eigenen Wurzeln. Auf diese Gegebenheiten weist insbesondere William James mit Emphase hin, wenn er sagt, dass unsere Wahrheiten »in unübersehbarem Maße vom Menschen selbst gemacht sind. Menschliche Beweggründe bestimmen alle unsere Fragestellungen, in unseren Antworten steckt immer auch die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, alle unsere Formeln enthalten ein menschliches Element.« 11 Selbst abstrakte, blutleer erscheinende Konstrukte rationalistischer Welterklärung, die wenig engagierte Aufmerksamkeit für die singulären Freuden und Nöte menschlicher Existenz aufbringen, haben ihren ›denkwürdigen‹ Wert darin, Gefühle innerweltlicher Bedrohlichkeit zurückzudrängen und ruhig zu stellen. Im Glauben an das Absolute wird alles Endliche in seiner Unvollkommenheit so behandelt, »als wäre es potenziell das Ewige«. Wir agieren dabei so, »dass wir auf ein gutes Ende sicher vertrauen und unsere Ängste und Sorgen um unsere diesseitige Verantwortung, ohne uns zu versündigen, vergessen können« 12 . James führt für diese Denkweise Beispiele aus einer Reihe von Philosophien an und stellt fest, dass aus solchen monistisch-rationalistischen Abstraktionsmanövern oftmals auch ein »Recht auf moralischen Urlaub« 13 abgeleitet wird. Da sich alles im Rahmen einer vorrangig gültigen, ewigwährenden geistigen Ordnung vollzieht, ist das Handeln des Einzelnen im Grunde genommen von zweitrangiger Bedeutung. Während der Anhänger ewiger Vernunftwahrheit sich also derart im Zeichen höchster Wahrheitsgewissheit mit übertriebenem Optimismus aus der Wirklichkeit zu stehlen weiß, halten viele Vertreter einer naturwissenschaftlich11 12 13
James, 2012, S. 149. Ebd., S. 47 f. Ebd., S. 48.
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Hinführung
empiristischen Weltauffassung in erster Linie fatalistischpessimistische Sichtweisen für legitim. Auch hier misst man dem Einzelmenschen eher geringe Bedeutung innerhalb des Naturganzen zu. Angepasst an natürliche Bedingungen und objektive Gegebenheiten, kann menschliches Sein nach dieser Auffassung nur als ein Durchgangsstadium im Voranschreiten der Evolution angesehen werden. Dieser leidigen Tatsache müssen wir uns fügen, auch wenn sie inhuman und wenig ermutigend erscheinen sollte. Im Zeichen eines »medizinischen Materialismus« 14 geht man sogar so weit, die Entstehung religiöser oder ethischer Ideale auf physiologische Prozesse zurückzuführen. Diese Haltung, die in allen geistigen und moralischen Leistungen des Menschen nicht mehr erblickt als den Ausdruck organischer Verfasstheiten und die folglich den Eigenwert der geistigen Sphäre in Abrede stellt, findet bis heute ihre leidenschaftlichen Anhänger, denen bereits James nicht zu Unrecht eine quasi-religiöse, unduldsame Wissenschaftsgläubigkeit attestiert. Welche Haltung wir auch ausmachen – ob optimistischrationalistisch oder eher pessimistisch-empiristisch –, allenthalben offenbart sich das drängende menschliche Verlangen, Gewissheit zu finden und Wahrheitsansprüche zu erheben, um die erfahrungsgetränkte Relativität und Perspektivität des eigenen Standpunktes zurückzuweisen. Zu irritierend erscheint das Zugeständnis, die Bedingtheit allen Weltwissens anzuerkennen und auch die eigenen Grundüberzeugungen folglich permanent einer diskursiven lebenspraktischen Überprüfung aussetzen zu müssen. Doch ich denke, wir tun gut daran, mit James zu konzedieren: »Die Denker, die Ideale schaffen, kommen von wer weiß wo her; ihre Sensibilität wird wer weiß wie entwickelt. Und die Frage, welches der zwei widerstreitenden Ideale jetzt und hier das beste Universum ergibt, kann der Philosoph nur mit Hilfe der Erfahrung
14
James, 1997, S. 46.
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Philosophiegeschichtliche Einordnung
anderer Menschen beantworten.« 15 Tatsächlich ist es aber ein Grundzug vieler philosophischer Ansätze, die Welt monistisch aus einem zentralen Prinzip oder einer fraglos priorisierten Perspektive heraus zu erklären. Der faktischen Vielfalt divergierender Denksysteme wird kaum in angemessener Weise Rechnung getragen, erst recht nicht, wenn wir gefordert sind, über den Tellerrand der abendländischen Tradition hinauszublicken. Bis in die Gegenwart hinein wird die jahrhundertealte Vision einer einheitlichen Welt aufrechterhalten, wobei Einheitlichkeit als Wirklichkeit unterstellt wird und nicht als ein Wunschziel möglichst großer Übereinkunft, auf das hin wir unsere Tatsachenprüfungen und Verständigungsanstrengungen ausrichten sollten. In der Tat konnte unter Rationalisten und Vernunftapologeten kaum je von Einhelligkeit gesprochen werden. Je mehr man von der Richtigkeit der eigenen Sicht überzeugt war, umso mehr Zwietracht und Angriffslust beherrschte die Diskurse, wobei man gelegentlich auch vor Diffamierungen nicht zurückschreckte. Die frappierende Schärfe, mit der Vertreterinnen konträrer Positionen gelegentlich aufeinander losgehen, nährt den Verdacht, dass hier nicht zuletzt Rechthaberei sowie die Demonstration intellektueller Überlegenheit wesentliche Antriebskräfte darstellen. Auffällig erscheint nebenbei bemerkt auch das häufige Phänomen, die Originalität der eigenen Gedanken mit Nachdruck zu akzentuieren und das von anderen Übernommene im Zuge dessen möglichst unsichtbar werden zu lassen bzw. sogar zu unterschlagen. Totgeschwiegen werden besonders häufig die Denker und Denkerinnen, deren Erträge den eigenen sehr nahe kommen. Im Zuge einer kritischen Auseinandersetzung mit den rationalistischen Entwürfen der Aufklärung tauchen einander stark entgegengesetzte Strömungen innerhalb der Philosophie auf. Während des 19. Jahrhunderts wird das Selbstbild 15
James, 1948, S. 200.
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Hinführung
eines autonom denkenden Vernunft-Ichs von vielen Denkern fundamental in Frage gestellt. Eine Neubewertung erfährt hier auch die von Kant entwickelte Idee transzendentaler Subjektivität, deren Denkgesetze aller Erfahrungsbegegnung als Bedingungen vorangestellt sind. Zunehmend stemmen sich diesem idealistischen Ansatz und dem damit verknüpften Ideal einer in autonomer Geistigkeit verankerten Subjektivität Erkenntnisprozesse entgegen, die das Subjekt maßgeblich über Faktoren leiblicher Weltverbundenheit bzw. durch historisch und kulturell bedingte soziale Vermittlungsprozesse bestimmt sehen. So rückt bei Stirner oder Kierkegaard die Einzigartigkeit individueller Existenzen in den Fokus, und der Marxismus begreift den Menschen als praktisch arbeitendes Gattungswesen, geprägt durch historisch variable ökonomische Lebensverhältnisse. Ein anderes Prinzip als der freie Geist wird zur maßgeblichen Instanz – sei es bei Schopenhauer, der eine alle Erscheinungsweisen beherrschende Willenskraft zugrunde legt, sei es bei Nietzsche, der daran anknüpfend menschliche Erkenntnisleistungen bezüglich ihrer Lebensdienlichkeit relativiert, oder sei es bei Freud die Entdeckung, dass das Ich nicht Herr im eigenen Haus ist, sondern in Abhängigkeit von unbewussten Antrieben agiert. Evolutionstheorie und neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse lieferten nicht minder elementare Beiträge zur Destruktion des idealistischen Menschenbildes. Auf diese Gesamtsituation, die im vorliegenden Zusammenhang nicht weiterführend erläutert werden soll, reagierte man im 20. Jahrhundert auf unterschiedliche Weise. Zwei Grundtendenzen wären hervorzuheben: 16 Zum einen findet sich hier in Reaktion auf den Prestigeverlust des Vernünftigen der Versuch, Vernunft auf neuartige Weise gegenüber irrationalen Kräften zu stabilisieren, indem man philosophische Reflexion nunmehr streng darauf zu beschränken suchte, dem logisch-systematischen Aufbau der Naturwissen16
Siehe zum Folgenden vertiefend: Joachim Fischer, 2009 u. 2006.
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Philosophiegeschichtliche Einordnung
schaften zu folgen. Beispiele hierfür wären der Neukantianismus, der Logische Empirismus sowie die sprachanalytische Philosophie. Konträr dazu entwickelten sich andere Strömungen, die sich – wie z. B. die Lebensphilosophie – dezidiert den prärationalen Lebenskräften zuwandten, wobei der Geist auf eine funktionale Komponente des Lebens herabgestuft wurde. Auf diese komplexe Gesamtsituation reagieren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einige prominente Philosophen mit dem Versuch einer anthropologischen Neuerfassung der menschlichen Position im Weltganzen. Auch mit Blick auf den inzwischen erreichten naturwissenschaftlichen Erkenntnisstandes bietet nach meinem Ermessen insbesondere der Ansatz Helmuth Plessners zahlreiche erhellende Diagnosen der conditio humana, an die sich seitens einer – mittlerweile weltumspannenden – Philosophischen Praxis aus meiner Sicht besonders gut anknüpfen lässt. Hierfür sprechen darüber hinaus die außerordentlichen gesellschaftsbezogenen Analysen Plessners, welche mit eindrücklicher Präzision auch die prekäre Lage des Einzelnen innerhalb moderner posttraditioneller Gesellschaften ausleuchten. Außerdem liefert Plessners Konzept menschlicher Würde eine überaus geeignete Ausgangsbasis für die Bestimmung eines unhintergehbaren Ethos Philosophischer Praxis. Die folgenden Ausführungen dienen also dem Zweck, dem Anliegen Philosophischer Praxis mit Plessner ein zeitgemäßes anthropologisches Fundament zu geben, und zwar ein solches, von dem aus sich in hervorragender Weise die besonderen existenziellen Problemlagen gegenwärtiger Menschen erfassen lassen. Plessners vieldiskutierter anthropologischer Neuansatz wird nachfolgend kurz in einigen Grundlinien nachgezeichnet. Es geht mir dabei weder um eine differenzierte Abgrenzung gegenüber anderen Ansätzen philosophischer Anthropologie noch um eine Positionierung innerhalb der vielfältigen Kontroversen um Plessners Werk, die sich seit 23 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Hinführung
geraumer Zeit verfolgen lassen. Im Anschluss an eine Reihe ausgewiesener Plessnerkennerinnen interessiert mich insbesondere sein Konzept der Person in ihrer sozial verfassten Unauslotbarkeit. Nimmt man diese Sicht ernst, so ergeben sich daraus, wie zu zeigen ist, insbesondere auch Konsequenzen für die kommunikative Interaktion innerhalb der Praxisarbeit. Denn eine Anthropologie, welche die menschliche Person immer zugleich als immaterielles sich abhebendes Geistwesen sowie als materiell-physisch eingebundene Existenz begreift, muss subjektive Wissens- und Kontrollansprüche in ihre Grenzen weisen. Das heißt, mit Plessner kommt unweigerlich eine zusätzliche Reflexionsstufe ins Spiel, die den Philosophierenden abverlangt, die eigenen theoretischen Annahmen offen zu halten und in ihnen stets nur Möglichkeiten des Verstehens zu sehen. Es geht um eine Haltung, die sich nicht allein in Form verbaler Absichtserklärungen kundtut, sondern im tatsächlichen praktischen Vollzug realisiert. 17 Mag diese Haltung auf dem Feld der Theoriebildung einigen unzumutbar oder wenigstens doch kaum praktikabel erscheinen, so ist sie unverzichtbar für Verständigungsprozesse von Mensch zu Mensch, nicht zuletzt innerhalb der Philosophischen Praxis. Auch eine naturwissenschaftlich disponierte Herangehensweise, die Individuelles subsumiert, einordnet und im Experiment darüber zu verfügen sucht, ist hier fehl am Platze. Vielmehr ist ein Modus geisteswissenschaftlicher Arbeitsweise notwendig, der sich durch besondere Aufmerksamkeit im Ringen um Zugänglichkeit und Verständlichkeit auszeichnet. Auf diesem Terrain gilt: Die »Objekte sprechen sich selber aus und geben sich den um sie Bekümmerten zu bedeuten. (…) Ihre Objekte sind im Sinne des Verstehens als prinzipiell unergründbare Frage gestellt. Sie sind offene Fragen.« 18 Ähnlich ausgerichtet akzentuiert der Philosoph Hierzu: Schürmann, 2006, S. 84. Plessner, 2003a, S. 181 – Wie Gesa Lindemann herausstellt, beansprucht Plessner eine solche geisteswissenschaftliche Annäherung an
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Philosophiegeschichtliche Einordnung
Anders Lindseth in seinem wegweisenden Buch zur Philosophischen Praxis auch für dieses Tätigkeitsfeld die Gefahr, auf der Basis eines (vermeintlich) genauen Wissens über die Beschaffenheit von Realitäten die konkrete Erfahrung eines Gegenübers einzuebnen oder zu übergehen. In Anlehnung an Emanuel Lévinas formuliert er: »Der andere Mensch ist die einmalige Person, die mir begegnet, dessen Antlitz mit keinem anderen Antlitz identisch ist, und dessen verletzbare und geradezu unmerkliche Individualität meine Aufmerksamkeit erfordert. Das, was das Individuelle, Einmalige und andere allzu schnell auslöscht, ist mein Wissen.« 19 Wenngleich Plessner auch in seinem anthropologischen Hauptwerk die Relevanz verstehenden Denkens – in Entsprechung zu dem Prinzip des offenen Fragens – darlegt, so liefern vor allem seine gesellschaftsbezogenen Analysen fruchtbare Anregungen für ein Leitethos Philosophischer Praxis. Für unsere Haltung als PraktikerInnen benötigen wir insbesondere eine Vorstellung menschlicher Würde jenseits einer Vorabfixierung auf (kultur)spezifische inhaltliche Wertsetzungen, welche absolute Verbindlichkeit für sich beanspruchen. Wie Volker Schürmann darlegt, kritisiert Plessner die Existenz einer Wertordnung im Singular. Überindividuelle normative Geltungsansprüche könne/dürfe es nach Plessner, wie Schürmann meint, nur im Plural geben. 20 Hier nun stellt sich die Frage, ob diese Orientierung am Plural als Grundsatz einer guten Lebensführung nicht ihrerseits prozessuale ethische Verbindlichkeiten voraussetzt, die unhintergehbar sind. Hierauf wird zurückzukommen sein.
ihren Gegenstand auch für die soziologische Wissenschaft. Siehe: Lindemann, 2005, S. 7. 19 Lindseth, 2005, S. 70. 20 Schürmann, 2006, S. 86.
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II. Philosophische Anthropologie – Plessners Neuansatz »Der Kampf mit dem Mißverständnis und der Fehldeutung ist der ständige Begleiter eines jeden Menschen und bildet für das wissenschaftliche Studium geistig-gesellschaftlichen Lebens (…) das Problem.« (Helmuth Plessner)
Durch den Auseinanderfall von Leben und Geist sah sich eine Reihe von Denkern in besonderer Weise herausgefordert. Indem sie die unleugbare Relevanz einer vorrationalen, leiblich-emotionalen Eingebundenheit des Menschen anerkannten, suchten sie sein geistiges Vermögen auf neuartige Weise zu konzeptualisieren. Es waren vornehmlich Vertreter der Philosophischen Anthropologie, die diesen Weg einschlugen und dabei zu durchaus verwandten, wenn auch an entscheidender Stelle divergierenden Konzeptionen gelangten. Nach meinem Ermessen bietet insbesondere der anthropologische Ansatz von Helmuth Plessner und die hier ausdifferenzierte Kategorie »exzentrischer Positionalität« ergiebige Anknüpfungspunkte und Anregungen für eine zeitgemäße Theorie Philosophischer Praxis. Wie Joachim Fischer herausstellt, lässt sich bei Plessner »philosophiesystematisch (…) von einem originären Denkansatz« sprechen. 1 Während Scheler an einem metaphysisch bestimmten Geistbegriff festhält, sieht Plessner die geistige Dimension des Menschen nicht als autonom an 2 , da dessen psychovitale Fischer, 2000, S. 266 – Fischer konstatiert und konturiert hier eine Eigenstellung von Plessners Konzept im Abgleich mit allen wesentlichen anthropologischen Positionen des 20. Jahrhunderts wie Existenzialismus, Phänomenologie, Kritische Theorie, Strukturalismus, Systemtheorie etc. 2 Schelers Anthropologie hält an der Autonomie des Geistes fest, wenngleich sein Geistbegriff nicht allein Vernunft, sondern auch emotionale 1
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Philosophische Anthropologie – Plessners Neuansatz
Positionalität unaufhebbar bestehen bleibt und auf vorangestellte Faktizitäten bzw. bedingende Gegebenheiten verweist. Damit wendet sich Plessner sowohl gegen idealistische Konzepte, die den Menschen ganz aus dem Tierreich herauszuheben suchen, als auch gegen rein biologistische, naturalisierende Sichtweisen. Im Blick auf menschliche Erkenntnisleistungen bedeutet dies Folgendes: Geistige Distanzierung ist eine spezifische freiheitsbedingende Möglichkeit menschlichen Lebens. Dennoch erlaubt dieses Vermögen stets nur eine Erhöhung der Freiheitsgrade, denn auch im Abstandnehmen kann sich das Ich des Betrachters niemals vollständig aus allen bedingenden Dynamiken lösen. Es kann diese ›Vorgänge‹ auch niemals restlos von einem neutralen Standort aus vergegenständlichen und durchschauen. Das ›reine, intelligible Ich‹, das in der Philosophie zumeist zugrunde gelegt wird, muss eine Fiktion bleiben. Es fehlt eine letzte unhinterfragbare Sicherung, die den Erkenntnisprozess trägt, denn der ›Ich-Pol‹, von dem aus das exzentrische Selbst auf sich selbst Bezug nimmt, entzieht sich letztlich (immer wieder neu) der Vergegenständlichung. 3 Dementsprechend konstatiert Heike Kämpf: »Plessner weist schließlich die Selbstverunsicherung als unauslöschlichen Bestandteil der Philosophie selbst aus.« 4 Diese dem Menschen spezifische Struktur bezeichnet Plessner als exzentrische Positionaliät. Gemäß einer Formuund volitive Akte umfasst. Obschon dieser Ansatz nicht vollumfänglich geteilt werden kann, bieten Schelers Analysen der menschlichen Emotionalität aus meiner Sicht für die Philosophische Praxis viele aufschlussreiche und inspirierende Einsichten, insbesondere zu den Mitgefühlen. Siehe: Scheler, 1985; siehe hierzu auch: Bennent-Vahle, 2013. 3 Hier ist bemerkenswert, dass die Philosophin Else Voigtländer schon Jahre zuvor eine phänomenologische »Aufrollung des gesamten Ichproblems« angeregt hatte, um »im Anschluss an die bisherigen historischen Fassungen des Ichbegriffs« den psychologischen Sinn dieser Vorstellung des ›reinen‹ Ichs auszuloten. – Siehe: Voigtländer, 1910. 4 Kämpf, 2001, S. 25.
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Philosophische Anthropologie – Plessners Neuansatz
lierung Joachim Fischers bestimmt Plessner den Menschen darin als »das natürliche Phänomen einer Durchbrechung der natürlichen Anpassung« 5 , weil er in der Lage ist, seinen Körper temporär weitgehend auszuschalten bzw. weil er zu dieser Ausschaltung gewissermaßen von Natur aus sogar gezwungen ist. Gemäß dieser Logik wäre die Lebenswelt des Menschen weniger als das Resultat evolutionärer Steigerung zu beschreiben, sondern vielmehr als ein biologisch bestimmtes Heraustreten aus der Kontinuität der Vitalkräfte, als ein Aufbruch zu einer Freiheit, die befähigt ist, künstliche Milieus aus den natürlich vorgegebenen Stoffen zu gestalten.
1. Exzentrische Positionalität – »Homo absconditus« Der Begriff »exzentrische Positionalität« bestimmt den Menschen als Kulturschaffenden, der dieser Gestaltungsfreiheit unter je anderen natürlichen Konditionen nachkommt und damit stets gebunden an diese Voraussetzungen agiert. Was den Menschen ausmacht, ist sein Ausgesetztsein infolge eines Mangels an instinktgebundenen Regulierungen. Um sein Gleichgewicht zu gewährleisten, ist er genötigt, Vermittlungen zu generieren und Strukturen zu formieren, mithin kulturschaffend zu agieren. Zugleich unterliegt die kulturelle Überformung natürlicher Positioniertheit einem Prozess unablässiger Überschreitung des jeweils erreichten Status quo. Bisherige Gebundenheiten können zwar nicht übergangen oder ignoriert werden, doch jeder Versuch, aus ihnen dogmatisch ein Menschenbild herleiten zu wollen, muss scheitern, weil die bestimmende Subjektinstanz sich selbst niemals endgültig ergründen kann und deshalb ruhelos bleibt. Nach sich selber greifend, entgleitet sie sich – ein Prozess, für den Herbert Mead das folgende Strukturprinzip formuliert: »Das ›Ich‹ dieses Moments ist im ›ICH‹ des nächsten Moments 5
Fischer, 2009, S. 582.
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Exzentrische Positionalität — »Homo absconditus«
präsent. Auch hier kann ich mich wieder nicht schnell genug umdrehen, um mich noch selbst zu erfassen.« 6 Dies wäre noch ein wenig zu vertiefen: Philosophische Anthropologie setzt ein nach sich selbst fragendes Wesen voraus, doch dieses kann sein Nach-sich-selbst-Fragen nicht vollständig vergegenständlichen, insofern ihm sein eigener reflexiver Standort nicht zugänglich ist. Indem Plessner den Menschen als letztlich unauflösliche Verschränkung eines vernunftfähigen Wesens mit einem in vitale Prozesse eingebundenen Lebewesen denkt, ergibt sich ein untilgbarer Rest des Rätselhaften. Denn jeder Versuch einer definierenden Objektivierung setzt einen Bestimmenden voraus, welcher der Betrachtung entzogen bleiben muss. Suche ich seinen Standort zu fassen, so begebe ich mich erneut auf eine exzentrische Position jenseits der Verdinglichung. Entsprechend lesen wir in den Stufen folgende Worte zur Grundstruktur menschlicher Lebewesen: »Obwohl auch auf dieser Stufe das Lebewesen im Hier-Jetzt aufgeht, aus der Mitte lebt, ist ihm doch die Zentralität seiner Existenz bewusst geworden. Es hat sich selbst, es weiß um sich, es ist sich selber bemerkbar und darin ist es Ich, der ›hinter sich‹ liegende Fluchtpunkt der eigenen Innerlichkeit, der jedem Vollzug des Lebens aus der eigenen Mitte entzogen den Zuschauer gegenüber dem Szenarium dieses Innenfeldes bildet, der nicht mehr objektivierbare, nicht mehr in Gegenstellung zu rückende Subjektpol. Zu immer neuen Akten der Reflexion auf sich selbst, zu einem regressus ad infinitum des Selbstbewußtseins ist auf dieser äußersten Stufe des Lebens der Grund gelegt und damit die Spaltung in Außenfeld, Innenfeld und Bewußtsein vollzogen.« 7 Mead, 1980, S. 217. Plessner, 1981, S. 363 – Es kann hier nicht Aufgabe sein, Plessner Stufenmodell detailliert vorzustellen. In seinem Werk Die Stufen des Organischen und der Mensch ordnet er den Menschen in den Stufenbau des Lebendigen ein. Demnach macht es den Menschen aus, dass er das an ihm selbst Seiende gegen die äußere Umwelt abzusetzen vermag, wobei er zugleich auf diese Umwelt bezogen bleibt und Rückwirkungen von
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Anders gesagt: Jede Bestimmung erfolgt von einem nicht fixierbaren Standort der Subjektivität aus, von dem her das in der Bestimmung Objektivierte bereits wieder überschritten wird. Die sich hieraus ergebende Unmöglichkeit letzter Selbsterkenntnis steht im Mittelpunkt der Anthropologie Plessners. Die Unaufhebbarkeit dieser Selbstverborgenheit des Subjektpols veranlasst Plessner dazu, die Kategorie des »Homo absconditus« in den Mittelpunkt seiner anthropologischen Überlegungen zu stellen. An anderer Stelle spricht er auch von der »konstitutiven Heimatlosigkeit des Menschen«, von seinem »Stehen im Nirgendwo«. 8 Das menschliche Erleben ist in sich gebrochen, insofern der Mensch durch die Vollzugsform reflexiver Selbstvergewisserung immer schon aus seiner Mitte verstoßen ist. Das Erkennenkönnen der eigenen Reflexivität ist niemals reine Vernunft, sondern eine eigentümliche Sichtweise, in der absolutes Innen ebenso wie die Außenperspektive immer schon ineinandergreifen und -wirken. Plessner verbindet mit seinem Begriff der Exzentrizität eben keine unabhängige Sphäre des Geistes, vielmehr ist damit eine Existenzweise bezeichnet, die sich auch in ihrem inneren Erleben – in ihrem absoluten vitalen Innen, wenn man
ihr empfängt. Während die pflanzliche Organisationsform offen ist, d. h. in ihren Lebensbezügen unmittelbar von der Umgebung abhängig ist, besitzt schon das Tier eine geschlossene (zentrische) Organisationsform, d. h. es besitzt einen stärker auf sich selbst zentrierten Organismus, der durch die Ausbildung von Organen (das Zentralorgan Gehirn), durch Selbstbeweglichkeit sowie die Trennung von Sensorik und Motorik bestimmt ist. Demgegenüber zeichnet sich der Mensch durch die im Haupttext genauer ausgeführte exzentrische Positionalität aus, welche sich kraft ihrer Reflexivität zu sich selbst verhalten kann. Aufgrund dieser Distanz ist der Mensch von Natur aus auf Kultivierung angelegt und erfährt das Leben als eine von ihm selbst zu vollziehende Aufgabe. – Einen differenzierten Überblick hierzu bietet: Haucke, 2000. 8 Plessner, 1981, S. 383 bzw. 424 – Siehe zum Folgenden auch: Kämpf, 2001, Kap. 4.
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so will – als von Reflexivität durchzogen erfährt. 9 Fortwährend neu herausgefordert und getrieben, entfaltet der Mensch seine kognitiven Potentiale und gelangt im Zuge dessen zu einem immer komplexeren Selbst- und Weltverstehen. Die menschliche ›Natur‹ ist nach Plessner so beschaffen, dass durch sie geschichtliche Entwicklung ermöglicht und fortdauernd aufrechterhalten wird. In letzter Instanz unbestimmbar, unterliegt diese ›Natur‹ der historischen und kulturellen Relativierung, durch die sie mit einer Vielzahl von Attributen angereichert wird. Da jedoch nie der Eindruck des Vorläufigen überwunden werden kann, erwächst zugleich das Bewusstsein der Gefährdung menschlichen Seins. Plessner fasst die Struktur dieses Seins in drei anthropologische Grundgesetze: a) natürliche Künstlichkeit, b) vermittelte Unmittelbarkeit und c) utopischer Standort. Zum vertieften Verständnis seien diese nun kurz erläutert.
a) Natürliche Künstlichkeit Diese Kategorie besagt, dass der Mensch mehr ist bzw. immer schon mehr benötigt, als er von Natur aus ist. Seine natürliche Ausstattung verlangt nach Ergänzung durch Artefakte, er ist damit angewiesen auf Kulturtechniken, die ihm dazu verhelfen sollen, eine dem tierischen Leben vergleichbare ›natürliche‹ Balance zu gewinnen. »Nur weil der Mensch von Natur aus halb ist und (was damit wesensverknüpft ist) über sich steht, bildet Künstlichkeit das Mittel, mit sich und der Welt in’s Gleichgewicht zu kommen.« 10 Allerdings, da diese Künstlichkeit im »Formtypus der Existenz« des Menschen liegt, mithin ein »wesensentsprechender Ausdruck seiner Natur« ist 11 , vermag keine der schöpferischen AnstrengunSiehe vertiefend hierzu auch: Haucke, 2000, S. 140 ff. Plessner, 1981, S. 396. 11 Ebd., S. 391 – Hier heißt es: »Existenziell bedürftig, hälftenhaft, nackt 9
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Philosophische Anthropologie – Plessners Neuansatz
gen das erstrebte Ideal vorreflexiver Ungebrochenheit zu erlangen. Unergründlichkeit bleibt das verbindliche Prinzip menschlichen Lebens. Zugleich fungiert dieses Ideal in seiner Unerreichbarkeit als stetiger Antrieb für weiterführende kulturelle Schaffensprozesse. Im Sinne dieses nicht stillzustellenden Vollzuges erweist sich Exzentrizität als dynamische Seinsform, über welche der Mensch, weil sie seiner Natur eingeschrieben ist, nicht optional verfügen kann. Hieraus leitet sich nach Plessner allerdings kein festlegbares normierendes Menschenbild ab, allenfalls ein regulatives Prinzip, welches den Menschen als geschichtsbedingend bestimmt und jeden Einzelnen in seine Grenzen weist. Das heißt: Wirklichkeitsformierende Potenz als Wesenskern bedeutet, dass eine Vielzahl menschengemachter kultureller Regelwerke und Wertsysteme nebeneinander bestehen, von denen keines als Ausdruck wahren Menschseins Überlegenheit für sich beanspruchen kann: »Und nur sofern wir uns unergründlich nehmen, geben wir die Suprematiestellung gegen andere Kulturen als Barbaren und bloße Fremde, geben wir auch die Stellung der Mission gegen die Fremde als die noch unerlöste unmündige Welt auf und entschränken damit den Horizont der eigenen Vergangenheit und Gegenwart auf die zu den heterogensten Perspektiven aufgebrochene Geschichte.« 12
b) Vermittelte Unmittelbarkeit Alle kulturellen Konstrukte und Wertsysteme sind von Menschen gemacht. Mit der Kategorie der »vermittelten Unmittelbarkeit« kehrt Plessner nochmals eigens die Angewiesenheit auf Zwischeninstanzen heraus, die ein menschliches ist dem Menschen die Künstlichkeit wesensentsprechender Ausdruck seiner Natur.« 12 Plessner, 2003a, S. 161.
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Exzentrische Positionalität — »Homo absconditus«
Wesen für jede Beziehung zu seinem Umfeld sowie auch zu sich selbst benötigt. In der Kontaktaufnahme mit der Welt bleibt es an Wissensbestände und Ausdrucksmittel gebunden, durch die seine jeweiligen individuellen Intentionen in ihrer Bedeutung abgewandelt und gebrochen werden. Da derartige Bedeutungsverschiebungen nicht antizipierbar sind, tritt der aktive Mensch in für ihn selbst nur begrenzt durchschaubare und unabsehbare, umfassende Sinnzusammenhänge ein. Er erlebt sich als verankert in einer Welt, in der er unausweichlich an Bestehendes anknüpfen muss, so dass sein freies Tätigsein und seine individuellen (Selbst)Entwürfe stets Beschränkungen unterworfen sind. Folglich muss er anerkennen, dass seinem sich im Rückgriff auf etablierte intersubjektive Vermittlungsformen vollziehenden Agieren immer auch passivische Momente eigen sind, dass er Teil eines geschichtlichen Flusses ist, welcher seine Handlungsspielräume einerseits überhaupt erst eröffnet, andererseits aber über Vorgegebenes ebenso einengt. Er kann also weder damit rechnen, eigene Anliegen gradlinig, d. h. ohne Abstriche und Konzessionen in die Welt zu bringen, noch sind ihm Erfahrungen unmittelbaren Einklangs gegeben.
c) Utopischer Standort Dieses unüberwindliche Defizit verweist auf die dritte Kategorie, die des »utopischen Standortes«. Die permanente Gebrochenheit, das nicht auszutarierende Ungleichgewicht menschlicher Welterfahrung – an welchen Standort auch immer – impliziert ein Erleben von Heimatlosigkeit und Wurzellosigkeit. Daraus resultiert zum einen, wie schon erwähnt, der permanente Drang nach Überschreitung des Gegebenen, zum anderen aber auch das Verlangen danach, jenseits menschlicher Wirklichkeiten einen sicheren Halt zu suchen. Insbesondere Religion soll dem Menschen Stabilität schenken, insofern sie ihm Zuflucht in »utopischer« Heimat 33 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
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verheißt: »Eins bleibt für alle Religiosität charakteristisch: sie schafft ein Definitivum. Das, was dem Menschen Natur und Geist nicht geben können, das Letzte: so ist es –, will sie ihm geben (…) Heimat schenkt nur die Religion.« 13 Allerdings erklärt sich Religiosität – gleichermaßen im Übrigen auch jedes metaphysische Wahrheitsbegehren – für Plessner zwar von der exzentrischen Positionalität her, muss aber dennoch aufgrund der menschlichen Reflexivität immer wieder auch von Zweifeln erschüttert werden. 14 Es kann also nach Plessner nicht darum gehen, eine unwandelbare Wahrheit der menschlichen Natur zu enthüllen, sondern allein darum, eine Praxis der Freiheit zu verteidigen und allen vermeintlichen intellektuellen ›Meistern‹ mit skeptischer Wachheit zu begegnen. Plessner, der sich während der Zeit des Nationalsozialismus in die Niederlande begeben musste, griff mit Nachdruck nicht nur die verhängnisvolle Naziideologie an, gleichermaßen kritisierte er Heideggers unhistorische Daseins-Ontologie wegen ihrer zu negativen Sicht auf die kulturell-gesellschaftliche Eingebundenheit des Menschen. So gibt er zu bedenken: »Im Enderfolg kommt mit der apriorischen Anthropologie so oder so eine Verabsolutierung bestimmter menschlicher Möglichkeiten heraus. Schon der Katholik z. B. wird die Heideggersche Angabe des Sinns von Existenz ablehnen müssen. Und wie erst müssen sich die Aspekte außereuropäischer Kulturen und Daseinssysteme dagegen ausnehmen; zu deren Sinn der eminente ›Mangel‹ an Individualität, Personalität und Freiheit zu Möglichkeiten gehört, einer ›Verfallenheit an das Man‹, – deren eigener Lebenssinn damit eben nicht getroffen wird, wenn er in solcher Perspektive erscheint.« 15
Plessner, 1981, S. 420. Siehe hierzu: Kämpf, 2001, S. 72 f. – Kämpf markiert hier einen deutlichen Unterschied zur Anthropologie Schelers. 15 Plessner, 2003a, S. 159 – Zu Plessners Sicht auf Heideggers Daseinsontologie, siehe: Dietze, 2006, S. 73–75. 13 14
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Exzentrische Positionalität — »Homo absconditus«
Verallgemeinernd wäre letztlich zu sagen: »Eine Erkenntnis, welche die offenen Möglichkeiten im und zum Sein des Menschen, im Großen wie im Kleinen eines jeden einzelnen Lebens verschüttet, ist nicht nur falsch, sondern zerstört den Atem ihres Objektes: seine menschliche Würde.« 16 Völkische und rassistische Festschreibungen zurückweisend, erblickte Plessner die Aufgabe Philosophischer Anthropologie in der »Destruktion eines angeblich fraglosen Eigenwesens des Menschen«, um »die Umkehr in die Entscheidung zur Menschlichkeit« zu ermöglichen. 17 Transportiert wird hier ein Humanitätsverständnis, in dessen Kern ein sich wurzeltief auf andere hin relativierendes Selbst steht, eine Idee des Selbstseins, der ein spezifisches, von jedem moralischen Rigorismus abgehobenes Ethos korrespondiert. Auch wenn Plessner keine Ethik im engeren Sinne vorgelegt hat, so ist, wie Volker Schürmann zu Recht betont, gerade »die Zurückhaltung in ethischer Engagiertheit das Ethos der Plessnerschen Philosophie«. 18 Plessner vertritt eben keine durch anthropologische Reflexion monologisch festgelegte normative Werteordnung, die »dem Menschen sozusagen buchmäßig die Last seiner Lebensführung abnehmen« 19 soll. Sein Anliegen ist nicht die Begründung allgemeingültiger normativer Geltungsansprüche, die dann entsprechend anzuwenden wären, ihm ging es vielmehr um das Ethos einer reflexiven Ethik pluraler Abstimmungsprozesse als Voraussetzung für ein gelingendes Leben.
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Plessner, 2003b, S. 134. Ebd., S. 46. Schürmann 2006, S. 85. Ebd., S. 86.
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Philosophische Anthropologie – Plessners Neuansatz
2. Unausdeutbarkeit des Menschen und menschliche Würde Einige Aspekte der Anthropologie Plessners mögen an Nietzsche erinnern, der den Menschen als »das noch nicht festgestellte Thier« 20 bezeichnete und damit seine unaufhebbare Naturbindung akzentuierte. Desgleichen stehen Plessners Überlegungen zur unabschließbaren Historizität des Menschen in Affinität zu Nietzsches Aussage, der Mensch sei »ein nie zu vollendendes Imperfectum«. 21 Ein markanter Unterschied zu Nietzsche besteht nun allerdings darin, dass Plessner keinesfalls wie dieser den universalistischen Anspruch menschlicher Gleichheit verwirft. Vielmehr kritisiert er Nietzsches »individual-aristokratisches Ethos des Herrentums«, welches die Wesensverschiedenheiten von Sozialität und Kollektivität ignoriere und überall nur »Sklavengeist« erblicke. »Jedes Miteinander auf gleichem Niveau, wie es Gesellschaft und Gemeinschaft gemeinsam ist, steht ihm (Nietzsche, H. B.-V.) für Sklavengeist.« 22 So könne der hohe Wert eines freiheitlichen gesellschaftlichen Ethos nicht erfasst werden. Aus der Perspektive eines liberalen Gesellschaftscredos, wie Plessner es vertritt, werden weniger die ›letzten Menschen‹ mit ihren seichten, nivellierenden Gelüsten zum Stein des Anstoßes als vielmehr diejenigen, die sich als aus der Masse – dem trägen ›Man‹ – herausragende ›Übermenschen‹ feiern, diejenigen, die andere in ihren alltäglichen bescheidenen Nöten und Sorgen mit wenig Milde und Nachsicht als »Pöbel-Mischmasch« 23 betrachten, sich selbst hingegen mit bedenklicher Großmannssucht.
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Nietzsche, 1988a, S. 81. Nietzsche, 1988b, S. 249. Plessner, 2003a, S. 35. Nietzsche, 1988c, S. 358.
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Unausdeutbarkeit des Menschen und menschliche Würde
Ausgehend von seinem Grundverständnis menschlicher Personalität lotet Plessner in seinen sozialphilosophischen Studien mit Sorgfalt die spezifische Zerrissenheit und Verletzlichkeit moderner Individuen aus, wobei immer wieder spürbar wird, dass er jeden Einzelnen, auch sich selbst, in diese Diagnosen einbezieht. Um der Würde der Einzelperson in dieser Situation sicheren Boden und Bestand zu verleihen, bedarf es nach Plessner grundlegender Rechtsregelungen und insbesondere spezifischer Umgangsformen des geselligen Verkehrs, die es jeder Einzelnen ermöglichen, sich zu entfalten und auszudrücken, ohne sich selbst entblößen zu müssen oder die Sphäre anderer zu verletzen. Da es nach Plessner nicht im Belieben des Menschen liegt, ob er sich selbst oder andere als Repräsentanten exzentrischer Positionalität anerkennt, unterliegen prinzipiell alle derselben Notwendigkeit, ihr Leben führen zu müssen. Das heißt: Niemand kann sich aussuchen, ob er in Abständigkeit zu sich selbst leben will oder nicht. Denn jeder tut dies gewissermaßen immer schon, realisiert sich selbst unweigerlich im Modus spezifischer Gestaltungsformen, in die er eingebettet ist, die ihn formen und zu je individueller darstellender Umsetzung herausfordern. Hiermit verknüpft sich das Thema der Würde, die jedem zuvorderst in gleicher Weise zuzusprechen ist, denn jeder ist ohne Wenn und Aber an die Unbestimmtheit der menschlichen Natur und die damit verknüpften Schwierigkeiten der Lebensbewältigung durch wählende Selbstformung gebunden. Dies heißt: Auch wenn eine Person problematische und selbstschädigende Entscheidungen trifft, ändert dies nichts daran, dass ihre menschliche Würde unabwendbar an das ›Schicksal‹ freier, selbsttätiger Lebensführung gekoppelt ist. Um diese Gegebenheit wissend »beharrt das Individuum auf seinem unverlierbaren Anspruch, so behandelt zu werden wie es ist und aus der Fülle einer vielleicht nie ausschöpfbaren Seele heraus verstanden, d. h. auch in seinen Möglichkeiten geachtet zu werden. Verständnis und Ach-
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Philosophische Anthropologie – Plessners Neuansatz
tung bedeuten in dieser Sphäre noch ein und dasselbe, weil die Würde des Einzelnen, seine eigenartige Ausprägung menschlicher Natur, mit seinen natürlichen Eigenschaften, freilich in der unzertrennlichen Einheit einer Person, zusammenfällt. Das Moment der Würde ist in der Unendlichkeit und Unantastbarkeit der persönlichen Seele gegeben, die, wenn sie auch nicht jeder in voller Wirklichkeit besitzt, doch jeder haben möchte bzw. deren Besitz es prestigiert.« 24
Mithin kann auch in träger Antriebslosigkeit und dumpfer Selbstvergessenheit Exzentrizität nicht getilgt werden. Sie ist kein hinzukommendes Merkmal, keine erst noch zu erwerbende Eigenschaft, sondern elementarer Boden unseres Personseins, dem folglich per se eine elementare Würde zukommt. 25 Gemäß Plessner zeichnet sich der Würdecharakter exzentrisch positionierter Wesen in zweifacher, abgestufter Weise ab: zum einen in der mehr oder weniger bewusst entschiedenen Aneignung bestehender konventioneller Vermittlungsformen (denen man sich zumindest partiell auch hätte verweigern können); zum anderen in der Möglichkeit, das exzentrische Potential ausdrücklich bzw. emphatisch zu aktivieren, d. h. gezielt gestalterisch in die Welt einzugreifen, inspiriert von dem Bemühen, die Dinge und sich selbst »mit anderen Augen« zu sehen. 26 Unergründlichkeit als verbindliches Prinzip anzuerkennen, aktiviert diesen Möglichkeitssinn des Menschen, zugleich wird dadurch aber auch das BewusstPlessner, 2002, S. 81 f. Wie Anke Thyen verdeutlicht, nimmt Plessner eine Ineinssetzung von Menschsein und Personsein vor: »Darum ist die Frage nach der Koextension von ›exzentrisch positioniertes Wesen‹ bzw. ›Person‹ und ›Mensch‹ bei Plessner klar beantwortet: Ja. Alle exzentrisch positionierten Wesen (Personen) sind Menschen, und alle Menschen sind exzentrisch positionierte Wesen (Personen). Es handelt sich um ein analytisches Urteil.« – Thyen, 2007, S. 82. 26 »Mit anderen Augen« lautet der Titel eines 1953 verfassten Aufsatzes, dem ein hoher Wert für die Philosophische Praxis zukommt. – Siehe: Plessner, 2003b, S. 88–104. 24 25
38 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Unausdeutbarkeit des Menschen und menschliche Würde
sein von Angewiesenheit und Verwundbarkeit gesteigert. Gegen verabsolutierende Wissensansprüche gerichtet betont Plessner unermüdlich – auch auf Dilthey Bezug nehmend – die Unausdeutbarkeit des Menschen und ein dazugehöriges »Ethos der Unvorhersehbarkeit als des Prinzips, das vergangene und das eigene Leben in seiner Schöpfermacht und zugleich in seiner Zerbrechlichkeit von dem dunklen Horizont her zu sehen, aus dem es kommt und in den es geht«. 27 Mit der Kategorie die Unergründlichkeit wendet sich Plessner gegen alle Versuche, den Menschen naturalistisch oder metaphysisch festzuschreiben, um ihn auf diese Weise in seinen Möglichkeiten zu beschneiden und zu reglementieren. In diesem Sinne tritt er allen politischen und gesellschaftlichen Vorstößen entgegen, die sich anmaßen, im Namen irgendeines fraglosen Eigenwesens des Menschen instrumentelle Verfügungsgewalt über andere ausüben zu dürfen. Ausdrücklich formuliert er als Aufgabe philosophischer Anthropologie, »der ständig rücksichtsloser werdenden Anmaßung der Politiker, Ökonomen, Ärzte, in Sache Sterilisation, Eugenik, Rassenpolitik, Menschenzüchtung, d. h. im Können des Menschen, sein Schicksal zu spielen, eine Grenze zu setzen. Der Mensch ist durch sein Können eine Bedrohung seiner Zukunft geworden, weil er sein Können nur durch Mehrkönnen überwinden wird, aber keine Gewähr dafür besteht, daß nicht die Menschheit unterdessen auf der Strecke bleibt.« 28
Im Vordergrund steht hier vor allem die Befürchtung, dass ein Humanitätsverständnis, welches in ethischer Eigenverantwortung wurzelt, sein Gewicht endgültig verlieren könnte. Philosophische Anthropologie hat für Plessner deshalb primär darauf zu zielen, gegen diese sich abzeichnenden Gefahren eine Umkehr zu bewirken, »um zum Glauben an den
27 28
Plessner, 2003a, S. 184. Plessner, 2003b, S. 50 f.
39 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Philosophische Anthropologie – Plessners Neuansatz
Menschen wieder Platz zu bekommen«. 29 Dieses im Kern ethische Anliegen ist sehr bestimmend für Plessners Werk. Auch wenn darin keine moraltheoretische Schrift im engeren Sinne auffindbar ist, zielt es, wie Anke Thyen in überzeugender Weise darlegt, letztlich auf »eine anthropologische Erläuterung des Kantischen Autonomieprinzips«. 30 Anders indes als Kant formuliert Plessner ein Ideal des Mit-sich-selbst-Zusammenstimmens, das entschieden über eine eindimensionale Vernunftorientierung hinausweist. Vielmehr geht es darum, im Dienst eines würdevollen und gelingenden Lebens kontinuierlich Prozesse aktiver Selbstformung anzustrengen, durch die alle Aspekte der Persönlichkeit – neben den gedanklichen auch die sinnlichen und emotionalen Anteile – anerkannt und in ein möglichst ausgewogenes Verhältnis zueinander gebracht werden. Würde in ihrer höherstufigen Ausprägung zielt nach Plessner auf einen Lebensmodus ganzheitlicher Selbstbestimmung, in dem eigene Konzepte immer wieder neu überdacht und modelliert werden, während sich die Person gleichermaßen als Sinnenwesen und als verantwortlicher Teil sozialer Bezugsgewebe erkennt und annimmt. Sie zielt auf »den Einklang ihres Inneren und Äußeren, und bezeichnet jene ideale Verfassung, nach der die Menschen streben, die aber nur wenigen verliehen ist«. 31 Würde als innere Übereinstimmung aller Facetten der Persönlichkeit bildet hier ein attraktives Lebensziel, welEbd., S. 51. Thyen, 2007, S. 92. 31 Plessner, 2002, S. 75 f. – Plessner wurde wegen der elitären Ausrichtung seines Ethos, die im angeführten Zitat und an anderen Stellen der Schrift anklingt, von verschiedenen Seiten kritisiert. Siehe hierzu den nachfolgenden Exkurs 2. – Zu Plessners Würdeverständnis insgesamt, siehe: Haucke, 2003 – Haucke legt überzeugend dar, dass Plessners liberales Ethos der Würde »als Gegenentwurf wie Ergänzung zu deontologischen Moralauffassungen« (ebd., S. 8) zu verstehen ist. Allerdings bleiben die strebensethischen Denkfiguren Plessners durchgängig der Verteidigung einer liberalen gesellschaftlichen Öffentlichkeit verpflichtet. 29 30
40 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Unausdeutbarkeit des Menschen und menschliche Würde
ches zum Maßstab des Gelingens erhoben wird. Dabei wird nach Plessner die Aufrechterhaltung von Würde durch das Verfolgen von Glücksinteressen keineswegs grundsätzlich unterwandert. Würderelevant ist hingegen, mit wieviel sozialer Umsicht und Feingefühl eine Person ihre individuellen Wünsche und Präferenzen auszuleben sucht. Dieser Würdebegriff kann wie folgt näher bestimmt werden: Exzentrische Positionalität ist naturverfügt und verlangt jedem Einzelnen ab, sein Leben unentrinnbar führen zu müssen, d. h. seinen Lebensweg stets in gewissem Maße frei gestalten zu müssen. Dieser Natur des Menschen fällt grundsätzlich Würde zu, und zwar ungeachtet aller kulturellen, ethnischen, geschlechtlichen oder individuellen Differenzmerkmale. Deshalb kann dieser mit der menschlichen Anlage gegebene elementare Würdecharakter per se niemals aufgehoben oder genommen werden. Das heißt: Der Anspruch, diesem Charakter zu entsprechen und das eigene Leben bewusst zu modellieren, hat auch dann Bestand, wenn jemand ihm nur mit wenig Emphase nachkommt, wenn er sich z. B. treiben lässt, seine Spielräume unentwegt brachliegen lässt bzw. gedanken- oder verantwortungslos handelt. Auch dann kann ihm sein freiheitsbezogener Würdecharakter niemals aberkannt oder entzogen werden. Ist er hingegen kontinuierlich bestrebt, alle Facetten der eigenen Person welt- und alteritätsbezogen zu überdenken und handelnd auszutarieren, so gelangt die basale Würdeanlage menschlichen Seins zu weiterführender Entfaltung. Damit wird ein Mensch gewissermaßen seiner Würde würdig. Das zweite Grundgesetz der vermittelten Unmittelbarkeit schließt dennoch prinzipiell die Erreichbarkeit vollständiger Wesensharmonie aus. Dieser Thematik wird weiter unten unter Einbeziehung der Geschlechterfrage nochmal eigens nachzugehen sein. 32
32
Siehe: Abschnitt IV. 4. Exkurs 2 u. Punkt 4.
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Philosophische Anthropologie – Plessners Neuansatz
Angemessene Selbstrealisierung kann im Grunde genommen kaum im Geiste eines »existentiellen Abenteuertums« 33 gelingen, welches Krisen zur wesentlichen und großartigsten Daseinsform erhebt. Anzustreben wäre demnach keinesfalls ein existenzieller Heroismus, der nur seine eigenen Maßstäbe kennt und mit Entschlossenheit durchzusetzen drängt. Vielmehr muss das eigene Agieren in die Gesamtheit geschichtlicher Weiterentwicklungen eingefügt werden, wobei Krisen als Ausnahmesituationen zu werten wären, in denen überlieferte Gewohnheiten und vorhandene Überzeugungen nicht mehr tragen und deshalb von Grund auf revidiert werden müssen. Nicht das beständige Verlangen nach neuen Wagnissen erhält hier Vorrang, sondern die Fähigkeit, genau hinzusehen, wenn es notwendig ist, dabei die Dinge in ihrer Komplexität anzuerkennen, sie gegebenenfalls auch in der Schwebe zu halten, geduldig abzuwarten, bis sich eine Lösung abzeichnet, und stets offen für das unwillkürliche Geschenk des Augenblicks zu bleiben. Dies hieße im Sinne Bollnows, bei jeder Entscheidung immer auch dem »Geist echter Wissenschaftlichkeit« zu folgen, d. h. »die Probleme in ihrer ganzen Kompliziertheit zu erkennen und sich des Urteils so lange zu enthalten«, bis man »die nötige Grundlage für eine begründete Entscheidung gewonnen hat, aber auf der anderen Seite auch unentschieden zu lassen, was sich mit ihren (der Wissenschaft, H. B.-V.) Mitteln nicht entscheiden läßt«. 34
3. Würde und Glück Diese Sichtweise umspannt mehrere Gesichtspunkte, die nochmals eigens herauszuheben wären, weil sie für jedes menschliche Beziehungsgeschehen und nicht zuletzt für die 33 34
Bollnow, 2011, S. 30. Ebd., S. 32.
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Würde und Glück
Arbeit in der Philosophischen Praxis von hoher Relevanz sind. Zum einen offeriert Plessner eine anthropologische Sicht, die gerade im Blick auf ethische Zurechnungsfähigkeit jede rationalistische Engführung vermeidet. Genauer gesagt bedeutet dies, dass Plessner menschlichen Glücksansprüchen ethisches Gewicht verleiht und damit Kants Forderung widerspricht, Glückserwägungen aus der ethischen Reflexion herauszuhalten. In Korrespondenz dazu realisiert sich die Würde des Einzelnen nicht jenseits seiner je eigenen körperlichen Verfassung und Eingebundenheit in eine konkrete, historisch variable Wirklichkeit. Sie realisiert sich nicht in der dünnen Luft reiner Vernunftoperationen, nicht in Opposition zu sinnlichen Antrieben und Glücksbestrebungen, sondern innerhalb einer »leibhaften Existenz, welche zwischen körperlichem Sein und dem Zwang, dieses körperliche Sein zu beherrschen, das heißt es zu haben, einen Ausgleich finden muß«. 35 Dieser Ausgleich kann mehr oder weniger gut gemeistert werden, wobei die zugrunde gelegten Kriterien des Gelingens zwar individuell variabel, aber dennoch nicht gänzlich partikular und beliebig sind. Denn auf Grund seiner offenen Struktur ist der Mensch auf soziale Vermittlung und ebenso auf intersubjektive Resonanz angewiesen. Hier liegen die Quellen sozialen Wohlergehens und erfüllender Erfahrungen. Doch infolge seiner sozialen Verfasstheit ist die auf Selbstlenkung angelegte Lebensform des Menschen zugleich in grundlegender Weise verletzlich und gefährdet. Sie ist sowohl dem Risiko kompletter Vereinnahmung oder Demütigung ausgesetzt als auch umgekehrt der allgegenwärtigen Versuchung, fixiert auf den persönlichen Vorteil das eigene Selbst rücksichtslos über andere zu erheben. Gerade angesichts dieser prekären Lage ist es nach Plessners Ansatz von zentraler Relevanz, den Menschen an seine fundamentale Selbstverborgenheit zu erinnern, um ihm 35
Plessner, 2003b, S. 196.
43 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Philosophische Anthropologie – Plessners Neuansatz
seine Begrenztheit bewusst zu machen und ihn demgemäß in seine Schranken zu verweisen. Plessner stemmt sich damit jeder autoritären Vermessenheit entgegen, die sich herausnimmt, über das eigene Selbst, über Mitmenschen und ebenso die Dinge der Natur auf der Basis eines unterstellten, untrüglichen Wissens oder Anspruchsdenkens verfügen zu können. Es geht ihm um radikale Skepsis gegenüber einem im »Jahrhunderterbe« verankerten Autoritätsglauben, dessen Destruktion allein dem Menschen dazu verhelfen kann, seine Humanität zurückzugewinnen und eigenverantwortlich zu agieren. 36 Darin liegt zweifelsohne eine anthropologische Kränkung, die verarbeitet werden muss. Plessner weist hier zwar den Weg in Richtung Selbstrelativierung, Zurückhaltung und intersubjektive Aufgeschlossenheit, doch, wie er selbst immer wieder herausstellt, ist es sicherlich ebenso naheliegend, derart verunsichernde Erkenntnisse zurückzuweisen oder auszublenden, z. B. durch verstärkte Inanspruchnahme objektiven Wahrheitswissens oder durch Verabsolutierung der eigenen subjektiv-perspektivischen Welterschließung. Insbesondere die Hochstilisierung singulärer Gestaltungsmacht auf der Basis psychologischer Fachkenntnisse ist seit Plessners Zeiten – d. h. in den letzten 40 Jahren – zunehmend virulent geworden. Ich möchte diesen Trend später noch detaillierter thematisieren und auf Plessners anthropologisches Konzept rückbeziehen. Zunächst aber soll es darum gehen, die ethischen Implikationen einer weiteren für Plessner zentralen Kategorie auszuleuchten, der schon erwähnten Kategorie der intersubjektiven Verfasstheit des Ich. Als Ichsager folgen wir dem Prinzip der Reflexivität, um uns über uns selbst zu verständigen. Damit sind wir Teil einer sprachlich verfassten Lebensform, die uns mit anderen verbindet. Denn es macht nur Sinn, ›ich‹ zu sagen, wenn es andere gleichstrukturierte ›Ichsager‹ gibt, die den rückbezüg36
Siehe hierzu: ebd., S. 41 f.
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Würde und Glück
lichen Charakter dieses Pronomens verstehen und ebenfalls zur Anwendung bringen. In der Verwendung von ›ich‹ verleihe ich mir als Zentrum meiner Seinserfahrung Ausdruck, trete indes im selben Moment im Vollzug sprachlicher Vermittlung aus mir heraus und tauche in eine mit anderen geteilte Welt ein. Demnach wäre zu sagen, »daß die Entdeckung der Ichhaftigkeit die Egozentrik um ihre Unschuld bringt« 37 , d. h. indem ich meine Mittelpunkstellung sprachlich realisiere, verliere ich sie bereits. Nur im Heraustreten in eine gemeinsame Welt vermag sich mir meine (ego)zentrische Perspektive zu erschließen. Selbstzugänglichkeit vollzieht sich also unweigerlich über eine »Wir-Form des eigenen Ich«. 38 Das heißt, jede Person entwickelt ihre Identität über eine Sphäre zwischenmenschlicher Interaktionsformen, die sich ihr bereits lange vor jeder bewussten Selbstreflexion eingeschrieben haben. Völlig undenkbar wäre es demnach, ein Selbstverständnis in solipsistischer Manier nur aus sich selbst heraus gewinnen zu wollen. Selbstverstehen und Selbstbestimmung sind nur im Rahmen geteilter sprachlicher Horizonte möglich. Insofern jedes Selbstverständnis unweigerlich Perspektiven anderer enthält, insofern es mir also schlichtweg nicht möglich ist, jenseits dieses gemeinsamen Horizontes einzig und allein nur mir zu entsprechen, wird offenbar, wie grundlegend sozial die menschliche Natur angelegt ist. Im Blick auf diese elementare Verbundenheit gleich strukturierter, sprachbegabter, doch letztlich unergründlicher Subjekte ist gelingende Intersubjektivität für den Menschen von zentraler Relevanz, ja überlebensnotwendig. Um mit uns selbst voranzukommen, d. h. um Schwierigkeiten mittels weiterführender Erkenntnisse zu bewältigen, sind wir aufgrund der notorischen Unbestimmtheit unseres Selbst unweigerlich aufeinander angewiesen und voneinander abhängig. Schon von daher ist ein 37 38
Ebd., S. 319. Siehe hierzu: Thyen, 2007, S. 87–90.
45 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Philosophische Anthropologie – Plessners Neuansatz
Ethos wünschenswert, das Aufgeschlossenheit und Respekt gegenüber der Welterfahrung und Expertise anderer pflegt, das auch dem Wissensfundus fremder Kulturen sowie den Schätzen des historischen Erbes mit Anerkennung begegnet. Noch einmal präziser: Der Punkt, von dem aus das Selbst auf sich bezogen ist, bezeichnet Plessner als ›Ich-Pol‹, der sich, wie schon dargelegt, jeder Objektivierung entzieht. Im Grunde genommen ist damit kein irgendwie lokalisierbarer Standort gemeint, sondern eine spezifische Vollzugsform reflexiver in sich gebrochener Selbsterfahrung. Wenn Plessner zudem von der »Wir-Form des eigenen Ich« spricht, dann ist darüber hinaus angesprochen, dass sich dieses Selbst immer schon bezogen auf andere, gleichstrukturierte Selbste erfasst und realisiert. Daraus erwächst eine komplexe intersubjektive Dynamik wechselseitig aufeinander bezogener Selbste, die darum wissen, dass sie von anderen wahrgenommen werden, welche ihrerseits auch um ihr Wahrgenommenwerden wissen und darauf bezogen leben. Wesen, die ihre soziale Eingewobenheit auf diese Weise unablässig mitreflektieren, werden von Plessner als ›Personen‹ bezeichnet. Weil es in diesem Sinne Person ist, verleiht das Ich sich nicht einfach nur spontan Ausdruck, sondern es ist in seinem Agieren auf andere Glieder des personalen Verhältnisses hin orientiert, d. h. es antizipiert in seinem Ausdruck bereits das Verstehen durch Andere. »Kraft der Struktur der eigenen Daseinsweise« 39 erlebt das Ich seine Individualität also vermittelt über ein ›allgemeines‹ Ich, das ihm aber erst in der Anwesenheit anderer Personen (auch nur einer) vollumfänglich fassbar wird. Weder umgibt noch erfüllt die Mitwelt die Person, vielmehr entsteht im dialogischen Zwischen der Individuen eine besondere Sphäre des Mit-Seins, die Plessner auch ›Geist‹ nennt: »Die Mitwelt trägt die Person, indem sie zugleich von ihr getragen und gebildet wird. Zwischen mir
39
Plessner, 1981, S. 373.
46 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Würde und Glück
und mir, mir und ihm (dem anderen, H. B.-V.) liegt die Sphäre dieser Welt des Geistes.« 40 Gesa Lindemann bezieht diesen grundlegenden Sachverhalt auf die Differenz zwischen einer offenen und einer geschlossenen Frageform, welche jeweils unterschiedliche Verstehensleistungen repräsentieren. 41 Entscheidend für die intersubjektive Verständigung ist, wie zuvor schon angedeutet, das Prinzip der offenen Frage. Hier erleben Personen sich zwar als eingewoben in einen Rahmen wechselseitiger Verstehbarkeit, doch ohne in der konkreten Verständigung von einer Garantie des Verstehens ausgehen zu können. Auch in Fällen gelingender kommunikativer Annäherung bleibt immerzu ein Rest des Unvertrauten bestehen, ein Tatbestand, der für ein Ethos Philosophischer Praxis richtungweisend sein muss, erst recht, wenn die Fremdheit eines Gegenübers durch ein substantielles (z. B. kulturelles) Anderssein bedingt ist. An diesem Punkt muss man sich zudem vor Augen führen, dass auch das menschliche Verhältnis zu Leiblichkeit und Emotion sowie das Verhältnis zur äußeren Natur in der jeweiligen »mitweltlich personalen Vergesellschaftung« 42 verankert ist, dass letzterer mithin ein Primat zufällt. 43 Ebd., S. 376 – Siehe hierzu: Lindemann, 2005, S. 119 ff. Lindemann, 2005, S. 11. 42 Ebd. – Lindemann verweist hier darauf, dass auch »das leibliche Selbsterleben durch ein gesellschaftlich erzeugtes Wissen vermittelt ist«, eine Grundthese, die mittlerweile innerhalb der Geschlechterforschung umfassend thematisiert wird. So gelangt z. B. der Medizinhistoriker Thomas Laqueur zu der Feststellung, »dass so ziemlich alles, was man über das Geschlecht des Leibes (sex) aussagen möchte (…), immer schon etwas aussagt über das Geschlecht im soziokulturellen Raum (gender). Sowohl in der Welt, die das leibliche Geschlecht als einziges versteht, als auch in der, die von zwei Geschlechtern ausgeht, ist Geschlecht eine Sache der Umstände.« – Laqueur, 1996, S. 24 f.; hierzu auch: Duden, 1991; Butler, 1991 u. Gahlings, 2016. 43 Im Zeichen dieses Primats der Vergesellschaftung weist Plessner Theorien zurück, nach denen der Menschen sich zunächst singulär erfährt und erst durch Analogieschluss oder durch Einfühlung »auf die 40 41
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Philosophische Anthropologie – Plessners Neuansatz
Sprache ist hier von zentraler Bedeutung. Sie ist Spiegel der ursprünglichen, unhintergehbaren Verbundenheit aller Menschen. Über ihren Gebrauch werden wir blind in Lebensformen eingefügt, an deren Begrenztheit wir mitunter Anstoß nehmen können. Wenngleich uns oftmals die Worte fehlen, um genau die Empfindungen und Gedanken zu benennen, welche uns umtreiben und beschäftigen, vermögen wir immerhin doch diesem Vergeblichkeitsempfinden Ausdruck zu verleihen. Wenn wir durch die Maschen der Sprache stürzen, uns einsam, losgelöst und verkannt fühlen, bleibt immerhin doch die Hoffnung, schließlich dennoch verstanden zu werden, indem wir genau diese Bedrängnisse anderen Menschen mitteilen. Wir können sowohl thematisieren, dass uns der Zugang zu unseren tiefsten Empfindungen verstellt ist, als auch unsere Verwunderung über »die Unverfügbarkeit der Welt jenseits des sprachlichen Ausdrucks« artikulieren. 44 In beiden Fällen ist es naheliegend, davon auszugehen, dass wir Erfahrungen ansprechen, die von anderen mit Unerschöpflichkeit geschlagenen Subjekten geteilt und bestätigt werden, wenngleich es natürlich für die Übereinstimmung all dieser Erfahrungen kein sicheres Überprüfungskriterium geben kann. Auch im Rahmen geläufiger, offenbar fraglos funktionierender Sprachspiele ist die Objektivierbarkeit des Verstehens nicht minder problematisch. Selbst hier besteht kaum eine Möglichkeit, Übereinstimmungen in den Vorstellungen verschiedener Menschen zu gewährleisten. Solange keine Ungereimtheiten aufstoßen, bewegen wir uns arglos und vertrauensvoll im Kosmos (vermeintlich) geteilter Wortbedeutungen und Lebensformen. Thyen schreibt hierzu: »Menschen erleben Beten, Kinder großziehen, Schmerzen etc. verschieden, aber die Verschiedenheit des Erlebens spielt
Idee einer Mitwelt verfällt und schließlich zur Gewissheit der Wirklichkeit anderer Iche gebracht wird«. – Plessner, 1981, S. 374. 44 Thyen, 2007, S. 105.
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Würde und Glück
für das Verstehen und die Teilhabe an Lebensformen gerade keine Rolle.« 45 Das ändert sich, sobald Abläufe ins Stocken kommen, sobald schmerzliche Dissonanzen auftreten oder Menschen gar massiv aufeinanderprallen. Desgleichen wachsen derartige Risiken, wenn eingefahrene Redensarten und sinnentleerte Floskeln die Besonderheit und Vielschichtigkeit individueller Erfahrungen quasi nivellieren oder auslöschen. Wird dies augenfällig, so kommt es darauf an, Sprache als ein dynamisches Geschehen zu begreifen, um auf der Basis wechselseitiger Achtung von Inter-Subjekten neue bzw. modifizierte sprachlichen Deutungen von Sachverhalten in eine geteilte Praxis einzubringen. Indem exzentrisch positionierte Subjektivität notwendigerweise sprachlich verfasst ist, erfolgt Selbstverstehen jederzeit im intersubjektiven Zusammenhang. Infolgedessen weist es stets über sich hinaus, wird normativ gehaltvoll, weil es niemals radikal von den Interessen anderer Subjekte abgelöst werden kann. Auf Grund der Einbettung in gemeinsame Sprachspiele unterliegt auch Moralität keiner freien Wahlmöglichkeit. Diese Verflochtenheit von Subjektivität und Moralität begreift Thyen mit den folgenden Worten: »Das Selbst-Verständnis von Inter-Subjekten enthält die Teilhabe an der Lebensform ›Moral‹. Das Inter-Subjekt, das ist die Pointe des Begriffs, muß keinen ›Schritt‹ in die intersubjektive, interpersonelle Praxis tun, es muß sich zur Moralität nicht gewissermaßen von sich aus ›entschließen‹. Es ist nicht das Subjekt, ein Selbst, das sich selbst genügt und den Schritt in die Moral selbst täte.« 46
So sehr wir auch auf vorfindliche Sprachspiele angewiesen und auf intersubjektive Sprachformen ›verpflichtet‹ sind, so wichtig ist es, den vorliegenden Reichtum der Sprache in Entsprechung zu den spezifisch-individuellen Eigenarten mög45 46
Ebd., S. 196. Ebd., S. 316.
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Philosophische Anthropologie – Plessners Neuansatz
lichst exakt auszuloten und gegebenenfalls innovativ umzugestalten. In diesen Auflichtungen der je persönlichen Lebensart liegt ein wichtiges – ethisches – Aufgabengebiet Philosophischer Praxis, in welche zugleich das Ethos menschlicher Gleichwertigkeit je schon eingeschrieben ist. Die Unbestimmtheit menschlichen Seins, daraus hervorgehend die unaufhebbare Selbst-Abständigkeit des Menschen und seine Angewiesenheit auf Vermittlungsformen führen dazu, dass auch den spielerischen Elementen in Plessners Anthropologie hohes Gewicht beigemessen ist. Wie schon angedeutet, widersetzt sich Plessner einem Würdeverständnis, das – auf einer dualistischen Sicht der menschlichen Natur aufbauend – das Ideal menschlichen Gelingens an einer stoisch-rationalistischen Bezwingung aller Neigungen festmacht. Kein vermeintlich objektives Vernunftvermögen dient hier also als untrüglicher Kompass, vielmehr muss die Person ihre oftmals noch unbestimmten sinnlichen Impulse situationsbezogen in eigener Regie – gleichsam spielerisch – dem Vernunftmäßigen verbinden und in das komplexe Gefüge gesellschaftlicher Gegebenheiten einbringen. Um dies würdevoll vollziehen zu können, d. h. um im eigentlichen Wortsinn Person zu werden, bedarf sie nach Plessners Vorstellung spezifischer Schnittvorlagen der Selbststilisierung und Selbstdarstellung, die auf unterschiedliche Kontexte angepasst sind. Die Einheit der Person, das Selbstsein, ist niemals ungebrochen, sondern vollzieht sich bereits im Innerpsychischen über eine Realisierung differenter Rollenblickwinkel, zu denen nicht zuletzt die innere Imagination eines möglichen unbeteiligten Zuschauers gehören sollte. Wie Haucke differenziert darlegt, entwickelt Plessner sein theatralisches Ethos der Würde in Anlehnung an Adam Smith’ Theorie der Gefühle. 47 Wesentlich ist hier die Vorstellung, dass über den inneren Perspektivwechsel zwischen einem 47
Der unbeteiligte Zuschauer ist eine von Adam Smith geprägte Kate-
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Würde und Glück
fühlenden, handelnden und zuschauenden Ich verschiedene Gesichtspunkte gegeneinander abgewogen werden. Auf diesem Wege – im Zuge der bewussten Repräsentation unterschiedlicher Ichanteile – kann das vermittelnde bzw. performative Ich ein höheres Maß an Neutralität gewinnen. Die Rolle des unparteiischen Zuschauers korrespondiert schon bei Smith der Tugend der Selbstbeherrschung bzw. der Besonnenheit. Sich von außen, gleichsam mit den Augen der Anderen zu betrachten, mäßigt die spontane Entladung ungefilterter Impulse und Emotionen, insofern sich im tieferen Nachdenken schon bald die Einsicht aufdrängt, wie schwer nachvollziehbar die eigene komplexe Innenwelt für andere ist. Indem jemand temporär einen Schritt neben sich tritt, vermag er sich zusätzlich davor zu schützen, in innersten Regungen und idiosynkratischen Eigenarten missverstanden oder gar verlacht zu werden. Wichtig ist darüber hinaus, dass bereits der Akt des Innehaltens eine Dämpfung des Affektlebens mit sich bringt, welche dauerhafte qualitative Veränderungen vorbereitet. Hier vollzieht sich der Wandel eben nicht durch aufoktroyierte Zwänge, sondern infolge einer inneren Regie, die alle Stimmen zu Wort kommen lässt und konzertiert. 48 In diesem Sinne sagt Smith: »Die edle und erhabene Tugend der Seelengröße verlangt zweifellos weit mehr als jenen Grad von Selbstbeherrschung, den auch der schwächlichste der Sterblichen zu üben fähig ist.« 49 Da der innere Pluralismus interagierender Perspektiven auch dem Selbstschutz dient, fällt ihm – allein schon aus ›egoistischem‹ Interesse – eine wichtige Funktion hinsichtlich der Realisierung eines gelingenden Lebens zu. Doch das Pergorie. Siehe: Smith, 2010, S. 170 f. – Bezüglich der Nähe Plessners zu Smith, siehe: Haucke, 2003, S. 161 ff. 48 Zum Wirken des unparteiischen Zuschauers, siehe: Smith, 2010, S. 124 ff. sowie 6. Teil. Smith beleuchtet zudem, wie eine solche ethische Haltung sich realistischerweise aus den emotionalen Naturanlagen des Menschen heraus entwickeln kann. – Smith, 2010, S. 131 ff. 49 Ebd., S. 34.
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spektivenspiel impliziert zugleich eine moralische Orientierung, insofern es auch die Betroffenheit des/der Anderen durch die eigenen Lebensäußerungen erschließt. Die Absicherung der eigenen Person erweist sich letztlich als unauflöslich mit der Berücksichtigung der Interessen anderer verzahnt, selbst dann, wenn diese zunächst nur als ›Störfaktoren‹ auf dem Weg zum persönlichen Erfolgsziel betrachtet werden. Das heißt: Selbst im Falle einer lediglich erfolgstaktischen Beachtung anderer wird ein Erfahrungshorizont eröffnet, der den unverzichtbaren Wert des Moralischen augenfällig macht. Schon hier zeichnen sich Formen des Gelingens ab, die Raum für verschiedene inhaltliche Vorstellungen menschlichen Glücks bieten, wobei Moral in gewisser Weise als ein Mittel zu diesem Zweck betrachtet wird. Den Anderen als gleichberechtigt in seiner menschlichen Verletzlichkeit anzunehmen, verweist auf eine Kultur des liberalen und rücksichtsvollen Umgangs, verweist damit letztlich auf die für Plessner spezifische »Weisheit des Taktes«. Diese folgt der Devise: »Schonung des anderen um meiner selbst willen, Schonung meiner selbst um des anderen willen, ist der Rechtsgrund – so paradox es klingt – für die grundlosen Zwischenspiele unseres gesellschaftlichen Lebens, (…).« 50 Darauf werde ich in Teil IV zurückkommen.
4. Ethos gelingenden Lebens Führen wir die bisher dargelegten Elemente der Anthropologie Plessners zusammen, so konfiguriert sich daraus ein Ethos gelingenden Lebens, an dem sich eine zeitgemäße Philosophische Praxis m. E. sehr gut orientieren kann. Wie wir gesehen haben, ist dieser Ansatz gegenüber der Überbetonung des Vernunftmäßigen im Rahmen rationalistischer deontologischer Ethikkonzepte abzugrenzen. Er vollzieht eine 50
Plessner, 2002, S. 109.
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Ethos gelingenden Lebens
Hinwendung zu strebensethischen Überlegungen, welche eine für alle Menschen gültige Orientierung am Glück zugrunde legen. Vor diesem Hintergrund wird gelingende Lebensführung der schroffen Entgegensetzung von Pflicht und Neigung enthoben, so dass leibliche Freuden und gefühlsmäßige Wertbindungen als zentrale Bestandteile des Guten angesehen werden und nicht etwa als zu bewältigende Hindernisse bei der Realisierung strikter moralischer Vorgaben. Die Privilegierung rein rationaler Prinzipien wird zurückgewiesen, weil darin die tatsächliche, unaufhebbare Eingebundenheit des Menschen in komplexe Lebenswirklichkeiten verkannt wird. Inakzeptabel sind vor diesem Hintergrund alle inhaltlichen ethischen Postulate, die Absolutheitsansprüche erheben, ohne die unterschiedlichen, je spezifischen Lebensbedingungen gewachsener Kulturformen zu berücksichtigen. Es kann und darf also für den Einzelnen kein rüttelfestes Geländer geben, das ihn der Aufgabe enthebt, selbsttätig zwischen seinen persönlichen Anliegen und intersubjektiven Notwendigkeiten zu vermitteln. Mit anderen Worten: Ethische Personalität konfiguriert sich erst im Zuge kontinuierlicher Abstimmungen zwischen spontanen Impulsen und den gesellschaftlich vorgegebenen Rollen, Werten und Regelwerken. Ganz unmöglich scheint es, in vollständiger Indifferenz der eigenen Lebensgestaltung gegenüber zu verharren. So ist uns von Geburt an zwar auferlegt, irgendwie einen persönlichen Weg durch komplexe Wirklichkeiten zu bahnen, das Ziel gelingender Lebensführung ist jedoch höher anzusetzen. Es verlangt uns ab, diesen Weg möglichst bewusst und eigenständig reflektierend zu beschreiten. Wichtig ist überdies noch darauf hinzuweisen, dass Plessners Ethik nicht teleologisch auf die Erreichbarkeit vollumfänglichen Glücks ausgerichtet ist. Maßgebend ist nicht primär das aristotelische Ideal der Eudaimonia als selbstgenügsame, kontemplative Verfassung, in der alles Streben zur Ruhe kommt. An dieser Stelle soll offenbleiben, ob und 53 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Philosophische Anthropologie – Plessners Neuansatz
wie weit Aristoteles tatsächlich von einer menschenmöglichen Erreichbarkeit tugendhafter Vollendung ausging. Nicht von der Hand zu weisen ist dagegen, dass der antike Denker den größten Teil seiner Überlegungen dem mühseligen Weg der Tugendaneignung widmet. 51 Dass dieser Weg in Anbetracht der Unergründlichkeit menschlichen Seins für Plessner in jedem Fall unabschließbar bleiben muss, scheint offensichtlich. Das gelingende Leben stellt für ihn keinen erreichbaren Zielpunkt dar. Vielmehr realisiert es sich in Gestalt der umrissenen Vollzugsstruktur und wird damit performativ. Unaufhaltsam strebend gibt der Mensch sich niemals mit der Realisierung bestimmter Vorstellungen und Interessen zufrieden, sondern greift – beständig schöpferisch zwischen Innen- und Außenwelt vermittelnd – immer wieder neu über sich hinaus. Allenfalls gelegentlich mögen sich flüchtige Glücksmomente einstellen, keinesfalls jedoch kann ein Zustand vollkommener Erfüllung erreicht werden, welcher nichts mehr zu wünschen übrig ließe. Plessner verwendet hier den Terminus »kategorischer Konjunktiv«, um jenen Ungewissheitsmodus zu bezeichnen, in dem Menschen ihr Leben zu vollziehen haben. 52 Unbedingt und unabdingbar gilt für sie, dass sie dieses Leben ›konjunktivisch‹, das heißt auf offene Möglichkeiten hin, indes ohne letzte Bestimmung und klare Zielvorgaben führen müssen. Jeder Einzelne bleibt, weil ihm eine allgemeine Seinsgeborgenheit versagt ist, in Aufbau und Umsetzung persönlicher Sinnbezüge schließlich ganz auf sich selbst gestellt, wobei ihm nicht nur jede restlose Wunscherfüllung versagt ist; ebensowenig vermag er klar und eindeutig zu ermessen, wie weit ihm die Integration von Ich und Welt und alle damit verbundenen Darstellungsleistungen tatsächlich gelingen. So kann es geschehen, dass äußere Erfolge innerliche Fremdheitsgefühle wachrufen oder umgekehrt, dass ein ehrlicher, 51 52
Siehe hierzu insbesondere: Luckner, 2005. Plessner, 2003b, S. 338–352.
54 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Ethos gelingenden Lebens
wohlabgewogener Selbstausdruck nicht auf Respekt, sondern auf Missbilligung oder Spott anderer stößt. Nach eigenem Ermessen gut zu handeln, sich selbst zu prüfen und gründlich abzuwägen, schließt schmerzhafte Erfahrungen des Scheiterns und der Missachtung keinesfalls aus. Auch ein am Guten ausgerichtetes Leben kann auf das Unverständnis des Umfeldes stoßen. In diesem Fall wird dem Betreffenden ein enorm hoher Kraftaufwand abverlangt, um solche niederdrückenden Erlebnisse – werterhaltend – durchzustehen und nicht in Resignation zu versinken. Stets lauert für den letztlich auf sich selbst gestellten Einzelnen hier das Risiko, einen temporären oder dauerhaften Verlust aller Wertbezüge zu erleiden. Da, wo dies geschieht, wo alle sinnhaften Ordnungsgefüge wegbrechen, ist ein Punkt erreicht, an dem das nach Selbstentäußerung verlangende Individuum nur noch in Lachen oder Weinen einen Ausweg sieht. Doch auch in diesen Formen ungehemmter Körperlichkeit hat der Würdecharakter menschlichen Seins eine Bewährungsprobe zu bestehen. Im Folgenden möchte ich die ethischen Implikationen der Anthropologie Plessners in mehrfacher Hinsicht präziser beleuchten: Zum einen möchte ich sie zur aktuellen Lebenssituation in spätmodernen Gesellschaften und zu den hier virulenten Selbstbildern in Beziehung setzen, wobei einige der schon umrissenen Gesichtspunkte noch weiter auszudifferenzieren sind. Daran anknüpfend wäre überdies der Wert dieses Ethos der Unergründlichkeit für das dialogische Geschehen innerhalb der Philosophischen Praxis weiter zu entfalten. Dies soll sowohl im Blick auf die Beziehungsgestaltung in den Praxisgesprächen selbst erfolgen als auch hinsichtlich der Frage, ob und wie weit die Praktikerin sich ihren Gästen gegenüber zur Fürsprecherin einer Vision des gelingenden Lebens à la Plessner und/oder anderer DenkerInnen vorwagen kann. Damit verbindet sich die grundsätzliche Frage, ob überhaupt sinnvolle Praxisgespräche denkbar 55 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Philosophische Anthropologie – Plessners Neuansatz
sind, die ohne eine vergleichbare Konzeption des Guten – und zwar sowohl im performativen als auch im thematischen Sinne – auskommen können. Unter dieser doppelten Perspektive möchte ich insbesondere die Rolle des Humors beleuchten. Dieser steht in je spezifischer Beziehung zu den Grenzreaktionen des Lachens und Weinens, über die Plessner ein recht umfangreiches Werk verfasst hat. 53 Dass er diesen menschlichen Phänomenen so viel Raum gewährt – vor allem eben auch dem Weinen –, erklärt sich nach meinem Ermessen sehr gut aus seinen anthropologischen Grundannahmen, die, so viel sollte schon deutlich geworden sein, die prekäre Lage des modernen Menschen schonungslos offenlegen, eine Lage, die sich in spätmodernen Sozialitäten noch verschärft hat. Plessners klarsichtige Gedanken können den in Philosophischer Praxis Tätigen wertvolle Aufschlüsse vermitteln und sie überdies davor bewahren, einem allzu pragmatischen, zeitgeistadaptiven, letztlich unphilosophischen Lösungsoptimismus zu verfallen. Stattdessen leiten sie dazu an, den stillen Trost des Angehörtwerdens zu bedenken, um im Klima menschlicher Solidarität Milderung zu bieten, um gegebenenfalls auch Formen der Selbstdistanzierung und Selbstrelativierung anzuregen, d. h. Haltungen zu erwecken – nicht zuletzt bestimmte Formen des Humors –, die es uns ermöglichen, das Unergründliche anzunehmen und das Unabänderliche auszuhalten. Jedoch lassen sich derartige Haltungen, auf die es ankommt, wenn das Potential der Techniken und Methoden ausgeschöpft ist, letztlich nur über Verkörperung vermitteln. Sie haben, wenn man so will, in erster Linie eine ansteckende Wirkung. Eine philosophische Praktikerin kann also nicht umhin, sich auch der eigenen Person in ihren Möglichkeiten und Limitierungen zuzuwenden. Ihre Souveränität liegt nicht in professioneller Neutralität, nicht in der Erhebung über schmerzliche Weltverwicklung, sondern darin, letztere für 53
Plessner, 2003c, S. 201–387.
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Ethos gelingenden Lebens
sich selbst möglichst angemessen zu handhaben. Wenn dies nicht gelingt, wenn Irrtümer und Fehlgriffe unterlaufen, findet auch dieses Unangenehme und wenig Schmeichelhafte Akzeptanz, indem man es bekennt, vielleicht mit Humor, was immer hilft, wenigstens aber durch Beherzigung einer jahrtausendealten Empfehlung Senecas: »Wenn das Licht aus dem Raum getragen worden ist und meine Frau nichts mehr sagt – sie ist nämlich schon mit meiner Gewohnheit vertraut –, dann durchforste ich meinen gesamten Tag und gehe meine Taten und Worte noch einmal durch. Ich verhehle mir nichts und übergehe auch nichts. Warum sollte ich auch vor irgendeinem meiner Fehler Angst haben? Ich kann doch sagen: ›Sieh zu, dass Du das nicht mehr tust. Dieses Mal verzeihe ich Dir noch‹.« 54 Die Philosophische Praktikerin ist also nicht darauf aus, um jeden Preis Verlusterfahrungen zu leugnen und negative Zustände zu vermeiden bzw. diese betriebsam ins Positive zu wenden. Scheitern, Krisen, Einsamkeit, intellektuelle Defizite und Aporie-Erfahrungen werden nicht zwanghaft zum Sprungbrett neuer Optimierungschancen umcodiert, sondern sie werden in ihrer schmerzlichen Tragweite anerkannt und einem tieferen Verständnis unserer Existenzbedingungen zugeführt. Wie Bernd Groth darlegt, funktioniert Selbstsorge schon bei Sokrates nicht ohne das Aushalten von Grenzen, Ratlosigkeit und Aporien, ja es geht gewissermaßen sogar darum, Aporien durch hartnäckiges Fragen aufzusuchen: »Das Sich-um-sich-selbst-Bemühen zielt auf die Aporie-Fähigkeit des Menschen, d. h. die Aporie seiner Existenz auszuhalten und nicht vor ihr zu fliehen (z. B. in Machtbestrebungen u. a.).« 55 Nur wer zulässt, in dieser Weise am Leben (und an sich selbst) auch zu leiden, vermag zu einem Ethos zwischenmenschlicher Aufgeschlossenheit hinzufinden, welches ge54 55
Seneca, 2007, S. 259. Groth, 2018, S. 143.
57 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Philosophische Anthropologie – Plessners Neuansatz
tragen ist vom unentwegten Bemühen um Verständigung und Kompromiss, welches insbesondere die mildernde Wirkung von Nachsicht, Takt und Humor nicht verkennt. So mag sich mitunter allmählich jenes dumpfe Brüten lösen, welches durch Berührungen mit der Brüchigkeit und Bodenlosigkeit unserer Existenz so rasch heraufzieht. In Bezogenheit auf andere, deren Wertgefüge von unserem zumeist merklich unterschieden sind, können unvermutet neue Wege durch das Dickicht akuter Problemlagen aufscheinen. Denn an der Hand zugewandter Begleiterinnen können wir es wagen, das Verfangensein in uns selbst ein wenig zu lockern und gleichsam ›abzurüsten‹, indem wir die üblichen Manöver der Selbstverbergung herunterfahren. Überdies entziehen wir uns vorübergehend dem Sog der Ereignismassen, die uns in der heutigen Zeit unaufhörlich bestürmen und in die Zukunft fortreißen. Wir vollziehen eine Art Notbremsung in eine »Atmosphäre des Gliederstreckens« 56 hinein. Unter Umständen kann so das verbindende Band einer geistigen Kraft spürbar werden, welche wir miteinander teilen. Mag sich auch oftmals kein praktischer Ausweg auftun, so ersteht gleichwohl die Ahnung gemeinsamer Eingebundenheit in eine umfassende Wirklichkeit, die unsere Verstandeskapazitäten übersteigt.
56
Gehlen, 1963, S. 313.
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III. Plessners Konzept und Problemlagen der Gegenwart »Nur was aus eigener Lebenserfahrung gespeist wird, kann auf fremde Lebenserfahrung ansprechen, nur der bittere Trank der Enttäuschung sensibilisiert. Der Schmerz ist das Auge des Geistes.« (Helmuth Plessner)
Mit der Kategorie exzentrischer Positionalität bietet Plessner eine anthropologische Bestimmung, die erhellend auf viele Problemlagen gegenwärtiger Menschen bezogen werden kann. Deshalb ist aus der Perspektive der Philosophischen Praxis unbedingt Volker Schürmann zuzustimmen, der schreibt, »dass eine jetztzeitige philosophische Anthropologie an die Philosophie Plessners anschließen sollte«. 1 Das heißt: Will Philosophische Praxis nicht vergangenheitsselig am aktuellen natur- und sozialwissenschaftlichen Kenntnisstand vorbeiagieren, will sie das Wissen über den Menschen in seiner biologischen sowie gesellschaftlichen Bedingtheit anerkennen, will sie zudem die politische Durchdrungenheit aller menschlichen Beziehungen erfassen und dabei trotz alledem der Freiheitsfähigkeit Tribut zollen, so liefern Plessners Analysen eine überaus ergiebige Ausgangsbasis. Exzentrische Positionalität besagt, dass dem Menschen eine bedingte Fähigkeit zum Abstandnehmen bzw. zur distanzierten Betrachtung seiner Lage gegeben ist. Wenn auch stets nur in begrenzter, unvollkommener Weise, so besitzt er doch das Potential, sich die eigenen Belange minutiös vor Augen zu führen, sie differenzierend zu bedenken und sie gegebenenfalls auch in Beziehung zu theoretischen Aufarbeitungen anerkannter (wissenschaftlicher) Instanzen zu setzen.
1
Schürmann, 2006, S. 83.
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Plessners Konzept und Problemlagen der Gegenwart
Eine Philosophische Praxis wird in der Regel dann aufgesucht, wenn eine Person aus ihren gewöhnlichen Lebensvollzügen heraustritt bzw. unsanft herausgerissen wird, wenn ein diffuses Verlangen nach Tiefe erwacht, wenn kulturelle Handlungs- und Erklärungsmuster nicht mehr greifen, wenn Sinnbezüge zerbrechen, wenn das bisher tragfähige Selbstbild erschüttert wird, wenn Frustrationen und negative Emotionen Oberhand gewinnen oder wenn vielleicht sogar das eigene Leben auf ganzer Linie fremd zu werden scheint. Fraglos gibt es diverse Möglichkeiten, derartigen Lebenskrisen zu begegnen. Ein gemeinsamer Grundzug nicht weniger aktueller ›Bewältigungsverfahren‹ besteht darin, an gängigen Leitvorstellungen und zeitüblichen Lösungsmustern unbeirrt festzuhalten, d. h. gewisse Denküblichkeiten niemals ernsthaft zu überprüfen und damit den Horizont des Mainstreams kaum je in grundlegender Weise zu transzendieren. Schon allein die Fixierung auf den Glauben an eine nahezu immer mögliche Lösung ist für sich genommen ein Denkmuster, welches sich im Zeichen einer historisch-kritischen Distanznahme als Problemfall der Gegenwart offenbart. Genährt wird die Überzeugung, dass schlechterdings alle Schwierigkeiten über eine gekonnte Handhabung bestimmter Hilfsmittel und ›Tools‹ zu bewältigen oder zu beseitigen sind. Hier muss Philosophische Praxis überaus wachsam sein, will sie nicht im Zuge unkritischer Übernahme fraglicher Zielvorstellungen ihr besonderes Potential verspielen. Zugespitzt gesagt bedeutet dies, dass Philosophische Praxis selbst akute Belastungen des Lebens damit beantwortet, den betroffenen Personen die Mühe eigenständiger Lebensführung durch tiefgreifendes Nachdenken aufzubürden. Sie sollte dieser Aufgabe mit Nachsicht, Geduld und Langmut, mit Einfühlungsvermögen und Fingerspitzengefühl nachkommen, aber sie kann nicht umhin, die Zumutungen der Freiheit und die damit verbundenen Unsicherheiten an ihre Besucherinnen heranzutragen. Wie weiter oben schon an60 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Plessners Konzept und Problemlagen der Gegenwart
gesprochen, kann es auch nicht das Anliegen Philosophischer Praxis sein, die leidvollen Aspekte unserer menschlichen Existenz zu verleugnen und jede Bruchlandung in einen Triumph umzumünzen. Plessners Anthropologie bietet das theoretische Gerüst, um zeitgemäß – d. h. weder metaphysisch überhöht noch naturalistisch abgeflacht, zugleich aber dennoch gegenwartskritisch – anzusetzen und aktuelle Konzepte des Selbst auf ihre Tragfähigkeit hin zu überprüfen. Einige zentrale Aspekte unserer spätmodernen Selbstentwürfe sollen deshalb mit Plessners Sicht auf den Menschen abgeglichen und vor diesem Hintergrund genauer diskutiert werden. Dabei kommt es mir darauf an, verschiedene Akzente zu setzen: Zum einen soll der illusorische, in sich widersprüchliche Gehalt des heute leitenden Selbstverwirklichungsideals herausfiltriert werden, zum anderen aber wären insbesondere die problematischen Implikationen und (sozial) schädlichen Folgen vieler gängiger Muster zu thematisieren. Von Plessner aus betrachtet, offenbart sich hier ein wichtiger und grundlegender Zusammenhang: Insofern man – gleichsam wider besseres Wissen – an bestimmten unerreichbaren Vorgaben festhält, sorgt man für Effekte destruktiver, letztlich unfreier Selbstversteifung bis hin zu Selbsttäuschung und Selbstbetrug. Demgegenüber könnte ein weniger ideologisch aufgeladener Blick dazu veranlassen, realistischabgeklärter auf das eigene Selbstsein zu blicken und infolgedessen zugleich mit mehr sozialer Umsicht und Aufgeschlossenheit in der Welt zu stehen. An dieser Stelle wäre nochmals auf das implizite Ethos des Plessnerschen Ansatzes Bezug zu nehmen, ein Ethos, welches als verborgenes Herzstück dieses Denkens zu werten ist, wenngleich sich keineswegs behaupten ließe, dieses Denken sei auf eine konkrete Ethik hin konzipiert, wie das etwa bei Gehlens Ansatz der Fall ist, der auf der Basis seines Menschenbildes die Notwendigkeit fixer reglementierender Institutionen propagiert. Da es Gehlen primär auf die stabilisie61 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Plessners Konzept und Problemlagen der Gegenwart
rende Funktion staatlicher Institutionen ankam, war es sein zentrales Anliegen, Bestehendes gegen zersetzende Angriffe zu verteidigen. 2 Plessners Position ist deutlich liberaler. Sie weist in die Richtung einer pluralistischen Kultur stetiger Veränderung, da allein diese den Unwägbarkeiten der menschlichen Existenz in der Vielfalt ihrer Ausprägungen gerecht zu werden vermag. Gleichwohl auch Gehlen konzediert, dass die menschliche Natur in eine endlose Pluralisierungsbewegung verstrickt ist, begegnet er mit mahnender Skepsis jedem Selbstbestimmungsstreben Einzelner, welches entschlossen gegen institutionelle Zwänge aufbegehrt. Eine Arbeit in Philosophischer Praxis, der es um die Erweiterung individueller Mündigkeit (auch im politischen Sinne) durch eigenständig nachdenkende Selbstformung geht, kann sich demzufolge der anthropologischen Sicht Gehlens nicht vorOrganisch mittellos und unspezialisiert, damit lebensunfähig in der Natur, überdies geprägt durch eine extrem lange Kindheitsphase der Angewiesenheit auf andere, bedarf der Mensch zur Sicherung seines Lebens nach Gehlen solider entlastender Institutionen als »dauernde Gefüge menschlichen geordneten Zusammenwirkens« – Gehlen 1961, S. 138 – sowie des Ausbaus technischer Hilfsmittel als »Organersatz, Organentlastung und -überbietung.« – ebd., S. 46 f. Alle idealisierenden Vorstellungen des Naturzustandes zurückweisend betont Gehlen mit einem »Zurück zur Kultur« die hohe reglementierende Relevanz tradierter Institution, die allein den ausartungsanfälligen Menschen davor bewahren können zu »primitivisieren«. Allein stabile institutionelle Gefüge, die bis in die »Wertgefühle und Willensentschlüsse« – ebd., S. 47 f. – hinein persönlichkeitsprägend wirken, bändigen die Verfallsbereitschaft des Menschen und machen sein Verhalten durch gegenseitige Einregelung voraussagbar. Die einseitig positive Akzentuierung der Stabilisierungsfunktion der Institutionen, von denen der einzelne Mensch vereinnahmt werden muss, trägt Gehlen seit den Sechzigerjahren den Ruf des gesellschaftspolitischen Rechtskonservatismus ein. Kritik erfuhr er insbesondere von Vertretern der Frankfurter Schule. So warf ihm z. B. Habermas vor, er erwecke den Anschein, »als sei der Mensch auf Repression angewiesen ein für allemal; aus der Natur des Menschen springt die Notwendigkeit einer autoritär verfassten Gesellschaft heraus.« – Habermas, 1958, S. 33 – Siehe hierzu auch die legendäre Diskussion zwischen Gehlen und Adorno: Gehlen/Adorno, 1971.
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Aktuelle Leitideale – das Dilemma des zeitgenössischen Menschen
behaltlos anschließen, wenngleich sein Werk – ebenso wie Plessners Überlegungen – beachtenswerte Einwände hinsichtlich der Gefahr individueller Freiheitsüberforderung bereithält. 3
1. Aktuelle Leitideale – das Dilemma des zeitgenössischen Menschen Um Plessners Bedeutung für die Philosophische Praxis augenfällig zu machen, seien zunächst einige der derzeit angesagten Leitideale gelingenden Lebens näher betrachtet und kritisch in Augenschein genommen. Es ist notwendig, in diesem Zusammenhang wiederholt auf den für Plessner zentralen Gedanken der Unbestimmbarkeit bzw. der Unergründlichkeit des Menschen zurückzukommen. Wie dargelegt wurde, besagt diese Kategorie, dass es keine eindeutige, festlegbare Definition des Menschen geben kann, da dieser sich nur über mannigfaltige Vermittlungsprozesse, mithin auf indirekte Weise über kulturelle Manifestationen zu erfassen vermag. Als Subjektpol agiert er folglich unwiderruflich von sich selbst abgerückt und blickt auf eine Vielzahl sozial und kulturell variabler Vorstöße der Selbstbestimmung des exzentrisch positionierten Lebewesens Mensch. Plessners philosophische Begründung fundamentaler Unbestimmtheit menschlichen Seins steht damit in deutlichem Gegensatz zu dem heutigen Leitideal authentischer Selbstentfaltung, welches in doppelter Weise problembehaftet ist: Zum einen suggeriert es, dass ein fester, je individueller Wesenskern im Innersten der Person angelegt ist, eine solide, wenn auch unsichtbare Substanz, die es durch adäquate Selbsterkundungsmethoden wie einen verborgenen Schatz Eine gründliche Auseinandersetzung mit Gehlen im Blick auf Philosophische Praxis muss indes einem späteren Zeitpunkt vorbehalten bleiben.
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Plessners Konzept und Problemlagen der Gegenwart
zu heben gilt; zum anderen verbindet sich mit dieser Sicht die Tendenz, nahezu alle von außen kommenden Einflüsse unter Entfremdungsverdacht zu stellen und abzuwehren, um zu möglichst nahtloser Übereinstimmung mit diesem ›eigentlichen‹ oder ›echten‹ Kern des Selbst zu gelangen. Damit verbindet sich heute regelmäßig die Aufforderung, Emotionen weitgehend ungehindert auszuleben, da sie als unmittelbarer, echter und unverstellter Selbstausdruck eingestuft werden. Hierbei bezieht sich die gegenwärtige Subjektkultur insbesondere auf positive Emotionen, die zu freier Entfaltung, Glückserleben und Kreativität verhelfen sollen. Maßgeblich ist die Vorstellung, möglichst weitgehend alle standardisierenden Zwänge zu überwinden, um die je einzigartige persönliche Wertewelt mittels besonderer sozialer und ästhetischer Erfahrungen zu entfalten und intensiv spürbar werden zu lassen. Tendenziell kommt es darauf an, durchweg alle Lebensbereiche in dieser Weise sinnstiftend und emotional befriedigend zu gestalten. Sowohl über eine spezifische Freizeitgestaltung – durch exquisite Reisen, Teilnahme an außerordentlichen Events, durch neue Formen der Selbsterfahrung, etwa in Meditationskursen, Yoga-Retreats oder Tantra-Experimenten, durch eine ausgefeilte Ess- und Wohnkultur etc. – als auch über eine passgerechte attraktive Berufswahl strebt man nach umfassender Verwirklichung und Steigerung des Selbst. Arbeit wird nicht länger primär als notwendiges Mittel zum Zwecke der Subsistenzsicherung angesehen, sondern als eine Arena der Selbstentfaltung, in der man nicht mehr wie vormals im Modus weisungsgebundener Pflichterfüllung agiert, sondern vielmehr selbstbestimmt und eigenmotiviert zum kreativen Unternehmer seiner selbst wird. 4 Es entsteht ein neuer Organisationstypus von Arbeit, der dem unternehmerischen Geschick einzelner ArbeitnehmerInnen zunehmende Bedeutung zumisst. Von der Gewinnung von Arbeitsaufträgen, über die Gestaltung der Arbeitsabläufe bis hin zu ihrer Kontrolle liegt die Ver-
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Aktuelle Leitideale – das Dilemma des zeitgenössischen Menschen
a) Subjektivierung der Arbeit – neue Arenen der Selbstverwirklichung Diese Prozesse der Subjektivierung von Arbeit haben zur Folge, dass sich Persönlichkeiten in wachsendem Maße an den Imperativen der Rationalisierung und Ökonomisierung ausrichten und infolgedessen von tiefgreifenden Veränderungsprozessen erfasst werden. Denn mittlerweile werden auch emotionale und kommunikativen Fähigkeiten, die sogenannten ›soft skills‹, in Dienst genommen und dem Effizienz- und Effektivitätsdenken unterworfen. 5 Die Bereitschaft zu willfähriger Selbstkontrolle wird dabei permanent durch eine attraktive Ideologie angekurbelt, die neuartige Handlungsfreiheiten und außerdem Glück und Erfüllung verheißende Ich-Entgrenzung in Aussicht stellt, so als gäbe es keine Abhängigkeiten mehr und als könne man sich selbst gleichsam vom Nullpunkt aus neu erfinden. Die nachdrückliche Zurückweisung, ja Verleugnung, jeder Form von Abhängigkeit und Gelenktheit durch äußere Faktoren steht indes – wie zu zeigen ist – in einem deutlichen Missverhältnis zu einer dumpf wahrgenommenen Faktizität komplexer, nicht kalkulierbarer Abhängigkeiten. 6 Andreas Reckwitz, an dessen Analysen hier viele Gedanken angelehnt sind 7 , grenzt die neue spätkapitalistische Subjektkultur sehr präzise gegenüber der – weitgehend überwundenen – industriellen Moderne ab. Entscheidend für die aktuelle Situation ist der Übergang von einem vormaligen auf soziale Anpassung, Normalität und Selbstdisziplin ausgerichteten Persönlichkeitsmodell hin zum Ideal allseitiger antwortung in wachsendem Maße beim einzelnen Arbeitnehmer bzw. dem jeweiligen Team. – Siehe: Voß, G. Günter u. Hans J. Pongratz, 1998. 5 Siehe hierzu: Funken, 2011; Pfeil, 2018; Bennent-Vahle, 2013. 6 Zu den problematischen Implikationen der Entgrenzungsdynamik postmoderner Gesellschaften, siehe insbesondere: Funk, 2011. 7 Reckwitz, 2019.
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Plessners Konzept und Problemlagen der Gegenwart
erfolgreicher Selbstverwirklichung. Reckwitz zeigt auf, wie sich im Zuge des politisch-gesellschaftlichen Wandels mit Hilfe der sogenannten ›Positiven Psychologie‹ im Geiste Maslows eine auf Selbstwachstum fokussierte Subjektkultur etablieren konnte, deren besonderes Merkmal in der Verknüpfung romantischer Selbstverwirklichungsansprüche mit dem Leistungs- und Statusdenken bürgerlicher Provenienz liegt: »Das spätmoderne Subjekt ist nämlich gewissermaßen Romantiker und Bourgeois zugleich, und als Letzterer richtet es seien Blick nach außen, in die Gesellschaft, und will (und soll) dort Leistung erbringen und sozialen Erfolg haben.« 8 Mittlerweile scheint es so, als könne es gelingen, den Widerspruch zwischen dem Streben nach authentischer Entfaltung und den bürgerlichen Leistungszwängen über eine Art der »doppelten Buchführung« (Reckwitz) aufzulösen: Zum einen ist der Maßstab subjektiver Befriedigung anzulegen, zum anderen aber ist unablässig zu bilanzieren, ob und wie weit die vorgenommenen Aktivitäten bei anderen auf positive Resonanz stoßen. »Das nach innen gerichtete Streben nach Selbstentfaltung und das nach außen gerichtete Streben nach gesellschaftlichem Erfolg sind in der spätmodernen Subjektkultur aufs Engste miteinander verzahnt, ja die Statusarbeit erweist sich mittlerweile als Rahmenbedingung für gelungene Selbstverwirklichung.« 9
b) Das Dilemma zeitgenössischer Menschen An diesem Punkt nun offenbart sich das ganze Dilemma des zeitgenössischen Menschen, sofern er nämlich ambitioniert ist, diesen paradoxen Zielen nachzujagen. Scheitern ist gewissermaßen vorprogrammiert, schon allein deswegen, weil wir mit Plessner konzedieren müssen, dass für ein exzen8 9
Ebd., S. 216. Ebd.
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Aktuelle Leitideale – das Dilemma des zeitgenössischen Menschen
trisch positioniertes Lebewesen jedes bruchlose Aufgehen der Einzelpersönlichkeit im gesellschaftlichen Ganzen illusionär ist. Regiert aber ein derart unrealistischer Anspruch, d. h. bleibt er unreflektiert und wird zur Normalität erhoben, so ist zu erwarten, dass sich Gefühle persönlicher Unzulänglichkeit aufbauen und über kurz oder lang in bedenklicher Weise chronifizieren. Dies geschieht umso mehr, je stärker der Einfluss einer »Positiven Psychologie« wirkt, die einen jeden zum Lenker der eigenen Geschicke erhebt. 10 Demnach liegt es in der Hand eines jeden Einzelnen, wie gut er persönliche Glücksziele und gesellschaftlich vermitteltes Prestige- und Leistungsdenken zu harmonisieren vermag – oder eben auch nicht. Ist Letzteres der Fall, so sind verschiedene Reaktionsweisen denkbar: Er kann sich in gesteigertem Maße darum bemühen, die eigene Persönlichkeit erfolgstaktisch ›umzugestalten‹, um das erstrebte berufliche Ansehen schließlich doch zu erlangen. Er kann sich aber ebenso den gesellschaftlichen Imperativen entziehen und sein Glück in alternativen Selbstfindungsprojekten suchen oder aber sich rückwärts orientierten ›politischen‹ Gruppierungen anschließen, die das Establishment verleumden und attackieren. In diesem Fall lässt er vielleicht prinzipiell nicht davon ab, größtmöglichen Einklang mit seinem Umfeld zu suchen, begrenzt sich dabei aber auf eine Gemeinschaft eigener Wahl, auf seinesgleichen, wenn man so will. Sich auf diese Weise den leitenden Werten einer neoliberalen Arbeitswelt verweigernd, unterwirft er sich den von Plessner kritisch markierten Strukturen verengender Gemeinschaftsorientierungen. Folgendes wäre herauszustellen: Das Ideal individueller Selbstentfaltung ist innerhalb der modernen Unternehmenskultur – so hoch es auch angesetzt sei – in letzter Instanz keineswegs Selbstzweck. Vielmehr erweist es sich als abgestimmt auf die Erfordernisse einer neuen Arbeitswelt, die in hohem Maße auf das freiwillige intellektuelle, kreative und 10
Zur Kritik des positiven Denkens, siehe: Funk, 2011, S. 174 ff.
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Plessners Konzept und Problemlagen der Gegenwart
emotionale Engagement einzelner Akteure bzw. kooperierender Teams angewiesen ist. Im Zuge der Entwicklung dieser postindustriellen Wissensökonomie sind in den letzten Jahrzehnten enorme gesellschaftliche Umstrukturierungen vonstattengegangen, Prozesse, die hier nicht im Einzelnen nachvollzogen werden können. 11 Einiges spricht dafür, dass weite Teile der Gesellschaft – d. h. unzählige Vertreterinnen der einstmaligen bürgerlichen Mittelklasse sowie auch die Mehrzahl der traditionellen Arbeiterschaft – vor diesem Hintergrund als Modernisierungsverliererinnen anzusehen sind. 12 Während zahllose Repräsentanten der alten Mittelklasse durch den Abbau herkömmlicher Wertmaßstäbe nachhaltig verunsichert und oftmals auch faktisch beeinträchtigt sind, da sie den allgegenwärtigen Zwang zur Selbstoptimierung nicht zu bedienen wissen, entsteht daneben eine neue prekäre Unterklasse (Reckwitz spricht hier von einem »Dienstleistungsproletariat«), der es an gesicherten Beschäftigungsverhältnissen, ausreichenden Einkünften und insbesondere auch an sozialer Anerkennung für ihre berufliche Tätigkeit manSiehe hierzu: Reckwitz, 2019, Kap. 2. Reckwitz bezeichnet die industrielle Moderne des 20. Jahrhunderts als ›nivellierte Mittelstandsgesellschaft‹, in welcher der Großteil der Bevölkerung einem ähnlichen Lebensstil folgt. Seit den 1970er/1980er Jahren bricht dieser Mittelstand im Zuge grundlegender Umstrukturierungen auseinander (mentale Liberalisierungsprozesse und veränderte ökonomische Strategien hin zum Konsumkapitalismus greifen hier ineinander). Es entstehen eine obere und eine untere Mittelklasse, deren Bildungslevel und Lebensstile deutlich divergieren: Während die neue akademisch geprägte Oberklasse – als primäre Trägergruppe der Spätmoderne – einer Logik des Besonderen folgt (Selbstentfaltung bzw. -optimierung, Authentizität, Erlebnisorientierung, z. B. Profilierung durch exquisite Objekte und Reisen, kulturelles Prestige etc.), entsteht auf der anderen Seite eine neue Serviceklasse in prekären Lebensverhältnissen. Die traditionelle Mittelklasse (regulär Angestellte und Arbeiter), die nunmehr zwischen diesen beiden Teilen eine Sandwichposition einnimmt, ist nicht nur quantitativ deutlich verringert, sie erfährt auch gegenüber der oberen Mittelklasse eine deutliche Statusverringerung. Siehe: Reckwitz, 2019 u. 2020.
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Aktuelle Leitideale – das Dilemma des zeitgenössischen Menschen
gelt. »Durch den Aufstieg der Wissensökonomie und den Wertewandel ist das gesellschaftliche Ideal ›attraktiver Arbeit‹ leitend geworden, dem die in der service class geleisteten, meist repetitiven Tätigkeiten in keiner Weise entsprechen.« 13 Mittlerweile entbehrt das einst stolze Selbstbild des Malochers, die Leitfigur des rechtschaffenen Helden körperlicher Arbeit, weitgehend jeder gesellschaftlichen Grundlage. Eine große Gruppe von Benachteiligten sieht sich durch die kulturellen Veränderungen der letzten Jahrzehnte ins Abseits und damit in die Defensive gedrängt, denn das Bedürfnis nach wirtschaftlicher Sicherheit und sozialer Partizipation bleibt für eine zunehmende Anzahl von Menschen unerfüllt. Viele fühlen sich außer Stande, den grassierenden Erfolgsansprüchen zu genügen, und finden sich in einer durch Digitalisierung und Globalisierung massiv veränderten Gesellschaft nicht mehr zurecht. Sie erleben dies als Kontrollverlust, als persönliche Kränkung und Missachtung sowie oftmals auch als bedrohliche Zerstörung bewährter moralischer Ordnungsgefüge. Steigern sich derartige Verunsicherungen hin zu einem generalisierten Ohnmachtserleben, so stellen sich häufig zwei grundsätzlich verschiedene Reaktionsmuster ein: Entweder die Psyche antwortet mit autoaggressiven Impulsen, so dass ein Empfinden persönlicher Unzulänglichkeit affektive Störungen nach sich zieht 14 , oder das irritierte Selbst verwandelt seine Frustrationen in aggressive Affekte, die sich gegen die vermeintlich Verantwortlichen, die sogenannten Eliten, richten. In hohem Maße haben sich heute innerhalb der Gesellschaft problematische von Ressentiment erfüllte Reckwitz, 2019, S. 105. Untersuchungen zeigen, dass nach wie vor ein Großteil der Menschen, die an den Herausforderungen der modernen Arbeitswelt scheitern, sich selbst und nicht etwa ungerechte gesellschaftliche Strukturen hierfür verantwortlich macht.
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Plessners Konzept und Problemlagen der Gegenwart
Gefühlslagen aufgebaut, aus denen heraus die etablierten ›Mächtigen‹ beschuldigt werden, die Misere breiter Bevölkerungsschichten durch politische Fehlentscheidungen, Lobbyismus und Korruption verursacht zu haben und nichts dagegen zu tun. Man unterstellt ›denen da oben‹, durch eine fremdenfreundliche Politik und eine entsprechende Presse die Problemlagen der ›eigenen Leute‹ zu ignorieren. So formiert sich eine politische Gemengelage, in der Zorn, Ressentiment und Hass das Feld beherrschen und große Segmente der Bevölkerung für die Lockrufe der Populisten empfänglich werden. Sachbezogene Auseinandersetzungen sind kaum noch möglich, da man sich gegen fundierte Einwände mit pauschalen Unterstellungen immunisiert und nicht mehr bereit ist, Faktenargumente einer ernsthaften Überprüfung zu unterziehen. Es soll an dieser Stelle nicht darum gehen, die Verhaltensmechanismen einer derartigen von Zorn gelenkten politischen Haltung genauer zu erläutern. 15 Mir kommt es hier vor allem darauf an, einige mentale Voraussetzungen zu beleuchten, um hierfür im Rahmen der Philosophischen Praxis eine Umgangsweise zu finden. Wie begegnen wir der emotionalen und gedanklichen Verunsicherung unzähliger Menschen, die wir gleichermaßen als Opfer und Täter eines aktuellen emotionalen Kapitalismus ansehen müssen? Wie gelangen wir zu einer heilsamen Erhellung derjenigen psychischen Leiden, die den neuen Phänotyp spätkapitalistischer Subjektivitäts(de)formationen umtreiben oder in nicht wenigen Fällen sogar schachmatt setzen? Mit dem Philosophen Byung Chul Han lässt sich zunächst behaupten, dass die zerstörerischen Spannungen im Inneren vieler Menschen durch Überidentifikation mit den neoliberalen Erfolgsleitbildern zustande kommen. 16 Infolge des internalisierten Anspruchs auf permanente Selbstüberbietung 15 16
Siehe hierzu: Gutknecht, 2021. Han, 2011.
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Aktuelle Leitideale – das Dilemma des zeitgenössischen Menschen
habe sich – so Han – der gesellschaftliche Zwang ins Innere des Menschen verlegt, so dass er, ohne es recht zu bemerken, zum Vasallen eines neoliberalen Zeitgeistes geworden sei. Viele erblicken in dem proklamierten unternehmerischen Bedarf nach individueller Besonderheit der Arbeitskräfte ihre Chance, sich als Unikate selbstbestimmt zu erschaffen. Sie sind deshalb bereit, widerstandslos tief in die Innenwelt eingreifenden Selbstoptimierungsstrategien zu folgen, um Karriereziele zu erreichen. Doch die fatale, von Han zugespitzte Dialektik ist, dass der auf sein Publikum fixierte Erfolgs- und Selbstdarstellungsjunkie zum Opfer seiner selbst wird. Er glaubt das Lenkrad in der Hand zu halten, obgleich er faktisch von virulenten Erfolgsgeheißen ferngesteuert wird. Er bewegt sich ohne ernsthaften Konflikt in wechselnden Kontexten, reagiert wendig und biegsam auf jedes situative Erfordernis, zieht alle Register einer antrainierten psychischen Virtuosität und schafft doch eins nicht: aus der Uneinigkeit mit der Welt Rückhalt und Kontur in sich selbst zu erzeugen. Er kennt kein grundsätzliches Nein, keinen Widerstand, keine Grenze und genau das bringt ihn, hier ist Hans Analyse unbedingt zuzustimmen, irgendwann zu Fall. Darin wird ebenso evident, dass die menschliche Psyche ihre eigene Verwandlung zu einem Assimilationswerkzeug im Dienst der Leistungssteigerung nicht durchhalten kann. Anders gesagt: Sie kapituliert vor einem solchen Veränderungsanspruch, weil sie die Grenze braucht und sei es in Form einer der zeittypischen Erkrankungen. Sie braucht sie ebenso sehr wie sie den Vorbehalt, die Fremdheit des Anderen, den Konflikt, die Gegnerschaft, Entzweiung, Freundschaft, Verwurzelung und Versöhnung braucht. Legt man diese Überlegungen zugrunde, so ließe sich dem konfrontativen Aufbegehren einiger Gruppierungen nachgerade etwas Positives abgewinnen. Immerhin wendet sich die Enttäuschung der Gescheiterten hier nicht gegen sich selbst, sondern richtet sich nach außen, nimmt Anstoß, protestiert, allerdings auf der Basis überaus problematischer Ge71 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
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sinnungen: Man beruft sich auf – vermeintlich – traditionelle Werte und gewachsene homogene Gemeinschaften, man appelliert an Ordnung und Hierarchie, zielt unter Beschwörung einer vermeintlich-urtümlichen Volksseele auf radikale Umgestaltung der bestehenden gesellschaftlich-politischen Verhältnisse, wobei zudem in unheilvoller Weise Feindbilder aktiviert und Tatsachen verdreht werden. Mag dies auch überholt und zeitfremd erscheinen, so möchte ich dennoch Folgendes behaupten: Die VertreterInnen rechter Gruppierungen erweisen sich trotz ihrer rückwärtsgewandten Ideologien in erheblichem Maße als Kinder der Hypermoderne. Nicht allein, dass auch sie den Wert der eigenen Person danach bemessen, wieviel Prestige und Aufmerksamkeit sich kapitalisieren lässt, wobei sie sich oftmals unbewusst an den Erfolgsleitlinien und Wertmaßstäben der Wissenskultur orientieren. VertreterInnen postmoderner Mentalität sind sie vor allem auf Grund ihres Anspruchs, die eigene emotionale Befindlichkeit – ihre maßlose Wut – zum fraglosen Beurteilungskriterium aller Weltbezüge zu erheben. Auch in ihnen wirkt der Wunsch nach authentischer Selbstentfaltung, der nicht zuletzt dann unverhüllt zutage tritt, wenn Emotionen in politischen Debatten zur letzten Bastion der Wahrheit erhoben werden. So wird das ›Bauchgefühl‹ vielen zum Indikator berechtigter Ansprüche und zum einzig maßgeblichen Ausgangspunkt politischer Agitation.
2. Die Macht des Emotionalen – soziale und subjektive Folgen a) Soziale Verwerfungen Intensive Gefühle besitzen für uns alle eine bezwingende innere Überzeugungskraft. Spontan vermitteln sie uns den Eindruck, fraglos im Recht zu sein. Gefühlte ›moralische‹ 72 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Die Macht des Emotionalen – soziale und subjektive Folgen
Wahrheiten werden demnach nur allzu leicht absolut gesetzt, so dass eine kritische Reflexion und Relativierung von Empörung und Zorn unterbleibt. Durch systembedingte Frustrationserfahrungen, Erlebnisse des Scheiterns oder auch nur die Angst vor sozialem Abstieg kann sich innerer Unmut in Grundstimmungen der Unsicherheit und Verbitterung verstetigen. In dieser Verfassung folgen viele Menschen bereitwillig simplen Narrativen und Feindbildern, die ihnen zur Erklärung ihrer Situation angeboten werden, ohne dass es noch zu irgendeinem Versuch seriöser Faktenanalyse kommt. Es würde zu weit führen, den Mechanismen der daraus folgenden Zornpolitik detailliert nachzugehen. Mich beschäftigen vielmehr die mentalen Dispositionen, die im Zuge einer modernen Aufwertung des Emotionalen entstanden sind und hier in bedenklicher Form wirksam werden. Diese Entwicklung ist unbedingt im Kontext grundlegender gesellschaftlicher Strukturveränderungen zu sehen. Hierauf nachdrücklich hinzuweisen, erscheint mir unumgänglich, wenn wir ein zureichendes Bewusstsein für die Problemlagen der Menschen gewinnen wollen, die uns in unserer Praxisarbeit begegnen. Folgendes sei nochmals betont: Gegenwärtig sprechen immer mehr Menschen der geheimnisvollen Macht der Gefühle eine besondere Weisheit zu. Bewusst spielen sie das authentische Ausleben emotionaler Impulse gegen entfremdende rationale Ansprüche und Zwänge aus, wobei die (sozial) destruktive Wirkmacht ungefilterter emotionaler Impulse regelmäßig übergangen und vielfach sogar pauschal zurückgewiesen wird. Doch gerade die Schattenseiten einer solchen – mitunter nahezu kultisch betriebenen – Emotionalisierung werden mittlerweile unübersehbar, nicht zuletzt am Beispiel des heute vielfach gefeierten Prototyps eines Wutbürgers, der sich aufgebracht und ungezügelt Luft verschafft. Nicht nur im Politischen agieren Menschen hemmungslos sozial fragliche Emotionen aus. In unzähligen weiteren öffentlichen Räumen hat gleichermaßen ein vermehrt rüder 73 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
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Umgangston Einzug gehalten, während zwischenmenschliche Rücksichtnahme und eine Kultur mitfühlender Selbstreflexion demgegenüber mehr und mehr in den Hintergrund getreten sind. 17 In vielen beruflichen Kontexten werden dagegen Coolness und erfolgstaktische Selbstkontrolle hochgehalten. Hier betreiben zahllose Akteure wichtigtuerisch und selbstverliebt dubiose Geschäfte auf Kosten ihrer Mitmenschen. Dabei werden vertiefte Kenntnisse über psychische Vorgänge und Funktionsmechanismen des Emotionalen gezielt genutzt, um – z. B. im Wirtschafts- oder Dienstleistungsbereich – die Gestaltungs- und Durchsetzungsmacht einzelner Akteure expertengeleitet zu steigern und profitabel auszubauen. Die hier lancierte zweckorientierte, instrumentelle Steuerung zwischenmenschlicher Prozesse firmiert dann nicht selten unter wohlklingenden Labeln wie ›Emotionale Intelligenz‹ oder sogar ›Besonnenheit‹. Kompensatorisch zu derartigen Anforderungen erfolgstaktischer Selbstdisziplinierung dominiert in vielen anderen Lebensräumen der Wunsch, Leidenschaften und hitzige, nicht selten sogar destruktive Affekte ungehemmt auszuleben – ein Bestreben, welches durch nicht wenige mediale Formate noch zusätzlich befeuert wird. So wäre zu konstatieren: Im Zeichen wirrer Vorstellungen von individueller Freizügigkeit signalisiert die Aufwertung des Emotionalen eigentlich eine Unkultur, wenn nicht sogar den Niedergang freier Selbstbestimmung. Denn wer glaubt, im ungehinderten Ausleben emotionaler Impulse und Präferenzen seinem authentischen Selbst zu entsprechen, läuft nicht nur Gefahr, die elementare Struktur des Selbstseins misszuverstehen, er riskiert darüber hinaus, auf Schritt und Tritt zum willfährigen Opfer perfider Außenlenkung zu werden. Hier wäre z. B. an geschickt lancierte politische Meinungsmache über emotionale Trigger zu denken, ebenso aber Differenziertere Ausführungen zu diesem Themenkomplex finden sich in: Bennent-Vahle, 2020.
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an Manipulationen durch social engineering und suggestive Werbetechniken. Während man sich als autonom und einzigartig definiert, wachsen die Risiken, bis in die innerste Selbstwahrnehmung hinein zum Produkt ›industrieller Fertigung‹ zu werden. Das nach wie vor propagierte Ideal souveräner Selbststeuerung wird zusehends fraglich, insofern es in der modernen Massengesellschaft fortwährend von Ideologien durchkreuzt und unterminiert wird, die den menschlichen Geist primär als Ressource für kommerzielle und ideologische Interessen nutzbar zu machen suchen. Paradoxerweise aber wittern emotionalisierte Menschen häufig primär dort manipulative Absichten, wo Medienvertreter oder Politiker sorgfältig darum bemüht sind, den Tatsachen gerecht zu werden und für sozialen Ausgleich zu sorgen. Sie erkennen nicht, dass emotional aufgeladene, populistische Vorstöße, durch die sie ihren Groll und ihre Frustration bestätigt sehen, höchst fragwürdigen, wirklichkeitsverzerrenden Frontstellungen von Tätern und Opfern folgen. So kann man sagen: Die heute gängige unkritische Überbewertung des Emotionalen führt zu selbstbezogenen Verengungen bei der Beurteilung sozialer Probleme. Man sieht jede Situation nurmehr von der Warte (empfundener) persönlicher Benachteiligung aus, deren Realitätsgehalt bzw. deren Ursachen man keiner sachgemäßen, umsichtigen Überprüfung mehr unterzieht. Wie die Dinge hier auch im Einzelfall liegen mögen, zutreffend ist, dass die moderne Verheißung individueller Selbstentfaltung für die meisten Menschen uneingelöst bleibt. Während unzählige Repräsentanten der Mittelschicht an den Paradoxien der »doppelten Buchführung« scheitern, scheint für weite Kreise anderer – auf Grund ihrer Zugehörigkeit zur neuen Unterklasse – von vorneherein jede Möglichkeit verbaut, gesellschaftliche Anerkennung zu finden. Hier bedarf es nicht einmal des hochfliegenden Leitbildes kreativer Selbstverwirklichung, um Frustrationen und massive Verneinungsimpulse in Menschen wachzurufen. Das Fehlen reeller Chancen, eine gesi75 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Plessners Konzept und Problemlagen der Gegenwart
cherte Lebensgrundlage zu erwirtschaften, reicht zumeist schon aus, um destruktive Reaktionsmuster in Menschen zu mobilisieren. Insofern rechtspopulistische Politiker griffige Befunde und eingängige Erklärungen für die problematische Lage dieser Modernisierungsverlierer anbieten, haben sie leichtes Spiel. Wer sich – vielfach zu Recht – trotz redlicher Anstrengungen als zu kurz gekommen empfindet, wer für die eigene Misere auf Seiten der Politiker kein Gehör findet bzw. dies so empfindet, wird zornig und damit leichter empfänglich für konfrontative Wir-Ihr-Konstruktionen, für Feindbilddenken und vermeintliche Sündenböcke, nicht zuletzt sogar für die Unterstellung geheimer Verschwörungen. Personenkreise, die sich entwertet fühlen, sind leicht zu verunsichern und bieten einen guten Nährboden für Ideologien aller Art. Um sich Ausgleich und Entschädigung zu verschaffen, greift man nach Formen exquisiter Zugehörigkeit. Zur Aufwertung der eigenen Identität sucht man ein Kollektiv, das Stärke und Rückhalt verheißt. Uffa Jensen spricht hier von »Formen kollektiven Hochmuts« 18 , mit denen schließlich die Besonderheit der eigenen Bezugsgruppe – etwa der ethnischen, religiösen oder nationalen Gemeinschaft – herausgekehrt werde, während man den anderen außerhalb bestenfalls mit Desinteresse, oftmals aber mit Verachtung und Abwertung begegne. Hier wurzle insbesondere auch die Anfälligkeit für Verschwörungstheorien, deren Hybris sich in der Abkehr von allen gängigen Weltinterpretationen zeige. Jensen macht in diesem Zusammenhang das Folgende klar: Der psychische Faktor der Selbststabilisierung ist im Hochmut so maßgeblich, dass man betreffenden Personen gar nicht erst mit faktenbasierten Einwänden bzw. mit einem Verweis auf Meinungsvielfalt zu kommen braucht. Denn derartige informative Vorstöße »drohen (s)ein Selbstbild zu zerstören, das sich im absoluten Zentrum einer ansonsten schattenhaften Welt zu stehen fühlt. Wenn wir hochmütig sind, 18
Jensen, 2017, S. 147.
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verachten wir Fakten, weil sie uns die Welt nahebringen – zu nahe bringen.« 19
b) Verabsolutierung und Entgrenzung des Selbst Jensen stellt heraus, dass Hochmut eine in der westlichen kapitalistischen Gesellschaft weit verbreitete Einstellung ist, in der sich das Selbst verabsolutiert und ein problematisches, vielfach desinteressiertes Verhältnis zu seinem Umfeld einnimmt. Insbesondere im psychologischen Konzept des Narzissmus findet sich diese Struktur. Doch hierin wird der Hochmut lediglich als individuelles Krankheitssymptom betrachtet, seine diskretere, aber durchaus einflussreiche Omnipräsenz in allen sozialen Bereichen wird dabei nicht hinreichend bedacht. Tatsächlich aber ist das Zusammenspiel von extremer Verunsicherung des Selbst und nach außen gekehrter Selbstgewissheit als ein weit verbreitetes fatales Phänomen anzusehen, welches im Vorfeld pathologischer Verfestigung in vielen Abstufungen vorkommt. Ignoranz gegenüber der Realität zeigt sich in Varianten von Eitelkeit, Verblendung, Wunschdenken, Schönreden oder Selbsttäuschung, ohne dass schon von einer ausgemachten Persönlichkeitsstörung die Rede sein kann. Vor dem Hintergrund einer in sich widersprüchlichen modernen Selbstverwirklichungsideologie muss es gewissermaßen zwangsläufig zu illusorischen Selbstbildern und vermessenen Projekten der Optimierung des eigenen Lebens kommen. Frustrierende Erfahrungen scheinen folglich vorprogrammiert. Wenngleich in vielen Fällen zudem individuelle biografische Umstände der Person wichtige Einflussfaktoren bilden, so ist dennoch nicht von der Hand zu weisen, dass die gegenwärtige widersprüchliche Selbstentfaltungskultur jeden Einzelnen mit extremen Herausforderun19
Ebd., S. 148 f.
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gen konfrontiert. Die Zunahme von Burn-out und affektiven Erkrankungen, massive Probleme in intimen Beziehungen, Feindseligkeit und Verrohung im sozialen Miteinander, Rechtspopulismus und Frustrationen sowie vieles mehr legen Zeugnis ab von den hochproblematischen Konfliktlagen unzähliger Menschen. Wie Rainer Funk in seiner Studie zum entgrenzten Menschen darlegt, geschieht nunmehr Folgendes: »Man entgrenzt die Wahrnehmung auf das Fühlen hin und gleichzeitig entgrenzt man das Fühlen von den Vorgaben und Begrenztheiten der eigenen Gefühle auf die sehr eindrucksvollen Möglichkeiten inszenierter Gefühle hin.« 20 In den Medien werden dementsprechend unablässig simulierte Gefühlswelten zum intensiven Miterleben und Sichspüren präsentiert. Von siegreichen Helden über romantisch Liebende und schlagfertige Comediens bis hin zu furchterregenden Horrorgestalten ist für jeden Geschmack und jede Stimmungslage einiges im Angebot, um gegen negative Selbstwahrnehmung, Passivität und lähmende Langeweile anzugehen. Artifizielle inszenierte Selbstbilder leben davon, dass negative Aspekte wie Ängste, Selbstzweifel und feindselige Regungen entweder ausgeblendet oder über Projektion auf fiktionale Stellvertreter ausagiert werden. Gleichwohl bestehen diese eigenen Befindlichkeiten fort und beeinträchtigen auf lange Sicht das psychische Wohlergehen, so eifrig auch versucht wird, alles Unangenehme durch erzeugte Gefühlswelten zu überdecken. Insofern sich hier eine Entfremdung von den tatsächlich vorliegenden inneren Wirklichkeiten abzeichnet, ist nach außen hin zugleich mit vermehrter Abwehr von Kritik bis hin zu narzisstischer Verletzlichkeit zu rechnen. 21 Diese knappen Ausführungen mögen genügen, um zu verdeutlichen, dass die zunehmende Verbreitung flexibler Persönlichkeitsstrukturen dazu auffordert, das Problem der 20 21
Funk, 2011, S. 125. Siehe hierzu: Funk, 2011, S. 166 ff.
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Selbstentfremdung nochmals von Grund auf neu zu bedenken. Die heute vermittelten Persönlichkeitsprofile sind mehr als nur Orientierung gebende Rollenbilder. Während letztere ehedem klar definierte Leitlinien vorgaben, an denen man sich reiben bzw. an die man sich halten konnte – so reglementierend und einengend sie in der Regel auch waren –, erscheinen heutige Zielsetzungen offener und freizügiger, sind zugleich aber diffus, mehrdeutig und vereinnahmend. Da nunmehr die emotionalen und kreativen Potentiale in den Fokus professioneller Trainings geraten, greifen diese neuen Vorgaben zudem tiefer in die Innenwelt der Person ein. Trotz ihres freiheitlich-progressiven Nimbus beeinträchtigen insbesondere viele berufliche Leitbilder schlimmstenfalls sogar die Selbstzugänglichkeit eines mental ›durchgecoachten‹ Akteurs. Expertengeleitet formiert er seine Persönlichkeit bis in die Haarspitzen hinein zum leistungsstarken Performer einer vermeintlich freiheitlichen Unternehmenswelt. Auf diese Weise verliert sich jene für die Philosophische Praxis so zentrale eigenständige Initiative zur Selbstdistanzierung. Falls man sich noch in Frage stellt, so geschieht dies nicht durch eine wache, abwägende Introspektion oder selbsttätige Gewissensprüfung, sondern nach Kriterien vorgegebener Leistungs- und Persönlichkeitskontrollen, die im Rahmen von Feedbacks und Qualitätsmanagement systematisch durchgeführt werden. Selbstentfremdung kann hier so umfassend werden, dass sie der Person kaum noch zu Bewusstsein kommt, sich allenfalls in dumpfen Gefühlen des Unwohlseins und der affektiven Abflachung niederschlägt. 22 Solange eine solche Performerin aber auf Erfolgskurs durchstartet, wird das Erleben von Wirkmächtigkeit, ja Allmacht, sie beflügeln. Im souveränen Verfügen über das Geschehen, im permanenten Überschreiten von Möglichkeiten Siehe die vierte Selbstentfremdungsform bei Jaeggi: »Wie durch eine Wand von Glas – Indifferenz und Selbstentfremdung« – Jaeggi, 2005, S. 161 ff.
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scheint sich das grenzenlose Freiheitsversprechen der Moderne zu bewahrheiten. Außenlenkungen und Abhängigkeiten wirken im Unsichtbaren und bleiben – vorerst – unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Habitualisierte Schachzüge der Selbst-Rationalisierung und Selbst-Ökonomisierung werden nicht länger als beeinträchtigend zur Kenntnis genommen und dehnen sich nicht selten auf das gesamte Beziehungsleben aus. So erfährt auch das Bedürfnis nach Nähe und Verbundenheit eine Transformation. Da es tendenziell als freiheitsgefährdend wahrgenommen wird, strebt man nach Formaten des Verbundenseins ohne Verbindlichkeit. Wie die Soziologin Eva Illouz in ihren Büchern darlegt, ist die Liebe vor diesem Hintergrund zu einer quälend schwierigen Erfahrung geworden. Zum einen wächst die Bedeutung der Liebe als Arena des Selbstwertgefühls, zum anderen aber führt das permanente autonomiefixierte rationale Abwägen des Liebesgeschehens zu unzähligen Verwerfungen, als da sind: Ständiges Austarieren von Anerkennungsbedürfnis und Freiheitsbestreben, Unfähigkeit zur Entscheidung, Ausrichtung an Marktmechanismen und Konsum, Hypersexualisierung – d. h. sexuelle Erfolge als Statussymbol, damit verknüpft Selbstverdinglichung, Rückgang echter Leidenschaft im Zuge hyperkognitiver Vorgehensweisen in Form einer permanenten rationalen Überprüfung eigener Emotionen etc. Überspitzt könnte man sagen: Hier wird der paradoxe Versuch unternommen, ganz und gar bei sich selbst zu sein und – mit gleichfalls uneingeschränkter Präsenz – einen Wachposten der Selbstkontrolle aufrechtzuerhalten. Da das Liebesgeschehen der Verfügungsgewalt des autonomieversessenen Selbst nicht entgleiten darf, dominiert rationale ›Ausspähung‹ das Gefühlsgeschehen. Man lässt sich gar nicht erst richtig ein und gelangt auf dieser Basis kaum zu echten Begegnungen und Näheerfahrungen. Auf Plessner bezogen ließe sich bilanzieren: Das unaufhörliche Wechselgeschehen einer Verschränkung von positionierter Empfindung (Affiziertsein) und exzentrischer 80 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
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Bezugnahme (Distanznahme) wird aufgehoben. Beide Pole werden auseinandergerissen und stehen schließlich unverbunden nebeneinander. Auf der einen Seite steht das illusionäre Begehren nach grenzenlosen sinnlichen Genüssen und selbstvergessener Versunkenheit, auf der anderen der Wunsch nach übergreifender Kontrolle und coolem Selbstmanagement. Da emotionale Bildung jenseits erfolgstaktischer Abwägung schlichtweg ausbleibt, können beide Seiten einander nicht mehr ›organisch‹ vermittelt werden. Während man sich in vergangenen Zeiten bezüglich des Möglichen in der Liebe an konventionellen Vorgaben und Begrenzungen – konflikthaft – abarbeiten musste, scheint heute alles möglich. Gesucht wird das pure Gefühlserleben frei von allen Einschränkungen und Hindernissen, um einzig und allein dem authentischen Selbstsein zu entsprechen. Doch dieses Streben zielt im doppelten Sinne auf das Unmögliche: Es unterstellt ein unrealisierbares Ideal authentischer Fülle und es verfällt zugleich dem irrtümlichen Glauben an umfassende selbstbestimmte Kontrollierbarkeit. Betrachten wir dieses gedoppelte Bestreben unter ethischen Gesichtspunkten, so lässt sich sagen, dass es gewissermaßen gelungen ist, die Anwesenheit des Anderen aus der Liebe zu verbannen. Vergleichbares ließe sich auch im Blick auf andere Bereiche zwischenmenschlicher Beziehung sagen. Auch hier vollziehen sich Entgrenzungen, in denen es, wie Funk schreibt, »um ein Freisein von Bindungen und deshalb um eine Entgrenzung des Gebundenseins an andere und an sich selbst sowie an naturale und gesellschaftliche Vorgaben« 23 geht. Es empfiehlt sich, an dieser Stelle nochmals – im Blick auf unsere Selbstzugänglichkeit – das bei Plessner so zentrale Thema der Unergründlichkeit aufzugreifen.
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Funk, 2011, S. 111.
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IV. Nachdenken in Philosophischer Praxis
Philosophische Praxis zielt nicht zuletzt darauf, diejenigen ernst zu nehmen, die auf Grund der oben dargestellten Phänomene ins Straucheln geraten und einen dialogischen Austausch suchen. Nicht zwangsläufig liegt der Ausgangspunkt darin, dass eine Person äußert, schwerwiegende persönliche Schwierigkeiten zu haben oder gar sich selbst zum Problemfall zu werden. Häufig dominiert zunächst das Anliegen, alltägliche Belastungen müheloser meistern zu können bzw. in komplexen Entscheidungslagen Orientierung zu finden. Doch auch ohne dass die Praktikerin die Lebensweise ihres Gegenübers gezielt in Frage stellen würde, drängen häufig ganz unerwartet tiefgreifende Problemkonstellationen an die Oberfläche, durch die sich das Dasein einer Person gleichsam überraschend auf eine größere Dimension hin öffnet. Alltägliche Einstellungen und eingefahrene Bewertungsmuster verlangen nun nach einer Überprüfung, das Selbstverständliche wird brüchig, Gefühle innerer Zerrissenheit lassen philosophische Grundfragen laut werden. Dies geschieht vielfach ganz unwillkürlich, indem die Gesprächspartnerinnen – auf das jeweilige Anliegen Bezug nehmend – behutsam im Dialog einen gedanklichen Kreis abschreiten. Durch Mitdenken und Mitfühlen seitens der Praktikerin öffnet sich allmählich ein gemeinsamer Denkraum, in welchem sich paradoxerweise über Momente der Verständigung und Näheerfahrung zunehmend reflexive Selbstdistanz gewinnen lässt. Dies soll später noch weiterführend erörtert werden. Zum gegenwärtigen Punkt meiner Ausführungen ist zunächst folgende Feststellung wichtig: Für die Praktikerin gewinnt das Ineinandergreifen von involviertem Nachvollzug und Abstand nehmendem Nachdenken seine Tiefe aus einer nie inne82 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Nachdenken in Philosophischer Praxis
haltenden, weit gefächerten Beschäftigung mit unterschiedlichen philosophischen Disziplinen einerseits sowie andererseits durch die Einbeziehung soziologischer Analysen auf der Basis eines offenen Kulturbegriffs, wie ihn nicht zuletzt die Anthropologie Plessners anbietet. Subtile emotionale Manipulationen sind keineswegs ausschließlich ein Problem bildungsferner Unterschichten. Dieser Rückschluss wäre fatal und würde verkennen, in wie hohem Maße wir heute alle unter dem Einfluss gezielter gesellschaftlicher Emotionalisierung stehen, woraus Desorientierung, Verunsicherung und Frustration hervorgehen. Fixiert auf höchst anspruchsvolle Modelle einer selbstbestimmten, zugleich lustvollen und erfolgreichen Vita vergessen wir es, die immensen Enttäuschungsrisiken abzuwägen, die damit verbunden sind. In allen diesen Fällen ist reflexive Distanz anzuraten, nicht zuletzt indem wir eine neue nachdenkliche Praxis im Umgang mit Gefühlen aufbauen, allerdings ohne in tradierte Dualismen zurückzufallen. Hierzu benötigen wir die Synergien vieler gesellschaftlicher Bildungsinstanzen. Der Philosophischen Praxis kommt dabei m. E. eine herausragende Stellung zu, weil es durch sie gelingen kann, zeitgeisttypische Denkweisen kritisch zu beleuchten, ohne noch vom unterstellten Parameter einer unwandelbaren menschlichen Natur Ausgang nehmen zu müssen. Was den Menschen immer schon ausmacht und was innerhalb der Moderne unbestreitbar geworden ist, ist seine offene, historisch wandelbare Struktur – mit Plessner gesprochen seine Unergründlichkeit. 1 Paradoxerweise erweisen sich vor diesem Hintergrund nun aber gerade die übersteigerten Freiheitsversprechen hypermoderner Gesellschaften als unerfüllbar, insofern ja gerade ein Wesen, das keinen Es lassen sich im Übrigen deutliche Affinitäten zwischen Plessner, Jaspers und Arendt aufzeigen. Auf das Denken Arendts soll weiter unten noch etwas näher eingegangen werden. – Zu: Plessner und Jaspers, siehe: Krüger, 2019, S. 551–564.
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Nachdenken in Philosophischer Praxis
letzten Halt in sich selbst finden kann, auf äußere Orientierung gebende Gefüge angewiesen ist und angesichts wachsender Komplexität mehr und mehr nach ihnen verlangt. Unabweislich wird, dass Freiheit ohne Limitierung gar nicht denkbar ist. Philosophische Reflexion lehrt uns: Freiheit besteht nicht in der Auflösung oder Missachtung aller Grenzen, sondern in der allmählichen, wohl bedachten Überschreitung und Umgestaltung bisheriger Grenzverläufe. Im Zeichen exzentrischer Positionalität entspricht der seelischen Kapazität des Menschen – wie viele weitere Überlegungen Plessners nahelegen – deshalb weitaus mehr eine besonnene Modifikation bestehender Strukturen als ihre radikale Beseitigung. Der aktuelle Anspruch völlig freier Selbstwerdung bzw. Selbsterfindung in vermeintlicher Auflösung regulierender Identitäts- und Rollenvorgaben ist für Plessner daher keinesfalls eine logische Schlussfolgerung aus der Unergründlichkeit des Menschen. Im Gegenteil verweist sein Nachdenken auf die beachtlichen individuellen und gesellschaftlichen Folgeprobleme eines solchen übersteigerten, ich-fixierten Freiheitsstrebens. Entsprechend lassen sich mit Plessner wichtige Aufschlüsse über die Kehrseite freiheitsbezogener Selbstüberforderungen formulieren, sowohl in Bezug auf die schon dargelegten gesellschaftlichen Verwerfungen als auch – damit verbunden – hinsichtlich der psychischen Leiden vieler Einzelpersonen. Ein zentrales Arbeitsfeld Philosophischer Praxis liegt demnach darin, aufklärend zu wirken und das allseits propagierte postmoderne Glücksversprechen in Dialogen kritisch zu überdenken – vornehmlich in Diskussionsgruppen und Workshops, bei gegebenem Anlass aber auch im Einzelgespräch. Emotionale Authentizität, die Zurückweisung von Beschränkungen und regulierenden Vorgaben, das unternehmerische Selbst – all dies wäre sowohl auf seinen realistischen Gehalt hin zu überprüfen als auch zu den Fragen eines gelingenden Lebens in Beziehung zu setzen. Viele Problempunkte der modernen Subjektkultur wurden bereits darge84 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
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legt. Augenfällig wurde: Übersteigerte Erwartungen an eine erfolgreiche subjektive Entfaltung müssen quasi zwangsläufig mit der Realität konfligieren und tragen demzufolge Enttäuschung, Verunsicherung, Angst, Wut, insbesondere aber auch Scham im Gepäck. Oftmals ist in der gegenwärtigen Gesellschaft auch der therapeutische oder beraterische Umgang mit derartigen Negativerfahrungen nicht hinreichend damit befasst, angesagte Erfolgsziele und Selbstverwirklichungsideale in grundlegender Weise zu hinterfragen. Im Therapie- und Coachingbereich ist vielfach ein lösungsorientiertes Denken leitend, welches im Stil gängiger Autonomiebestrebungen alles Störende und Begrenzende aus dem Weg zu räumen sucht. Jedes Erleben von Sinnlosigkeit, Unverfügbarkeit, Kontingenz und Desorientierung gilt als inakzeptabel, weil es das Souveränitätsbegehren angreift und beeinträchtigt. Leichthin wird die Botschaft vermittelt, dass Abhilfe geschaffen werden kann, sofern man es nur richtig anstellt. Gemäß einem scheinbar grenzenlosen Machbarkeitscredos werden Methoden und Verfahren zur psychotechnischen Beherrschung nahezu aller existenziellen Bedrängnisse und seelischen Problemlagen verabreicht. Wer die leidvolle positionale Verwobenheit mit dem Umfeld – das Erleben von Passivität, Abhängigkeit und Hilflosigkeit – trotzdem nicht abschütteln kann, ist schnell bereit, sich dies als persönliches Unvermögen anzukreiden. Doch wer festgefahren ist und sich primär selbst dafür verantwortlich erklärt, folgt damit einer Logik, die schmerzvolles Erleben und Gefühle der Unzulänglichkeit noch zusätzlich ankurbelt. Häufig habe ich feststellen können, dass Gäste meiner Praxis, die massiv unter Druck standen, absolut überzeugt waren, in ihren Leiden und ihrem Unvermögen eine Ausnahme darzustellen, während andere nach ihrer Einschätzung das Leben lässig und mühelos meistern. Schon eine kleine Erzählung, in der man eigene Fehlschläge schildert bzw. (vergangene) Sorgen und Scherereien kundtut, wirkt hier manchmal Wunder. Allmählich wächst die Einsicht 85 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
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in den Tatbestand, dass niemand von Misserfolgen, Bruchlandungen und unerfüllbaren Vollkommenheitswünschen verschont ist, weil derartige Dissonanzen zum Kernbestand menschlicher Selbstwahrnehmung gehören. In spätmodernen Gesellschaften scheinen Impressionen persönlicher Beeinträchtigung und Unzulänglichkeit nun aber quasi zu einem chronifizierten, mehr oder weniger kaschierten Symptom der allermeisten zu werden. Das Erleben von Verunsicherung und Scham liegt – so die Auffassung renommierter Experten – an der Wurzel aktueller Formen subjektiver Erschöpfung, die ihren Ausdruck in Depression und Suchterkrankungen finden. In seiner medizinhistorischen Studie Das erschöpfte Selbst bezeichnet Ehrenberg die Depression als »Krankheit der Verantwortlichkeit, in der das Gefühl der Minderwertigkeit vorherrscht. Der Depressive ist nicht auf der Höhe, er ist erschöpft von der Anstrengung, er selbst werden zu müssen.« 2 In diesem Sinne signalisiert die Depression einen Verlust an Konfliktkompetenz, der aber nicht als solcher wahrgenommen wird. Ehrenbergs Untersuchung zeigt, dass die Karriere der Depression – medizingeschichtlich betrachtet – in dem Moment einsetzte, als die überlieferten Strukturen der autoritären, regulierenden und verbietenden Gesellschaft sich zu Gunsten einer Individualisierung aller Lebensformen auflösten und damit an die Stelle fester Rollenvorgaben und Sollvorschriften das Gebot der Initiative trat, d. h. die Aufforderung zu freiheitlicher Selbstfindung und Selbstverwirklichung. Doch Ehrenberg, 2004, S. 4 – Zahlreiche Suchterkrankungen gelten Ehrenberg als Nebenprodukte der Depression. Der Drogenabhängige ist eine Art »Anti-Subjekt«: »Wenn die Depression die Geschichte eines unauffindbaren Subjekts ist, dann ist die Sucht die Sehnsucht des verlorenen Subjekts.« – Ebd., S. 11. »Die Depression ist die Krankheit des Individuums, das sich scheinbar von dem Verbotenen emanzipiert hat, das aber durch die Spannung zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen zerrissen wird.« – Ebd., S. 12. Siehe zu diesem Themenkomplex u. a. auch: Neckel u. Wagner, 2013.
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Konflikt und Reibung mit einschränkenden Normen sind nach Ehrenberg wichtige Faktoren, die dem Selbst Stabilität und Kontur verleihen. »Um mit sich selbst verbunden zu sein, muss es (das Individuum, H. B.-V.) von sich selbst getrennt sein. Im politischen wie im privaten Leben ist der Konflikt der normative Kern demokratischer Kultur.« 3 Nur dann kann der Einzelne innere Festigkeit erlangen, wenn er sich darin übt, den aufkommenden inneren Zwiespalt aktiv zu bewältigen. Bleiben Konflikte hingegen dauerhaft ausgespart, stellen sich diffuse Stimmungen der Leere und Taubheit ein. Die Person reibt sich nicht mehr an konkreten Widerständen auf, sondern das ganze Selbst leidet an der eigenartigen Passion, nur noch sich selbst ähnlich sein zu wollen/sollen. Auf die Spitze getrieben bedeutet dies: Keine Einengung wird zugestanden, nichts Vorgegebenes darf mehr als Identifikationsfolie dienen. Da dieses Emanzipationsideal Einschränkungen zwar wegschieben, letztlich aber nicht abschaffen kann, trägt es zu einer neuen »Kultur des inneren Unglücks« bei. »Die Depression bremst die Allmacht, die der virtuelle Horizont der Emanzipation ist.« 4 Wie Reckwitz verweist auch Ehrenberg auf hier wirkende neue Konfliktstrukturen infolge widersprüchlicher Zielvorgaben: Während man auf der einen Seite dem Evangelium der Selbstentfaltung folgen soll, heißt es zum anderen den auferlegten Leistungsansprüchen der Wissensgesellschaft Genüge zu tun. Vor diesem Hintergrund verwandelt sich das Leben »in eine chronische Identitätskrankheit« 5 mit gravierenden Folgen auch für die Gestaltung persönlicher Beziehungen. Selbst hier regiert – wie schon angesprochen – sehr häufig der Wunsch, alle Verbindlichkeiten hinter sich zu lassen und dennoch Nähe zu erleben, um die
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Ehrenberg, 2004, S. 11. Ebd., S. 158. Ebd., S. 227.
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ganze Fülle des Lebens in emotionalem Überschwang auskosten und frei ausagieren zu können. Noch vieles mehr ließe sich zur problematischen Emotionalisierung der modernen Lebenswelt ausführen. Es sollte mittlerweile klar geworden sein, dass sich hier vielfach vollkommen unkontrolliert Vermischungen von affektiver Erregung und wertender Beurteilung ereignen (Werte können als positive emotionale Besetzungen verstanden werden). Ausschlaggebend ist, wie wir einen Gegenstand reflexartig nach in uns angelegten (Vor)Urteilen einstufen, deren Angemessenheit oftmals keiner weiteren Revision mehr unterzogen wird. 6 Gleichfalls hängen diese spontanen emotionalen Reaktionen in vielen Situationen vom Einfluss Außenstehender ab, welche uns mit manipulativem Geschick ihre Weltsicht verabreichen, etwa indem sie grundlegende Lebensängste mit aktuellen Ereignissen oder exponierten Personengruppen in Verbindung bringen. Schon Machiavelli schrieb, dass Angst die solideste Grundlage sei, um andere für sich zu gewinnen. 7 Solche Mechanismen der Beeinflussung, die Populisten virtuos beherrschen, greifen dann besonders gut, wenn Menschen sich aufgrund ihres prekären Sozialstatus innerhalb bestehender Systeme nicht mehr aufgehoben und anerkannt fühlen. Widerspricht der faktische berufliche Abstieg vieler Menschen dem propagierten demokratischen Versprechen von Chancengleichheit und Teilhabe, so ist mit nachlassendem Vertrauen in etablierte Instanzen zu rechnen. Radikale Ideologien haben dann leichtes Spiel, verneinende Gefühle zu mobilisieren und einen Teil dieser Menschen für ein neues antidemokratisches und repressives Macht- und Ordnungsgefüge zu vereinnahmen. Siehe hierzu den Leitfaden einer Angemessenheitsprüfung in: Bennent-Vahle, 2020, S. 302–328. 7 So lesen wir: »Gleichwohl darf ein Fürst nur so viel Furcht verbreiten, daß er, wenn er dadurch schon keine Liebe gewinnt, doch keinen Haß auf sich zieht; denn er kann sehr wohl gefürchtet werden, ohne verhaßt zu sein; (…).« – Machiavelli, 1988, S. 131. 6
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Plessners Anregungen für ein Ethos Philosophischer Praxis
In Anbetracht dieser Gesamtlage dürfen Philosophische Praktikerinnen sich nicht, mit Ran Lahav formuliert, als »Zufriedenheitslieferanten« 8 verstehen, die dem Einzelnen dazu verhelfen, sich wieder reibungslos zustimmend in ihr gewöhnliches Leben einzufügen, d. h. ohne die ihnen hier auferlegten Normen und Leistungsstandards (sowie ihre eigene Position darin) einer grundlegenden Prüfung zu unterziehen. Philosophische Praxis lädt vielmehr dazu ein, das Hadern mit der Welt als Auftakt einer gedanklichen Reise zu sehen, die es ermöglicht, ausgetretene Pfade – Denkgewohnheiten und Handlungsroutinen – zu erkennen und einer gründlichen Untersuchung auszusetzen.
1. Plessners Anregungen für ein Ethos Philosophischer Praxis a) Unhintergehbare Positioniertheit Wir haben es bei Plessner mit einem Ansatz zu tun, der den Menschen einerseits über das bestimmt, was ihn faktisch – infolge seiner jeweiligen Positioniertheit – ausmacht, und der andererseits Möglichkeiten abgestufter Selbstbetrachtung aufzeigt, die ihn über sich hinausführen und in seiner relativen Freiheitsfähigkeit bestätigen und ermutigen. Beziehen wir dies auf den zwischenmenschlichen Umgang, so verlangt diese Sichtweise zunächst ein unbedingtes Ernstnehmen und Geltenlassen emotionaler Selbstauskünfte. Doch bereits im Akt des gemeinsamen Sprechens über Gefühle und leibliche Empfindungen wäre augenfällig zu maDies ein Begriff von Ran Lahav, der im Übrigen einen spezifischen Ansatz systematischer Selbsthinterfragung und Transformation entwickelt, um den Einzelnen zur Erweiterung seines Horizontes und zur weisheitsorientierten Vertiefung seiner Persönlichkeit anzuregen. – Lahav, 2017, S. 23. Siehe hierzu resümierend: Krauß, 2022, S. 149 ff.
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chen, dass niemand sein Gefühl einfach nur ist, sondern sich vielmehr unweigerlich dazu verhält, und sei es auch in Form des (aussichtslosen) Ansinnens einer restlosen Identifikation mit emotionalen Impulsen. Will ich ganz und gar in meinem Zorn aufgehen und mir ungehemmt Luft verschaffen, so zeigt sich in diesem Wünschen und Streben bereits jener unaufhebbare Bruch, der unser menschliches Agieren wie ein Erkennungszeichen markiert. Das heißt, in der propagierten Identifikation mit Gefühlen offenbart sich unsere exzentrische Positionalität. Niemals kann ich mein Sein vollständig im Gefühlten auflösen, ich kann mich allenfalls dafür entscheiden, aufflammenden affektiven Impulsen blind und fraglos Gefolgschaft zu leisten, weil ich diese für wahrhaftig, echt und damit wertvoll erachte. Indem ich allerdings mit ›ich‹ über mich selbst als Fühlende spreche, habe ich meine Mitte bereits verloren, bin aus ihr herausgetreten. Schon hier werden differenzierende Stellungnahmen aktiviert, durch die sich überhaupt erst eine Entscheidung treffen und ein Gespräch führen lässt, für dessen Verlauf die eingewurzelte, in weiten Teilen unbewusste Erlebens- und Gedankenwelt der jeweiligen Personen bestimmend ist. Was auch immer dabei passieren mag, unausweichlich wird es zuletzt – so meine These – auf ein Fazit hinauslaufen, nämlich auf die Einsicht, dass wir als Menschen ohne eine Gefühlskultur gar nicht existieren können und deshalb tunlichst gemeinsam über die Ausgestaltung derselben nachdenken sollten. Mit seiner Idee unhintergehbarer Positioniertheit eines nach sich selbst fragenden menschlichen Bewusstseins thematisiert Plessner konsequent die unauflösliche Verschränkung von Vernunft- und Lebewesen im Ich. Als Lebewesen ist das Ich in bestimmte Lebensformen eingebunden, oder besser noch: Bestimmte Lebensformen sind ihm in Fleisch und Blut übergegangen, prägen seine Weisen des Fühlens, Denkens und Handelns, lange bevor sie zum Gegenstand der (kritischen) Betrachtung werden können. Überdies ist jede Begutachtung ihrerseits durchzogen von Spuren der je90 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Plessners Anregungen für ein Ethos Philosophischer Praxis
weiligen Lebensform, insofern sie stets in großen Teilen der Sehkraft des Betrachterauges entzogen bleiben. 9 Anders ausgedrückt: Modi und Moden des Fühlens, emotionale Bindungen an bestimmte internalisierte (moralische) Wir-Formen sowie auch das Eingelassensein in entsprechende Sprachspiele limitieren die Neutralität jeder ›rationalen‹ Perspektive. Letztere ermöglicht zwar ein Mehr an Distanz und eine Weitung des Gesichtsfeldes, kann aber – vor allem in der Beurteilung und Bewertung ihres Gegenstandes – keinesfalls emotionsfreie Verstandessouveränität reklamieren. Wir bleiben Wesen, die unwiderruflich in die Welt und je spezifische Sozialformen (teilblind) eingebunden sind. Auf der Basis dieser grundsätzlich relativierenden Einsicht können wir dennoch im philosophischen Gespräch versuchen, z. B. den jeweils zeitspezifischen Umgang mit Emotionen besser zu verstehen und zu beurteilen. Ebenso wenig, wie man von einer gefühlsfreien Rationalität ausgehen kann, ist es angemessen, die menschliche Emotionalität als vollkommenen irrationales Affektgeschehen einzustufen. Sie folgt vielmehr einer eigenen Logik und ist über weite Strecken ein sehr sinnvolles Instrument des Weltverstehens. 10 Es gibt überdies zeittypische Weisen des Fühlens. Heute längst überholte Gefühlsbegriffe führen die Historizität emotionaler Erfahrung vor Augen. 11 Individuelle emotionale Reaktionsmuster gehen innerhalb der ersten Lebensjahre aus einem Beziehungsgeschehen hervor, in dem allgemein-kulturelle Üblichkeiten eine je einzigartige Ausprägung erfahren. So betrachtet ist unser Gefühlsleben ein Spiegel von Erinnerungen und unmerklichen Einschreibungen, welche uns im Wesentlichen ausmachen, wenngleich wir sie nicht ohne Weiteres bewusst abrufen und erkennen können. Gesteuert von einem höchst persönlichen emotionalen Siehe hierzu auch: Bennent-Vahle, 2020. Siehe: Ben Ze’ev, 2009; Bennent-Vahle, 2013 u. 2020. 11 Siehe insbesondere: Stalfort, 2013, S. 227–235 sowie Frevert, 2011. 9
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Nachdenken in Philosophischer Praxis
›Skript‹ reagieren wir fortwährend spontan auf Widerfahrnisse. Dabei kommt es natürlich entschieden darauf an, über welche Interpretationsmuster wir das Begegnende auch gedanklich einordnen. Das heißt: Je nachdem, welche Normen oder Wirkzusammenhänge als selbstverständlich zugrunde gelegt werden, erscheint der betreffenden Person ein Vorgang unerheblich, anstößig oder auch begrüßungswert. So kann im Extremfall ein und dasselbe Ereignis Zorn oder Wohlwollen in ihr auslösen. Martha Nussbaum schreibt: »Was Angst von Hoffnung unterscheidet – und Angst von Trauer und Liebe von Hass –, ist nicht so sehr die Identität des Gegenstandes, der jeweils derselbe sein kann, sondern wie der Gegenstand wahrgenommen wird: bei der Angst als Bedrohung, aber mit einer Chance zu entkommen; bei der Hoffnung als unsicher, aber mit der Chance eines glücklichen Ausgangs; bei der Trauer als verloren und bei der Liebe als in bestimmter Weise leuchtend, strahlend.« 12
Es zeigt sich hier, dass für die Arbeit in Philosophischer Praxis eine ausgiebige Beschäftigung mit dem Thema Emotionen angeraten ist. Um Menschen in ihrer existenziellen Eingebundenheit gerecht werden zu können, kommt es insbesondere darauf an, den in der abendländischen Tradition tief verankerten Dualismus von Emotionalität und Rationalität kritisch zu überdenken, einen Dualismus welcher sich, wie oben dargelegt, insbesondere in der Glückskepsis deontologischer Ethikkonzepte niedergeschlagen hat. Die hier zentrale Entgegensetzung von Pflicht und Neigung korrespondiert einer Persönlichkeitskultur, die eine integrative, Fühlen und Denken umschließende Ausbildung ethischer Haltungen bzw. Tugenden beeinträchtigt. Diesbezüglich geht Plessner in impliziter Auseinandersetzung mit Adam Smith’ Theorie der Gefühle sowie mit Schillers Modell der ›schönen Seele‹ einen anderen Weg, 13 dessen Grundlinien im nachfolgenden 12 13
Nussbaum, 2000, S. 147. Siehe hierzu: Haucke, 2003, Kap. II.
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Plessners Anregungen für ein Ethos Philosophischer Praxis
Teil zum Ethos der Grazie nochmals aufgegriffen werden sollen.
b) Vertrautheit und Fremdheit In theoretischer Hinsicht definitiv und maßgeblich ist Plessners »Wesensbestimmung« des Menschen einzig und allein in der klar vorgegebenen Regel, »eine inhaltliche oder formale theoretische Fixierung als … fernzuhalten, welche seine Geschichte in die Vergangenheit und in die Zukunft hinein einem außergeschichtlichen Schema der Geschichtlichkeit unterwerfen möchte.« 14 Dieser konsequenten Zurückweisung eines fixen Menschenbildes korrespondiert ein hohes ethisches Regulativ, nämlich das Gebot konsequenter Selbstrelativierung im Zeichen politischer und interkultureller Aufgeschlossenheit. 15 Gegen Versuche eines »Festgegründetseins in einer bestimmten heimatlichen Erde, in Blut und Boden« 16 , die viele seiner Zeitgenossen vornahmen, gegen Strategien »der Vereinseitigung des Menschlichen und der Monopolisierung eines bestimmten historisch gewordenen Menschentums« 17 verfolgt Plessner eine Humanisierungskonzeption, in deren Konsequenz letztlich sogar »die Relativierung ihrer selbst, damit die Preisgabe einer natürlich gesicherten Vormachtstellung gegenüber anderen menschlichen Positionen und Daseinsformen« 18 liegt. Diese Worte lassen erkennen, dass Plessners politische-moralische Ausrichtung ihren universellen Anspruch gleichsam bis zur Selbstaufhebung verfolgt. Nur indem die eigene Auffassung, für deren Überzeugungskraft Plessner mit Nachdruck eintrat, zugleich 14 15 16 17 18
Plessner, 2003a, S. 190/191. Siehe: Ebd., S. 147 ff. Plessner, 2003b, S. 63. Plessner, 2003a, S. 193. Ebd.
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prinzipiell auch dem Relativierungsgebot unterstellt blieb, konnte die Gefahr nationalistischer, völkischer Ideologisierung gebannt werden. Umso mehr kam es aus Plessners Sicht darauf an, im konkreten Engagement eine Art Nachweis der Überlegenheit einer pluralistisch-liberalen Welthaltung zu erbringen. Zugleich bieten Plessners Analysen viele Anknüpfungspunkte, um die menschliche Anfälligkeit für ideologische Verhärtungen und Verfeindungstendenzen zu erklären. Sowohl das Verlangen nach klaren Ordnungsstrukturen und moralischen Verbindlichkeiten als auch die Bereitschaft, Freund und Feind gegeneinander abzugrenzen, finden ausgehend von der natürlichen Unbestimmtheit des Menschen eine überzeugende Deutung. Das prinzipielle Wissen um ihre existenziell ungewisse Lage drängt Menschen in der konkreten Lebensbewältigung dazu, klar konturierte, künstliche Organisationsformen und Regelwerke einzurichten, um sich hierüber eine Vertrautheitssphäre der Orientierung und Zugehörigkeit zu verschaffen. »Im vertrauten Milieu der Heimat werden wir alles mehr oder weniger selbstverständlich finden, womit die Fraglosigkeit des täglichen Umgangs die Unnachdrücklichkeit der Begegnung mit den Menschen und ihren Anliegen zu erkennen gibt. Alles geht wie von selbst, natürlich, als ob es so sein müßte, und auch wir gehen wie von selbst auf den vertrauten Wegen, ohne viel zu sehen.« 19
So sehr wir diesen Rahmen des Vertrauten grundsätzlich auch benötigen, so sehr müssen wir uns nach Plessner dennoch klar machen, dass nur ein Eintauchen in Unvertrautes unsere Sinne wirklich schärft und uns lehrt, Menschen und Dinge »mit anderen Augen zu sehen«. Aus Plessners Sicht gereicht es uns unbedingt zum Vorteil, wenn unsere Lebensgeschichte »uns den schmerzlichen Gefallen« tut, uns »dem
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Plessner, 2003b, S. 92.
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Plessners Anregungen für ein Ethos Philosophischer Praxis
vertrauten Kreise zu entrücken« 20 , denn primär auf diesem Wege erlernen wir »die Kunst des entfremdenden Blicks«, welche »die unerlässliche Voraussetzung allen echten Verstehens« 21 ist. Letztlich sind es leidvolle, desillusionierende Entfremdungserlebnisse, die dazu veranlassen, tief verankerte Vorurteile zu revidieren und auch dem Leid unbekannter Menschen mit Mitgefühl zu begegnen. Noch einmal: »Nur was aus eigener Lebenserfahrung gespeist wird, kann auf fremde Lebenserfahrung ansprechen, nur der bittere Trank der Enttäuschung sensibilisiert. Der Schmerz ist das Auge des Geistes.« 22 Einsichtsvoll werden wir über entfremdende Erfahrungen, welchen folglich ein enorm hoher Wert beizumessen ist. Sie animieren dazu, die Begrenztheiten der eigenen Weltsicht anzuerkennen, um Selbstdistanz zu üben und die Imaginationskraft im Hinblick auf andere Lebensmöglichkeiten zu entfachen. Erst so wird ein anerkennendes Verstehen möglich, das nicht vereinnahmt, ein »Vertrautwerden in der Distanz, die das Andere als das Andere und Fremde zugleich sehen läßt«. 23 Plessners Reflexionen über Zugehörigkeit und Fremdheit führen die Relativität jeder Vertrautheitssphäre vor Augen und erinnern damit an die grundlegende Kontingenz menschlicher Existenz. Zu derartigen Einsichten gelangte der Denker über einschneidende eigene Erlebnisse. Da er 1934 während des Naziregimes nach Holland emigrieren musste, waren ihm leidvolle Erfahrungen der Entwurzelung, Einsamkeit und Anpassung in der Fremde nur allzu bekannt. Carola Dietze weist mit folgenden Worten auf eine essentielle Einsicht Plessners hin, die dieser schwierigen Lebensphase entspringt: »Das Vertrautsein mit dem zunächst Frem-
20 21 22 23
Ebd., S. 94. Ebd. Ebd., S. 95. Ebd., S. 102.
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den impliziert eine Entfremdung von dem zunächst Eigenen, es impliziert eine Selbstrelativierung.« 24 Wo sich diese besondere Sehkraft zu entwickeln vermag, ist zugleich die Gefahr gebannt, dass sich die VertrautheitsFremdheits-Strukturen, die sich im Zuge kultureller Teilhabe notwendigerweise etablieren, in verhärtete Freund-FeindKonstellationen und Überlegenheitsideologien umwandeln. Wer Entfremdungserfahrungen durchläuft, ist eher bereit, sich einer kontemplativ-theoretischen Betrachtungsweise zu öffnen und im Zuge dessen auch moralisch aufgeschlossener zu werden. Denn wankt der Boden unter den eigenen Füßen, so vermag Einsicht in die Veränderlichkeit und Unbestimmbarkeit des Menschlichen zu reifen. In der »freien Anerkennung der Verbindlichkeit des Unergründlichen« ließe sich die Möglichkeit eröffnen, »so etwas wie geistige Welt und Geschichte, als eine nie ausschöpfbare und doch faßliche, d. h. immer neu zu sehende, weil beständig sich in anderem Sinne erneuernde Lebenswirklichkeit in den Blick zu bekommen«. 25 Wesentlich wäre es also, dass Menschen ihre Angewiesenheit auf einen heimatlichen Horizont erkennen sowie die damit notwendigerweise verbundene Unterscheidung zwischen Vertrautem und Fremdem respektieren, ohne zugleich abweisende Impulse gegen Unbekanntes und Verfeindungsstrukturen zuzulassen. Sofern die Unbestimmtheit des Menschen ernst genommen wird, müssen essentialistische Vorstellungen und damit verknüpfte Ansprüche verworfen werden. Erkannt wird, dass kulturelle Vielfalt nicht biologisch gegeben, sondern von Menschen gemacht ist, dass sie mithin ein veränderliches und gestaltungsoffenes Gefüge ist. Erst im tatsächlichen interaktiven Vollzug wird sich erweisen, welche Sicht auf den Menschen letztlich Überzeugungskraft anderen gegenüber beanspruchen kann. Die »konstitutive Heimatlosigkeit« menschlicher Existenz ver24 25
Dietze, 2006, S. 185. Plessner, 2003a, S. 181 f.
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bietet naturalistische und ontologische Festschreibungen kultureller Unterschiede. Diese bilden oftmals die Basis für Unversöhnlichkeit und Gewalthandeln. Wie schon gesagt, hat sich die Tragfähigkeit dieses liberalen Denkens im weiteren geschichtlichen Verlauf allerdings erst noch zu erweisen. Wenngleich Plessner somit Veränderlichkeit zur menschlichen Konstante erhebt, so verbindet sich für ihn damit keinesfalls eine Entbindung des Individuums von allen äußeren Orientierungs- und Regulierungssystemen. Im Gegenteil unterstreicht er immer wieder neu, dass die menschliche Seele auf objektive Vorgaben angewiesen ist, um sich ausbilden und strukturieren zu können. Das Ziel authentischer, freier Individualentfaltung jenseits aller sozialen Reglementierung würde zudem die intersubjektive Verfasstheit der menschlichen Natur verkennen. Wer alles von außen Kommende zur Disposition stellt, wer rückhaltlos allein aus sich selbst heraus schöpfen und schaffen will, übersieht, dass sich das je Eigentümliche nur in erfahrungsgetränkter Reibung mit der Welt herauskristallisieren kann. Um unsere Identität auszubilden, bleiben wir deshalb auf Vermittlungsinstanzen angewiesen, d. h. sowohl auf vorfindliche sprachliche Differenzierungen als auch auf soziale Rollenvorgaben und die widerständige Gegenwart anderer Menschen. »Alles Psychische braucht diesen Umweg, um zu sich zu gelangen, es gewinnt sich nur, indem es sich verliert.« 26 Plessner wendet sich damit insbesondere in seiner Schrift Grenzen der Gemeinschaft gegen das Ideal einer unentfremdeten Existenzweise, gemäß der es darauf ankäme, im Gesellschaftlichen jedwedes Erleben von Fremdbestimmung zu überwinden. Aus seiner Sicht ist der Entfremdungsbegriff schon für sich genommen hochproblematisch, denn er suggeriert, dass es so etwas wie ein urwüchsiges Selbstsein geben könne, von dem Menschen durch gesellschaftliche Prozesse weggeführt werden. Gerade diese Denkweise ignoriert aber 26
Plessner, 2002, S. 91.
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das unaufhebbare Außersichsein des Menschen, d. h. seine konstitutive Gebrochenheit infolge seiner exzentrischen Struktur. Nimmt man dieses Theorem Plessners ernst, so ergibt sich, dass das vorstrukturierte soziale Umfeld die eigentliche Realisierungsarena menschlicher Selbstwerdung ist. Innenwelt und äußere Wirklichkeit verweisen unentwegt aufeinander. Weder kann von einer der Außenperspektive vorgängigen inneren ›Wahrheit‹ gesprochen werden, noch besitzen gesellschaftliche Rollenvorgaben eine unbezwingbare, ›entstellende‹ Definitionsmacht. Vielmehr gewähren diese einen »Horizont des Selbstverstehens« 27 , in dem sich flexible Gestaltungsräume ergeben. Das heißt: So wenig es ein vorverfasstes, eigentliches Selbst geben kann, mit dem man zur Deckungsgleichheit gelangen könnte, so wenig kann von einer Totalvereinnahmung durch vorfixierte unflexible Rollen die Rede sein. Dieser für die philosophische Praxis zentrale Gedanken wird noch verständlicher, wenn wir die schon genannten Problempunkte der heute grassierenden Selbstverwirklichungsideale noch weiterführend im Blick auf Plessners anthropologisches Konzept abgleichen.
c) Die soziale Verfasstheit des Selbst Fragen wir also nochmals: Wie steht es um die heute allgegenwärtigen Ideale freier, kreativer Selbstentfaltung? Was gewinnen wir, wenn wir unseren Emotionen ungehemmt Luft verschaffen, und wo liegen die Risiken? Worin besteht die verbindende Kraft der Gefühle und wo ist das Gegenteil der Fall? Wie verhält sich eine Praxis ungehinderten Gefühlsausdrucks zu unserem Anspruch auf persönliche Freiheit und Selbstbestimmung? Wächst mit dieser Praxis nicht eher unser Ausgeliefertsein an die Welt, das Empfinden von Unverfügbarkeit, woraus erneut starke Verunsicherung und Nega27
Siehe hierzu: Kämpf, 2001, S. 105 f.
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tivgefühle hervorgehen? Was können wir überhaupt von uns selbst wissen, wenn wir die schmerzhafte Reibung an vorgegebenen Richtlinien und Normen zu ignorieren versuchen? Wie sollten wir unter dieser Voraussetzung überhaupt erfassen können, welcher emotionale Stil, welche Lebensform sich uns bereits seit jeher eingeschrieben haben? Man kann das Nachdenken am Leitfaden dieser und ähnlicher Fragen verweigern, möglicherweise, um Kränkungen des Ich zu vermeiden. Lässt man sich aber darauf ein, so wird man bald konzedieren müssen, dass das ich-fixierte Authentizitätsstreben ein einigermaßen vergebliches und irrtumsbehaftetes Geschäft ist. Es transportiert, wie wir gesehen haben, die irrige Vorstellung, es könne ein eigenes Ich jenseits einer intersubjektiv geteilten Praxis geben. Das Unterfangen, ganz rein und echt nur ich selbst zu sein, verkennt die »Wir-Form des eigenen Ichs«, durch die eine radikale Entgegensetzung von Subjekt und Intersubjektivität ad absurdum geführt wird. Jede Versenkung in die eigene Innerlichkeit geschieht nach Maßgabe eines Allgemeinen, von dem her ich mich überhaupt nur zu erblicken imstande bin. Wir haben gesehen: »Wer mit ›ich‹ auf sich Bezug nimmt, ist nicht mehr zentriert. Das Kind, das den Gebrauch von ›ich‹ lernt, gibt die Egozentrik seines Weltbezuges auf, zugunsten einer exzentrischen Positionierung inter Subjekten« 28 , schreibt Thyen im Kontext ihrer Ausführungen zum impliziten Ethos der Anthropologie Plessners. Noch einmal anders gesagt: Sofern ich mich des Personalpronomens ›ich‹ bediene, z. B. um zu meiner leiblichen Zentriertheit in Beziehung zu treten, schwindet die Einzigartigkeit und Vorrangigkeit meiner positionalen Empfindungen dahin. In jeder selbstreferentiellen Darlegung bin ich nicht mehr singulär und unvertretbar, denn meine Selbstzuschreibungen sind in den Worten Plessners von einer »paradoxen Gewißheit« begleitet, »daß nämlich nur ein Wesen, das sich als Ich verstehen kann, mit 28
Thyen, 2007, S. 90.
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dem Sinn für den anderen begabt sein muß, und zwar als eines, das in der gleichen Position ist wie ich, also an meiner Stelle stehen könnte«. 29 Später heißt es: »Als Individuum unersetzbar, steht jeder Mensch in seiner möglichen Ersetzbarkeit.« 30 Indem ich ›ich‹ sage, geschieht also ein Doppeltes: Ich realisiere die Anwesenheit anderer, mir ähnlicher und letztlich gleich gestellter Ichsager. Damit untergrabe ich zugleich meine gefühlte Unersetzbarkeit, denn »Unvertretbarkeit dank der eigenen Binnendimension enthüllt sich dem Individuum nur nach Maßgabe seiner Einsicht in seine Vertretbarkeit«. 31 So wird offenbar, dass der Mensch seiner selbst nur am Anderen habhaft werden kann, dass er sich nur über eine mit anderen geteilte Welt zu erfassen und zu bestimmen vermag. Es besteht deshalb keine Chance, ohne inneren Bruch zu existieren, denn auch in der Versöhnung mit dem Vorfindlichen im Selbst ist der Bruch bereits vorausgesetzt. Folglich vermag sich persönliche Freiheit nicht in der Abkehr von gesellschaftlichen Orientierungen bzw. in bloßer Ausblendung verinnerlichter Regulierungsinstanzen zu entfalten, sondern einzig über die Wahrnehmung von Handlungsspielräumen, die sich einem grundsätzlich von sich abgerückten Wesen eröffnen. Vor diesem Hintergrund wäre auch dem Begriff der Selbstentfremdung, dem Plessner mit großer Skepsis entgegentritt, eine neue Fassung zu geben. Hier bieten Überlegungen der Philosophin Rahel Jaeggi interessante weiterführende Aufschlüsse. Ohne an dieser Stelle differenziert auf diese für die Philosophische Praxis sehr ergiebigen Ausführungen Jaeggis eingehen zu können, sollen lediglich einige zentrale Ideen Erwähnung finden. Ebd., S. 339 – Neuere psychologische Untersuchungen zeigen, dass eine rudimentäre ›moralische‹ Ausrichtung des Kleinkindes sich bereits in der Lebensphase vor dem eigentlichen Spracherwerb nachweisen lässt. Siehe hierzu u. a.: Bloom, 2014 u. Gopnik, 2009. 30 Plessner, 2003b, S. 340. 31 Ebd., S. 339 f. 29
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Exkurs 1: Rahel Jaeggi – Varianten der Selbstentfremdung Jaeggi wendet sich gegen Vorstellungen des Selbstseins, die sie als »Containermodell des Selbst« 32 bezeichnet. Tragend ist hier der Gedanke, dass das Selbst sich irgendwo im Inneren befindet, wo es auf adäquaten Ausdruck wartet, während es aber auch, ganz unabhängig von jeder tatsächlichen Ausdrucksmöglichkeit, von solidem Bestand ist, so als schlummere ein wahres Selbst – »jenseits der Verwirklichung« – als unerschütterliche Konstante tief verborgen irgendwo da drinnen. In dieser Denkweise zeigt sich gemäß Jaeggi eine problematische essentialistische Vorstellung, die das Selbst als eine verborgene Person innerhalb der Person fasst. Dem hält sie – ganz im Sinne Plessners – entgegen: »Es gibt keine hWahrheit des Selbsti jenseits seiner Äußerungen. Was man ist, muss, um Wirklichkeit zu gewinnen, sich ausdrücken und entäußern. Es gibt kein Selbst jenseits der Verwirklichung, nur als Verwirklichtes ist es bestimmt.« 33 Selbst- und Weltbezug erweisen sich als unauflöslich ineinander verschränkt. Wenn wir nicht mehr wissen, wer wir sind, erscheint uns die Welt wie ein Nebeneinander gleichgültiger Gegenstände. Und umgekehrt: Wenn wir der Welt nicht mehr verstehend begegnen, vermögen wir uns selbst nicht länger im lebendigen Bezug zu ihr zu definieren und auszuformen. Erst in Anbetracht dieser unaufhebbaren Verwobenheit von Selbst und Welt lässt sich nach Jaeggi Entfremdung überhaupt verstehen. Sind die Verschränkungsabläufe mit der umgebenden Wirklichkeit nämlich auf irgendeine Weise gestört, so werden bestehende Beziehungen zur Welt von diffusen Gefühlen der Beziehungslosigkeit erfasst. Dies bedeutet: Im Zustand der Entfremdung leiden wir nicht etwa daran, keine Beziehungen zu unserem Umfeld zu haben, sondern wir erleben die vorfindlichen Beziehungen als mangelhaft 32 33
Jaeggi, 2005, S. 65. Ebd., S. 66.
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und unzureichend. Wir haben dann den Eindruck, die Lebensbezüge, in denen wir feststecken, nicht mehr kraftvoll mit unserem Selbst bejahen und ausfüllen zu können, gleichwohl wir oftmals noch unbeirrt in den eingefahrenen Bahnen weiterzustrampeln versuchen. Präziser gefasst bezeichnet der Begriff ›Entfremdung‹ mithin eine Erfahrung schwindender Vertrautheit mit der uns umfangenden Welt, ohne dass wir in eine konflikthafte Auseinandersetzung treten. Dies ist normalerweise ein belastender und leidvoller Zustand, doch wir können ein derartiges Erleben ebenso als Veränderungs- und Entwicklungschance wahrnehmen. Wie also lässt sich die niederdrückende Beziehung der Beziehungslosigkeit überwinden oder wenigstens doch abmildern? Wie kann das eigene Leben als eigenes Leben gelebt werden, ohne erneut dem trügerischen Glauben an vollständige Erfüllung zu verfallen und ohne dem Irrtum zu erliegen, es gebe tief im Inneren eine verbürgte Wahrheit des Selbst, zu der es vorzudringen gelte? Im Ausbuchstabieren verschiedener Formen der Entfremdung macht Jaeggi deutlich, dass es in allen Fällen einerseits auf einen beweglichen Umgang mit gesellschaftlichen Vorgaben ankommt, andererseits aber auch auf ein waches, nach innen gerichtetes Ohr der Selbstwahrnehmung. In der Handhabung gesellschaftlicher Rollenvorgaben wäre es aus ihrer Sicht zentral, einen »unverkennbaren« flexiblen Stil zu entwickeln. »Der Künstlichkeit der Rolle steht dann nicht irgendeine Instanz von ›Echtheit‹ entgegen, sondern eine Weise, diese als Spielraum zu nutzen und zu gestalten.« 34 Man müsse deshalb, wie sie sagt, immer noch merken, dass da jemand ist, der eine Rolle ›bewusst‹ spielt oder besser noch, dem es sogar gelingt, mit der Rolle zu spielen bzw. das unsichtbare, nie eindeutig definierte Skript der Rolle individuell zu modifizieren und umzuschreiben.
34
Ebd., S. 118.
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Plessners Anregungen für ein Ethos Philosophischer Praxis
So kann ich beispielsweise übermäßig engagiert darin sein, den Aufgaben einer Lehrerin oder einer Mutter Genüge zu tun. Ich beziehe mich dabei auf bestimmte Konventionen, die ich fraglos übernehme und folgsam umsetze. Beflissen und pflichtbewusst tue ich dann eigentlich so, als gäbe es irgendwo an einem unbekannten Ort ein punktgenau festgelegtes Rollendrehbuch, von dem ich um keinen Preis abweichen darf. Durch solchen Übereifer wird allerdings die Tatsache überdeckt, dass Rollen immer der Interpretation bedürfen und ohnehin historischen Veränderungsprozessen unterworfen sind. Genau gesagt sind wir nicht nur wandelbare und facettenreiche Interpretinnen tradierter Rollenmuster, sondern zugleich Koautorinnen des Stückes, in dem wir mitspielen. Zeige ich keine Distanz zu einer Rolle – etwa als geschäftstüchtige Verkäuferin, die mechanisch und in künstlicher Tonlage alle gängigen angelernten Floskeln eines Verkaufsgespräches abspult –, so habe ich meinen Standort außerhalb des Geschehens weitgehend aufgegeben. Paradoxerweise führt das dazu, dass ich ebenso wenig wirklich bei der Sache bin. Indem ich lieber Phrasen dresche, als den Vorgang eigenverantwortlich zu gestalten, verschwinde ich gewissermaßen in der Rolle. Auf andere wirke ich deshalb vermutlich unecht und am Ende wenig überzeugend. Das bedeutet: Auch wenn es keine fertige Identität geben kann, die hinter den Kulissen die Fäden zieht, muss doch bei jeder meiner Spielfiguren spürbar werden, dass da jemand spielt und überlegt gestaltet.
d) Politisch-ethische Verantwortlichkeit Jede Situation fordert uns neuartig heraus. Ständig müssen wir Perspektiven koordinieren und allein oder im Gespräch unser Handeln austarieren bzw. Entscheidungen treffen. Die Ergebnisse erfahrungsgeleiteten Nachdenkens lassen sich, so sinnvoll sie auch erscheinen mögen, nicht einfach schema103 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
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tisch auf neue Wirklichkeiten übertragen. In der Sphäre des Praktisch-Politischen geht es – wie auch Hannah Arendt betont – »immer um Einzelnes, und ›allgemeine‹ Aussagen, die überall gleichermaßen anwendbar wären, würden alsbald zu leeren Allgemeinheiten werden: Das Handeln hat mit Einzelnem zu tun, und nur partikulare Aussagen können auf dem Gebiet der Ethik oder Politik gültig sein.« 35 Beziehe ich mich aktiv auf eine gemeinsame Welt, so kann mir zudem nicht verborgen bleiben, wie begrenzt meine Möglichkeiten sind. Weder ich noch sonst jemand kann erwarten, im Gefüge des sozialen Miteinanders mit seinen Impulsen und Vorhaben umfassend Anklang zu finden. So ist es eigentlich niemals möglich, in der sozialen Aktion restlos aufzugehen. Meistens erwarten uns zähe Verhandlungen, faule Kompromisse und lange Gesichter. Immer bleibt dieses Existieren »im Medium des flüchtigen Ungefährs« 36 , wie Plessner es nennt, denn »hinter jeder Bestimmtheit unseres Seins schlummern die unsagbaren Möglichkeiten des Andersseins«. 37 Stellen wir mit Plessner, Jaeggi und nicht zuletzt auch Arendt heraus, wie maßgeblich relevant die politisch-soziale Sphäre für jeden Einzelnen ist, so rückt unsere ethische Verantwortlichkeit in den Fokus. Insofern sich mein Selbstverständnis erst über kulturelle Sozialität konfiguriert, bin ich an meine Zeit gebunden und trotzdem gleichermaßen auch frei, neue Perspektiven einzubringen und zu entfalten. Mit dieser Auffassung richtete sich Plessner wie gesagt dezidiert gegen die in den Zwanziger- und Dreißigerjahren »bei den philosophisch Gebildeten« höchst erfolgreiche Daseinsphilosophie Martin Heideggers, »die das Dasein (Mensch) in die Alternative eines je zu sich und seiner persönlichen Möglichkeit Hinfindens und eines Verfallens an das Man einer de-
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Arendt, 2002, S. 196. Plessner, 2002, S. 117. Ebd., S. 63.
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pravierten Öffentlichkeit spannt«. 38 Will man der »Krankheit der Parteipatronage« entgehen, die »unser geistiges Leben von unten her anfällt und zu ersticken droht« 39 , so könne dies nur gelingen, wenn man zum einen dieses EntwederOder hinter sich lässt und zum anderen ein möglichst interessefreies Denken in die Politik einbringt. Nur so können nach Plessner jene eurozentristischen oder völkischen Verengungen politischen Denkens, welche ein klar definiertes Menschenbild zugrunde legen, überwunden werden. Derartigen Ansätzen stellt Plessner seine Idee der Unergründlichkeit des Menschen gegenüber, die den Menschen als eine weltgestaltende Offenheit bestimmt, welche im radikalen Sinne geschichtlich ist und eine Vielzahl kultureller Ausprägungen hervorbringt. Jede ethische Verankerung in der Welt muss sich die Relativität des eigenen Standpunktes vor Augen führen und dabei »die Gefahr der Uniformierung des Fremden nach eigenem Wesensschnitt vermeiden« 40 . Ist die Vormachtstellung westlichen Denkens auch unbegründet, so hält Plessner in Anlehnung an Dilthey dennoch an zwei – vornehmlich in dieser Tradition ausdifferenzierten – zukunftsweisenden Idealen fest: zum einen an einer Logik unaufhaltsamen erfahrungsgeleiteten Voranschreitens (Struktur der Selbsttranszendierung), zum anderen an einem freiheitlichen Postulat der Anerkennung von Andersartigkeit in Gleichstellung.
Plessner, 2003a, S. 234 – Zu Plessners Sicht auf Heidegger, siehe auch das Vorwort zur zweiten Auflage der Stufen: Plessner, 1981, S. 16 ff. – zu Plessner und Heidegger, siehe auch: Dietze, 2006, S. 73 ff. u. S. 187 ff. 39 Plessner, 2003a, S. 234. 40 Ebd., S. 159. 38
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e) Ethos der Grazie Das »flüchtige Ungefähr« im gesellschaftlichen Leben von Grund auf ernst zu nehmen, hat Konsequenzen. Stellt man sich nämlich der Tatsache einer letztlich undurchdringlichen Intransparenz nahezu aller zwischenmenschlichen Prozesse, so ist ein unnachgiebiger (politischer) Wahrheitsfanatismus kaum noch vorstellbar. In strittigen Lagen wird man einerseits weniger rigoros auf Eindeutigkeit drängen und sich so weit als möglich um nachvollziehbare Tatsachenklärungen bemühen; andererseits wird man im Umgang mit Konflikten und Uneinigkeiten mehr Langmut, Indirektheit und Taktgefühl walten lassen und viele argumentative Mühen auf sich nehmen. Indem auf diese Weise die Andersheit des Anderen Anerkennung findet, vermag sich im persönlichen Umgang allmählich eine Haltung zu etablieren, die Plessner als »Ethos der Grazie« 41 bezeichnet. Dies ist zu verstehen als ein umfassendes Konzept kommunikativer Verhaltensweisen, die, wie Michael Kodalle formuliert, »mit dem Impuls jener Nachsichtigkeit imprägniert« sind, »die auf Schonung des Anderen Acht hat (…)«. 42 Gemeint sind Formen der Höflichkeit, vor allem aber Takt und Gespür, die eine milde Note in den zwischenmenschlichen Verkehr einbringen – eine Tonalität, deren hoher Wert aktuell allerdings, wie unschwer festzustellen ist, immer weniger Beachtung und Anerkennung erfährt. Man könnte beinahe behaupten: Wir pendeln gegenwärtig gewissermaßen hin und her zwischen ›cooler‹ Nichtbeachtung, wenn nicht gar kruder Missachtung auf der einen Seite und einem übersteigerten, nahezu investigativen Intimitätsverlangen auf der anderen. In persönlichen Dingen glauben Plessner, 2002, S. 80 – Wie insbesondere Haucke herausstellt, entwickelt Plessner sein Ethos in Anlehnung an Friedrich Schiller. – Haucke, 2003, S. 105 f. – Zum »Ethos der Grazie und Leichtigkeit« bei Plessner, siehe auch: Kodalle, 2013, S. 141–146. 42 Kodalle, 2013, S. 141 f. 41
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wir, alles bis ins letzte Detail hinein ausloten und aushandeln zu dürfen, ja zu müssen. Geraten wir in Konflikte oder nehmen Anstoß an anderen, so wähnen wir uns selbstverständlich berechtigt dazu, Verhalten und Charakter unserer Mitmenschen kritisch sezieren und Fehler entlarven zu dürfen. In unseren Liebesbeziehungen streben wir nach der perfekten Feinabstimmung zweier Individualitäten und durchlaufen – diesen hochfliegenden Anspruch unbeirrt vor Augen – eine scheinbar unendliche Reihe von Enttäuschungen und Bruchlandungen, welche uns stets unsanft auf den Boden der Realität zurückholen und daran erinnern, dass der Andere tatsächlich ein Anderer ist, der sich unseren Wunschträumen und Erwartungen unaufhörlich entzieht. Wie oft vernimmt man die fassungslose Feststellung, erst in der Trennung oder vor dem Scheidungsrichter erkannt zu haben, wer der Andere ›eigentlich‹ ist, nämlich eine unpassende und zudem noch gänzlich unwürdige Person. Dieses geläufige Phänomen kommentiert der Sozialwissenschaftler Karl Otto Hondrich mit folgenden Worten: »Die Desillusionierung ist vollkommen – und zugleich: eine vollkommen neue Art der Illusion. Denn das Bild des Bösen, das sich vom jeweils anderen im Prozeß der Scheidung abzeichnet, ist nicht wahrer und wirklicher als das Bild der Güte, das ihn in der Phase des Verliebtseins so anziehend gemacht hat. Oder andersherum: beides sind wahre Bilder ein und desselben Ich. Nicht so sehr die Individuen wandeln sich, sondern ihre Beziehung verwandelt sich, (…). Daß der Partner gut ›wird‹ oder böse ›wird‹, ist ein komplexes Gemeinschaftswerk von beiden.« 43
Ich möchte bei aller Zustimmung offenlassen, ob diese Feststellung in jedem Fall den Tatsachen einer Trennung gerecht wird. Stattdessen möchte ich das Augenmerk auf einen anderen, darin anklingenden Aspekt richten: Das allzu hochgesteckte Verlangen nach individueller Passgerechtheit provoziert eine innere Einstellung zum Liebespartner, oft auch 43
Hondrich, 2004, S. 21.
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zu Freunden, in die gleichsam das Verfallsdatum schon einprogrammiert ist. Zweisamkeit ganz nach eigenem Gusto scheint einen enormen Freiheitsgewinn zu verheißen, ja oft eine wundersame Erlösung von allen Zwängen der Vergangenheit, nicht zuletzt der Herkunftsfamilie. Dabei wird leicht übersehen, wie viel Dialog- und Abstimmungsbereitschaft notwendig sind, wenn sich zwei hoch individualisierte Persönlichkeiten im Beziehungsalltag aufeinander einstellen und miteinander koordinieren müssen. Bekanntermaßen stoßen nicht wenige hier sehr schnell an ihre Grenzen, versinken in zähen Querelen, verhandeln endlos, driften schließlich auseinander und verbuchen Uneinigkeiten wechselseitig als Charakterdefizit des jeweils anderen. Ohne diesen Punkt ausgiebig vertiefen zu wollen, möchte ich doch auf ein probates Gegenmittel hinweisen: Das Gemeinsame kommt stets auf leisen Sohlen. Wort um Wort, Geste um Geste bauen zwei Menschen ihre Paargemeinschaft auf. Hier entstehen Gewohnheiten und Erwartungshaltungen, durch die eine Beziehung sowohl geschwächt und ausgehöhlt, aber eben auch gestärkt und belebt werden kann. Um eine Balance zwischen den individualisierenden Bedürfnislagen auf der einen und den kollektivierenden Notwendigkeiten auf der anderen Seite herzustellen, sind auch in der Liebe gewisse Ausgleichsgewichte unabkömmlich: Taktvolle Zurückhaltung, Gespür für den richtigen Moment, kommunikative Leichtigkeit und Humor sind in ihrer verbindenden Kraft kaum zu überschätzen. Oftmals reichen sie weiter als das aussichtslose Streben nach Konsensbildung unter Beibehaltung hochgradig individualisierter Lebensträume. Hans Blumenberg schreibt: »Menschen sind nicht so, daß es ihrem Verhältnis zueinander guttut, sich genau zu kennen. Daher liebt es sich so gut im Abstrakten.« 44 Wollen wir indes die Liebe nicht ad acta legen und auch den sozialen Verkehr mit Freunden und Bekannten aufrechterhalten, so sollten wir 44
Blumenberg, 1997, S. 143 f.
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uns darin üben, manche (vermeintliche) Fehler anderer generös zu übersehen, zu übergehen oder sie wenigstens doch nicht um jeden Preis geradeheraus anzuprangern. Verschwiegenheit mag im einen Fall angeraten sein, Einfühlsamkeit und Fingerspitzengefühl im anderen, nicht minder indes Humor und das sanfte Aussparen von Verurteilung. Plessner fragt: »Gibt es nicht so etwas wie ein wohltätiges Dunkel, in dem wir für andere wie für uns selbst bleiben müssen?« 45 Deshalb erblickt er im taktvollen Umgang den Schlüssel sozialen Gelingens, denn hier zeige sich das Vermögen, unwägbare Verschiedenheiten wahr- und anzunehmen, das Unübersetzbare und letztlich Unergründliche gelten zu lassen sowie schonungslos ausforschendes Eindringen in die Gefühle anderer zu vermeiden. »Takt ist die Bereitschaft, auf diese feinsten Vibrationen der Umwelt anzusprechen, die willige Geöffnetheit, andere zu sehen und sich selber dabei aus dem Blickfeld auszuschalten, andere nach ihrem Maßstab und nicht dem eigenen zu messen. Takt ist der ewig wache Respekt vor der anderen Seele und damit die erste und letzte Tugend des menschlichen Herzens.« 46
Wichtigstes Symptom des Taktes ist eine Zartheit, die das allzu Ausdrückliche vermeidet und sich so leicht keine verletzenden affektiven Eruptionen erlaubt. So schafft ein schonungsvoller Umgang nach Plessner eine Atmosphäre der Verbundenheit, weil hier Fremd- und Selbstachtung aufeinander abgestimmt werden. »Unwahrheit, die schont, ist immer noch besser als Wahrheit, die verletzt, Verbindlichkeit, die nicht bindet, aber das Beste.« 47 Dies mag manchen ethisch nicht unproblematisch erscheinen. Viele werden geneigt sein, hier Unehrlichkeit und Kriecherei zu beanstanden. Doch Takt ist weder Lüge noch
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Plessner, 2003b, S. 129. Plessner, 2002, S. 107. Ebd.
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Schmeichelei, sondern – in Anbetracht der Unergründlichkeit – Respekt vor der Eigenart anderer Menschen, über die man sich kein übereiltes Urteil erlauben sollte. Ist man zu einer angemessenen und fairen Einschätzung gelangt und will diese zur Sprache bringen, werden erst recht Takt und Gespür benötigt, um sich behutsam heranzutasten und zu erspüren, wo und wie sich ohne Aufdringlichkeit oder Hochmut etwas sagen lässt. Wer stattdessen mit schwerem Geschütz auf die Fehler anderer losgeht, übersieht schnell eine Reihe von Dingen: die – vor allem aus der Außenperspektive gegebene – Unüberschaubarkeit individueller Motivationslagen, unwägbare Verletzlichkeiten der menschlichen Seele, unzählige blinde Flecken, vor allem aber die limitierte (moralische) Verlässlichkeit der meisten, auch der eigenen Person. Nicht minder verkennt er die von einigen Denkern herausgestellte heilsame Wirkung rücksichtsvoller Umgangsformen, sowohl im Blick auf Einzelbeziehungen als auch auf das Ganze der menschlichen Gesellschaft. Hier ist es schlichtweg nur auszuhalten, wenn Höflichkeit, Takt und Rücksichtnahme den herben Aufeinanderprall hoch individualisierter ›Ichlinge‹ mäßigen. Andernfalls lässt sich, wie oft zu beobachten ist, Eiseskälte zwischen ihnen nieder. Kaum nötig festzustellen, dass angesichts einer derzeit erschreckenden Verrohung der Umgangsweisen im öffentlichen Raum hier dringender Handlungsbedarf besteht. Ehrlichkeitsfanatismus und geschäftsmäßig-cooles Desinteresse scheinen vordergründig einander entgegengesetzt zu sein, doch sie ähneln sich darin, dass sie soziale Räume ungemütlich werden lassen. Verstärkt wird dieser Temperaturabfall heute durch anonyme Beleidigungen, Anfeindungen und Mobbing in den neuen Medien, welche gleichermaßen Mitverursacher wie Symptomträger eines unablässigen sozialen Niedergangs sind. So verstetigt der Rückzug ins abgedunkelte Computerverlies das traurige Phänomen sozialer Isolation und steigert es zuletzt zu maßloser Einsamkeit. Plessners Worte – vor der digitalen Revolution verfasst – zei110 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Philosophische Praxis – Selbstwerdung jenseits von Ehrlichkeitsfanatismus
gen uns in berührender Weise das wahre Unglück abgekapselter Außenseiter: »Besser allerdings als mit taktlosen Leuten zu verkehren ist dann die Einsamkeit, obwohl sie vom Menschen viel verlangt. Langes Schweigen macht die Stimme rauh, die Zunge schwer. Wer aus Verzweiflung an seiner Umwelt immer mehr sich in sich selbst zurückzieht, verstärkt die Hemmungen, mit denen er sich nach außen verbarrikadiert. Aber das Psychische kennt nicht Außen und Innen, und so errichtet der Einsame Barrikaden gegen sich selbst. Verhärtung, Verknöcherung, allerhand Seltsamkeiten prägen den Einsiedler, den Hagestolz, der, gegen die Welt zugeschlossen, schließlich nicht mehr den Weg zu sich selber findet.« 48
Die Möglichkeiten, sich selbst zu verlieren, sind exponentiell gewachsen. Verstörend ist der Verlust von Höflichkeit, die – so Schopenhauer – ein hilfreiches Luftkissen bildet, das zwar inhaltslos ist, aber dennoch die Stöße des Lebens mildert. 49 Nimmt man den Rückgang von Räumen unmittelbarer Begegnung hinzu sowie eine fehlgeleitete Ideologie individueller Freizügigkeit, die das Kränkungsrisiko in die Höhe schnellen lässt, so erkennt man eine Gemengelage, die uns auf eine dringend anstehende Bildungsreform hinweisen muss.
2. Philosophische Praxis – Selbstwerdung jenseits von Ehrlichkeitsfanatismus und desinteressierter Professionalität a) Akute Problemlagen Viele Gäste der Philosophischen Praxis tragen die Spuren und Blessuren einer ungastlichen, ihnen dauerhaft zusetzenden Lebenswirklichkeit. Umso mehr kommt es gerade hier darauf 48 49
Ebd., S. 108 f. Siehe: Schopenhauer, 1976, S. 191.
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an, nach Maßgabe des Taktes auch Wege des Indirekten und Umweghaften zu beschreiten. Wir müssen uns darin üben innezuhalten, nachzudenken, hinzuspüren – den Eigenwert des Anderen auch in Unverständnis, Uneinigkeit und spontaner Ablehnung bestehen zu lassen. Vor allem müssten wir die destruktiven, lebensfeindlichen Effekte des unablässigen Zeitdrucks begreifen, uns diesem widersetzen und der Entschlossenheit des Handelns ein neues kontemplatives Fundament geben. Um der unglückseligen Fusion von Zeit und Geld zu entgehen, müssten wir lernen, gegenwärtig zu sein sowie uns selbst wieder als zeitlich-vergängliche Wesen zu sehen, deren Dasein dem Bann der Kontingenz niemals entrinnen kann. Plessners »Ethos der Grazie« bedeutet demnach für Philosophische PraktikerInnen, sich von Definitionen des Einzigwahren zu verabschieden bzw. einzuräumen, dass es letztlich kein beobachterunabhängiges Wissen über die Welt geben kann. Wer um die immer mögliche Begrenztheit eigener Wahrnehmungen und Urteile weiß, lässt davon ab, anderen seine Wahrheitsideen aufzwingen zu wollen bzw. sich im Dissens reflexartig abzuwenden oder gar zu verfeinden. Zu einer solchen Haltung gehört die Anerkennung oftmals langwieriger und mühseliger Prozeduren zur Tatsachenklärung sowie Respekt vor den Ergebnissen einer wissenschaftlichen Welterschließung, die das Diskursfeld stets für ein weiteres Voranschreiten mittels genau regulierter intersubjektiver Überprüfungen offenhält. Heute ist demgegenüber angesagt, mit durchtrainierter Weltläufigkeit geschmeidig durch die Wirklichkeit zu surfen. Dies verspricht enorme Beschleunigung des Lebenstempos, derweil die jeweils voneinander abweichenden Einzelheiten der Ereignisse unerheblich werden. Wer Zeit zu Geld machen will, darf nicht grüblerisch und skrupulös in tausend Richtungen sinnieren. Vielmehr muss er, um gezielt und schnell Entscheidungen treffen zu können, auf erprobte Abläufe und Lösungsroutinen zurückgreifen. Daraus erwachsende Ge112 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Philosophische Praxis – Selbstwerdung jenseits von Ehrlichkeitsfanatismus
schäftsbeziehungen sind üblicherweise durch Distanziertheit, genau definierte Sprachspiele und kontrollierte Gebärden gekennzeichnet. Hier regiert nicht das Feingefühl des Taktes, sondern eine zweckorientierte Verhaltensreduktion, die keine Tür zu menschlicher Nähe mehr offenhält. Fokussiert auf das ›Wesentliche‹, wird vieles konsequent ausgeblendet. Dies mündet auf Dauer in einen Habitus berechnender Selbstbezogenheit, gleichwohl man dann immer noch – die Fakten beschönigend – von ›Geschäftsfreunden‹ sprechen und miteinander dicktun mag. Demgegenüber verfolgt Plessners Plädoyer für eine Kultur des »Nichtzunahetretens, des Nichtzuoffenseins« 50 gänzlich andere Intentionen. Ihm geht es darum, intersubjektive Übergriffigkeit sowie auch die politischen Ideologien bestimmter »Gemeinschaftsapologeten« zurückzudrängen, die mit moralischem Druck Wesenskonformität, rückhaltlose Anpassung und Eindeutigkeit herbeizwingen wollen. Jede Überbetonung gleichförmiger Gesinnung verkennt das »Schicksal der Individualisierung«, welches mit geistiger Verfeinerung und Ausdifferenzierung des Menschlichen verbunden ist. 51 Zwischenmenschliches Gelingen benötigt einen tänzerischen Geist, der in der Anerkennung von Nichtidentität das Geheimnis der fremden Seele respektiert und Zurückhaltung wahrt. »Unter nichts leidet die Seele so, wie unter dem Unverstandensein, ihrem doch wesensmäßigen, von ihrer eigenen Natur selbst herausgeforderten Schicksal.« 52 Entscheidend ist hier die folgende zentrale Einsicht: Mag ein Urteil auch punktuell zutreffend sein, so liegt darin dennoch die Gefahr einer Festschreibung, durch die die eigentliche schöpferische Kraft des Seelenwesens Mensch in der Vielzahl seiner Möglichkeiten verkannt wird. »Ob Lob oder Tadel – im tiefsten muß sich die unendliche Seele aufbäumen 50 51 52
Plessner, 2003a, S. 106. Siehe: Ebd., S. 60 f. Plessner, 2002, S. 64.
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gegen das verendlichende Bild im Bewußtsein eines Urteils.« 53 Ohne Beschönigung thematisiert Plessner die Schwierigkeiten wechselseitigen Verstehens und verweist erneut auf die letztliche Unmöglichkeit der Selbsttransparenz. All diese Schwierigkeiten und Unwägbarkeiten bergen ein hohes Risiko für Verstimmung und Verletzung im menschlichen Miteinander. Genau deshalb bedarf es zur Wahrung der menschlichen Würde aus Plessners Sicht einer nachsichtigen und verzeihenden Haltung. Doch das Ethos der Nachsicht und Milde ist überaus anspruchsvoll. Gerade weil es uns moralische Zurückhaltung abverlangt, setzt es eine außerordentliche Charakterstärke voraus, welche darin liegt, die konstitutive Heimatlosigkeit des menschlichen Seins bei sich selbst auszuhalten und die darin liegenden Ambivalenzen und Paradoxien mit Fingerspitzengefühl auszutragen. Weder darf das Erleben von Unbestimmtheit in Bindungslosigkeit und soziale Entgrenzung überführt werden, noch dürfen menschliche Schwächen und Limitierungen als Rechtfertigungen für Beliebigkeit, Willkür oder Gesinnungsterror missbraucht werden. Eine recht verstandene Freiheitsorientierung inspiriert trotz aller Unsicherheit dazu, sich unermüdlich in die Welt einzubringen, um neue, kooperative Bewegungsspielräume zu erschließen. Im Ringen um diese Art von Freiheit kann unser Umfeld unterstützend oder behindernd wirken. Vor allem subtile manipulative Einflüsse sind freiheitsgefährdend und verlangen dem Einzelnen eine besondere Wachheit und sorgfältiges Nachdenken ab. Dies lässt sich manchmal nur durch zeitweiligen Rückzug aus der Welt und Abwendung von anderen bewerkstelligen. Andere Menschen können aber auch eine überaus hilfreiche Korrekturinstanz darstellen. Sich »in einem inneren Schützengraben« (Bieri) gegen ihre Einwendungen zu verbarrikadieren, behindert darin,
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Ebd.
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über einen Prozess der Verbundenheit und Abgrenzung die Spreu vom Weizen zu trennen. An dieser Stelle öffnet sich das wichtige Aufgabenfeld philosophischer Praxis, auf das ich in den folgenden Kapiteln noch ausführlich eingehen möchte. Praxisgespräche sollten – inspiriert durch Plessner – in einem Klima der Schonung und Milde durchgeführt werden, zugleich aber im Vertrauen auf Nachsicht und Entlastung zu einer offenen und ehrlichen Preisgabe persönlicher Anliegen ermutigen, denn nur so können Entfremdungsgefühle durchbrochen, massive Selbsttäuschungen verhindert und persönliche Weiterentwicklung ermöglicht werden. Trotz aller Umsicht und Aufmerksamkeit erweist sich die Freiheit unseres Willens als flüchtiges Gut, welches immer wieder aufs Neue gewonnen werden muss. Autonomie kann man nicht besitzen, sondern immer nur praktizieren. Gewiss können wir uns darin üben, uns immer besser kennen zu lernen, und auf diese Weise auch häufiger das Gefühl entwickeln, dass wir es schaffen, Einfluss auf uns wichtige Dinge zu nehmen, und so den Radius unserer Wirksamkeit vergrößern. Letztlich aber müssen wir uns damit abfinden, dass das Selbstsein eine unergründliche, anfällige und permanent gefährdete Größe ist. Wie bezüglich der Selbstentfremdungsproblematik gezeigt wurde, bietet der Dschungel moderner Lebensverhältnisse viel Gelegenheit dazu, im unabschließbaren Schlingerkurs zwischen Weltverwicklung und innerer Distanznahme aus der Bahn zu geraten. Jede Errungenschaft bleibt ein Provisorium, da es kein verallgemeinerbares Wissen von Dauer gibt, an das wir uns klammern könnten. Jaeggi vergleicht den Prozess der Selbstaneignung deshalb in Anlehnung an Otto Neurath mit einem »Umbau auf hoher See« 54 und ruft mit diesem Bild den Eindruck ruheloser Bewegung sowie der 54
Jaeggi, 2005, S. 148.
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Ausgesetztheit an Wind und Wetter wach. Keine sehr einladende Vorstellung, doch sie erweist sich als treffliche Analogie nicht nur für die schwierige Lage eines realen Emigranten in der Fremde, sondern in vergleichbarer Weise auch für die Herausforderungen, mit denen die komplexe, zersplitterte und undurchsichtige moderne Lebenswelt das Individuum konfrontiert. Die hier zu vollbringenden Assimilations- und Integrationsleistungen können zuweilen mit einer Restauration bei Windstärke 10 verglichen werden. Dabei ist es nicht übertrieben angesichts der aktuellen Fährnisse um das Auseinanderbrechen unseres Lebensschiffes zu fürchten. Wer das Schiff aber aus den Wellen nehmen will, um es am geschützten Ufer zu vertäuen, wird vermutlich erst recht in die Irre gehen – daran lassen Plessner und auch Jaeggi keinen Zweifel. Sicher ist nämlich, dass die Beanspruchung letzter Sicherheit im Umgang mit Bedrängnissen und komplizierten Lebensfragen in keiner Epoche zum Segen der Menschheit gereichte. Der Kampf um die Durchsetzung absoluter Wahrheiten, seien es auch wunderbare Visionen einer gerechten und friedvollen Welt, trübt den Blick für das Naheliegende, der allein uns auf die richtige Entscheidung im richtigen Augenblick hinzulenken vermag. Man kann deshalb auch auf sehr verbissene, blinde und unredliche, ja egozentrische Art die Welt verbessern wollen, dann nämlich, wenn das persönliche Engagement und die eigenen Visionen zum wichtigsten Angelpunkt der Dinge erhoben werden, »wenn die Lust am Beifall und der eigenen Wichtigkeit« 55 dominieren. Hier mangelt es vor allem an dem bei Plessner zentralen Bewusstsein für die Relativität des eigenen Standpunktes in Anerkennung anderer Sichtweisen.
Tugendhat, 2006, S. 84 – Ernst Tugendhat bietet eine genaue Analyse dessen, was die von Sokrates herrührende Tugend der »intellektuellen Redlichkeit« ausmacht. Siehe hierzu insbes. Kapitel 4, siehe auch den folgenden Abschnitt zur Selbsttäuschung.
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Seit Plessners Zeiten hat sich der Druck der sozialen Rolle allerdings auf eigentümliche Weise verändert und verschärft. Mittlerweile werden die maßgeblichen Leitbilder der Selbstverwirklichung – wie dargelegt – nicht mehr durch normative Vorschriften oder durch autoritäre Anweisungen von Vorgesetzten gebildet. Es wurde darüber gesprochen, dass die Modellierung der Persönlichkeit heute unter dem Label freiheitlicher Selbstbestimmung erfolgt. Nichtsdestoweniger kommt gerade in der Berufswelt gegenwärtig eine breite Palette von Trainings zum Einsatz, die dem Zweck der Persönlichkeitsformung dienen sollen. Wer im Job erfolgreich und ein gefragter Teamworker sein will, kommt nicht umhin, sein professionelles Profil über entsprechende Schulungen in Kommunikation und Konfliktmanagement zu formen. Hier ist alles darauf angelegt, versierte Selbsttechniken einzuüben und zu verinnerlichen, so dass sie zum eingespielten Repertoire des Betreffenden werden. Man schlüpft nicht mehr vorübergehend in eine Rolle, sondern unterzieht gewissermaßen das eigene Selbst der umfassenden Neukonstruktion nach externen Schnittvorlagen. Dabei geht es nicht primär darum, vorhandene Anlagen und Eigenschaften auszubauen oder zu korrigieren, sondern vielmehr darum, eine Art virtuelle Persönlichkeit herzustellen und sich damit zu identifizieren. Im Unterschied zum traditionellen Bild der Rolle, die man einnimmt und wieder ablegt, ist hier der ganze Mensch gefragt, da im Zeichen der Emotionalisierung der Geschäftswelt nunmehr nicht allein das Verhalten, sondern das gesamte Gefühlsleben umcodiert wird. Ziel ist es, negative oder ablehnende Empfindungen auszuschalten und sich durchgehend ohne Abstriche als vertrauenswürdig, kooperationsbereit und entgegenkommend zu inszenieren. Wenn Jaeggi auf die Gefahr hinweist, dass eine Person in ihrer Rolle zu verschwinden droht, so ist diese Gefahr mittlerweile zu einem Flächenbrand geworden. Zudem ist hier zu bedenken, dass derart tief internalisierte Verhaltensmuster die Person auch jenseits ihrer Berufstätigkeit bestimmen 117 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
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und permanent steuern. Entscheidend ist, dass hier Selbstkonstruktionen entstehen, die das Innerste der Person umfassend usurpieren, wobei für unpassende, negative Regungen, aber auch für tiefgehende Ergriffenheit kein Raum mehr gewährt wird. Verlernt wird überdies die Fähigkeit, eigene Gefühlslagen genauer wahrzunehmen, gegeneinander abzuwägen und auf dieser Basis selbsttätig das eigene Handeln auszurichten. Auch wenn dies alles zumeist unter dem Label freiheitlicher Selbstbestimmung angepriesen wird, bleibt das subjektive Freiheitsvermögen oftmals auf der Strecke. Verlernt wird zudem, ohne Input von außen lebendig, eigeninitiativ und konfliktbereit an der Welt teilzuhaben. In wachsendem Ausmaß ist dieser neue Persönlichkeitstypus im Übrigen darauf angewiesen, seine Emotionen über produzierte und inszenierte Gefühlserlebnisse zu stimulieren.
b) Das Selbst ist unergründlich Auch in der Philosophischen Praxis begegnen wir vielen Menschen, denen es darum geht, in ihrem Leben das eigene Selbst möglichst umfassend auszuloten, um zu intensivierten Empfindungen von Echtheit und Glück zu gelangen. Meistens stoßen sie dabei auf enorme Schwierigkeiten, welche nicht selten in den Praxisgesprächen thematisiert werden. Erwägen wir das Thema möglicher Selbsterkenntnis einmal probeweise jenseits der gängigen Gemeinplätze mit unseren Gästen, erlauben wir uns die Vorgehensweise skeptischen Nachfragens, so geraten wir rasant schnell in irritierende Verwicklungen und Sackgassen – ein Tatbestand, auf den Plessners Begriff der Unergründlichkeit letztlich abzielt. So mögen wir am Geländer einer geteilten Sprache step by step in die Tiefen höchstpersönlicher Bewusstseinsströme einer Person eintauchen, doch im Zuge dessen drängt sich alsbald die verstörende Erkenntnis auf: Jegliche Übereinstimmung mit den Denkwegen und Empfindungsweisen anderer Men118 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
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schen entzieht sich abschließender Verifikation. Wie oben dargelegt, ist auch eine gemeinsame Sprache, d. h. die Verwendung identischer Worte, noch längst kein Garant für übereinstimmende Erlebensweisen. Dieser Ungewissheit des Geteilten korrespondiert eine letztendliche Unerkennbarkeit des Individuellen: »Individuum est ineffabile« – das Individuum ist nicht zu fassen. Sofern das erkennende Selbstbewusstsein sich zu Bewusstsein kommt, indem es sich als etwas Bestimmtes versteht, braucht es ein erkennendes IchBewusstsein, also etwas, das in ihm denkt, von dem es aber im selben Moment keinerlei klar differenzierte Kenntnis gewinnen kann. Stets ist ein nach sich selbst fragendes Ich vorauszusetzen, welches sich zum einen im Gebrauch der Sprache verliert, zum anderen aber das Nach-sich-selbst-Fragen in seinen Antrieben und Impulsen niemals restlos vergegenständlichen kann. Jedem weiteren Versuch einer sorgfältigen Objektivierung des Fragegeschehens entgleitet erneut der eigene reflexive Standort, hinab in ein opakes Unterwasserreich. In dem Unterfangen, uns erkennend von uns selbst abzustoßen, wird unsere unhintergehbare Positionierheit augenfällig – eine Weltverwobenheit von Leib, Seele und Denken, die wir auch in der Reflexion nicht aufheben können. Dies sind verstörende, zugleich aber in vielerlei Hinsicht auch beflügelnde Gedanken, die wir im philosophischen Dialog aufspüren und ausloten können. Wenn es so ist, dass die aktive Freiheit einer nach sich selbst fragenden Subjektivität sich jeder endgültigen Bestimmung entzieht, dann ist ein jeder Mensch prinzipiell immer mehr, als im Zuge der Vergegenständlichung von ihm fassbar wird. Er ist gewissermaßen immer schon über sich hinaus. Denn sobald sich ein psychischer Zustand annähernd erhellen lässt, ist davon auszugehen, dass die abstandnehmende Erkundung ihn wiederum bereits verändert hat. Jede Erinnerung modifiziert das Erinnerte und nimmt Einfluss auf vergleichbare zukünftige Erlebnisse. Was wir auch aufgreifen und dingfest zu machen glauben, werden wir kein zweites 119 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
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Mal wieder genauso erfahren. Sofern wir mit den Worten Heike Kämpfs auf eine »nicht reflexiv einholbare Positionierung des Subjekts« 56 im Denken Plessners verweisen müssen, wird mittlerweile evident, dass dieser anthropologische Ansatz durch viele Ergebnisse der neurologischen Forschung gestützt wird. 57
3. Konsequenzen für ein praktisches Ethos Legt man Plessners Gedankenwelt in ihrer Vielschichtigkeit zugrunde, so ergeben sich daraus, wie weiter oben umrissen, zahlreiche Konsequenzen, die nicht zuletzt für die Frage der Ethik innerhalb der Philosophischen Praxis wichtige Aufschlüsse erteilen, und zwar sowohl hinsichtlich der Leitidee einer ethischen Grundverfasstheit des Menschen als auch ganz konkret im Blick auf das Praxisgeschehen selbst. Hierzu nun einige gedankliche Vertiefungen. Ich erinnere nochmals an einige zentrale Problempunkte der modernen Subjektkultur: Heute angesagte übersteigerte Erwartungen an eine erfolgsorientierte und zugleich freiheitlich-kreative Subjektentfaltung müssen quasi zwangsläufig mit der Realität konfligieren und ziehen demzufolge Enttäuschung und Verunsicherung, vielfach auch Angst und Wut oder depressive Verstimmungen nach sich. Parallel dazu ist nicht von der Hand zu weisen, dass häufig nicht einmal der therapeutische Umgang mit derartigen Negativeffekten zu einer grundlegenden Infragestellung gängiger Selbstverwirklichungsideale anregt. Nicht selten werden Methoden und Verfahren zur psychotechnischen Beherrschung nahezu aller existenziellen Bedrängnisse und seelischen Problemlagen verabreicht. Die wiederkehrend leidvolle positionale Verwobenheit mit dem Umfeld – das Erleben von Passivität, 56 57
Kämpf, 2001, S. 60. Siehe z. B.: Korte, 2017.
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Abhängigkeit und Hilflosigkeit –, all dies gerät in den Sog einer Machbarkeitsideologie. Wer trotz Coaching und Psychotraining mit der Welt oder sich selbst hadert, ist deshalb schnell bereit, sich hierfür selbst verantwortlich zu machen. Scheitern oder anhaltendes Schwächeln gehen auf das Konto persönlichen Unvermögens, so dass akutes Unglück oft noch zusätzlich durch Gefühle der Unzulänglichkeit belastet und gesteigert wird. Gemindert wird im Zuge dessen indes die Fähigkeit, schicksalhafte Fügungen sowie die Bedingtheit und Begrenztheit des Lebens auszuhalten, mit Ambivalenzen umzugehen, Frustrationen hinzunehmen und durchzustehen. Diese heute weit verbreiteten affektiven Dynamiken gilt es innerhalb der Philosophischen Praxis im Blick zu behalten, um adäquat reagieren zu können. Gewiss bieten sich auch der philosophischen Betrachterin eine ganze Bandbreite von zielgerichteten Arbeitsweisen an, die primär dem Gedanken der Gestaltbarkeit des Lebens folgen. Doch generell ist Zurückhaltung geboten. Ringen wir um zwischenmenschliche Verständigung, so bieten sich zwar ohne Zweifel zahllose kommunikative Werkzeuge an, die uns dazu verhelfen, uns anderen gegenüber gezielter mitzuteilen, ihnen aufmerksamer zuzuhören und gemeinsame Angelegenheiten methodisch auszuloten und kooperativ abzuwägen. Vor allem aber kommt es darauf an, in Anbetracht enormer Verständigungshürden niemals zu verzagen und guten Mutes zu bleiben. Sogar von dem emotionalen Eindruck, etwas genau verstanden zu haben, sollte man sich nicht allzu rasch mitreißen lassen. Es ist eine ethische Herausforderung, zuversichtlich zu bleiben angesichts der verwirrenden Unverständlichkeit anderer oder auch angesichts ihrer kühlen Unnahbarkeit oder ihres anhaltenden (Ver)Schweigens. Den Einsamkeitsgefühlen eines Gegenübers – ausgelöst durch das Erleben von Desinteresse oder Missachtung im persönlichen Umfeld – ist nicht leichthin etwas entgegenzusetzen. Wir müssen jene 121 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
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Untröstlichkeit zulassen und aushalten, die durch Trauer, Verlust und Scheitern verursacht wurde, und sollten uns vor übereilter Ermunterung hüten. Begleiten wir das Ringen um Selbsterkenntnis, so stoßen wir auf viele der bereits erwähnten, nachgerade unüberwindlich erscheinenden Verständigungshindernisse. Anhaltende dialogische Aufmerksamkeit angesichts der Unzugänglichkeit schwerwiegender, ja abgründiger Erlebnisse gleicht einer Wanderung auf schwankendem Gelände. Wer sich hier seiner selbst ganz sicher zu sein glaubt, muss – wenn er aufrichtig ist – schon bald blinde Flecken und Unwägbarkeiten einräumen. Um Selbstblendung und Selbsttäuschung zu vermeiden bzw. zu verringern, gilt es unaufhörlich wachsam gegen sich selbst zu sein. Wenngleich wir uns wechselseitig per se niemals vollständig transparent werden können, gibt es dennoch einige recht klare Kriterien, um Strategien selbstbetrügerischen Festhaltens an fraglichen Ichkonstruktionen auszumachen. Auf diesen Punkt werde ich am Ende meiner Ausführungen noch gesondert eingehen. Bereits an dieser Stelle sollte klar geworden sein, in wie hohem Maße das innere Ethos der Beziehung zu uns selbst und die Modalität unserer zwischenmenschlichen Bezüge voneinander abhängig sind. Um uns selbst besser zu verstehen, sind wir auf die Rückmeldungen der Anderen – auch auf die weniger angenehmen – angewiesen. Um anderen begegnen zu können, benötigen wir neben kommunikativen ›Werkzeugen‹ (und vielem mehr) vor allem ein aus Begrenztheitskompetenz erwachsenes Fingerspitzengefühl. Dies bedeutet auch, dass wir eine Umgangsweise mit den Schattenseiten und Limitierungen des Lebens finden müssen. Vor allem geht es darum zu lernen, dass wir vor den Schmerzen unserer Existenz davonlaufen, indem wir quasi reflexartig imaginäre Selbstschutzbilder züchten (wozu ich auch einen konsequenten Stoizismus rechnen würde) oder uns in maßlose Ablenkungen stürzen. Unumwunden gesagt: Um möglichst aufrichtig und gradlinig sowie menschlich und duldsam zu agieren, muss eine 122 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
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Philosophische Praktikerin bereit sein, Ratlosigkeit, Schwächen und Ungewissheit nicht abzuwehren. Vielmehr empfiehlt es sich, für eine gewisse Zeitspanne hierin zu verweilen. Erst die Akzeptanz von Schwäche – etwa in Form emotionaler Erschütterung und Konfusion – stiftet den Zugang zu uns selbst und eröffnet den Raum für mitfühlende und aufgeschlossene Gespräche. Erfahrungen von Ohnmacht und Unzulänglichkeit, die nicht abgewiesen werden, bilden schließlich auch die Voraussetzung dafür, eine ganz besonders wertvolle Tugend ausbilden zu können, den Humor nämlich. Diesen Zusammenhang zwischen Verletzlichkeit und Humor als Tugend möchte ich im dritten Teil meiner Ausführungen genauer erläutern. Dabei soll deutlich werden, in wie hohem Maße die hierfür charakteristischen Merkmale in Korrespondenz mit den anthropologischen Grundannahmen Plessners stehen. Plessner ist einer der wenigen Philosophen, die neben dem Lachen auch das Weinen ausgiebiger thematisiert haben. Dafür gibt es ohne Frage biografische Gründe. So beschrieb Plessner das anthropologische Phänomen des Weinens 1941 im niederländischen Exil, wohin er einige Jahre zuvor notgedrungen ausgewandert war. Carola Dietze, die den akademischen Lebensweg des Denkers differenziert nachzeichnet, weist darauf hin, wie schwierig und schmerzhaft die Eingewöhnungsprozesse in der Fremde für ihn verliefen. 58 Die Beschreibungen des Weinens sind also von eigener Erfahrung gesättigt. Dies wird spürbar, wenn wir z. B. lesen: »In Lagen des Abschieds und der Trennung wandelt sich das Gefühl vom Schmerz des Losreißens und der Vereinsamung zum Weh (Heimweh, wehmütiger Sehnsucht).« 59 Generell wird erkennbar, dass viele Texte Plessners von den Grundmotiven der Vereinsamung, Fremdheit und Wurzellosigkeit 58 59
Dietze, 2006, S. 185 f. Plessner, 2003c, S. 353.
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durchzogen sind, Stimmungen, die den hochindividualisierten, nach Vertrautheit verlangenden Menschen in Bedrängnis bringen. Im Verstummen des Geläufigen, im Undurchsichtigwerden von Welt rücken die Zufälligkeit des eigenen Daseins und damit seine konstitutive Heimatlosigkeit dem Menschen zu Leibe. Selbst eher unfähig zu klagen, agierte Plessner mit zurückhaltender Verschwiegenheit und behandelte auch die NS-Vergangenheit vieler Kollegen mit Diskretion, als er diesen nach dem Krieg an deutschen Universitäten wiederbegegnete. 60 Wider Willen fiel ihm offensichtlich gelegentlich die Rolle eines Beichtvaters zu. 61 Selbst hierin bewahrte er Selbstdisziplin trotz unzähliger Ungerechtigkeiten, die ihm persönlich widerfahren waren. Ganz anders reagierte er, als er in der Rolle des Rektors der Universität Göttingen einen aus Israel kommenden jüdischen Studenten empfing. In der Begegnung mit diesem jungen Mann brach er, wie berichtet wird, in Tränen aus. Angesichts des jugendlichen Reimigranten weinte er über das Schicksal des jüdischen Volkes. Es war, wie Dietze darlegt, in diesem Moment die einzige Antwort, die ihm möglich war. Ein solcher »Verlust der Beherrschung im Ganzen« – ausgelöst durch das Verschwinden jedweden Sinns –, für die das Weinen steht, thematisiert Plessners Schrift Lachen und Weinen. Hier heißt es: »Die Zur Persönlichkeit Plessners, siehe auch: Kämpf, 2001, S. 13 – Offensichtlich agierte Plessner selten konfrontativ. In Bezug auf Martin Heidegger und Arnold Gehlen äußerte er sich allerdings zumindest in Briefen recht offen und stellte deren Eignung in Frage, die »politischmoralische Bildung der Studenten« zu übernehmen. Ungewöhnlich scharf fällt die Beurteilung Gehlens aus. Dieser gehöre, wie Plessner an Löwith schreibt, »nicht zu den nach aussen hin sofort erkennbaren Vertretern einer heute lächerlich gewordenen nationalsozialistischen Theorie, sondern zu jenen strukturellen SS-Typen, die viel schwerer auf eine bestimmte Form festzulegen sind«. – Zit. nach: Dietze, 2006, S. 463 bzw. insgesamt S. 460 ff. – Zur Soziologie nach 1945, siehe auch: Rehberg, 1998. 61 Dietze, 2006, S. 429. 60
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effektive Unmöglichkeit, einen entsprechenden Ausdruck und eine passende Antwort zu finden, ist zugleich der einzig entsprechende Ausdruck, die einzig passende Antwort.« 62 Bevor das Phänomen des Weinens genauer – auch über Plessner hinaus – betrachtet werden kann, sei nochmals ein zentraler Grundgedanke Plessners mit der Grenzerfahrung des Weinens in Zusammenhang gebracht, weil dieser Gedanke hohe Relevanz für die Praxisarbeit hat. Wie wir gesehen haben, tritt Plessner schon früh in seiner intellektuellen Laufbahn – bereits im Jahr 1923 – mit Nachdruck dem »Glauben an die Möglichkeit unvermittelter Beziehungen von Mensch zu Mensch« entgegen. 63 Gegen gemeinschaftsradikale Utopien, von denen sowohl rechts- wie auch linksradikale Umsturzversuche während der Weimarer Republik inspiriert waren, verfolgte er mit seiner frühen Schrift Grenzen der Gemeinschaft das Ziel, primär den Raum der »›Öffentlichkeit‹ als Realisierungsmodus des Menschen« nachzuweisen. 64 Wie weiter oben dargelegt, misst er im Rahmen dieses Anliegens distanzierenden und künstlich-vermittelnden Interaktionsformen wie Takt, Gespür, Rollenverhalten, aber auch Diplomatie und Ritual einen hohen, unverzichtbaren Wert bei. 65 Seine Argumentation gegen alle Formen sozialen Radikalismus’ verfolgt indes nicht allein zeitkritische Intentionen. Vielmehr gelangt er schon früh – vor der Niederschrift seines anthropologischen Hauptwerks – zu wichtigen Aussagen über die besonderen Schwierigkeiten des Menschen im UmPlessner, 2003c, S. 274 – Siehe hierzu insbesondere: Krüger, 1999 bzw. 2001. 63 Plessner, 1985b, S. 323. 64 Plessner, 1981, S. 423, Fu 66 – Näheres hierzu: Exkurs 2. 65 Plessners Gedanke einer grundlegenden Verwiesenheit des Menschen auf Selbstdarstellung im öffentlichen Raum stößt eine Reflexionslinie an, die die Rollenhaftigkeit menschlicher Existenz akzentuiert und in der die soziale Welt primär als Bühne thematisiert wird. Siehe hierzu: Goffmann, 1983. 62
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gang mit seinesgleichen, Schwierigkeiten, die als fundamental zu verstehen sind. Wir stoßen im Kontext dieser frühen Arbeit auf meisterhaft formulierte Gedanken von verstörender Intensität, die Plessners erfahrungsgetränkten psychologischen Tiefblick und Feinsinn offenbaren. Seine Ausführungen verweisen auf nahezu unüberwindliche Hindernisse, mit denen das nach authentischem Selbstausdruck und Verstandenwerden lechzende Individuum der Moderne zurechtkommen muss. Diese Überlegungen sind von hohem Wert für das Ethos einer Philosophischen Praxis, die mit Skepsis auf den systemeigenen Solutionismus der Gegenwartskultur blickt. Sie verhelfen wie dargelegt zu einer kritischen, desillusionierenden Gesamtsicht auf viele heute virulente kommunikative Strategien und Taktiken sowie nicht minder auf die anderenorts proklamierte permanente Ermutigung zu Spontaneität und ungehemmt ›authentischer‹ Expressivität. Wenngleich Plessners anthropologische Erwägungen Beiklänge tiefer Traurigkeit aufweisen, sind sie doch zugleich einer besonderen Form der Wahrheitsliebe verpflichtet, an die sich ein neues Band der Humanität knüpfen lässt. Sie inspirieren zu Haltungen des Zwischenmenschlichen, aus denen ein vertrauensvolles Band im (philosophischen) Austausch hervorgehen kann, so dass sich temporär Möglichkeiten eröffnen, alle ›Waffen zu strecken‹ und jenseits habitualisierter Übervorsicht ehrliche Begegnungen zu stiften – wenigstens dort. Denn nur so wird es den Teilnehmerinnen möglich, über ihre Mankos und Masken hinauszugehen bzw. eine bloß scheinbare, irreführende Macht des Egos zu überwinden. Die Bedeutung einer gelassenen Atmosphäre des Vertrauens und letztlich der Geborgenheit für alle therapeutischen, beratenden und erzieherischen Tätigkeiten kann m. E. nicht überschätzt werden. 66 Nur durch personale Bezüge dieser Art lassen sich Auswege aus Lagen tiefer existenzieller Verunsicherung finden. 66
Siehe hierzu insbes.: Bollnow, 2011; Ders., 2001.
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Konfrontative Verfahren Philosophischer Praxis 67, deren Zeugin ich mehrfach werden konnte, erscheinen mir in Anbetracht der von Plessner so überzeugend und eindrücklich begründeten Imponderabilität menschlicher Existenz wenig ertragreich. Tritt ein Fremdbewusstsein von außen kommend allzu energisch ausforschend auf, um verborgene Kräfte freizulegen und diese gegebenenfalls richtungweisend auf Linie zu bringen, bleibt das ›Noli me tangere‹ der menschlichen Seele unbeachtet. In diesem Fall ist mit Widerständen und Ausweichmanövern zu rechnen. Will man aber »dem Eigenleben des unbewußten Seelischen, das aus Verdrängungen nach mannigfachsten Motiven entstanden und großgezüchtet, beständig unsere bewußte Bahn durchkreuzt«, näher kommen, so ist dies nur möglich, wenn sich die jeweilige Person zu »rückhaltlose(r) Ehrlichkeit vor sich selber« 68 ermutigt sieht. Nur so kann eine differenzierende und umsichtige Betrachtungsweise angeregt werden, die auch den moralischen Herausforderungen des Lebens ins Auge blickt. Das heißt: Nur wenn der Betreffende sich als Person wahrgenommen und angesprochen fühlt, wird er die bestmögliche Lebensführung im Ausgleich zwischen persönlichen Präferenzen und der gleichberechtigten Anerkennung anderer ausmachen können, so eben, wie es in Plessners Würdekonzept vorgesehen ist. Wer das Wesen einer Seele ertasten will, muss um das Unausdrückliche, das unwägbare Mehr hinter allen Ausdruckswerten, bemüht sein. Rationales Sezieren, Analysieren und Objektivieren vermag das Eigentliche unseres Seelenlebens nicht zu berühren. Wie beim Zerschneiden einer ausgestopften Puppe kommt immer nur »jene Art von atomisiertem Sägemehl« heraus, »mit dem die ›Wissenschaft‹ seit langem die nach Erkenntnis Hungernden füttert«. 69 Doch da67 68 69
Hierzu kritisch auch: Romizi, 2019, S. 87. Plessner, 2002, S. 65. Ebd., S. 67.
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mit verfehlen wir vor allem den Möglichkeitssinn des Seelischen, der – geheimnisvoll und verhüllt – im Verborgenen schlummert, der erweckt, aber nicht zerlegt werden will: »Zauber, der enträtselt und doch nicht enträtselt sein will, Verheißung, die alles und nichts verheißt –, wer sich darauf versteht, erfaßt das Wesen der Seele in seiner letzten Fragwürdigkeit.« 70 Um dieses Fragwürdige nachvollziehbar zu machen, erläutert Plessner nachfolgend den seelischen Antagonismus von ›Realitätstendenz und Illusionstendenz‹, das Hin- und Herschwanken zwischen Näheverlangen und stolzer Selbstbehauptung im »Widerwillen gegen eine irgendwie doch ersehnte Preisgabe der Seele«, in der »Furcht vor doch verlangter Selbstoffenbarung«, in der »Angst sich zu verlieren, wenn man sich gewinnt«. 71 Warum dieses Zwielicht im eigenen Inneren, dieses Zurückschrecken vor der ersehnten Selbstoffenbarung? – Hier kommt vor allem das Wissen um die Begrenztheit unseres sprachlichen Ausdrucksvermögens zum Tragen. Die sensible Seele leidet an nichts weniger als an einem letztlich unüberwindlichen Gegensatz von Kraft und Erscheinung. Im ungefilterten Selbstausdruck weiß sie sich dem Risiko ausgesetzt, »falsch, seicht und abgegriffen« zu erscheinen, ja im Kitsch zu enden, wie es die vielen »Bilder, Gedichte, Romane, Manifeste, das völlige Verpuffen ungeheurer Anstrengungen, das Verbluten der Herzen Ungezählter« 72 zeigen, deren ehrliche Selbstoffenbarungen sich keinerlei Gehör zu verschaffen wussten. Wer sich gradlinig hervorwagt, wer Sehnsucht oder Angst, wer Not oder Zorn frei und unverstellt herauslässt, zahlt oft den Preis der Lächerlichkeit. »Kein Ernst ist vor dieser Umkippung ins Komische sicher« 73 , jedenfalls nicht im öffentlichen Raum, 70 71 72 73
Ebd., S. 68. Ebd., S. 69. Ebd., S. 72. Ebd., S. 70.
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allein im »Gnadengeschenk der Liebe« kann es gelingen »dem Fluch der Lächerlichkeit zu entrinnen«. 74 Diese Vorbehalte veranlassen einen wachen, seelenvollen Geist, der um das Unausschöpfliche, kaum Darstellbare seiner Innerlichkeit bangt, der sich vielleicht schon mehrfach an der Mitteilbarkeit hat scheitern sehen, dazu, sich in Zurückhaltung und Selbstbeherrschung zu üben. Sein Wissen um den Selbstausdruck des Leibes, in den der »Meißel der Natur« Erinnerungsspuren eingraviert, veranlasst ihn überdies zu Rücksichtnahme und Takt im Umgang mit anderen. Er weiß: Angesichts der unablässig bewegten, kaum je stillstehenden geistseelischen Subjektivität kann jeder verfestigte Abdruck des Vergangenen »inadäquates Symbol der Persönlichkeit« werden. Diese ist vor Verspottung und Demütigung zu bewahren, denn an »irgendeinem Punkte ist jeder die Karikatur seiner selbst, sei es in Unbeholfenheit oder irgendwelchen Automatismen, die er nicht mehr in der Gewalt hat und die dadurch Gewalt über ihn bekommen haben«. 75 Der »Kampf ums wahre Gesicht« 76 – so die Überschrift eines der Kapitel in Plessners Buch – erweist sich als zentrale existenzielle Herausforderung für das hypersozial strukturierte Individuum. Diese Herausforderung ist nach Plessner nur zu meistern, wenn dem Einzelnen private Rückzugsräume zur Verfügung stehen, in denen Anerkennungsverhältnisse möglich werden. Außerdem benötigen gerade hochindividualisierte moderne Menschen, denen traditionelle Sicherheiten genommen sind, einen Rahmen geltender Umgangsformen, durch den ein gewisses Maß an Schonung und Rücksichtnahme gewährleistet ist. In beiden Punkten sind, wie wir gesehen haben, deutliche gesellschaftliche Verschiebungen zu verzeichnen, seitdem Plessner seine Analysen durchführte. 74 75 76
Ebd., S. 72. Ebd., S. 75. Ebd., S. 58.
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Da haben wir zum einen die zunehmende Auflösung einer Grenze zwischen Privatsphäre und öffentlicher Bühne, die durch grundlegende Veränderungen der Arbeitswelt, insbesondere aber durch Digitalisierungsprozesse, in allen Lebensbereichen vorangetrieben wurde. Dies hat gravierende Folgen für das individuelle Selbstverständnis. Nicht hinreichend akzentuiert wurde in dieser Hinsicht bisher die massive Überforderung durch neue Formen unkontrollierbarer Exponiertheit und Bloßstellung in öffentlich zugänglichen Medien. Hier sind völlig neue Eigendynamiken entstanden, die neue Irritationen und Verletzungen nach sich ziehen. Überdies greift, wie wir gesehen haben, die emotionalisierte neue Arbeitswelt in erheblichem Maße auf das Innere des Menschen zu, so dass dieser zunehmend als ganze Person und weniger in Bezug auf bestimmte, klar abgrenzbare Fertigkeiten auf dem Prüfstand steht. Das hohe Tempo einer durchgetakteten Berufssphäre, das kaum überschaubare Feld kreativer Konkurrenz, das Abarbeiten an den Schnittvorlagen erfolgsorientierter Selbstoptimierung lassen kaum mehr Raum dafür, sich mit Muße den Szenarien des Innenfeldes zuzuwenden und die von Plessner betonte Ehrlichkeit und Differenziertheit zu wahren. Dynamiken der Entfremdung und Selbsttäuschung werden in Gang gesetzt, oftmals mit gravierenden Auswirkungen auf die emotionale Balance. Gesellschaftliche Umstrukturierungen haben zunehmend fragwürdige Folgen: Entweder der Kampf ums wahre Gesicht wird angesichts virulenter Selbstoptimierungsimperative zu einer überholten Vorstellung, so dass die Person sich erfolgstaktisch nach außen hin weitgehend abschottet, um unbeirrbar durchzustarten. Oder aber das Selbst reibt sich in inneren Kämpfen endlos auf und erlebt sich als unfähig, gängigen Erfolgsmaßstäben zu genügen. Hieraus resultiert oftmals ein forciertes Bemühen, um jeden Preis das Übersehenwerden zu vermeiden. Es findet eine Verschiebung des zentralen Anliegens statt, und zwar weg vom Anspruch, gut und genau verstanden zu werden, hin zu dem viel grundsätzlicheren 130 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
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Wunsch, aus der sozialen Unsichtbarkeit heraus ins Licht zu treten. Neue, unkontrollierbare Risiken gesteigerter Selbstentfremdung tauchen auf, z. B. die Gefahr, sich als Objekt verkürzter, diskreditierender Darstellungen erfahren zu müssen, mitunter sogar zum Opfer von Mobbing und Häme im Netz zu werden. Zu beobachten ist heute – oft schon in jugendlichem Alter – ein extremes Ausmaß psychischen Leids, ausgelöst durch eine komplexe Gemengelage, in der verschiedene Faktoren verzahnt sind und sich wechselseitig verstärken. Kursieren auf der einen Seite überhöhte, das Menschsein verfehlende Ideale freier Selbstkonstruktion, so herrscht auf der anderen Seite ein Klima brutaler Direktheit und schonungsloser, teilweise verhöhnender Aburteilung und Festschreibung. Jede vielschichtige, um Wahrung ihres Gesichts bemühte Person droht zwischen diesen Einflussfaktoren zerrieben zu werden. So oder so riskiert sie, im oftmals knallharten Zusammenprall mit derartigen Wirklichkeiten ihre emotionale Balance und damit verbunden nicht selten auch ihre Illusions- und Freiheitstendenz einzubüßen. Sollte sie ihrem Leid an diesen Gegebenheiten weinend Ausdruck verleihen können, so wäre dies positiv zu sehen. Denn wenngleich Tränen als Zeichen von Kapitulation und Sinnverlust zu lesen sind, sind sie wertvolle Anzeichen innerer Lebendigkeit und anhaltender Schmerzempfindlichkeit. Sie zeigen Berührbarkeit und Wertorientierung, auch im ethischen Sinne. Um nachvollziehbar zu machen, warum es für die Philosophische Praxis ein veritables Geschenk ist, über Tränen ins Gespräch zu kommen, oder anders gesagt, warum sich in der Begegnung mit einer Weinenden die Türen zu einem philosophisch-tiefgründigen Gespräch öffnen, möchte ich in Teil IV etwas weiter ausholen.
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Exkurs 2: Eine Sozialethik der Selbstumpanzerung und Distanziertheit? Plessner, der ausführlich über das Weinen geschrieben hat, erweist sich darin mit wenigen anderen als Ausnahme innerhalb der philosophischen Zunft. Doch, müssen wir fragen, steht dieses Interesse für die spezifische Verletzlichkeit der menschlichen Natur nicht in eigenartigem Kontrast zu einer Verhaltenslehre der Distanziertheit, welche seine Frühschrift Grenzen der Gemeinschaft zu verkünden scheint? Da ich in meinen bisherigen Ausführungen mehrfach Bezug auf diesen nicht unumstrittenen frühen Text Plessners genommen habe, erscheint es mir, um Missverständnissen vorzubeugen, nun unumgänglich, mich in dieser Debatte expliziter zu positionieren, als ich es bisher getan habe. Auch wenn meine Ausführungen zu Plessner bereits erkennen lassen, dass ich in ihm einen eher einfühlsamen Menschenkenner sehe, ihn zudem als frühen Verfechter liberaler und pluraler Umgangsweisen einstufen würde, möchte ich diese Sicht nun doch etwas eingehender erläutern. Ich werde deshalb kurz auf eine Diskussion eingehen, die seit Mitte der 1990er Jahre um das in der genannten Frühschrift Plessners entfaltete ›Ethos der Distanz‹ kreist. Zentraler Auslöser für die recht umfangreiche Debatte war hier ein Buch des Kulturwissenschaftlers Helmut Lethen, der Plessners Plädoyer für Takt und Diplomatie, für Rollenverhalten, Diskretion und Zurückhaltung als »Verhaltenslehre der Kälte« 77 etikettiert, welche typisch für die ZwiLethen, 1994 u. 2002, zu den Bezügen zwischen Schmitt und Plessner, siehe auch: Kramme, 1989 – Auch Lethen stellt allerdings heraus, dass beide Theoretiker an entscheidender Stelle weit auseinanderdriften. Er verweist in diesem Zusammenhang auf Plessners »›Relativismus‹ der Vertrautheitssphären (…) sein Ziel, den Ethnozentrismus der Kultur zu durchbrechen, und seine unbeugsame Aversion gegen die Stilisierung der ›Gemeinschaft‹ zur naturhaften Vertrautheitssphäre (…).« – Lethen, 2002, S. 56.
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schenkriegssituation der 1920er Jahre sei. Der von Plessner propagierte sachlich-distanzierte Habitus entspreche – so Lethen – einer rein männlichen Welt, die Feindseligkeit als Grundtonus menschlicher Beziehungen etabliere. Hier werde ein Idealbild der kalten Person vorgestellt, werde eine »Konstruktion des männlichen Duellsubjektes« 78 betrieben, welches sich unverletzlich zu machen suche und einem »Ethos der Herrscher und Führer« 79 korrespondiere. Damit bleibe Plessner im Bann historischer Vorbilder, »die die ›feminine‹ Lösung nicht zulassen« 80 – eine Lösung, die für Lethen offenbar darin liegt, sich im authentischen Selbstausdruck zu ergehen und sich der eigenen Verletzlichkeit vorbehaltlos und ungebrochen zu stellen. Nun ist nicht von der Hand zu weisen, dass Plessners Frühschrift einige problematische Äußerungen enthält, sowohl – wenn auch nur sehr rudimentär – zur Bestimmung der Frau als auch – weitaus markanter – zur Frage politischer Steuerung. Wie Axel Honneth bemerkt, zeigt sich hier eine konservative Tendenz der »Entkoppelung der Politik von aller
Ebd., S. 45. Ebd., S. 50 – Hiermit greift Lethen eine der problematischen Formulierungen Plessners auf, der zunächst offenbar nur wenigen Personen zutraut, seiner Konzeption sozialer Verantwortung – »Gesellschaft bejahen um der Gesellschaft willen« – zu entsprechen. Nur wenige vermögen »die ganze Pflichtenlast der Zivilisation, wie sie das Abendland erfunden hat und ausbildet, um der wachsenden Spielmöglichkeiten, die sie bringt, auf sich zu nehmen.« In diesem Zusammenhang taucht nun eine Formulierung auf, die auf eine politische Elite hinzuzielen scheint und andere grundsätzlich von bestimmten Möglichkeiten ausklammert – eine Formulierung, die sich in der historischen Rückschau höchst bedenklich ausnimmt: »Die Mehrzahl bleibt unbewußt und soll es bleiben, nur so dient sie.« – Plessner, 2002, S. 38 f. – Plessner musste wohl bald erkennen, dass die politischen Machthaber die von ihm anvisierte souveräne Größe keineswegs vorwiesen. In seinem späteren Werk spielen dann auch der »agonale und aristokratische Geist sowie der politische Dezisionismus« keine Rolle mehr. – Honneth, 2002, S. 19. 80 Lethen, 2002, S. 49. 78 79
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diskursiv ermittelten Rationalität« 81 , durch die Plessner kurzzeitig in die Nähe des totalitären Denkers Carl Schmitt zu rücken scheint. Doch, wie Honneth bilanzierend herausstellt, teilt Plessner Schmitts »Ungeheuerlichkeiten« letztlich keineswegs, was sich in späteren Texten in aller Deutlichkeit zeige. Leitend ist in allem das Anliegen, ein Modell menschlicher Intersubjektivität zu zeichnen, d. h. den Menschen kategorial durch Selbstüberschreitung zu bestimmen, was ihn unweigerlich zu einem sozialen Wesen werden lässt. Als solches vermag er nicht ungebrochen aus sich selbst heraus zu leben, sondern muss sich stets zugleich auch aus der Perspektive anderer Subjekte betrachten. Ohne an dieser Stelle möglichen Affinitäten zwischen Plessner und Schmitt innerhalb der Frühschrift detailliert nachgehen zu wollen, erscheint es mir dennoch wichtig, zwei Gesichtspunkte der Kritik Lethens aufzugreifen und zu entkräften: A) Zum einen wäre kurz darzulegen, warum Plessners Anthropologie schwerlich als anthropologische Fundierung der Politiklehre Schmitts betrachtet werden kann. Zu verdeutlichen wäre, dass Plessners anthropologische Thesen, sofern man sie genauer abwägt, keinesfalls zwangsläufig auf ein totalitäres System hinauslaufen, dass sie vielmehr auf eine Form der Öffentlichkeit hinzielen, die für eine Vielzahl individueller Differenzen einen Artikulations- und Entfaltungsraum ermöglicht. Insbesondere das wenig später definierte Theorem der natürlichen Künstlichkeit transportiert, wie schon dargelegt wurde, ein fundamentales Verständnis kultureller und gesellschaftlicher Offenheit und verweist damit letztlich auf eine diskursive, plurale Gesellschaft. B) Im Anschluss daran wäre dieses emanzipatorische Potential zum anderen mit der Geschlechterfrage in Beziehung zu bringen. Gezeigt werden soll, dass sich diesbezüglich gewissermaßen mit Plessner über Plessner hinausdenken lässt (und damit auch über einige seiner nicht ganz unver81
Honneth, 2002, S. 25.
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fänglichen Äußerungen zur Besonderheit der Frau). Das heißt, es gilt den emanzipatorischen Gehalt aufzuzeigen, den seine »Neuschöpfung der Philosophie« 82 jenseits dualistischer Konzepte zweifellos auch hinsichtlich der Geschlechterfrage mit sich führt. Zu A): Plessner grenzt sich in seiner frühen Schrift gegen unterschiedliche Varianten von Gemeinschaftsutopien ab, welche auf je eigene Weise eine ursprüngliche soziale Zusammengehörigkeit aller Menschen suggerieren – seien es Mythen der Verbundenheit in Blut und Boden im biologistischen Verweis auf eine gemeinsame Naturgrundlage oder seien es Gemeinschaftsideologien im Rückgriff auf geteilte Sachorientierungen bzw. auf ein in der menschlichen Vernunftstruktur verankertes untrügliches Kollektivanliegen. Derartige Schließungsbewegungen der Moderne diagnostiziert Plessner als Vereinnahmungstendenzen, welche den Einzelnen in der Masse aufzulösen suchen und ihm damit jeden Raum zu selbsttätiger Entfaltung nehmen. Deutlich wird schon in der Frühschrift, dass radikale Gemeinschaftskonzepte – gleichgültig, ob sie biologistisch oder metaphysisch untermauert werden – der ontologischen Zweideutigkeit des Menschen (wenig später in die Formel ›positionaler Exzentrizität‹ gefasst) nicht angemessen sind. Bereits in den ersten Abschnitten dieses Textes wendet sich Plessner gegen einen Radikalismus des Geistes, »dessen Ideen Wegweiser ins Unendliche aufrichten und in jeder Lage das Gewissen der Zukunft mahnen«. Gegen diese »Verächter des Bedingten, Begrenzten, der kleinen Dinge und Schritte, der Verhaltenheit, Verschwiegenheit, Unbewußtheit« wendet er sich, indem er ihrem fanatischen, verdrängerischen Purismus, ihrem »Moralismus der Leistung« und ihrem »Mißtrauen gegen Freude und Genuß« 83 seine völlig anders geartete Sicht auf den Menschen gegenüberstellt. 82 83
Haucke, 2002, S. 105. Plessner, 2002, S. 14 f.
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Nachdenken in Philosophischer Praxis
Demnach ist der Mensch weder bloßer Spielball determinierender Naturkräfte, noch ist er siegesgewisser Anrainer einer untrüglichen Wahrheitswelt. Sein Los ist es, nicht festgelegt zu sein, sondern in jedem Moment seines Lebens beides sein zu müssen: Natur, doch unweigerlich distanz-/ kulturvermittelt – Geist, doch unweigerlich positional eingetrübt. Wie insbesondere Kai Haucke hervorhebt, eröffnet Plessner für den Menschen damit eine neue ontologische Dimension als »seiende Möglichkeit« – zu verstehen als »ein Wirkliches, das erscheint und zum Ausdruck bringt, daß es mehr ist, als was es in der Erscheinung ist. Gemeint ist ein Wirkliches, das in seiner Wirklichkeit über sich auf anderes hinausweist, das kein bloßes Etwas ist, sondern ein Etwas, welches als ein Etwas erscheint«. 84 Damit steht der Mensch stets in einem Spannungsfeld zwischen ›aktualer Sichtbarkeit‹ und ›potentieller Andersheit‹. Er ist ein Werden, das sich nie endgültig an einen Ruheort begeben und dort finden kann, das sich nie in einer seiner Erscheinungsweisen erschöpft und deshalb gegen von außen kommende Fixierungen aufbegehren muss. Symbiotische Gemeinschaftsformen mögen zwar vordergründig betrachtet entlastend wirken und deshalb attraktiv erscheinen, auf lange Sicht aber konfligieren sie mit der Veranlagung des Menschen, seinem Selbsterkundungs- und Gestaltungsdrang zu folgen. Gegenüber allen Versuchen, zu einer Universalkenntnis des Menschen vorzudringen, konstatiert Plessner wenige Jahre später: »Von Überwölbungen ist nichts zu erwarten, außer, daß sie einstürzen.« 85 Erkennbar wird zudem, dass Plessner sich, wenn auch von Kant herkommend, nachdrücklich gegen dessen dualistisches Menschenbild wendet und damit, wie schon dargelegt wurde, in kritische Distanz zu einer strikten Sollensethik tritt. Das
84 85
Haucke, 2002, S. 118. Plessner, 2003a, S. 147.
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Konsequenzen für ein praktisches Ethos
Ethos des Menschen lässt sich nicht unter Zurückdrängung aller sinnlich-emotionalen Neigungen gewinnen, d. h. allein über rein rationale Operationen der Selbstregulierung, etwa in Anwendung des Kategorischen Imperativs. Dies bedeutet aber keineswegs, dass derartige Regulative deshalb gänzlich hinfällig würden, es meint vielmehr, dass in Anbetracht der je spezifischen Eingebundenheit des Einzelnen jeweils neu und einmalig ein vermittelnder Ausgleich zwischen situativen, natürlich-sinnlichen Impulsen und übergeordneten Ansprüchen zu vollziehen ist – letztlich ohne jede Garantie des Gelingens. Dieses Bemühen sowie die damit einhergehende unabschließbare Identitäts- und Gewissensprüfung, ist, wie dargelegt, der spezifische Ort menschlicher Würde. Während Plessner in seiner Frühschrift offenbar davon überzeugt war, dass ein solches Austarieren nur wenigen überlegenen Naturen zuzutrauen ist 86 , entfaltet er dennoch schon hier ein Verständnis des Gesellschaftlichen als Sozialform (ja eine Sozialethik), die dem Einzelsubjekt genau den Raum gewähren könnte, den es benötigt, um gleichermaßen selbstbestimmt wie alteritätsbezogen in der Welt zu stehen. Öffentlichkeit ist der spezifische Realisierungsmodus des Menschlichen, weil sich vor allem hier jene Umgangsformen einüben lassen, die Personen um ihrer selbst willen und anderer willen benötigen. Takt, Maske und Rollenspiel dienen deshalb keinesfalls der Abpanzerung und Abschottung des Selbst, sondern sie errichten Schutzsphären, die es dem Einzelnen im Grunde genommen erst ermöglichen, dem indiskreten Zugriff anderer zu entgehen und sich selbst zu erkunden. Weil Regularien und ritualisierte Umgangsformen das Beschämungsrisiko senken, wird es möglich, »bei einem Maximum an Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit ein Maximum an Sicherheit vor dem ironischen Zerstörerblick, bei einem Maximum an seelischem Beziehungsreichtum zwischen den
86
Siehe Fußnote 79 in diesem Kapitel.
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Menschen ein Maximum an gegenseitigem Schutz voreinander zu verbürgen.« 87 Durch schonungsvolle Verhaltensweisen kann die im Menschen angelegte Bereitschaft, sich übermäßig im Spiegel der Anderen zu erleben und zu bewerten, eingedämmt werden. Nur so kann sich ein geschützter Raum der inneren Einkehr formieren, um Seelentiefe zu gewinnen, um der »an Tiefe und innerer Eigenschaftsfülle unvergleichlichen Innerlichkeit« 88 gewahr zu werden. Takt ist also nicht als Taktik misszuverstehen, auch Rollen und Masken sollen nicht als Instrumente zur erfolgsfixierten Realisierung persönlicher Interessen dienen. Beides ist vielmehr dazu angetan, im Zuge rücksichtsvoller Grenzziehungen den Raum für nachdenkliche Selbstformierung und aufgeschlossene Begegnung zu weiten, im steten Wissen darum, dass all dies dennoch relativ bleiben muss. Erst gesellschaftliche Umgangsweisen, die die Persönlichkeitssphäre eines jeden respektieren, ermutigen zur Freisetzung individueller Differenzen, so dass auch Uneinigkeit Akzeptanz findet und Konflikte konstruktiv ausgetragen werden können. Erst wenn der Einzelne den Konformitätszwängen und den Sanktionsritualen eingeschworener Gemeinschaften entgeht, kann sich eine liberale und plurale Gesellschaft entfalten. Erst im Klima der Diskretion werden die Voraussetzungen dafür geschaffen, ohne Angst vor Ansehensverlust in kritische Distanz zu sich selbst zu treten, um den eigenen Standort auszuloten und gegebenenfalls auch zu überschreiten. Diese Einsichten Plessners sind, wie schon dargelegt wurde, für die gegenwärtige Massengesellschaft von enormer Relevanz. Denn wir müssen sehen, dass das heute hoch gehaltene Selbstbestimmungsideal zunehmend zwischen diffusen Normierungszwängen, Prestigeerwartungen und allgegenwärtigen (subtilen) Beschämungspraktiken zerrieben 87 88
Plessner, 2002, S. 79. Ebd., S. 62.
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wird, wobei zugleich die Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit auf höchst fragwürdige Weise verwischen. Wo sich einerseits der öffentliche Raum mehr und mehr in eine Bühne effekthascherischer Selbstdarstellung verwandelt, wo andererseits Instanzen familiären Rückhalts zerbröseln und Privatheit schwindet, gewinnen die von Plessner entfaltete »Sozialphilosophie der temperierenden ›Grenze‹ als Kern des ›Gesellschaftsethos‹« 89 und insbesondere das darin umrissene Recht auf Distanz eine neue Brisanz. Wir benötigen mehr denn je Abstand bietende Bereiche, um ehrliche Selbstbegegnung und zwischenmenschliche Nähe zu ermöglichen. Erst über eine fundamentale wechselseitige Anerkennung und respektvolle Zurückhaltung im sozialen Bereich können Menschen sich als freie Subjekte zurückgewinnen. Das heißt: Um tatsächlich Selbstdistanz aufbauen zu können, muss es einer Person prinzipiell anheimgestellt bleiben, was sie von sich preisgeben will und was nicht. Keine Gruppennorm darf zentnerschwer auf ihr lasten, kein subtiler Zwang zu ungehemmtem Selbstausdruck die Angst vor Unzulänglichkeit und Lächerlichkeit triggern. Nur jenseits eines vordergründigen, unkritischen Aufrichtigkeitsdrucks wächst die Fähigkeit, in sich zu gehen, um allmählich eine eigene Stimme zu finden oder auch nur für sich allein auszumachen, wo die Grenze des Sagbaren liegt. Unter diesen Bedingungen wird es schließlich möglich, unterschiedliche Perspektiven in Worte zu fassen und gegeneinander abzuwägen, um, wo es notwendig ist, auf kooperativen Wegen zu überindividuellen Lösungen zu gelangen. Nils Baratella, der viele Verbindungspunkte zwischen Plessners Gedanken und Hannah Arendts pluralistischer Handlungstheorie aufzeigt, formuliert hierzu: »Menschen, die keine Distanz und mithin keine Relationalität zwischen sich und den Strukturen schaffen, innerhalb derer sie geformt werden, werden damit unfähig oder unwillig, eigenständig zu denken. Sie werden zu 89
Fischer, 2002, S. 89.
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Funktionsträger*innen.« 90 Auf die Bezüge zu Arendt wird weiter unten noch einzugehen sein. Ich möchte nochmals unterstreichen: Im Blick auf Plessner wird eine Dynamik des Zwischenmenschlichen erkennbar, die für die Philosophische Praxis eminent bedeutsam ist. Aufgrund seiner untilgbaren Doppelsinnigkeit kann ein Mensch sich und anderen nur auf der Basis von Distanznahmen näherkommen. Das heißt: Nur wer (zu sich) in Abstand treten kann, ermöglicht Begegnungsräume. Um dies zu tun, muss eine Person allerdings ein grundsätzliches Interesse an anderen aufbringen. Diese müssen ihr gewissermaßen bereits irgendwie nahegehen. Hierfür werden die Weichen früh gestellt – ein Zusammenhang, den ich an anderer Stelle näher erläutert habe. 91 Heute kommt es mir im Blick auf die Philosophische Praxis vor allem darauf an darzulegen, wie wichtig das umrissene Zusammenspiel von Nähe und Distanz insbesondere für eine gelingende Arbeit mit Menschen ist, die sich in schwierigen Lagen befinden – sehr häufig ja gerade deshalb, weil sie in Kontexten feststecken, die von subtilen Formen der Außenlenkung oder von intersubjektiver Übergriffigkeit geprägt sind. Infolge diffuser Gefühle des Ausgeliefertseins und der Wehrlosigkeit manifestiert sich bei vielen allmählich ein gedämpftes Grundbefinden und damit der Eindruck mangelnder Selbstzugänglichkeit. Wie oben schon angesprochen beschreibt Plessners »Ethos der Grazie«, welches ich als warmen Distanzmodus charakterisieren würde, eine für die Praxisarbeit überaus hilfreiche Sozial- und Kommunikationsform. Hier kann ein Gast die Erfahrung machen, geschont zu werden, d. h. seine Sphäre bewahren zu dürfen und ›ungezwungen‹ von sich sprechen oder schweigen zu dürfen, ohne mit Schnellurteilen konfrontiert zu werden. Auf diese Weise werden vielfältige Klärungsprozesse in Gang gesetzt, die sich nicht nur konstruktiv auf 90 91
Baratella, 2019, S. 273. Bennent-Vahle, 2020.
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persönliche Lebensumstände auswirken, sondern darüber hinaus auch das ›politische‹ Selbstverständnis im weitesten Sinne betreffen. Da der Hauptakzent des Menschen nach Plessner auf seiner Unergründlichkeit liegt, erreicht man ihn nicht über objektivierende Festschreibungen, sondern durch Anerkennung eines verborgenen, inwendigen Bereichs. In diesem Sinne wäre mit Haucke zu sagen: »Man findet das menschliche Wesen nicht, man sichert ihm seine Würde nicht, wenn man ihm die Möglichkeit der Maskierung nimmt, wenn man es bis auf den letzten Grund durchschauen will, es bloßstellt und seiner Nacktheit preisgibt.« 92 Zu B): Bis hierher sollte bereits deutlich geworden sein, dass Plessners Plädoyer für Verhaltensweisen der Diskretion und Schonung keinesfalls, wie Lethen behauptet, einem unterkühlten, umpanzerten männlichen Duellsubjekt das Wort redet. Priorität hat hier auch nicht ein Distanzgebot allein im Dienst des Selbstschutzes, sondern es geht in hohem Maße darum, vor allem die fremde Seele durch das Zurückhalten schneller Aburteilung zu schonen, d. h. den Anderen nicht den Risiken von Bloßstellung, Beschämung und Lächerlichmachen auszusetzen. Wo die menschliche Seelentiefe unangetastet bleiben soll, muss es Grenzen der Begutachtung und Bewertung geben. Stellt man all dies in Rechnung, so drängt sich aus meiner Sicht folgender Rückschluss auf: Plessner vertritt für das menschliche Miteinander Umgangsformen der Diskretion und sanften Schonung, welche eher darauf angelegt sind, ein klassisch-männliches Dominanzsubjekt zu ermutigen, den Harnisch abzulegen, um mit gleichgestellten Anderen wertschätzend ins Vernehmen zu kommen. Genau diese Intention, nämlich Machtpositur abzubauen und Standesschranken zu überwinden, war das Anliegen progressiver Formen des geselligen Verkehrs, die in den zumeist von Frauen geführten Salons des ausgehenden 18. Jahrhun92
Haucke, 2002, S. 129.
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derts angestrebt wurden. 93 Die Salonkultur dieser Zeit kann noch als eine Nachwirkung frühaufklärerischer Konzepte weiblicher Gelehrsamkeit angesehen werden, während parallel dazu, etwa seit Mitte des 18. Jahrhunderts, allmählich eine spezifisch neuzeitliche polaritätsorientierte Geschlechtertheorie in den Vordergrund trat. Im Zuge dessen gewannen mehr und mehr Denkweisen Oberhand, die eine grundlegend anders geartete, spezifisch weibliche ›Intellektualität‹ propagierten. Es handelte sich um neuartige, von Männern artikulierte, vielfach idealisierende Weiblichkeitsentwürfe, durch die Frauen in die neu entstehende bürgerliche Privatsphäre zurückgedrängt wurden. 94 Ich resümiere in aller Kürze: Obwohl die Andersartigkeit der Frau in diesen neuen Entwürfen als umfassend dargestellt wird, lässt sich dennoch kein wirklich autonomes weibliches Seinsprinzip ausmachen. Vielmehr hat die Frau dieselbe Natur und denselben Geist zu repräsentieren wie der Mann, allerdings in Form einer vordualistischen Versöhntheit beider Seiten vor aller Differenzierung. Dies führt zu der absurd anmutenden Konsequenz, dass das Weibliche als bereits vollendet imaginiert wird, obschon es sich im Vergleich zum Männlichen als undifferenziert und unausgereift darstellt. Weil ihre Teilhabe an den Errungenschaften der Menschheit instinkthaft, dumpf und unreflektiert bleibt, bedarf die Frau – trotz ihrer hehren, häufig glorifizierten Qualitäten – auf Schritt und Tritt der männlichen Leitung. Ihre genuine Sphäre ist der Privatbereich, in dem sie ihren Anlagen gemäß in Kindererziehung und Haushalt fürsorglich, unterstützend und kompensatorisch wirkt.
Zur emanzipatorischen Kraft der Salonkultur, siehe insbesondere Arendts Studie zu der berühmten Berliner Salonière Rahel Varnhagen – Arendt, 1981 – Siehe hierzu auch: Baratella, 2019. Zur Salonkultur, siehe: Jensen, 2015; Hertz, 2021; Gerlach, 1993. 94 Zu diesen Entwicklungsprozessen, siehe u. a.: Hausen, 1967; Bovenschen, 1977; Bennent, 1985. 93
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Familie wurde dabei als natürlich-sittlicher Organismus begriffen, dessen Einzelelemente sich sozusagen automatisch zu einer konfliktfreien Einheit ausbalancieren, so dass juristische Kontrolle für überflüssig erklärt wurde. Da weibliche Dienstwilligkeit und Moralität sowie ein mütterlich-sittlicher Erziehungsmodus als Naturreflexe dargeboten wurden, konnten rechtliche Regelungen von Familienstreitigkeiten weitgehend ausgeklammert bleiben. Stattdessen sah man Ehe und Familienleben von einer Aura wärmender Humanität umhüllt, die sich allerdings in erster Linie für den Mann realisierte. 95 Denn letztlich blieb die Aufrechterhaltung idyllischer Vorstellungen vom häuslichen Glück – fernab von Kommerz und Kontor – trotz gegenläufiger Realitäten nur deshalb für lange Zeit möglich, weil entrechtete Frauen, eingefangen im privaten Ghetto, den Schein von Freiheit und Mühelosigkeit um die Zwänge wirkten. Allein ihr alltägliches Geschick und ihr ›freiwilliger‹ Verzicht auf Selbstverwirklichung konnte dem Mann den ersehnten Rückzugs- und Geborgenheitsraum gewähren: »Den Riß zwischen Genrebild und familialer Wirklichkeit zu übertünchen, entwickelte sich zu der zentralen Aufgabe der Frau – eine Aufgabe, die von ihr verlangte, Zeit für andere zu haben und sie gleichzeitig zu sparen, sich emotional zu geben, aber rational zu denken, expressiv zu scheinen, jedoch instrumentell zu handeln, Schwäche zu mimen und Stärke zu verbergen.« 96
Hierzu ließen sich über Jahrhunderte hinweg – von Rousseau bis Simmel – unzählige Formulierungen zusammentragen, die darin konvergieren, trotz eines Scheins gleichgestimmter Hingabe die Frau auf den Mann hin zu mediatisieren. Sie ist beauftragt, »tiefe Gefühle zu wecken, so harmonische Stimmungen hervorzubringen, um den Mann, der durch seine Thätigkeit leicht aus sich selbst herausgerissen wird, wieder in sich zurückzuführen; (…) und die höchste Vernunfteinheit, nach der er strebt, ihm in der Sinnlichkeit darzustellen (…)«. – Humboldt, 1903, S. 368. 96 Heintz/Honegger, 1981, S. 39. 95
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Neben dieser lebenspraktischen Dimension dürfen wir aber etwas Wesentliches nicht übersehen: Von Anfang an, jedoch gesteigert im Laufe des 19. Jahrhunderts, tritt Weiblichkeit als Gegenprojektion zu neuzeitlichen männlichen Selbstentwürfen auf. Sie fungiert als eine Art Auffangbecken für Erfahrungsräume und Zustände, die sich der bürgerliche Mann nur als bezwungene und überwundene zuzugestehen vermochte: Körperlichkeit, Sexualität, Gefühl, Passivität, Verletzlichkeit, Selbstlosigkeit, Abhängigkeit. Wird die Frau in diesem Rahmen mit Natur gleichgesetzt, so verkörpert ihre konkrete Lebenswirklichkeit bereits die Domestizierung des Natürlichen. Sie verkörpert (oder sollte verkörpern), dass diese Bezähmung quasi ohne Schmerzen vonstattengehen kann. Allerdings war man sich der Fragilität dieser Weiblichkeitsentwürfe von Anfang an bewusst, insofern man die glorifizierte Weiblichkeit als permanent gefährdet ansah, von der unbezwingbaren Eigenmacht natürlicher Triebkräfte unterlaufen und hinweggerissen zu werden. Wie stark man sich vom Durchbruch sinnlich-kreatürlicher Mächte bedroht fühlte, zeigen nicht nur verbale Entgleisungen über wütende, gierige Weiber vergangener Epochen (auch bei großen Denkern 97 ), vor allem die Ratgeber zur Mädchenerziehung legen hierüber beredtes Zeugnis ab. 98 Blicken wir auf diese grob skizzierten Grundlinien neuzeitlicher Geschlechtertheorie, so erscheinen Lethens Diagnosen in einem anderen Licht. Indem er dem männlich hochgerüsteten Duellsubjekt eine unmittelbare emotionale Expressionskraft und Authentizität des Weiblichen gegenübersetzt, bemüht er damit erneut eine Geschlechtertheorie, die problematischen Idealisierungen einer vermeintlich naSiehe z. B.: Bennent, 1985, S. 162 – Schließlich kam es um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zu einer Neuauflage von Theorien, die weitgehend frei von glorifizierenden Beiklängen die Minderwertigkeit der Frau verkündeten. – Ebd., S. 190 ff. 98 Ebd., S. 176 ff. 97
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turwüchsigen familiären Sphäre und der hier agierenden Frau verfällt. In seiner Kritik an Plessner spiegelt sich ein Denken über Männlichkeit und Weiblichkeit, das abermals fragliche gesellschaftliche Rollenmuster transportiert, Zuständigkeiten, welche letztlich für beide Seiten reglementierend und einengend wirkten, besonders aber für Frauen, denn ihre Selbstentfaltungsrechte im öffentlichen Leben wurden damit umfassend beschnitten. Vor diesem Hintergrund nimmt sich Plessners Vorstellung des Gesellschaftlichen als ein überaus innovativer Vorstoß aus. Wir haben gesehen: Ausgehend von der Instabilität, Unauslotbarkeit und Verletzlichkeit des Menschen wird der öffentliche Raum hier so konzipiert, dass er prinzipiell auch von Schwächeren bzw. Ungeübten ohne Angst vor Gesichtsverlust aufgesucht werden könnte. Generell lässt sich sagen, dass Plessners strebensethischer Entwurf und das daran geknüpfte Würdekonzept auf eine Vermittlung traditionell ›männlicher‹ und ›weiblicher‹ Komponenten zielen. Wie in Anlehnung an Haucke dargelegt, erfolgt die moralische Orientierung hier über einen eigenständig zu erbringenden Ausgleich zwischen sinnlich-emotionalen Glücksinteressen und überindividuellen Ansprüchen des Zusammenlebens. Haucke sieht Plessner darin wie angedeutet in der Tradition Schillers, dessen Ideal der Anmut eine spielerische Überwindung des dualen Gegensatzes von Pflicht und Neigung konzipiert. Während sich die schöne Seele bei Schiller durch intuitive, naturwüchsige Leichtigkeit ausgezeichnet, stellt dieses Persönlichkeitsideal in Plessners Würdekonzept hingegen ein kulturvermitteltes Strebensziel dar. Dies bedeutet, dass jedes Subjekt trotz seines unaufhörlichen Bemühens um Versöhnung heterogener Seelenkräfte letztlich mit tiefer, unüberwindlicher Zweideutigkeit und Fragilität geschlagen bleibt. Gerade hinsichtlich tradierter Geschlechterzuschreibungen ist dies ein höchst aufschlussreicher Befund: Schon bei Kant findet sich im Blick auf die Moralität der Frau das Konzept einer ›schönen Tugend‹ – gefasst als ein instinktartiges, 145 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
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vermeintlich naturwüchsiges Ethos, welches – noch vor allen Erwägungen über Gut und Böse – gefühlsgelenkt gut und angemessen handelt. »Nichts von Sollen, nichts von Müssen, Nichts von Schuldigkeit. Das Frauenzimmer ist aller Befehl und alles mürrischen Zwanges unleidlich. Sie tun etwas nur darum, weil es ihnen beliebt, und die Kunst besteht darin, zu machen, daß ihnen nur dasjenige beliebe, was gut ist.« 99 Die schöne Tugend der Frau trägt bei Kant also durchaus schillersche Züge. Allerdings zeigen Kants weitere Ausführungen zu diesem Thema, dass das ursprüngliche sittlich-ästhetische Talent der Frau zweifelsohne auf pädagogische Nachhilfe angewiesen ist. Empfohlen wird eine subtile, auf das weibliche Ehrgefühl abzielende erzieherische Einflussnahme. Die Qualen des Gewissens, innere Kämpfe der Selbstüberwindung sollten der Frau fremdbleiben. Denn nur sofern sie widerstandslos und ohne sichtbare Konflikte dem herrschenden Sittengesetz entspricht, wird es möglich, sie zum Ideal, d. h. zum lebendigen Symbol einer problemlosen Realisierung des Guten, zu erhöhen. Dies kann hier nicht weiter vertieft werden. Wichtig ist zu erkennen, wie sehr gerade Frauen im Zeichen der neuzeitlichen polaritätsorientierten Geschlechterkonzeptionen darauf gedrillt werden sollten, sich möglichst reibungslos an soziale Konventionen anzupassen, um in den Augen der Anderen bestehen und gesellschaftliche Akzeptanz finden zu können. Eine Schamkultur, die mit subtiler Manipulation, aber auch mit Abwertung und Ächtung arbeitete, musste bei Frauen besonders hart zu Buche schlagen, weil ihnen von vornherein keine moralische Selbstbestimmung zugebilligt wurde und sie folglich auch nicht darin geschult wurden, eigenständige moralische Urteile zu fällen. So mögen die konkreten Risiken des Versagens und der Lächerlichkeit je nach Geschlecht variieren, fest steht indes, dass Frauen noch weitaus mehr als Kant, 1977, S. 854 – Zu Kants Bestimmung weiblicher Moralität, siehe: Bennent, 1985 u. Bennent-Vahle, 1991.
99
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Männern verwehrt war, sich dem ungehemmten Selbstausdruck zu überantworten. Das Weibliche zur Repräsentanz von Ungezwungenheit und authentischem Selbstsein zu erheben, wie es noch bei Lethen anklingt, muss mithin mehr als fraglich erscheinen. Vor diesem Hintergrund ergibt sich nun folgender Schluss: Plessners Plädoyer für Distanznahme und Takt als notwendige, aber auch wünschenswerte Kulturtechniken ist darauf angelegt, nicht zuletzt für Frauen neue Bewegungsspielräume zu eröffnen, zumal seine anthropologischen Grundprinzipien – ihrer Logik gemäß – biologische oder ontologische Festschreibungen von Geschlechterstereotypen ausschließen müssen. 100 Wenn Plessners Ethos der ontologischen Zweideutigkeit des Menschen entsprechend Freiheitsspielräume für das eigenständige Austarieren zwischen Körper und Geist anvisiert, so liegt darin zugleich eine emanzipatorische Kraft, die auch auf Überwindung tradierter Geschlechterdirektiven verweist. Plessner selbst ist diesem Gedanken, soweit mir bekannt ist, nicht eigens nachgegangen. Auch bei ihm finden sich geInsbesondere Gesa Lindemann verweist auf den Gedanken der kulturellen Konstruiertheit geschlechtlicher Identität und Selbsterfahrung. Siehe: Fußnote 42 in Kapitel II. – Es finden sich bei Plessner vereinzelt einige Äußerungen, in denen auch er sich, wie es scheint, tradierter Stereotype bedient. So siedelt er Frauen in der Grenzschrift beispielsweise »auf tieferer« Stufe an. Doch gerade bei ihnen, »wo die Seele weniger im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht, wo die Ambitionen leichter befriedigt werden, sagen wir bei Sportsleuten oder Menschen der Praxis, vor allem aber bei Frauen, die nach dem Wort des Romantikers bei sich selbst bleibende Natur sind und nur zu ambitionieren pflegen, was sie mit Hilfe der Männer zu erreichen sicher sind, finden sich leichter Würde und Anmut«. – Plessner, 2002, S. 76 – Der Rückgriff auf die Romantiker deutet zwar eine Naturalisierung der femininen Besonderheit an, dennoch kann der hier getroffenen Beobachtung ebenso ein rein empirischer Wert zugemessen werden, denn die faktische Wirksamkeit virulenter Weiblichkeitsbilder und entsprechender Erziehungspraktiken ist ja grundsätzlich nicht von der Hand zu weisen.
100
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legentliche Anklänge einer Idealisierung der Privatsphäre als Hort der unmittelbaren, vorbehaltlosen und vertrauensvollen zwischenmenschlichen Zuwendung. 101 Letztlich jedoch bekundet Plessner, dass jedes Zusammenleben von Entfremdung und Zerfall bedroht ist. Nicht einmal das »Gnadengeschenk« einer Liebe, in der wir uns unverstellt zeigen können, reicht aus, um dauerhafte Gemeinschaft zu gründen: »Jedes Zusammenleben trägt den Keim des Aneinandervorbeilebens in sich, weil die Seelen mehr sind, als was sie wirklich sind. Auf die Gnade völligen Einklangs der Wesen läßt sich Gemeinschaft nicht bauen. Kommt nicht redlicher Wille, Treue hinzu, folgt nicht dem primären Liebesakt, der an einer gewissen Wesenskonformität sich entzündet, die Liebe, die auch verzeiht, wo sie nicht mehr versteht, so ist es um die Gemeinschaft von Menschen geschehen.« 102
Wir sehen: Entgegen der Diagnose Lethens kennt Plessner durchaus einen von der Öffentlichkeit abgegrenzten Ort, an dem das Individuum sich zeigen und fallen lassen kann. So akzentuiert er die hohe Relevanz einer privaten Vertrauenssphäre, in der innere Regungen in einem kleinen, überschaubaren Kreis von wohlwollenden Personen gefahrlos gezeigt werden können. Zugleich aber zeigen seine Formulierungen, dass auch hier Vermittlungsleistungen zu erbringen sind, um im Klima der Geborgenheit ungezwungene Selbstoffenbarungen überhaupt zu ermöglichen. Doch indem Plessner die Beständigkeit symbiotischer Seinsformen bis in die Intimbeziehungen hinein relativiert, wird jede Verabsolutierung von Vertrautheit fragwürdig.
So lesen wir etwa: »Allein als Ergebnis und im Rückstoß zu einer Entäußerung an zweckrationale Verkehrsformen und Institutionen öffentlicher Art bildet sich ein privater Bereich natürlicher Unberührtheit und Intimität, in dem spezifisch gemeinschaftliche Bindungen, etwa der Familie, der Freundschaft, der Heimat, erfahren und verteidigt werden.« Plessner, 1985a, S. 182. 102 Ebd., S. 59 f. u. S. 72. 101
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Allerdings propagiert er damit keine Verhaltenslehre unterkühlter Distanziertheit. Er denkt das Verhältnis von Nähe und Distanz weniger als Entweder-Oder denn als komplexes Gefüge wechselseitiger Bedingtheit, wie weiter oben schon angedeutet wurde. Verbundenheit und Gemeinschaftssinn realisieren sich auch im persönlichen Refugium der Liebe und Freundschaft keineswegs völlig mühelos und konfliktfrei. Auch hier empfiehlt sich, wie Plessners Ausführungen durchaus nahelegen, um des Miteinanders willen ein Zugleich von Offenheit und Begrenztheit zu leben sowie auf wechselseitige Schonung und einen leichten spielerischen Umgang zu setzen. Um den Schutz der unergründlichen, verletzlichen Seele zu gewährleisten, sind der Charme der Ohnmacht, die Konzession persönlicher Grenzen, der komödiantische Ausweg nach meinem Ermessen Möglichkeiten, die Plessners »Ethos der Grazie« keineswegs ausschlägt, sondern letztlich in alle Lebensbereiche hineinzutragen sucht. Entgegen tradierten Mythen können auch Familien und intime zwischenmenschliche Bindungen nicht als Bereiche angesehen werden, in denen sich alles gleichsam spontan und naturwüchsig regelt, so dass auf eine Kultur distanzvoller Rücksichtnahme verzichtet werden könnte. Seit einigen Jahrzehnten befindet sich das tradierte Konstrukt einer binären Geschlechterordnung ohnehin in Auflösung. Grundlegende Veränderungen der Geschlechterrollen wurden vollzogen, Modelle sexueller Identität diversifiziert. Dies verlangt eine innovative Kultur des Zwischenmenschlichen und Zwischengeschlechtlichen, für die Plessners Konzept menschlicher Würde einen Rahmen stiften kann. Einige vertiefende Gedanken zum Phänomen der Scham sollen diese Sicht untermauern.
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4. Das Phänomen der Scham – Bruchstellen des Selbst Das Thema der Scham steht im Fokus der Anthropologie und Sozialtheorie Plessners. Scham ist ein genuin menschliches Phänomen, bedingt durch die Gebrochenheit des Menschen aufgrund seiner exzentrischen Positionalität. 103 Dabei setzt die Angst vor Beschämung, die stets von höchst negativen Empfindungen begleitet ist, wichtige seelische Schutzfunktionen in Gang. Der Mensch ist schamanfällig, weil er sich infolge seiner Doppelsinnigkeit unweigerlich entlang gewisser Bruch- oder Nahtstellen bewegt. Kontinuierlich ist er zu Vermittlungsleistungen zwischen Innenwahrnehmung und Außendarstellung herausgefordert, Aufgaben, an denen er zu scheitern droht: Neben der mangelnden Beherrschbarkeit des Körpers, die viele Schamanlässe liefert, ruft insbesondere das unwillkürliche Sichtbarwerden seelischer Vorgänge im leiblichen Ausdruck intensive Schamreaktionen hervor. Nicht minder beschämend ist überdies das Misslingen aller Versuche einer bewussten, absichtsvollen Selbstrealisierung in der Expression. Hier sind Fehlschläge gemäß dem Grundgesetz vermittelter Unmittelbarkeit quasi unvermeidlich, denn »Realisierung und Erfüllung einer Intention heißt Brechung ihres Strahls in einem fremden Medium«. 104 Folglich wird jedes Bemühen darum, einer gefühlten Lebenstiefe sprachlich, mimisch oder gestisch Ausdruck zu verleihen, letztlich als unvollständig, inadäquat oder gar entfremdend empfunden. Schambesetzt und damit würdeverletzend sind aber, wie z. B. auch Dreitzel betont, insbesondere spontane Gefühlseruptionen: »Nahezu jede Art von Gefühlsausbruch (schon dieser Ausdruck deutet auf barriereartige Kontrollen) Siehe zum Folgenden insbesondere: Lietzmann, 1999 – Hier findet sich auch eine kurze Erläuterung der Frage, weshalb Scham – gemäß der von Plessner vorgenommenen Abstufung von Seinsformen – als spezifisch menschlich gelten muss und folglich Tieren nicht zugesprochen werden kann. – Ebd., S. 78 ff. 104 Plessner, 1981, S. 418. 103
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löst Verlegenheit und Peinlichkeit aus, auch der Ausdruck positiver Gefühle wie liebevoller Zuneigung, tiefe Verehrung (wenn sie nicht vollständig ritualisiert ist) oder allzu spontan geäußerte Freude.« 105 So ergibt sich: Dem Drang der menschlichen Seele nach Expression und Mitteilung, um gesehen und verstanden zu werden, tritt eine nicht minder starke Kraft der Selbstverbergung entgegen, um peinvolle Erfahrungen abzuwenden. Denn die Teilhabe an einer gemeinsamen Welt führt unweigerlich zu irritierenden Inadäquatheiten, Brüchen und Fehldeutungen. Um extreme Rückschläge zu vermeiden, kommt es deshalb darauf an, unermüdlich Ausgleich zu schaffen zwischen dem inneren Selbsterleben als einzigartige, unauslotbare Individualität und der Zugehörigkeit zu einer nivellierenden Mitwelt, in der eine jede letztlich nicht mehr als eine unter vielen ist, sich mithin als ersetzbar und vertretbar erfährt. Im Ringen um persönliche Würde pendelt jedes individuelle Bewusstsein zwischen einem egalisierenden Aufgehen in der Mitwelt und einem Streben nach besonderer Ausprägung und Autonomie. 106 Dabei sucht die verletzliche Seele nicht nur dem fixierenden, verkennenden Zugriff der Anderen zu entgehen, auch vor dem prüfenden Blick des eigenen Bewusstseins flüchtet sie sich mit Vorliebe in ein »wohltätige(s) Dunkel«. Letztlich entspringt Schamhaftigkeit hier wie dort einer grundlegenden »Angst, mit der eigenen Tiefe konfrontiert zu werden und die Wohltaten der Unwissenheit über sich selbst zu verscherzen, indem man das Unbewußte durchwühlt und ins Licht des Bewußtseins zerrt«. 107 Da es nirgendwo eine undurchlässige Grenze zwischen Innen und Außen gibt, stellt das Zutagetreten innerster Regungen eine permanente Be-
105 106 107
Dreitzel, 1983, S. 169. Lietzmann, 1999, S. 9 f. Plessner, 2002, S. 66 f.
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drohung dar, der nur mit schamhafter Zurückhaltung und Selbstverbergung zu begegnen ist. Dennoch drängen sich unweigerlich verräterische Indizien hervor, in denen das Innere ganz unwillkürlich nach außen gekehrt und den Blicken der Anderen ausgeliefert ist. Der hier liegenden Gefahr, den unerschöpflichen Seelengrund des Menschen zu verkennen und damit verbunden Gefühle der Verletzung und Erniedrigung auszulösen, soll das oben umrissene Ethos der Grazie entgegenwirken. Sein Zweck ist, der fundamentalen menschlichen Gebrochenheit so etwas wie eine Stütze zu geben, um neue Handlungsspielräume zu eröffnen: Auf diese Weise lassen sich gegebenenfalls jenseits der Konvention individuelle Wege souveräner Ausbalancierung finden, auf denen die Person ein hohes Maß an Sichtbarkeit des ihr Eigenen zu realisieren wagt. Nicht in blinder Anpassung, sondern über Besonnenheit, d h. über ein selbsttätiges Austarieren subjektiver Impulse/Präferenzen mit überindividuellen Normen und Organisationsformen (z. B. auch sozialen Rollen) realisiert sie im eigentlichen Sinne ihren Würdecharakter. Weiß sie sich im Klima zwischenmenschlicher Dezenz vor Kompromittierung geschützt, wird sie sich vielleicht sogar ermutigt fühlen, Eigenschaften an sich selbst anzuerkennen, mit denen sie sich auf Anhieb nicht ohne Weiteres identifizieren konnte. In jedem Fall ist einer Schamhaftigkeit, die Menschen dazu veranlasst, sich Merkmale der eigenen Persönlichkeit vorzuenthalten, nur mit Schonung und Indirektheit beizukommen. Wer sich schämt, wird sich seiner Gebrochenheit bewusst, er wird sich selbst gewissermaßen fremd, weil er sich mit wichtigen, augenfällig gewordenen Teilaspekten des eigenen Seins nicht identifizieren kann. Wir haben es hier mit einer Erfahrung zu tun, die die menschliche Illusion souveräner Ganzheit konterkariert und damit in grundlegender Weise das Würdegefühl unterminiert. Durch Selbstbeherrschung und Zurückhaltung wehren wir diese erschütternde Erfahrung ab, doch allein in der Besonnenheit finden wir Wege der Bewältigung, weil wir in 152 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
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der Besonnenheit immer auch in ein bewusstes Verhältnis zu uns selbst treten. Und dennoch machen Plessner Analysen augenfällig, dass wir Schamerlebnisse benötigen, um uns weiterzuentwickeln. Ihre Funktion liegt darin, der Gebrochenheit unserer Existenzweise inne zu werden, sie grundsätzlich anzunehmen und aktiv jene Prozesse des Ausgleichens anzustrengen, durch die allein wir unserer menschlichen Würde gerecht werden. Allerdings sollten Beschämung und Bloßstellung niemals niederschmetternd sein, weil sich in diesem Fall ein gegenteiliger Effekt einstellen würde: Um dem Schmerz zu entgehen, verschanzt die Person sich in sich selbst. Aus tiefster Schamerfahrung heraus verlernt sie es zuletzt sogar, sich zu schämen. 108 Es liegt auf der Hand, dass das Ausmaß, in dem eine Person ihrem Würdecharakter entsprechen kann, von vielen Faktoren abhängt. Hier kommt es entschieden darauf an, wieviel Autonomie ihr von ihrem sozialen Umfeld her zugesprochen wird. Mein vorangegangener Exkurs sollte unter anderem deutlich machen, dass die neuzeitlichen Geschlechterrollen hier für Mann und Frau sehr unterschiedliche Entfaltungsspielräume eröffnen – ein Aspekt, der sich bei Plessner nur indirekt thematisiert findet. Das Gebot der Anpassung an Rollenimperative und die damit verbundene Gefahr der Überfremdung gelten für alle Menschen gleichermaßen. Doch die traditionellen Vorgaben für Frauen schlossen weitgehend eine selbsttätig-kritische Auseinandersetzung mit vorfindlichen Strukturen aus. So war es für Frauen noch bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein mit enormen Schwierigkeiten verbunden, aus der Privatsphäre herauszutreten, um eine unabhängige Erwerbslaufbahn einzuschlaIn einem Milieu extremer, von außen kommender Beschämung ist dies nicht möglich. Hier entwickeln sich möglicherweise Formen reaktiven Schamverhaltens, die höchst destruktiv sind oder sogar als pathologisch einzustufen sind. Siehe u. a.: Bennent-Vahle, 2013, S. 130 ff.
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gen. Höhere Bildungsambitionen, freie berufliche Entfaltung und insbesondere die Wahrnehmung öffentliche Ämter – somit der gesamte Bereich sozialer Gestaltungsmöglichkeiten – blieben ihnen größtenteils versperrt. Vor diesem Hintergrund musste das allgemeinmenschliche Phänomen der Schamhaftigkeit – von Plessner auch als »Drang zur Verhaltung« 109 definiert – im Fall der Frau nochmals eine andere, intensivierte Dimension annehmen (über die einige wenige Frauen sich nur mit offensiver Ungeniertheit hinwegzusetzen vermochten). Jedes Hervorwagen aus der Immanenz, jede Rolleninadäquatheit unterlag hier sogleich dem Hochrisiko schändlicher Ehrlosigkeit. Um der Schamangst zu begegnen, d. h. um kaum zu bewältigende Schamerlebnisse zu vermeiden, wurde scheue Zurückhaltung zur zentralen Maxime der weiblichen Existenzweise. Doch gerade dieses Phänomen offenbart, dass das Empfinden von Gebrochenheit für Frauen besonders markant werden musste. Weil der Tiefe seelischen Erlebens nur wenige Ausdrucksformen und Gestaltungsmöglichkeiten zugebilligt wurden, waren diffuse Gefühle der Unerfülltheit und Verlassenheit in ihrem Fall gleichsam vorprogrammiert. Ohne die geschlechtsspezifische Ausdifferenzierung der Scham allzu weit treiben zu wollen, wäre Folgendes festzuhalten: Die (Nicht)Bewältigung sozial vorgegebener Geschlechterrollen konnte für Mann und Frau gleichermaßen zur genuinen Schamquelle werden. War es vormals so, dass für Frauen jeder nach außen gewendete Eigensinn stigmatisierend wirkte, insbesondere wenn ein Leben außerhalb der Privatheit angestrebt wurde, so provozierte das männliche Rollendiktat andere schambesetzte Konfliktpunkte. Degradierend für den Mann waren einerseits ein Übermaß an ZagWir lesen: »Aus dieser ontologischen Zweideutigkeit resultieren mit eherner Notwendigkeit die beiden Grundkräfte des seelischen Lebens: der Drang nach Offenbarung, die Geltungsbedürftigkeit, und der Drang nach Verhaltung, die Schamhaftigkeit.« – Plessner, 2002, S. 63.
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haftigkeit und Introvertiertheit, andererseits aber auch eine ungefilterte Expressivität des Seelischen, insbesondere, wenn dies sich außerhalb privater oder halbprivater Schutzzonen abspielte. Die beiden Grundtendenzen der Seele, welche zum einen danach strebt, sich anderen sichtbar zu machen, und zum anderen davor zurückschreckt, in dieser Sichtbarkeit inadäquate Festlegungen zu erleiden, konfrontieren beide Geschlechter folglich auf je eigene Weise mit dem menschlichen Grundphänomen der Scham. Schameinbrüche, das Erleben von Ohnmacht, der Eindruck, den Dingen nicht mehr standhalten zu können, ja von den Ereignissen derart überrollt zu werden, dass man nurmehr im Boden zu versinken wünscht – dies sind Momente, in denen Menschen sich als eminent durchlässig und verletzlich wahrnehmen. Zugleich sind es Momente, die ihrerseits wieder Auslöser für eine weitere Steigerung der Schamintensität werden können. So ist es überaus quälend und entwürdigend, mit den Worten »Guck mal, sie wird ja rot« auf die Schamemotion hingewiesen zu werden. Jeder Ausdruck menschlicher Verletzlichkeit, der sich nicht selten auch in Tränen einen Weg bahnt, bedarf infolgedessen besonderer Einfühlung und Zurückhaltung. Ein Denker wie Plessner, der das schmerzliche Erleben von Beschämung zum Dreh- und Angelpunkt seines Verhaltensethos macht, ist weit davon entfernt, das hohe Lied ›männlich-kühner‹ Selbstgewissheit zu singen und eine Haltung zu propagieren, die gleichsam mit Militärstiefeln durchs Leben marschiert. Sein Akzent liegt auf der besonderen »tiefe(n) Empfindlichkeit im Kern jeder Seele, und das heißt im Herzen der Welt« 110 – eine Gegebenheit, durch die wir bereichert werden, die uns aber auch zu Schutzmaßnahmen drängt. Die emotionale Weltverflochtenheit des Menschen findet hier adäquate Anerkennung. Sie wird keinesfalls nur als Negativum gesehen, vielmehr stellt sie eine Quelle inneren Reich110
Plessner, 2002, S. 103.
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tums dar. Sie intensiviert unser Erleben, auch wenn sie unsere verstandesmäßige Verfügungsgewalt (vorübergehend) einschränken und Schamerlebnisse auslösen kann: »Gefühl ist wesensmäßig Bindung meiner selbst an etwas, Bindung, die mir eine weit geringere Selbständigkeit gegenüber Dingen, Menschen, Werten, Gedanken, Ereignissen läßt als Anschauung, Wahrnehmung und jede sonstige motivierte Stellungnahme zu Objekten. Gefühle wie Trauer, Freude, Empörung, Begeisterung, Verachtung, Bewunderung, Zorn, Rührung, Haß, Liebe sind (…) durchstimmende Angesprochenheiten, denen die Person je nach Temperament mehr oder weniger leicht ausgeliefert ist und sich ihrer gegebenenfalls nur mit aller Kraft erwehren kann.« 111
Wie auch immer man dies nun bewerten mag, gefühlsmäßige Bindungen sind unkündbar Teil unseres Menschseins und verlangen angemessene Berücksichtigung. Im folgenden Kapitel wird das Weinen als besonderer Ausdruck emotionaler Durchlässigkeit eingehender thematisiert. Es ist ein Akt, in dem die Fähigkeit zu Grenzziehungen, zur Trennung von Innen und Außen, temporär ganz außer Kraft gesetzt scheint. Doch indem der Mensch dieser Kapitulation als grenzrealisierendes Wesen weinend Ausdruck verleiht und darin seine Schwäche offenbart, behauptet er zugleich seine Menschlichkeit. Indem er sein temporäres Ausgeliefertsein an die Welt konzediert, kann er dazu veranlasst werden, neue sensiblere Umgangsweisen mit sich und anderen zu finden. Er kann einen Weg suchen, der Unerschöpflichkeit und Vulnerabilität menschlicher Existenz mit Würde und Respekt zu begegnen.
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Plessner, 1982, S. 347.
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V. Das Weinen – über Humor und Verletzlichkeit »Wie viel weniger würde geweint werden, wenn alle Thränen wegfielen, die über das Ausgelachtwerden vergossen werden, und wie viel Stoff zum Lachen würden wir einbüßen, wenn nie ein Anderer in die Lage käme, in der er sich beweint.« (Johann Eduard Erdmann) »Wenn ich über jedes sterbliche Ding lache, so ist’s, um nicht zu weinen.« (Lord Byron) »Hier ist die Täuschung, das Schmeicheln, Lügen und Trügen, das Hinter-dem-Rücken-Reden, das Repräsentieren, das im erborgten Glanze Leben, das Maskiertsein, die verhüllende Convention, das Bühnenspiel vor Anderen und vor sich selbst, kurz das fortwährende Herumflattern um die eine Flamme der Eitelkeit ist so sehr die Regel und das Gesetz, dass fast nichts unbegreiflicher ist, als wie unter den Menschen ein ehrlicher und reiner Trieb zur Wahrheit aufkommen konnte.« (Friedrich Nietzsche)
1. Das Weinen – ein vernachlässigtes Thema der Philosophie Das Lachen als Spezifikum des Menschen ist innerhalb der philosophischen Tradition seit jeher ein ›ernsthaftes‹ Thema, dem vielfach und vielfältig nachgegangen wurde. Im Verhältnis dazu wird dem Weinen weitaus weniger Aufmerksamkeit zuteil. Überblickt man die Werke der philosophischen Tradition, so wird schnell augenfällig, wie viel mehr über das Lachen geschrieben wurde als über das Weinen, welches, wenn 157 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Das Weinen – über Humor und Verletzlichkeit
überhaupt, nur in Nebenbemerkungen oder randläufig im Zusammenhang langer Erläuterungen zu Humor und Lachen mitbehandelt wurde. 1 Warum das so ist, darüber lässt sich allenfalls spekulieren. Stimmt aber, was Plessner über das Weinen schreibt, nämlich dass »zwischen Anlaß und Ausbruch (…) ein auf mich selbst gerichteter Akt des Sich-besiegt-Gebens eingeschaltet« 2 sein muss, so drängt sich von hierher eine mögliche Erklärung auf: Weinen als innerliches Sich-Loslassen fügt sich nicht problemlos in philosophische Konzepte, die auf souveräne Welt- und Selbstbeherrschung durch vernünftige Reflexion gerichtet sind. 3 Tränen weisen über Erkenntnis und rein rationale Entscheidung bzw. Handlungsabstimmung hinaus. Plessner gehört zu den wenigen, die eingehend auch über das Weinen nachgedacht haben. Jemand wie er, der von der »konstitutionellen Heimatlosigkeit« Diese Gegebenheit erklärt Stern damit, dass »das Lachen sich in mehr variierten Formen darbietet und mehr Möglichkeiten zu philosophischen Diskussionen beinhaltet«. – Stern, 1980, S. 28 – Doch auch innerhalb der Psychologie wurde das Thema »Weinen« lange Zeit vernachlässigt. Auf diesen Mangel verweist u. a. auch Kottler, der Ende der 90er Jahre eine Untersuchung über Die Sprache der Tränen veröffentlichte: Kottler, 1997, S. 9 – Siehe auch: Kropiunigg, 2003. 2 Plessner, 2003c, S. 335 – Nicht unerwähnt sollte in diesem Zusammenhang der Vorsokratiker Heraklit bleiben, den antike Denker den »Dunklen« oder auch »den weinenden Philosophen« (z. B. Lukian von Samosata) nannten, weil er die Torheit der Menschen beklagte und als Einsiedler lebte. Er galt als ein die Stille und die Einsamkeit suchender Sonderling, der sich im Älterwerden zunehmend in seine eigene Welt zurückzog und, wie berichtet wird, in den griechischen Wäldern lebte, wo er sich von Gras und Beeren ernährte. 3 Dementsprechend laufen einige philosophische Erziehungskonzepte der Aufklärung auf die unbedingte Forderung hinaus, kindliches Weinen zu unterbinden, um der »Verweichlichung des Geistes« entgegenzuwirken. Stellvertretend für viele sei hier John Locke zitiert: »Das Weinen ist ein Fehler, der bei Kindern nicht geduldet werden sollte; nicht nur wegen des unangenehmen und ungeziemenden Lärms, mit dem das Haus erfüllt wird, sondern aus gewichtigeren Gründen im Hinblick auf das Kind selbst; damit haben wir uns in der Erziehung zu befassen.« – Locke, 2007, S. 132. 1
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des Menschen spricht, der das Menschsein von unaufhebbarer Gebrochenheit gezeichnet sieht, der am eigenen Leibe Vertrautheits- und Vertrauensverluste erleiden musste, vermag mit intensivierter Sensibilität den besonderen Weltbezug des Weinenden ins Wort zu setzen.
2. Selbstoffenbarung – der besondere Weltbezug des Weinenden In unseren Tränen offenbaren wir uns als emotional in die Welt eingebunden, als bezogen auf andere, als angewiesen auf diese und ihnen ausgesetzt. Dabei ist das Weinen nach meinem Ermessen ebenso komplex und vielfältig in seinen Erscheinungsweisen wie das Lachen. 4 Wir können das Phänomen des Lachens auch gar nicht losgelöst von dem des Weinens betrachten und umgekehrt, denn beide Phänomene sind eng miteinander verwoben. Weinen steht nur vordergründig in Kontrast zum Lachen. Oftmals gehen beide Ausdrucksformen nahtlos ineinander über. So lachen wir, wenn uns zum Weinen zumute ist, und gleichfalls vermag ein Lachausbruch einen Strom von Tränen hervorzutreiben. Unserer Freude können wir je nachdem sowohl lachend als auch weinend Ausdruck verleihen. Bitteres Lachen ist oft Indiz verkappter Trauer, während uns in Momenten außerordentlicher Freude und Ergriffenheit das Auge überquillt. Wo aber liegt der Unterschied? Wie Plessner darlegt, bleibt der weinende Mensch – anders als der lachende – als ganze Person in den körperlichen Prozess des Weinens einbezogen. 5 Innerlich von den Gegebenheiten erfasst, ergriffen, oft zutiefst erschüttert, ergibt er sich, überlässt sich widerstandslos dem physischen VorZur Phänomenologie des Weinens, siehe u. a.: Schwarz, o. J.; Stern, 1980; Kottler, 1997. 5 Vgl. insgesamt: Plessner, 2003c, S. 201–387. 4
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gang des Weinens. Es vollzieht sich also ein Akt der Kapitulation, ein Sich-besiegt-Geben, ein innerliches Loslassen und damit verbunden ein Sich-selbst-Überantworten an den leiblichen Vorgang des Weinens. Anders als im Lachausbruch distanziert sich die Person nicht von der jeweiligen Situation, etwa von den sinnwidrigen Tatsachen der Welt. Sie stößt das Erlebte nicht ab oder erhebt sich darüber, sondern lässt sich ganz und gar erfassen und durchziehen, weil sie momentan keine Gestaltungsmöglichkeiten mehr für sich erkennen kann und ihr jede Gegenwehr sinnlos erscheint. Somit ist das Weinen eine Art temporäre Selbstaufgabe im Sinnverlust, welche die menschliche Person als ganze betrifft. Fernerhin ist es ein hervorscheinendes Symbol menschlicher Intensität, ist Signal einer Woge emotionaler Macht, die überwältigend und unbezwingbar erscheint. Und dennoch ereignet sich darin in der Regel durchaus auch ein bewusster Akt, mit dem sich jemand qua Entscheid der aufkommenden Schwäche gleichsam überantwortet. Erst wenn man sich geschlagen gibt, beginnt man zu weinen. Im Weinen liegt also die Akzeptanz von Unvermögen und Schwäche, man gesteht sich zu, nicht mehr Herr der Lage zu sein. Wir alle wissen, dass es wirksame Rollenbilder und gesellschaftliche Normvorschriften gibt, die das Weinen zu reglementieren oder ganz zu unterbinden suchen. Oftmals aber wäre das Zulassen von Tränen ein wichtiger und hilfreicher Schritt, um sich den Schwierigkeiten und manchmal auch der Tragik einer Situation zu stellen. Der Psychologe Jeffrey A. Kottler schildert in einer beeindruckenden Erzählung, wie er selbst unter bedrohlichen Umständen das Weinen gelernt hat. Er bezeichnet dieses Erlebnis als »transformative Weinerfahrung« 6 , die ihn dahingehend belehrte, Tränen nicht als Niederlage, sondern als Symbol einer besonderen Art des Triumphes zu verarbeiten.
6
Kottler, 1997, S. 208–225.
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Bis zu der einschneidenden Episode verstand er es perfekt, als versierter Meister der Selbstbeherrschung jeden Hinweis zu kaschieren, der seine Gefühle hätte preisgeben können. Nun ereignete es sich, dass er beim Überqueren einer Meeresbucht in Lebensgefahr geriet und nur knapp dem Tod durch Ertrinken entkam. Wie er rückblickend konzediert, leistete er den in höchster Lebensgefahr aufkommenden Tränen anfänglich verbissen Widerstand, wobei er das Bild heroischer Filmhelden vor Augen hatte: »Ich weigerte mich, meine Tränen anzuerkennen, ebensowenig, wie ich zugeben wollte, daß ich Angst hatte« 7 , heißt es. Zunehmend düstere Gedanken, »das Entsetzen über unsere Bestimmung« überkamen ihn, aber erst die Vorstellung, Frau und Sohn auf sich gestellt zu hinterlassen, treibt schließlich einen unbezwingbaren Strom der Tränen hervor. Noch die ganze folgende Nacht ist von wellenartigen Tränenausbrüchen bestimmt. Es war, »als ob eine jahrelange Selbstbeherrschung, die ich sorgfältig aufrechterhalten hatte, jetzt einfach davonfloß«. 8 So weinte er – eine Vielzahl von Gefühlszuständen durchlaufend – Tränen der Wut und Erleichterung, Tränen der Besorgnis und Dankbarkeit, aber auch Tränen der Freude und des Entzückens. 9 »Indem ich meine Tränen anerkannte, begann ein Abenteuer für mich, das ganz anders war als das, was ich gerade im Priel erlebt hatte. Indem ich meinen Tränen zuhörte und ihre verborgene Bedeutung enthüllte, war ich in der Lage, zahlreiche Veränderungen in meinem Leben einzuleiten, sowohl in der Art, wie ich über mich dachte, als auch in den Mitteln, wie ich meine Gefühle anderen gegenüber ausdrückte.« 10
Entscheidend für die transformative Kraft dieser Weinkrise ist offensichtlich, dass, ausgelöst durch eine Grenzerfahrung, Ebd., S. 212. Ebd. 9 Ebd., S. 214. 10 Ebd., S. 215. 7 8
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ein Panzer aufbricht, der in jungen Jahren um das Selbst angelegt wurde. Eine intensivierte emotionale Welterfahrung wird in Gang gesetzt, eine Erfahrung, die von ihm selbst als echt und wirklich wahrgenommen wird und völlig unerwartete Aufschlüsse erteilt. Eine vergleichbare tränenreiche Verwandlung erfand der Psychoanalytiker Irvin Yalom für den suizidgefährdeten Philosophen Nietzsche, den er in seinem Roman Und Nietzsche weinte eine ›Redekur‹ bei dem angesehenen Arzt Josef Breuer (einer der Lehrer Freuds und Pionier der Psychotherapie) durchlaufen lässt. Breuer erkennt schnell, dass er zu dem stolzen und verschlossenen Nietzsche nur dann vordringen kann, wenn er in Vorleistung geht und seine eigene Hilfsbedürftigkeit erkennbar macht. So beginnt er damit, offenherzig von seiner Obsession für die junge Patientin Bertha zu sprechen. Er erbittet in dieser Angelegenheit den philosophischen Rat Nietzsches, der ebenfalls von seiner missglückten Liebesgeschichte mit der jungen Russin Lou AndreasSalomé berichtet. Am Ende des Romans findet ein Austausch statt, in dem Nietzsche seine rasende Wut und seine Selbstverachtung im Blick auf die Lou-Affäre ganz frei heraus offenbart. Er sei zur »Beute der Absichten anderer« 11 geworden, zum Opfer einer Frau, die – unfähig, ihn zu sehen – letztlich seines Zornes unwürdig sei. Breuer reagiert darauf mit der Frage, ob denn er selbst, Nietzsche, seinerseits diese Frau gesehen habe oder ihr lediglich seine Bedeutungen übergestreift habe, genau wie Breuer selbst dies in seiner Sicht auf Bertha getan habe. In diesem Sinne fragt er: »Haben Sie sie gesehen? Oder haben auch Sie nur Beute gewittert – die Fortdenkerin, den Acker für ihre geistige Saat, die Erbin? Oder vielleicht haben Sie, wie ich ihre Schönheit gesehen, Jugend, ein Kissen aus Satin, ein Gefäß, in welches Sie Ihre Lust
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Yalom, 1992, S. 432.
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entleeren könnten? Und war sie nicht auch Trophäe im schwitzigen Ringen mit Paul Rée?« 12
Nietzsche reagiert auf diese gewiss nicht unberechtigten Fragen, indem er mit unverblümter Geringschätzung über das weibliche Geschlecht spricht. Als Breuer, der Nietzsches tiefsitzende Verblendung bezüglich der Frauen schweigend konstatiert, sich »am Ende seiner Weisheit« 13 angelangt sieht, bricht Nietzsche plötzlich und unerwartet in lautes Schluchzen aus. Auf die Bitte Breuers hin »Verleihen Sie Ihren Tränen eine Stimme« 14 offenbart sich Nietzsche folgendermaßen: Er spricht von der Befreiung, die ihm vor allem durch Breuers Zuwendung zuteilwurde. Eine »verrostete Pforte« sei aufgestoßen worden, »eine dicke innere Eiskruste« sei plötzlich gerissen, weil es ihm in der Begegnung mit Breuer möglich wurde, sich mitzuteilen, aufrichtig über seine Einsamkeit und seine Selbstsucht zu sprechen. Das Gesicht in den Händen vergraben, bekennt der weinende Nietzsche: »Seltsam, aber im nämlichen Augenblick, da ich – zum ersten Mal in meinem Leben – eine Einsamkeit in ihrer ganzen Bodenlosigkeit und ihrem ganzen Schrecken zu erkennen gebe, in diesem selben Augenblick schmilzt die Einsamkeit weg!« Endgültig ist es dann um den stolzen Philosophen geschehen, als sein verständnisvolles Gegenüber ihn »lieber Freund« nennt. 15 Yaloms Roman zeigt uns, was mit Nietzsches umpanzertem Selbst hätte geschehen können, wenn tatsächlich ein warmherzig zugewandter, wahrhaftiger Gesprächspartner in sein Leben getreten wäre. Wenngleich der Roman offenlässt, ob und wie weit auch in puncto Frauen ein Umdenken in Gang gesetzt wurde, so vermittelt er uns doch – ähnlich wie Kottlers Schilderungen – unmissverständlich die erlösenden 12 13 14 15
Ebd. Ebd., S. 433. Ebd., S. 434. Ebd., S. 434–436.
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Effekte, die ein Weinausbruch für eine Person haben kann, die in traditionell männlichen Rollenbildern verfangen ist. Zugleich wird augenfällig, wie ungemein wichtig es für die persönliche Weiterentwicklung ist, sich der eigenen Schwäche und Begrenztheit zu stellen. Auf diesen Punkt werde ich in den nachfolgenden Abschnitten meiner Arbeit noch genauer eingehen. Nicht zuletzt in Bezug auf diese Episoden im realen Leben eines Psychologen bzw. innerhalb der fingierten Rede-Kur Nietzsches lässt sich sagen, dass die Anlässe für Tränen ebenso vielfältig sind wie die Arten des Weinens: physischer Schmerz, Kränkung, Desillusionierung, Wut und Zorn, Trennung/Scheidung, Trauer, Melancholie, Verzweiflung, innere Konflikte, aber auch Freude und Ergriffenheit wären hier in ihren jeweiligen Ausdrucksformen zu differenzieren. Weinen dient als eine Art Parasprache – je nachdem – als Stellvertreter oder Verstärker für das gesprochene Wort. Häufig transportieren Tränen eine Einladung, nach ihrer Bedeutung zu fragen. Aus Sicht Kottlers ist Weinen weniger Ausdruck von Leid und Hilflosigkeit als vielmehr eine unmittelbare Verhaltensform dieser Gefühle. 16 Ob und worüber man sich zu weinen zugesteht, hat viel mit dem sozial vermittelten Selbstverständnis einer Person zu tun, wenn es auch Fälle geben mag, wie die geschilderte Grenzsituation, oder auch extremen physischen Schmerz, die auch den ›härtesten Burschen umhauen‹. Die Frage ist hier, wie weit jemand es sich überhaupt erlauben darf oder will, von Dingen oder Umständen überwältigt zu werden, wie weit er es sich vor allem gestattet, berührbar zu sein und seine Bewegtheit nach außen hin sichtbar werden zu lassen. Welche sind die Dinge, denen man solche Macht über sich zubilligt bzw. zubilligen darf? Hätte Nietzsche sich auch im Gespräch mit einer Frau derart öffnen können? Ob und worüber man sich zu weinen erlaubt, 16
Siehe: Kottler, 1997, S. 25.
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hat zweifelsohne sehr viel mit dem jeweiligen Selbstbild zu tun. Zumeist stellt Weinen ein echtes Problem dar, weil wir uns in Tränen aufgelöst als Gefühlswesen offenbaren und erheblich an Souveränität einbüßen. 17 Denn Weinen signalisiert die Verwobenheit einer Person mit der sie umgebenden Wirklichkeit, nicht selten sogar ihre Abhängigkeit von einem spezifischen Umfeld, es zeigt einen Mangel an Gefasstheit, Gelassenheit und Standfestigkeit in der Welt an. Wir alle wissen, dass das Weinen eher als Sache – zumeist als ein Manko – des vermeintlich schwachen Geschlechts angesehen wurde und wird. Liegt hier der Grund, warum so wenige Philosophen darüber nachgedacht haben? An dieser Stelle erscheint es mir hilfreich, über einen kleinen Exkurs zu Nietzsche dieser Frage nachzusinnen.
Exkurs 3: Und Nietzsche weinte nicht Es gilt eine kurze Zwischenbemerkung zu Nietzsche in seiner realen – d. h. nicht von Yalom fingierten – Gestalt zu riskieren, um ein Schlaglicht auf ein fatales Zusammenspiel von Größenvision und realer Selbstverkennung zu richten. Wenngleich der psychologische und gesellschaftskritische Feinsinn dieses Denkers von unschätzbarem Wert für die Philosophische Praxis ist, möchte ich angesichts seiner Lebensgeschichte das Augenmerk darauf lenken, inwiefern gerade er den eigenen Dämonen nicht zu entkommen vermochte. Wenn Yalom aus existenzieller Perspektive konstatiert: »ein so brillanter Mann, aber so isoliert und verzweifelt, und so hilfsbedürftig« 18 , so ist diesem Urteil aus meiner Sicht zweifelsohne zuzustimmen. Nicht zuletzt Nietzsche ist ein Anna Kröning schreibt: »Tränen sind Verräter. Sie offenbaren Gefühle eines Menschen, und auch der Versuch, sie zu unterdrücken, bleibt meist nicht unverborgen.« – Kröning, 2015, S. 1. 18 Yalom, 2017, S. 305. 17
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Beispiel dafür, wie sehr philosophische Grandiosität durch unverarbeitete Umwelteinflüsse der Kindheit bedingt sein kann, Einflüsse, die das Innerste seiner Person usurpierten und es nur um den Preis höchster Seelenqual zur Quelle genialer Erkenntnisse werden ließen. Zu bilanzieren wäre, dass missbräuchliche und manipulative Erziehungsmethoden im protestantischen Elternhaus den Denker in einen permanenten Krieg mit sich selbst trieben. Eine schon früh eingeimpfte, durch seine nächsten Angehörigen lebenslang reaktivierte christliche Mentalität drangsalierte den freiheitshungrigen Geist dieses Mannes unentwegt, so dass er in zunehmendem Maße auf selbstbetrügerische Machtdemonstration verfiel und zuletzt in Selbstvergottung und Größenwahn endete. Seine Philosophie spiegelt, wie Jorgen Kjaer überzeugend darlegt, einen enormen inneren Zwiespalt. Vielfach dient der hohe, ambitionierte Gedankenflug dem Zweck, die auch im Erwachsenenalter fortbestehende Abhängigkeit, Gefügigkeit und weiche Empfänglichkeit der eigenen Seele zu verleugnen, indem er »wiederholt Argumente liefert, die seine innere Souveränität als schon vorhanden erscheinen lassen«. 19 Die Ursachen für diese fatale Dynamik liegen in den besonderen Lebensumständen und Verlusterfahrungen seiner frühen Kindheit, insbesondere im bevormundenden Moralismus seines Herkunftsmilieus, sprich in der offenkundigen Kjaer, 1990, S. 125 – Nietzsches augenfällige Unfähigkeit, eine Konfrontation mit seiner Familie durchzustehen, sich ihr gegenüber abzugrenzen und Standfestigkeit gegen sie zu wahren, findet bei Kjaer eine eindringliche psychoanalytische Deutung. Ausgelöst durch den Tod des Vaters und den eines jüngeren Bruders wenig später habe sich bei Nietzsche eine tiefe Schuldproblematik eingestellt, die es ihm fortan unmöglich machte, negative Gedanken und Empfindungen seiner Familie gegenüber direkt zu äußern. Die hohen Erwartungen der Mutter, die seine Autonomiebestrebungen konsequent mit Liebesentzug bestrafte, machten ihm dauerhaft eine Abkopplung von der Familie unmöglich. – Siehe: Kjaer, 1990, insbes. Kap. VII.
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Selbstoffenbarung – der besondere Weltbezug des Weinenden
Herabwürdigung seiner persönlichen Integrität durch Mutter und Schwester, die sich kontinuierlich auch in der späteren Korrespondenz mit ihnen fortsetzt. Die besondere Tragik seiner Geschichte zeigt sich darin, dass er auf diese Übermacht seines weiblichen Umfeldes in unheilvoller Weise reagiert, indem er »die nicht eingestandenen Schwächen mit brutaler Aggressivität auf andere projiziert«. 20 Zentrale Elemente seines Wirkens wurzeln letztlich in diesen – nie bewältigten – inneren Konflikten: seine Philosophie des Willens zur Macht, seine scharfe Kritik an einer bürgerlichen Ressentimentmoral und an dem damit verknüpften demokratischen Gleichheitsgedanken, seine Verherrlichung naturhafter Vitalität und (vermeintlich) ressentimentfreier Vornehmheit, insbesondere aber seine Invektiven gegen Frauen als rachsüchtige Trägerinnen eines falschen, heuchlerischen Christentums. 21 Aufs Ganze gesehen macht hier die Verleugnung tatsächlicher Gefühle im Dienst eines idealen Selbstbildes Schule: Während tiefe Bedürfnisse nach emotionalem Kontakt sowie die Sehnsucht nach Nähe, Zuwendung und zwischenmenschlicher Anerkennung ihn quälen, wird es – im Nachklang der Lou-Affäre – endgültig zu einem Grundzug Nietzsches, diese innere Wirklichkeit durch »grandiose Gesten und Posen selbstbetrügerisch zu camouflieren«. 22 Andererseits wird er durch die realen Zugeständnisse an die christlich verbrämte ›Kleingeisterei‹ seiner Angehörigen unablässig zum Abtrünnigen seiner hochfliegenden Unabhängigkeitsmoral. So zeigt Kjaer, 1990, S. 125. Zu Nietzsches Weiblichkeitsbildern, siehe: Bennent-Vahle, 2014. – Auch Simone Weil erkennt in Nietzsche die Attitude »ungezügelter Arroganz«, wo »etwas Demut« angebracht gewesen wäre, so erhellend seine Einsichten für sie auch oftmals waren. Nach Angelica Krogmann gelangte Weil zu folgendem Schluss: »Bei wem Unglück Arroganz bewirke, der könne ein Gegenstand des Mitleids, nicht der Bewunderung sein.« – Siehe: Krogmann, 1991, S. 49. 22 Kjaer, 1990, S. 139. 20 21
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Das Weinen – über Humor und Verletzlichkeit
der Briefwechsel, dass Nietzsche der suggestiven Macht einer knebelnden religiösen Mentalität hilflos ausgeliefert bleibt, denn er wehrt sich kaum je offen und direkt gegen übergriffige Reglementierungen seiner nächsten Familienmitglieder, scheut durchgängig die offene Kontroverse. Gefühle der Schwäche und des Ausgeliefertseins verleugnend, legt er sich diese Vermeidungsstrategie als Unabhängigkeit und besondere Grandesse souveräner Intellektualität aus, welche sich über die moralingetränkte Gesinnung weibischer Sklavenseelen unendlich erhaben weiß. Ja, dass diese niederen Wesen ihn nicht begreifen, ist der vorzüglichste Beweis für das übermenschliche Format seiner philosophischen Mission. Angesichts dieser von Kjaer minutiös untersuchten Spaltung der Persönlichkeit Nietzsches, die in einen »willensschwachen weiblichen Fatalismus« und einen »aktiven willensstarken männlichen Fatalismus« 23 auseinanderfällt, war es gewiss ein genialer Einfall des Psychologen Yalom, dem stolzen männlichen Geist dieser Philosophenpersönlichkeit wenigstens in der Fiktion beizukommen. Wie dargelegt konstruiert der Roman Und Nietzsche weinte eine Konstellation, die dem existenziell angeschlagenen, sich selbst verbergenden Philosophen die Möglichkeit eröffnet, zu seinen wirklichen Gefühlen vorzudringen und seinen Tränen freien Lauf zu lassen. Er sagt uns: Erst eine Erfahrung emotionaler Übermacht vermag die Chance zu eröffnen, sich den inneren Dämonen zu stellen, erst die vorbehaltlose Zuwendung eines unprätentiösen Anderen birgt die Chance, daraufhin einen konstruktiven Abstand zu sich selbst einzunehmen, d. h. damit zu beginnen, sein Leben im eigentlichen Sinne zu führen. Nur so kann eine existenziell angeschlagene Person Zugang zu einem gemäßigten (lebensnahen) Modus der Selbstdistanzierung finden, wie ihn das Plessnersche Ethos würdevoller Selbstrealisierung vorsieht.
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Ebd., S. 128.
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Weinen – eine Frage des Geschlechts?
3. Weinen – eine Frage des Geschlechts? Blicken wir noch kurz auf einige der Positionen, die explizit einen Geschlechterunterschied im Weinen markieren. Im Vortrag »Über Lachen und Weinen« von Johann Eduard Erdmann, verfasst in der Hochphase einer geschlechterbezogenen Dichotomisierung menschlicher Erfahrungsweisen, heißt es: »Im Ganzen ist die Thräne weiblichen Geschlechts und hat zu ihrer eigentlichen Domäne das Frauen-Auge. Der Frau erlaubt man in vielen Lagen sich zu bedauern und also zu weinen, wo man vom Manne (oft unbilliger Weise) verlangt, er solle der Gefahr spotten, des Missgeschicks lachen.« 24 In der Folge diagnostiziert Erdmann dann – dieses feminine Weinen genauer unter die Lupe nehmend – eine weibliche Tendenz, sich wirkungsvoll als »maltraitirtes Opferlamm« 25 zu inszenieren. Ähnliche Gedanken finden sich bei Thomas Hobbes. Hier lesen wir: »Die Frauen sind mehr geneigt zu weinen als die Männer, da sie nicht nur mehr gewohnt sind, ihren Willen durchzusetzen, sondern auch ihre Kräfte an der Macht und Liebe anderer zu messen, die sie schützen.« 26 Hierauf Bezug nehmend argumentiert Alfred Stern in seiner aufschlussreichen Studie über Lachen und Weinen, welche beide Reaktionsweisen auf die je spezifische Wertorientierung eines Menschen bezieht, folgendermaßen: »Im Sinne unserer axiologischen Theorie glauben wir, daß die Frau darum häufiger weint als der Mann, weil sie empfindsamer ist als ihr Geschlechtspartner und darum Gemütsbewegungen stärker ausgesetzt ist als er.« Allerdings verspüren die empfindsamen Frauen auch häufiger Wertunsicherheiten und vergießen folglich häufiger nicht ganz unproblematische Tränen des Mitleids. 27 Ebenso würden sich 24 25 26 27
Erdmann, 1875, S. 17. Ebd. Zit. nach: Stern, 1980, S. 90. Ebd., S. 143.
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Das Weinen – über Humor und Verletzlichkeit
Frauen verstärkt eines spöttischen, sich rächenden Lachens bedienen, um ihre soziale Unterlegenheit zu kompensieren. 28 Auch Kottler, der eine differenzierte, gesellschafts- und kulturbewusste Analyse der Geschlechterdifferenz bezüglich des Weinens vornimmt, stellt fest: »Frauen sprechen die Sprache der Tränen weitaus fließender als Männer. Sie sind emotional wesentlich ausdrucksstärker, wesentlich geneigter zu weinen, und wenn sie es tun, dauert es länger.« 29 Im Gegensatz zu den meisten anderen, die hier eine Differenzierung vornehmen, kritisiert Kottler allerdings, wie wir gesehen haben, die heldenhafte Ungerührtheit des Mannes und bricht eine Lanze für männliche Tränen, welche aus seiner Sicht seltener, aber subtiler sind. So fließt unter der Hand sogleich wieder eine generalisierende Höherbewertung des Mannes ein. 30 Unbestritten bleibt für Kottler indes, dass der unterschiedliche Gefühlsausdruck von Mann und Frau aus sozialer Konditionierung hervorgeht. Zudem stellt er heraus, dass sich überhaupt erst ab dem 13. Lebensjahr deutliche Geschlechtsunterschiede im Weinverhalten abzeichnen. Auch konstatiert Kottler, dass sich in der Beurteilung des Weinens von Männern und Frauen zeige, wie markant hier mit »zweierlei Maß gemessen wird«. 31 Es ließen sich aller Wahrscheinlichkeit nach noch weitaus mehr Belege dafür finden, dass – zumindest im Zuge neuzeitlicher Zuschreibungen geschlechtsspezifischer Eigenschaften – das Weinen primär zur Sache der Frauen erklärt wurde. Jenseits des zähen Kampfes zwischen Vernunft und Neigung hatte das ›Weib‹ idealerweise eine vordualistische Wesensharmonie zu repräsentieren. Faktisch aber bedeutete dies in der Regel, dass Frauen Gefühlsduselei und weinerliche Empfindelei nachgesagt wurden, woraus für das schöne Ge28 29 30 31
Ebd. S. 189 f. Kottler, 1997, S. 154. Vgl. ebd., S. 180–207. Ebd., S. 192.
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Weinen – eine Frage des Geschlechts?
schlecht Unterordnung und Rechtsunmündigkeit resultierten. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund erklären sich vermutlich die vielen negativ-urteilenden Ausblicke auf die moralische Qualität des Weinens. Der Soziologe und Gestalttherapeut Hans-Peter Dreitzel weist darauf hin, dass die gesellschaftlichen Reaktionen auf das Weinen einer Person in Abhängigkeit von ihrem Geschlecht deutlich divergieren. Er formuliert: »So bereiten die Tränen einer Frau gewiß in der Regel Verlegenheit, die Tränen eines Mannes aber sind von schockierender Peinlichkeit (…) Therapeutische Erfahrung zeigt, daß viele Männer das Weinen, diese genuin menschliche Ausdruckform, buchstäblich verlernt haben (…).« 32 Folgender Gedanke drängt sich hier in Anbetracht der Geschlechterrollen auf: Das Zuviel an Sichtbarkeit, welches sich thematisch mit dem Weinen verknüpft, hat für Mann und Frau einen durchaus anderen Stellenwert. Während Männern offenbar der Verlust von Selbstbeherrschung zum Problem wird, weil im Weinen ein physischer Automatismus von der Person Besitz ergreift, stößt ein derartiger ›Dammbruch‹ bei Frauen auf weitaus mehr Nachsicht. Doch dies allein reicht, wie ich meine, nicht hin, um zu verstehen, warum Frauen sehr vieler näher am Wasser gebaut sind als Männer, wie man so schön sagt. Diesbezüglich wäre auf der Basis meiner vorangegangenen Erläuterungen zur Geschlechtersituation noch eine andere Überlegung anzuschließen. Für Plessner hat die Schamreaktion, wie dargelegt, damit zu tun, dass Personen in grundlegender Weise gesellschaftliche Normen internalisieren und den Maßstab anderer in der Selbstbewertung übernehmen. Sofern eigene Handlungen oder auch nur Intentionen gegen soziale Erwartungen verstoßen, treten umgehend Schamempfindungen auf. Es bedarf nicht unbedingt der Gegenwart anderer, um solche Reflexe auszulösen, oft geschieht dies schon im Alleinsein. Derartige 32
Dreitzel, 1983, S. 169.
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Das Weinen – über Humor und Verletzlichkeit
Auswirkungen mussten sich nun aber bei einem Personenkreis, dem in den meisten Fällen jegliche Form von eigenständiger Lebensgestaltung versagt blieb, sehr viel schneller einstellen als bei anderen, denen man durchaus einen Autonomieradius zubilligte. Jedes Über-die-Stränge-Schlagen, jedes unbekümmerte Austoben und Ausprobieren barg im Fall der Frau/des Mädchens die Gefahr massiver Selbstverurteilung in sich. Hier zeigt sich gewissermaßen das Vollbild der Beschämung: »Es tritt nun kein Innen nach Außen – sondern ein Außen bricht ins Innen ein. Das allgemeine Ich vermischt sich mit dem individuellen Ich.« 33 Im Zeichen der klassischen Frauenrolle geschieht dies in ziemlich auswegloser Weise. Schon dieser Blickwinkel genügt, um zu konzedieren, dass die Beschämungs- und Weinrisiken fraglos recht ungleich verteilt waren. Geht man aber mit Plessner zudem von der anthropologischen Tatsache aus, dass Menschen prinzipiell grenzrealisierende Wesen sind, so manifestiert sich ein weiteres, nunmehr spezifisch weibliches Weinmotiv. Wem per se untersagt ist, selbsttätig eigene Möglichkeiten und Chancen abzuwägen, wird dies an sich selbst als fundamentale Kränkung menschlicher Würde erleben. Indem solchermaßen das urmenschliche Verlangen, dem Inneren im Außen eine Stimme zu geben, blockiert wird, erfährt die Fülle seelischen Erlebens eine massive Beeinträchtigung, zumal die Seele der Entäußerung bedarf, nicht zuletzt, um sich der eigenen unantastbaren Tiefe gewahr zu werden. Auf solche Drosselung lässt sich in vielfacher Weise reagieren, zumeist geschieht dies unbewusst oder reflexartig. In Tränen und Trauer liegt eine mögliche Antwort. Viele andere sind im Blick auf vergangene Zeiten auszumachen: moralisierende Überidentifikation mit der Konvention, Selbsterhebung zur Tugendwächterin oder umgekehrt mutiges offensives Durchbrechen der Geschlech-
33
Lietzmann, 1999, S. 56.
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Moralische Bewertungen
tervorgaben und Inkaufnahme gesellschaftlicher Ächtung, die selten ausblieb. 34
4. Moralische Bewertungen Wo das Weinen im philosophischen oder psychologischen Kontext thematisiert ist, wird es nicht selten als moralisch eher fragwürdig angesehen, wobei durchaus unterschiedliche Begründungen vorgebracht werden. So unterstellt der schon erwähnte Essayist Johann Eduard Erdmann dem Weinen einen egoistischen Grundzug, da man letztlich immer nur über sich selber weine. Auch Arthur Schopenhauers These, die das Weinen aus der menschlichen Fähigkeit des Mitleidens hervorgehen lässt, läuft in letzter Instanz auf eine Fundierung des Weinens im Selbstmitleid hinaus: Über den Anblick fremder Leiden werden wir uns der eigenen Schwäche und Verwundbarkeit bewusst, was uns reaktiv zu Tränen veranlassen kann. Letztlich ist es also primär selbstbezogene Leidempfindlichkeit, welche über sympathetische Identifikation mit anderen stimuliert und zutiefst bedauert wird. Weint ein Mensch, so beklagt und bejammert er am Ende nur sich selbst als leidgeprüftes Wesen. 35 Hierzu passt, dass unsere mitfühlenden Tränen meistens ziemlich schnell versiegen, wenn wir uns mit den Werten anderer nicht länger identifizieren können. Etwa ein Jahrhundert später findet der PhiloFür all dies und viele weitere spezifisch weibliche Formen existenzieller Gebrochenheit kann eine Fülle von Lebensgeschichten angeführt werden, wovon ich an dieser Stelle absehe. 35 Siehe: Schopenhauer, 1977, S. 465 ff. – Auf Ähnliches zielt Anatol France ab, wenn er von jenem Egoismus spricht, »der dem Menschen alle Akte der Großmut und Hingebung einflößt, indem er ihm erlaubt, sich in allen Unglücklichen wiederzuerkennen und ihm ermöglicht, sein Missgeschick im Missgeschick der anderen zu beweinen und ihn veranlasst, einem Sterblichen zu Hilfe zu eilen, der ihm ähnlich ist durch die Natur des Schicksals«. – France, 1922, S. 187 f. 34
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soph Balduin Schwarz mit dem Begriff der »Selbstverhaftung« des Weinenden einen besonders starken Ausdruck für die Gefahr der Ichzentriertheit, die vor allem im Vergießen rein affektiver Tränen liege. Sentimentale Rührseligkeit, die ohne Tiefe in emotionalen Sensationen schwelgt, gilt Schwarz als negativwertige Form des Weinens. Nicht weniger fraglich ist für ihn jedes schwächliche Sich-gehen-Lassen in Situationen, die ein beherztes Eingreifen und Handeln verlangen. 36 Insbesondere aber ist das Weinen in Misskredit geraten, weil es häufig als Instrument oder Waffe zum Einsatz kommt, mit der man andere zu beeindrucken, zu bezwingen oder gefügig zu machen sucht. 37 Man denke etwa an eindrucksvoll inszenierte Krokodilstränen und taktische Heulanfälle (beides angeblich ein besonderes Talent weiblicher Protagonistinnen); man denke aber auch an die sonderbaren Tränen pathetischer Politiker, die sich am Rednerpult von Patriotismus und eigenen Großtaten emotional überwältigen lassen, während man ihnen ansonsten wenig Gefühligkeit nachsagen kann. Insgesamt scheinen dramatisch zur Schau gestellte und medial aufbereitete Flennereien aktuell die Kehrseite einer Moderne zu sein, in der soziale Ungerührtheit und geschäftstüchtige Coolness zunehmend das Feld beherrschen. Wie echt die Tränen eines Gegenübers sind, ist nicht immer leicht zu ermessen. Gelegentlich – oder vielleicht soSchwarz unterscheidet zwischen verschiedenen Grundtypen des Weinens, denen auch ein unterschiedlicher moralischer Wert zufällt. – Schwarz, o. J., S. 63–83. 37 Eine Studie zu emotionalen Tränen von Elisabeth Messmer zeigt auf, dass Menschen schon in der Kindheit lernen, dass Tränen Mitgefühl erzeugen – Siehe hierzu: Kröning, 2015, S. 4 – Sigmund Freuds Annahme, dass sich vorgetäuschte Tränen von jedem ›geübten Beobachter‹ leicht erkennen ließen, scheint mittlerweile vielfach widerlegt. – Siehe: Kottler, 1997, S. 27 f. – Im alten Rom soll es sogar ein Handbuch gegeben haben, wie sich mit vorgetäuschten Tränen Mitleid erregen lässt. Siehe: Lapper, 2019, S. 3. 36
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Moralische Bewertungen
gar recht häufig – mag es tatsächlich so sein, dass im demonstrativen Heulanfall nur dem eigenen Selbst Bedeutung und Wert beigemessen wird. Doch die Feststellung derart bedauerlicher Vorkommnisse berechtigt keineswegs dazu, menschliches Weinen übereilt narzisstischer Selbstversteifung zuzuschreiben. Wir sollten die Tränen anderer keinesfalls ignorieren, auch wenn sie uns verunsichern und wir auf Anhieb nicht einschätzen können, wie echt der Gefühlsausdruck ist. Doch vermutlich geraten wir gerade dann in Verlegenheit, wenn wir von der Aufrichtigkeit fremder Tränen überzeugt sind, wenn wir also sicher sind, dass sie aus der authentischen Tiefe einer Person hervorquellen. Schnell fühlen wir uns überfordert, weil es schwer ist, im interpersonalen Kontakt mit dem Distanzdurchbruch eines Anderen einfühlsam umzugehen und angemessen darauf zu reagieren. Auf Anhieb scheint es kaum andere Alternativen zu geben als mitzuweinen, peinlich berührt in herzlose Distanz zu treten oder sogar umgehend das Weite zu suchen. Im Blick auf die philosophische Praxis wäre hier sehr genau zu bedenken, ob und wie sich ein Raum für Tränen öffnen lässt und wie man mit Weinenden umgehen kann. Josef Breuer – als von Yalom stilisierte Figur – kann hier als vorbildhaftes Beispiel dienen. Wir müssen uns noch deutlicher vor Augen führen, warum die distanzlose Eingebundenheit in die Welt, die den Weinenden kennzeichnet, keineswegs per se primär mit ichbezogener Selbstverhaftung gleichzusetzen ist. Wir müssen uns insbesondere klarmachen, dass die in Anteilnahme und Mitgefühl erfolgende Rückwendung zu sich selbst auch nicht, wie Schopenhauer und andere meinen, auf bloßes Selbstmitleid hinausläuft. Ich denke, dass diese Dinge weitaus komplizierter sind und kann mich hierin auf Plessner beziehen sowie auch auf Schwarz, die beide diverse Formen und Abstufungen des Weinens unterscheiden. Nach Plessner ist es gerade die geistige Dimension des Menschen, seine (sehnsuchtsvolle) Hinorientierung auf höhere sinnliche, ästhetische, intellektuelle und vor allem 175 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Das Weinen – über Humor und Verletzlichkeit
moralische Werte, die ihn ansprechbar und aufnahmefähig für zahllose besondere Qualitäten dieser Welt macht. Je nachdem, wie ein Mensch geworden ist, wie er oder sie gerade als vernunftbegabtes Wesen die Dinge betrachtet, vermag ein gegebener Anlass ihn oder sie zum Erklingen und manchmal eben auch zum Weinen zu bringen. Vor allem schwerwiegende Vorfälle können eine Person mit Wucht treffen und alle seelischen Widerstandskräfte außer Kraft setzen. Ob und worüber jemand weint, hat also zum einen damit zu tun, wie weit er sich in grundlegender Weise auch als ein in die Welt verwobenes, passivisches Wesen anzunehmen vermag, d. h. ob er sich als kühl distanzierter Betrachter generiert oder eben nicht; zum anderen aber zeigt sich in den auslösenden Momenten des Weinens, welchen Dingen so hoher Wert beigemessen wird, dass ihr (vermeintlicher) Verlust am Ende emotional zu überwältigen vermag. 38 Gewiss aber kommt es hier insbesondere darauf an, wie weit es einem Menschen möglich ist, jenseits bloß subjektiver Interessen tief in höhere Wertigkeiten einzutauchen und sich für ihre Sprache zu sensibilisieren. In diesem Fall können Erfahrungen von Wert- und Sinnverlust gerade das geistige Gefüge des Betreffenden so massiv erschüttern, dass Vergeblichkeitsgefühle sich temporär in Tränen ausdrücken.
5. Zwischen Inszenierung und ehrlicher Selbstoffenbarung Ich habe schon angedeutet, dass moderne Gesellschaften wenig Sinn für Tränen zeigen, jedenfalls auf der offiziellen Bühne. 39 Während tränenselige Hollywoodstreifen und sen»Wenn man von einer gegebenen Gruppe von Menschen nichts wüsste als das, was sie zum Lachen und Weinen bringt, wäre sie bereits hinreichend charakterisiert«, schreibt Stern. – Stern, 1980, S. 18. 39 In den neunziger Jahren war Kottler zwar der Auffassung, »dass wir uns einer besseren Zeit für Tränen nähern« – Kottler, 1997, S. 259 –, doch zugleich machte er darauf aufmerksam, dass die Massenmedien in 38
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Zwischen Inszenierung und ehrlicher Selbstoffenbarung
timentale Vorabendserien, das sogenannte Emo-TV, immer beliebter werden, scheint in vielen Bereichen der Gesellschaft eine Umpanzerung des Selbst an der Tagesordnung zu sein, weil Leistung zur obersten Doktrin erhoben wird. 40 Der medialen Zurschaustellung emotionaler Exaltiertheit korrespondieren Abschwächung und Ermattung des Fühlens im alltäglichen Umgang. Wer emotionale Aufgeschlossenheit und Zugewandtheit zeigt, sich als sentimental empfänglich oder gar empfindlich offenbart, wird schnell als weichlich, weiblich oder gar weibisch stigmatisiert, in jedem Fall gilt er/sie als unprofessionell. Männlich-sachliche Gefasstheit erhebt sich stolz und siegesgewiss über gefühlsträchtige Tonalitäten. Doch es gibt, wie schon Schwarz betonte und wie Kottler bestätigt, auch den Hochmut »repressiver Gefasstheit«, ein »Ethos des Männlichkeitskrampfes« 41 , das immun ist gegen jede Form ehrlicher Selbstoffenbarung, aber auch gegen Mitgefühl, zwischenmenschliche Resonanz und lebendige ethische Orientierung. Der Zurückweisung und Abwertung von Tränen entspricht oftmals eine generelle Geringschätzung des Emotionalen. Wer Gefühle zeigt, wird offenkundiger und berechenbarer, deshalb macht er sich auch leichter angreifbar. Hinzu kommt, dass heftigere Affekte die Souveränität untergraben und den Drang nach Selbstermächtigung irritieren. Aus diezunehmendem Maße zu einer Standardisierung emotionaler Verhaltensweisen führen. – Ebd., S. 261 – Mittlerweile kommt die Frage auf, ob angesichts dieser Veränderungen Tränen noch als authentischer Ausdruck der Person gelesen werden können, oder ob sie nicht vielmehr zum Teilbestand einer Unkultur emotionaler Posen und Allüren ohne seelischen Tiefgang geworden sind. Letztlich räumt auch Kottler dies ein, wenn er schreibt: »Höher entwickeltes Fernsehen, simulierte Computererfahrungen und andere Technologien befriedigen unsere voyeuristischen Bedürfnisse, intensive Gefühle stellvertretend zu erfahren.« – Ebd., S. 264. 40 Siehe hierzu auch: Kropiunigg, 2003, S. 118 ff. 41 Schwarz, o. J., S. 81 f. – Zum Konzept des Machismo in anderen Kulturen, siehe auch: Kottler, 1997, S. S. 137 ff.
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sem Grunde werden sie – vornehmlich in traditionell männlich dominierten Gesellschaften oder Kontexten 42 – als schädlich, beeinträchtigend und beschämend angesehen. Dieses Verdikt betrifft hier in besonderer Weise die pro-sozialen Gefühle, die sogenannten Mitgefühle. Letztere gelten als Schwächen, weil sie die konsequente Durchsetzung von Härtenormen sowie die hemmungslose Vollstreckung subjektiver Macht behindern. Zollt man der unumgehbaren emotionalen Weltverwicklung indes hinreichend Tribut, so wird man erkennen, dass auch ethische Wertorientierungen ihren Niederschlag in unseren emotionalen Reaktionsweisen finden. Erleben wir z. B. Einstellungen und Handlungsweisen, die wir für moralisch gut und zweckmäßig erachten, werden in uns Gefühle des Wohlwollens und der Freude ausgelöst. Umgekehrt treten Zorn oder Verärgerung dann auf, wenn (andere) Menschen Normen und Verhaltensregeln, die wir für wesentlich erachten, ignorieren und verletzen. Gegebenenfalls sind wir über solche Vorfälle derart betrübt, dass uns zum Weinen zumute ist. Eine solch intensive Reaktion kann mitunter den Anstoß dafür geben, sich der eigenen Wertorientierungen überhaupt erst wirklich bewusst zu werden. Daran anknüpfend sind weitere Schritte situationsbezogener Klärung und Selbstüberprüfung denkbar. 43 Insgesamt wird man vor diesem Hintergrund zugestehen müssen, dass ethische Orientierung – abgesehen von einem grundlegenden (oft juristisch verankerten) Gerechtigkeitsregulativ – primär im je einzigartigen situativen Kontext sowie in den meisten Fällen über dialogische Abwägungen zu erfolgen hat. Hierbei kommt unausweichlich auch die von Plessner benannte Ehrlichkeit vor sich selbst ins Spiel. Diese ist überhaupt eine wesentliche Voraussetzung dafür, nicht Zu den geschlechterbezogenen Implikationen des Themas, siehe u. a.: Nussbaum, 2014 u. 1999. 43 Bennent-Vahle, 2020, Kap. VI. 42
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Zwischen Inszenierung und ehrlicher Selbstoffenbarung
selbstgerecht die eigenen Auffassungen absolut zu setzen, sondern in einen sensiblen Austausch mit anderen zu gehen, um deren Welterfahrung respektvoll kennen zu lernen und zu berücksichtigen. Wer schon öfter im vergeblichen Anrennen gegen Grenzen oder im schmerzlichen Scheitern ausgeklügelter Sinnkonzepte die Segel streichen musste und sich zu Tränen veranlasst sah, ist eher geneigt, die Begrenztheit des eigenen Standpunktes anzuerkennen. Im Lautwerden anderer Stimmen räumt er ein, dass nicht nur diese eine Position zählt, sondern in der Regel eine Vielzahl von Perspektiven vorliegt, die einer ernst gemeinten gedanklichen Prüfung zu unterziehen ist. Man kann aus rein rationalen Erwägungen heraus vorab eigentlich gar nichts genau genug wissen, da man selbst – wie auch Plessners Denken nahelegt – über unbewusste und häufig ungeprüfte Werte perspektivisch in die Welt verwoben ist. Erst wenn man diese Limitierung einräumt, erhöht sich die Bereitschaft, versuchsweise mit ›anderen Augen zu sehen‹. Darüber hinaus ist mit Plessner zu konzedieren: Erst wenn auch die Aussichtslosigkeit eines ursprünglichen, ungetrübten Beisichseins akzeptiert und betrauert wird, entstehen wesentliche Voraussetzungen dafür, mitfühlend auch ›mit anderen Augen zu weinen‹. Ich erinnere nochmals an die schon zitierten Worte Plessners: »Nur was aus eigener Lebenserfahrung gespeist wird, kann auf fremde Lebenserfahrung ansprechen, nur der bittere Trank der Enttäuschung sensibilisiert. Der Schmerz ist das Auge des Geistes.« 44 Es ist ein spezifisch modernes Phänomen, die Natürlichkeit der Tränen jenseits von Geburtsereignissen und Beerdigungsfeiern – und manchmal auch dort – pauschal in Frage zu stellen. Indem offensichtliche Gefühlsbekundungen immer noch herablassend als ›Weiberkram‹ stigmatisiert werden, scheint indes zugleich die Empfänglichkeit für die wirk44
Plessner, 2003b, S. 95.
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lichen Wonnen und Leiden des Lebens herabgemindert. Wir leben mehr und mehr in einer gesellschaftlichen Realität, die die täglich anwachsende Wirklichkeit des seelischen Schmerzes verleugnet bzw. sie hinter die fest verschlossenen Türen der Privatsphäre und Therapieräume verbannt. Hingewiesen sei außerdem auf eine weitere Symptomatik, die sich z. B. im Mobbing (oder hate speech) kundtut. Hier erhöht der narzisstische Wahn fraglicher Individualitäten die eigene Machtrate, indem die Tränen anderer auf grausame Weise durch Missachtung, Beleidigung, Schadenfreude und Verhöhnung provoziert werden. So lässt sich sagen: Ein äußerst fragwürdiges Verständnis von Zentralität und Konsistenz des eigenen Ichs wird zunehmend manifest, eine Hartherzigkeit, die aus der Unfähigkeit resultiert, sich selbst Schwachstellen und Brüche zuzugestehen. Hier ist eine Zwischenbemerkung wichtig: Blickt man auf die Kulturgeschichte als ganze, so lässt sich die Vorstellung vom Unwert des Weinens auf keinen Fall aufrechterhalten. Und ebenso wenig trifft es zu, dass diese Form des Gefühlsausdrucks immer schon als Indiz femininer Schwäche oder gar weibischer Minderwertigkeit eingestuft wurde. Die polare Aufteilung der Geschlechtscharaktere nach Gefühl und Verstand – und die entsprechend generalisierende Hervorhebung weiblicher Weichheit und tränenreicher Rührseligkeit – gelangten, wie dargelegt wurde, mit besonderer Trennschärfe erst im Rahmen der aufklärerischen Geschlechteranthropologie zur Geltung, während über lange Zeiträume das Weinen antiker Heldengestalten wie z. B. des Odysseus positiv bewertet wurde. Ebenso begegnete man dem tränenvollen emotionalen Ausdruck mittelalterlicher Krieger und Mönche über Jahrhunderte mit höchstem Respekt. 45 Ich muss heute So macht auch noch Erdmann bezüglich des heldenhaften Weinens eine Ausnahme, wenn er schreibt: »Auch der Held darf es, wenn er z. B. durch den Verrath eines Vertrauten dem Feinde überliefert ward. Der
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Zwischen Inszenierung und ehrlicher Selbstoffenbarung
die Belege hierfür schuldig bleiben, denn jetzt ist es wichtiger, noch nachdrücklicher auf die außerordentliche existenzielle Bedeutung hinzuweisen, die der Fähigkeit zukommt, freudig, trauernd oder ergriffen den Tränen freien Lauf zu lassen. Weil echtes Weinen aus der einmaligen komplexen Gefühlswelt einer Person entspringt, bleibt es im Wesentlichen unfassbar – es ist etwas Geheimnisvolles, das sehr viel Raum für Missverstehen und Fehlkommunikation bietet. »Es ist so geheimnisvoll, das Land der Tränen.« 46 , sagt der kleine Prinz. Nicht zuletzt deshalb versuchen wir unsere Tränen vor anderen zu verbergen. Schon der weinende Odysseus hüllte sein Haupt in einen Mantel. Es steht außer Frage, dass wir denjenigen Tränen anderer Menschen, die interpersoneller Berührung entzogen werden, weitaus mehr Respekt zollen als den unübersehbaren emotionalen Lecks vor großem Publikum, welche dann schnell unter Verdacht geraten, andere beeindrucken, beeinflussen und bezwingen zu wollen. Schon Adam Smith betonte, dass derjenige, der in stiller Zurückhaltung Trauer und Freude kundtut – erkennbar nur am Glanz der Augen oder am Beben der Stimme –, weitaus mehr Ansehen genießt als derjenige, »der ohne jedes Taktgefühl mit Seufzern, Tränen und lästigen Klagen unser Mitleid anruft«. 47 Jeder starke emotionale Ausdruck, der die Grenzlinien konventioneller Gesten überschreitet, erregt Aufmerksamkeit und provoziert Irritation. Einen Weinenden kann man nicht ignorieren. 48 Demzufolge gerät, wer vor aller Augen intensiv weint, unweigerlich in ein Spannungsfeld von Nichtswürdigkeit gegenüber ist auch der Held wehrlos, darin darf er sich hier wehrlos bekennen, er darf weinen.« – Erdmann, 1875, S. 16 – Nicht unerwähnt bleiben darf allerdings auch das in und seit den literarischen Perioden des Sturm und Drang und der Romantik immer wieder herausgestellte Weinen empfindsamer literarischer Helden. 46 Saint-Exupéry, 1999, S. 29. 47 Smith, 2010, S. 133. 48 »Tränen wollen immer eine Verbindung herstellen«, sagt der Psycho-
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Das Weinen – über Humor und Verletzlichkeit
Selbstausdruck und Selbstdarstellung, wenngleich es mit Sicherheit auch Fälle gibt, in denen unerträglicher Schmerz alles Umgebende vergessen macht. Die Erfahrung, missverstanden zu werden, ist immer präsent, so dass man zuletzt sagen kann: Dieses allgegenwärtige Missverstehen, die vielen erfolglosen Kommunikationsversuche, sind oft sogar selbst der Grund des Weinens, welchem schließlich nur noch hinter Schloss und Riegel stattgegeben wird. Emily Brontë schreibt: »Mit solcher süßer Miene und lebhaftem Ton, und mit strahlenden Augen den ganzen Tag, ahnte man nicht, wie um Mitternacht sie einsam mit Weinen die Zeit hinbringt.« 49 Weinende umgibt eine besondere Einsamkeit. Sofern die Person sich zurückzieht, geschieht dies oft in dem Bewusstsein, dass niemand in ihre Haut schlüpfen und ihr Innerstes erkennen kann. Sie empfindet unmittelbar und unabweislich, was unser aller Existenz umgibt: eine nicht selten quälende Einsamkeit in der Welt angesichts der Unergründlichkeit menschlichen Seins, mehr aber noch angesichts der großen Schwierigkeit, bei einem einfühlsamen Gegenüber auf Verständnis für derartige Einsamkeitsgefühle zu stoßen. An dieser Stelle kann die Philosophische Praxis ein Ort für zulässige Tränen werden, ein Ort, an dem das Weinen von vorschnellen Außenurteilen verschont bleibt. Und ich wiederhole es noch einmal: Dies versteht sich nicht von selbst, denn ihrem überlieferten Verständnis nach ist gerade die Philosophie eher eine Instanz der Unterschlagung von Tränen. Immenser Stolz auf das Nichtweinen, emotionaler Stoizismus, begleitet die philosophische Tradition seit jeher. Nicht selten misst man dem philosophischen Gedanken eine alle Trauer überwindende Macht zu: »Tränen mögen tiefgreifend sein, doch der philosophische Gedanke liegt tiefer.« 50 Als Beiloge Vingerhoets. Er erblickt in ihnen ein Signal für das Bedürfnis nach Kontakt. – Siehe: Vingerhoets, 2019. 49 Emily Brontë, zit. nach: Lutz, 2000, S. 348. 50 Ebd., S. 355.
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Zwischen Inszenierung und ehrlicher Selbstoffenbarung
spiel für eine vermessene, letztlich erbarmungslose Überbewertung menschlicher Vorstellungskraft kann u. a. folgender Ratschlag Epiktets gewertet werden: »Wenn du jemand trauern siehst, weil sein Kind weit fort ist oder weil er sein Vermögen verloren hat, so gib acht, daß dich nicht die Vorstellung fortreißt, als sei jener infolge der äußeren Dinge im Unglück, sondern halte dir sofort gegenwärtig, daß jenen nicht das Geschehene schmerzt, denn einen anderen würde es ja nicht betrüben, sondern nur seine Auffassung von dem Geschehenen. Solange es noch mit Worten geht, magst du ihm sein Leid tragen helfen und vielleicht auch mit ihm seufzen; nur hüte dich, auch innerlich zu seufzen.« 51
Der Trost der Philosophie, die mildernde Kraft des Nachdenkens, ist gewiss nicht zu unterschätzen. Dennoch dürfen wir nicht vergessen, dass es Untröstlichkeit gibt. Wir sollten die Kraft der Philosophie deshalb ebenso wenig überschätzen. Wenn überhaupt, tröstet sie oftmals vielleicht nur, indem sie ausdauernd zuhört und dem Weinen Raum gewährt, wie auch dem Lachen. Sie tröstet nicht zuletzt durch den schweigsamen (oder humorvollen) Ausdruck tiefer menschlicher Solidarität, die wir als Philosophische PraktikerInnen nur dann aufbringen können, wenn wir uns zu unseren eigenen Tränen bekennen und uns vor der »Arroganz eines emotionalen Stoizismus« 52 hüten. Nur so können wir unsere Fähigkeit kultivieren, die Feinheiten emotionaler Erfahrung zu erspüren und unterschiedliche Erfahrungsweisen zu lesen, um in empathische Resonanz zu treten bzw. echtes Mitgefühl
Epiktet, 1992, S. 16 f. Lutz, 2000, S. 354 – In den Meditationen Marc Aurels lesen wir: »Mit Anderen weinen oder jubeln, nicht geziemt’s.« – Marc Aurel, 2013, S. 59 – Höffding attestiert dem Stoizismus Humorlosigkeit: »Der Stoizismus sucht gerade die Elemente zu verdrängen und auszuschließen, durch deren Verbindung der Humor entstehen könnte. Er schließt die Gegensätze des Lebens aus, anstatt sich durch sie hindurchzuarbeiten.« – Höffding, 1918, S. 90.
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zu entwickeln. 53 Nur indem wir auch als Philosophinnen unsere emotionale und damit begrenzte Sicht in der Welt konzedieren, d. h. indem wir uns in dieser Hinsicht mit uns selbst auskennen, wird es möglich, schließlich auch humorvolle Leichtigkeit mit Gespür – mit einer Art von ›Divinationsgabe‹, die das Zumutbare erfasst – ins Geschehen einzubringen. Ein grundlegend distanzierter, über den Dingen schwebender akademischer Habitus vermag dies nicht. Darauf werde ich im letzten Absatz nochmals eingehen.
6. Was macht uns weinen? Noch immer stehen viele Fragen unbeantwortet oder nur halb erledigt im Raum: Was macht uns weinen? Warum weinen wir Tränen der Trauer oder Tränen des Glücks? Wie erleben wir – über die skizzierten moralischen Reflexe hinaus – das Weinen anderer Menschen? Gibt es ein Unvermögen zu weinen? Kann Weinen pathologisch werden und wann ist dies der Fall? Was bewirkt gemeinsames Weinen? 54 Einige dieser Fragen können nur eher skizzenhaft und randläufig beantwortet werden, da ich mich auf die für das Praxisgeschehen aus meiner Sicht primär ausschlaggebenden Faktoren begrenzen möchte. Folgende allgemeine Feststellung erscheint mir wesentlich: Betrachten wir Anlässe und Ausdrucksformen des Weinens sowie auch die vielfältigen Umgangsweisen damit, so lässt sich eine ungeheure kulturelle und historische VariaZu den Formen des Mitfühlens, siehe: Bennent-Vahle, 2020, Kap. IV. Zu diesem Punkt kann u. a. auf Stern verwiesen werden, der hervorhebt, dass kollektives Weinen ein noch stärkeres emotionales Band schafft als das Lachen, weil man weinend den Verlust bzw. die Bedrohung gemeinsamer Werte betrauert und sich damit gemeinsam zu diesen Werten bekennt. So heißt es z. B.: »Mitglieder einer Trauergemeinde bilden eine viel stärker konsolidierte Gruppe als die Zuschauer einer Komödie.« – Stern, 1980, S. 193.
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tionsbreite erkennen. 55 Allein die innerhalb der letzten 50 Jahre in unserer Tradition vorgebrachten Ratschläge und Imperative für den Umgang mit schreienden Säuglingen füllen Bände. Trotz dieser hier nur angedeuteten Bandbreite erweist sich Weinen als ein durchgängiges, alle Kulturen und Zeiten umfassendes, menschliches Phänomen. Wann und warum es einsetzt, lässt sich gewiss nicht verallgemeinernd beantworten, weil hier unterschiedliche Konventionen bzw. die Komplexität diverser Erfahrungswelten wirken. Oft handelt es sich um Welten, zu denen wir auf Anhieb keinen Zugang haben. Allein die Trauer scheint ein kulturübergreifendes Phänomen zu sein. 56 Ethnologische Vergleichsstudien zeigen allerdings, dass in einigen Gesellschaften ein kulturelles Ideal umfassender Selbstkontrolle und Geheimhaltung affektiven Erlebens vorherrschend ist. Hier dominieren beispielsweise normative Konzepte, die innerhalb von Gruppen das Fürsorgeverhalten regeln, ohne dass dabei auf empathische Leistungen des Einzelnen zurückgegriffen werden muss. 57 Einem kulturellen Ideal der Selbstkontrolle folgend, vermeidet man z. B. auf der Insel Yap, die zum Staat Mikronesien gehört, jede Gefühlsoffenbarung und bedient sich zu diesem Zweck verschiedener Techniken der Geheimhaltung und Verschleierung. Mimetische Selbstkontrolle soll verhindern, Einblicke in die Innenwelt anderer zu gewinnen. In den meisten Gesellschaften ist dies anders. Hier ist es zumindest offiziell zulässig, für alle sichtbar in Tränen auszubrechen. Eine Person darf zeigen, dass Gefühle sie überwältigen, dass in diesem Moment ihre Fähigkeit aussetzt, die Qualitäten der äußeren Welt sinnvoll zu verarbeiten und einzuordnen. Wann dies geschieht, ist schwer fassbar, da, wie gesagt, stets kulturelle, soziale und individuell-psychische Aspekte ineinandergreifen. Je nachdem, wie man zum Über55 56 57
Siehe hierzu: Kottler, 1997, S. 128–153. Siehe: Ebd., S. 137 bzw. 140 ff. – Dies bestätigt auch Vingerhoets. Siehe: Mayer, 2013, S. 117 ff.
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fall der Gefühle steht, definiert man sich als WeinerIn oder NichtweinerIn. Im Zuge einer mehr oder weniger psychologisch unterfütterten Ratgeberliteratur gibt es heute im therapeutischen Bereich zudem die weit verbreitete Überzeugung von der kathartischen Wirkung der Tränen, die in der Philosophie z. B. Immanuel Kant den Witwen empfiehlt. 58 Aufgestaute Gefühle können freigesetzt, Blockaden aufgehoben und damit – wie man vielfach glaubt – dem wahren Selbst zum Durchbruch verholfen werden. 59 Allerdings gibt es inzwischen auch Studien, die belegen, dass keine merkliche Stimmungsaufhellung durch bloßes Weinen erfolgt. Vielmehr wird gesagt, Erleichterung verschaffe das Weinen allenfalls über Umwege, insofern jemand, der sich weinend offenbart, möglicherweise Zuwendung und Trost erfährt. 60 Dies stützt die These, dass durch Weinen und die damit bekundete werterfüllte Weltverwobenheit intensive zwischenmenschliche Verbundenheit entstehen kann, so wie sich umgekehrt das Weinenkönnen – Yaloms Nietzsche drückt dies aus – als eine Reaktion auf das Gesehenund Verstandenwerden deuten lässt. Ein beeindruckendes Beispiel für die verbindende Kraft der Tränen zeigt etwa der Film Western von Valeska Grisebach. Hier müssen sich deutsche Gastarbeiter, die ein Wasserkraftwerk in Bulgarien bauen, in der Fremde zurechtfinden. Einer der Arbeiter, Meinhard, knüpft schließlich ein unlösbares, tief-menschliches Band zu einem Einheimischen, dem er Leidvolles aus seiner persönlichen Geschichte erzählt, ohne dabei seine Tränen verbergen zu können. 61 Kant, 1991, S. 595. Zur wichtigen »reinigenden« Funktion des Weinens, sowohl biochemisch betrachtet als auch psychologisch, siehe: Kottler, 1997, S. 10 f. – Zum physiologischen Effekt des Weinens und Lachens, siehe auch: Stern, 1980, S. 93 ff. 60 Siehe hierzu auch: Frey, 2017. 61 Western v. V. Grisebach, siehe: Goetheinstitut Griechenland https:// www.goethe.de/ins/gr/de/kul/sup/tou/wes.html. 58 59
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Was macht uns weinen?
Wir weinen, sofern wir von den Dingen her eine Übermacht verspüren, gegen die wir nichts mehr ausrichten können, oder dies zumindest glauben. Dafür ist allerdings entscheidend, ob wir hinreichend durchlässig sind, um uns ergreifen und bezwingen zu lassen, weich genug, um uns dem emotional-leiblichen Prozess des Weinens hinzugeben. Was jeweils diesen überwältigenden Effekt in uns auslöst, hängt, wie dargelegt, von unserem sachbezogenen Wertempfinden ab. Wie insbesondere Stern herausstellt, bezieht sich das Weinen immer auf anerkannte Normen, Wertigkeiten und Sinnhorizonte bzw. auf Dinge, Menschen und Konzepte, die wir positiv bewerten. Wir weinen dann, wenn wir diese Normen oder Werte bzw. diese von uns mit Wert besetzten Dinge als verloren oder wenigstens doch bedroht erachten, wenn wir also befürchten müssen, dass sie dauerhaft unverwirklicht bleiben und wir nichts dagegen unternehmen können. In der Regel passiert dies unwillkürlich, ganz ohne dass wir die wirkenden Valenzen ausdrücklich zu bestimmen wüssten. Sie sind vielmehr in unser spontanes emotionales Welterleben gleichsam eingeschmolzen und gelangen demzufolge oft erst durch Kollisionen mit widerständigen, wertverletzenden Realitätsphänomenen zu mehr Klarheit und Bewusstseinshelle, letztlich auch nur dann, wenn durch solche Kollisionen ein vertieftes Nachdenken in Gang gesetzt wird. Verzweiflung, Demütigung, Vereinsamung, Abschied und Verlust treiben unsere Tränen hervor, wenn sie auf je eigene Weise in der Folge solcher Wertminderungen Gefühle unausweichlicher Enge, Verlegenheit und Aussichtslosigkeit mit schmerzlicher Eindringlichkeit hervorrufen. Wir erleben jedes Entrinnen-Wollen, jeden Widerstand als hoffnungslos. Das Zugemutete erscheint unwiderruflich. Unter Umständen kann uns ein durchdringendes Empfinden von Vergeblichkeit mit solcher Macht ergreifen, dass selbst unsere Tränen versiegen. Wird uns eine nahestehende, geliebte Person durch den Tod genommen, erleiden wir einen so umfassenden, irreversiblen Wertverlust, dass mitunter sogar das Weinen aus187 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
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setzt. Auf immer wird uns die Möglichkeit genommen, der besonderen Verschmelzung dynamischer, sinnlicher, geistiger und moralischer Valenzen zu begegnen, deren einmaliger Träger allein diese Person war. Als einzigartig erleben wir die in ihr liegende Synthese von Qualitäten, Intensitäten und Klangfarben personalen Seins, mit deren Ableben ein reicher Lebens- und Beziehungsraum verschwindet – eine interpersonale Resonanz, welche wir unter Milliarden von Menschen so nicht wiederfinden werden. Weil diese Andere in ihrer eigentümlichen Wesensart unersetzbar ist, erfahren wir durch ihr Dahingehen deshalb einen absoluten Wertverlust, welcher unbeschreibliches Leid in uns auslöst. Stern schreibt hierzu: »Sein Tod bedeutet die Umwandlung eines Trägers moralischer, intellektueller, vitaler und ästhetischer Werte in ein wertfreies Naturobjekt, und diesen Wertverlust beweinen wir.« 62 Diese Wortwahl klingt ernüchternd, lässt uns womöglich innerlich aufbegehren. Doch ich vermute, dass Stern hier ganz bewusst in abstrakt-distanzierter Tonlage Ursachen für ein Pathos benennt, welches letztlich alle Maße sprengt und alle sprachlichen Möglichkeiten übersteigt. Er sagt uns: Der Tod ist ein brutales Faktum, denn die einmalige Vitalpräsenz des Anderen als leiblich-seelisch-geistige Ganzheit, die wir mit allen Sinnen erspüren konnten, wird uns unwiederbringlich entrissen. Was sichtbar zurückbleibt, ist eine leere Hülle, die bald schon unseren Blicken entzogen sein wird. Angesichts des Todes besitzt das sinnlich-emotionale Erleben eine Vormacht, die Worte und vernunftmäßige Reflexion niemals einholen können. Der Verlust ist unaussprechlich. Deshalb kommt es letztendlich auf die heilsame geistige Kraft der Erinnerung an, die allein – ausgelöst durch zahllose Gegenstände, Stimmungsbilder und wiederkehrende Empfindungen – den Anderen in uns fortleben lässt, Erinnerungen, die auch dann noch weiterbestehen werden, wenn sich der Schmerz Stück für Stück zurückzieht. Antoine Leiris hat 62
Stern, 1980, S. 70.
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fünf Jahre nach dem gewaltsamen Tod seiner Frau Hélène (im Pariser Bataclan) ein beeindruckendes Buch geschrieben, in dem er Erinnerungsschichten freilegt, durchläuft und schrittweise abträgt. Während er viele Dinge loslässt und dem Vergessen anvertraut, tritt die einmalige Gestalt seiner Frau umso prägnanter hervor. Er thematisiert das Weggeben der Kleider und Besitztümer Hélènes, besucht die Orte gemeinsamer Erlebnisse, reflektiert das damit verbundene komplexe, wandlungsreiche Erinnerungsgeschehen, umhegt zugleich stets liebevoll den gemeinsamen Sohn und gewinnt so in neuer Form eine intensive Anwesenheit der geliebten Person zurück. In der wohlbedachten Erinnerungsaktivität löst sich das Erleben ohnmächtiger Trauer allmählich auf. An seine Stelle treten erneut Zuversicht und Lebenskraft, dauerhaft durchwirkt von den Spuren bewussten Andenkens. So lesen wir zunächst: »Die Briefe, die Fotos, die Kleidungsstücke, sie waren der neue Körper, den der Tod Hélène gegeben hatte. (…) Niemand entsorgt seine Geschichte auf einen einzigen Schlag. Man wirft sie Stück für Stück weg, immer wenn nicht genug Platz da ist, und lässt sich dabei gerade genug Zeit für eine letzte Gefühlsaufwallung.« Und schließlich: »Hélène ist der Stift, den ich halte, die Tinte, die darin fließt, die Tasten meines Computers, die Wörter, die auf dem Bildschirm erscheinen. Die Buchstaben haben ihre sanften Linien, die Wörter ihr Zartgefühl, die Assoziationen schwingen durch ihre Musikalität. (…) Wir haben uns Zeit zum Weinen genommen. Wir haben uns Zeit gelassen, bis wir keine Tränen mehr hatten.« 63
Doch es gibt Erfahrungen persönlicher Ohnmacht von ganz anderer Art, welche gleichermaßen Tränen provozieren: Dies kann geschehen in plötzlichem Glück, im überraschenden Übermaß von Freude, in Ergriffenheit durch Schönheit, z. B. der Musik, in liebender Hingabe, in kontemplativer und religiöser Andacht, und nicht zuletzt im siegreichen Durchbruch 63
Leiris, 2020, S. 34, S. 83 u. S. 160.
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menschlicher Großmut, die Verletzung, Eifersucht und Feindseligkeit überwindet und zu Versöhnung und Verzeihung gelangt. Plessner spricht (in Anlehnung an Schwarz) von »Peripetien«, in denen wir die Welt gerade nicht mehr als widerständig und undurchdringlich erleben. In solchen Momenten des Umschwungs von angespannter zu gelöster Haltung fließen Tränen überwältigender Erhebung. Doch »in dem Gefühl der entschwindenden Last« wächst trotz des Zugewinns an Freiheit paradoxerweise gerade nicht unser Tatendrang; vielmehr kapitulieren wir vor der Größe des Moments – im Zauber eines Kunstwerks oder einer Landschaft, im Anblick menschlicher Freundschaft und Sanftmut, vor »der stillen Gewalt der gewaltlosen Einfachheit des Daseins«, wie Plessner es ausdrückt. 64 Vielleicht ist es gerade die Flüchtigkeit solcher Augenblicke, das Vergängliche allen Gelingens, die sprachlose Unergründlichkeit des Seins, die uns zu Tränen rührt. Nur ein Mensch weint in dieser Weise, weil er um die Seltenheit und Endlichkeit solcher Erlebnisse weiß, die das normale Ungemach lichtvoll durchbrechen. 65 Er erfährt dies als unverhoffte Gabe, die er nicht bewirken, nicht herbeizwingen und erst recht nicht festhalten kann. Deshalb verspürt er im Innewerden außerordentlicher Gelöstheit zugleich intuitiv das Vergängliche und Zerbrechliche höchster Freuden, ein Empfinden, das ihn weich und schwach werden lässt, solange er sich nicht längst schon zum Nichtweiner deklariert und gegen Plessner, 2003c, S. 354. Sind wir nach Aussage Ralph Waldo Emersons und vieler anderer Theoretiker des Komischen die »Gattung, die die einzige Spaßmacherin in der Natur ist« – Emerson, zit. nach: Stern, 1980, S. 40 –, so wäre hinzuzufügen, dass uns auch die hier beschriebene Art der Freude gegenüber anderen Lebewesen auszeichnet: eine Freude des »Durchbrochenseins der normalen Verhältnismäßigkeit des Lebens in und mit der Welt, die uns sonst die Reinheit des Seins des Seienden, die Güte der Güter verdeckt«. – Plessner, 2003c, S. 354 – Siehe hierzu auch: Kottler, 1997, S. 58 f.
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jegliche Verzauberung immunisiert hat. Übrigens weint laut Plessner primär der Mann solche Tränen, in denen sich das Nachlassen des Weltdruckes kundtut, weil diese Tränen »unverdientem Frieden im Kampf mit der Welt entspringen«. 66 Lassen wir dahingestellt sein, ob und wie weit dies zutreffend war und ist. In jedem Fall zutreffend scheint mir der Gedanke, dass auch das Weinen freudvoller Überwältigung mit Verlusterfahrung imprägniert ist, die sich hier wie in allem Weinen kundtut. Wir wissen um Vergänglichkeit, Kräfteabbau und Verfall, wir wissen um die Unwiederholbarkeit außerordentlicher Momente, um das Unkommunizierbare tieferen Erlebens, so dass alle Schönheit in sich gebrochen ist und gerade dadurch umso leuchtender zu erstrahlen vermag. Nach Plessner haben solche Tränen erhabener Freude Seltenheitswert, während das Reich der Notwendigkeit, dem wir normalerweise unterliegen, ein nie versiegender Quell des Weinens ist, und zwar eines Weinens, welches weit über die Kompetenzspielräume der eigenen Person hinausweist, ein gleichsam existenzielles Weinen, in dem die Unabwendbarkeit des Tragischen als Grundbedingung unserer Existenz Ausdruck findet. Neulich bin ich in ein Land gereist, das ich vor 40 Jahren als junge Frau mit dem Fahrrad durchquerte. Die nach wie vor intakte Schönheit eines in der Eiszeit geformten, leuchtend grün bewachsenen Tales hat mich dort erneut mit Macht getroffen und überwältigt. Dennoch reichte dieses Empfinden nicht an meine Erinnerungen heran, oder besser ausgedrückt: Das neuerliche Erleben dieses betörenden Naturbildes vermischte sich auf eigenwillig diffuse Weise mit meinen Rückblenden, woraus eine besondere Art von Intensität hervorging. 67 Das Empfundene erscheint mir unsagbar, Plessner, 2003c, S. 355. Vielleicht war es auch mit Höffding gesprochen »eine wehmütige Sehnsucht nach der Zeit, wo man noch sehen konnte«. – Höffding, 1918, S. 92.
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jedenfalls will ich nicht versuchen, es in Worte zu fassen. Ich möchte vielmehr Plessner zustimmen, wenn er sagt, dass keinem das »Gefühl des Vorbei, des Nie-Wieder« fremd ist, und ich folge ihm auch, wenn er hinzufügt, dass »die Schwer- und Wehmut der entschwundenen Jugend (…) auch dem Nüchternsten nicht erspart« 68 bleibt. Eher randläufig streift Plessner mit dieser Bemerkung das Thema des Alterns und Älterwerdens. Im Übergang zur letzten Lebensphase heißt es nochmals auf neue Weise der eigenen Begrenztheit ohne Schönfärberei ins Auge zu sehen. Abschiednehmen von der Kraftfülle des Lebens steht an, um mutig in einen neuen Lebensabschnitt einzutreten und sich auf veränderte, geminderte Möglichkeiten hin zu transformieren. Wer realistisch bilanziert und folglich der heute allgegenwärtigen Verheißung andauernder Jugendlichkeit mit Skepsis begegnet, wird nicht ohne Trauer und Wehmut auskommen können. Beides ist wichtig, so meine ich, um die Altersschwelle in Würde zu nehmen und sich gelegentlich dem Fluss der Erinnerungen mit juvenilem Leichtsinn hinzugeben.
7. Wahrer Humor kennt den Weltbezug des Weinenden Weinen setzt ein, wenn Sprache an ihre Grenze kommt. Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man oftmals weinen. Unser Stolz und die schamerfüllte Angst vor dem Unverständnis anderer, vielleicht sogar vor dem Ausgelachtwerden, veranlassen dazu, dies im Verborgenen zu tun. Mag Plessner, 2003c, S. 358 – So soll beispielsweise der alte Kant geweint haben, als sein Diener ihm ein Stückchen weißen Käse verweigerte. Stern bietet hierfür eine Erklärung, welche besagt, dass ein Wertverlust, »der für einen jüngeren Mann ohne Bedeutung« ist, »in der verarmten Welt des Greises eine empfindliche Verminderung seines Wertbestandes bewirkt«. – Stern, 1980, S. 91 f. – Dass Männer im Alter schneller weinen als in jungen Jahren, ist nach Vingerhoet ein erwiesener Tatbestand.
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auch das Weinen die Stille und Zurückgezogenheit suchen, so muss dennoch darüber gesprochen werden. Wovon man nicht sprechen kann, davon sollten wir als Philosophische PraktikerInnen gewiss nicht schweigen. Im Gegenteil, wir müssen dem Weinen und der darin sich ausdrückenden Sensibilität und Zerbrechlichkeit menschlicher Existenz unser Ohr leihen. Das heißt: Wir müssen sowohl um eine Sprache für den orientierungslosen Emotionsfluss unserer Zeit ringen als auch nach Worten suchen für das Einmalige, Widerständige, nicht Stromlinienförmige individueller Angeschlagenheit. Tränen sind Metaphern für unser Fühlen, sie enthalten ganz verschiedene Botschaften, die wir entziffern müssen. Wie Kottler schreibt, ist »emotionale Verstopfung« 69 eine heute weit verbreitete Symptomatik. Für coole Karrieremenschen und siegesgewisse Gewinnertypen, die sich geschmeidig in künstlichen Welten und virtuellen Blasen des Spätkapitalismus bewegen, erscheint der Körper primär ein anachronistisches Hindernis zu sein. Damit wird das weltund körperverfangene Weinen obsolet. Die Theologin Isabella Guanzini erkennt hier den »Homme blasé«, der in seiner Psyche »die Marktmechanismen verinnerlicht« hat und es gelernt hat, »mit ständigem Sicherheitsabstand zu leben« 70 . Dieser Gegebenheit begegnet Guanzini mit einem Plädoyer für neue Weisen des Fühlens, in denen geistesgegenwärtige Empfänglichkeit, Zärtlichkeit und »kämpferische Sanftmut« miteinander verwoben werden. Doch daraus kann nach meinem Ermessen nur etwas werden, wenn wir zunächst einmal die allgegenwärtige Gereiztheit, Angriffslust, Indifferenz oder bestenfalls Ermattung betrauern und – sofern sie uns unmittelbarer affizieren – auch zu beweinen wissen. Lachen angesichts vieler Skurrilitäten ist oftmals unumgänglich und kann befreiend wirken, doch erst durch leid69 70
Kottler, 1997, S. 10. Guanzini, 2019, S. 18.
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volle Betroffenheit, die sich auch Tränen zugesteht, werden tiefere Transformationen angestoßen, weil das Selbst hier per se nicht außen vor bleibt. Ich rekapituliere: Mit Lachen und Weinen reagieren wir in ganz unterschiedlicher Weise auf situative Überforderung. Weil wir keine Antwort mehr finden können oder finden wollen, stoßen wir uns im Lachen radikal von den Gegebenheiten ab. Stern schreibt: »Wir lachen über degradierte Werte oder um Werte zu degradieren« 71 – in der Regel sind dies die Werte bzw. Unwerte anderer, wäre hinzuzufügen. Wir weinen hingegen über von uns hoch geschätzte Werte, die bedroht, verloren, unerreichbar oder von flüchtiger Dauer sind. In beiden Fällen überantworten wir uns körperlichen Prozessen, verlieren die Kontenance, allerdings mit dem erheblichen Unterschied, dass wir im Lachen die unverständliche, nicht wohl gelittene Welt zurückweisen, uns über sie erheben und das Anstößige herabsetzen. Dem entgegen lassen wir uns weinend ergreifen von all dem, was unser Fassungsvermögen, unsere Verarbeitungskraft und unsere Handlungsmacht übersteigt. Wir geben uns geschlagen, erklären uns gleichsam wortlos für überwältigt und besiegt. Das irritiert unser Selbstwertgefühl, unser Souveränitätsbegehren und unseren Wunsch, in den Augen der Anderen gut dazustehen. Deshalb ist es so schwer, zu den eigenen Tränen zu stehen, was zunächst einmal bedeutet, sie hinzunehmen und auszuhalten, und das Weinen dabei nicht, wie es oft passiert, in eine Waffe zu transformieren oder es generell zu unterdrücken. Um meine Ausführungen über das Weinen abzuschließen und mich dem Thema Humor in der Philosophischen Praxis Stern, 1980, S. 55 – Dass wir das Weinen selbst als etwas Negatives betrachten, erklärt Stern folgendermaßen: »Der Verlust und der unverwirklichte Charakter von positiven Werten konstituieren negative Werte, so daß das Weinen einen negativen Wert darstellt und ganz besonders einen negativen vitalen Wert, da es mit Zuständen der Depression verbunden ist.« – Ebd., S. 216.
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anzunähern, möchte ich auf meine bereits angedeutete These zurückkommen. Gesagt wurde, dass der wahre Humorist der schmerzlichen Lebenserfahrung in keiner Weise enthoben ist. Für ihn oder sie steht die Sprache aufrichtiger Tränen dem echten Humor im Kern ziemlich nahe. Dieser Humor, den ich als eine Art Übertugend bezeichnen würde, kann – wie gesagt – nur jenseits eines emotionalen Stoizismus entstehen. Ohne hier einen Kausalzusammenhang unterstellen zu wollen, ist davon auszugehen, dass Schmerz und Leid, verglichen mit einem schmerz- und problemfreien Zustand, eine maßgebliche Rolle im Übergang zu einer intensivierten, wacheren und damit höherstufigen Lebensweise spielen. »Der Schmerz ist das Auge des Geistes.« 72 Leiden ist ein Zeichen von Lebendigkeit, entsprechend sind Lebenskrisen nach Höffding »ein Zeugnis dafür, dass der Kampf zwischen Wert und Wirklichkeit oder richtiger zwischen wertvoller Wirklichkeit und wertloser Wirklichkeit stets im Gange ist«. 73 Für den »großen Humor« (Höffding) kommt es darauf an, in dieser Weise mitten im wirklichen Leben zu stehen und nicht – gleichsam apriorisch – in einer Pose intellektueller Gefasstheit und Überlegenheit zu verschwinden, mit der man sich über das verknäuelte Gerangel zweitklassiger Anderer räsonierend erhebt. 74 Vielmehr wäre mit Höffding zu unterstreichen, dass auch für Gelehrte und Künstler die profanen Alltagsdinge außerhalb der intellektuellen Sphäre bestimmend für das Gesamtgefühl des Lebens sind. So gesehen begnügt sich diese Art des Humors keinesfalls damit, zurückgelehnt im Zuschauersessel johlend und prustend das irrwitzige Treiben der Welt zu goutieren. Er offenbart sich demnach nicht in spöttischer Witzelei, alberner Verulkung oder Plessner, 2003b, S. 95. Höffding, 1918, S. 104 f. 74 Auf die Unterschiede von Humor und Selbstironie sowie auf möglicherweise problematische Implikationen einer (selbst)ironischen Haltung verweist insbesondere Thorsten Sindermann. Siehe: Sindermann, 2009, S. 48–57. 72 73
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höhnischer Verlachung anderer, sondern vornehmlich in der Fähigkeit, auch die eigene ›Lächerlichkeit‹ anzunehmen, insofern man schmerzlich zur Kenntnis nehmen muss, wie mäßig erfolgreich die Auseinandersetzung mit der Welt, mit anderen Menschen und sich selbst in der Regel ausfällt. Wie Sigmund Graff betont, setzt Humor Wunden voraus. »Er ist eine Vernarbungserscheinung (…) ist selbstgekelterte seelische Widerstandskraft.« 75 Ähnliches drückt Sören Kierkegaard aus, wenn er formuliert: »Je mehr man leidet, um so mehr Sinn bekommt man, glaube ich, für das Komische. Erst durch das tiefste Leiden gewinnt man wahre Vollmacht im Komischen.« 76 Mit dieser Art von Humor hält man sich den leidvollen Ernst des Lebens also mitnichten vom Leibe, vielmehr nimmt man ihn an und findet allmählich bzw. phasenweise einen angemessenen, leichteren Umgang damit. Laut Höffding, der sich eingehend mit Kierkegaards Humordefinition beschäftigt, kommt dem Leid hier »eine sozusagen vakzinierende Kraft« zu. 77 Umgekehrt ließe sich behaupten, dass der Humorlose ein Problem mit seiner eigenen Fragilität hat und sich folglich in einen Modus überernster Selbstversteifung flüchtet, sei es durch resolute Zurückweisung jedweder Berechtigung des Komischen 78 oder sei es – genau gegenteilig – durch beißenGraff, 1955, S. 230. Kierkegaard, 1998, S. 258 f. 77 Höffding, 1918, S. 94. 78 Kierkegaard bezeichnet diese humorfeindliche Haltung als »die dumme Bürowichtigkeit eines Justizrates« oder auch »als dumme Wichtigkeit eines Erweckten vor Gott, (…)« – Kierkegaard, 2005, S. 659 – An anderer Stelle präzisiert Kierkegaard: »Der beschränkte Ernst fürchtet daher jederzeit das Komische und mit Recht, der wahre Ernst entdeckt selbst das Komische. Wäre es nicht an dem, so wäre Dummheit, was Ernst anlangt, die privilegierte Kaste.« – Kierkegaard, 1998, S. 389 – Siehe hierzu insgesamt die differenzierte, erhellende Studie von Thorsten Sindermann, deren zentrales Anliegen es ist, dem Überernst einen angemessenen alternativen Ernst gegenüberzustellen, einen Ernst, der sich in einer humorvollen Haltung unermüdlicher Selbstrelativierung 75 76
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Wahrer Humor kennt den Weltbezug des Weinenden
den Spott, habitualisierte Ironie und persiflierende Verunglimpfung anderer. Aufgrund der Schwierigkeit, angesichts kränkender und leidvoller Erfahrungen innere Festigkeit zu bewahren, errichtet man bitterernst oder eben lachend und wiehernd einen Schutzschirm gegen eine mangelhafte Wirklichkeit. Von derartigen Reaktionsweisen, selbst von Zynismus, wird sich gewiss niemand vollständig freisprechen können, doch es ist wichtig, die darin liegende Gefahr eines selbstbetrügerischen Habitus zu erkennen, der sich Bahn bricht, indem eigene Verletzlichkeit und Irrtumsanfälligkeit abgewehrt werden. Durch halsstarriges Festhalten an fixen Auffassungen und Selbstidealen wird vermieden, ein aufgeschlossenes Verhältnis zur leiblich-emotionalen Existenz einzugehen. Werden Brüche, Widersprüche und Unzulänglichkeiten jedoch notorisch ausgeblendet, so lässt sich auch nicht lernen, mit humorvoller Nachsicht auf die uns selbst anhaftende Unvollkommenheit zu blicken. Dies ist aber die wesentliche Voraussetzung für einen milden und tugendhaften Humor, wie ihn auch Peter Sloterdijk charakterisiert: »Erst wo der Witz nach innen geht und das eigene Bewusstsein, zwar aus der Höhe, doch nicht allzu ungnädig, sich über sich selbst beugt, dort entsteht eine Heiterkeit, die kein physisches Gelächter und kein zynisches Lächeln an den Tag bringt, sondern kampflos gewordener Humor.« 79 Es gibt viele Formen des Lachens. Es kann grell, schrill, spöttisch-schneidend, gemein oder ausgelassen sein, aber auch leise, verstohlen, traurig, sanft oder still. Dem düsteren, verankert. Humor erweist sich, wie auch hier betont wird, nicht in alles verspottendem Unernst oder dem notorischen Zwang, Witze zu reißen, vielmehr bezeichnet Humor eine besondere Form der Ernsthaftigkeit, die das Stranden überernster Verbissenheit (insbesondere bei sich selbst) mit Lachen oder wenigstens doch einem innerem Lächeln zu quittieren versteht, weil man erkannt hat, nur so den Tatsachen des Lebens – ernsthaft – gerecht werden zu können. – Sindermann, 2009. Zu Kierkegaards Humorbegriff, siehe auch: Rugenstein, 2014. 79 Sloterdijk, 1983, S. 556.
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verächtlichen und gehässigen Lacher steht das heiter-sanftmütige oder sporadisch auch ausgelassen-selbstironische Wesen des kampflos Gewordenen gegenüber. Dieser macht sich keine Illusionen über die eigene Partizipation an menschlicher Schwäche, Verblendung und Ungereimtheit. Er weiß sich seine alltäglichen Patzer, Unbeherrschtheiten und peinlichen Brüche freimütig zuzurechnen, markiert z. B. nicht beharrlich den schneidigen Feldherren, während er faktisch ein Angsthase ist, nicht den dialogisch Aufgeschlossenen, während er im Grunde den Ton angeben will, und nicht den hingebungsvollen Liebhaber, während er eigentlich ein Sexprotz ist. Und wenn doch, dann wagt er es, auf derartigen Widersinn bei sich selbst – und folglich auch bei anderen – mit humorvoller Zerknirschtheit zu blicken. Erst der kampflos gewordene Humor ermöglicht es, nicht in klaftertief verwurzelten Selbsttäuschungen zu erstarren, sondern optimistisch voranzugehen, an sich selbst zu arbeiten, wenngleich man aller Voraussicht nach beim nächsten gravitätischen Auftritt wieder über das Mikrokabel stolpern oder das Wasserglas umstoßen wird. Man weiß: Ebensowenig wie die Welt wird man auch sich selbst vermutlich niemals vollends in den Griff bekommen, jedenfalls nicht, ohne seine Menschlichkeit einzubüßen. Vor diesem Hintergrund bezeichnet Höffding im Humor verankerte Personen auch als »Zweimal-Geborene«, insofern es ihnen glückt, in ihrer Entwicklung über Perioden gegensätzlicher Gefühle und Erfahrungen eine verbindende, versöhnliche Linie zu ziehen. 80 Für sie bedeutet Humor eine gewisse Treue dem Leben gegenüber, welche in der Zuversicht verankert ist, dass auch schmerzliche Wertverluste niemals endgültig sein müssen. Neue Werte können ausgelöst werden. Lachen setzt hier voraus, »dass die, welche lachen, beständig sicher und wohlgeborgen auf der Seite der Vernunft und der Macht stehen, auch nachdem die ›Degradation‹ ein80
Höffding, 1918, S. 162.
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getreten ist. Es muß etwas dabei sein, was bei dem absteigenden Kontrast nicht aufgelöst wird – und in jedem Falle der Standpunkt, auf dem sich der Lachende befindet.« 81 Die Vernunftorientierung des Humorvollen liegt im Glauben an einen großen Zusammenhang des Wirklichen, was ihn überdies veranlasst, ausnahmslos allen menschlichen Denkweisen Bedeutung zuzumessen. Selbst vordergründig fraglich oder wertlos erscheinende Auffassungen sollen als berechtigte Teile der Wirklichkeit Anerkennung finden, mit denen er sich als Realist intensiv zu befassen hat. Im Wissen um die Geschichte der eigenen Irrtümer und Fehleinschätzungen versteht er Wahrheit als etwas, »das beständig neue Arbeit verlangt, um die Erfahrung zu erweitern und die gewonnene Erfahrung zu durchdenken«. 82 Nichts liegt ihm aufs Ganze gesehen ferner als die Pose der Unfehlbarkeit. Viele Theoretiker des großen Humors, so auch Höffding, stellen heraus, dass Humor an der Tragik gravierender Schicksalswendungen eine Grenze finden kann. Wo genau diese Grenzlinie verläuft, ist kaum allgemein zu beantworten und bedarf genauerer Erläuterungen. Wenngleich dies eine für die Philosophische Praxis hochrelevante Thematik ist, kann ihr an dieser Stelle nicht mehr vertiefend nachgegangen werden. Zu sagen wäre, dass die Praktikerin auch in der Frage, wann Humor zu greifen und wie weit er zu reichen habe, ihrerseits Humor beweisen muss, indem sie den eigenen wohlüberlegten Erfahrungsmaßstäben mit Skepsis begegnet, d. h. es vor allem nicht damit übertreibt, anderen gegenüber vorschnell den Hinweis zu erteilen, sich lachend am eigenen Schopfe aus dem Sumpf zu ziehen. Denn weil im Humor immer ein verborgener Schmerz vorhanden ist, liegen, wie auch Kierkegaard sagt, vor allem Sympathie und Mitgefühl Ebd., S. 54 – Später schreibt Höffding, dass dies »stille, sichere Erwartungen« sein können, »die so eingewurzelt sind, dass sie die Bedingung zur Kontrastwirkung bilden können (…).« – Ebd., S. 55. 82 Ebd., S. 149. 81
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darin. 83 Humor entwickelt sich nicht durch Anästhesierung der eigenen Person, sprich durch Verleugnung von Blessuren im eigenen Leben, indem man elitär und überheblich eine gleichsam kosmische Perspektive einnimmt, aus der heraus antipathische Verhöhnungen der Kleinheit anderer erlaubt scheinen. Vielmehr wurzelt der »große Humor«, wie neben Höffding auch Thorsten Sindermann ausführt, in bereitwilliger Lebensverwicklung, in der Anerkennung emotional durchlittener Degradationen, aus denen man sich herauszuwinden wusste hin zum Wieder-lachen-Können, worin sich zuletzt bzw. immer wieder neu die eigene wertorientierte Personalität behauptet. Kennzeichnend ist hier – ich wiederhole es nochmals – das Bemühen um Wirklichkeitstreue, welche kontinuierlich dazu veranlasst, die eigene Erkenntnisleistung und praktische Regulierungskraft nicht zu überschätzen. Folglich stimuliert Humor die Bereitschaft zum mitfühlenden Perspektivwechsel, zur Anerkennung der Perspektiven anderer, so dass aus Erkenntnisnot schließlich eine kommunikative Tugend werden kann. 84 Entsprechend ist Vernunft als »Übung im Wechsel der rationalen Perspektiven« 85 zu verstehen. Wie alle TuWenn Henri Bergson also schreibt: »Das Lachen hat keinen größeren Feind als die Emotion« – Bergson, 2011, S. 15 –, so ist ihm nur in Bezug auf Formen des Belachens der »Nichtigkeiten« anderer bedingt Recht zu geben. Was in diesem Falle fehlt bzw. vorübergehend ausgesetzt ist, sind aber in erster Linie unsere sympathetischen Gefühle, während Emotionen wie Ressentiment, Neid und Selbstgefälligkeit auch hier durchaus eine Rolle spielen. 84 Hierzu auch: Bennent-Vahle, 2020. 85 Seel, 1997, S. 15 – Ähnlich wie Höffding erblickt auch Theodor Lipps die höchste Stufe des Humors darin, dass – bei aller Selbstrelativierung und Selbstherabsetzung – in letzter Instanz eine Basis des Selbstvertrauens, die am Vernünftigen und Guten festhält, unangetastet bleibt. In diesem Sinne bezeichnet Lipps »einen vollbewussten Humor«, der sich »sowohl des Rechtes als auch der Beschränktheit seines Standpunktes, sowohl seiner Erhabenheit als auch seiner negativen Nichtigkeit bewusst ist, wenn er also neben seinem Rechte auch das Recht derer an83
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genden kann auch Humor weder bloß theoretischer Vorsatz noch dauerhafter Selbstbesitz sein. Letzteres allein schon deshalb nicht, weil niemand wissen kann, welche Prüfungen das Leben noch bereithält. Humor ist eine Art Grundgefühl, dem eine gelebte, immerfort ringende Praxis korrespondiert, eine wohlbewusste und wohlgemute Umgangsweise mit der eigenen Verletzlichkeit. Humor ist, was jemand tatsächlich zu leben versteht. Die heitere Leichtigkeit, die das Wesen einer Person allmählich erfüllen mag, ist dennoch niemals gegen jedwede Gefährdung gefeit. Dem Scherzen eignet hier, wie Höffding darlegt, ein Grundzug der Wehmut, weil es nie glücken kann, »ein abschließendes Wort über den Kern des Lebens und die Bedingungen des Lebens zu finden.« 86 Heinrich Heine stellt fest: »Das Leben ist im Grunde so fatal ernsthaft, dass es nicht zu ertragen wäre ohne die Verbindung des Pathetischen zum Komischen.« 87 So zutreffend diese Erkenntnis ist, so fatal wäre es, sie einem Verzweifelten gegenüber süffisant auszusprechen. Entscheidend ist hier zunächst nicht mehr und nicht weniger, als ein den großen Humor tragendes Vertrauen spürbar werden zu lassen, die Zuversicht nämlich, dass es in der Welt Wert gibt, obwohl das Wertvolle so oft untergeht und hinreichend Anlass zu Trauer und Pessimismus besteht. Irgendwann mag man schließlich – allein oder gemeinsam – zu Augenzwinkern und temporärer Leichtigkeit hinfinden. Dann mag es sogar gelingen, auch größeren Schmerz verhalten schmunzelnd abzumildern, indem man schließlich lakonisch feststellt: »Welche Art Tränen man auch vergießt, zum Schluss putzt man sich immer die
erkennt, denen sein Thun komisch ist.« (Lipps 2018, S. 189) – Anders gewendet kommt dem Humor damit auch eine politische Dimension zu, da er bewirken kann, dass Menschen »ihre axiologischen Partikularismen und Provinzialismen (…) überwinden, besonders die der kollektiven Gruppen.« – Stern, 1980, S. 203. 86 Höffding, 1918, S. 142. 87 Heine, 2013, S. 29.
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Nase.« – eine Äußerung, die ebenfalls Heine zugeschrieben wird, der wohl als exponierter heiterer Melancholiker unserer Tradition gelten kann.
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VI. Humor – ein zentrales Thema Philosophischer Praxis
Manche sind der Auffassung, dass das Thema »Humor« kein angemessener Gegenstand des Nachdenkens für Philosophische PraktikerInnen sei, insbesondere nicht in politisch so hochbrisanten Zeiten wie der gegenwärtigen. Ich halte dies für eine Fehleinschätzung und würde gerne noch vertiefend begründen, warum Humor – philosophisch adäquat bestimmt – nachgerade eine Kerntugend Philosophischer Praxis darstellt. Gleichermaßen bin ich überzeugt, dass eine politische Haltung, die sich mit Ernsthaftigkeit als demokratisch versteht, ohne Humor nicht zu haben ist. Wie einige Theoretiker des Humors herausstellen, ist das Verhältnis der Philosophen zum Humor häufig schwierig gewesen. Ihr beharrliches Streben nach allgemeingültigen, wahrheitsfähigen Erkenntnissen verleitet dazu, sich an einen erhabenen Standort, gleichsam auf eine affektfreie Anhöhe außerhalb des Spiels zu begeben, um von dort aus eine Art kosmische Sicht der Dinge anzustrengen. Wenn aber die wie auch immer beschaffene, je eigene emotionale Verwobenheit in kultur- und zeitgeistbedingte Verhaltensweisen und Wertsetzungen ignoriert wird, ergeben sich zwei – humorfeindliche – Grundprobleme bzw. Grundversuchungen: zum einen Dogmatismus in der philosophischen Haltung und zum anderen eine fragliche rationalistische Selbstüberschätzung, die alles Irrationale, Ungeordnete und ›Sinnlose‹ am eigenen Selbst ausblendet und schließlich sogar verleugnet. Gegen diese Blindheit, deren Gestus mitunter hochtrabende Absonderung von anderen ist, sind auch Philosophische PraktikerInnen nicht gefeit, denn hier werden philosophietypische Gefährdungen virulent, von denen wir alle offenbar nicht so recht loskommen können. 203 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
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Es ist also wichtig, noch sorgfältiger die Art von Humor zu bestimmen, die für die Arbeit innerhalb der Philosophischen Praxis wertvoll ist. Hier kommt es insbesondere auf eine spezifische selbstrelativierende Haltung an, genauer gesagt auf Humor als Tugend im Selbstverhältnis, die allein eine Basis bieten kann, um gegebenenfalls auch das Gegenüber zu einer Freiräume verschaffenden – humorvollen – Praxis im Umgang mit den eigenen Brüchen und Unzulänglichkeiten einzuladen. Wie im vorherigen Teil dargelegt, steht im Fokus des Humors nicht etwa die Absicht, das Leben als Ganzes nicht ernst zu nehmen, sondern vielmehr das Bemühen, vor allem sich selbst niemals übermäßig ernst zu nehmen, sich selbst sogar auch komisch finden zu können, weil man um die eigenen Grenzen und Schwierigkeiten des Gelingens weiß. Allein dieser Humor, der auch die eigene Betroffenheit vom doppelbödigen Widersinn menschlicher Existenz einräumt, vermag den Sinn für Komik in humane Bahnen zu lenken. Lachen, mit dem nach Plessner existenzielle Ausweglosigkeiten »quittiert« 1 werden, kann schwerlich Halt vor der eigenen Person machen. Man mag menschliche Schwächen lieber an anderen konstatieren, doch wenn man Humor hat, lacht man primär über sich selbst: »Die Fähigkeit zur Selbstdistanz ist geradezu der Prüfstein des Humors und seine eigentliche Quelle.« 2 Dieser dem Französischen entnommene Begriff (quitter = lassen/verlassen) transportiert einen doppelten Sinn: Man kapituliert und verlässt damit gewissermaßen die unlösbare Lage, kündigt damit temporär das Involviertsein auf und verpasst damit der ganzen Ausweglosigkeit zugleich eine Quittung. Eine nicht beantwortbare Situation, eine Situation, die unser aktuelles Verstehen und unsere Bewältigungskraft übersteigt, die unserer souveränen Beherrschung damit entgleitet, kann nur noch mit Lachen »quittiert« werden. Doch gerade indem der Mensch sich – lachend sowie weinend – der entfesselten Leiblichkeit überantwortet, behauptet er nach Plessner letztlich seine Personalität. 2 Plessner, 1970, S. 128. 1
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Humor als Tugend – mehr als eine selbstironische Pose
Es ist mir ein Anliegen, mit meinen Ausführungen auf die Bedeutung dieses ›großen‹ Humors insbesondere für die Philosophische Praxis hinzuweisen, denn hier haben wir es unablässig mit in die Welt involvierten, leidenden Menschen zu tun, mit denen m. E. ohne selbstrelativierenden Humor keine Begegnung gelingen kann. Eine solche humorvolle Haltung wendet sich dem Anderen durchaus mit großer Ernsthaftigkeit zu. Sie tut dies, indem dieser Humor eben nicht auf oberflächliches Verlachen menschlicher Phänomene abzielt. Gleichermaßen wird die spöttische Dauerpose der Selbstironie vermieden. Spürbar werden sollte vielmehr, dass heitere Distanznahme, wie oben dargelegt wurde, dem Leben, so wie es nun einmal ist, gleichsam abgerungen wurde und immer wieder neu abgerungen werden muss. Vor diesem Hintergrund erschien es mir wichtig, das Weinen zu thematisieren, denn nirgendwo sonst tritt die Verletzlichkeit unseres Ichs so unumwunden und unverstellt hervor. Diesbezüglich müssen wir bedenken: Nur wenn es hinreichend Anlass gibt, keinen Humor zu haben, kann es überhaupt darum gehen, Humor an den Tag zu legen.
1. Humor als Tugend – mehr als eine selbstironische Pose Dem gilt es nochmals nachzusinnen. Entscheidend ist nicht, ob jemand tatsächlich weint oder nicht. Schließlich gibt es, wie wir gesehen haben, gute Gründe dafür, Kummer und Schmerz den Blicken anderer zu entziehen. Entscheidend ist vielmehr, ob sich eine Person von den Gegebenheiten in ihrem Umfeld derart berühren lässt, dass sie sich selbst und mitunter auch anderen ein Überwältigtsein zuzugestehen vermag. Ein großes Problem liegt m. E. darin, den eigenen Schmerz reflexartig zurückzudrängen, und zwar in grundlegender Weise, d. h. ihm nicht etwa nur hinter verschlossenen Türen Ausdruck zu verleihen, sondern ihn gar nicht erst 205 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
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zuzulassen, ihn umgehend stillzustellen, ihn zu kompensieren oder – dies eine Vorliebe des Intellektuellen – ihn zu sublimieren. Es kann zu einer besonderen Quelle des Selbstgenusses werden, den Reiz des Lebens vorwiegend aus den kleinen alltäglichen Siegen über ›anarchische‹ Anfechtungen der Gefühls- und Leibsphäre zu gewinnen. Man weiß, dass beispielsweise Kant dem sinnlichen Verlangen, der Gier nach bestimmten Speisen, der Neigung zur Trägheit sowie emotionalen Einbrüchen durch unvorhergesehene Ereignisse konsequent entgegenwirkte, indem er sein Leben minutiöser Planung unterwarf. 3 Jeder Anhaftung widerstehend kann die geheime Lust der Selbstbezwingung als ein Hochgefühl der Verstandessouveränität erlebt werden. Allein anspruchsvolle geistige Ideale werden mit Wert besetzt – Elemente einer intelligiblen Welt, die nur wenige auserlesene Anrainer vorweist. Somit ist es nicht verwunderlich, wenn die Mehrheit der Menschen derartigen Ansprüchen nicht genügt, sondern stattdessen niederen Vergnügungen nachjagt. Diese schlichten Gemüter mögen jammern, sich womöglich tränenreich über das Scheitern ihrer ›banalen‹ Projekte beklagen, der Kundige und Tiefsinnige steht darüber, er blickt geringschätzig herab auf die seichte Glücksfixiertheit dieser »letzten Menschen«, für die schon Nietzsche nur noch Verachtung aufbringen konnte. 4 Diese Menschen sind bedauernswerte Kleingeister, die sich entweder tieferen Einsichten verweigern oder zu unvermögend sind, um diese zu erlangen. Die meisten von ihnen müssten – wie Schopenhauer sagt –, »wenn sie am Ende zurückblicken, finden, daß sie ihr ganzes Leben hindurch ad interim gelebt haben, und verwundert seyn, zu sehen, daß das, was sie so ungeachtet und ungenos-
Siehe hierzu: Borowski, 2012; siehe auch: Böhme u. Böhme, 1985; Schwarz, 2019. 4 Nietzsche, 1988c, S. 19. 3
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sen vorüber gehen ließen, eben ihr Leben war, in dessen Erwartung sie lebten«. 5 Ohne darüber richten zu wollen, wie es um die Genussfähigkeit und Lebensfreude eines Philosophen vom Schlage Schopenhauers steht, ohne zudem in Abrede stellen zu wollen, dass Menschen in der von ihm benannten Weise ihr Leben verpassen und verfehlen können, mag es doch erlaubt sein, einige Mutmaßungen anzustellen: Sind es nicht sehr oft bescheidene und vielleicht auf den ersten Blick eher langweilige Menschen, die ein besonderes Talent für die einfachen, kleinen Freuden des Lebens besitzen? Sind diese Menschen nicht vielleicht sogar diejenigen, von denen wir mit Recht sagen könnten, sie seien in Tuchfühlung mit den schlichten Alltäglichkeiten geblieben, so dass sie weitaus mehr als mancher intellektuelle Vorreiter den Gefahren des Anspruchsdenkens und der Selbstüberschätzung entgehen. Kommen nicht gerade aus den Kreisen dieser Genügsamen diejenigen Helfer und Helferinnen, die in Krisenzeiten wie der aktuellen Corona-Pandemie ihre außerordentliche Humanität unter Beweis stellen, Menschen, die sich als überaus kreativ und engagiert in der Fähigkeit erweisen, Leiden und Lebensbeeinträchtigungen anderer zu mildern? Gewinnt man nicht umgekehrt oftmals den Eindruck, dass die forcierte Abgrenzung einiger PhilosophInnen gegenüber dem vermeintlichen Durchschnittsmenschen einer fraglichen Hybris entspringt, die in zweifacher Weise den Tatsachen nicht gerecht wird: Zum einen missachtet sie in vielen Fällen den inneren Reichtum der nach außen hin Unauffälligen und weiß womöglich die Qualität bestimmter Formen der Zeitvertreibs gar nicht einzuschätzen, zum anderen aber – und das halte ich für problematischer – lässt ein Denker, der sich gleichsam außerhalb des ›Kleingeistigen‹ verortet, das eigene Verfangensein in oftmals fragwürdigen Vorurteilen und Traditionalismen ungeprüft. 5
Schopenhauer, 1999, S. 260.
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Unthematisiert bleibt darüber hinaus der emotionale Gewinn, den die Inanspruchnahme bildungsbedingter Superiorität dem Ego zu bieten vermag. Auch wenn man sich hin und wieder in modester Pose gefällt, regiert hier im Grunde kein Wissen um die eigenen begrenzenden Vorprägungen und irrtumsanfälligen Einseitigkeiten. Tiefsinnig geriert man sich als Mahner, Untergangsprophet, mitunter nachgerade höhnisch als derjenige, der es immer schon gewusst hat, ohne jemals das zugrunde liegende Selbstbild zu prüfen. Hier fehlt die für den Humor so wichtige Bereitschaft zur Selbstrelativierung. Man mag über vieles lachen, die eigenen Unzulänglichkeiten gehören nicht dazu. Allenfalls pflegt man eine Attitüde der Selbstironie 6, in der das Ego Oberwasser behält und andere auf den Part des bewundernden Publikums reduziert, eine Attitüde, die sich darin gefällt, auch das eigene Selbst spielerisch ›vorzuführen‹, ohne es indes jemals ernsthaft als korrekturbedürftig anzusehen. Selbstironisches Abstandnehmen läuft Gefahr, nur kokett zu sein, und wäre infolgedessen weniger Ausdruck echter Selbstdistanz als vielmehr Signal einer besonders raffinierten Form der Selbstversteifung oder Selbstüberschätzung. Spielerisch wird genialisch-überlegene Subjektivität inszeniert, die sich von der Masse derjenigen abhebt, die in ihren spießigen alltäglichen Sorgen gefangen und fremdbestimmt sind. (Selbst)Ironie birgt das Risiko, es in unernsten Reden mit der Herabschraubung des Ernstes nicht wirklich ernst zu meinen, sondern ganz im Gegenteil darin eigentlich nur jenen Überernst zu kaschieren, der das Exquisite der eigenen Person unhinterfragt zugrunde legt. Eine demonstrativ selbstironische Haltung hat zudem den Vorteil, möglichen Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Man weiß ja um die eigenen Fehler und Schwächen und schnappt solcher-
Zur Abgrenzung von Selbstironie und Humor, siehe auch: Sindermann, 2009, S. 48 f.
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maßen »diesen Bissen/ vorweg den anderen Kritiküssen;« 7 Als nicht minder fraglich sind alle Formen freimütiger, ja schamloser Selbstentblößung anzusehen, denen wir heute im medialen Raum auf Schritt und Tritt begegnen. Ähnliches gilt auch für Philosophenbekenntnisse, in denen eigene Abgründe unverblümt offengelegt werden. Hier wie dort wird die Person im Zuge der ungenierten Darbietung ihrer Verderbtheit nur allzu oft von Eitelkeit eingeholt. 8 Der Selbstironische läuft Gefahr, einem Habitus entgrenzter Negativität zu verfallen, für den am Ende rein gar nichts mehr wirklich von Belang ist bzw. zu sein scheint. Demgegenüber wäre für den Humorvollen kennzeichnend, dass er trotz aller Anzeichen persönlichen Widersinns bzw. Unvermögens zuversichtlich an bestimmten Idealen oder Werten festhält, die sein Agieren lenken. Auch Theodor Lipps erblickt die höchste Stufe des Humors darin, dass bei aller Selbstrelativierung und Selbstherabsetzung in letzter Instanz eine Basis zuversichtlicher Wertorientierung unangetastet bleibt. In diesem Sinne zeichnet er (wie einige andere) vor allem Sokrates als Vertreter höchsten Humors aus, da dieser sich »sowohl des Rechtes, als auch der Beschränktheit seines Standpunktes« bewusst war, »sowohl seiner Erhabenheit als auch seiner negativen Nichtigkeit (…), wenn er also neben seinem Rechte auch das Recht derer anerkennt, denen sein Thun komisch ist«. 9 Hier wäre m. E. im Blick auf die Arbeit der PraktikerInnen noch hinzuzufügen: auch das Recht derjenigen, deren Tun uns komisch ist. Man kann es auch anders ausdrücken: Der Humorvolle zeichnet sich dadurch aus, hartnäckig am Ideal eines würdevollen, gelingenden Lebens festzuhalten und unermüdlich die Ursachen seines Scheiterns zu erforschen, auch wenn es nicht danach aussieht, dass jemals alle Inkongruenzen und 7 8 9
Busch, 1908, S. 237. Siehe: Böhme, 2007, S. 79 ff. Lipps, 2018, S. 189.
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Unsicherheiten überwunden sein werden. Auch im zwischenmenschlichen Umgang erwartet er nicht, dass je einer der eingebrachten Vorschläge, erst recht nicht der eigene, mit bemerkenswerter Zustimmung rechnen kann. Er bewahrt ein optimistisches Menschenbild, auch wenn auf den ersten Blick vieles dagegen zu sprechen scheint. In diesem Sinne ähnelt der Humorvolle einem Philosophierenden, der um sein Nichtwissen weiß, und er gleicht damit gewissermaßen auch jener ›Witzfigur‹, welche die thrakische Magd zu ihrem Amüsement im Brunnenloch verschwinden sah. »Lachend in den Strudel der Verkehrtheit hinabzutauchen, und darin die Hoheit des Vernünftigen, Guten, Grossen, kurz des Menschlichen zu bewähren« 10 – das ist, wie ich Lipps zustimmend meine, höchster Humor und ist zugleich das Geschäft allen praktischen Philosophierens. Ganz anders ein philosophischer Typus vom Schlage Schopenhauers, dem Irvin Yalom mit seinem Roman Die Schopenhauerkur ein Denkmal setzt. 11 Philip Slate gibt vor, ein philosophischer Praktiker zu sein, der die Wirksamkeit der Philosophie im Selbstversuch erprobt, indem er sich zur Überwindung einer Zwangserkrankung einer »Schopenhauer-Kur« unterzieht. Näher betrachtet ist Slate ein Wiedergänger Schopenhauers: scharfsinnig, misanthropisch-düster, abgewandt vom niederen Getriebe der Welt, mit der sich zu vermischen seine größte, uneingestandene Angst ist. An der Behandlung seiner Sexsucht scheiterte einst die Kunst des erfolgreichen Therapeuten Julius Hertzfeld. Die Romanhandlung setzt ein, als dieser 25 Jahre später seinen ehemaligen Patienten kontaktiert, denn Hertzfeld, der unheilbar an Krebs erkrankt ist, drängt es danach, sich den Fehlschlägen seiner vergangenen Arbeitsjahre zuzuwenden. Er erfährt nun, dass Slate, der ihm unverändert erscheint, der Überzeugung ist, durch die Lektüre der Werke Schopen10 11
Ebd., S. 208. Yalom, 2005.
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hauers von seinen sexuellen Obsessionen geheilt zu sein. Gleich zu Beginn wird unübersehbar, dass diese ›Heilung‹ um den Preis der Weltverneinung und Menschenverachtung erfolgte und, wie im weiteren Verlauf der Romanhandlung deutlich wird, kaum ernsthaft als Heilung zu bezeichnen ist. Genau besehen gibt der sexgierige Roboter von einst, der ohne jede Anteilnahme kalt und skrupellos unzählige Frauen zum Instrument der Triebbefriedigung degradierte, der seiner gleichgültigen Geringschätzung anderer Menschen nur ein neues Gewand gab: die Haltung stoisch-herablassender Überwindung aller gefühlsgelenkter Teilnahme am Menschlichen. Der Sieg der Philosophie besteht hier in der Kunst, sich fernzuhalten von anderen, den »Strudel der Verkehrtheit« zu meiden, und stattdessen eine Betrachtung der Dinge ›sub specie aeternitatis‹ anzustrengen sowie mittels der Selbstreduktion auf Wissen und rationale Abwägung permanent alle Wünsche und Begehrungen zu überwinden. Genauso »wie Schopenhauer«, möchte Slate, »so wenig wollen wie möglich und so viel wissen wie möglich«. 12 Der selbsternannte philosophische Berater Philip Slate ist gefühlsarm und kalt, vermeidet jeden Blickkontakt und begegnet allen an ihn herangetragenen menschlichen Problemen mit distanzierten Erörterungen, bei denen er sich textkundig und belehrend der philosophischen Tradition des Abendlandes bedient. Nur die Tatsache, dass er für die staatliche Lizensierung seiner Praxis einen Supervisor benötigt, hindert ihn an der vollberuflichen Ausübung seiner Beratertätigkeit. Die Umstände zwingen ihn, sich einer Gruppentherapie unter der Leitung Hertzfelds zu unterziehen. Hier erwacht nach und nach in der perfekt funktionierenden Denkmaschine das fühlende Herz. Es mutet an wie eine posthume Therapie Schopenhauers, denn Slates Biografie entspricht in allen wesentlichen Punkten der Lebensgeschichte
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Ebd., S. 175.
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des Philosophen, die etappenweise in die Romanhandlung eingebettet wird. Yaloms Roman provoziert eine Reihe von Fragen, die für die philosophische Praxis und ihr Verhältnis zur Psychotherapie nicht unwesentlich sind. Während die Therapiegruppe durch die philosophischen Einwürfe Slates wesentliche Anregungen und eine Erweiterung ihres gedanklichen Horizontes gewinnt, muss der Philosoph im therapeutischen Setting die Einsicht ›erleiden‹, dass es auf »Deckungsgleichheit« ankommt, nämlich darauf, Denken, Empfinden und Handeln in Einklang zu bringen. Seine brillanten Erkenntnisse und weltgewandten Textzitate verfehlen ihr Ziel und verkehren ihre Wirkung, solange sie der interessierten Anteilnahme am Mitmenschen entbehren. Die scharfsinnigsten Analysen Schopenhauers verlieren Wahrheitsgehalt und Überzeugungskraft dadurch, dass sie unüberhörbar die Äußerungen eines Menschenhassers sind. Erst die sensible Wahrnehmung einer präsenten Situation und das Verlangen nach Verständigung mit anderen Menschen (mit Andersdenkenden) vermag das philosophische Wort zu verlebendigen und ihm lebensrelevante Wirksamkeit einzuräumen. Yalom zeigt uns, dass genau dies Slate unmöglich ist, denn die rabiate Rosskur à la Schopenhauer, der er sich unterzog, trieb ihm mit den Leiden die Leidens- und Empathiefähigkeit aus. Dies mag aus theoretischer Perspektive als Zustand geistiger Ruhe attraktiv erscheinen, ein Zustand, der uns das nichtige Wesen der Dinge vor Augen führt und uns dagegen feit, gleißnerische Güter anzustreben bzw. uns im Oberflächlichen und Flüchtigen zu verlieren. Aber es erweist sich als eine einsam gewonnene Einsicht, die zu Einsamkeit und melancholischer Gedrücktheit verdammt. Dass dies traurig ist, macht der Roman unübersehbar klar. Kein noch so gelungenes Bonmot über die Einsamkeit kann Abhilfe schaffen, wenn Slate zu guter Letzt angesichts der Lieblosigkeit seines Lebens in Tränen ausbricht – ausgelöst durch den beharrlichen Zuspruch einiger Gruppenmitglieder. 212 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Humor als Tugend – mehr als eine selbstironische Pose
Auch wenn wir offenlassen, ob Yalom dem realen Schopenhauer in allem so ganz gerecht wird, zeigt er uns sehr wohl, dass manche philosophische Lehre die Gefahr in sich birgt, die menschliche Bedürftigkeit, Abhängigkeit und Angewiesenheit nicht wahrhaben zu wollen. Die hochfliegende Sehnsucht nach Souveränität usurpiert den Geist und verbietet ihm jede gefühlsmäßige Weltverwicklung, die als bedrohlich und entwürdigend angesehen wird. Dies ist das Grundmotiv eines in unsere Tradition eingeschriebenen Dualismus von Rationalität und Gefühl, von Geist und Körper und der daraus hervorgehenden Priorisierung eines nach Neutralität strebenden Erkenntnissubjektes. Yaloms Roman zeigt den illusionären Charakter dieser Trennungen im Zusammenbruch Slates, der, wie es heißt, eine Festungsmauer um sich errichtet hielt, obwohl schon lange kein Anlass zur Verteidigung mehr bestand. So demonstriert Yalom, der als Begründer der existenziellen Psychotherapie gilt, in seinen Philosophenromanen, dass auch Philosophie Abwehr sein kann, dass sie den Blick zu verstellen vermag für die tatsächlichen Bedürfnisse und die eigentlichen und leitenden Motive – eine besonders ausgeklügelte Form des Selbstbetrugs also, in der man sich vorgaukelt, dauerhaft in der Beobachterperspektive verharren zu können, während man effektiv weitaus mehr als gedacht (bzw. ohne es bemerken zu wollen) in emotionalen Verstrickungen verfangen ist. Dagegen setzen die Romane folgende wichtige Erkenntnis: Lebendiges, sozial verbundenes Menschsein vollzieht sich im permanenten Wechsel zwischen der Enge affektiver Betroffenheit und den unabschließbaren Prozessen der gedanklichen Entfaltung und Objektivierung des Erfahrenen. Dementsprechend kann der Philosophische Praktiker sich nicht wie der Akademiker auf der Metaebene des Begriffs einnisten, ohne sein Anliegen zu verfehlen. Um ansprechbar zu sein, ist er gezwungen sich auszusetzen, sich etwas widerfahren zu lassen. Diese Fähigkeit bedarf der Einübung, die Teil 213 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Humor – ein zentrales Thema Philosophischer Praxis
einer Beraterausbildung sein muss. Was am Beispiel des ehemaligen Schwerenöters Slate augenfällig wird, gilt auch für jeden anderen praktisch ambitionierten Philosophen: Es ist nötig, sich selbst im Spiegel anderer zu erkunden, auch dann, wenn wir mit Plessner sagen müssen, dass wir sowohl uns selbst als auch anderen niemals gänzlich transparent werden können. Oder besser noch: Es ist nötig, angesichts situativer Komplexität weltoffen zu agieren. Philosophische Überzeugungen, die das Wesen des Menschen auf rational-vernünftige Entfaltung seiner selbst und seiner Welt reduzieren wollen, verfehlen die Tatsachen des Lebens. Sie beschreiben allenfalls ein Potential, dessen Ermangelung die Regel ist. Die ›Option‹ auf Verkennung dieses Sachverhaltes ist da besonders hoch, wo Menschen sich als souveräne Vernunftträger definieren und als Apologeten der Philosophischen Vernunft in Szene setzen – nicht selten selbst dann noch, wenn der propagierte Standpunkt auf Toleranz, auf die Vielgesichtigkeit des Vernünftigen sowie auf die Uneinholbarkeit von Identität setzt.
2. Humor – selbstrelativierende Subjektivität Ein wichtiges Instrument des Humors ist das Bemühen um Ausweitung des Blickfeldes, realisierbar über den Versuch, temporär von denjenigen Dingen abzurücken, die uns akut umtreiben, niederdrücken oder gefangen nehmen. Von einem übergeordneten Standort aus bzw. aus einer ungewohnten Perspektive heraus, die erst der Humor ermöglicht, lassen sich spezifische, uns heimsuchende Leiden auf andere Weise betrachten und relativieren. Indem wir sie etwa in umfassende Zusammenhänge einordnen, kann es gelingen, Gegenwärtiges im Blick auf allgemeine existenzielle Rahmenbedingungen neu zu bewerten – Bedingungen, von denen wir sagen müssen, dass sie letztlich alle Menschen gleichermaßen betreffen. Wird uns dies mit heiter-zugewandter 214 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Humor – selbstrelativierende Subjektivität
Geste vor Augen geführt – mit »schenkensbereiter Fürsorge« 13 , wie Patrick Schuchter formuliert – so mag sich das Gefühl ausweglosen Gefangenseins im Verhängnisvollen ein wenig lösen. Selbst in Grenzsituationen führt die humorvolle »Denkbewegung« zu einer »Denk-Begegnung zwischen Menschen«, »die in Einsichten und Gestimmtheiten mündet, die ein anderes Lebensgefühl, eine erweiterte Fühl- und Denkungsart, ermöglichen, die die Welt anders sehen lassen«. 14 Vielleicht begreifen wir plötzlich, dass wir irrtümlicherweise davon ausgingen, Anspruch auf eine Ausnahmeregelung bezüglich der Bruchlandungen des Lebens erheben zu können. »Mache dein TheaterAuge auf, das grosse dritte Auge« 15 , ruft uns Nietzsche zu, im Hinweis darauf, dass sich möglicherweise im Wechsel zwischen innerer Betroffenheit und distanziertem Maßnehmen auch so etwas wie humorvolles Lachen über manche Absurdität des Lebens einstellen mag. »Humor ist, wenn man trotz der Absurdität« 16 lacht, so sehr sie auch zuvorderst schmerzen mag; Humor ist also, wenn man die eigene Bedeutung zu relativieren versteht und jedes Anliegen fortan gemesseneren Schrittes verfolgt, ohne indes wie der notorische Selbstironiker der Arroganz des kosmischen Blickwinkels zu verfallen. Denn Humor gewinnt die heilsamen Effekte der theoretischen Einstellung nur dann, wenn er in eine Atmosphäre sanfter geistigseelischer Berührung und liebevoller Anteilnahme eingebettet ist. Will die Philosophische Praktikerin zu einer derartigen Fluktuation der Blickwinkel ermutigen, um einem Gast ein wenig Entlastung zu ermöglichen, ist es von zentraler Bedeutung, dass sie selbst in der Lage ist, humorvoll-selbstrelatiSchuchter, 2020, S. 80. Ebd., S. 84 – Schuchter bringt in seinen Ausführungen zu diesem Thema einige berührende Beispiele. 15 Nietzsche, 1988d, S. 297 – Zu Nietzsche, siehe auch: Sindermann, 2009, S. 132 f. 16 Ebd., S. 93. 13 14
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Humor – ein zentrales Thema Philosophischer Praxis
vierend über den eigenen Standort im Leben nachzudenken und dies in adäquater Weise zu signalisieren. Es ist nicht einfach, hierfür den rechten Moment auszumachen, die passende Tonlage zu finden und eine solche Haltung ganz frei von selbstironischen Posen einzunehmen. Neben hoher Sensibilität für die jeweilige Situation bedarf es seelisch-gedanklicher Stärke, ja eines besonderen Mutes, sofern man ›ernsthaft‹ in Distanz zu sich selbst treten will, sofern man es vielleicht sogar riskieren will, das eigene Agieren einmal wie auf einer Bühne mit den Augen eines unbeteiligten Zuschauers zu betrachten. Wie Sindermann sagt, ist »Selbstdistanz eine Sache (…), die man zunächst und zumeist nicht nur nicht hat, sondern sogar flieht«. 17 Temporär im größtmöglichen Maße zum aufrichtigen Beobachter seiner selbst zu werden, um Schwierigkeiten und Befangenheiten des Involviertseins besser zu meistern, ist das Kerngeschäft Philosophischer Praxis. Es kommt darauf an, dies zu bewerkstelligen, ohne sich in grundsätzlicher Manier gegen die Schmerzen des Lebens abzuschotten. Dies steht in deutlichem Gegensatz zu aktuellen Erfolgsstrategien, die darauf zielen, mittels versierter Beobachtungmethoden andere in ihrer emotionalen Verfassung genau ›abzuchecken‹, um sie im Anschluss möglichst effektiv eigeninteressiert steuern zu können. Weil Eigennutz bzw. Geschäftsinteressen hier die Antriebe sind, der Agierende dem Geschehen also letztlich keineswegs indifferent und absichtslos gegenübersteht, muss er alles daransetzen, vom emotionalen Ausdruck seines Visavis in der Tiefe unberührt zu bleiben. Er sucht über den Anderen zu verfügen, indem nur das Zielrelevante an ihm in die Planung einkalkuliert wird. Zugleich entzieht er sich durch Techniken des Kaschierens und der disziplinierten Reserviertheit dem empathischen ›Zugriff‹ anderer. Ähnlich wie im Staat Mikronesien 18 macht er 17 18
Ebd., S. 133. Siehe S. 185.
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Humor – selbstrelativierende Subjektivität
sich gewissermaßen unerkennbar, indem er sich z. B. darin trainiert, auch heftige Emotionen hinter einem Ausdruck der Teilnahmslosigkeit zu verbergen. Doch warum sollte man zum Zuschauer seiner selbst werden? Warum ist Humor so wertvoll? – Die Antwort ist einfach: Weil wir mit Humor der tieferen Wahrheit unserer Existenz ein Stückchen näher rücken. Wir erkennen an, dass es uns – ganz im Sinne Plessners – grundlegend verwehrt ist, zu vollständiger Deckungsgleichheit mit uns selbst zu gelangen. Hierin sind wir ebenso unvollkommen wie in unserer Fähigkeit, irgendeine Sache zum Abschluss zu bringen, etwa eine endgültige Wahrheit zu gewinnen oder ein ethisches Ideal adäquat zu formulieren, geschweige denn es in untadeliger Weise real werden zu lassen. Im Lachen über uns selbst bekunden und akzeptieren wir diese Grenzen unseres Sinnverstehens, wir ›quittieren‹ 19 das Scheitern zahlloser Versuche, in der Welt auf uns gemäße Weise wirksam zu werden. Man ist mit seinem Latein am Ende, jedenfalls vorübergehend, weil sich kein sinnvoller Anknüpfungspunkt mehr auffinden lässt. Antwortet der Mensch auf derartige Fehlschläge mit humorvollem Lachen, so überlässt er sich der Sprache des Körpers, doch ohne sich dabei vollends als denkendes, sinnorientiertes und mit anderen verbundenes Wesen aufzugeben: »Im Verlust der Herrschaft über ihn (den Körper H. B.-V.), im Verzicht auf ein Verhältnis zu ihm bezeugt der Mensch noch sein souveränes Verständnis des Unverstehbaren, noch seine Macht in der Ohnmacht, noch seine Freiheit und Größe im Zwang. Er weiß auch da eine Antwort zu finden, wo es nichts mehr zu antworten gibt. Er hat, wenn auch nicht das letzte Wort, doch die letzte Karte im Spiel, dessen Verlust sein Gewinn ist.« 20
19 20
Siehe Fußnote 1 in diesem Kapitel. Plessner, 2003c, S. 276.
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Humor – ein zentrales Thema Philosophischer Praxis
Hinausweisend über diese Worte Plessners wäre zu sagen: Ob laut lachend oder nur in zurückhaltender Erheiterung, der Humorvolle konzediert, an eine Grenze des Verstehbaren gelangt zu sein. Er feiert diese Kapitulation möglicherweise mit auftrumpfendem Gelächter, doch beinhaltet seine Haltung weitaus mehr als Sarkasmus, Hohn oder Selbstverspottung. Der Humorvolle bekundet zugleich eine versöhnliche Zuversicht, durch Perspektivwechsel und Erweiterung des eigenen Denkhorizontes über den Sinnverlust ›irgendwie‹ hinwegzukommen. Ohne jemals ganz frei von Skepsis gegenüber eigenen Verstehensleistungen sein zu können, vor allem ohne das Eigene absolut zu setzen, setzt er auf Verbesserung und eine stetig voranschreitende Einsicht, die in einer von existenzieller Solidarität und Mitgefühl getragenen Gestimmtheit verankert ist. Humor ist mithin eine genuin philosophische Haltung, weil in ihm der Dogmatismus definitiver Antworten ausgeschlagen wird und die Unergründlichkeit der seelischen Sphäre Anerkennung findet, weil er sich infolgedessen die Neugier auf das Weltverstehen anderer bewahrt. Er weiß, dass sich Wahrheit allein im unabschließbaren Prozess intersubjektiver Prüfungen entfaltet, welcher umso besser gelingt, je weniger jeder einzelne Agierende von persönlichem Ehrgeiz, von Eitelkeit, Rivalität und Angst angetrieben ist. Man könnte auch sagen: je weniger eine Person der Selbsttäuschung erliegt und zu besonnener Abwägung bereit ist. Es ist also berechtigt anzunehmen, dass Humor ein probates Mittel ist, der Selbsttäuschung zu entgehen oder sie wenigstens doch zu verringern. Humor verhilft zu einem unverstellten, zugleich versöhnlichen, nicht resignativen Blick auf Unzulänglichkeiten und Halbheiten in allen menschlichen Angelegenheiten, auch im eigenen Selbst. Im Grunde genommen wissen wir alle darum, dass unsere Weltsicht subtiler unkontrollierbarer Formung durch vielfältige Faktoren entspringt. Auch wenn diese Weltsicht uns unverrückbar erscheinen mag, kommen wir nicht umhin zu konzedieren, 218 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Humor – selbstrelativierende Subjektivität
dass sie gewissermaßen aus den spezifischen Zufällen unserer kulturellen, sozialen und persönlichen Herkunft hervorgegangen ist. Dennoch bemerken wir auf Anhieb oftmals gar nicht, wie unvollständig und eingeschränkt unsere Auffassungen in der Regel sind. Stoßen wir in unserer Selbstgewissheit auf gegenläufige Denk- und Lebensstile, so geschieht es immer wieder, dass wir mit eifernden, feindseligen, mitunter sogar hasserfüllten Anwürfen dagegen aufbegehren. Intellektuell Gebildete pflegen derart niedere Emotionen weit von sich zu weisen, doch sorgen vergleichbare Regungen bei ihnen, wie ich schon angedeutet habe, nicht selten für besondere Schärfe in der Formulierungsweise, für polemisierende Unterstellungen, für subtile Invektiven und Mikroaggressionen gegenüber Andersdenkenden, nicht zuletzt für eine habituelle Geringschätzung emotionaler Involviertheit. Wie dem auch sei, in jedem Fall verhindert die Bereitschaft, es mit Humor zu nehmen, jede sich überstürzende Selbstgewissheit. Der dem Humor eigene Zug heiterer, oft auch zerknirscht-beschämter Selbstrelativierung ist folglich von enormer Bedeutung für jedes zwischenmenschliche Gelingen, nicht zuletzt im politischen Bereich. Gerade hier wäre es hilfreich, festgefahrene Standpunkte und insbesondere allzu spontane Eingebungen kritisch zu überdenken. Würde nachdenkliche Selbstbesinnung (wieder) als wertvolles Richtmaß anerkannt, so müssten wir auf dieser Basis eine ruhige, überlegte Kampagne gegen offen provozierende, menschenfeindliche Statements und gegen sensationshungrige, manipulative Meinungsmache entwickeln. Politische Positionen, die auf dreisten Lügen basieren, deren Fürsprecher sich jeder sachbezogenen Klärung entziehen, könnten nicht länger als ernst zu nehmende Auffassungen angesehen werden. Denn schließlich lässt sich keine sinnvolle Auseinandersetzung divergierender Auffassungen führen, wenn kein Hauch von Selbstzweifel im Spiel ist und sachliche Überprüfungen angesichts unverrückbarer, dogmatischer Überzeugungen ausgeschlagen, ja vielfach ›weggeschrien‹ werden. 219 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Humor – ein zentrales Thema Philosophischer Praxis
3. Menschliche Würde – ein verletzliches Gut Für die Arbeit in Philosophischer Praxis ist – so meine Überzeugung – die entlastende und tröstende Funktion humorvoller Distanznahme von hohem Wert. Diese Funktion in Anspruch zu nehmen, stößt vermutlich dann auf größere Akzeptanz, wenn wir uns nochmals klarmachen, inwiefern dieser ›große Humor‹ einem spezifischen Verständnis menschlicher Würde verpflichtet ist, genauer gesagt einem spezifischen Ethos, welches der Anthropologie Plessners eingeschrieben ist. Es ist dies ein Konzept menschlicher Würde, das sich, wie wir gesehen haben, von naturalistischen und metaphysischen Begründungen löst und der Geschichtlichkeit des Menschen Rechnung trägt. Wie insbesondere Kai Haucke aufzeigt, wird Würde hier einerseits, d. h. in ihrer maximalen Ausprägung, als hohes Strebensziel definiert, andererseits aber, d. h. in ihrer Minimalform, als (noch unausgereifte) Gegenwärtigkeit/Gegebenheit bestimmt, die sich jenseits einer freien Wahl mit der exzentrischen Positionalität der menschlichen Natur verbindet. Würde korrespondiert mithin einer Grundstruktur des Menschseins, von der Plessner sagt: »Wer in ihr ist, steht in dem Aspekt einer absoluten Antinomie: sich zu dem erst machen zu müssen, was er schon ist, das Leben zu führen, welches er lebt.« 21 Da sie notwendigerweise zum Vorfindlichen in Beziehung treten müssen, sind Menschen fortwährend neu herausgefordert, sich im Bestehenden zu modifizieren und zu modellieren. Hierzu noch eine weitere Erläuterung. – Die Besonderheit personalen Seins besteht darin, in zweifacher Weise von sich selbst distanziert zu sein: zum einen durch die Ausdrucksgestalt, die es seinen Eigenschaften und Lebensregungen zu verleihen hat, zum anderen aber auch durch den Abstand, den es zu diesem Ausdrucksgeschehen auf einer zweiten Ebene zusätzlich einzunehmen vermag, wodurch seine Exis21
Plessner, 1981, S. 384.
220 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Menschliche Würde – ein verletzliches Gut
tenz »über die Expressivität hinaus einen darstellerischen Charakter gewinnt«. 22 Relevant insbesondere für diese zweite Ebene bewusster ›Selbstinszenierungen‹ sind unsere Alteritätsbezüge, sprich unser gesellschaftliches Ansehen, unser berufliches Prestige, unser szenenspezifisches Image, unser moralischer Ruf. In den Worten Kierkegaards ist das menschliche Selbst »ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält« – in dieser Freiheitsfähigkeit ist, wenn man so will, seine Minimalwürde verankert. Ist das Selbst aber, wiederum noch präziser mit Kierkegaard gesagt, »das am Verhältnis, dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält« 23 (als Synthesis von Endlichkeit und Unendlichkeit), so tritt hier bereits der Aspekt hervor, dass gelingendes Selbstsein sich seines ›darstellerischen Charakters‹ bewusst ist und ihn eigenverantwortlich an- und übernimmt. Dazu gehört, dass es sich nicht einfach dem Vorfindlichen überlässt, d. h. weder inneren Antrieben, noch gesellschaftlichen Diktaten ungeprüft folgt, sondern vielmehr bestrebt ist, im Rahmen des Vorgegebenen in Eigenregie einen gangbaren Weg zu bahnen, indem spontane Impulse und habitualisierte Lebenskonzepte in Anbetracht der sozialen Verfasstheit des Menschen – also nach ethischen Gesichtspunkten – reflektiert und gegebenenfalls abgewandelt werden. Dazu gehört es, die eigenen Lebensäußerungen und Handlungsformen in größtmöglichen Einklang mit oftmals divergierenden inneren Dispositionen zu bringen, d. h. alle Facetten der eigenen Wirklichkeit mit Bedacht aufeinander abzustimmen, um solchermaßen das eigene Leben tatsächlich als eigenes zu führen. Peter Bieri spricht in diesem Zusammenhang davon, »durch Selbstbeschreibungen an unserer persönlichen Identität« zu arbeiten 24 , um »den Kampf gegen die innere Monotonie, gegen eine Starrheit des Er22 23 24
Haucke, 2003, S. 19. Kierkegaard, 1992, S. 8. Bieri, 2011, S. 19.
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Humor – ein zentrales Thema Philosophischer Praxis
lebens und Wollens« 25 aufzunehmen. Einzubeziehen ist hierbei nach Bieri unbedingt auch die bewusste Hochschätzung der emotionalen und leiblichen Dimension menschlicher Existenz. In gleicher Weise wendet sich Plessner gegen rigide Konzepte vernunftgelenkter Selbstbeherrschung, ja es gibt nach seiner Auffassung »geradezu die Pflicht, dem Reichtum auch der Kräfte seiner Natur Raum zu geben, die nicht von der Vernunft, von Geist und Werten und Sittengesetzen und Prinzipien gezügelt werden können«. 26 Unmissverständlich reklamiert Plessner mit diesen Worten die Relevanz einer Sphäre sinnlicher und ästhetischer Genüsse, in der Menschen auf je eigentümliche Weise den Geschmack ihres unergründlichen Seins fühlend auszukosten und kreativ auszuloten suchen. Angestrebt wird ein Ideal des Zusammenstimmens von innen und außen, der Ausgewogenheit aller Seelenteile – der ›schönen Seele‹ Schillers nachempfunden –, welches dennoch nach Plessner nur über ein Abstandnehmen von sich selbst realisierbar ist, aber eben ohne in einem sinnenfeindlichen Habitus rationalistischer Distanziertheit zu erstarren. Vielmehr vermag dieses Hinsteuern auf harmonischen Einklang nur dann Substanz zu gewinnen, wenn es sich der Bewährung mitten im ›Strudel des Lebens‹ stellt, wo es gilt, einer Vielzahl alternativer Anliegen gerecht zu werden, den eigenen emotionalen Befangenheiten und Begrenztheiten zu begegnen und die Interessen anderer Menschen zu berücksichtigen, wo es vor allem aber stets nötig ist, mit persönlichen Misserfolgen und Bruchlandungen klar zu kommen. Plessner betont nachdrücklich das menschliche Eingewobensein in umfassende Zusammenhänge. Für ihn steht der Mensch nicht außerhalb der Naturdinge, sondern er findet sich als winziges »Element in einem Meer des Seins« vor und muss erkennen, »in eine Reihe mit allen Dingen dieser 25 26
Ebd., S. 14. Plessner, 2002, S. 111.
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Welt zu gehören«. 27 Damit wird der Mensch immer auch als fühlendes, leidensfähiges, in die Natur eingebundenes und zu ihr gehörendes Wesen anerkannt. Er wird nicht im Verweis auf sein Vernunftvermögens aus dem Naturganzen herausgelöst und auf einen souveränen Standort des Betrachtens und Verfügens verfrachtet. Seine Würde erweist sich demnach nicht darin, sich von Leiblichkeit und Emotionalität rigide abzusetzen, um alle hier verankerten Glücksansprüche stillzustellen und möglichst umfassend über sie zu herrschen. Vielmehr liegt Würde darin, eine Kultur wohltuender Selbstdistanzierung zu pflegen, in der das lebendige Eingelassensein in die Welt grundsätzlich bejaht und auch befördert wird. Durch Plessners ethische Neujustierung des Menschen wird Würde also nicht in einer verstiegenen Vernunftnatur verankert, vor deren kompromissloser Härte man am Ende nur versagen kann. Würde realisiert sich nicht in zwanghafter Selbstbeherrschung, sondern im unaufhörlich-strebenden Lebensvollzug derjenigen, die die besondere Seinsweise des Menschen bejahen und gleichermaßen die damit einhergehenden Schwierigkeiten und Risiken auf sich nehmen. Kai Haucke, der diese Zusammenhänge hochgradig differenziert darlegt, betont, dass Plessners Anthropologie ihre Aufgabe darin sieht, »die sinnliche und lebendige Natur des Menschen ethisch-moralisch zu rehabilitieren, sie der vernünftigen Freiheit gleichzustellen und in dieser Gleichrangigkeit beider auch die Konflikte und Kollisionen in ihrer bis zur Tragik reichenden Schärfe herauszustellen, denen die menschliche Lebensform ausgesetzt sein kann«. 28 Plessner, 1981, S. 12; Haucke, 2003, S. 28. Haucke, 2003, S. 31 – Haucke verortet Plessners Ansatz in einer von den englischen Sensualisten herkommenden, über Adam Smith, Friedrich Schiller und lebensphilosophische Ansätze verlaufenden Linie, die ein nicht-dualistisches Menschenbild zugrunde legt. Der hier entwickelte Würdebegriff korrespondiert auch dem Begriff der Besonnenheit bei Otto Friedrich Bollnow: »Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung gibt
27 28
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Humor – ein zentrales Thema Philosophischer Praxis
Mit Hilfe dieser Optik wird erkennbar, dass menschliche Verfügungsgewalt stets begrenzt bleibt durch die jeweilige Eigendynamik der Dinge, von denen sie umgeben und in die sie eingebunden ist. »Durch ihr Verschränktsein in ein körperliches Ding und einen sozialen Sachzusammenhang« ist auch die Person »nicht ohne weiteres aus der Welt der Sachgüter herausgehoben« 29 , schreibt Plessner und fügt im Blick auf die Vielfalt kultureller Praktiken hinzu: »Selbstdeutung und Selbsterfahrung gehen über andere und anderes. Der Weg nach Innen bedarf des Außenhalts. Wie er gegangen wird, ob über den Toten, den Traum, das Spiegelbild, durch magische Praxis oder reflektierende Versenkung, entspricht stets der Auffassung der Außenwelt und der sozialen Verfassung.« 30 Diese unaufhebbare Verwobenheit mit der Welt ist mit erheblichen Risiken verbunden, eine Gegebenheit, die Plessner wie kaum ein anderer augenfällig macht. Denn es ist beispielsweise ungemein schwierig, die eigene für wertvoll erachtete Lebensform ohne Halsstarrigkeit gegen den Mainstream aufrecht zu erhalten und hierfür respektvolle Beachtung bei anderen zu finden. Diesbezüglich hat man regelmäßig mit diskriminierenden Fixierungen und Vorurteilen zu kämpfen (in der Philosophie mitunter immer noch mit glücksfeindlichen Imperativen). Aber es kann durchaus noch schlimmer kommen, wenn nämlich die eigene Existenz keies nur dort, wo es einen Dualismus im Menschen gibt, eine Zweiheit von beherrschender Vernunft und beherrschter Sinnlichkeit. Und darum neigt auch das Bild des Selbstbeherrschten zu einer verkrampften Spannung der Züge. Der Besonnenheit ist dies fremd. Sie kennt nicht die Beherrschung eines Seelenteils durch den anderen, sondern bezeichnet eine durchgehende Gesamtverfassung der Seele in ihrem Gleichgewicht und ihrer ganzen inneren Freiheit: ganz bei sich ungetrübt von jedem störenden Einfluß, im überlegenen Gebrauch aller ihrer Kräfte. Und das macht ihre ganze Größe aus.« – Bollnow, 2009, S. 197. 29 Plessner, 2003b, S. 196. 30 Ebd.
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Menschliche Würde – ein verletzliches Gut
nerlei soziale Aufmerksamkeit und Wertschätzung erfährt. Wir haben schon gesehen, mit wie viel Präzision und Einfühlungsvermögen Plessner die Befindlichkeiten und Gefährdungen gerade des (post)modernen Individuums nachzeichnet. In dieser Hinsicht können wir vermutlich kaum zu viel Energie darauf verwenden, uns die freischwebende, ungewisse, ja oftmals haltlose Verfassung vieler Menschen spätmoderner Gesellschaften bewusst zu machen. Besonders belastend ist es für viele, erkennen zu müssen, dass man ganz offenbar den eigenen Ansprüchen nicht genügt und aufgrund dieses Unvermögens auch vor den Augen der Welt nicht bestehen kann. Stoßen andere den Finger in diese Wunde, so nehmen quälende Gefühle der Scham und Demütigung überhand, welche der Selbstachtung erheblichen Schaden zufügen. Schmerzlich erlebt werden darin vor allem diskriminierende Festschreibungen, durch die der vielschichtigen Unergründlichkeit und Freiheitsfähigkeit des Menschen Gewalt angetan wird. Wird die latent bereit liegende Potentialität des Anders-sein-Könnens übergangen, erleben viele dies ›instinktiv‹ als empfindliche Verletzung ihres Würdegefühls. Durch den Blick des Anderen festgeschrieben und abschätzig auf eine defizitäre, freiheitsunfähige Sache reduziert zu werden, erweckt narzisstische Scham 31 , die unter Umständen ausufernde Ängstlichkeit, Verbitterung und Fremdheit im eigenen Ich nach sich zieht – eine Verwirrtheit des Herzens, die oftmals früh ›verabreicht‹ wird und, sofern soziale Nöte hinzukommen, schließlich allzu leicht in Ressentiment und Hass mündet. Geschieht dies, so können andere, zumeist Fremde und Zugewanderte, zur Projektionsfläche für diffuse Gefühle der Minderwertigkeit und Fremdheit im eigenen Inneren werden. 32 In dieser Frage ist deshalb Blumenberg zuzustimmen, der »ein MenSiehe: Bennent-Vahle, 2013, S. 158–170. Siehe hierzu: Wurmser, 1971; Neckel, 1991 u. 1993 – Zum Ressentiment, siehe: Gutknecht, 2021.
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Humor – ein zentrales Thema Philosophischer Praxis
schenrecht darauf, nicht ungewollt zu existieren« 33 thematisiert und den Nächstverantwortlichen die Pflicht auferlegt, den (jungen) Menschen mit der Kontingenz seines Daseins auszusöhnen. Wesentlich ist, der heranwachsenden Generation die Aufmerksamkeit und Anerkennung angedeihen zu lassen, die ihr Welt- und Selbstvertrauen stärkt und die sie zuversichtlich auf das Morgen blicken lässt. Generell wäre Folgendes zu beachten: Aus der fundamentalen Unbestimmtheit und Unabgeschlossenheit menschlichen Seins gehen Vulnerabilitäten hervor, die alle Formen des Zwischenmenschlichen – von der intimen Liebesbeziehung bis hinein in hochgradig formalisierte berufliche Kontexte – zu einem bedrohlichen Minenfeld werden lassen. Dies ist vor allem in hoch individualisierten Gesellschaften der Fall, in denen tradierte normative Vorgaben und Regelwerke weitgehend überwunden bzw. außer Kraft gesetzt sind. Um diesen riskanten Deregulierungsprozessen entgegen zu wirken, unterstreicht Plessner wie dargelegt mit Nachdruck den Wert ritualisierter Umgangsformen wie Höflichkeit und Takt. Diese sollen uns vor Übergriffen anderer schützen, beinahe mehr aber wohl davor, dass wir selbst andere in allzu ungestümer, gradliniger Art angehen und sie dabei unter Umständen (ungewollt) in ihrer Würde verletzen. Haucke schreibt: »Jemanden achten heißt, sich im Umgang mit ihm vorsehen, vorsichtig sein. Achtung und Vorsicht sind Warnrufe, die eine Gefahr anzeigen. Aber jemanden achten, vorsichtig sein, besagt zugleich auch, um seine Verletzlichkeit wissen: ihn schonen, behutsam sein, Schutz gewähren.« 34 Gerade diese Mahnung nun aber verweist uns nicht zuletzt darauf, auch bei der Verabreichung der heilsamen Arznei ›Humor‹ mit besonderer Behutsamkeit und Umsicht zu Werke zu gehen.
33 34
Blumenberg, 2014, S. 649. Haucke, 2003, S. 22.
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Der (un)sanfte Stoß
Man sieht auf Anhieb, wie weit wir uns heute von diesen klugen Einsichten entfernt haben, wobei nicht nur an die rüden Flegeleien im öffentlichen Raum oder die hemmungslos herausgeschleuderte Wut vermeintlich ›politischer‹ Aufmärsche und Kundgebungen zu denken ist, nicht minder bedeutsam sind die Taktlosigkeiten psychologisch geschulter Ehrlichkeitsfanatiker, die sich mit investigativer Wucht auf Vorstöße ins Seeleninnerste einschwören. Zu Plessners Ökonomie wechselseitiger Achtung wäre vieles mehr zu sagen, durchaus auch Kritisches. So wäre etwa einzuwenden, dass es in vertrauteren Verhältnissen gewiss darauf ankommt, gelegentlich ein offenes und ehrliches Wort zu wagen, weil wir nur so füreinander sichtbar werden können, um unsere menschlichen Beziehungen voranzubringen. Maßvolle Freimütigkeit ist im geschützten Raum schon allein deshalb angeraten, weil einzig auf diesem Wege die Selbstdistanzierungsfähigkeit einer Person wachgerüttelt werden kann, so dass beispielsweise Strukturen unangemessener Selbstgefälligkeit aufbrechen und heilsame Veränderungen in Gang gesetzt werden. Auch Humor mag hier ein wirksames Mittel sein. Diesen Aspekten ist unbedingt auch für die Philosophische Praxis hohe Bedeutung zuzumessen, worauf nun noch einzugehen wäre.
4. Der (un)sanfte Stoß In privaten, von erprobter wechselseitiger Freundschaft und Liebe getragenen Beziehungen sind kritische Rückmeldungen gewiss unverzichtbar, denn nur so kann ein gemeinsames Band von Dauer gestiftet werden. Natürlich besteht auch hier die Kunst der Nähe darin, alle Formen pauschalisierender Abwertung und objekthafter Festschreibung zu vermeiden, welche den Partner/die Partnerin im Innersten treffen und damit letztlich seine/ihre Freiheitsfähigkeit in Abrede stellen, ganz zu schweigen von damit verbundenen emotionalen 227 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Humor – ein zentrales Thema Philosophischer Praxis
Überforderungen. Es kommt also auch im persönlichen Bereich stets darauf an, die richtigen Worte zu wählen und einen angemessenen Ton anzuschlagen. Da man den anderen in der Regel sehr gut kennt oder zu kennen vermeint, ist gerade hier die Versuchung groß, von Zorn oder Ärger animiert, giftige Pfeilspitzen mit nachhaltigem Zerstörungspotential auszusenden. Eigene Unzulänglichkeit und perspektivische Begrenztheit werden dabei nur allzu leicht – temporär – ausgeblendet. Von zentraler Relevanz aber ist die Frage, wieviel Freimütigkeit man sich innerhalb der Philosophischen Praxis erlauben kann. Wie steht es hier um das Gebot zwischenmenschlicher Schonung und Milde? Übertreibt Plessner es nicht ein wenig, wenn er von den »Wohltaten der Unwissenheit über sich selbst« 35 spricht und mit jeder zwischenmenschlichen Resonanz die Angst vor Degradierung verknüpft sieht? – Ist dementgegen aus unserer Sicht der manchmal etwas unsanfte Stoß von außen tatsächlich ein wichtiger Faktor aller Selbstformungsprozesse, so gilt es abzuwägen, wie dies ohne Bloßstellung und Beschämung vonstattengehen könnte. Allzu forsche Vorgehensweisen sollte man sich auch hier wohl nicht erlauben. Dafür gibt es eine Menge verschiedener Gründe, die ich im Rückblick auf meine bisherigen Ausführungen darlegen möchte. Ich rekapituliere also nochmals: Abständigkeit und Selbstdistanzierung als Grundanlagen des Menschen (denen dieser mehr oder weniger entsprechen/folgen kann) bedingen zum einen seine basale Würde, zum anderen besitzt diese Würde zugleich auch einen graduellen Charakter, weil es mehr oder weniger gut gelingen kann, selbstdistanzierend die unterschiedlichen, oftmals disparaten Seelenkräfte zu orchestrieren, d. h. auf wohlüberlegte, eigenständige Art spontane Präferenzen und Glücksinteressen mit vernünftigen Einsichten und moralischen Rücksichten in Einklang zu bringen. 35
Plessner, 2002, S. 67.
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Der (un)sanfte Stoß
Tieferes Nachdenken lehrt uns: Wir können nur deshalb mit dem Pronomen ›ich‹ auf uns selbst Rückbezug nehmen, weil wir darum wissen, dass diese reflexive Hinwendung zu einer einmaligen Mitte anderen Ichsagern gleichermaßen geläufig ist und deshalb mühelos von ihnen verstanden wird. Wir wissen, dass diese Anderen wie wir selbst auf ihre Weise um ein selbstbestimmtes und glückvolles Leben ringen, und wir erkennen zugleich an, dass es miteinander nur dann auszuhalten ist, wenn ein gewisses Level an Mäßigung, Selbstbeherrschung und Rücksichtnahme eingehalten wird. Wie weit diese Verhaltensregulierung äußeren Zwängen zu verdanken ist oder vielmehr aus einer selbsttätigen Kultivierung besonnener Umgangsweisen hervorgeht, ist dabei eine wichtige Frage, die weiter oben schon angesprochen wurde, der ich aber an anderer Stelle noch weitaus gründlicher nachgeangen bin. 36 In jedem Fall ist es wohl so, dass wir als in die Welt verwobene Ichsager, als exzentrisch positionierte Personen – infolge einer gewissen ›Grundausstattung‹ also – einander gleichen, während die Beschaffenheit des Weltkreises, in dem wir stehen, sowie unser jeweiliges Naturell uns zu einmaligen Individuen mit sehr verschiedenen Wertorientierungen und Interessen machen. In der Terminologie Plessners ausgedrückt, sind wir aufgrund der Struktur unserer Personalität deshalb stets vertretbar bzw. austauschbar. Weil dem so ist, können wir auch unsere Einzigartigkeit nur im Blick auf diese prinzipielle Ersetzbarkeit/Vertretbarkeit würdevoll realisieren. Erst im Zeichen seiner Vertretbarkeit erkennt der Mensch seinen Sinn für das Gemeinwohl, begreift sich mithin als Teil einer Gesellschaft von gleichgestellten Wesen. Nicht mehr zu ignorieren ist für ihn die Tatsache, dass sich ihm »sein eigenes Dasein als individuelles nur gegen die Möglichkeit« abhebt, »daß er auch ein anderer hätte werden können. Diese Möglichkeit ist dem Menschen an seiner 36
Bennent-Vahle, 2020.
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Humor – ein zentrales Thema Philosophischer Praxis
Lebensform gegeben. Er ist sich selbst Hintergrund des Menschlichen, von dem er als ›dieser und kein anderer‹ hervortritt.« 37 Das ›eigentliche‹ Selbst des Menschen liegt deshalb, wie Haucke feststellt, »weder in der Austauschbarkeit mit anderen noch in der Einzigartigkeit und Unvertretbarkeit« 38 , sondern darin, beide Komponenten situationsbezogen je unterschiedlich auszuloten und einander zu vermitteln Dies ist eine tragende Einsicht, in der die ethische Einzigartigkeit des Individuums und seine moralisch-rechtliche Austauschbarkeit bzw. rechtliche Gleichstellung als Person in einen unauflöslichen Würdezusammenhang gestellt sind. Für eine respektvolle Arbeit in Philosophischer Praxis ergibt sich hieraus ein unhintergehbarer ethischer Orientierungsrahmen, mit dem sich spezifische Akzentuierungen verbinden. Deutlich wird insbesondere, dass wir einander in unserer vulnerablen Mittelpunktstellung ähneln und alle gleichermaßen darum ringen müssen, unser Selbst eingedenk seiner Unbestimmtheit würdevoll zu leben. Ob eingestanden oder nicht, grundsätzlich wissen wir alle, was es heißt, sich in der Erforschung des eigenen Selbst mit einem ›Ungefähr‹ abfinden zu müssen, weil sich letzte Klarheit und Sicherheit nicht einstellen wollen, weil man immer wieder von sich selbst überrascht werden kann. Wir wissen um die Schwierigkeiten, Verbundenheit aufzubauen und zu bewahren, und um die Hemmnisse, die einer kooperativen und solidarischen Arbeit mit anderen entgegenstehen. Vielen sind Erfahrungen der Geringschätzung, der Diskriminierung und des Übersehenwerdens wohlvertraut. Manchen allerdings mehr als anderen. Nehmen wir Plessners feinsinnige anthropologische Analyse ernst, so ergibt sich für die Philosophische Praktikerin 37 38
Plessner, 2003b, S. 300. Haucke, 2003, S. 35.
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Der (un)sanfte Stoß
eine Reihe erhellender Rückschlüsse: Es ist ungemein wichtig für Praktikerinnen, sich darin zu üben, im rückversichernden Gespräch mit dem jeweiligen Gegenüber die eigenen Eindrücke, Überzeugungen und Schlussfolgerungen zu überprüfen und gegebenenfalls zu revidieren. Dies kann nur gelingen, wenn auch der je spezifische philosophische Standort und die damit verknüpften Wahrnehmungsweisen und Standpunkte eine grundlegend aufgeschlossene Relativierung erfahren, wenn also jeder Wahrheitsdogmatismus vermieden wird. Das heißt zum einen, sich die unergründliche Kontingenz dieses Standortes tatsächlich bewusst zu machen, was impliziert, sich der eigenen ›Gefährdung‹ durch die Sichtweisen des anderen nicht zu entziehen, sich vielmehr einzulassen auf das darin Mitgeteilte, um »mit anderen Augen« sehen zu lernen – möglicherweise auch sich selbst in dem, was man für selbstverständlich hielt. Dazu benötigt man neben Vertrauen in eine untergründige Ähnlichkeit aller Menschen Zurückhaltung und vor allem die Bereitschaft zu Imaginationen, die uns hinübertragen zu den Sichtweisen des jeweiligen Gegenübers. Eine derartige Aktivierung reifen Mitgefühls, die ich an anderer Stelle präziser entfaltet habe, ist ein wichtiges ›Instrument‹ der Philosophischen Praktikerin. 39 Hervorzuheben ist eine besondere Variante des Mitgefühls, welche Martin Buber mit dem Terminus ›Umfassung‹ kennzeichnet. 40 Das Ethos Philosophischer Praxis entspringt der Verbundenheit in einer gemeinsamen Seinsstruktur, woraus sich keine absoluten Sicherheiten, nur sympathetische Ähnlichkeiten ergeben. Verbundenheit ist gewissermaßen als Aufruf zu verstehen, die Rate des Gemeinsamen oder zumindest doch Geteilten auf kommunikativen Wegen zu erhöhen, ohne sich allzu hochfliegenden Vorstellungen der Verständigung hinzugeben. Letztlich kommt es auf den Respekt vor 39 40
Bennent-Vahle, 2020. Siehe: Fußnote 54 in Kapitel VII.
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Humor – ein zentrales Thema Philosophischer Praxis
der fremden Seele an, deren spezifisches In-der-Welt-Verankertsein anderen in weiten Teilen unzugänglich bleiben muss. Es ist aber wichtig, einen Raum zu öffnen, der es diesem Sein gestattet, sich Ausdruck zu verleihen, eine Sprache zu finden, um sich mitzuteilen und gesehen zu werden. Deshalb ist es kein Nachteil, wenn eine Praktikerin aus eigener Erfahrung weiß, was es bedeutet, auf taube Ohren zu stoßen, welche sich oftmals an übereilten, selbstgewissen Antworten zu erkennen geben. Im Zuge einer Praxis des Mitgefühls, die Nachempfinden und Nachdenken ineinandergreifen lässt, vermag sich an den Grenzen des Verstehens die gemeinsame Welt zu vergrößern. Vorschnelle Entwertungen anderer werden eingedämmt, weil wir im praktischen Vollzug einsehen müssen, dass wir uns selbst niemals restlos erfassen können. Keine Selbstergründung lässt uns zu einem soliden Wesenskern vorstoßen. Je weiter wir gehen, je mehr Lebenslagen wir durchzustehen haben, umso mehr Faktoren und Schichtungen tauchen auf, deren Zuordnung stets ein interpretatorisches Wagnis bleibt. Gleichermaßen begreifen wir, dass wir uns niemals vollends aus der Betroffenheit herausreflektieren können, dass jene »unbestechliche Betrachtung« unserer eigenen (und erst recht der menschlichen) Natur, von der Spinoza spricht 41 , also ein unerreichbares Ideal bleiben muss. Dennoch ist es ein wichtiges, weil dieses Ideal uns zu stetem Bemühen, zu Integrität und vor allem zu Nachsicht anderen gegenüber veranlasst, die in vergleichbaren Ungewissheiten feststecken, auch wenn sie durch ihr Auftreten einen gegenteiligen Eindruck wachrufen mögen. Zweierlei erscheint mir hier wesentlich: Dass wir in Philosophischer Praxis einerseits einen Resonanzraum für die je eigene Stimme der BesucherInnen schaffen, um zu persönlicher Stimmigkeit anzuregen, dass wir von hier aus blickend andererseits erkennen müssen, dass Selbstbejahung uns immer auch voneinander absondert 41
Spinoza, 1976, S. 11.
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Die Lächerlichkeit des Philosophen
und trennt, dass an den Grenzen der Verständigung deshalb vor allem wesentlich wird, eingedenk dieser Tatsache miteinander auszukommen und angemessen mit dem Leid anderer umzugehen.
5. Die Lächerlichkeit des Philosophen Hiermit gelangen wir abermals an jenen heiklen Punkt, den ich weiter oben schon berührt habe: Auch wenn ich keine soliden empirischen Belege vorweisen kann, so möchte ich dennoch ein weiteres Mal meiner Vermutung Ausdruck verleihen, dass viele Philosophinnen gefährdet sind, in einem Habitus chronischer Exzentrizität gewissermaßen einzurasten und dabei ihre Positionalität süffisant beiseite zu schieben. Dies hat zur Folge, dass die einen sich auf unangemessene Weise als Bescheidwisser von herausragender Weitsicht generieren, dass andere wiederum ihre ›monolithische‹ Weltauffassung verabsolutieren und ihr festgezurrtes Werte- oder Methodensystem anderen überstülpen, wobei sie nicht selten blind für deren Diskriminierungserfahrungen bleiben. Plessners Sicht auf den Menschen verhilft uns dazu, radikal der Relativität des eigenen Standpunkts innezuwerden, indem man sich klar macht, wie stark jede Einsicht und erst recht jeder intellektuelle Habitus aus gelebten Erfahrungen und spezifischen Lernkontexten hervorgehen. So liegt man gewiss nicht völlig falsch darin zu konstatieren, dass weite Teile westlichen Philosophierens auf der Lebenserfahrung privilegierter, weißer Männer aufbauen, die sich kaum mit Ohnmachtserfahrungen und den alltagspraktischen Mühseligkeiten des Lebens abgeben mussten. (Ausnahmen bestätigen die Regel!) Zu wenig dazu herausgefordert, sich an der konkreten Materie abzuarbeiten und dem widerständigen Stoff gerecht zu werden, zu wenig genötigt, die lähmende Gleichförmigkeit und Eintönigkeit der Alltagsgeschäfte zu verkraften, wächst die Gefahr, sich in einer nicht unproble233 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Humor – ein zentrales Thema Philosophischer Praxis
matischen Überschauer- Haltung zu verstetigen, eine Haltung, in der man gekonnt (wie mancher Politiker) über bestimmte Kontexte fabuliert, ohne jemals mit vollen Sinnen dort gewesen zu sein. Die Lebensferne nicht weniger Philosophen erinnert an eine alte Geschichte, die Sokrates im Theaitetos erzählt, um aufzuzeigen, wie es um den Philosophen in der Welt bestellt ist. Es ist die Anekdote von Thales und einer thrakischen Magd. Die Erzählung zeichnet Thales als lebensfremden, weltabgekehrten Sterngucker, der – in Gedanken versunken einherwandelnd – zu seinem eigenen Schaden nicht wahrnimmt, was sich unmittelbar vor seinen Füßen befindet, so dass er schließlich in ein Brunnenloch stürzt. Eine einfache Frau aus dem Volke, jene thrakische Magd eben, die Zeugin dieser Szene wird, bricht daraufhin in schallendes Gelächter aus. Thales, der große Mathematiker und Denker, welcher den Ursprung aller Dinge im Wasser erblickt und damit als erster eine vereinheitlichende Aussage über den Gesamtzusammenhang alles Seienden trifft, dieser Thales wird zum Spottobjekt des einfachen Volkes, noch dazu einer Frau. Sein Schicksal repräsentiert fortan, wie eine krude, uneinsichtige Alltagswelt auf das philosophische Abstraktionsbegehren antwortet. Natürlich kann diese Geschichte ganz unterschiedlich gelesen werden, zugunsten der Magd in ihrem klugen Lebenspragmatismus, aber ebenso auch zugunsten von Thales, der – auf das Wesentliche blickend – dem Unverständnis gemeiner Naturen ausgeliefert ist. Bis heute ist nicht von der Hand zu weisen, dass das Philosophieren bei vielen Menschen Lachausbrüche des Unverstandes oder wenigstens doch der Verständnislosigkeit provoziert. Jeder, der tiefschürfend nach dem Wesen einer Sache fragt, hat also möglicherweise mit dem Lachen der Dienstmägde zu rechnen, denn das Klischee des Philosophen als eines weltfremden, abgehobenen In-dieSterne-Guckers wird auch heute noch unermüdlich bedient, nicht immer ganz zu Unrecht, wäre hinzuzufügen. 234 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Die Lächerlichkeit des Philosophen
Wenn man sich dem Thema des Humors zuwendet, darf diese immer mögliche Lächerlichkeit des Philosophen/der Philosophin nicht ausgespart bleiben – ein Thema, welches im Übrigen innerhalb der abendländischen Tradition wiederholt aufgegriffen wurde. Zu fragen wäre etwa: Wird mit dieser Erzählung nicht ein Grundproblem des Philosophen/der Philosophin angesprochen, das umso brennender wird, wenn wir als Praktikerinnen aus den akademischen Schutzräumen herausschwärmen, um uns im wirklichen Leben zu bewähren? 42 Dort nehmen viele das philosophische Geschäft nicht wirklich ernst, erachten es als wenig geeignet für die Bewältigung handfester Herausforderungen des alltäglichen Lebens. Sie denken: Philosophen sind absonderliche Leute, die, auch wenn sie sich – was selten genug vorkommt – den menschlichen Alltagsdingen zuwenden, in ihrem Umfeld Wesentliches übersehen und so das Nächstliegende verfehlen. Redet eine intellektuelle Szene beispielsweise hochtrabend von ›semiotischer Dialektik intertextueller Modernität‹, mag leicht der Verdacht aufkommen, dass hier fernab reeller Probleme ein Paralleluniversum bestehe, in dem statt Deutsch oder Englisch ›Akademisch‹ gesprochen werde. Gegen eine intellektuell hoch trainierte Spezies von eiskalt mörderischer Intelligenz und einschüchternder Selbstgewissheit wissen viele sich am Ende nur spottend und lachend abzugrenzen. Dementsprechend werden die tiefgründigen Anstrengungen einer Denkergilde, die über einigermaßen gewöhnliche Dinge aufwendig verklausulierend spricht, unermüdlich persifliert und karikiert. 43 In der Tat, es besteht eine merkliche Kluft zwischen Lebenswelt und Akademien, Siehe: Höffding, 1918, S. 178, S. 170–197. Dies wird aber vor allem dann begünstigt, wenn ungebräuchliche Fachbegriffe scheinbar sinnentleert aneinandergereiht und damit ad absurdum geführt werden. Wie Alfred Stern sagt, kann nämlich »im allgemeinen (…) nur das, was wenig Wert hat, durch Zufall imitiert oder absichtlich nachgeahmt werden: bloß die mechanischen Gesten und nicht die geistigen Akte – das heißt, nicht die intellektuellen, mora-
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Humor – ein zentrales Thema Philosophischer Praxis
wo man vor unmittelbaren Kollisionen mit Thrakerinnen einigermaßen sicher sein kann, während stets die Gefahr präsent ist, sich theoretisierend wie Thales ins Bodenlose zu manövrieren. Dies scheint auch Höffding zu bestätigen, wenn er in seiner Humor-Studie betont, dass Erkenntnisfreude und intellektuelle Begeisterung in der Regel die zentralen Grundgefühle der Philosophen seien. Dabei agieren Philosophen – so Höffding – zumeist fernab der Bühne des wirklichen Lebens und können deshalb nur selten Humoristen sein. »Wo die Energie überwiegend für das Gedankenleben oder die Phantasie verwandt wird, wird es an Energie für die Verschmelzung oder Organisation der Gefühle fehlen, die durch den Lauf des Lebens wachgerufen werden.« Allenfalls Sokrates könne als Humorist gesehen werden, zumal die sokratische Ironie von Sympathie getragen sei: »Daß Sokrates der einzige Humorist großen Stils unter den Philosophen ist, beruht darauf, dass bei ihm die intellektuelle Arbeit mit der praktisch-pädagogischen Arbeit an den Menschen zusammenfiel.« 44 Als zentrale Erkenntnis zeige sich hier, dass Verständnis und Lachgefühl einander letztlich nicht ausschließen müssen. Für die Philosophische Praxis ist es von hoher Dringlichkeit, der nicht immer ganz unbegründeten Diagnose, dass Philosophie weltfremd und humorlos sei, auf unterschiedlichen Wegen entgegenzuwirken: So wäre fürs Erste zu zeigen, dass philosophisches Nachdenken sehr wohl alltagspraktische Bewandtnis hat. Um dies zu verdeutlichen, benötigen wir das entsprechende sprachliche Handwerkszeug, d. h. die Fähigkeit, philosophisches Denken so zu vermitteln, dass es – ohne an Differenziertheit zu verlieren – in seiner erhellenden Relevanz hervortreten kann. Bei Hans Blumenberg, der uns lischen oder ästhetischen Akte des Menschen, die wahrhaft wertvoll sind.« – Stern, 1980, S. 49. 44 Eine ähnliche Auszeichnung, wenn auch ohne Humorbezug, erfährt Sokrates bei Hannah Arendt, siehe: Arendt, 2002, S. 179 ff.
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Die Lächerlichkeit des Philosophen
ein ganzes Buch über das Lachen der Thrakerin beschert hat, lesen wir: »Über den Phänomenologen lachen die Mägde nicht; im Grenzfall hat er ihnen nur zu sagen, wovon sie ihrerseits sagen müssten, sie hätten es auch gesehen, aber nicht sagen können.« 45 In diesem Sinne wäre es eine wichtige Aufgabe der Philosophie und speziell Philosophischer Praxis, eine gedankliche Arbeit zu leisten, mit der wir uns im Erfassen und Verstehen möglichst nah an den Phänomenen entlang bewegen. Orientierend mag hier zudem Spinozas Mahnung wirken: »nicht spotten, nicht klagen und nicht verfluchen, sondern begreifen.« 46 Des Weiteren käme es auf die humorvolle Haltung der Praktikerin an, die darauf hinarbeitet, immer auch die Begrenztheit ihres Wissens und mögliche Unzulänglichkeiten der eigenen Person zu konzedieren und den Erkenntnisweg dennoch unverzagt fortzusetzen. Obschon Höffdings These, dass Philosophen selten Humoristen sind, empirisch betrachtet nicht ganz abwegig erscheint, legen die vorangestellten anthropologischen Darlegungen dennoch ein anderes Auftreten nahe. Sie zeigen uns, dass wir mit allzu peniblem Ordnungssinn und straffem Regiment voraussichtlich die komplexe Fülle der Wirklichkeit verfehlen. Ungereimtheiten, Paradoxien des Selbst, die Historizität des Vernünftigen, die Vagheit unserer Begrifflichkeiten, die Nichtmitteilbarkeit des Wesentlichen, die Kontextabhängigkeit unseres Sinnverstehens, Willensschwäche und vieles mehr zeigen uns, dass der menschliche Glaube an eine unbedingte Vernunftwahrheit zwar ein unverzichtbares Leitideal darstellt, wir aber des Vernünftigen in der Regel nicht habhaft werden können. Anton Hügli schreibt: »Vernunft ist für unser bewusstes Leben wie die Luft, ohne die wir nicht leben können und die sich doch immer nur indirekt zeigt – dann, wenn sie fehlt.« 47 45 46 47
Blumenberg, 1987, S. 159. Siehe: Spinoza, 1976, Kap. I. Hügli, 2016, S. 13.
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Humor – ein zentrales Thema Philosophischer Praxis
Beobachten wir dieses Ausbleiben des Vernünftigen bei Anderen, so ist die spontane Reaktion nicht selten Lachen, wenn nicht gar Spott und Verhöhnung. Doch schauen wir genauer hin, wird bald offenbar, dass wir selbst trotz erheblicher intellektueller Anstrengungen im Grunde genommen mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, so sehr wir auch vernünftig zu agieren trachten. Wir müssen konzedieren, dass wir jenseits einer freien Wahl seit jeher festgelegt sind und uns selbst erst im mühsamen Hinausdenken über das Selbstverständliche allmählich auf die Schliche kommen. Unternehmen wir geistige Anstrengungen dieser Art, versuchen wir mehr zu sein, als ein in seinen Erscheinungsweisen empirisch erforschbares Ich, so orientieren wir uns an hochfliegenden Zielen und idealen Selbstbildern, die wir dennoch niemals erreichen bzw. hinter die wir aller Voraussicht nach regelmäßig zurückfallen werden. Dem können wir auf zweierlei Art begegnen: mit Humor oder Selbsttäuschungsversuchen. Oder besser gesagt: Humor ist überaus hilfreich, wenn wir verhindern wollen, uns im Zeichen eines existenziellen Überernstes von hochtrabenden Selbstbildern versklaven zu lassen, so dass wir zuletzt im Selbstbetrug enden. Allein aufrichtiges Philosophieren verhilft hier zu mehr Klarheit, denn es ermahnt dazu, unermüdlich der ›Wahrheit‹ Tribut zu zollen, d. h. zu erkennen, was der Fall ist bzw. was überraschenderweise zu Tage tritt. Sein Wesen besteht darin, auch angesichts gegenläufiger Realitäten an Vernunftzielen festzuhalten und in einer widrigen Welt auf Verbesserungen der menschlichen Lage hinzuarbeiten. Auch jedes selbstgerechte Rebellentum muss aus dieser Sicht zum Problem werden, was hier aber nicht näher erläutert werden soll. Im Blick auf Philosophische Praxis wäre, um den realistischen Blick auf das eigene Selbst zu stärken, folgender zentraler (humorrelevanter) Kerngedanke festzuhalten: Angesichts der stets erforderlichen Lebensnähe dialogischen Nachdenkens sollte die professionelle Denkerin gerade hier 238 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Die Lächerlichkeit des Philosophen
kein grundsätzliches Heraustreten aus der Unmittelbarkeit der Lebensvollzüge anstreben. Sie sollte auch der Versuchung entsagen, sich in prinzipieller, gleichsam allwissender Weise über die zeittypischen Kapriolen und profanen Alltagsverwicklungen gewöhnlicher Menschen – womöglich spöttisch – zu erheben. Da auch Philosophen auf je spezifische Art begehrend, wünschend und wertend in die Welt eingelassen sind, müssen sie sich darin üben, zunächst bei sich selbst gewissenhaft hinzusehen, d. h. sich stets aufs Neue prüfend zu sich selbst zu verhalten. Trotz aller denkerischen Bemühungen und redlich gewonnenen Einsichten kommen auch PhilosophInnen aus der Vorläufigkeit und Subjektivität ihrer angestammten Überzeugungen niemals endgültig heraus. Wie jeder ihrer Praxisgäste sind sie auf Anregungen von außen, auf Gesprächsimpulse und den korrigierenden Blick wohlwollender anderer angewiesen. In Anbetracht dessen ist es naheliegend, einen humoristischen Selbstbezug im wachen Wissen um das eigene Mitgemeint- und Mitbetroffensein zu kultivieren, gegebenenfalls sogar die Möglichkeit temporärer (Selbst)Verlachung zuzulassen, um so dem Wissen um eigene Schwächen, Begrenztheit und eigenes Unvermögen Ausdruck zu verleihen. Der wahre Ernst der Philosophischen Praktikerin vereinigt Tragik und Komik. Er vollzieht sich in einer Praxis humorvoller Selbstrelativierung, die sich ethischen Ansprüchen verbunden weiß. Einige Formen sich distanzierender Selbsterhebung bzw. sich immunisierender intellektueller Distanznahme müssen einer solchen Praxis fremd bleiben. Es kann hier eigentlich kein Lachen ohne Weinen geben, oder besser kein spöttisch-ironisches Abstandnehmen jenseits der Erfahrung schmerzlicher Betroffenheit. Auf diesen Zusammenhang, der für eine philosophische Thematisierung bzw. Aktivierung des Humors von signifikanter Tragweite ist, verweist auch der Literaturwissenschaftler Christian Janentzky, wenn er schreibt: »(…) der Humorist ist durch das Tragische hindurch gegangen, trägt es gegenwärtig in sich, in seiner Seele 239 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Humor – ein zentrales Thema Philosophischer Praxis
und in den Linien seiner Physiognomie, als Erlebnistatsache, die seinem Lachen innewohnt und seine Farben und Töne und ihre besondere Schattierung bestimmt.« 48 Ganz bewusst wurde in der vorliegenden Arbeit deshalb zu den Phänomenen des Humors hingeführt, indem zunächst über Trauer und Traurigkeit sowie die damit oftmals verbundene Wehrlosigkeit der Weinenden nachgedacht wurde. Wenn wir das Abgründige, Hoffnungslose und Widerständige ins Visier nehmen, können wir auf viele in der Praxis anfallende Fragen adäquater reagieren und auch dem Humor erst einen angemessenen Platz anweisen. Wie erwähnt, ist bis dato innerhalb der Philosophie kaum je ausführlich über das Weinen nachgedacht worden. Plessner bildet hier mit wenigen anderen eine bemerkenswerte Ausnahme. Dies erscheint mir bezeichnend für eine Anthropologie, welche die sinnlichemotionale Involviertheit des Menschen gegen alle zu hochfliegenden Vernunftpostulate ins Feld führt. Gewiss ist jedenfalls eines: Sollte Thales weinend in seinem Loch gesessen haben, sei es wegen der grandiosen Blamage, sei es wegen eines zerrissenen Gewandes oder eines gebrochenen Unterschenkels, so ist zumindest nie davon gesprochen worden. Auch ist – nebenbei bemerkt – zu vermuten, dass die stolze Thrakerin auf einen weinenden Philosophen grundlegend anders reagiert hätte.
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Janentzky, 1940, S. 43.
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VII. Abschlussüberlegung – Humor als Tugend und Selbsttäuschung
1. Humor als Tugend Hätte Thales weinend in dem Brunnenschacht gehockt, wäre der Thrakerin das Lachen im Halse stecken geblieben. Denn Tränen, die das Leiden eines Gegenübers unmissverständlich sichtbar machen, erwecken in der Regel starke Gefühle der Unsicherheit, der Verlegenheit oder des Mitleids in anderen. Deshalb ist es den meisten kaum möglich, ungeniert in Anwesenheit eines Betroffenen über ein Missgeschick zu lachen, welches ihnen aus distanzierter Beobachterperspektive (z. B. im Zuschauersessel) durchaus komisch erscheinen muss. Unmittelbare Schadenfreude ist eine Emotion, die selten Zustimmung erfährt. Dominiert der komische Effekt, so dass wir reflexartig z. B. über die Tolpatschigkeit eines Anderen lachen müssen, so halten wir – vor allem wenn Tränen fließen – normalerweise schnell wieder inne, unterdrücken den Lachimpuls, nehmen Anteil und spenden Trost. Kurzum: Wer nicht längst schon kalt und gefühllos geworden ist, wird durch das Weinen eines Anderen dazu animiert, dessen Lage ernst zu nehmen. Er wird mitfühlend anerkennen, dass es für den Betreffenden momentan keinen Ausweg, kein Mittel der Selbstdistanzierung mehr zu geben scheint. Vielfach entziehen Menschen sich derartigen Situationen allerdings, weil Erinnerungen an eigene Erfahrungen von Hoffnungs- und Hilflosigkeit wachwerden. Humor als Tugend weist einen anderen Weg. Zwar kann er nicht ohne einen Sinn für das Lächerliche auskommen, aber im Unterschied zum Witzbold akzeptiert und durchlebt der Humorist angesichts menschlicher Desaster immer auch das eigene Mitgemeintsein. Weil er selbst Schweres durchlebt und über241 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Abschlussüberlegung – Humor als Tugend und Selbsttäuschung
standen hat, weiß er, wie das Leben spielt. Aber er weiß auch, dass sich immer wieder neue Perspektiven eröffnen, um aus der oftmals niederdrückenden Unmittelbarkeit des Schmerzes herauszutreten und Lebensvollzüge neu und anders zu gestalten. Folgen wir Kierkegaard, so relativiert der Scherz den zu Leibe rückenden Ernst der Lage. Am Grunde des Humors offenbart sich der »tiefste Lebens-Ernst«, der sich in einer paradox anmutenden dialektischen Verflochtenheit von Scherz und Ernst vollzieht. Theunissen schreibt hierzu: »Der wahre Ernst – das wird […] von Kierkegaard selbst klar gesagt – ist nur der dialektische Ernst, der den Scherz in sich begreift. Der Ernst ist desto ›konkreter‹ und strenger, je dialektischer er, gerade im Sinne der Scherz-Ernst-Dialektik, ist.« 1 Ist Humor also – mit Kierkegaard betrachtet – eine Weise aus der passiven Eingewobenheit in Lebenszusammenhänge herauszutreten, sie von sich zu stoßen, so wird hier zugleich in Anschlag gebracht, dass Widerfahrnisse, Bruchlandungen und Scheitern unwiderrufliche Bestandteile der menschlichen Existenz sind. Indem der Humorist in der scherzenden Distanznahme seine Freiheit zurückerobert, akzeptiert er ebenso, dass sich freie Subjektivität nicht im Modus konstanter selbstgewisser Autonomie realisiert, sondern sich unablässig neu aus den Bedrängnissen des Lebens heraus gewinnen muss. Da der Humorist den Schmerz des Lebens am eigenen Leibe erfahren hat, erkennt er ihn als zum Leben gehörend an und wird berührbar für die Wirklichkeit menschlichen Leids im anderen Menschen. Er blickt nicht vom erhabenen Ross des versierten Überschauers auf den Weinenden, sondern begegnet dessen Verzweiflung und Verzagtheit mit großer Anteilnahme. Es ist ihm fremd, einen resignativen, spöttischen oder zynischen Habitus einzunehmen, denn er setzt zuversichtlich auf die Möglichkeit, sich für lebendige Erfah1
Theunissen, 1958, S. 84.
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Humor als Tugend
rungen offen zu halten und immer wieder aus Leidverstrickungen herauszufinden. Versuchsweise eine andere Perspektive einzunehmen, offeriert sich als probates Mittel, den verengten Horizont unmittelbarer Befangenheiten zu weiten, um darüber den Schmerz zu relativieren und gegebenenfalls sogar lachen oder lächeln zu können. Wer Humor hat, sieht und durchlebt beide Seiten der menschlichen Existenz, »(…) aber das Tragische ist der leidende Widerspruch, das Komische der schmerzlose Widerspruch« 2 , schreibt Kierkegaard. Bevor ich diese Möglichkeit der humorvollen Abmilderung des Schmerzes im Blick auf Philosophische Praxis weiter vertiefe, ist noch eine knappe historische Reflexion zur Bestimmung dieses Humorbegriffs angeraten.
Exkurs 4: Humor als Tugend – Begriffsgeschichtliche Überlegung Humor als subjektive Haltung bzw. als Charaktertugend (wie im vorliegenden Text entfaltet) ist ein spezifisch modernes Phänomen. Wie insbesondere die Analysen von Kai Rugenstein herausstellen, korrespondiert dieses Humorverständnis einer psychologischen Sicht auf den Menschen, die sich erst um 1700 allmählich abzuzeichnen beginnt. Etwa von dieser Zeit an konfiguriert sich nach und nach im Durchlauf verschiedener Etappen 3 , dann insbesondere bei Jean Paul, Humor »als Form selbstreflexiver Subjektivität« 4 und damit zunehmend als »genuin menschliche Grundmöglichkeit des
Kierkegaard, 2005, S. 709. Ausgehend vom englischsprachigen Raum – hier insbesondere von William Congreve – vollzog sich im Laufe des 18. Jahrhunderts u. a. mit Franz Joseph Bob und Christian Garve unter dem Einfluss Gotthold Ephraim Lessings ein entscheidender »Wechsel vom passiven zum aktiven Humorbegriff« – Rugenstein, 2014, Kap. IV u. V, insbes. S. 116 ff. 4 Ebd., S. 121. 2 3
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Abschlussüberlegung – Humor als Tugend und Selbsttäuschung
Sich-zu-sich-Verhaltens« 5 , ein Motiv, das nach Rugenstein in antiken Humortheorien 6 zwar bereits angelegt ist, sich aber erst im Rahmen neuzeitlicher Subjektkonzeptionen präzise ausdifferenzieren konnte. So waren die Entdeckung der Perspektive und einige Spiegel-Experimente wichtige Einflussfaktoren bei der Herausbildung neuartiger Subjektivität, die ihren Niederschlag zunächst insbesondere in den Verdoppelungsmotiven ästhetischer Produktivität (in der bildenden Kunst und in literarischen Produktionen) findet. Zunehmend folgt der Mensch nun jenem Auftrag freier Selbstbestimmung, der – wie Pico de la Mirandola schon 1496 suggerierte – von Gott direkt erteilt wurde: »Wir haben dir keinen festen Wohnsitz gegeben, Adam, kein eigenes Aussehen, nicht irgend eine besondere Gabe, damit du den Wohnsitz, das Aussehen und die Gaben, die du selbst dir ausersiehst, entsprechend deinem Wunsch habest und besitzest. Die Natur der übrigen Geschöpfe ist fest bestimmt und wird innerhalb von uns vorgeschriebener Gesetze begrenzt. Du sollst dir deine ohne jede Einschränkung und Enge, nach deinem Ermessen, dem ich dich anvertraut habe, selbst bestimmen. Ich habe dich in die Mitte der Welt gestellt, damit du dich von dort aus bequemer umsehen kannst, was es auf der Welt gibt. Weder haben wir dich himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du wie dein eigner, in Ehre frei ent-
Ebd., S. 11. Rugenstein schreibt: »Wurde in der Antike und im Mittelalter wissenschaftlich nach Humor gefragt, dann wurde nicht nach einer philosophischen oder psychologischen Begründung dessen gefragt, was den Menschen lachen macht. Gefragt wurde vielmehr nach den konstitutiven physiologischen Bestandteilen des Menschen und nach der Abhängigkeit von Krankheit und Gesundheit des Menschen von eben diesen Bestandteilen. Der Begriff der Säfte als ein wissenschaftlich relevanter Terminus entwickelte sich auch in der empirischen Medizin.« – Ebd., S. 24 – Zur Lehre der humores, von der Vier-Säfte-Konzeption des Hippokrates über die Temperamentenlehre des Galenos bis hinein in die Neuzeit, siehe auch: Klibansky u. a., 1990.
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Humor als Tugend
scheidender, schöpferischer Bildhauer dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst.« 7
Die Idee freier Selbstbestimmung im aktiven Entwurf drängt nun mit Macht jene aus der Antike überlieferten Vorstellungen zurück, wonach die humoralen Säfte Temperament und Charakter maßgeblich prägen, so dass die jeweiligen Handlungsspielräume einer Person als weitgehend determiniert angesehen werden. Im Anschluss an Jean Paul sind für das 19. Jahrhundert nun insbesondere Kierkegaards vielschichtige existenzphilosophische Ausführungen zum Ethos subjektiver Selbsterschaffung bedeutsam. Über die literarischen Formen der indirekten Mitteilung, der Verdoppelung und des Widerrufs radikalisiert Kierkegaard die Vorstellung eines offenen, nicht festgelegten Menschseins, indem er in zahlreichen Schriften den Vollzugscharakter subjektiver Selbstauslotung nicht bloß thematisiert, sondern im literarischen Selbstexperiment gleichsam durchführt. Es geht ihm um ein Verstehen, welches sich nicht in objektiven Wissensinhalten festfährt und zur Autorität erhebt, welches vielmehr im Zuge praktischer Selbsterfahrung primär die Rolle eines Lernenden einnimmt. »Ich bin, so verstehe ich mich selbst, gerade so viel entwickelt durch Selbstdenken, so viel gebildet durch Lektüre, so viel orientiert in mir selbst durch das Existieren, daß ich imstande bin, ein Lehrling, ein Lernender zu sein, was schon eine Aufgabe ist. Für mehr gebe ich mich nicht aus, als dazu tauglich zu sein, mit dem Lernen im höheren Sinne anfangen zu können.« 8 In diesen Prozessen tätiger experimenteller Selbstaufhebung und Selbstumbildung stößt der Mensch nun über kurz oder lang auf die Grenzen freier Selbstgestaltung, nicht allein aufgrund der Bedingtheit seiner selbst, sondern vor allem durch die Grenze, die ihm die Anwesenheit anderer setzt. 7 8
Pico della Mirandola, 1990, S. 5 f. Kierkegaard, 1982, Bd. II, S. 336.
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Abschlussüberlegung – Humor als Tugend und Selbsttäuschung
Das freiheitliche Selbstverständnis scheitert an den Phänomenen von Sünde und Schuld und bedarf in der Sicht Kierkegaards des göttlichen Beistandes. Auch wenn das Religiöse selbst eine gegen Komik und Humor abgegrenzte Sphäre darstellt, kommt dem Humor dennoch im Übergang zur religiösen Welt eine wesentliche Funktion zu, denn der Humor begegnet mit beharrlicher Zuversicht dem schmerzlichen Scheitern aller individuellen Versuche, innerhalb der Welt zum Kern des Selbstseins vorzudringen. Angesichts persönlicher Unzulänglichkeiten, angesichts der Widerständigkeit sperriger, unschöner Realitäten schützt der Humor vor dem endgültigen Verlust Orientierung gebender Werte. Er fungiert als das »Inkognito des Religiösen«, denn er bewahrt die Innerlichkeit des Menschen vor vernichtenden Kollisionen mit der Wirklichkeit und setzt ihn in ein freies Verhältnis zu Schmerz und Leid, indem er aus einer unergründlichen wertspendenden Quelle schöpft. Offenbar gewinnt der Humorist jenseits der leiderfüllten Existenz eine Zuflucht, deren Geheimnis sich auch ihm selbst nicht enthüllt: »Er begreift die Bedeutung des Leidens in Beziehung auf das Existieren, aber er begreift nicht die Bedeutung des Leidens; er begreift, daß es mit zum Existieren gehört, aber er begreift von seiner Bedeutung nichts anderes, als daß es mit zum Existieren gehört. Ersteres ist der Schmerz im Humoristischen, das andere ist der Scherz, und daher kommt es, daß man sowohl weint wie auch lacht, wenn der Humorist redet. Er rührt im Schmerz das Geheimnis der Existenz an, dann aber geht er wieder nach Hause.« 9
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Ebd., S. 155 f.
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Selbsttäuschung
2. Selbsttäuschung Wie bei Kierkegaard ist auch für Plessner das Wesentliche der Innerlichkeit weder fassbar noch mitteilbar. Wie dieser beschreibt er den menschlichen Aufenthalt in der Welt über Erfahrungen des Scheiterns, der Begrenztheit und Unzulänglichkeit. Beinahe noch nachdrücklicher als dieser betont er unter dem Eindruck rasanter Modernisierungsprozesse die Momente der Verwundbarkeit und Verlorenheit des Einzelnen, so dass sein Humorkonzept markante Züge verzweifelten Aufbegehrens trägt. Allerdings streicht auch er die für den wahren Humor wesentliche Komponente der Selbstrelativierung heraus. Der Humorist verlacht nicht primär das Fiasko der Anderen, sondern er gewinnt heitere Souveränität, indem er sich als gleichermaßen betroffen von Niederlage und Scheitern versteht. Es gilt indes auch hier die Gestaltungskraft des Menschen auf bessere Zukunftsmöglichkeiten hin zu bewahren. Gerade in der mit Humor einhergehenden Selbstbescheidung liegt – wie oben dargelegt – das Potential einer Verbesserung intersubjektiver Prozesse. Der Wert von Zögern, Zweifel, ja Skepsis – auch sich selbst gegenüber –, kann gar nicht überschätzt werden. Wer über sich lachen kann, erhebt keine Perfektionsansprüche an sich selbst und ist folglich eher in der Lage einzuräumen, dass das eigene Seh- und Stehvermögen Mängel oder gar blinde Flecken aufweisen könnte. Er wird spontan aufkommende emotionale Impulse und gedankliche Intuitionen nicht unbesehen zu gerechtfertigten Meinungen adeln, sondern er wird innehalten, auch das selbstverständlich Erscheinende nochmals überdenken. Humorvolles Abstandnehmen birgt die Chance, in ein freieres Verhältnis zu den Schwierigkeiten des Lebens zu treten. Noch mehr aber schützt es davor, die Einlösbarkeit einer freien Selbstwahl allzu hoch einzuschätzen, d. h. der Gefahr einer fundamentalen Selbsttäuschung zu erliegen. Vermutlich verstehen wir diesen Wert des Humors noch besser, wenn wir nun noch einige vertiefende Einblicke 247 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Abschlussüberlegung – Humor als Tugend und Selbsttäuschung
in die Mechanismen der Selbsttäuschung nehmen. Wacher Humor mag hier ein wirksames Antidot sein, allerdings ohne die Gewissheit, der Selbsttäuschung je vollständig entgehen zu können.
a) Das Problem der Erinnerung »Ich habe keine Vorurteile!« – »Ich bin mir meiner selbst in dem, was ich tue, voll und ganz bewusst.« – Dies mag wohl ein jeder gelegentlich inbrünstig von sich selbst behaupten. Nimmt man jedoch den Standpunkt der Wissenschaft ein, so erscheint höchst unwahrscheinlich, dass diese Selbsteinschätzung zutrifft. Heute weiß man ziemlich genau, dass sich in unserem Reden und Handeln unzählige Erinnerungen niederschlagen, die nur eher selten und in Bruchteilen zur Bewusstseinshelle aufsteigen. Am Gängelband solch unbewusster Reminiszenzen – Martin Korte spricht von einem impliziten Gedächtnis – folgen wir spontan, gleichsam instinktiv, eingespielten Denk- und Handlungsweisen. 10 Diese können in mancherlei Hinsicht äußerst zweckdienlich sein, in anderen Lagen aber wirken sie einschränkend, behindernd und belastend. Während etwa erlernte Techniken wie Fahrradfahren, Lesen oder Stricken unseren Geist davon befreien, sich immer wieder neu organisieren zu müssen, haben nicht wenige andere Denkgewohnheiten hochproblematische Folgen. Vorurteile sind »das Verheerende des schnellen Denkens« 11 , betont Korte. Wie Hannah Arendt darlegt, kann kein Mensch ohne Vorurteile leben, denn es ist die Funktion eines Vorurteils, »den urteilenden Menschen davor zu bewahren, jedem Wirklichen, das ihm begegnet, offen sich exponieren und denkend Korte, 2017 – Zum Thema ›implizites Gedächtnis und Träume‹, siehe: Cyrulnik, 2015, S. 57 ff. 11 Ebd., S. 99 – Siehe hierzu insgesamt: Ebd., S. 85–115. 10
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gegenübertreten zu müssen, (…)«. 12 Klingt hier noch eine positive Komponente an, so zeigt die genauere Analyse eingefahrener Weltanschauungen und Ideologien, dass vielen dieser Konstrukte bedenkliche Schnellurteile zugrunde liegen, denen die Aufgabe zufällt, »vor aller Erfahrung (zu) schützen, da in ihnen ja angeblich alles Wirkliche irgendwie vorgesehen ist«. 13 Sind feste Bewertungs- und Beurteilungsroutinen erst einmal in unserem Gehirn abgespeichert und werden diese Auffassungen dann noch in kommode Welterklärungskonzepte eingebettet, so beeinflussen sie nachhaltig unser Verhalten gegenüber anderen Menschen oder bestimmten sozialen Gruppen, ohne dass wir das Reflexartige unseres Vorgehens überhaupt noch bemerken. In diesem Sinne sagt Korte, dass das implizite Gedächtnis die Vergangenheit nicht einfach nur repräsentiert, sondern immer wieder quasi blind repetiert. Hier bedarf es, wie er sagt, nachdrücklicher Anstrengungen, um die ungeprüften Annahmen unserer intuitiven Entscheidungen und Bewertungen ins Bewusstsein zu heben. Bezugnehmend auf den Psychologen Daniel Kahnemann mahnt Korte eine Praxis des langsamen Denkens an, ähnlich dem, was Arendt anstrebte, als sie schrieb: »Will man Vorurteile zerstreuen, so muss man immer das in ihnen enthaltene vergangene Urteilen erst einmal wiederentdecken, also eigentlich ihren Wahrheitsgehalt aufzeigen. Geht man an diesem vorbei, so können ganze Bataillone von aufklärenden Rednern und ganze Bibliotheken von Broschüren nichts erreichen, (…).« 14 Der Frage nachzugehen, wie wir zu einer bestimmten Sichtweise gelangt sind, erfordert eingehende Beschäftigung mit der eigenen Lebensgeschichte. Was findet sich da im autobiografischen Gedächtnis? Vor welchem Hintergrund war das Erlebte so bedeutsam, dass es sich nachhaltig eingeprägt 12 13 14
Arendt, 2003, S. 21. Ebd. Ebd., S. 19.
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Abschlussüberlegung – Humor als Tugend und Selbsttäuschung
hat? – Hier muss man sich zunächst klar machen, dass dem vermeintlich untrüglichen Erinnerungsvermögen grundsätzlich mit größter Skepsis zu begegnen ist. Eine Studie von Elisabeth Loftus zum Faktengedächtnis zeigt, dass selbst junge, leistungsfähige Forscherinnen miserabel abschneiden, wenn man ihre Gedächtnisleistung systematisch erforscht. 15 Klar ist, dass wir über Vergangenes nicht einfach so verfügen können, sondern dass unser autobiografisches Gedächtnis eine bestimmte Auslese vornimmt. Erinnerungen tauchen unvermittelt auf, ausgelöst z. B. durch einen Duft oder eine Melodie. »Vergebens versuchen wir die Vergangenheit wieder heraufzubeschwören, unser Geist bemüht sich umsonst. Sie verbirgt sich außerhalb seines Machtbereichs und unerkennbar für ihn in irgendeinem stofflichen Gegenstand – in welchem ahnen wir nicht« 16 , schrieb einst Proust, der dem Thema der Erinnerung sein monumentales Hauptwerk widmete. Viele von Proust thematisierte Faktoren werden durch die aktuelle Gedächtnisforschung untermauert. Sie zeigt uns, dass in dieser Angelegenheit von Objektivität kaum die Rede sein kann. Zu keinem Zeitpunkt unseres Lebens sind unsere Erinnerungen unfehlbar und präzise, zumal wir vorwiegend diejenigen Elemente speichern, die aus unserer IchPerspektive heraus einst besonders relevant waren. Das heißt, wir speichern keine wertfreien »Schnappschüsse«, sondern Erlebnisse, die mit intensiveren Gefühlen, Empfindungen und Wertsetzungen verbunden waren. Ja man kann sagen, dass erst durch diese Beteiligung des Emotionalen das Erinnerte jene besondere Qualität erhält, die es als uns zugehörig und wichtig, als der Erinnerung wert, erscheinen lässt. Besonders irritierend ist hier die Erkenntnis, dass jede durch einen Abrufreiz ausgelöste Erinnerung im Zuge ihres Auftauchens eine Modifikation erfährt. Je öfter wir also in 15 16
Siehe: Korte, 2017, S. 50 ff. Marcel Proust, zit. nach: ebd., S. 59.
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Selbsttäuschung
Erinnerungen schwelgen, umso größer wird die Gefahr, vom ursprünglich Erlebten abzudriften. Stellen wir diese Fallibilität des autobiografischen Gedächtnisses in Rechnung, so sollten wir nicht allzu große Hoffnung dareinsetzen, die Entstehungsbedingungen unserer Denkgewohnheiten jemals punktgenau erforschen zu können. Dennoch lassen sich, wenn man Studien zu kindlichen Verhaltensmustern berücksichtigt, durchaus berechtigte Mutmaßungen darüber anstellen, warum sich im Einzelfall bestimmte Überzeugungen festsetzen konnten. Man kann vielleicht verstehen, warum er oder sie dazu gelangte, eine bestimmte Personengruppe abzulehnen. Wissenschaftliche Erkenntnisse können ein erhellendes Licht auf die spezifischen Lebensumstände einer einzelnen Person werfen. Mitunter lernt man sich besser kennen, indem allgemeine Kenntnisse mit persönlichen Lebensumständen in Verbindung gebracht werden, wobei es auch hier wichtig ist, nicht freischwebend zu spekulieren, sondern von konkreten, weitgehend nachweisbaren Erlebnissen sowie auch von verlässlichen Erzählungen Nahestehender und Angehöriger Ausgang zu nehmen. Nicht selten gelangt man dann zu dem Punkt, im Sinne Arendts zu erkennen, dass es tatsächlich einmal sinnvoll oder wenigstens doch erklärbar gewesen ist, ein bestimmtes Urteil zu fällen. Darüber hinaus wird unübersehbar, dass wir auf die Mithilfe anderer angewiesen sind, wenn wir die eigene Geschichte einigermaßen verstehen wollen. Doch beinahe wichtiger als diffizile biografische Aufarbeitungen, welche die Einzelheiten einer persönlichen Geschichte minutiös durchforsten und zu deuten suchen, erscheinen mir Erkenntnisprozesse, die – wie oben skizziert – in grundlegender Weise vor Augen führen, wie relativ jeder subjektive Standort in der Welt ist, wie eingeschränkt also letztlich jeder von seiner persönlichen Warte aus die Welt betrachtet und bewertet. Sofern sich diese grundlegende Einsicht tief in unseren Überzeugungen verankern ließe, wäre 251 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Abschlussüberlegung – Humor als Tugend und Selbsttäuschung
viel gewonnen. Denkbar wäre sowohl ein höheres Level an intersubjektiver Aufgeschlossenheit, weil man bereitwilliger ist, andere Perspektiven kennen zu lernen und erhellend hinzuzufügen, denkbar wären mithin weniger Verbissenheit und mehr Humor im Blick auf sich selbst, beides wichtige Voraussetzungen dafür, dem Ressentiment und der Selbsttäuschung zu entgehen. Wie Gernot Böhme darlegt, ist von allen Formen der Selbsttäuschung insbesondere die Leugnung offensichtlicher Tatbestände gravierend. In diesem Fall gibt die Person vor bzw. scheint selbst zu glauben, von einem Sachverhalt nicht betroffen zu sein, und zwar entgegen aller Evidenz. Hierzu bemerkt Böhme: »Bei der Leugnung von Betroffenheit wird es ernst: mit ihr steht die Integrität der Person in Frage.« An dieser Stelle kommt das selbstergründende Philosophieren ins Spiel, dessen Anliegen – so Böhme – seit Sokrates darin liegt, »die Selbsterkenntnis gegen die Widerstände der Selbsttäuschung zu erringen (…)«. 17 Wie ein solches Philosophieren aussehen kann, wie gegen die Mechanismen der Selbsttäuschung und Selbstverleugnung anzugehen ist, soll nachfolgend nun näher betrachtet werden. 18
Böhme, 2007, S. 73. Zum Thema Selbsttäuschung, siehe insbesondere: Beier, 2010; LöwBeer, 1990 – Lange, bevor Sartres seine Ausführungen zur Unaufrichtigkeit niederlegte, analysierte die Phänomenologin Else Voigtländer die von ihr so benannten Typen der »Spiegel-Selbstgefühle«, in denen das Selbst sich primär in den Augen der Anderen betrachtet. Hierbei pointiert sie, gleichsam auf Heidegger vorausweisend, ein uneigentliches Selbsterleben in der »dritten Person«, welches auf Eindruckswerte fixiert nur noch fremdbestimmt in Rollen und Masken agiert. Um zu imponieren, um Erfolg zu haben und Eindruck zu schinden, beginnt ein Mensch »in lauter eingebildeten Romanen sich zu erleben« und verliert auf diese Weise allmählich alle realen Bezüge zu inneren Gegebenheiten. – Voigtländer, 1910, S. 95, insgesamt S. 76 ff.
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b) Selbsttäuschung – Wie man sich entgehen kann Folgendes berichtet Hans-Georg Gadamer über seinen akademischen Lehrer Edmund Husserl: »Seine Seminare begannen mit einer von ihm gestellten Frage und endeten mit einer langen Darlegung, die durch die ihm gegebene Antwort ausgelöst wurde: eine Frage, eine Antwort, und ein eineinhalbstündlicher Monolog. (…) Es waren immer nur Monologe – er merkte das gar nicht. Einmal sagte er beim Herausgehen zu Heidegger: ›Heute war es doch wirklich einmal eine anregende Diskussion‹ – nachdem er auf die erste Antwort (…) ohne Punkt und Komma selber geredet hatte.« 19
Gadamer gibt uns damit ein Beispiel dafür, wie leicht es passieren kann, dass eine Person – vor allem, wenn sie intensiv mit für sie wesentlichen Fragen befasst ist – in ihrer eigenen geistigen Welt verschwindet und anderen keinen dialogischen Zugang gewährt. Ob man Husserl darauf hätte aufmerksam machen können, und wie er auf einen solchen Hinweis reagiert hätte, wissen wir nicht. Was wir aber wissen, ist, dass das Aufeinandertreffen renommierter Experten und Philosophen oftmals wenig durch wechselseitige Neugier und wohlwollenden Austausch charakterisiert war. 20
Gadamer, 1995, S. 31. Exemplarisch sei hier auf das illustre Davoser Treffen zwischen Martin Heidegger und Ernst Cassirer hingewiesen, über welches vielfach berichtet wurde, nicht zuletzt von Cassirers Ehefrau Toni Cassirer, die in Davos die Tischkonversation mit Heidegger übernehmen musste, da ihr Mann zunächst krank zu Bett lag. Wenn auch vielleicht nicht ganz frei von Voreingenommenheit, attestierte sie dem großen Denker unübersehbare »Feindseligkeit und Kampflust«, um schließlich Folgendes hinzuzufügen: »Für mich war sein tödlicher Ernst und seine völlige Humorlosigkeit das Bedenklichste.« – Cassirer, 2016, S. 188 bzw. 189. Doch offenbar gelang es dem grundsätzlich freundlichen, argumentativ präzisen und aufgeschlossenen Cassirer die Angriffslust Heideggers zu bremsen. – Ebd., S. 189; Zum Davoser Treffen, siehe auch: Eilenberger, 2018, S. 362 ff.
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Doch es soll an dieser Stelle nicht darum gehen, Eitelkeiten und Befangenheiten des intellektuellen Milieus aufzuzeigen oder anzuprangern. Denn was sich hier zeigt, entspricht im Grunde dem Verhalten vieler Menschen, die ein verzerrtes, häufig beschönigendes Selbstbild pflegen und hinsichtlich ihrer tatsächlichen Verhaltensweisen oft mit erstaunlicher Blindheit geschlagen sind. Niemand wird sich vollends von derartigen Tendenzen freisprechen können. Interessant ist hier allerdings die Frage, wie es überhaupt möglich sein kann, dass eine Person ihr offensichtliches Monologisieren ignoriert und sich stattdessen vorzumachen vermag, sie habe zugewandt und dialogisch agiert. Oder, wie bringt man es z. B. zustande, sich für großzügig zu halten, während man tatsächlich jeden Cent dreimal umdreht und jede noch so kleine Leihgabe akribisch in Rechnung stellt? Sind derartige Selbsttäuschungen nicht eigentlich undenkbar, denn hier bilden ja Betrüger und Betrogener ganz offensichtlich eine Personalunion? »Wir betrügen und schmeicheln niemandem durch so feine Kunstgriffe als uns selbst« 21 , bemerkt Schopenhauer frei heraus. Doch wie schaffen wir es, uns von uns selbst an der Nase herumführen zu lassen, ohne es zu bemerken? Es ist ja durchaus verständlich, dass wir möglichst gut und vorbildlich dastehen wollen. Aber wie kann es gelingen, uns ein ideales, manchmal grandioses Selbstbild gleichsam kontrafaktisch, d. h. wider unsere Tatsachenkenntnis einzureden? Wir können andere anschwindeln, weil ihnen unsere wirklichen Gedanken grundsätzlich verborgen bleiben. Hier profitieren wir, wie Sartre schreibt, »von der ontologischen Dualität des Ich und des Ich des Anderen«. Doch wenn wir uns selbst belügen, wenn wir, wie Sartre es nennt, »unaufrichtig« sind, kann dies nicht gelten:
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Schopenhauer, 1977, Bd. I/2, S. 372.
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»Bei der Unaufrichtigkeit geht es zwar auch darum, eine unangenehme Wahrheit zu verbergen und einen angenehmen Irrtum als Wahrheit hinzustellen. Die Unaufrichtigkeit hat also scheinbar die Struktur der Lüge. Aber alles ist dadurch verändert, dass ich in der Unaufrichtigkeit mir selbst die Wahrheit verberge. Daher gibt es hier keine Dualität von Täuscher und Getäuschtem.« 22
Diese Paradoxie wird vollends unverständlich, wenn wir beobachten, dass Menschen ziemlich ausgefuchste Strategien entwickeln, um eine Wahrheit vor sich selbst zu verhehlen, denn schließlich müssen sie für ein erfolgreiches Selbsttäuschungsmanöver diese Wahrheit ja irgendwie dennoch kennen, eigentlich sogar ziemlich gut. Angesichts dieses Widersinns gelangen manche zu dem Rückschluss, dass es bewusste Selbsttäuschungen eigentlich gar nicht geben könne. Entweder die Augenwischerei erfolge durch unbewusste Mechanismen oder man bezeichne mit Selbsttäuschung lediglich perfide kaschierte Schachzüge, mit deren Hilfe man unangenehme, von außen kommende Kritik abzuwehren und auszuschalten versuche, während man im Grunde seines Herzens um die Berechtigung der Vorhaltungen wisse. Auf diese Weise bestreite man mit gezielter Taktik Meinungen, die man gerne für falsch halten würde, wenngleich man im tiefsten Inneren keinen Zweifel an ihrer Richtigkeit hege. Zentral für jeden Täuschungsakt ist, dass man damit Absichten verfolgt, mit denen man ein Gegenüber – das Opfer der Täuschung – zu Überzeugungen oder Handlungen verleiten möchte, denen dieses Gegenüber normalerweise nicht ohne Weiteres zustimmen würde. Beziehe ich diese Struktur auf ein innerpsychisches Geschehen, so könnte Folgendes der Fall sein: Eine Person hängt einer Überzeugung oder einem Wunschbild mit solcher Intensität an, dass jeder Zweifel an deren bzw. dessen Wahrheitsgehalt ihr den Boden unter den Füßen entziehen würde. Ohne taghell und klar darüber nach22
Sartre, 1991, S. 122.
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zudenken, erahnt sie die Absturzgefahr, die mit dem Verlust ihrer inneren Glaubensgewissheiten einhergehen würde. So können beispielsweise starke Verlustängste dazu veranlassen, die Augen vor der Untreue eines Partners zu verschließen, so dass den hierauf hinweisenden Anzeichen einfach keine Aufmerksamkeit zugemessen wird. Gleichfalls vermag das Verlangen nach ökonomischer Sicherheit die klare Sicht auf die moralischen Qualitäten eines Politikers zu vernebeln, der völlig haltlose unrealistische Wahlversprechen vorbringt. Häufig ist es auch so, dass wir an einem Bild von uns selbst festhalten, obwohl deutliche Anzeichen in eine andere Richtung weisen. Wir wähnen uns großzügig, frei von niederen Emotionen, wie etwa Eifersucht, Rivalitätsdenken und Neid, und halten an diesem Selbstbild beharrlich fest, wenngleich ziemlich eindeutige Indizien andere Vermutungen nahelegen. Werden wir durch äußere Hinweise auf unsere tatsächlichen Verhaltensweisen aufmerksam gemacht, suchen wir Ausflüchte und konstruieren raffinierte Argumentationsketten, mit denen wir nicht nur mögliche Skeptiker, sondern vor allem uns selbst einwickeln und wider das Offensichtliche überzeugen wollen. Vorerst sind wir nicht bereit, überhaupt zuzugestehen, dass wir durch Ungereimtheiten auffallen. Von außen an uns herangetragene Hinweise auf verräterische Affekte oder unbewusste Meinungen, die unser tatsächliches Verhalten plausibel erklären würden, schlagen wir in den Wind und unterstellen stattdessen den Kritikern unlautere, ja aggressive Absichten. Kurzum: Es ist durchaus keine seltene Erscheinung, dass Menschen sich weigern, destruktive Empfindungen, unrühmliche Absichten oder verräterische Wünsche einzugestehen, sofern diese nicht zu ihren idealen Selbstentwürfen passen. Ginge es nicht um sie selbst, so kämen sie vermutlich in einer vergleichbaren Situation zu ganz anderen Rückschlüssen, womit sie einen durchaus intakten Realitätssinn unter Beweis stellen würden. Ginge es nicht um sie selbst, würden sie bestimmte Verhaltensweisen fraglos auf spezi256 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Selbsttäuschung
fische Wunschgedanken oder Überzeugungen zurückführen; manche zerstörerische Aktion wäre ihnen kaum anders als durch Emotionen wie Angst oder Hass erklärlich. Ginge es nicht um sie selbst, so hielten sie derartige Verhaltensweisen zweifelsohne für kritikwürdig. Worin aber liegen die Motive des Selbstbetrugs? Was veranlasst dazu, an illusionären Selbstbildern festzuhalten? Befragt man hierzu die maßgebliche Literatur, so werden hauptsächlich folgende Beweggründe angeführt: die Abwehr von Schwäche und Statusangst, eine uneingestandene tiefgreifende Selbstunsicherheit, der Unwille zu trauern, aber auch die Sehnsucht nach Wunschwelten bzw. angesichts von Eintönigkeit und Langeweile das Verlangen nach Drama und Ablenkung. Will man diesen Mechanismen entgehen, will man also Selbsttäuschung vermeiden, so käme es darauf an, gerade sich selbst gegenüber immer wieder gezielt eine Perspektive neutraler Betrachtung einzunehmen, so herausfordernd dies auch angesichts unliebsamer Tatsachen sein mag. Es ist ja kennzeichnend für unser Menschsein, dass wir aufgrund unserer exzentrischen Positionalität uns selbst gleichsam wie aus einer Außenperspektive zum Gegenstand der Betrachtung erheben können, ja dies zumindest in rudimentärer Form sogar müssen. Aus Überlegungen, die in Anlehnung an Plessner vorgebracht wurden, geht hervor, dass es schwerlich gelingen kann, zu einem abschließenden objektiven und eindeutigen Selbstbild zu gelangen. Jene Instanz der Selbstbetrachtung ist eben nicht bedingungslos und ohne Inhalt, sondern angereichert mit Geschichte(n), die aus wechselnden, konkreten Lebensumständen hervorgeht. Sie birgt indes die Möglichkeit der Selbstbesinnung, d. h. die Möglichkeit, Nahes und Vertrautes von uns abzurücken, darüber Leidenschaften abzusenken und uns selbst gleichsam mit ›anderen‹ Augen zu sehen. Das heißt: Können wir unsere historische Bedingtheit auch niemals vollständig überwinden, verbietet sich also die Illusion voraussetzungsloser Betrachtung, so 257 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
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darf uns dies im Umkehrschluss nicht dazu verleiten, unser Denken, Fühlen und Handeln als vollends determiniert anzusehen. Denn es bieten sich vielfältige Möglichkeiten, unseren Horizont auszuweiten: Wir können (wissenschaftliche) Tatsachenaufklärung anstrengen, wir können die Meinung anderer einholen und uns in deren Perspektive hineinversetzen, vor allem aber können wir in sehr grundsätzlicher Weise einräumen, aufgrund der unaufhebbaren Betroffenheitsperspektive Begrenzungen zu erliegen. Was wir an anderen beobachten, können wir freimütig auf uns selbst übertragen. Wir können beispielsweise wissen, dass das Spüren intensiver Betroffenheit von unangenehmen Sachverhalten reaktiv starke Abwehrmechanismen in uns mobilisiert. Insbesondere, wenn es um uns selbst geht, beobachten wir ja nicht einfach nur, was sich zeigt, sondern wir beurteilen es sogleich. Je negativer die spontane Meinung über uns selbst ausfällt, umso wahrscheinlicher ist es, dass wir nach Ausflüchten aus der peniblen Notlage suchen. Doch auch im Blick hierauf, wäre prinzipiell anzuerkennen: Wir können den mentalen Akt kritischer Selbstbeobachtung nicht verweigern, ohne uns dieser Verweigerung punktuell bewusst zu werden. Folgt man z. B. konsequent der Absicht, etwas nicht zur Kenntnis zu nehmen, so hat man eine Ahnung von dem, was man nicht an sich heranlassen möchte. Generell weiß man durchaus darum, dass jemand, der sich selbst systematisch Wesentliches vorenthält, eine unangemessene Selbstbeziehung unterhält und damit zentrale Grundregeln vernünftigen Verhaltens verletzt. Abhilfe ist hier nur zu schaffen, wenn es gelingt, angesichts der übersteigerten Leistungs- und Erfolgsimperative der Gegenwart für unser Menschsein ein adäquates humanes Maß zu finden. Dies ist Aufgabe der Philosophie, welche sich ihrerseits von der Fiktion vollständig freier Selbsterschaffung lösen muss, d. h. sie muss den Menschen in seiner letztlich unaufhebbaren und unauslotbaren Bedingtheit anerkennen. Dass ein Mensch auch im aufrichtigen Streben aufgrund seiner 258 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
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ontologischen Struktur niemals vollends allen Irrtümern und Verblendungen entgehen kann, wäre deshalb nicht mit Sartre (und anderen Existenzialisten) negativ konnotiert als Grundverderbnis des Menschen 23 zu werten, sondern wäre mit Plessner ins Positive zu wenden: Darin wäre eine Einladung zum Widerspruchsgeist, zu einem nicht stillzustellenden reflexiven Zweifel und damit zur Förderung selbsttätiger Kritikfähigkeit zu erblicken. Zugleich aber wäre der im Aufgeben letzter Sicherheiten liegende Mut hochzuhalten, ein Mut, welcher die Chance solidarischer Verbundenheit in sich birgt. Wer den Topos unergründlichen Selbstseins vorbehaltlos übernimmt, vermag zwar nicht länger auf eine vorzufindende Wahrheit des Selbst zu setzen, doch er überantwortet sich auf diese Weise einem Prozess wirklichkeitsbezogener Selbstformung, der allein über einen Modus wechselseitiger lebendiger Teilhabe zu realisieren ist. Auch Sartre pointiert die Notwendigkeit, »den primären Unaufrichtigkeitsakt« auszusetzen, einen Akt, dessen Ziel darin liegt »das zu fliehen, was man nicht fliehen kann, das zu fliehen, was man ist«. Stattdessen gälte es, beherzt mit der »ständige(n) Bedrohung jedes Entwurfs menschlichen Seins« 24 zu leben und in Bewegung zu bleiben. Damit ist gesagt, dass wir ein fragliches Paradigma autonomen individuellen Selbstseins – mit all seinen Fallstricken der Selbsttäuschung – einzig dann überwinden können, wenn wir Gelegenheiten schaffen, die menschliche Existenz in ihrer Fragilität und Fallibilität anzuerkennen. Es geht hier um die Möglichkeit, temporär voreinander im Dienst ehrlicher Selbstbetrachtung die Waffen zu strecken, die Fenster offen zu halten, eine Atmosphäre von Nähe zuzulassen, um Böhme, 2007, S. 79 – So spricht Sartre z. B. davon, dass man nur in der »Übernahme verdorbenen Seins« der Unaufrichtigkeit radikal entgehen könne. – Sartre, 1991, S. 159, Anmerkung. 24 Ebd. 23
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voneinander lernen zu können. Eine Philosophische Praxis sollte hierfür einen Raum ausgestalten.
c) Stets aktuelle Gefährdungen Die Versuchung der Selbsttäuschung ist heute aus unterschiedlichen Gründen besonders groß: Zum einen werden Menschen früh gezwungen, sich bestimmten, wie weiter oben dargelegt, problematischen und auf lange sich schädlichen Ich-Idealen anzugleichen, um gesellschaftlich zu reüssieren. Die Rollen, die sie – vielfach notgedrungen – spielen müssen, werden zu entfremdenden Masken, hinter denen das ›wahre‹ Gesicht verkümmert bzw. hinter denen irgendwann kein selbsttätiger Akteur mehr zu finden ist, der seine Masken mit kluger, umsichtiger Überlegung an- oder ablegt. Gängige Formatvorlagen des Selbstseins verheißen Orientierung und vermitteln Sicherheitsgefühle, die an vielen sozialen Orten tatsächlich kaum mehr zu finden sind. Würde man diese Vorgaben zurückweisen bzw. sich daraus befreien wollen, so bräche gleichsam eine ganze Welt zusammen, ohne dass kurzerhand neuer Halt zu finden wäre. Aller Voraussicht nach würden sich Ratlosigkeit und Unschlüssigkeit breit machen. Deshalb privilegieren viele Menschen beschönigende, irreale, ja illusionäre Schnittvorlagen und identifizieren sich vorbehaltlos damit, oftmals in Verkennung ihrer wirklichen Anlagen und Fähigkeiten. Auch wenn diese Tendenz offensichtlich in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen hat, so ist sie keineswegs grundsätzlich neu. Schon Adam Smith konstatierte folgendes allgemein menschliche Faktum: »Es ist so unangenehm, von sich selbst schlecht zu denken, daß wir oft absichtlich unseren Blick von den Umständen abkehren, die jene Beurteilung ungünstig ausfallen lassen könnten. Man pflegt zu sagen, daß derjenige ein mutiger Chirurg sei, dessen Hand nicht zittert, wenn er an sich selbst eine Operation vor-
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nimmt; ebenso kühn aber ist derjenige, der nicht zögert, den geheimnisvollen Schleier der Selbsttäuschung wegzureißen, der seinem Blick sonst die Häßlichkeiten seines eigenen Verhaltens verbirgt: bevor wir unser eigenes Verhalten in einem so ungünstigen Lichte sehen wollen, bemühen wir uns nur allzu oft – törichter- und schwächlicherweise – lieber jene unbilligen Affekte von neuem zu entfachen, die uns zuvor schon vom rechten Weg weggeführt hatten; wir bemühen uns, unseren alten Haß künstlich wieder zu wecken, und suchen unsere fast vergessenen Vergeltungsgefühle wieder frisch zu entflammen, wir machen sogar Anstrengungen, um dieses jämmerliche Vorhaben durchzuführen, und verharren so in Ungerechtigkeit bloß darum, weil wir einmal ungerecht waren, und weil wir uns schämen und fürchten, einzusehen, dass wir im Unrecht waren.« 25
Mit dieser Äußerung stellt Smith heraus, dass die Selbsttäuschung einer verfänglichen Eigendynamik unterliegt, die sich besonders bei moralischen Verfehlungen höchst problematisch auswirkt. Offenbar ist es so, dass vor allem gravierendes Fehlverhalten dazu animiert, die Augen zu verschließen und das problematische Tun beharrlich fortzuführen, so als könne das Falsche im Zuge konsequenter Wiederholung sich am Ende doch ins Richtige wenden. Viele Beispiele zeigen, dass Menschen höchst ungern einen schwerwiegenden Beschluss revidieren, den sie einmal getroffen haben, vor allem dann, wenn die Entscheidungsfindung zunächst mit inneren Konflikten verbunden war. So trifft Harald Welzer in Bezug auf die von ›ganz normalen‹ Soldaten der Wehrmacht begangenen Kriegsverbrechen folgende Feststellung: »Wenn man sich also ein erstes Mal für das Wegducken entschieden hat, wächst die Wahrscheinlichkeit, dass man dies in analogen Situationen ein zweites, drittes, viertes Mal tun wird. Und umgekehrt wird es immer unwahrscheinlicher, dass man vom einmal eingeschlagenen Weg noch abweichen würde.« 26 Anfänglich gibt es einen Spielraum, in dem jemand noch ent25 26
Smith, 2010, S. 250. Welzer, 2007, S. 60 – Siehe auch: Ebd., S. 87 ff.
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scheiden kann, ob er sich ein Problemfeld klarmachen, die Tragweite des Handelns ausloten will oder nicht. Weist man diese Chance zur Selbstaufklärung ab, so scheint ein unterschwelliger Selbstschutzmechanismus einzusetzen, der eine von Mal zu Mal immer heikler werdende Realitätsprüfung verhindert. 27 Schon Demosthenes soll gesagt haben: »Nichts ist leichter als Selbstbetrug, denn was ein Mensch wahrhaben möchte, hält er auch für wahr.« 28 Doch werden Selbsttäuschungen zur Normalität, so ist sehr gut möglich, ja sogar wahrscheinlich, dass sich im Leben der betreffenden Person allmählich Fremdheitsgefühle einstellen. Sie funktioniert vielleicht nach außen hin noch einwandfrei, lebt aber am Ende das eigene Leben wie ein fremdes Leben und erleidet Vitalitätsverluste. Bestimmte Auffassungen über das eigene Sein haben sich im Kopf des Betreffenden felsenfest und unerschütterlich verankert, so dass Korrekturen durch gegenläufige Erfahrungen nicht mehr zugelassen werden. Selbsttäuschung oder – zutreffender ausgedrückt – Selbstbetrug ist mithin etwas völlig anderes als das alltägliche Phänomen, dass Menschen sich über sich selbst irren und eines Besseren belehrt werden. Im Selbstbetrug wird Realitätsblindheit wider alle Evidenzen auf Dauer gestellt, weshalb über kurz oder lang mit hochproblematischen Konsequenzen zu rechnen ist, und zwar letztlich mit einem Verlust aller lebendigen Weltbezüge. Schon Hannah Arendt wies nachdrücklich auf diese Problematik hin: »Wo Tatsachen konsequent durch Lügen und Totalfiktionen ersetzt werden, stellt sich heraus, daß es einen Ersatz für die Wahrheit nicht gibt. Denn das Resultat ist keineswegs, daß die Lüge nun als wahr akzeptiert und die Wahrheit als Lüge diffamiert wird, sondern daß der menschliche Orientierungssinn im Be-
27 28
Siehe hierzu auch: Löw-Beer, 1990, S. 30 f. Demosthenes, https://www.zitate.eu/autor/demosthenes-zitate/7101.
262 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Selbsttäuschung
reich des Wirklichen, der ohne Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit nicht funktionieren kann, vernichtet wird.« 29
Das Festhalten an fixen Meinungen über sich selbst dient oftmals dem Zweck, sich der schwierigen existenziellen Aufgabe zu entledigen, immer wieder neu über die Ausrichtung des eigenen Lebens nachdenken und Entscheidungen treffen zu müssen. Beunruhigend ist vor allem die Vorstellung, die Abhängigkeit des eigenen Selbst von sich wandelnden Lebensumständen einzuräumen und damit möglicherweise Unsicherheiten und Souveränitätseinbußen zu erleiden. Schon Sartre erklärt die Unaufrichtigkeit vieler Menschen im Hinweis auf die tiefsitzende Angst, sich der Bedingtheit und kontingenten Gewordenheit des eigenen Selbst zu stellen. Um die Verantwortung für das eigene Leben nicht auf sich nehmen zu müssen, um Vergangenes, vielleicht Unrevidierbares, nicht bewusst und umsichtig auf Zukünftiges hin abwägen zu müssen, sucht ein Mensch sich über Eigenschaften zu definieren, die ihm fertig und unveränderlich in die Wiege gelegt wurden. Sartre schreibt: »Der denkende Mensch zermartert ächzend sein Gehirn. Er weiß, daß seine Erwägungen immer nur Möglichkeiten und keine Gewißheiten ergeben können, daß andere Betrachtungen alles wieder in Frage stellen, er weiß nie, wohin er geht, er ist allem ›geöffnet‹, (…). Aber manche Menschen werden von der ewigen Starre der Steine angezogen. Sie wollen wie Felsblöcke unerschütterlich und undurchdringlich sein und scheuen jeden Wechsel: denn wohin könnte der Weg sie führen? Es handelt sich um eine Urangst vor dem Ich, eine Scheu vor der Wahrheit.« 30
Die Wahrheit, die gemieden wird, ist eben jene Einsicht in die Unwägbarkeit und Unbestimmbarkeit menschlichen Seins, eine Wahrheit, die sich im Prozess des Nachdenkens und Innehaltens – gewissermaßen unvermeidlich – auf leisen Sohlen heranpirscht. Der Mensch ist, wie auch Nietzsche 29 30
Arendt, 2013, S 83. Sartre, 1983, S. 114.
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schrieb, »eine dunkle und verhüllte Sache; und wenn der Hase sieben Häute hat, so kann der Mensch sich sieben mal siebzig abziehen und wird doch nicht sagen können: ›das bist du nun wirklich, das ist nicht mehr Schale.‹ Zudem ist es ein quälerisches gefährliches Beginnen, sich selbst derartig anzugraben und in den Schacht seines Wesens auf dem nächsten Wege gewaltsam hinabzusteigen.« 31 Unangenehm, langwierig und unabschließbar ist jedes Erkennenwollen, denn trotz aller Mühen und Bürden kann kaum Eindeutigkeit erlangt werden. Auch vollkommene Aufrichtigkeit bleibt ein unerreichbares Ideal. Sartre schildert das Beispiel eines Kellners, der in vergeblichen Anstrengungen darum ringt, restlos mit sich selbst identisch sein zu wollen, um schließlich zu konstatieren: »Die Ehrlichkeit bietet sich nämlich als eine Forderung dar und ist infolgedessen kein Zustand.« 32 Aufgrund seiner exzentrischen Positionalität kann der Kellner »von innen her nicht unmittelbar Kellner sein, so wie dieses Tintenfaß Tintenfaß ist oder das Glas Glas ist« 33 , denn sein Bemühen, in der Rolle aufzugehen, ist begleitet von reflexiven Urteilen über die Pflichten seines Berufs und seine Stellung in der Welt. Er weiß, dass er sich in gewisser Weise frei für diesen Job entschieden hat und muss schließlich zu folgendem Rückschluss gelangen: »(…) als ob ich gerade dadurch, daß ich diese Rolle in der Existenz halte, sie nicht gänzlich transzendierte, mich nicht als ›Jenseits‹ meiner Stellung konstituierte. Doch es besteht kein Zweifel, dass ich in gewissem Sinn Kellner bin – könnte ich mich nicht andernfalls ebenso gut Diplomat oder Journalist nennen? Aber wenn ich es bin, dann kann das nicht nach dem Modus des Ansich-seins sein. Ich bin es nach dem Modus, das zu sein, was ich nicht bin.« 34 31 32 33 34
Nietzsche, 1988e, S. 340. Sartre, 1991, S. 138. Ebd., S. 140. Ebd., S. 141 f.
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Diese ontologische Struktur des Bewusstseins, d. h. dieser Modus des im Nichtsein verankerten Seins ist es nun, der die Aufrichtigkeit (oder besser das gute Selbstbewusstsein 35 ) zu einer veritablen Herausforderung werden lässt. Zunächst ist nochmals festzuhalten, dass der Ehrlichkeitsanspruch überhaupt nur an ein exzentrisch positioniertes Wesen ergehen kann bzw. an ein Wesen, dessen »Realität in ihrem unmittelbarsten Sein, in der Innenstruktur des präreflexiven Cogito das ist, was sie nicht ist, und nicht das ist, was sie ist.« 36 – so die Sartre-spezifische Formulierung. Deshalb ist Unaufrichtigkeit nur möglich, weil denjenigen, die sich um Ehrlichkeit bemühen, jederzeit bewusst wird, »von Natur aus ihr Ziel zu verfehlen.« 37 In dem Ansinnen auf Ehrlichkeit liegt also bereits eine Gebrochenheit, die in gewisser Weise als Einfallstor für Unaufrichtigkeit fungiert. Selbsttäuschung hat demzufolge mehrere Facetten: Sie liegt zum einen in der unerschütterlichen Behauptung, voll und ganz mit einem bestimmten Selbstbild deckungsgleich zu sein, zum anderen aber nicht minder darin, geschickt zu der Tatsache Zuflucht zu nehmen, dass man niemals voll und ganz das seinsmäßig ausfüllen kann, als was man sich konstituiert (versteht), um aus diesem konstitutionellen Defizit gewissermaßen einen Freibrief für Unehrlichkeit abzuleiten. So könnte man sich auf die Seite des Nichtseins schlagen, d. h. in der Hochstilisierung des unablässigen Über-sichhinaus-Seins faktisch fragwürdige Verhaltensweisen leugnen, indem man z. B. sagt: Ich habe zwar meinen Kindern Der mit »Unaufrichtigkeit« übersetzte französische Begriff »mauvaise foi« würde zutreffender mit »schlechtes Selbstbewusstsein« übersetzt. Auf diese Weise träte klarer ein wichtiger Unterschied hervor, nämlich der Unterschied zwischen gezielten Manövern der Selbstverleugnung (»schlechtes Selbstbewusstsein« eben) und den aus der grundlegenden Struktur des Selbstbewusstseins hervorgehenden Schwierigkeiten der Selbsterkenntnis, um die man aber unablässig ringt. 36 Ebd., S. 153. 37 Ebd., S. 152. 35
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Angst eingejagt, aber, obschon ich diese Realität einräume, bin ich sie nicht, vielmehr bin ich – eigentlich – derjenige, der das im Grunde nicht ist bzw. schon darüber hinweg ist. Hier wirkt das immer mitgegebene Nichtsein des Seins wie ein Schlupfloch, durch das ich mich der Verantwortungsübernahme für die eigenen Handlungsweisen entziehe. Doch ebenso fragwürdig wäre es, sich im Blick auf vergangene Untaten gleichsam als ein Ding zu konstituieren, dem keinerlei Freiheitsmöglichkeit gegeben waren. Das heißt: Erblicke ich den Sinn der Ehrlichkeit darin, mich rückblickend auf verantwortungsloses Objektsein zu reduzieren, dann ist auch dies unaufrichtig. Da ich niemals in meinem Sein aufgehen kann, besteht und bestand stets ein Spielraum der Freiheit, eben auch damals. Selbsttäuschung wird also vermieden, wenn ich grundsätzlich in keinem Moment des Lebens nur diejenige bin, als die ich mich gezeigt habe, und wenn ich zugleich problematische Verhaltensweisen nicht nonchalant im Verweis auf mein eigentliches/wirkliches Sein bagatellisiere. In diesem Sinne bilanziert Sartre: »Die Unaufrichtigkeit, sagten wir, hat zum Ziel sich außer Reichweite zu bringen, sie ist eine Flucht.« 38 Auch inbrünstige Bekenntnisse können – so ist Sartre wohl zu verstehen – dem Zweck dienen, sich im Blick auf Vergangenes allen kritischen Einwänden zu entziehen, indem man sich als Spielball der Umstände geriert und im vergangenen Geschehen alle Freiheitsmöglichkeiten abstreitet. Doch gerade in diesen Manövern der Leugnung und Verteidigung aktiviert die Person eine Freiheit, auf die sie auch damals schon hätte zurückgreifen können. Schon damals hätte sie anders handeln können. Die Ehrlichkeit kann eine Ausflucht werden, wenn sie darin besteht, sich retrospektiv voll und ganz über jene Seinsform zu definieren, die dem An-sichSein der Dinge entspricht. Ich gebe dann vor, nicht anders zu können bzw. gekonnt zu haben. Indem ich aber die Aus38
Ebd., S. 150.
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sage, nicht anders zu können, zur Lossprechung von meiner Verantwortlichkeit nutze, demonstriere ich nun eigentlich meine Freiheit, die nun paradoxerweise darin liegt, nurmehr ein Ding sein zu wollen. Das Hin- und Her zwischen Leugnen und Herauskehren der Freiheit ist als Bravourleistung eines Autonomieverständnisses anzusehen, das bestrebt ist, möglichst ungehindert über Realitäten zu verfügen. Diese (selbstbetrügerische) Autonomiedemonstration ist von Aversionen geleitet, welche sich insbesondere gegen das leidvolle Anerkennen des existenziell Unwiderruflichen richten, um keine Reue empfinden zu müssen. Dies kann der Fall sein, wenn jemand reelle Schuld auf sich geladen oder wenn er den richtigen Handlungsmoment versäumt hat, um schwerwiegende Folgen abzuwenden, nachdem er oder sie etwa eine fatale Fehlentscheidung getroffen hat. Indem man derart unliebsamen Wahrheiten ausweicht, soll die eigene Stabilität gesichert werden. Hier sucht das Selbst seine Autonomie mittels coolabgeklärter Beherrschung von Wirklichkeiten unter Beweis zu stellen und büßt doch zugleich jene Form von freier Aufmerksamkeit ein, die sich im vitalen Austausch mit der Außenwelt unentwegt neu auszurichten und zu verfeinern bestrebt ist. Darauf pochend, die jeweiligen persönlichen Präferenzen seien Ausdruck einer eigenständigen, unverrückbaren Individualität und damit im Prinzip jeder kritischen, rationalen Prüfung enthoben, schlägt es jene unermüdlich prüfende Erkenntnisfähigkeit in den Wind, die Menschen heute dringend benötigen, um den allgegenwärtigen gesellschaftlichen Druck zu bewältigen. Einspruch und moralische Missbilligung, die von anderen vorgebracht werden, geraten rasant schnell unter das Verdikt moralinsaurer Engstirnigkeit und normativer Bevormundung. 39 Auch wenn Selbstsein nicht bedeutet, mit den jeweils bloß faktischen Wünschen
39
Zu diesen Selbstbehauptungsmanövern, siehe auch: Crawford, 2016.
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deckungsgleich zu sein, so muss dennoch die Deutungshoheit des Individuums bestehen bleiben.
3. Die Antwort Philosophischer Praxis Erst wenn sich Krisen einstellen, wenn zwischenmenschliche Verwerfungen und existenzielle Widerfahrnisse so bedrängend werden, dass fundamentale Selbsttäuschungen dem Druck der Wirklichkeit nicht länger standhalten, wird ein Geschehen in Gang gesetzt, welches sich der Verfügungsgewalt illusionärer Selbstmächtigkeit entzieht. Erschüttert durch Schmerz und Unruhezustände, bedrängt durch Dissonanzen und Konflikte kann eine Person sich nicht mehr mühelos ›selbst übernehmen‹ und wird zu einer neuen Sicht der Dinge hinfinden müssen. Notgedrungen wird sie sich ihrer doppelsinnigen Lage stellen müssen, die zwischen dinghafter Eingebundenheit und relativer subjektiver Freiheit aufgespannt ist. Es wird ihr abverlangt einzuräumen, dass auch akribisch durchgeplante Lebensprojekte immer nur Möglichkeiten eröffnen und keine Gewissheiten garantieren, weil unkalkulierbare Umstände, ungeahnte Impulsivität und der überraschende Eigensinn anderer alles wieder in Frage stellen können. Abstürze aller Art erzwingen gewissermaßen eine Öffnung zur Welt, zum anderen Menschen hin – Bruchlandungen, in deren Nachklang man sich einer Sache womöglich nie wieder so gewiss sein wird wie zuvor. Dieser prima facie belastende und konfliktreiche Anschub erweist sich indes als lehrreich und produktiv, denn er bereitet den Boden dafür, realitätsnäher und auf neue Art auch selbstbestimmter im Leben zu stehen. In erster Instanz löst man sich von der vermessenen Vorstellung, das eigene Selbst im freien Entwurf, souverän und weitestgehend unbehelligt von Beschränkungen erschaffen und ausleben zu können. Stattdessen formiert sich ein neuer Duktus der Lebensbewältigung, indem sich eine langsamere Gangart unablässiger 268 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
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Realitätsprüfungen etabliert – im stetigen Wechsel zwischen emotionaler Involviertheit und geistiger Distanznahme. Schmerzhafte Betroffenheit strebt hier nach Bewältigung durch tieferes Nachdenken oder auch, wie oben dargestellt, durch tröstliche Erhebungen in humorvolle Heiterkeit. In jedem Fall vergrößern sich auf diese Weise die Aussichten, der Selbsttäuschung zu entgehen, auch wenn dann immer noch gilt, dass man sich niemals vollumfänglich durchsichtig werden kann. Lebensnahes Philosophieren und Humor bewegen sich – wie Swantje Guinebert darlegt – gleichermaßen zwischen den Polen von »Aktivismus und Resignation«. 40 Im steten Zusammenspiel dieser beiden Verhaltensformen liegt, so viel lässt sich sagen, eine effektive Gegenstrategie zur Eindämmung bedenklicher Selbsttäuschungsmanöver. Doch in beiden Fällen bedarf es zugleich des Mutes, sich auf unsicheres Gelände zu begeben, denn hier wie dort kann es passieren, dass tragende Lebensfundamente erschüttert werden. Gefordert ist zunächst die Bereitschaft, jeden vorschnellen Aktionismus einzudämmen, um eine Art von Passivitätskompetenz zu entfalten, in der gegebene Phänomene zunächst ohne Beschönigung kontemplativ betrachtet werden. Das bedeutet, Abstand zu nehmen von persönlicher Betroffenheit, drängende Wünsche zurückzustellen und einen möglichst wahrhaftigen Blick darauf zuzulassen, sich über die Absurdität so mancher Konstellation trotzdem zu erheitern, einen selbstrelativierenden Humor zu aktivieren. Alles dies sind wichtige Elemente einer Lebensbewältigung, welche sich dem vordergründigen, oftmals irrigen Machbarkeitswahn der gegenwärtigen Kultur entzieht. Guinebert schreibt: »Denn sowohl eine philosophische als auch eine humorvolle Haltung sind dadurch gekennzeichnet, dass nichts für absolut gesichert gilt, dass alles in Frage gestellt und mit einem experimentellen Blick betrachtet werden kann. Dieser zwei40
Guinebert, 2020, S. 156.
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felnde, spielerische Blick wiederum ermöglicht die Empfindung einer wohltuenden Freiheit.« 41 Für die Philosophische Praktikerin Lydia Amir stellt ein Humor dieser Art nachgerade eine Philosophie für sich selbst dar, eine eigene Weltanschauung und Ethik, deren Leistungskraft es aus ihrer Sicht mit den größten religiösen und metaphysischen Traditionen aufnehmen kann. 42 Schon eine kleine Dosis Humor diene der Beförderung philosophischer Ideale wie Selbsterkenntnis, Wahrheit und Tugend, da humorvolle Distanzierung zu einer ruhigen Betrachtung ungelöster Konflikte befähige und die Beteiligten damit einer höheren Bewältigungsstufe zuführe. Im Blick auf die Philosophiegeschichte unterscheidet Amir zehn verschiedene Funktionen des Humors, von denen ich einige mir zentral erscheinende Aspekte im Blick auf die Praxisarbeit herausgreifen möchte. 43 Folgende Merkmale des Humors seien in Anlehnung an Amir akzentuiert: Da ist zum einen seine Nähe zu einer realistischen, wahrheitsgetreuen Wirklichkeitserfassung, zum anderen sein mildernder Einfluss bei der Eindämmung und Verarbeitung starker Affekte wie Schmerz und Zorn. Indem eine Philosophin mit ihrem ganzen Sein dem Humor zuspreche, also, wie oben dargelegt, Humor vor allem in die Selbstbeziehung einbringe, stifte sie eine lachende Beziehung zu anderen, nicht zuletzt in der Absicht, deren Werte herauszufordern und – wie zu hoffen wäre – auch zu modifizieren. Die Wahrheitsliebe des Humors liege darin, die AmbiEbd., S. 157 f. Amir, 2012, S. 1. 43 Nach Amir ist Humor innerhalb der philosophischen Texttradition nach einem vielversprechenden Auftakt in der griechischen und römischen Antike eher eine seltene Erscheinung. Für die neuzeitliche Philosophie bekundet sie, mit den Namen »Shaftesbury, Johann Georg Hamann, Kierkegaard, Nietzsche, Santayana, Bataille, Deleuze, and Clément Rosset« bereits eine erschöpfende Liste humoraffiner Denker vorzulegen. Doch gerade die moderne Philosophie könne, so Amir, vom Gebrauch des Humors erheblich profitieren. – Ebd., S. 5. 41 42
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valenzen, Ungereimtheiten und Spannungen der menschlichen Existenz gerade nicht gewaltsam ausräumen zu wollen, sondern vielmehr anzuerkennen, dass unauflösliche Widersprüche unser Leben bestimmen und wir mit diesen Unvereinbarkeiten zurechtkommen müssen. Wenn tragisch anmutende Gegensätze durch Humor in komische Inkongruenzen verwandelt werden, tritt Entlastung ein und Leid wird erträglicher. Ähnlich wie bei Plessner gewinnt der Humorvolle seine Souveränität zurück, indem er die widersinnigen Grundbedingungen der menschlichen Existenz lachend anerkennt und gerade darin seine menschliche Kraft behauptet. Amir schreibt: »the more ridiculous I am, the more I exemplify the human condition, the better I am as a human beeing.« 44 Das heißt: Indem wir auch auf solche Erfahrungen mit Humor zu blicken wagen, die uns auf Anhieb kaum witzig erscheinen, entsprechen wir hohen philosophischen Idealen. Im humorvollen Abstandnehmen erhöhen wir die Bereitschaft, den Zusammenprall unserer Erwartungen mit einer gegenläufigen Wirklichkeit zu akzeptieren. Wir steigern darin unsere Fähigkeit, zwischen unterschiedlichen, konflikthaften Sichtweisen hin und her zu gleiten und simultan auftretende widersprüchliche Emotionen wahrzunehmen. Allein auf diese Weise vermögen wir anzuerkennen, dass ihnen oftmals eine je eigene Berechtigung zuzusprechen ist und Kollisionen deshalb unvermeidlich sind. So lernen wir damit zu leben, gegebenenfalls eher kompromisshafte Lösungen anzustreben, anstatt im Dienst eines fehlgeleiteten Eindeutigkeitsverlangens (»missguided belief in single-mindedness«) anzunehmen, dass, weil eine Seite argumentativ absolut im Recht ist, die andere um jeden Preis ausgelöscht werden muss (»for one side of the argument to be absolutely true, the other side must be erased by all means possible«). 45 44 45
Ebd. Ebd., S. 9.
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Selbstdistanzierend befreien wir uns im Humor zugleich aus den Limitierungen einer rein emotionalen Perspektive und erweitern unseren Horizont hin zu einer neutraleren, mitunter sogar desinteressierten Sicht. Wollen wir der Wahrheit nahekommen, so dürfen wir nicht darauf drängen, alle Zweideutigkeit und Uneinigkeit zu zerstreuen. Vielmehr steigern wir durch selbstbezüglichen, selbstrelativierenden Humor letztlich unser Mitgefühl und unsere Toleranz, gewinnen neue Heiterkeit im Umgang mit Andersdenkenden, versöhnen uns auch mit Dingen, denen wir nicht zustimmen können, und erkennen schließlich den Moment, in dem es angeraten ist, einen Konflikt zu verlassen. Da Humor die Anspannung verringert, verhilft er uns dazu, Kontroversen (vorerst) ungelöst lassen zu können und den tragischen Kern des Lebens anzunehmen. Dieses knappe Resümee der Ausführungen Amirs zu einer Form des Humors, die das Potential besitzt, Leid in Freude zu transformieren, wäre um ihre Aussage zu ergänzen, dass Humor insbesondere innerhalb der Philosophischen Praxis von höchster Relevanz sei, da hier philosophisches Denken regelmäßig in konflikthafter Reibung auf gesellschaftliche Standards treffe. Insbesondere aber komme es hier auf den selbstreferentiellen Humor der Praktikerin an, die ihre eigenen inneren Konfliktlagen konstruktiv in die Praxissituation einzubringen sucht: »Vor allem kann Humor helfen, Macht aufzuteilen und die Bedeutung des Selbst zu minimieren (…). Dies ist bedeutsam, insoweit eine guru-ähnliche Macht des Philosophischen Praktikers eine der Gefahren darstellt, die in der Praxis des Philosophierens zu vermeiden sind.« (»Notably, humor can help diffuse power and minimize self-importance in Philosophical Practice. This is important insofar as the Guru-like power of the philosophical practitonier is one of the dangers to be avoided in the practice of philosophy.« 46 ) Diese besondere Rolle bzw. Haltung des 46
Ebd., S. 11 – Siehe auch: Amir, 2011, S. 157–173.
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Praktikers/der Praktikerin soll nun nochmals in ihren Grundlinien zusammengefasst werden. Das Humorvolle, Experimentelle, Spielerische und Aufgeschlossene ist wesentlich für Philosophische Praxis. Es stiftet eine Grundstimmung wechselseitiger Eingewobenheit, die auch in distanznehmenden Reflexionen der Verfestigung von Überzeugungen und Standpunkten entgegenwirkt. Immer geht es darum, bei sich und anderen Wissen und Nichtwissen gegeneinander abzuwägen, d. h. eine besonnene Haltung zu kultivieren, »eine Art innerer Helligkeit, ein waches Sichselbst-Begleiten« 47 , welches Sokrates in seinen Gesprächspartnern zu erwecken suchte. Im Spiegel eines solchen ›Mentors‹ vermag innere Selbstbezüglichkeit zu reifen. Sie ist zu verstehen als ein dynamisches Sich-selbst-kennen-Lernen, welches riskiert, den Blick auch auf eigene Unzulänglichkeiten zu richten, und zugleich den ethischen Kompass niemals fahren lässt. Die Gesprächspraxis des antiken Weisen zeigt uns, wie sehr wir in allen Prozessen der Selbsterkenntnis auf Rückmeldungen und die kritische Nachfrage wohlmeinender anderer angewiesen sind, allerdings solcher, die ihre eigene menschliche Begrenztheit nicht verhehlen. Anders als bei psychotherapeutischen Verfahren, insbesondere der Psychoanalyse, dürfen wir uns als PraktikerInnen keinesfalls vom Postulat der Neutralität dominieren und einschränken lassen, etwa indem wir diagnostische Souveränität beanspruchen. Dies bedeutet: Es muss der Praktikerin ganz ernsthaft immer auch darum gehen, sich etwas von ihrem jeweiligen Gast ›beibringen‹ zu lassen. Das Interesse, das man für dessen spezielle Kenntnisse und Lebensanschauungen, insbesondere aber für dessen Selbstauskünfte aufbringt, ist von enormer Bedeutung. Ich habe z. B. schon oft erlebt, wie sehr jemand aufblühte, dem der Raum gewährt wurde, detailliert sein Erleben zu schildern oder seine Exper47
Böhme, 1988, S. 127.
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tise zu erläutern, d. h. ein Wissen zu vermitteln, durch das sich die Praktikerin fraglos bereichert sehen konnte. Soll eine tragfähige Vertrauensgrundlage entstehen, so darf diese lernende Anteilnahme am Anderen keinesfalls lediglich in Form einer Taktik betrieben werden. Man muss sich wirklich für das jeweilige Visavis interessieren können, wenn Philosophische Praxis von Wert sein soll. Hier liegt das Ethos Philosophischer Praktikerinnen: in der unermüdlichen Würdigung des Gastes durch lebendiges Interesse, in der Bereitschaft, sich aufklären und belehren zu lassen. Dabei ist nun Folgendes von Belang: Das wesentliche ›Instrument‹ der Begegnung ist die eigene Persönlichkeit, 48 die sich – und hier kommt insbesondere der Humor ins Spiel – ihrer Komplexität, Vielschichtigkeit und Unergründlichkeit stellen muss, die also ihre Gebrochenheit, ihre blinden Flecken sowie ihre Ängste und ihren emotionalen Überschwang nicht verhehlen darf, sondern im Gegenteil unbedingt sehen und gegebenenfalls auch ansprechen sollte. Dies bedeutet nicht, dass man sich im Praxisgespräch dem Gegenüber ungefiltert zumutet, es bedeutet schlicht, es im richtigen Moment zu wagen, ein Beispiel der Selbstoffenbarung zu geben, z. B. persönliche Gedanken und Gefühle zu äußern. Fakultativ können auch Intuitionen in Bezug auf den anderen eingebracht werden, immer unter dem Vorbehalt möglichen Irrtums. Die Neutralität eines professionellen diagnostischen Blicks wirkt sich im Einzelgespräch, aber auch in anderen Formaten Philosophischer Praxis, in mehrfacher Hinsicht als Hemmschuh aus. Sie schafft mit der Beanspruchung von Wahrheit eine falsche Distanz, d. h. sie reduziert das Gegenüber auf einen Fall von X, suggeriert eine Objektivitätsillusion und Auch die Arbeiten Yaloms – Sachbücher wie Romane – zeigen, dass primär nicht Methoden, sondern das wache Interesse einer ›ebenbürtigen‹ Persönlichkeit wirkt, d. h. dem Gegenüber weiterhilft. – Siehe hierzu auch: Frank, 1992.
48
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sie vermittelt – was oft vergessen wird – der vermeintlichen Expertin das irreführende Selbstgefühl von Souveränität und Unverwundbarkeit bzw. die Illusion eines von zwischenmenschlicher Zuwendung abgekoppelten professionellen Selbstbildes, welches eigentlich immer problematisch ist. Hierzu eine kleine, von Yalom erzählte Geschichte: Dieser spricht in seiner Autobiografie von einem seiner maßgeblichen Lehrer, John Whitehorn, der zeitweilig Vorsitzender der Psychiatrie an der Johns Hopkins Universität war. Respektvoll beschreibt Yalom Whitehorn als ernsten, würdevollen Mann, der fast jeden anderen einschüchterte, sogar die Chefärzte anderer Abteilungen. Jahre später ereignete es sich, dass dieser unnahbare Lehrer, welcher Generationen von Psychiatern ausbildete, Yalom nach einem Schlaganfall an sein Krankenbett bittet. Erheblich geschwächt und massiv beeinträchtigt, wendet sich die Koryphäe nun um Beistand flehend an den einstigen Schüler. Auf diese Begegnung nimmt Yalom – merklich erschüttert – mit folgenden Worten Bezug: »Was für ein Schock war es, zu sehen, wie der wortgewandteste Mann, den ich je gekannt hatte, nun Speichel sabberte und um Worte rang. Nach einigen vergeblichen Anläufen gelang es ihm schließlich zu stottern: ›ich habe – ich habe … ich habe Angst, solche Angst.‹ Und ich hatte auch Angst, Angst bei dem Anblick einer Statue, die fallen und in Trümmern liegen würde.« 49
Eingedenk derartiger Erfahrungen wies Yalom schon früh in seiner Karriere als philosophisch inspirierter Psychotherapeut den Anspruch professionell-neutraler Autorität zurück und wurde zum Fürsprecher einer im Bemühen um Aufrichtigkeit verankerten »Therapeuten-Transparenz«. 50 Wiederholt schildert er Phasen enormer Angst und Getriebenheit innerhalb der eigenen Biografie. Im Zuge seiner Auseinandersetzung mit diesem Angstpotential, das er mehr oder 49 50
Yalom, 2017, S. 127 u. S. 147. Ebd., S. 171.
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weniger in jedem Menschen angelegt sieht, entwickelt Yalom seinen spezifischen Ansatz ›existenzieller Psychotherapie‹, welcher um die Themen Tod, Freiheit, Isolation und Sinn bzw. Sinnlosigkeit zentriert ist. Dieses Konzept erscheint mir in vielerlei Hinsicht philosophischer als die Vorgehensweise einiger Praktiker, die entweder methodenfixiert von sich selbst weitgehend absehen wollen oder die genau umgekehrt mittels ihrer Philosophenpersönlichkeit als unbestreitbare rationale Kapazität und maßgebliche Instanz (als QuasiInstitution) auftreten und gleichsam ›Ewigkeitsansprüche‹ erheben. Letztere agieren auf der Basis spezifischer philosophischer Grundüberzeugungen, die gewiss einer langjährigen intellektuellen Schulung entspringen, die aber, weil die Persönlichkeit des Praktikers in ihren Kontingenzen, Brüchen und emotionalen Prägungen verdeckt bleibt, letztlich abgehoben und lebensfern erscheinen und der lebendigen Diskussion entzogen werden. Mit Sicherheit ist auch bei diesen Praktikerinnen Empathie hoch angesehen, doch sie bleibt – getragen von philosophischem Überlegenheitsgebaren – weitgehend einseitig. Erst das Bemühen um mehr wechselseitige Aufgeschlossenheit, um ein mutuelles Empathiegeschehen 51 , stiftet eine besondere Art von hilfreicher Beziehung, die dem/der Anderen dazu verhilft, durch jene »nicht besitzergreifende Wärme und einen hohen Grad genauer Empathie« der Praktikerin persönliche Dispositionen und Bedeutungen nuanciert zu erkunden. 52 Damit ist gesagt: In letzter Instanz wäre in Philosophischer Praxis mit jener von Sokrates kommenden Kompetenz eines »Wissens des Wissens und Nichtwissens« 53 ernst zu machen. Während wir aus einem möglichst umfassenden Wissensfundus schöpfen, bleiben wir zugleich unein-
51 52 53
Siehe hierzu insbesondere auch: Staemmler, 2009. Yalom, 1989, S. 475. Siehe Böhme, 1988.
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geschränkt bereit, unsere Sichtweisen – angesichts unserer je persönlichen Verflochtenheit in eine sich wandelnde Welt – der fortwährenden Revision auszusetzen, eine Revision, die nicht zuletzt durch die Lebenserfahrungen unserer Praxisgäste in Gang gesetzt wird. Natürlich liegt in Anbetracht der oftmals akuten Problemlage des/der Hilfesuchenden stets auch ein Ungleichgewicht vor, denn diese(r) kommt aufgrund temporärer Beeinträchtigungen zur Praktikerin und nicht umgekehrt letztere zu ihr/ ihm. Nur in diesem Sinne, nicht aufgrund irgendeiner generellen Überlegenheit, wäre die Praktikerin in Anlehnung an Buber als ›eine losgelöste Präsenz‹ zu betrachten, die bei sich selbst und beim anderen zugleich zu sein hat. In Anlehnung an Bubers Konzept einer Umfassungsbeziehung bzw. eines Umfassungsaktes 54 formuliert Yalom: »Der Therapeut ist in der Lage, da zu sein, wo er selbst ist, und wo der Patient ist; der Patient kann nur da sein, wo er ist.« 55 Die Einschränkung/Beeinträchtigung des ›Patienten‹ ist jedoch als vorübergehend zu betrachten. Es kann also sehr gut sein, dass diese sich im Voranschreiten der Gespräche alsbald verliert, so dass der ›Patient‹ bzw. Gast zunehmend in die Lage versetzt wird, auch die Person der Praktikerin zu sehen, wertzuschätzen und deren Gedankenwelt auch etwas entgegenzuhalten. Dies geschieht mit Leichtigkeit, wenn zwei wesentliche Voraussetzungen erfüllt sind: Erstens ist es wichtig, dass die Praktikerin in ihrer menschlichen Bedingtheit und Weltverflochtenheit erkennbar bleibt, dass sie also keine Unfehlbarkeitsansprüche erhebt, etwas Derartiges aber auch nicht atMit Umfassungsakt ist bei Buber das Bemühen bezeichnet, ein situatives Geschehen (insbesondere im pädagogischen und therapeutischen Bereich), so gut es geht, immer auch aus der Erfahrungsperspektive des Gegenübers zu erleben, d. h. zu versuchen, zur selben Zeit drüben beim Anderen und auch bei sich selbst zu sein. Im Fokus steht also die bewusste Teilhabe an einer gegenwärtigen Situation, die beide Seiten umfasst. Siehe hierzu: Buber, 2005, S. 37 ff. 55 Yalom, 1989, S. 482. 54
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mosphärisch durch einen verstiegenen, hoheitlichen oder todernsten Habitus vermittelt. Hier ist der selbstrelativierende, heitere Humor, der den Ernst der Überernstvermeidung signalisiert, von besonderem Wert. Doch der beschwingte, leichte Sinn in Anbetracht existenzieller Stolpersteine und Bedrängnisse bezieht sich primär auf das eigene Selbst der Praktikerin und lädt die Besucherin auf diese Weise eher beiläufig und unausdrücklich dazu ein, es einmal mit einem ähnlichen Abstandnehmen zu versuchen. Es versteht sich von selbst, dass dieser humoristische Blick einzig fernab aller Formen von Spott und Zynismus angeregt werden kann. Auch auf Selbstironie sollte sich die Praktikerin nicht verlegen, weil sich hierüber wie dargelegt leicht eine Pose abgeklärter Unempfindlichkeit aufbaut. Zweitens, aber durchaus damit verknüpft, kommt es auf eine spezifische Art der Liebe an, die in gewisser Weise bedingungslos ist, die einen langen Atem hat und die auch bei gravierenden Beeinträchtigungen des Gegenübers Bestand hat. Simone Weil hat einmal geschrieben: »Jedes Wesen schreit im Stillen, um anders gelesen zu werden.« 56 Im Anderslesen und Zuhören liegt die ›Liebeskunst‹ und damit ein unbeirrbares Ethos der Praktikerin. Aufgeschlossene Empfänglichkeit ist wesentlich, wenn eine Philosophische Praktikerin die Lebensfragen ihres Gegenübers zur Angelegenheit gemeinsamen Nachdenkens machen will. Auf diese Weise wird es ihr möglich, anders zu sehen. Dies verlangt ihr, wie auch der Philosoph Emmanuel Lévinas verdeutlicht, einiges ab. Mit Lévinas können wir erkennen: Nur über die Annahme eigener Schwäche, Zartheit, Bedürftigkeit und Verletzlichkeit können Empfänglichkeit für den anderen Menschen und ein lebendiges Interesse an seinem Wohlergehen entstehen. Nicht Angepasstheit an die Erfolgsleitlinien für psychotechnische Höchstleistungen, sondern Leidempfind-
56
Weil, 1993, S. 211.
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lichkeit entfacht das innere Zwiegespräch, welches den kommunikativen Raum öffnet. In all dem wird deutlich, dass eine universitäre Ausbildung allein keine hinreichende Grundlage für philosophische Praxisarbeit bietet. Dies erlaubt aber keinesfalls den Schluss, dass theoretische Studien überflüssig werden. Im Gegenteil, die philosophische Tradition (sowie die kritische Auseinandersetzung mit ihr) bietet eine breite Basis von Gedanken, um den involvierten Menschen zu erhellen. Dennoch reichen auch Denkrichtungen wie die Existenzphilosophie oder die neue Phänomenologie, um nur zwei Beispiele hierfür anzuführen, nicht hin, wenn sie ausschließlich im Bücherstudium erforscht werden und der Gelehrsamkeit dienen. In der Individualberatung gilt es, philosophische Einsichten vorzubringen und umzusetzen, ohne vom Katheder herab zu dozieren. Hier begegnen dem Philosophen in der Regel Menschen in Krisen, in Momenten der Entfremdung, des Scheiterns, der Bedrohung, also Menschen, die unter hohem emotionalen Druck stehen. Manche Menschen sind in akuter Not schlechterdings nicht mehr zur Selbstdistanzierung in der Lage. Es geht dann primär um einen nicht belehrenden oder objekthaften Umgang mit diesen Menschen, um ein einfühlsames Wahrnehmen ihrer Lage ohne vorschnelles Bescheidwissen und ohne eine automatische Zurückführung auf Schonimmer-Gewusstes, also auch ohne Absichten der Unterweisung oder direktiven Beeinflussung. Erzählungen können Menschen dabei helfen, auch schwerwiegende Ereignisse zu verarbeiten. Ob und wann sich etwas mitteilen lässt, hängt von den situativen Umständen des Gesprächs ab, ganz entschieden aber von der Person, mit der jemand spricht. Hier lässt sich nichts erzwingen, sondern es gilt den richtigen Moment zu erkennen, in dem eine vertrauensvolle Atmosphäre sich derart verdichtet, dass Öffnungen oder Durchbrüche möglich werden. Wer über Belastendes zu sprechen beginnt, seine Wörter indes entstellt und missverstanden sieht, erlebt Befremdung, folglich wird er 279 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
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zeitweilig oder dauerhaft verstummen. Rückblickend bekundet z. B. Boris Cyrulnik, als er beginnt, seine extremen Kindheitserlebnisse nach vierzig Jahren des Schweigens niederzulegen: »Ich hätte gerne davon gesprochen. Ich spielte darauf an, kam auf die Ereignisse von früher zu sprechen, aber jedes Mal, wenn ich ein Stückchen Erinnerung preisgab, ließ mich die Reaktion der anderen verstummen, weil sie verwirrt waren, skeptisch oder allzu fixiert auf mein Unglück.« 57 Schweigen dient Menschen mit seelischen Verletzungen als Schutz, denn zu groß ist das Risiko, dass Wunden wieder eingerissen und vertieft werden, sofern ein Schmerz keine angemessene Resonanz findet. Oft verweigert sich das Umfeld, indem ein Unglück von großem (individuellen) Ausmaß auf eine Stufe mit kleinen, alltäglichen Nöten gestellt wird. Dieser Eindruck kann schon durch eine ungeschickte Wortwahl wachgerufen werden. Deshalb kommt es insbesondere auf sprachliche Sensibilisierung, auf ein behutsames, rückversicherndes Sprechen und Zuhören an, um sich Schritt für Schritt an Mitgeteiltes heranzutasten und eine Person allmählich aus ihrer Isolation zu lösen. Viele Menschen, die eine Philosophische Praxis aufsuchen, sind von einer tief liegenden Sehnsucht erfasst, (sich selbst) anders zu sehen und anders gesehen zu werden, auch wenn sich oft konkrete, manifeste Probleme davorgeschoben haben, Probleme, die in der Regel zunächst zum Thema gemacht werden. Hier kann es passieren, dass eine Person lange alles Mögliche anspricht, dass sie vielleicht sogar offensiv bestimmte Überzeugungen ins Feld führt, den tieferen Grund ihres Kummers aber unbesprochen lässt. Um zu erkennen, worum es einer Besucherin geht, muss im Gespräch jegliches schnelle Urteilen und Aburteilen suspendiert werden. Nur durch Milde und Zurückhaltung seitens der Praktikerin vermögen Chancen der Erneuerung aufzuscheinen. Edith Stein schreibt: »Die Liebe, mit der ich einen Menschen umfasse, 57
Cyrulnik, 2015, S. 38.
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mag imstande sein, ihn mit neuer Lebenskraft zu erfüllen, wenn die seine versagt.« 58 In dieser Frage sind auch Überlegungen der Psychoanalytikerin und Philosophin Julia Kristeva erhellend. Kristeva thematisiert in einigen ihrer Texte die Kraft des Verzeihens oder besser die Wichtigkeit eines Raumes der Verzeihung, welcher zum Anderswerden ermutigt. 59 Ich kann dies hier nicht ausführen, nur andeuten. Es geht um Folgendes: Der menschlichen Sehnsucht nach Selbsttransformation oder auch nur danach, mit der eigenen Geschichte ins Reine zu kommen, steht die tiefsitzende Furcht entgegen, gerichtet zu werden. Da jedes Leben durch Taten mit unrevidierbaren Folgen befrachtet ist, dominiert diese Furcht das Selbst umso mehr, je schwerwiegender die Belastung ist, nicht selten sogar die Schuld. Im Hinblick auf Dinge, die man versäumt und nicht getan hat, setzen oft Verdrängungsmechanismen ein. Hieraus erklärt sich auch die zuvor beschriebene Dynamik der Selbsttäuschung, derzufolge ein längerfristig verfolgter Fehlkurs irgendwann zum Selbstläufer wird. Auf diese Weise wird aber die Kraft zur Verwandlung blockiert, während in vielen Fällen zugleich das Verlangen nach Verwandlung ins Unermessliche anwächst und zu großen seelischen Spannungen führt. Gemäß Kristeva bedürfen wir unbedingt des Anderen, um über diesen Punkt hinaus in einen Prozess der ›Selbstversöhnung‹ einzutreten. Wir brauchen den verzeihenden oder besser den nicht verurteilenden Blick eines Gegenübers, um überhaupt Möglichkeiten des Neubeginns in uns freilegen zu können. Für die Praktikerin bedeutet dies, dass sie gleichsam eine »Wette auf die Kräfte des Guten (…)
Stein, 2006, S. 163 f. Siehe hierzu: Kristeva, 2010 – Ergänzend, siehe auch: Kodalle, 2013, Kap. V – Ähnlich gerichtet plädiert Yalom dafür, die Patienten behutsam dazu einzuladen, dass zu formulieren, was sie in ihrem Leben bereuen. Auf diese Weise können Selbsttäuschungen abgebaut und neue Perspektiven aufgebaut werden. – Yalom, 2014.
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in der Persönlichkeit« 60 ihres Gegenübers abschließen muss, um Dinge in Bewegung zu bringen. Der geheime Schlüssel liegt dabei in einer besonderen – liebenden – Hörfähigkeit, die sich nur durch Absichtslosigkeit und theoretische Behutsamkeit, durch vorsichtiges Erspüren und atmosphärisches Schauen einstellen kann. Es ist zwar widersinnig, das Nichtwollen zu wollen, aber man kann versuchen, das allzu forcierte Wollen behutsam zur Seite zu schieben, um ein Klima der Milde zu stiften. Ist das Gegenüber irgendwann zu Selbstvertrauen und Zuversicht erstarkt, so mag sich schließlich sogar gemeinsames Lachen über die in vielem absurd und sinnlos erscheinenden Wirklichkeitsphänomene einstellen. Das Schwere und Unlösbare wird erträglicher, wenn man es mit anderen teilen kann, die mit denselben Schwierigkeiten zu kämpfen haben, die problematische Gefühle wie Angst, Zorn oder Neid nicht vehement von sich weisen, sondern sie einräumen und einen adäquaten Umgang damit anstreben. Zwischenmenschliche Verbundenheit wirkt einen schützenden Mantel um uns, so dass sich versöhnlicher und hoffnungsvoller mit den letztlich ausweglos erscheinenden Abgründen menschlicher Existenz leben lässt. Yalom entnahm Inspirationen für seine existenzielle Psychotherapie der Lektüre philosophischer Denker wie Epikur, Lukrez, Sartre, Camus und Schopenhauer. Eine ebenso wichtige Rolle spielten für ihn einige literarische Vertreter, etwa Dostojewski, Tolstoi, Beckett oder Hesse. Insofern diese Autoren sich mit der »Unausweichlichkeit des Todes« auseinandersetzen und »um den Sinn in einer sinnlosen Welt« 61 rangen, galten sie ihm als Sprachrohr für die zentralen Lebensfragen aller Menschen. In der Bewusstmachung des bevorstehenden Todes sah er fortan einen zentralen Schlüssel einer sinnbezogenen und erfüllenden Lebensgestaltung – ein 60 61
Kodalle, 2013, S. 369. Yalom, 2017, S. 233 f.
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Grundgedanke, den Yalom in seinem Lehrbuch über existenzielle Psychotherapie differenziert entfaltet und auf viele Problemlagen menschlicher Existenz bezieht. Die Realisierung der Todesgrenze verschärft die an den Menschen ergehende Freiheitsherausforderung, sein Leben in einem Universum, »dem keine Gestalt eingeschrieben ist« 62 , selbsttätig und eigenverantwortlich formend zu bewältigen. Wer es lernt, sich selbst zu verstehen, wer bestrebt ist, das eigene Agieren in der Welt verstehend zu begleiten, ist letztlich auch wirksamer gegen die Fallstricke der Selbsttäuschung geschützt. Ein in solcher Weise sich Bemühender wird dafür sorgen, keine schwerwiegenden Fehler zu begehen, deren Begleiterscheinungen und Folgen ihn dauerhaft derart belasten, dass er schließlich Zuflucht zu Selbsttäuschungen nehmen muss. Auch wird er bemüht sein, wesentliche Ziele und Vorhaben nicht endlos aufzuschieben. Er wird beizeiten versuchen, das Vorgenommene zu realisieren, und sich vor allem dafür einsetzen, zwischenmenschliche Zerwürfnisse beizulegen und heikle Angelegenheiten zu bereinigen – nicht zuletzt in dem Bewusstsein, dass ungute Dinge durch den Tod auf immer eingefroren werden. Im Zuge des Älterwerdens wächst die Einsicht in die letztendliche Einsamkeit jeder individuellen Existenz, in ihr Geworfenwerden und ihre Vergänglichkeit. Nicht minder bedeutsam wird der Wert der unwiederbringlichen, einmaligen inneren Wirklichkeit »der visuellen Eindrücke und Klänge und Erfahrungen, die niemand anderes kennt, nicht einmal der Lebenspartner«. 63 Es ist ein typisches Altersphänomen, sich in Vergangenes zu versenken, Atmosphären weit zurückliegender Lebensphasen auszukosten und vielleicht, wenn man Glück hat, in Erzählungen an seine Kinder und Enkel heranzutragen. Wer gelernt hat, das Leben reflektiert und besonnen zu führen, kann das Altwerden, das im Kräfte62 63
Ebd., S. 260. Ebd., S. 260 f.
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abbau unleugbar werdende Näherrücken der Todesgrenze, als Intensivierung der eigenen Existenz erleben. 64 Diese Möglichkeit ist denjenigen genommen, die – von Leistungszwängen getrieben – nahezu alle wesentlichen Dinge versäumen, sei es die rechtzeitige Umsetzung eines wichtigen Vorhabens oder sei es die Klärung prekärer zwischenmenschlicher Angelegenheiten. Alles trägt hier dem Gedanken Rechnung, dass individuelle Selbstwerdung und -entfaltung nur über eine lebensnahe denkerische Praxis gelingen kann. Zugleich ist für Yalom die soziale Eingebundenheit des Menschen so zentral, dass ein persönliches Vorankommen ohne ethische und soziale Verantwortung undenkbar ist. Entsprechend ging er dazu über, den Ansatz der Gruppengespräche zu vertiefen, da hier über unmittelbare zwischenmenschliche Rückmeldungen hilfreiche Anstöße erfolgen können. 65 Wir haben es hier also mit einem psychotherapeutischen Ansatz zu tun, der deutliche Affinitäten zu einem zeitgemäßen Verständnis Philosophischer Praxis bietet. Die menschliche Fähigkeit reflektierter Selbstdistanzierung wird durch Yaloms Akzentuierung existenzieller Grenzsituationen wie Isolation, Krankheit und Tod philosophisch ausbuchstabiert und in eine Gesprächspraxis transferiert, die sich explizit an der Dialogik des Sokrates orientiert. Noch weitaus differenzierter als Yalom erkundet auch Hannah Arendt am Beispiel des Sokrates eine spezifische Form lebensdienlichen Nachdenkens, deren zentrales Merkmal ein unverzichtbares zwischenmenschliches Ethos ist. Wer nachdenkt, distanziert sich vorübergehend, er tritt den »Rückzug vom unmittelbaren Engagement auf einen Stand-
Siehe auch: Bennent-Vahle, 2007. Das Thema der Gruppengespräche in Philosophischer Praxis kann hier nicht vertieft werden. Die sollte aber in absehbare Zeit einmal Gegenstand theoretischer Überlegungen zu diesem Arbeitsgebiet sein.
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punkt außerhalb des Spiels« 66 an, um gewissermaßen ›kontemplativ‹ zu werden. Nur so wird man befähigt, als Zuschauer der eigenen Angelegenheiten den Schlüssel für einen möglichen Sinn zu finden. Das heißt: Jemand entzieht sich für eine Weile den Blicken der Anderen, sucht einen Zustand des Alleinseins auf, um sich temporär von allen Verrichtungszwängen und spontanen Reaktionsimpulsen freizumachen. In dieser Phase des Nachdenkens reduziert sich die Vielheit der Handlungskontexte auf die Zweiheit eines inneren Dialoges, den das Selbst mit sich selbst führt. Nachdenken ist für Arendt ein stummes innerliches Zwiegespräch, in dem eine ursprünglich im menschlichen Bewusstsein angelegte Dualität aufbricht. Das Selbst spaltet sich, realisiert seine exzentrische Positionalität und tritt in ein abständiges, beurteilendes Verhältnis zu sich selbst. Im Denken ist es so, als wäre man zu zweit: Man beginnt, verschiedene Ansichten abzuwägen und miteinander zu vergleichen, um darüber letztlich auch die Anliegen anderer Menschen, denen man (dauerhaft) verbunden und verpflichtet ist, besser zu verstehen. 67 Wer sich der Partnerin im eigenen Inneren stellt, vermeidet es, so Arendt, seine eigene Gegnerin zu werden und sich zu verlieren. Sie nennt dies das »Zwei-in-einem« 68 des Menschen. Durch das Nachdenken hindurchzugehen, sagt sie, sei immer irritierend, denn es bedeute, sich in Dingen verunsichern zu lassen, »die über jeden Zweifel erhaben schienen, als man noch gedankenlos tätig war« 69 . Gemeint ist also ein Akt prüfender Selbstdistanzierung, durch den eine Art von ›unparteiischer Beobachterin‹ 70 in uns aktiviert Arendt, 2002, S. 99. Ebd., S. 99. 68 Ebd., S. 184. 69 Ebd., S. 175. 70 Das Postulat, den Standpunkt eines unparteiischen Zuschauers (unvoreingenommenen Beobachters) einzunehmen wird schon bei Adam Smiths näher thematisiert. Smith beleuchtet zudem, wie eine solche 66 67
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wird. Wir betrachten eine Angelegenheit auf neue Weise, indem wir – vielfach erst nachträglich – ein kritisch-abwägendes Verhältnis zu unseren Antrieben und Interessen einnehmen. Entscheidend ist hierbei auch nach Arendt die Anerkennung jener intersubjektiven Verfasstheit des Menschen, für die Plessner eine zeitgemäße philosophisch-anthropologische Ausformulierung fand. Dieses Theorem, welches mittlerweile vielfach durch ethnologische und psychologische Studien bestätigt und vertieft wurde, verweist auf unhintergehbare ethische Standards, die als wesentlich für ein gelingendes Leben anzusehen sind – Standards, die es in Philosophischer Praxis gedanklich anzuregen und vorbereitend einzuüben gilt. Eigentlich sollten wir der philosophisch ausgerichteten Selbstreflexion unablässig Einlass in unser Leben gewähren. Deshalb kann man sagen, dass in ›therapeutischen‹ Zusammenhängen im Grunde genommen lediglich Versäumnisse nachgeholt werden. Dementsprechend formuliert Arendt in Anlehnung an Sokrates: »Das Denken begleitet das Leben und ist selbst die entmaterialisierte Quintessenz des Lebendigseins; und da das Leben ein Vorgang ist, kann seine Quintessenz nur im aktuellen Denkvorgang bestehen und nicht in irgendwelchen Ergebnissen und speziellen Gedanken. Ein Leben ohne Denken ist durchaus möglich; es entwickelt dann sein eigenes Wesen nicht – es ist nicht nur sinnlos, es ist gar nicht lebendig. Menschen, die nicht denken, sind wie Schlafwandler.« 71
Ähnliches betont auch Yalom, der nachdrücklich empfiehlt, bereits dann den ›therapeutischen‹ Dialog aufzusuchen, wenn noch keine schwerwiegenden Krisen oder affektiven Kata-
ethische Ausrichtung sich realistischerweise aus den emotionalen Naturanlagen des Menschen heraus entwickeln kann. – Smith, 2010, S. 124 ff., S. 131 ff. sowie 6. Teil. 71 Ebd.
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strophen eingetreten sind. 72 Gerade das eng getaktete, besinnungslose Leben in einer reizüberfluteten, modernen Lebenswelt verlangt in hohem Maße nach Innehalten und Kontemplation. Mit Paul Ekman und dem Dalai Lama wäre deshalb unbedingt für die Einrichtung von »Metaaufmerksamkeitszimmern« zu plädieren. 73 Hierbei geht es letztlich nicht primär um die Anhäufung von Wissen und Erkenntnis, sondern um die Ausbildung einer Weisheit des Nichtwissens, die im Wirken des antiken Lehrers Sokrates auszumachen ist. Es geht um eine Haltung, die sich im permanenten Wechsel zwischen nachdenklichem Innehalten und aktiver Teilnahme an der Welt vollzieht. Durch das Denken erfolgt zunächst eine Art Lähmung, welche die alltäglichen Lebensvollzüge unterbricht, um sie zu überschreiten. Dabei mag es so scheinen – und hier liegt eine spezifisch philosophische Gefährdung –, als trete man in einen Raum allgemeingültiger Wahrheiten ein. Genauer gesagt, heißt das: Insofern sich das Denken in Abkehr von der komplexen Handlungswirklichkeit realisiert, wird oftmals die Vorstellung genährt, man könne durch geistige Schau in eine Sphäre endgültiger Einsichten gelangen. Doch dies ist, wie Arendt immer wieder betont, ein Trugschluss, da sich auch der vermeintlich ruhende Geist weiterhin in einem Zustand latenter Aktivität befindet. Immer wieder neu wird er zur Aufbereitung gelebter Erfahrungen angestachelt und aufgerüttelt. Wie bei Plessner gilt auch hier 74 : Keine Systematisierung vermag das Lebendige vollends auszuschöpfen. Indem das Beobachtete nämlich notwendigerweise vom Ganzen abgetrennt wird, gelangt man immer nur zu vorläufigen Ergebnissen. Allgemeine Rückschlüsse, die sich durchaus ergeben können, sind demnach stets nur von flüchtiger Dauer. Kein fest gefügtes Wissen kann, wie Arendt sagt, letztlich 72 73 74
Yalom, 2014. Ekman, 2009, S. 286. Zur Affinität von Arendt und Plessner, siehe: Baratella, 2019.
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»dem Wind des Denkens« 75 standhalten. Sobald sich Strukturen verfestigen und Wahrheiten fraglos werden, wirkt die denkerische Aktivität erneut wie ein Plagegeist und unterbricht jede vermeintliche Ruhe, so dass als letztgültige Einsicht schließlich nur die berühmte Einsicht des Sokrates übrigbleibt: »Ich weiß, dass ich nicht weiß.« 76 – eine allseits bekannte Weisheitsformel, in der die unaufhebbare exzentrische Positionalität menschlichen Seins konzediert wird. Indem jemand sich in dieser Weise zu einem nach-denkenden Wesen entwickelt, erwirbt er Zug um Zug die Fähigkeit, gemeinsam mit anderen Entscheidungen abzuwägen und Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen. Er tritt in eine Art föderative Republik langwieriger Handlungsprozeduren und widersteht gleichermaßen der Gefahr, Herrscher wie auch Untertan eines Königreichs der Gewissheit sein zu wollen. Auch die Denker, die Ideale schaffen, agieren von bestimmten Voraussetzungen aus, auch ihre Sensibilität wurde in spezifischen Kontexten geformt und kann nicht absolut gesetzt werden. Bleiben solche Begrenztheiten unreflektiert, so kann es geschehen, dass Vertreter der geistigen Elite in ein problematisches Fahrwasser geraten, dass sie sich, wie Arendt
Arendt, 2002, S. 192. Diese Phrase ist zum geflügelten Wort des Sokrates geworden. Sie findet sich im Kontext seiner Verteidigungsrede, in welcher er zum Ausdruck bringt, dass es nur eine einzige Form geistiger Überlegenheit geben kann. Diese liege darin, die Grenzen des eigenen Wissens (bzw. das eigene Nichtwissen) genau zu erkennen: »Denn es mag wohl eben keiner von uns beiden etwas Tüchtiges oder Sonderliches wissen; allein dieser meint etwas zu wissen, obwohl er nicht weiß, ich aber, wie ich eben nicht weiß, so meine ich es auch nicht. Ich scheine doch um dieses wenige doch weiser zu sein als er, daß ich, was ich nicht weiß, auch nicht glaube zu wissen.« – Platon, 2002, S. 18.
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feststellte, alles Mögliche zu Hitler einfallen ließen 77 oder wie Heidegger ein Unrechtssystem unterstützten. Erst das nachdenkliche Alleinsein vermag den geteilten Raum des Zwischen zu erschließen, der für Denkerinnen wie Arendt der eigentliche Ort der Freiheit ist. Mit Nachdruck vertritt sie die Ansicht: Freiheit ist nicht Machterweiterung eines Einzelnen, sondern Realisierung des Gemeinsamen im Sprechen und Handeln. Sollte es zur Verständigung kommen, wäre dies als Ereignis der Freiheit zu werten. Wir sehen also, dass philosophisches Nachdenken für Arendt eminent politischen Charakter hat, insofern es unkündbar auf das Zusammenwirken mit anderen Menschen bezogen ist. Trotz vorübergehender Absonderung während des Denkprozesses geht es letztlich um eine radikale Hinwendung zur geteilten menschlichen Erfahrungswirklichkeit, in der vielfältige Perspektiven aufeinandertreffen und miteinander vermittelt werden müssen. Alles zielt auf einen vorbehaltlosen, friedfertigen Austausch, welcher den Tatsachen menschlicher Verschiedenartigkeit Rechnung trägt. Es kommt also in diesem interaktiven Modus des Nachdenkens entschieden auf die Bereitschaft an, die pluralistische Ausrichtung der menschlichen Existenz tatsächlich anzunehmen, was bedeutet, vom Grund der eigenen Seele aus anzuerkennen, dass die Anwesenheit anderer Menschen mir Grenzen auferlegt, dass sie mich immer wieder von meinen Zielen und Überzeugungen wegträgt, ja diese Überzeugungen sogar oftmals grundlegend in Frage stellt. Ähnlich wie Plessner erachtet auch Arendt verstörende und leidvolle Kontingenzerfahrungen als unumgänglich. Zwar ist Nachdenken eine Art Vorbereitungs- und Begleitinstanz für dialogisches Sprechen und Handeln, doch liegt die eigentliche Bewährungsprobe des Menschlichen im Kooperativen, da dieses niemals – wie etwa das Arbeiten oder Herstellen – in der EinArendt äußert sich hierzu 1964 im Interview mit Günter Gaus. Siehe: Arendt, 1964.
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samkeit vollziehbar ist. Nur im Beisammensein, im praktischen Gelingen von Pluralität, ereignet sich Freiheit, niemals durch Übertrumpfung und Unterdrückung anderer Individualitätsformen. Handeln ist für Arendt eine Kunst des Vollzugs, in der sich das Individuum im Beisammensein mit anderen zeigt. Im Handeln und Sprechen offenbart sich das Selbst auf unverstellte Art und Weise. Hier, nicht zurückgelehnt im Schreibtischsessel, zeigt sich, für welche ethische Praxis sich jemand entschieden hat. Was letztlich zählt, ist nicht die Haltung des unbeteiligten Moraltheoretikers, sondern gelebtes Verbundensein mit der Welt. Hier liegt der Grund der Ethik, alle Begründung ist sekundär. Zum Kern des Menschlichen gelangt eine Person, wenn sie sich – sprechend und handelnd – in Kontexte einfügt, ohne sich darin zu verlieren, wenn sie sich mithin ergebnisoffen an kooperativer Entscheidungsfindung beteiligt und dabei Konflikte nicht scheut, wenn sie ihrer Mitwelt versprechend und verzeihend begegnet, wenn sie in allen herstellenden und schöpferischen Aktivitäten stets auch Handelnde bleibt. 78 Es ist eine zentrale Aufgabe Philosophischer Praxis, diese menschliche Haltung zu befördern, sowohl, indem ein Bewusstsein dafür angeregt wird, als auch ganz konkret im praktischen Vollzug von Zwischenmenschlichkeit. Damit jemand im Arendtschen Sinn mit sich selbst befreundet sein kann, bedarf er der freundschaftlichen Zuwendung von außen, nicht zuletzt durch Philosophische Praxis. Es geht darum, die Bedeutung emotional und intellektuell nährender Beziehungen zu erkennen und zu erfahren, so dass sich eine Art von Referenz für alle Lebenskontexte aufbaut, ein wiedergewonnenes Grundvertrauen in die eigene Bedeutsamkeit und Gestaltungsmacht, wenn man so will. Zugleich ist die Philosophische Praxis der Ort, an dem vorzugsweise ein tieSiehe hierzu: Arendt, 2006, S. 213 ff. – Zum Verzeihen und Versprechen, siehe: Ebd., S. 231 ff.
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fer gedanklicher Austausch über die großen Fragen des Lebens stattfinden oder ein anderes Anliegen des Gastes zum Gegenstand werden kann. Yaloms Werk ist darauf gerichtet, mit Nachdruck auch innerhalb der psychotherapeutischen Szene auf die existenzielle Dimension im Leben von Patienten aufmerksam zu machen. Wenn er gelegentlich einräumt, dass diese Dimension für viele zwischenmenschliche Probleme bzw. für alltägliche Themen wie Selbstwert, Sexualität oder Sucht kaum Relevanz habe, so erscheint mir dies eher vordergründig und nicht wirklich schlüssig. Denn sehr viele seiner Fallgeschichten belegen, dass gerade die Thematisierung grundlegender Lebensfragen Patienten dazu verhilft, völlig neuartig über naheliegende Dinge und gewöhnliche Problemlagen nachzudenken. In entsprechender Weise habe auch ich vielfach die Erfahrung gemacht, dass die Akzentuierung existenzieller Limitierungen dem fordernden, gleichsam unersättlichen modernen Individuum den Wert des Bestehenden vor Augen führen kann, beispielsweise das schlichte Glück einer – lange als selbstverständlich angesehenen – gelingenden Beziehung. Ein kurzer Exkurs zur Logik unserer emotionalen Konstitution kann hier überdies sehr erhellend wirken. 79 Kurzum: Wird durch die Anregung existenziell tiefer greifender Analysen – nicht zuletzt im Sinne Plessners – die allzu menschliche Illusion grenzenloser individueller Gestaltungsmacht durchbrochen, so zeitigt dies zahllose positive Effekte hinsichtlich unserer Fähigkeit, angemessener und versöhnlicher im Hier und Jetzt zu stehen. Einen derartigen Aufbruch können wir als Philosophische Praktikerinnen nur dann veranlassen, wenn wir authentische Begegnungen von Mensch zu Mensch zulassen, wenn wir also, wie weiter oben dargelegt, einem Ethos der Aufrichtigkeit und liebevollen
Ich verweise diesbezüglich auf: Ben Ze’ev, 2009; Bennent-Vahle, 2013.
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Umsicht verpflichtet sind. Gleichwohl wir keine engeren Beziehungen oder Freundschaften mit unseren Gästen außerhalb der Praxis eingehen sollten, kommt es darauf an, sich entschieden auf das Leben des jeweiligen Gegenübers einzulassen und sich zudem in der eigenen Menschlichkeit zu zeigen. Oder anders gesagt: Indem man zu dem anderen eine auf echtem Mitgefühl basierende interpersonelle Beziehung aufbaut, konfiguriert sich ein gelingendes Beziehungsmodell, das dem Hilfesuchenden als Bezugsgröße dienen kann, während er auch außerhalb der Praxiskontexte ein gutes soziales Leben anstrebt. An diesen Punkt gelangt indes nur eine Praxisarbeit, deren Leitideale Offenheit und Respekt sind, die einen dialogisch langen Atem hat und dabei unbeirrt auf die Etablierung gelingender zwischenmenschlicher Verständigung hinwirkt. Es handelt sich folglich um eine Praxis, die sich nicht nur einseitig zu diesem ethischen Grundstandard bekennt, sondern denselben auch bindend – oder wenigstens doch als eine »Wette auf die Kräfte des Guten« – an ihre Gäste heranträgt, sowohl in der Praxissituation selbst als auch in Form eines generellen Rahmenkodexes für ein gelingendes Leben, dessen Ausgestaltung darüber hinaus in vielen Einzelheiten völlig freigestellt bleiben kann, ja muss. Philosophische Praxis sollte sich nicht scheuen, klar und deutlich zu formulieren, dass aufs Ganze gesehen kein gutes Leben ohne wechselseitig anerkennende, rücksichtsvolle und umsichtige Beziehungen realisierbar ist. Mit Plessner gelangen wir zu einer Philosophie als kritische und selbstkritische Praxis, die sich an konkrete historische und kulturelle Situationen gebunden weiß. Sie erkennt an, dass diese Gebundenheit die Lebenserfahrung eines jeden zutiefst formiert, d. h. seinen »Selbst- und Weltaspekt« maßgeblich bestimmt: »Sie (die Gebundenheit, H. B.-V.) schenkt ihm Erfüllungen, sie enttäuscht seine Hoffnungen (…). Sie stellt ihm Fragen, sie ermöglicht ihm Antworten, für welche schon die folgende Generation kein Verständnis mehr auf292 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
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bringen wird.« 80 Indem somit eine letzte, absolute Sicherung des Gedankens aufgegeben werden muss, drängt es uns unentwegt über uns selbst hinaus. Immer wieder aufs Neue sehen wir uns mit dem Rätselhaften und Befremdlichen menschlicher Existenz konfrontiert. In der je spezifischzwingenden Art des Fragens sind wir einzigartig und unvertretbar, doch unsere soziale Verfasstheit reklamiert einen verantwortlichen, einfühlsamen Umgang mit dem Fremden und Unvertrauten, »um in der Wiederbegegnung mit dem befremdend Auffälligen des eigentlich Vertrauten das Verständnis ins Spiel zu setzen. Ohne Befremdung, kein Verständnis (…)«. 81 Weil die Macht der Gewohnheit die sinnliche Anschauung verkümmern lässt, weil wir nur das Unvertraute wirklich wahrnehmen, sind nach Aussage Plessners Krisen, gefährliche Lagen und Zeiten der Turbulenz im Grunde dazu angetan, »ein ursprüngliches Sehen menschlicher Dinge« 82 in Gang zu setzen, dies gilt sowohl für biografische Fragen als auch für die Darstellung größerer Zusammenhänge. Denn im Verstehen muss ich mich engagieren, wenn der Gegenstand, um den es geht, »zum Reden gebracht werden soll«. 83 Hierbei fällt der Phantasie, Plessner bezeichnet sie als »das einbildende Zusammenfügen um eine zündende Mitte« 84 , entscheidende Bedeutung zu. Sie vor allem inspiriert das verstehende Erkennen, welches – von der Lebenserfahrung ausgehend und zu ihr zurückkehrend – Einsicht, Hellsicht, Umsicht und taktvolle Nachsicht vereint. Nur ein dem Nachdenken verpflichtetes Mitfühlen 85 , welches über WissensPlessner, 2003d, S. 189. Plessner, 2003b, S. 94 – Kulturelle Aufgeschlossenheit ist ein zentraler Gedanke Plessners, der von Otto Friedrich Bollnow aufgegriffen und vertieft wird. Siehe: Giammussu, 2010. 82 Plessner, 2003b, S. 95. 83 Ebd., S. 102. 84 Ebd., S. 99. 85 Siehe hierzu detaillierter: Bennent-Vahle, 2020, Kap. IV. 80 81
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Abschlussüberlegung – Humor als Tugend und Selbsttäuschung
erweiterung, Hineinversetzen in den Anderen, Perspektivwechsel, Umfassung und rückversicherndes Fragen unentwegt sein Sichtfeld ausdehnt, weiß dem menschlichen Wunsch nach Gesehen- und Verstandenwerden zu entsprechen sowie auch im kritischen Austausch der Abstimmung divergierender zwischenmenschlicher Interessen zu dienen. Im Persönlichen wie im Gesellschaftlichen entfaltet sich hierin das Aufgabenfeld Philosophischer Praxis. Eine Philosophische Praktikerin, die sich diesem Ethos verpflichtet, kann nicht umhin in den Verständigungsprozessen zugleich Lehrende und Lernende zu sein. Sie ist sozusagen diejenige, die sie darin übt, im Sinne einer sich unablässig neu stellenden Aufgabe zu sein. 86 Allerdings sei nochmals herausgestellt, dass die Chance gründlicher Selbstprüfung in Krisen faktisch keinesfalls automatisch ergriffen wird. Wie mehrfach dargelegt, wirken Notlagen tatsächlich oft so verunsichernd und bedrohlich, dass Menschen Zuflucht zu simplen Wahrheiten nehmen bzw. nach (vermeintlich) unbezweifelbaren Normen und Werten verlangen. Sie wollen eben gerade nicht die Schwierigkeiten anstrengender Abwägung und Abstimmung auf sich nehmen, sondern verfallen einer Provinzialität des Denkens, von welcher sie sich festen Boden unter den Füßen versprechen. 87 Wenn sie einen Therapeuten oder Praktiker aufsuchen, dann dazu, um ein gesichertes, allgemeingültiges Weltbild zu finden, bzw. getragen von der Hoffnung, eine praktikable Reparaturanleitung für ihr bestehendes Weltbild zu erhalten. Die Bereitschaft, sich selbst und die eigenen Auffassungen zu überdenken, muss erst behutsam wachgerufen werden. Wie dies ohne Übergriffigkeit geschehen kann, ist hoffentlich hinlänglich klar geworden.
86 87
Vgl. hierzu: Bollnow, 1978. Siehe: Bennent-Vahle, 2020, Kap. I.
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Ein Nachtrag – Der Widersinn Philosophischer Praxis
4. Ein Nachtrag – Der Widersinn Philosophischer Praxis In zunehmendem Maße werden Philosophische Praktikerinnen heute von Menschen aufgesucht, die, wenngleich sie oftmals beruflich erfolgreich sind, erheblich am Leben und sich selbst kranken, weil sie – oft schwer an ihrer Vergangenheit tragend – keine erfüllenden, tragfähigen menschlichen Beziehungen aufbauen konnten. Diese ähneln in vielem den Prototypen, die Yalom in seinen drei Philosophenromanen entwickelt hat. Mehr und mehr sind wir mit brillanten, aber einsamen Persönlichkeiten konfrontiert, zumeist mit Männern, die kraft ihrer intellektuellen Potentiale und ihres Handlungsgeschicks auf der Erfolgsspur unterwegs sind und souverän über alle Angelegenheiten des Lebens verfügen, ohne lebendige Bezüge zu ihrem Umfeld zu entwickeln. Diesem Zustand korrespondiert in der Regel eine Lebensweise in virtuellen Räumen. Leibliche Präsenz und direkte soziale Berührung treten zunehmend in den Hintergrund und werden durch das Eintauchen in mediale Filterblasen ersetzt. Eingeschlossen in das hermetische Universum der ›IchBubble‹, die kaum mehr echte Differenz- bzw. Alteritätserfahrungen zulässt, etabliert sich in wachsendem Maße ein instrumentell-taktischer Umgang im Selbst- und Fremdverhältnis, so dass schöpferisch-engagierte Vitalität im Zwischenmenschlichen weitgehend ausbleibt. Auf diese Weise läuft das Ich Gefahr, in eine Art »Tunnel der Selbstbestätigung« 88 zu geraten. Ein angemessener, bereichernder Verkehr mit Alterität und Fremdheit wird zunehmend verlernt oder entwickelt sich erst gar nicht, denn die für Beziehungsgestaltung enorm wichtige Akzeptanz von Reibung und Konflikt schwindet dahin. Wenngleich die Person ohne Unterlass Rückenwind erhält, macht sich dennoch das dumpf nagende Gefühl breit, Wesentliches – das ›eigentliche, echte‹ Leben – zu versäumen. Emotionale Abflachung, Apathie und häufig 88
Pörksen, 2018, S. 119.
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Abschlussüberlegung – Humor als Tugend und Selbsttäuschung
auch Depression stellen sich ein. »Das Selbst wird zur Redundanzmaschine und übersieht, dass das Leben analog ist. Sein Raum ist eine Spiegelhölle, in der es sich immer nur selbst sieht. In Wirklichkeit besteht das Leben aber aus Widerfahrnissen und anderen, die anders sind. Deshalb kommt es darauf an, nicht das Naheliegende, sondern das Fernliegende zu sehen.« 89 Allein über direkte leibliche Begegnungen wird dieses Andere oder Fernliegende in eine unmittelbar zu erspürende Gegenwärtigkeit transportiert. Mittlerweile eröffnet sich hier für viele spätmoderne Individuen ein vollkommen ungewohntes Übungsfeld fühlender Selbst- und Fremderkundung, ja ein Wagnis des Sicheinlassens und Resonierens. In solche Formen der Fremd- und Selbstwahrnehmung einzutauchen, allmählich ein Gespür darin zu entwickeln, ist indes die unverzichtbare Voraussetzung dafür, über den wachen Kontakt zu emotionalen Antrieben eine ethisch gerichtete Kultur der Selbstformung und Selbstkorrektur aufzubauen. Erst über Kollisionen und Reibungen mit einer fremden Willensspontaneität, die sich der eigenen Verfügungsmacht entzieht, können jene selbsttätigen (ethischen) Reflexionen in Gang gesetzt werden, die tiefgreifende charakterliche Ausformungen nach sich ziehen. Nur so konfiguriert sich eine Erfahrungsweise, an der die Person intensiv beteiligt ist, durch die sie – im Sinne Jaeggis – die niederdrückende Struktur der Beziehung der Beziehungslosigkeit überwindet und sich ihr eigenes Leben prozessual aneignet. Philosophische Praxis vermag hier, wie dargelegt, viele hilfreiche Anregungen zu geben, sowohl im Hinblick auf ein verbessertes Selbstverständnis als auch, damit verknüpft, auf ein gelingendes Beziehungsleben in unterschiedlichen Bereichen. Durch den verstehenden, nicht diagnostisierenden Blick des Praktikers kann der Besucher sich gegebenenfalls von vorschnellen (Selbst)Pathologisierungen lösen und zu 89
Welzer, 2016, S. 129.
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Ein Nachtrag – Der Widersinn Philosophischer Praxis
einer neuen, freieren Sicht auf sich selbst und die Grundthemen seines Lebens hinfinden. Unter den bestehenden Rahmenbedingungen der Hilfeleistungen in Philosophischer Praxis setzt eine derartige Arbeitsweise allerdings voraus, dass der jeweilige Gast ein gewisses Maß an kritischer Selbstdistanzierungsfähigkeit mitbringt. Bei schweren Persönlichkeitsstörungen und einigen anderen psychischen Problematiken ist das nun aber nicht der Fall – ein Tatbestand, den wir keinesfalls außer Acht lassen dürfen. Zunehmend häufig ist es heute so, dass problematisches Sozialverhalten oder destruktive Beziehungsmuster eine ich-syntone Verankerung aufweisen. Das heißt, die betreffende Person identifiziert sich fraglos mit bedenklichen, abweichenden, vielfach antisozialen Verhaltensweisen, hält diese für normal und kann sich in keiner Weise selbstkritisch davon lösen, sondern verfällt im Gegenteil auf perfide Strategien der Verteidigung und aggressiven Abwehr. Selbst wenn eine vorübergehende Infragestellung auf theoretischer Ebene gelingen mag, ist manche sozial problematische Divergenz so früh und so tief in den Kern der Persönlichkeit eingelassen, dass sie rasant schnell wieder Oberwasser gewinnt und zum Selbstläufer werden kann, wenn Uneinigkeiten oder Konflikte auftreten. Sofern ihr Selbstbild ins Wanken gerät, attackieren solche Klienten ihre Beraterinnen oder Therapeutinnen mit allen Mitteln, um deren hinterfragende Anregungen und Einlassungen auszumerzen. Schlimmstenfalls werden sogar juristische Mittel eingesetzt, die darauf gerichtet sind, die professionelle Kompetenz der Beratungsperson in Frage zu stellen, deren Ansehen massiv zu schaden bzw. sogar Praxisschließungen zu erwirken. Philosophische Praxis bietet eine gute Angriffsfläche für derartige Problemcharaktere, die schwere, schon früh im Selbst angelegte, antisoziale, narzisstische oder paranoide Prädispositionen aufweisen. Folgende Faktoren sind hierfür ausschlaggebend: 1. Philosophische Praxis ist bis dato zwar eine tolerierte und vielfach auch anerkannte Praxis, aber 297 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Abschlussüberlegung – Humor als Tugend und Selbsttäuschung
noch längst kein geschütztes Arbeitsfeld mit eigenen berufsständischen Rechtsgrundlagen. 2. In vielen Fällen folgt Philosophische Praxis, wie oben differenziert dargelegt, einer Arbeitsweise alteritätsoffener Dialogik, die sich quer zu üblichen Arzt-Patient- bzw. Experte-Ratsuchender-Konstellationen gewinnt, insofern sie auf die autonomen Selbstlenkungspotentiale ihrer Klienten setzt bzw. diese nachdrücklich anzuregen bestrebt ist. Dieses radikalisierte Ernstnehmen des Gegenübers, welches auf dessen ›gesunde‹ Anteile bzw. letztlich auf dessen Ethos setzt, bildet ein kommunikatives Angebot, dem ein Teil der Hilfesuchenden aufgrund massiver Persönlichkeitsbeeinträchtigungen nicht zu entsprechen vermag. Wenngleich sie die Offerte einer ethisch fundierten Gesprächspraxis auf Augenhöhe ›theoretisch‹ durchaus gutheißen mögen, ja oft gezielt aufsuchen, verletzen sie die hier geltenden Grundregeln umgehend, sobald sie ihr Selbstverständnis durch irgendeine Äußerung bedrängt oder angegriffen sehen. Erste Anzeichen, die in diese Richtung weisen, sind deshalb unbedingt ernst zu nehmen. 3. Einige Philosophische Praktiker definieren das eigene Angebot explizit als ›Alternative zur Psychotherapie‹ und laufen damit Gefahr, eine Zufluchtsstätte für an sich krankende Therapieverweigerer mit derart massiven Störungsbildern zu werden. 4. Häufig haben philosophische Praktikerinnen kein schriftlich fixiertes Kompendium ethischer Leitregeln, welches den Besuchern vorgelegt werden kann. Ein solches sollten wir unbedingt miteinander abstimmen und in die Praxisarbeit einbeziehen. 5. Da die meisten Philosophischen Praktikerinnen keine psychotherapeutische Ausbildung haben, laufen sie Gefahr, in dieser Hinsicht arglos zu agieren. Hinzu kommt, dass es erklärtes Ziel vieler Praktikerinnen ist, diagnostische Festschreibungen zurückzuweisen, die in der Tat nicht selten schematisch oder oft übereilt vorgenommen wurden. In vielen Fällen ist diese Skepsis also durchaus zielführend, sie kann indes bei gravierenden Störungsbildern zu fatalen Fehleinschätzungen führen, die, wie eben skizziert, 298 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Ein Nachtrag – Der Widersinn Philosophischer Praxis
bewirken, dass ein Praktiker die manipulativen Strategien und aggressiven Impulse einer Person zu spät bemerkt. Denn zur Aufrechterhaltung ich-syntoner problematischer Einstellungen eignen sich Betroffene ein ganzes Arsenal hochrational anmutender Abwehrstrategien an. Aus meiner Sicht wäre es deshalb anzuraten, dass Philosophische Praktikerinnen sich um eine genauere Kenntnis bestimmter Störungsbilder bemühen, damit sie entsprechende Anzeichen wahrnehmen können, auch wenn sie vergleichsweise selten mit derartigen Fällen in Berührung kommen. Philosophische Praxis zielt darauf, die Grundprobleme moderner Gesellschaften zu thematisieren, um Menschen in ein angemessenes – möglichst klarsichtiges und aufrichtiges – Verhältnis zu sich selbst zu bringen sowie gleichermaßen in ein respektvolles – ethisches – Verhältnis zu anderen. Damit steht sie oftmals im Kontrast zu den Leistungs- und Erfolgsstandards der spätmodernen Lebenswirklichkeit, hat es aber zugleich mit Menschen zu tun, die diese Standards tief verinnerlicht haben, mit Menschen, in deren Persönlichkeit sich manchmal bereits ein Niederschlag desaströser Verhältnisse verfestigt hat. Es erscheint mir deshalb ungemein wichtig, abschließend mit Nachdruck auf die enorm großen Probleme und Schieflagen hinzuweisen, die wir bei allem begeisterten Engagement für die Kraft des Philosophierens stets mitbedenken müssen, um unsere fachliche Begrenztheit anzuerkennen. Das basale Abstandnehmenkönnen macht nach Plessner die Würde des Menschen aus, doch diese Fähigkeit kann darauf zusammenschrumpfen, am Gängelband ungelüfteter Antriebe rationale Manöver aggressiver Abwehr zu ersinnen. Erst wenn die sinnlich-emotionale Eingebundenheit – der Ding- und Widerfahrnischarakter personaler Existenz – von Grund auf eingeräumt wird, können problematische Determinanten der je persönlichen Existenz mitbedacht und in Anteilen überwunden werden. Erst dann realisiert sich die Würde des Menschen im eigentlichen Sinne. In gewissen 299 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Abschlussüberlegung – Humor als Tugend und Selbsttäuschung
Fällen ist dies eine derart hohe psychische Herausforderung, dass das Subjekt der Selbsttäuschung verfällt, d. h. seine Freiheitsfähigkeit gleichsam dahingehend missbraucht, mit allen erdenklichen Mitteln einem ungeschönten, realitätsgetreuen Blick auf das, was sich zeigt, auszuweichen. Statt sich selbst kritisch zu befragen, wird das Problem im Anderen, im Außen gesucht. Es ist Aufgabe der Philosophischen Praxis, derartigen Phänomenen massiver Selbsttäuschung entgegenzuwirken und jenen Mut zum Sein zu fördern, welcher Freiheit – nicht zuletzt zum eigenen Vorteil – in ethische Bahnen lenkt. Ohne diesen Mut kann philosophische Praxis zumindest aus meiner Sicht nicht auskommen. Dennoch ist unbedingt einzuräumen, dass leidvolle Zuspitzungen und existenzielle Extremsituationen in manchen Lagen nur mittels der Kraft der Illusion gestemmt werden können. Wie manche Lebensgeschichte augenfällig macht, ist ein Überleben in abscheulicher Gegenwärtigkeit mitunter nur im Blick auf eine ausgedachte (höchst unwahrscheinliche) rosige Zukunft möglich. 90 Und selbst unter weniger dramatischen Umständen brauchen Menschen immer wieder Gelegenheiten, bei denen sie ihren nüchternen Realitätssinn ausschalten dürfen, um sich Träumen und Gaukeleien hinzugeben. Dies scheint mir eine Lebensnotwendigkeit zu sein, auf die schon der ein oder andere Philosoph mit Nachdruck hinwies. Insbesondere der Aufklärer Julien Offray de la Siehe hierzu z. B. die beeindruckende Lebensgeschichte des Resilienzforschers Boris Cyrulnik, die zeigt, wie es trotz traumatischer Kindheitserlebnisse möglich ist, nicht nur zu überleben, sondern auch Erfüllung zu finden. Während langer Zeiträume der Naziverfolgung erhielt sich das Kind mit erbaulichen Geschichten über Wasser: »Die Zukunft ist rosarot. Vorwärts!« Rückblickend sagt es von sich: »Ich verwandelte Krieg und Kummer in Schönheit!« Um den schmerzlichen traumatischen Erinnerungen zu entkommen, verwandelte das Kind schwerwiegende Widerfahrnisse in subjektive Handlungen, es konstruierte sich eine Privaterzählung, in der es die Rolle des Helden einnahm. – Cyrulnik, 2015, S. 75, S. 158, S. 127 ff.
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Ein Nachtrag – Der Widersinn Philosophischer Praxis
Mettrie, welcher grundsätzlich scharfzüngig gegen selbstbetrügerische Selbst- und Weltbilder ins Feld zieht, 91 weiß im Gegenzug um die heilsame Wirkung hochfliegender Phantasie, die in Luftschlössern des Wünschens und Vorspiegelungen des Traums genuine Möglichkeiten der Glücksempfindung bereithält. Während die gelehrten Verächter des leichten, kreativen Spiels oftmals von Düsternis, Apathie und Schwermut umhüllt sind, vermag, so la Mettrie, die ungezwungene Energie freier Imaginationen das Leben zu bereichern oder wenigstens doch temporär zu entlasten. Da es ohnehin keine Sicherheiten gebe, sollten wir uns deshalb gelegentlich mit »ein bisschen trunkenen Augen« in der Welt bewegen und illusorischen Vorspiegelungen freien Lauf lassen, die der hervorragend bestellte, fruchtbare Boden des Gehirns zu unserer Freude hervorbringt. 92 Phantasie, Spiel, das Feiern von Festen sowie auch kreatives und handwerkliches Schaffen führen zu tiefen Präsenzerfahrungen des Selbst, welches sich darin auf je unterschiedliche Weise von seiner Ich-Fokussierung zu lösen vermag. Ermöglicht wird eine Einswerdung mit den Dingen, die man betreibt, insofern ein mediales Potential der Subjektivität entfacht wird, die darin weder ganz passiv bleibt, noch ausschließlich aktiv vorandrängt. In Anlehnung an Heidegger und Bollnow kann man in diesem Punkt von Gelassenheit als mehrdimensionales Phänomen sprechen 93 , zu verstehen Siehe: Bennent-Vahle, 2005. La Mettrie, 1985a, S. 47 u. ders., 1985b u. 1987 – Siehe hierzu insbes.: Jauch, 1998, S. 545 ff. – Jauch erblickt im Werk La Mettries eine zunehmende Skepsis gegenüber der experimentellen Naturwissenschaft, die »das Geheimnis eliminiert und an seine Stelle, Ziffer, Funktion und Zahl installiert«. – Ebd., S. 564 – Gegen diesen Strom der Moderne richte La Mettrie eine Kraft der »Wiederverzauberung« durch Täuschung und Traum, die er als natürliche Phänomene erachte. 93 Siehe: Heidegger, 1959; Bollnow, 2009 – Im Unterschied zu Heidegger entwickelt Bollnows Gelassenheitskategorie auch eine positive Sicht des Mitseins, welches nicht primär als defizienter Modus des eigentlichen Seins gesehen wird. Siehe hierzu: Giammussu, 2010, S. 93 f. Zu 91 92
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Abschlussüberlegung – Humor als Tugend und Selbsttäuschung
als eine Bewegung zu Anderem hin, welche es versteht, in Distanz zu bleiben und sich doch gleichermaßen offen und zugänglich zu verhalten, d. h. in kreative Beziehung zu Mensch und Natur zu treten. Gelassenheit, Geduld und Vertrauen entsprechen einer solchen offenen Gestimmtheit, die trotz des Wissens um Gefahr und Bedrohung zu neuen Formen der Lebensbejahung und Geborgenheit 94 hinfindet. Gemeint ist die »Kunst, geduldig abwarten zu können, ohne eigenmächtig übereilte Entscheidungen herbeizwingen zu wollen, das ist allgemein gesprochen, die Fähigkeit, sich gläubig und vertrauensvoll im gegenwärtigen Augenblick anzusiedeln«. 95 Es liegt auf der Hand, dass die hier umrissene gelassene Vernunft von höchstem Wert für ein echtes Gespräch in der Philosophischen Praxis ist, ein Gespräch, das sich jenseits aller selbstbezogenen Manipulationsstrategien bewegt. Es ist eine Vernunft, die – ins Ethische gewendet – den Geist der Aufmerksamkeit pflegt und in realen Kontakt mit der Wirklichkeit des Anderen zu treten sucht, eine Vernunft, die jene fundamentale Parteilichkeit überschreitet, welche nur ihre eigenen Projektionen in den ›Gegenständen‹ wiederfindet.
Heideggers Verständnis von Gelassenheit, siehe auch: Bennent-Vahle, 2020, Kap, II, 6. 94 Bollnow, 2011. 95 Ebd., S. 32.
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VIII. Philosophische Praxis als Ethos des Selbstseins – Resümee zentraler Aspekte 1. Einige leitende Überlegungen Plessners Kategorie der Unerkennbarkeit der menschlichen Natur sowie die daraus hervorgehende unüberwindliche innere Zerrissenheit wurden in der vorliegenden Arbeit als zentrale Einsichten zugrunde gelegt. Die leitende Frage war: Welche Konsequenzen ergeben sich aus dieser Kategorie für ein angemessenes Selbstverhältnis sowie für unsere Beziehungen zu anderen Menschen und unserem Umfeld? Und schließlich: Was ergibt sich daraus für ein Ethos Philosophischer Praxis? Wir haben gesehen, dass Plessners anthropologische Überlegungen alle Versuche einer normativen Festlegung des menschlichen Wesens unterlaufen. Dieses wird als exzentrisch und damit weltoffen beschrieben, insofern es sich in unabschließbarer, freier Prozesshaftigkeit vorfindet. Sich in die Zukunft projizierend, gestaltet der Mensch seine Interessen und Aktionen, ohne je auch nur einen seiner theoretischen Entwürfe zum Abschluss bringen zu können. Das heißt, er eilt sich unablässig voraus, übersteigt den Status quo des Wissens auf neue Bestimmungen hin, wobei er keine Verankerung in einem unwandelbaren Bild der menschlichen Natur mehr findet. Wie also lässt sich das Ethos des Selbstseins auf dieser Basis fassen? – Selbstsein bedeutet anerkennende Aufgeschlossenheit gegenüber den Fragwürdigkeiten und Kontingenzen der menschlichen Existenz. 303 https://doi.org/10.5771/9783495999820 .
Philosophische Praxis als Ethos des Selbstseins
– Selbstsein bedeutet immer auch Akzeptanz der Fehlerhaftigkeit und Fragwürdigkeit der eigenen Person, ohne im Gegenzug Verantwortlichkeit aufzukündigen. – Das heißt: Unhintergehbar ist eine grundsätzlich gegebene intersubjektive (soziale) Verfasstheit und damit Alteritätsoffenheit und ethische Verantwortung des Menschen, sowohl hinsichtlich der Dialogpraxis innerhalb der Gespräche selbst als auch durch die zentrale Relevanz einer expliziten Thematisierung ethischer Gesichtspunkte im Blick auf ein Gelingen des Lebens. – Vorauszusetzen wäre ein formaler Begriff psychischer Gesundheit. Dieser liegt in der Funktionsfähigkeit ›freien‹ Wollens. Dies bedeutet, dass eine Person prinzipiell in der Lage sein muss, ihr Wollen zu prüfen, das heißt, dass sie nicht in gravierender, der Selbstwahrnehmung umfassend entzogener Weise ›fremdgesteuert‹ ist. (Siehe hierzu: Abschnitt VII. 2–4). Damit liegt ein Ansatz vor, der den Gegensatz zwischen dem modernen Antipaternalismus und dem traditionellen Paternalismus substantieller Ethik überwindet: Ob etwas gut für mich ist, ist zwar (antipaternalistisch gedacht) immer abhängig von meiner persönlichen Stellungnahme, davon also, ob ich es (an)erkenne und anstrebe. Diese Stellungnahme muss aber in der Weise qualifiziert sein, dass das in ihr ausgedrückte Wollen ein wahrhaftes Wollen ist, also keinen massiven internen oder äußerlichen Behinderungen unterliegt. Das Kriterium des Wollens ist formal: Es geht um das Wie des Wollens, nicht um das Was. Den Anspruch eines freien Wollens erhebe ich mit jedem Wollen automatisch. Dennoch sind stets Entfremdungsprobleme (bzw. Anzeichen der Selbsttäuschung) zu überdenken, insofern sich darin Hindernisse des Wollens manifestieren.
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Einige leitende Überlegungen
– Als zentrale menschliche Phänomene sind deshalb Selbstentfremdung und Selbstbetrug in den Fokus zu rücken, und zwar ausgehend von der grundsätzlichen Überzeugung, dass Personen die Wahl haben, sich Diskrepanzen und Ungereimtheiten im eigenen Selbst bewusst zu machen. Kritisch abzuwägen wäre die Angst, durch Selbstreflexion in eine schwierige emotionale Lage zu geraten, Erkenntnisunsicherheiten zu erleiden, ebenso die Angst vor dem Eingeständnis eigener Schwächen/Unzulänglichkeiten etc. Dabei ist Folgendes in Rechnung zu stellen: Die dynamische Vorstellung des Selbst als Prozess impliziert, dass Personen Teile ihrer selbst unweigerlich vorenthalten bleiben müssen. Deshalb ist auch der Gedanke, dass es ein Wissen ohne Irrtum oder Illusion geben könne, eine eigene Form der Selbsttäuschung, weil hierzu (unüberprüfbare) letzte Wahrheitsgründe unterstellt werden. Diese Unwägbarkeit aller Denkhandlungen, deren Ziel man prinzipiell niemals vorab genau bestimmen kann, birgt aber stets die Möglichkeit bewusster Selbsttäuschung nach der Devise: »Da wir nur erwarten, aber nicht wissen können, ob uns Überlegungen zu bestimmten Einsichten führen, können wir gezielt vermeiden, von etwas explizit zu wissen.« 1 Zudem wäre die gegebenenfalls positive, entlastende Funktion temporärer Selbsttäuschungen zu bedenken: z. B. Erlösung bzw. das Aushalten von schmerzhaften Situationen, die unabänderlich sind. Hinweise auf Selbsttäuschung bzw. falsche Selbsteinschätzungen liegen vor, wenn Argumente abgeblockt werden, die gegen eine bestehende Selbstinterpretation vorgebracht werden, wenn Meinungen gegen alle Evidenz stur beibehalten werden bzw. deren Begründungen in keinem Fall überprüft werden dürfen, wenn eklatante Wider-
1
Löw-Beer, 1990, S. 59.
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Philosophische Praxis als Ethos des Selbstseins
sprüche zwischen Selbstbild und tatsächlichem Verhalten augenfällig werden etc. Fazit: Merkmal des Selbstbetruges ist eine unangemessene Selbstbeziehung, welche nicht auf Konsistenz (schlüssigen Zusammenhang) aus ist und damit Regeln rationalen Denkens verletzt: 1. Eine Person hält starr an Meinungen über sich selbst fest. 2. Diese Meinungen erscheinen ihr selbst – insgeheim – als nicht begründet genug. Die Person hat selbst den Verdacht, dass diese Meinungen der Überprüfung nicht standhalten. 3. Sie ist einer solchen Prüfung fähig, weigert sich aber, diese durchzuführen bzw. wendet sogar Techniken an, um zu verhindern in Situationen zu geraten, die Selbstreflexion bzw. Rechtfertigung unabdingbar machen. 4. Vielmehr versucht sie Belege zu erzeugen, die ihre falschen Meinungen in den Augen anderer richtig erscheinen lassen. 5. Sofern ihr widersprüchliche Meinungen über sich selbst bewusst sind, entwickelt sie Mechanismen, um der bevorzugten, für ihr Selbstbild konstitutiven Meinung einen höheren Geltungsstatus zuzuschreiben, und zwar indem andere aufkommende Meinungen als belanglose Nebensächlichkeiten herabgemindert bzw. wegrelativiert werden. – Entfremdungsphänomene können als Vorstufen/Vorformen der Selbsttäuschung gelten. Sie bedeuten nicht die Abwesenheit von Weltbeziehung, sondern signalisieren eine defizitäre Beziehung zur Welt, eine Störung in der Aneignung von Welt. Aneignung wäre die selbsttätige
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Praktische Anregungen
Integration, Modifikation oder Transformation von Gegebenem in Bezug auf das eigene Leben. Als Anzeichen der Entfremdung können gelten: Indifferenz, dauerhafte Entzweiung mit sich selbst, Gefühle von Ohnmacht, Beziehungslosigkeit gegenüber einer als gleichgültig erfahrenen Welt, Sinnlosigkeitsgefühle (wie ein Fremder in einer Welt zu sein, die man selbst gemacht hat), Empfinden von Künstlichkeit der eigenen Existenz (nicht so sein, wie man eigentlich ist), ausgeprägt gekünsteltes Rollenverhalten, blinde Ausrichtung an Karrieremaßstäben, Konformismus (Geleitetsein von fremden, fraglos übernommenen Wünschen/in der Meinung der Anderen leben), Angepasstheit an entfremdete Lebensumstände bzw. Verhältnisse, die nicht freiwillig eingegangen wurden. 2
2. Praktische Anregungen – Philosophische Praxis entfaltet sich jenseits der heute gängigen Fixierung auf einen Solutionismus zur Maximierung von Erfolgs- und Glücksinteressen, d. h. jenseits des gängigen Machbarkeitscredos und eines wirklichkeitsfremden Lösungsoptimismus. Über mögliche praktische Hilfestellung hinaus liegt ihr Schwerpunkt darin, den Trost des Angehörtwerdens zu realisieren, Menschen Raum für ihre Erzählungen zu gewähren und zur (kritischen bzw. humorvollen) Selbstdistanzierung und Selbstformung zu ermutigen. – Für Philosophische PraktikerInnen ist es zentral, Formen des emotionalen Stoizismus zu vermeiden. Vielmehr müssen sie, um ansprechbar zu sein, einen Habitus der inneren Abschottung gegenüber den tragischen Widerfahrnissen des Lebens zurückweisen. Es geht hier nicht 2
Siehe: Jaeggi, 2005.
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Philosophische Praxis als Ethos des Selbstseins
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um Überwindung der Weltverwicklung, sondern um Formen der Handhabung Notwendig ist die Schulung leiblich-emotionalen Spürens als Voraussetzung vertiefter Selbsterkenntnis und ethischer Selbstüberprüfung. 3 Philosophische Praxis widmet sich einer Vertiefung der Gefühlskultur, auch durch intensivierte Kenntnisse im Bereich der »Philosophie der Gefühle«. Insbesondere die Praxis der Mitgefühle ist von Relevanz. 4 Hinzu kommen sollte ein Programm praktischer Übungen zur Sensibilisierung und Intensivierung der (Selbst)Wahrnehmung, wozu unbedingt auch ›Techniken‹ der meditativen Fokussierung und Stressminderung gehören. Besondere Aufmerksamkeit verlangt – theoretisch wie praktisch – die Vertiefung des Hörens und Zuhörens. Philosophische Praktikerinnen benötigen ein Grundwissen der psychotherapeutischen Diagnostik, um ihre Verantwortung wahrnehmen zu können und um die besondere Problematik/Dramatik bestimmter Störungsbilder zu kennen. Ebenso gilt es mit Plessner – und auf der Basis aktueller soziologischer Kenntnisse – die besonderen Vulnerabilitäten des postmodernen Individuums zu beachten und umsichtig zu berücksichtigen. Einer Flucht vor tiefergehenden Gesprächen aus Angst, der Argumentation nicht standzuhalten bzw. eine abermalige Kränkung des Ichs zu erfahren, wäre im Zeichen eines Ethos der Behutsamkeit entgegenzuwirken. Die Grundlinien dieses Ethos wären in kollegialer Abstimmung systematisch auszuformulieren. Diesbezüglich wäre insbesondere die aktuelle Kultur emotionaler Authentizität zu problematisieren: Hier führt einerseits der Verzicht auf Selbstbeschränkung zu emotionalisierten, exaltierten Verhaltensweisen, man folgt dem Siehe hierzu insbesondere: Gahlings, 2022. Siehe: Bennent-Vahle, 2013 u. 2020.
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Praktische Anregungen
Drang nach Verbindung über Gefühlsansteckung; andererseits werden Gefühle anwachsender Ohnmacht infolge dieser Tendenzen spürbar, etwa in Form einer Unfähigkeit zum Alleinsein, im Verlust von Frustrationstoleranz etc. Dagegen empfiehlt Plessner die Stabilisierung menschlicher Existenz durch indirekte und schonungsvolle Verhaltensweisen, die das Ethos des Philosophischer Praxis lenken sollten (»Ethos der Grazie«). – In Anbetracht der Schwierigkeiten eines vollständig gelingenden Weltbezuges bietet sich die Tugend des Humors als hilfreicher Ausweg an. Humor als von Mitgefühl getragene Fähigkeit der Selbstrelativierung hat folgende positive Auswirkungen auf das philosophische Gespräch: Leichtfüßige Anregung zu Distanznahmen (»mit anderen Augen sehen«), emotionale Entlastung und heitere Beschwingtheit, gleichermaßen Verbundenheit in leidvollexistenzieller Betroffenheit sowie dialogisch-soziale Aufgeschlossenheit und Vertrauensbildung. Hier verweisen Gelassenheit und Humor aufeinander, bedingen sich wechselseitig und bewirken gemeinsam eine Lebenspraxis, die der Ich-Erstarrung entgegenwirkt und von selbstbezogenen, überbesorgten Alltagsnöten befreit.
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Literaturliste
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