Wege gelebter Verfassung in Recht und Politik: Festschrift für Rupert Scholz zum 70. Geburtstag [1 ed.] 9783428523757, 9783428123759

Rupert Scholz vollendet am 23. Mai 2007 sein 70. Lebensjahr. Die ihm zu diesem Datum dargebrachte Festschrift will einen

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German Pages 1189 Year 2007

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Wege gelebter Verfassung in Recht und Politik: Festschrift für Rupert Scholz zum 70. Geburtstag [1 ed.]
 9783428523757, 9783428123759

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Wege gelebter Verfassung in Recht und Politik Festschrift für Rupert Scholz zum 70. Geburtstag

Herausgegeben von Rainer Pitschas und Arnd Uhle

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Festschrift für Rupert Scholz zum 70. Geburtstag

Wege gelebter Verfassung in Recht und Politik Festschrift für Rupert Scholz zum 70. Geburtstag

Herausgegeben von Rainer Pitschas und Arnd Uhle In Verbindung mit Josef Aulehner

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2007 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-12375-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Zum Geleit Grußwort

Rainer Pitschas und Arnd Uhle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI Helmut Kohl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XVII

I. Staatsrecht und Politik Peter Badura Politik und Staatsleitung durch Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Thomas Goppel Forschung fördern – Innovation vorantreiben. Forschungspolitik als staatliche Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

Peter Lerche Das Grundgesetz zwischen Stabilität und Veränderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

Volker Kauder Recht und Politik: Rechtsgelehrte im Deutschen Bundestag. . . . . . . . . . . . . . . .

35

Bernd Baron von Maydell Lehren aus dem Transformationsprozess für die Reform sozialer Sicherungssysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

Klaus Naumann Deutsche Sicherheitspolitik im Spannungsfeld von nationalen Interessen und internationalen Herausforderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

Albrecht Randelzhofer Zeitgeist – Was ist das? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

Wolfgang Schäuble Der wehrfähige Rechtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

Hans-Peter Schneider Staatsreform und Verfassungspolitik. Rupert Scholz als Initiator und Innovator im konstitutionellen Modernisierungsprozess des vereinigten Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Rudolf Seiters „Politik als Beruf“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

VI

Inhaltsverzeichnis

II. Europäisches Gemeinschaftsrecht und Rechtsvergleichung Matthias Herdegen Die Europäische Union als Wertegemeinschaft: aktuelle Herausforderungen

139

Franz Jürgen Säcker Die Einwirkungen europäischen Rechts auf das nationale Privatrecht – Methode und Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Jürgen Schwarze Richtlinienumsetzung „eins zu eins“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Christian Starck Die europäischen Institutionen und die Nationalstaaten – Die Rechtskultur im Bau Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Andreas Voßkuhle Europäisierung des öffentlichen Dienstes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

III. Grundrechte, Staatszielbestimmungen und Staatsorganisationsrecht Otto Depenheuer Alterungsrückstellungen und Eigentumsgarantie. Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen einer Portabilität von Alterungsrückstellungen . . . . . . . . 205 Roman Herzog Staatszielbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Hans Hofmann Die Menschenwürde in Grenzbereichen der Rechtsordnung. . . . . . . . . . . . . . . . 225 Josef Isensee Blasphemie: Gegenstand oder Schranke grundrechtlicher Freiheit – Grenzfragen freiheitlicher Verfassung im Widerspruch der Kulturen . . . . . . . . 251 Hans H. Klein Generationenkonflikt am Beispiel des Kinderwahlrechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Walter Leisner Arbeitskampf im Öffentlichen Dienst. Eine Gefahr für Streik- und Gewerkschaftsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Christoph Link Eigentum und Staatsgewalt in der staatsrechtlichen Diskussion des 17. und 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309

Inhaltsverzeichnis

VII

Dieter Lorenz Grundrechtsschutz gegen Gefahren und Risiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Reinhard Richardi Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit im Wandel der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Rudolf Streinz Deutschland als „Sportstaat“ – Gegenseitige Erwartungen von Sport und Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Arnd Uhle Ein dritter Weg? Anmerkungen zur bundesverfassungsgerichtlichen Modifizierung der Rechtsquellenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Hans F. Zacher Kinderrechte. Ein Beispiel für die globale Herausforderung des Rechts . . . . . 413

IV. Staats-, Verwaltungs- und Justizmodernisierung Konrad Adam Vom schönen, schlanken, fernen Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 Josef Aulehner Zielvereinbarungen im öffentlichen Recht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 Michael Brenner Das Verwaltungsrecht vor den Herausforderungen der Zukunft. . . . . . . . . . . . . 467 Sibylle von Heimburg Effizientere Rechtsprechung durch Zusammenlegung der öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 Wolfgang Hoffmann-Riem Richterliche Unabhängigkeit in Zeiten struktureller Veränderungen der Justiz 499 Fritz Ossenbühl Vertrag und Gesetz. Verschränkungen gegensätzlicher Handlungsformen . . . . 519 Eberhard Schmidt-Aßmann Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 539 Jörg Schönbohm Der Freiheit verpflichtet. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555

VIII

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V. Bundesstaat und Föderalismusreform Peter Häberle Rechtsvergleichung im Dienste der Verfassungsentwicklung – an Beispielen des Föderalismus/Regionalismus bzw. von Zweikammersystemen. . . . . . . . . . 583 Peter M. Huber Deutschland nach der Föderalismusreform – in besserer Verfassung! . . . . . . . 595 Ulrich Karpen Das Grundgesetz als „Exportartikel“ – Föderative Strukturen bei der Verfassungsreform in Südafrika, Bosnien-Herzegowina und Afghanistan . . . . . . . 615 Ferdinand Kirchhof Die Beeinflussung der Organisationsautonomie der Länder durch Gesetze des Bundes. Zur neuen Kompetenz des Bundes nach Art. 84 Abs. 1 und 104a Abs. 4 GG über die Einrichtung der Behörden und das Verfahren der Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637 Michael Kloepfer Die neue Abweichungsgesetzgebung der Länder und ihre Auswirkungen auf den Umweltbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 651 Stefan Korioth Reform der bundesstaatlichen Finanzbeziehungen? Anmerkungen zur zweiten Stufe der Föderalismusreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 677 Peter-Christian Müller-Graff Die Europatauglichkeit der grundgesetzlichen Föderalismusreform . . . . . . . . . 705 Edzard Schmidt-Jortzig Neugliederung des Bundesgebietes. Verfassungsreformanstrengungen und die Mitwirkung des Jubilars dabei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 729 Edmund Stoiber Die Mitwirkungsrechte der Länder in EU-Angelegenheiten gemäß Art. 23 GG unter Berücksichtigung der Debatte in der Föderalismuskommission . . . . . . . 747 Dieter Wilke Uneinheitlichkeit behördlicher Kontrollen im Bundesstaat, dargestellt am Beispiel der endlosen Reform des Bauordnungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 765

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VI. Infrastruktur- und Regulierungsverwaltungsrecht Hans D. Jarass Die Regionalisierung des öffentlichen Personennahverkehrs . . . . . . . . . . . . . . . 785 Klaus Meyer-Teschendorf Neuordnung des Zivil- und Katastrophenschutzes. Gibt es verfassungsrechtlichen Änderungsbedarf? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 799 Christoph Moench Verfassungsrechtliche Grenzen für die Erhebung von Gebühren für Sicherheitsmaßnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 813 Markus Möstl Grundweichenstellungen des deutschen Eisenbahnverfassungsrechts . . . . . . . . 833 Rainer Pitschas Regulierung der europäischen Kapitalmärkte durch die Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 855 Reiner Schmidt Die Ordnung des Marktes durch Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 889 Matthias Schmidt-Preuß Europäische Energiepolitik. Aktuelle Entwicklungen und rechtliche Aspekte 903 Klaus Stern Das neue deutsche Energiewirtschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 923 Rolf Stober Zum Leitbild eines modernen Regulierungsverwaltungsrechts. Stand und Perspektiven des öffentlich-rechtlichen Privatisierungsfolgenrechts . . . . . . . . . 943 Heinrich Amadeus Wolff Die dienende Funktion der Verfahrensrechte – eine dogmatische Figur mit Aussagekraft und Entwicklungspotential . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 977

VII. Steuer-, Arbeits- und Wirtschaftsrecht Ulrich Becker Verbandsautonomie und Gemeinschaftsrecht im Sport. Zur Anwendung des primärrechtlichen Wirtschaftsrechts am Beispiel der Transfer-, Vertragsund Anti-Dopingbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 995 Thomas von Danwitz Grundrechtsschutz im dezentralen Vollzug europäischen Kartellrechts . . . . . . 1019

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Peter Hanau Neue Rechtsprechung zur negativen Tarifvertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1035 Moris Lehner Entwicklungslinien europäischer Steuerpolitik und Steuerrechtsprechung . . . 1047 Manfred Löwisch Vereinfachung und Beschleunigung im Arbeitsrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1065 Wernhard Möschel Behördliche oder privatrechtliche Durchsetzung des Kartellrechts? . . . . . . . . . 1081

VIII. Staatskirchenrecht Karlheinz Konrad Der leitende Bezugspunkt des Staatskirchenrechts – eine erste Annäherung 1097 Hans-Jürgen Papier Aktuelle Herausforderungen im Verhältnis zwischen Staat und Kirche unter besonderer Berücksichtigung der staatlichen Neutralitätspflicht . . . . . . . . . . . . 1123 Ausgewähltes Schriftenverzeichnis von Rupert Scholz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1141 Verzeichnis der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1165

Zum Geleit Die Jahre sind wie im Flug vergangen. Wer mit dem Jubilar lange und intensiv zusammengearbeitet hat, vermag die dafür verantwortliche Dynamik von Person und Zeit zu ermessen. Sie erstreckt sich sowohl auf den Rechtswissenschaftler als auch auf den Politiker Rupert Scholz. In dessen Berufsleben ist bis heute das Eintreten für ein sich stetig wandelndes Recht mit dem politischen Wirken untrennbar verbunden und in dieser Wechselbeziehung an den unsteten Zeitläufen orientiert. Schon der berufliche Anfang an der Freien Universität Berlin war nach den dort zuvor verbrachten Assistentenjahren und der Habilitation in München durch einen dialektischen Zusammenhang von Recht und Politik eigentümlich gekennzeichnet. Als junger Privatdozent, durch seine Lehrer Peter Lerche, Fritz Werner und Karl August Bettermann eher dogmatisch geprägt, kehrte er in seine Heimatstadt zurück, die politisch aufgeregte Zeiten im Kampf um ihren freiheitlichen Bestand erlebte und tiefreichende Konflikte um die Freiheit von Forschung und Lehre an der Universität vor sich wusste. Hier galt es, den Kampf um das freiheitliche Recht in politischer Gestalt auf sich zu nehmen. Das wissenschaftliche Rüstzeug hierfür hatte der junge Hochschullehrer in literarisch ausgreifenden rechtsdogmatischen und -politischen Studien über die kommunale Daseinsvorsorge und Unternehmenswirtschaft sowie zur Koalitionsfreiheit und grundgesetzlichen Wirtschaftsverfassung erworben. Aus ihnen ist das festgefügte persönliche Bekenntnis zum rechtlich verfassten individuellen Freiheitsschutz durch das Grundgesetz erkennbar, aber auch schon die Bereitschaft, dafür politisch einzutreten. Am Beginn der Hochschullehrerzeit in Berlin standen dann auch und nach vorangegangenen ersten Lehrtätigkeiten in Regensburg und Augsburg spannungsreiche Jahre hochschulpolitischer Auseinandersetzung, deren Protagonisten im Laufe der Jahre hohe und höchste Ämter unseres politischen Gemeinwesens bekleidet haben. Zugleich offenbarte sich aber in dieser Zeit der Reichtum im wissenschaftlichen Denken des Jubilars in besonderer Weise. Seine frühen Arbeiten über Wettbewerb und Konzentrationskontrolle, Paritätische Mitbestimmung und Grundgesetz, über die Lage der gespaltenen Nation oder auch zur Pressefreiheit und Arbeitsverfassung sowie zur freien Entfaltung der Persönlichkeit in Rechtsprechungsanalyse und Kommentierung im damals schon berühmten Werk von Maunz/Dürig/Her-

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Rainer Pitschas und Arnd Uhle

zog/Scholz zeugen noch heute von der einzigartigen wissenschaftlichen Begabung des Autors, tatsächliche Entwicklungen in umstrittenen Politikfeldern aufzunehmen, diese zu analysieren und deren (verfassungs-)rechtliche Deutung zu entfalten. Ganz in diesem Sinne wurden ihm auch das Verwaltungsrecht und der Verwaltungsrechtsschutz zum konkretisierten Verfassungsrecht, wie namentlich der Staatsrechtslehrer-Vortrag über „Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit“ sowie die Arbeiten zum öffentlichen Dienstrecht belegen. Im Hinblick auf die Lehre bleibt ein Colloquium zum Arbeits- und Wirtschaftsverfassungsrecht aus dem WS 1971/72 in Erinnerung, in dem der pädagogisch überaus versierte junge Hochschullehrer es verstand, dem sozial-kollektiv gefärbten Bewusstsein seiner Hörer das individualisierende Freiheitsverständnis der Verfassung entgegenzusetzen und beides im „offenen“ sozialstaatlichen Denken zum (politischen) Ausgleich zu führen. Der darin schon früh aufscheinende pädagogische „Eros“ hielt auch später an. Er verband sich mit der weitreichenden Fürsorge gegenüber den Lehrstuhlangehörigen und einem außerordentlich sympathischen Bewusstsein, nach harter Arbeit dürfe man in der „Villa“ auch zünftig mit den Studenten sowie untereinander feiern, zu einem gelungenen „Lehrstuhlleben“. Dafür sind die Beteiligten noch heute dankbar. Im Rückblick auf jene Jahre erscheint der sodann 1978 vollzogene Wechsel auf den Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Verwaltungslehre und Finanzrecht an der Ludwig Maximilians-Universität München nach zwischenzeitlichen, aber abgelehnten Rufen an die Universitäten Mainz und Saarbrücken zunächst als eine Art Fortsetzung dieser Zeit und als Vertiefung der Verpflichtung gegenüber dem „Recht“. Die Lehre in München „florierte“, und wiederum rückten die verfassungs- und wirtschaftsrechtlichen Arbeiten in den Vordergrund. Daneben trat nunmehr die Hinwendung zum Gemeinschaftsrecht. Deutlich gab sich ferner das wachsende sozialstaatliche Interesse zu erkennen. Gerade diese prononcierte Hinwendung zu den politisch brisanten Themen der Zeit in ihrem jeweils rechtlichen Gewand weckte das Interesse von maßgeblichen Politikern an diesem Rechtslehrer. Namentlich die durch dessen Mitarbeit am führenden GrundgesetzKommentar erworbene wissenschaftliche Anerkennung als einer der angesehensten Kommentatoren unserer Verfassung mit Blick für politische und „meta-juristische“ Bezüge von Verfassungsaussagen zog die Aufmerksamkeit der Entscheidungsträger in der Politik auf sich. Erst recht galt dies für jene im Land Berlin, die auf Rupert Scholz aufmerksam geworden waren, seitdem dieser im Jahr 1972 den Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Freien Universität Berlin übernommen hatte. Sie erkannten seine herausragenden politischen Fähigkeiten rasch. Es verwun-

Zum Geleit

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derte daher nicht, dass der seinerzeitige Regierende Bürgermeister von Berlin, Richard von Weizsäcker, den damals noch parteilosen, gleichwohl „politischen“ Professor alsbald bat, über das Lehramt hinausgehende Verantwortung in und für Berlin zu übernehmen. Dieser Bitte kam der bekennende „Berliner“ nur zu gerne nach. Er wurde 1981 Senator für Justiz. In dieser Funktion widmete er sich schwerpunktmäßig dem Strafvollzug sowie der juristischen Auseinandersetzung um die damaligen Hausbesetzungen im Land Berlin. Der Jubilar erwarb sich hierbei und aufgrund seiner rechtspolitischen Überzeugungen alsbald den Ruf eines bürgerlich-liberal ausgerichteten Politikers. Obwohl er ab 1982 auch das Amt des Senators für Bundesangelegenheiten zusätzlich versah und seitdem nicht nur aber auch wegen dieses Doppelamtes in führender Position politisch tätig war, blieb Rupert Scholz im Innern der vertraute Hochschullehrer. Er behielt weiterhin seinen Münchener Lehrstuhl, unterstützt von seinen bewährten Mitarbeitern aus der Berliner Zeit. Die FAZ veranlasste dieses „Doppelmandat“ zu der launigen Feststellung, er betreibe Politik im „altliberalen Sinne“ – eine Charakterisierung, an der Rupert Scholz vermutlich wenig auszusetzen gehabt hat. Dieser Konstellation zufolge waren die nachfolgenden Jahre durch eine sich gegenseitig befruchtende außerordentlich intensive landes- bzw. bundespolitische sowie gleichzeitig rechtswissenschaftliche Arbeit geprägt. Seit 1985 trat dann die parlamentarische Tätigkeit als Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin noch hinzu. Doch waren diese Jahre nicht nur sehr arbeitsreich und auch sehr fruchtbar; in der Rückschau offenbaren sie eine latente Brückenfunktion für den sich persönlich immer stärker abzeichnenden Übertritt des Jubilars in die „große Politik“. Diese Funktion kam ihnen insofern zu, als sie den Weg in die Bundespolitik, der seinerzeit noch nach Bonn führte, ebneten. So wurde der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl auf den Berliner Senator für Justiz- und Bundesangelegenheiten aufmerksam, der Rupert Scholz alsbald zu seinen wichtigsten juristischen und deutschlandpolitischen Beratern zählte. Der Kanzler schätzte den „Professor“ freilich nicht nur als umsichtigen Justiz- und Innenpolitiker, sondern auch als einen überzeugten Atlantiker. Als er trotz seiner sonstigen Inanspruchnahme überraschend viel Zeit fand, dem 50. Geburtstag von Rupert Scholz beizuwohnen, ahnten auch die Nichteingeweihten, dass die „politischen Brückenjahre“ in Berlin ihrem Ende entgegengehen würden und das damalige Geburtstagskind bald endgültig in die Bundespolitik wechseln sollte. Nur für die Außenstehenden war es deshalb überraschend, dass der Bundeskanzler im Frühjahr 1988 Rupert Scholz das Amt des Verteidigungsministers der Bundesrepublik Deutschland anvertraute. In dieser Funktion bemühte sich unser Lehrer um eine Politik, die auf wachsende Entspannung

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(zugunsten Deutschlands) zwischen den beiden Militärblöcken zielte. Rupert Scholz war daher nicht von ungefähr der erste deutsche Verteidigungsminister, der zu einem Staatsbesuch nach Moskau reiste. Gerade deshalb verteidigte er zugleich aber auch den Auftrag der Bundeswehr gegen die in manchen politischen Lagern aufkeimenden Zweifel an der Abschreckungspolitik. In einer Zeit, die – wie wir heute wissen – das allmähliche Ende des Kalten Krieges einleitete, leistete Rupert Scholz auf diese Weise sowie auf der Grundlage klarer, unbestechlicher Analyse der Lage – gleichsam an der Schwelle zum Fall des Eisernen Vorhangs und zur deutschen Wiedervereinigung – seinen eigenen Beitrag zur Entspannungspolitik. Der Bundespolitik blieb er auch nach dem 1989 erfolgten Abschied aus dem Amt des Verteidigungsministers treu, nach wie vor vom Bundeskanzler als juristischer und deutschlandpolitischer Berater überaus geschätzt. Sein analytischer und weitsichtiger Rat wurde vor allem bei der Ausarbeitung des Zehn-Punkte-Plans zur Deutschen Einheit wirkmächtig – eines Plans, der Deutschland, Europa und die Welt verändern sollte. Helmut Kohl selbst hat über jenes Wochenende, an dem er diesen Plan und namentlich Kernpassagen zur Konföderation und Föderation formulierte, mit folgenden Worten berichtet: „Mit von der Partie waren außer meiner Frau auch die beiden Brüder Ramstetter, zwei Geistliche. [. . .] Außerdem telefonierte ich ein paarmal mit dem CDU-Bundestagsabgeordneten Rupert Scholz, einem hervorragenden Professor des Staatsrechts. Alle ihre Anregungen flossen in die Formulierung ein, die meine Frau niederschrieb“.1 Nach der glücklichen Wiederherstellung der Deutschen Einheit wurde Rupert Scholz im Jahre 1990 Abgeordneter des ersten frei gewählten gesamtdeutschen Parlaments. Im Deutschen Bundestag vertrat er – wie hätte es auch anders sein können – einen Wahlkreis im Land Berlin, nachdem er dort im Bezirk Tempelhof erfolgreich für ein Direktmandat kandidiert hatte. Gleich in seine erste Wahlperiode fiel die bereits in Art. 5 des Einigungsvertrages niedergeschriebene Aufgabe für das Parlament, sich mit den durch die deutsche Wiedervereinigung aufgeworfenen Fragen einer Grundgesetzreform zu befassen; dringlich wurden auch Fragen der Europatauglichkeit des deutschen Grundgesetzes. Es lag auf der Hand, dass der „politische Professor“ hier ein auf ihn zugeschnittenes Thema für seine parlamentarische Arbeit vorfand. So übernahm er nach der Konstituierung der Gemeinsamen Verfassungskommission im Januar 1992 neben dem seinerzeitigen Hamburger Bürgermeister Henning Voscherau den Kommissionsvorsitz. In ihrem Abschlussbericht schlug die Kommission eine behutsame Modernisierung des Grundgesetzes vor. Schwerpunkte der von ihr mitberatenen bzw. empfohlenen Änderungen waren u.a. die „Öffnung“ des Grundgesetzes zur Eu1

Helmut Kohl, Ich wollte Deutschlands Einheit, 1996, S. 160.

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ropäischen Gemeinschaft (Art. 23 GG n. F.) sowie die Re-Adjustierung des Verhältnisses von Bund und Ländern auf dem Gebiet der Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen (Art. 72 GG n. F.). Dem Willen der damaligen Regierungskoalition und in besonderem Maße der Grundüberzeugung von Rupert Scholz entsprach dabei die Ausgangsposition, wonach das Grundgesetz die beste Verfassung der deutschen Geschichte darstelle. In der Tat dürfte in dem erreichten Ergebnis, die gesamtdeutsche Legitimation des Grundgesetzes befördert und gleichzeitig die inhaltlichen Stärken dieser Verfassung gewahrt zu haben, eine der größten Leistungen der Verfassungspolitik nach der deutschen Wiedervereinigung liegen. Sie ist nicht zuletzt den Anstrengungen des weitsichtigen Verfassungsrechtlers und Politikers Rupert Scholz zu verdanken. Ihm gelang es, bei der Bundestagswahl 1994 sein Direktmandat zu verteidigen. Nach den Erfolgen in der Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission und vor dem Hintergrund der ebenso langjährigen wie vielseitigen Erfahrungen als Berliner Senator auf den Gebieten der Innen- und Rechtspolitik lag es nahe, dass ein weiteres Betätigungsfeld gerade diese Politikbereiche sein würden. So kam es, dass Rupert Scholz in seiner Fraktion als einer der stellvertretenden Vorsitzenden die Verantwortung für das Ressort der Innen- und Rechtspolitik übernahm und in dieser Funktion zu einem maßgeblichen Sprecher seiner Partei, der CDU/CSU avancierte. Zugleich gewann er erheblichen Einfluss auf die Berufung höchster Richter. Nicht zuletzt übernahm er während jener Zeit kraft seiner rechtlichen und verwaltungswissenschaftlichen Sachkunde den Vorsitz des „Sachverständigenrates Schlanker Staat“, einer von der seinerzeitigen Bundesregierung eingesetzten unabhängigen Sachverständigenkommission, die Vorschläge für eine effiziente Verwaltung ausarbeitete. Nach der Bundestagswahl 1998 wurde Rupert Scholz auf der Grundlage des erneuerten Direktmandates zum Vorsitzenden des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages gewählt. In dieser Funktion setzte er sich für eine umfassende Justizreform ein. Zudem galt sein Augenmerk, anknüpfend an die unter seiner Federführung von der Gemeinsamen Verfassungskommission empfohlenen Grundgesetzänderungen, weiterhin einer Reform der föderalen Ordnung – also einer Thematik, der er sich intensiv auch nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag im Jahre 2002 widmete. Der Politik in seiner Heimatstadt Berlin ist Rupert Scholz aber auch in jenen Tagen verpflichtet geblieben. Vor dem Hintergrund seiner früheren Leitungstätigkeit im „Sachverständigenrat Schlanker Staat“ legte eine vom Berliner Senat beauftragte Expertenkommission unter seinem Vorsitz Ende 2001 ein ebenso umfassendes wie weitsichtiges Gutachten über die Rücknahme staatlicher Aufgaben und die effiziente Organisation der Landesverwaltung vor.

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Rainer Pitschas und Arnd Uhle

Auch nach dem Rückzug aus dem Bundestag lagen die Erfahrungen des Jubilars als Wissenschaftler und als Politiker nicht brach. Sie flossen vielmehr auf dem Gebiet der Verfassungspolitik erneut in außerordentlich glücklicher Weise zusammen, als Rupert Scholz im Jahre 2003 zum sachverständigen Mitglied der von Bundestag und Bundesrat eingesetzten Gemeinsamen Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung berufen wurde. Aufgrund seiner umfassenden Erfahrung aus der Arbeit der ehemaligen Gemeinsamen Verfassungskommission und der damals vorgenommenen Änderung des Art. 72 GG, die nunmehr auf der Grundlage der bundesverfassungsgerichtlichen Interpretation ihrerseits zu einem Wegbereiter der allgemeinen Einsicht in das Erfordernis einer grundlegenden Föderalismusreform erwuchs, gelang es ihm erneut, wesentliche Impulse in die Kommissionsarbeit und in die allgemeine politische Diskussion hineinzutragen. Diese mündete in die im Sommer 2006 verabschiedete Verfassungsreform ein, die zugleich die größte Grundgesetzreform der Bundesrepublik Deutschland darstellt. In allen diesen Jahren ist es dem Jubilar gelungen, seinen Lehrstuhl ohne Einschränkung weiterzuführen. So verlief die Lehrstuhlarbeit stets parallel zu dem „politischen Geschäft“. Sie erwies sich für die Studierenden aber gerade deshalb von großem Wert: Wie kaum ein anderer konnte Rupert Scholz vor ihnen die Bahnen des Verfassungslebens nachziehen und die in (Verfassungs-)Recht geronnene Politik deuten. Mit der Vollendung des 70. Lebensjahres tritt in dieser Kunst kein Bruch ein: Der neue Strang anwaltlicher Tätigkeit fügt sich der „gelebten“ Verfassung ein. Es bleibt ein Leben zwischen Recht und Politik, das wir auf manchen Strecken begleiten durften, vor dem wir uns als Schüler, Freunde und Kollegen ehrend verneigen und von dem wir uns noch viele Anregungen erhoffen. Rainer Pitschas

Arnd Uhle

Grußwort Von Bundeskanzler a. D. Dr. Helmut Kohl Lieber Herr Scholz, zu Ihrem 70. Geburtstag gratuliere ich Ihnen sehr herzlich. Ich wünsche zu diesem besonderen Tag alles erdenklich Gute, vor allem noch viele glückliche Jahre, beste Gesundheit, Zufriedenheit und Gottes Segen. Meine Glückwünsche gelten einem Mann, der in unterschiedlichen Funktionen viel für unser Land getan hat. Vor allem die Stadt Berlin hat Ihnen viel zu verdanken, wo Sie über viele Jahre Justizsenator waren und für Ihren Berliner Wahlkreis bis zum Jahre 2002 ein Abgeordnetenmandat im Deutschen Bundestag innehatten. Sie erwarben sich in Ihren Ämtern viel Achtung und Anerkennung auch über die Parteigrenzen hinweg, insbesondere als Mitglied des Deutschen Bundestages und als Bundesminister der Verteidigung. Sie waren als Verteidigungsminister eine wichtige Stütze meiner Regierung. Vor allem aber waren Sie mir aufgrund Ihrer überragenden juristischen Kenntnisse ein zuverlässiger und höchst sachkundiger Ratgeber in Fragen der Deutschlandpolitik. Als Berliner hatten Sie am eigenen Leib erlebt, wie widernatürlich Mauer und Stacheldraht für Berlin und für unser Vaterland waren. Sie hielten deshalb immer am Ziel der deutschen Einheit fest. Sie gehörten zu jenen wenigen Ratgebern, die mir Ende November 1989 bei der Ausarbeitung des „Zehn-Punkte-Programmes zur deutschen Einheit“ halfen. Auch leisteten Sie als Vorsitzender der Verfassungskommission, die sich Anfang 1992 konstituierte, eine vorzügliche Arbeit. Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie bei der Herstellung der deutschen Einheit an herausragender Stelle mitwirkten. Auch in den Jahren darauf ließen Sie sich vielfach in die Pflicht nehmen, etwa im „Sachverständigenrat Schlanker Staat“, beim Vorsitz des Arbeitskreises „Enteignungen 1945–1949“ oder im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages, deren Vorsitz Sie jeweils übernahmen. Bei all diesen politischen Aufgaben blieben Sie auch der Wissenschaftler, der der Hochschule die Treue hielt – unter anderem als Professor für Staatsund Verwaltungsrecht an der Universität München. Ihre große Zahl an Publikationen und Ihre Mitwirkung an renommierten Grundgesetzkommentaren unterstreicht Ihre hohe wissenschaftliche Reputation.

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Bundeskanzler a. D. Dr. Helmut Kohl

Gerne nehme ich die gute Gelegenheit Ihres Geburtstages zum Anlass, Ihnen dafür zu danken, was Sie als deutscher Patriot für die gemeinsame Zukunft unseres Landes geleistet haben. Ich möchte Ihnen aber auch meinen Dank aussprechen für die vielen Jahre der Wegbegleitung, für Ihre Kameradschaft und Treue, für Ihren Rat und Ihre Unterstützung sowie für Ihren unermüdlichen Einsatz für unsere gemeinsame Sache. Für das, was Sie sich noch vorgenommen haben, wünsche ich Ihnen weiterhin alles Gute, wobei hoffentlich auch die Muße nicht zu kurz kommt. Mit freundlichen Grüßen Dr. Helmut Kohl

I. Staatsrecht und Politik

Politik und Staatsleitung durch Gesetzgebung Von Peter Badura I. Das Gesetz des demokratischen Sozialstaates Zu den einer ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Begründung nicht bedürftigen Wesenszügen der parlamentarischen Demokratie gehört es, dass es die Sache des Gesetzgebers ist, im Rahmen seiner politischen Gestaltungsfreiheit über die Staatsaufgaben und – gebunden an die Verfassung – über die Art und Weise ihrer Erfüllung zu entscheiden, vor allem auch über das Zeitmaß und die Beschaffung und Verwendung der Haushaltsmittel. Die Umorientierung und Expansion der Staatsaufgaben mit dem Ziel, „den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern“ (Präambel der Weimarer Reichsfassung), Arbeit und soziale Sicherheit nach der Rechtsidee der sozialen Gerechtigkeit zu gewährleisten, hat die Gestalt der Gesetzgebung und des Funktionssinn des Gesetzes verändert. Die Fortbildung des Rechts und die gerechte Ordnung der Rechte und Pflichten durch das Gesetz wird überschattet und vielfach verdrängt durch die instrumentale Funktionalität des Gesetzes als Mittel der Gesellschaftsgestaltung. Gegenüber der Funktion der Gesetze als Mittel der Lenkung des sozialen Lebens und der Erfüllung politischer Programme tritt die Rolle des Gesetzes für Rechtsbildung und Rechtsbewusstsein zurück. Nur scheinbar wird die substantielle Verschiedenartigkeit von Politik und Rechtsidee in dem Ziel der „sozialen Gerechtigkeit“ aufgehoben. Mit ganz neuer Schärfe fällt der Blick auf die politische Seite der Gesetzgebung. Das Gesetz, aus der vor- und außerparlamentarischen Auseinandersetzung der Parteien und Interessengruppen hervorgehend, spiegelt in den oft rasch aufeinander folgenden Änderungen des Rechts den Wechsel der Anschauungen, Interessenlagen und Kräfteverhältnisse – je mehr es Werkzeug gesellschaftlicher Einwirkung wird, desto sichtbarer wird sein politischer Charakter.1 Die in den Vordergrund tretende Steuerungs-, Leistungs- und Ausgleichsfunktion des als Instrument der Sozial-, Wirtschafts- und Gesellschaftspoli1 Scheuner, U., Gesetzgebung und Politik (1974), in: ders., Staatstheorie und Staatsrecht, 1978, S. 529; ders., Die Funktion des Gesetzes im Sozialstaat, in: Festschrift für Hans Huber, 1981, S. 127; Badura, P., Das Recht als gesellschaftliches Gestaltungsmittel, in: Hessische Hochschulwochen 68, 1970, S. 104.

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tik wirkenden Gesetzes2 hebt die konstitutive Bedeutung der Rechtsidee für die Legitimität des Gesetzes nicht auf. Das Gesetz ist nicht nur Instrument zur Steuerung gesellschaftlicher Prozesse nach soziologischen Erkenntnissen und Prognosen, es ist auch bleibender Ausdruck sozialethischer und – ihr folgend – rechtlicher Bewertung menschlicher Handlungen; es soll sagen, was für den Einzelnen Recht und Unrecht ist.3 Wenn Gesetzgebung Rechtsetzung durch die parlamentarische Volksvertretung in der Form des Gesetzes ist,4 kann die Betonung der gubernativen Steuerung durch Gesetzgebung5 nicht dahin weitergeführt werden, dass die Fundierung der gesetzgebenden Gewalt in den normativen Postulaten einer gerechten Rechtsordnung bei der Dogmatisierung des Gesetzesbegriffs zurückgesetzt wird. Exemplarisch für dieses Postulat ist der – auf der Grundlage des geltenden Verfassungsrechts nicht erfolgreiche – Versuch, der „Aufweichung der Formelemente des Rechtsstaats“6 durch staatsleitende Intervention im Wege von „Maßnahmegesetzen“ entgegenzutreten.7 Die Gesetzgebung lässt sich nicht schlechthin einem überpositiven Kriterium der „Allgemeinheit“ des Gesetzes unterwerfen. Das Maßnahmegesetz ist, wie auch etwa das PlanGesetz, eine durch die soziale Staatsaufgabe bedingte und deswegen nicht als irregulär zu brandmarkende Erscheinungsform heutiger Gesetzgebung. Der Begriff des Maßnahmegesetzes ergibt keine besonderen Anforderungen an die Geltung eines Gesetzes und ist insofern „verfassungsrechtlich irrelevant“.8 Diese Beurteilung verwehrt dem Begriff nicht den Zugang zu einer Theorie der rechtsstaatlichen Gesetzgebung. Rudolf Smend hat mit den Mitteln der Integrationslehre gezeigt, dass die Ambivalenz des politischen Moments und der Rechtsidee in der Gesetzgebung nicht einseitig aufzulösen ist.9 Die Faktoren des Rechtslebens, Rechtsetzung und Rechtsprechung, sind in staatlicher Hand als ein Moment 2 Eichenberger, K., Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40, 1982, S. 7/10 f.; Ossenbühl, F., Gesetz und Recht – Die Rechtsquellen im demokratischen Rechtsstaat, HStR, Bd. III, 1988, § 61, Rn. 61 ff. 3 BVerfGE 39, 1/59. 4 Badura, P., Die parteienstaatliche Demokratie und die Gesetzgebung, 1986, S. 6; Ossenbühl, Gesetz und Recht (Fn. 2), Rn. 19 f. 5 von Bogdandy, A., Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 47, 200; Schuppert, G. F./Bumke, Chr., Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000, S. 45 ff. 6 Forsthoff, E., Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. I, Allgemeiner Teil, 10. Aufl. 1973, S. 9 f. – Siehe zuvor Schmitt, C., Legalität und Legitimität, 1932, S. 11, zur Gesetzgebung des „Wirtschaftsstaates“. 7 Huber, K., Maßnahmegesetz und Rechtsgesetz, 1963; Badura, P., AöR 91, 1966, S. 135; Schneider, H., Gesetzgebung, 3. Aufl., 2002, Rn. 195 ff. 8 BVerfGE 4, 7; 35, 371. 9 Smend, R., Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl., 1968, S. 119/206 f.

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des Gewaltensystems der Verfassung geordnet, aber doch Momente eines dem Staat gegenüber selbständigen, anderen geistigen Systems, des Rechtslebens. Das Staatssystem, dessen Wirklichkeit in dem Leben des Staates als Integration und ordnende und gestaltende Machtentfaltung besteht, und das Rechtssystem, dessen Wirklichkeit in der Positivierung, Sicherung, Anwendung des Rechts durch Gesetzgebung, Gericht und Leben besteht, sind in der Gesetzgebung „innig verwachsen“, die gleichzeitig die Rolle der höchsten Funktion in beiden Systemen spielt. Die Doppelfunktion der durch den Gerechtigkeitswert bestimmten Gesetzgebung für Staat und Recht äußert sich in der immanent legitimierenden Kraft des Gesetzes als Verwirklichung der volonté générale. Die Verfassung als Auftrag, Richtlinie und Grenze der Politik und der Gesetzgebung kann die getrennten und oft widerstreitenden Finalitäten des Staatslebens und des Rechts bis zu einem gewissen Grad zusammenführen. Sie schafft ihrer Intention nach die institutionellen und rechtlichen Voraussetzungen einer demokratisch legitimierten und erfolgreichen Politik und eine gerechte Ordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse anstrebenden Gesetzgebung des sozialen Rechtsstaates. Sie kann aber die selbständige Entscheidungsvollmacht der gesetzgebenden Volksvertretung nicht aufheben. Dass die Verfassung als „politische Form und Grundorientierung der gesellschaftlichen Ordnung“10 inhaltliche Grundlage der Politik im Sinne rechtlicher Gebundenheit an sachhaltige Richtlinien für das Staats- und Rechtsleben ist, bedeutet jedoch nicht, dass die Gesetzgebung als „Verwirklichung“ der Verfassung in der Art eines „Verfassungsvollzugs“ aufgefasst werden dürfte.11 Eine forcierte Umbildung des Verfassungsgesetzes durch materielle Staatszielbestimmungen und durch die verstärkte Geltungskraft der Grundrechte als Nährboden von objektiven Gewährleistungen und staatlichen Schutzpflichten kann dem politischen Erstgeburtsrecht des Gesetzgebers Abbruch tun. War das Gesetz früher das strukturierende Element der Rechtsordnung, ist zunehmend zu beobachten, dass verfassungsrechtliche Prinzipien diese Aufgabe übernehmen.12 Kennzeichnend für das neuere Verfassungsrecht ist die kodifikatorische Wirkung, die einzelne Grundrechte durch die Praxis des Bundesverfassungsgerichts erreicht haben.13 Die Verfassung ist vielfach – wenn auch vielleicht in einer gewissen Überanstren10 Scheuner, U., Die Funktion der Verfassung für den Bestand der politischen Ordnung, in: Hennis, W./Graf Kielmannsegg, P./Matz, M., Hrsg., Regierbarkeit, Bd. II, 1979, S. 102/121. 11 Badura, Die Verfassung im Ganzen der Rechtsordnung und die Verfassungskonkretisierung durch Gesetz, HStR, Bd. VII, 1992, § 163, Rn. 22. 12 von Bogdandy, Rechtsetzung (Fn. 5), S. 47. 13 Badura, P., Staatsrecht, 3. Aufl., 2003, C 24.

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gung ihrer Inhalte – an die Stelle der kodifikatorischen oder wenigstens prinzipienorientierten und systemgerechten Leistung des Gesetzgebers getreten. Darin liegt ohne Zweifel eine Einbuße der Steuerungskraft der parlamentarischen Gesetzgebung, wenngleich diese Schwäche schwerlich durch eine „gubernative Hegemonie“14 behoben werden kann. Wenn dann der Richter „gesetzvertretend“ in Bindung an die Verfassung15 handelt, ist das ein strukturelles Problem der parteiendemokratischen Gestaltung der Rechtsordnung, das auch in Verbindung mit der Bedeutung steht, die die Gruppen und Verbände für Inhalt und Fortbildung der Rechtsordnung haben. Eine Verfassung, die materiell-rechtliche Verfassungsnormen in größerem Umfang den Gesetzen überordnet, verändert auch das organisatorische Gefüge eines Gesetzgebungsstaates insofern, als die Gerichte ein Werkzeug gegen den Gesetzgeber erhalten.16 Die Konzentration der Normenkontrolle von Gesetzen in der Hand des Verfassungsgerichts (Art. 100 Abs. 1 GG) begründet jedoch zur Wahrung von Verfassung und Recht ein spezifisches institutionelles Gleichgewicht, das die Prävogative des Gesetzgebers nicht grundsätzlich in Frage stellt.17 Die verfassungsrechtliche Direktive, dass die für die Ausübung der grundrechtlichen Freiheit „wesentlichen“ Rechte und Pflichten durch Gesetz festzulegen und zu umgrenzen sind, kann – wenn ihre Reichweite vorzugsweise aus der letztlich nur politisch zu definierenden Regelungsaufgabe bemessen wird – die politische Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers zu einer Entscheidungslast modifizieren.18 Die „Wesentlichkeitstheorie“ ist eine Folgerung aus der rechtsstaatlichen und demokratischen Garantiefunktion des Gesetzes.19 Das Gesetz als Grundlage und Grenze der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung (Art. 20 Abs. 3 GG) sichert die rechtsstaatlichen Anforderungen der Berechenbarkeit des Rechts, der Rechtssicherheit und des grundrechtlichen Schutzes des Einzelnen und wahrt die politische Ent14

von Bogdandy, Rechtsetzung (Fn. 5), S. 47, 103, 147. Starck, Chr., Die Bindung des Richters an Gesetz und Verfassung, VVDStRL 34, 1976, S. 43/87 f., 93. 16 Schmitt, Legalität (Fn. 6), S. 56 ff. 17 Vgl. Grimm, D., Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen System, JZ 1976, 697; Herzog, R., Offene Fragen zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber, ZG 2, 1987, S. 290; Böckenförde, E.-W., Verfassungsgerichtsbarkeit: Strukturfragen, Organisation, Legitimation, NJW 1999, 9; Lerche, P., Rechtswissenschaft und Verfassungsgerichtsbarkeit, BayVBl. 2002, 649; Kischel, U., Darf der Gesetzgeber das Bundesverfassungsgericht ignorieren? AöR 131, 2005, S. 219. – Ein kritisches Wort: Scholz, R., Karlsruhe im Zwielicht – Anmerkungen zu den wachsenden Zweifeln am BVerfG, in: Festschrift für Klaus Stern, 1997, S. 1201. 18 Badura, P., Die parlamentarische Volksvertretung und die Aufgabe der Gesetzgebung, ZG 2, 1987, S. 300. 19 Badura, Verfassung (Fn. 11), Rn. 14 ff. 15

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scheidungsvollmacht und Leitungsaufgabe der parlamentarischen Volksvertretung.20 II. Die gesetzgebende Gewalt der parlamentarischen Volksvertretung Die staatsrechtlich wesentlich Eigenschaft des Gesetzes ist, dass es von der Volksvertretung, dem demokratischen gewählten Parlament als gesetzgebender Körperschaft, nach dem Prinzip der Repräsentation (Art. 20 Abs. 2 Satz 2, 38 Abs. 1 Satz 2 GG) beraten und verabschiedet wird.21 Im Verfassungsstaat der staatstheoretischen Tradition und der geltenden staatsrechtlichen Ordnung ist das Volk als Gemeinschaft freier Bürger die Quelle des Rechts und das ursprüngliche Subjekt der gesetzgebenden Gewalt.22 Die Verfassungsdoktrin der Französischen Revolution gründete die gesetzgebende Gewalt auf den im Wege der Volkssouveränität zur Geltung kommenden Gemeinwillen: „La Loi est l’expression de la volonté générale. Tous les citoyens ont droit de concourir personellement, ou par leurs représentants, à sa formation“ (Art. 6 der Déclaration des droits de l’homme et du citoyen vom 26. August 1789). Substantieller bestimmt die – nicht in Geltung gekommene – Jakobiner-Verfassung der Republik vom 24. Juni 1793: „La loi est l’expression libre et solennelle de la volonté générale“ (Art. 4) und „La loi doit protéger la liberté publique et individuelle contre l’oppression de ceux qui gouvernent“ (Art. 9). Unübersehbar ist der Zusammenhang von Gesetzesbegriff, demokratischer Legitimität der gesetzgebenden Gewalt und Garantie der gesetzmäßigen Freiheit. Der demokratische und rechtsstaatliche Gesetzesbegriff ist Teil auch der verfassungsmäßigen Ordnung des Grundgesetzes. Der durch Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG gebotene Zurechnungszusammenhang zwischen Volk und staatlicher Herrschaft wird unter anderem durch die vom volksgewählten Parlament beschlossenen Gesetze als Maßstab der vollziehenden Gewalt hergestellt.23 20 Eichenberger, Gesetzgebung (Fn. 2), S. 10; Starck, Chr., Funktion der parlamentarischen Gesetzgebung im demokratischen Staat (1991), in: ders., Der demokratische Verfassungsstaat, 1995, S. 17/24 ff.; von Bogdandy, Rechtsetzung (Fn. 5), S. 199 ff. 21 Der über vieles rasch hinweggehende Entwurf vom 29. Oktober 1004 über eine Verfassung für Europa lässt die Einsicht in die kategoriale Gebundenheit des Gesetzesbegriffs vermissen, indem die allgemein verbindlichen und in jedem Mitgliedstaat unmittelbar geltenden Rechtsakte der Union als „Europäisches Gesetz“ bezeichnet werden (Art. I-33). 22 A. von Bogdandy setzt ein menschenrechtliches Demokratiekonzept der Auffassung entgegen, die das „Volksmoment“ – dem keine tragende Bedeutung zukomme – in den Vordergrund stellt. Folgerichtig wird der „demokratisch-parlamentarische“ Gesetzesbegriff verworfen, der den Schwerpunkt auf die unmittelbare demokratische Legitimation des Parlaments legt, die sich aus dem Wahlakt der Bürger ergibt (Rechtsetzung – Fn. 5, S. 31 f., 199 ff.).

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Das demokratische Prinzip der parlamentarischen Repräsentation in Verbindung mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung bildet die Grundlage für die verfassungsrechtliche Ordnung der gesetzgebenden Gewalt. Die gewählte Volksvertretung im Zusammenwirken mit den anderen Faktoren der Gesetzgebung ist dementsprechend das Forum der Beratung und Beschlussfassung und das allein berufene „besondere Organ“ der Gesetzgebung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG). Das parlamentarische Regierungssystem, in das die Ausübung der Gesetzgebung eingebettet ist, weist der verantwortlichen Regierung mit dem die Richtlinien der Politik bestimmenden Regierungschef die Gesetzesinitiative und auch sonst eine maßgebliche Rolle zu. (Art. 76 GG). Diese je funktionsbezogene Zusammenarbeit, wie auch die politischen Rahmenbedingungen der Parteiendemokratie und des Interesseneinflusses, sind praktische Voraussetzungen der Gesetzgebung. Weder die institutionelle und funktionelle Ausstattung und Arbeitsweise der gesetzgebenden Volksvertretung, noch die Entscheidungs- und Leistungsfähigkeit des Parlaments werden dadurch reduziert oder in Frage gestellt, dass die Gesetzgebung in der Staatspraxis nicht ein für sich bestehender Akt der Legislative ist, sondern Ausdruck der Zusammenarbeit verschiedener Kräfte innerhalb der Staatsleitung. Die Regierung und die Parteien sind auf die Gesetzgebung zur Verwirklichung ihrer Politik angewiesen; darüber hinaus sind Gesetze – nicht nur das Haushaltsgesetz und Zustimmungsgesetze zu völkerrechtlichen Verträgen – staatsleitende Rechtsakte. Naturgemäß nehmen Gesetze politischen Inhalts auch ihren Ausgang in Koalitionsabreden und Parteigremien, werden sogar nicht selten in ihren Grundzügen außerparlamentarisch festgelegt. Vernachlässigt man dabei nicht die Verschiedenartigkeit der Basis und Entscheidungskraft der beteiligten Verfassungsorgane und politischen Gruppen, kann von einer „Kooperation“ gesprochen werden.24 Der in den Ausschüssen und im Plenum des Parlaments sichtbare Teil der Beratung und Beschlussfassung wird in der Regel hinter dem Einfluss zurückbleiben, den die Fraktionen als Erscheinungsform der Parteien im Parlament ausüben. Die praktische Bedeutung der notwendigen Vorbereitung eines Gesetzes im Schoße der Ministerialbürokratie und in den Gremien und Prozeduren der Parteiendemokratie, der Verbände und der Medien, nicht zuletzt das 23

BVerfGE 93, 37/66. Scheuner, Funktion des Gesetzes (Fn. 1), S. 136; Grawert, R., Gesetz und Gesetzgebung im modernen Staat, JURA 1982, 247, 300/305. – Magiera, S., Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, 1979; Mößle, W., Regierungsfunktionen des Parlaments, 1986; Badura, P., Die parlamentarische Demokratie, HStR. Bd. II, 3. Aufl., 2004, § 25. – Das von A. von Bogdandy favorisierte Modell, das die Rechtsetzung als „kooperative Tätigkeit unter gubernativer Hegemonie“ versteht, soll in dieser Allgemeinheit offenbar nicht für die Gesetzgebung gelten (Rechtsetzung – Fn. 5, S. 47, 147, 200). 24

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konsensuale Aushandeln im Vorfeld der parlamentarischen Entscheidung, kann die Gesetzgebung als „beengte“ Funktion erscheinen lassen. „Die materiell tragende Phase der Gesetzgebung ist offensichtlich die Präparation.“ Die Gesetzgebung muss wegen der Qualitätsforderung des Demokratiegebots und der konsensualen Akzeptanzverschaffung eine Vielfalt von Beteiligten in konfigurierten Abläufen zulassen. Die Inhaltsgestaltung kommt dabei vorwiegend in einem dem parlamentarischen Verfahren vorgelagerten Präparationsprozess zustande, der maßgeblich von der Exekutive (Regierung und Verwaltung) getragen und geführt wird. Das bedeutet aber nicht einen grundsätzlichen Abschied vom Gesetz als Schlüsselbegriff des demokratischen und rechtsstaatlichen Staatsrechts.25 Kein Gesetz in einer wichtigen Frage kann allein dadurch Anerkennung gewinnen, dass auf das Gesetzgebungsrecht des Parlaments und damit letztlich auf das parteiendemokratische Mehrheitsprinzip verwiesen wird. Die sachliche Entscheidung und Regelung des Gesetzes, von der Volksvertretung in politischer Gestaltungsfreiheit getroffen, wäre als legaler Gesetzesbefehl der parlamentarischen Mehrheit – ungeachtet der Bindung und Begrenzung durch die Verfassung – substantiell nicht mehr als eine obrigkeitliche Anordnung, wenn das Gesetz nicht auch eine innere Verbindung mit den großen und dauernden Bestrebungen und Vorstellungen der Gesellschaft aufwiese. Dies zu bewirken, ist die produktive Aufgabe der Parteien – und mittelbar der Verbände – in der parlamentarischen Gesetzgebung, deren Ordnung, Konfiguration und Arbeitsweise immerhin eine gewisse Garantie der Sachrichtigkeit und des gerechten Ausgleichs gewährleistet. Eine Theorie der Gesetzgebung, die der Vorstellung vom politischen Prozess oder der Integration als dem Grundphänomen der Staatslebens folgt, stellt gewissermaßen von selbst einen Zusammenhang zwischen den gesellschaftlichen Faktoren der Gesetzgebung und der parlamentarischen Willensbildung und Entscheidung her. Ein die Versprechungen der Verfassung einhaltender Gesetzgebungsstaat kann dennoch die Prämisse nicht missachten, dass es eine politiktranszendente Rationalität des Gesetzes in der parteienstaatlichen Demokratie geben muss, eine Rationalität der „notwendigen Beziehungen, die aus der Natur der Dinge hervorgehen“, wie es Montesquieu vorschwebte.26 Für den Interventionismus und die Umverteilung des Wohlfahrtsstaates wird sich diese „Natur der Dinge“ nicht so leicht finden lassen. Auf dem Gesetz – und damit auf der Leistungsfähigkeit der parlamentarischen Volksvertretung und des demokratischen Parteiensystems – ruhen die Sicherung von Freiheit und Eigentum und ebenso die sozialstaatlichen Garantien von Arbeit und sozialer Sicherheit. 25

Eichenberger, Gesetzgebung (Fn. 2), S. 13, 28 ff., 38. Badura, P., Die Verantwortung des Gesetzgebers, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie XIV, 1989, S. 246. 26

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III. Gesetzmäßige Freiheit „Frei ist der Mensch, wenn er nicht mehr einer Person, sondern nur noch Gesetzen gehorchen muss“ (Immanuel Kant). Das staatsrechtliche Prinzip, dass die von der bürgerlichen Gesellschaft eingesetzte politische Herrschaft Freiheit und Eigentum des Einzelnen nur durch Gesetz oder auf Grund Gesetzes bestimmen darf, sieht im Gesetz das Bollwerk der Freiheit. Der konstitutionelle Vorbehalt des Gesetzes schuf in dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung die Gewissheit der gesetzmäßigen Freiheit und zugleich eine verlässliche Rationalität der staatlichen Funktionen, der die Struktur des bürgerlichen Lebens und der Unternehmenstätigkeit in der Zeit der technisch-kapitalistischen Expansion bedurfte und bedarf.27 Die praktische Prämisse dieses „formalen“ Rechtsstaates des Legalitätsprinzips, der Parlamentarismus von Bildung und Besitz, konnte der Umorientierung der Staatsaufgaben durch die soziale Frage des Industrialismus, die Erschütterung des Krieges und den Erfolg der Demokratie nicht standhalten. In dem Maße, wie das Gesetz zum Instrument wohlfahrts- und schließlich gesellschaftspolitischer Programme und Zwecke wird, fordert der Grundgedanke des Rechtsstaates, die gesetzgebende Gewalt an verfassungsrechtlich mit Vorrang auszustattende Rechte und Garantien zum Schutz der individuellen Freiheit zu binden und – weitergehend – die Grundlagen der Privatrechtsordnung durch verfassungsrechtliche Institutsgarantien zur Gewährleistung von Vertragsfreiheit, Eigentum und Erbrecht, Ehe und Familie, Bildung und Wissenschaft, Presse und Rundfunk gegen den maßstablosen Zugriff des Gesetzgebers zu sichern. Mit den Festlegungen, dass die Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden ist (Art. 20 Abs. 3 GG), dass die Grundrechte die Gesetzgebung als unmittelbar geltendes Recht binden (Art. 1 Abs. 3 GG) und dass ein Grundrecht in keinem Fall in seinem Wesensgehalt angetastet werden darf (Art. 19 Abs. 2 GG) hat das Grundgesetz den Schutz der grundrechtlichen Freiheit umfassend, also nicht nur im Sinne des Legalitätsprinzips, verwirklicht. Das ist nicht nur in dem Sinn einer negatorischen Abwehr von ungerechtfertigten und übermäßigen „Eingriffen“ des Gesetzgebers in eine Art „vorstaatlichen“ Freiheitsraum zu verstehen. Als Teil der Rechtsordnung und als subjektives Recht ist individuelle Freiheit stets „gesetzmäßige Freiheit“. Das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit, das Recht der freien Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG), bringt zum Ausdruck, dass die verfassungsrechtlich geschützte und gewährleistete Freiheit des einzelnen eine rechtliche, d.h. begrenzte, aber in ihren Grenzen geschützte, nicht abstrakte und unbegrenzte „natürliche“ Freiheit ist. Inhalt und Schranken der grundrechtlichen Freiheit werden durch die Gesetze bestimmt (siehe Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG für das 27

Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts (Fn. 6), S. 33.

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Eigentum und das Erbrecht). Einige Grundrechte sind von vornherein nur durch gesetzliche Ausgestaltung normativ wirksam, wie eben Eigentum und Erbrecht und weiter u. a. Vertragsfreiheit, das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden (Art. 9 Abs. 1 GG), und die Koalitionsfreiheit einschließlich der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG). Teils ausdrücklich, teils konkludent ergeben sich aus einzelnen Grundrechten Schutzpflichten und Regelungsaufträge für den Gesetzgeber, so in vielfacher Hinsicht aus den Garantien des Art. 6 GG, für das Schulwesen (Art. 7 GG), für den Rundfunk (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) und für die wissenschaftlichen Hochschulen (Art. 5 Abs. 3 GG). Die Rolle des Gesetzgebers zur Ausformung der Schutzund Ordnungsfunktion der Grundrechte und damit bei der Verwirklichung der gesetzmäßigen Freiheit ist komplex und nicht nur mit einer Dogmatik der Abwehr von Eingriffen in Freiheit und Eigentum zu fassen.28 Das Grundgesetz bleibt ungeachtet seiner materiellen Garantien und Zielbestimmungen für die Rechtsgestaltung und Rechtsverwirklichung eine direktive „Rahmenverfassung“, die die politische und an den Rechtsideen der Gerechtigkeit und des Gemeinwohls orientierte Gesetzgebung voraussetzt.29 Die direktiven Eigenschaften der als Gewährleistung, Auftrag und Plan wirkenden Verfassungsnormen wenden sich grundsätzlich nur an den Gesetzgeber. Die Verfassung ist auf „konkretisierende Aktualisierung“, vor allem auf eine den politischen Umständen entsprechende „Vervollständigung“ oder Ausgestaltung durch den Gesetzgeber angelegt.30 Staatszielbestimmungen und andere explizite oder konkludente Aufgabennormen ohne Festlegung des Maßes und des Mittels schließen gerade die Entscheidung dahin ein, die weitere Regelung der verfassungsrechtlich nicht detaillierter gebundenen politischen Auseinandersetzung zu überlassen und vorzubehalten.31 Die Garantie von Freiheit und Recht ist der ursprüngliche und durch die Vorkehrungen des Rechtsstaates und der Grundrechte negatorisch erreichbare Sinn des Verfassungsgesetzes. Gerechtigkeit und Wohlfahrt dagegen kann das Verfassungsgesetz nicht selbst und unmittelbar schaffen. In dieser Hinsicht kann die Verfassung Aufgaben und Ziele bestimmen, auch um die materiellen Voraussetzungen freier Lebensführung zu schaffen. Die verfassungsrechtlich mögliche Garantie kann hauptsächlich durch die sinnvolle 28

Lerche, P., Grundrechtlicher Schutzbereich, Grundrechtsprägung und Grundrechtseingriff, HStR, Bd. V, 1992, § 121; Badura, P., Grundrechte als Ordnung für Staat und Gesellschaft, in : Merten/Papier, Hrg., Handbuch der Grundrechte, Bd. I, 2004, § 20. 29 Isensee, J., Staat und Verfassung, HStR, Bd. I, 2. Aufl., 1995, § 13, Rn. 142. 30 Hesse, K., Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., 1995, Rn. 19 ff.; Zippelius, R./Würtenberger, Th., Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl., 2005, § 5 III 3. 31 Böckenförde, E.-W., Grundrechte als Grundsatznormen, Staat 29, 1990, S. 1/13.

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Ordnung des demokratischen politischen Prozesses und der Institutionen der politischen Willensbildung und durch die Bindung der Gesetzgebung bereitgestellt werden. Vor allem ist es Sache der gesetzgebenden Volksvertretung, den notwendigen Ausgleich der Freiheit mit den Erfordernissen des Wohls der Allgemeinheit, insbesondere des sozialen Staatsziels und der Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen zu bewirken. Die durch das Änderungsgesetz vom 27. Oktober 1994 (BGBl. I S. 3146) in das Grundgesetz eingefügte Staatszielbestimmung des Art. 20a GG hebt betont die Aufgabe der Gesetzgebung und den Vorbehalt des Gesetzes auch im Hinblick auf die Rechtsprechung hervor.32 Die selbständige Verantwortlichkeit des Gesetzgebers bei der Wahrnehmung einer verfassungsrechtlichen Regelungsaufgabe und der Gewährleistung der gesetzmäßigen Freiheit zeigt sich exemplarisch bei der Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten des Staates.33 Die grundrechtliche Schutzpflicht für Leben, Gesundheit, Eigentum und Vertragsfreiheit äußert sich hauptsächlich in der Pflicht des Gesetzgebers, die Rechte und Freiheiten des Einzelnen durch hinreichende Rechtsvorschriften des Verwaltungsrechts, so durch Staatsaufsicht und Regulierung,34 und auch durch Gebote und Verbote des Strafrechts35 angemessen zu sichern. Die in der grundrechtlichen Schutzpflicht angelegte Regelungsaufgabe des Gesetzgebers bezieht sich weiter auf den Privatrechtsverkehr, um dort einer Rechtsausübung entgegenzutreten, die Dritte unbillig benachteiligt oder einen Missbrauch wirtschaftlicher Macht darstellt.36 Der Gesetzgeber hat Vorkehrungen zu treffen, die eine Gefahr von Grundrechtsverletzungen eindämmen. „Ob, wann und mit welchem Inhalt sich eine solche Ausgestaltung von Verfassung wegen gebietet, hängt von der Art und dem Rang des geschützten Rechtsguts ab“37. Die grundrechtlichen Schutzpflichten sind verfassungsrechtliche Direktiven für den Gesetzgeber, die im Grundsatz der politischen Entscheidung über die Mittel und Wege nicht vorgreifen, die den gebotenen Schutz sicherstel32

Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BT-Drucks. 12/6000 (5.11.1993), S. 65 ff. – Scholz, R., Neue Verfassung oder Reform des Grundgesetzes? 1992, S. 18 ff., ders., Grundgesetz zwischen Reform und Bewahrung, 1993, S. 26 ff.; ders., Die Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat, ZG 9, 1994, S. 1/21 f. 33 Badura, P., Privatautonome Selbstbestimmung im Schatten grundrechtlicher Schutzpflichten des Staates, in: Festschrift für Reiner Schmidt, 2006, S. 351/352 f., 355 f. 34 BVerfGE 56, 54/68 f. – Fluglärm; BVerfG DÖV 2006, 521 – Mobilfunkanlagen; u. ö. 35 BVerfGE 39, 1 und 88, 203 – Abtreibung. 36 BVerfGE 81, 242 – Handelsvertreter; 89, 214 – Bürgschaft; 114, 1 und 73 – Versicherungsvertrag; u. ö. 37 BVerfGE 49, 89/142.

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len sollen.38 Dem Gesetzgeber kommt ein weiter Einschätzungs-, Wertungsund Gestaltungsbereich zu, der auch Raum lässt, etwa konkurrierende öffentliche und private Belange zu berücksichtigen. Aus der begrenzten Regelungsdichte der verfassungsrechtlichen Gewährleistungs- und Schutzmaßstäbe und der dementsprechend beschränkten Reichweite der hier wirksamen Rechtsprechungsaufgabe des Verfassungsrichters folgt, dass neben dem Gesetz grundsätzlich keine verfassungsunmittelbaren Schutzansprüche in Betracht kommen. „Wenn der Gesetzgeber . . . in Erfüllung seiner Schutzpflicht Regelungen trifft und damit Schutzmaßstäbe setzt, konkretisieren diese den Grundrechtsschutz“39. Der zuständige Richter kann das Unterlassen oder die Mangelhaftigkeit der Aufgabenerfüllung durch den Gesetzgeber ggf. im Rahmen seines richterlichen Prüfungsrechts beanstanden (Art. 100 Abs. 1 GG, § 80 Abs. 3 BVerfGG). Auch der Verfassungsrichter kann sich – von Ausnahmefällen zwingender und eindeutiger Rechtsfolgen abgesehen – nicht an die Stelle des untätigen oder mangelhaft arbeitenden Gesetzgebers setzen. IV. Die gewaltenteilende Verfassung Die Stellung und die Funktion der gesetzgebenden Gewalt in der Verfassungsordnung und der rechtsstaatliche Verfassungsbegriff beruhen auf der institutionellen und materiellen Gewaltenteilung, die der Staatsgewalt rechtliche Form und Begrenztheit gibt (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG). „Toute société dans laquelle la garantie des droits n’est pas assurée, ni la séparation des pouvoirs déterminée, n’a point de constitution“ (Art. 16 der französischen Erklärung von 1789). „La séparation des pouvoirs est la première condition d’un gouvernement libre“ (Art. 19 der Verfassung der II. Französischen Republik vom 4. November 1848). Die Gewaltenteilung ist eine sachliche Voraussetzung dafür, dass die staatlichen Aufgaben und Befugnisse in der Verfassung rechtlich geordnet und begrenzt werden können, so dass das Staatsrecht des Verfassungsstaates auf die Grundbegriffe des Gesetzes, der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der unabhängig die Wahrung von Recht, Gesetz und Verfassung sichernden Rechtsprechung gegründet werden kann. Die Lehre von der Trennung der Gewalten dogmatisiert die verfassungsrechtliche Unterscheidung der Wirksamkeit staatlicher Herrschaft in den abstrahierenden funktionsorientierten Begriffen der gesetzgebenden, vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt. Obwohl damit der Blick zuerst auf die drei Gewalten oder Funktionen fällt, ist der begriffsleitende, weil politisch und verfassungsrechtlich ausschlaggebende Ausgangspunkt in den Or38 39

BVerfGE 39, 1/44 ff.; 46, 160/164; 56, 54/80; BVerfG NJW 1983, 2931. BVerfGE 77, 381/405.

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ganen zu suchen, denen jeweils die Gesetzgebung, die Vollziehung und die Rechtsprechung zukommt und denen die Verfassung eine spezifische Aufgabe und Entscheidungsvollmacht zuspricht. Die parlamentarische Demokratie und das parlamentarische Regierungssystem geben die gesetzgebende Gewalt in die Hand der gewählten Volksvertretung als der für die Gestalt und Fortbildung der Rechtsordnung und für die gesetzmäßige Freiheit zuständigen Legislative. Demzufolge ist die Lehre von Gesetz und Gesetzgebungsstaat im Kern eine Lehre des demokratischen Parlamentarismus, auch des parlamentarischen Regierungssystems und damit unter den heutigen Bedingungen letzten Endes des Parteienstaates.40 Das Parlament hat, soweit seine gesetzgebende Gewalt reicht, Anteil an politischer Gestaltung und Staatsleitung. Staatsleitung und politische Planung sind nicht exklusive und gewissermaßen originäre Zuständigkeiten der die vollziehende Gewalt ausübenden Regierung. Das Grundgesetz setzt im Bereich der Normsetzung eine Gewaltenbalancierung zwischen Legislative und Exekutive voraus, wonach dem Parlament als Legislative die verfassungsrechtliche Aufgabe der Normsetzung zufällt und wonach nur das Parlament die demokratische Legitimation zur politischen Leitentscheidung besitzt.41 Die Steuerung und Beeinflussung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Prozesse erfordert in hohem Maße staatliche Planungen, die auch im Gesetz ihre Form und vor allem im Gesetz ihre allgemeinverbindliche Wirkung finden.42 Überdies kann der Verfassung verschiedentlich das Erfordernis eines auf Planung aufbauenden Gesetzes entnommen werden, u. a. im Bereich der Finanzverfassung.43 Die fortschreitende Expansion und Eindringtiefe der Staatsaufgaben seit dem Ersten Weltkrieg hat ein zunehmendes Bedürfnis nach einer möglichst weit gehenden Sicherung der Rationalität des Staatshandelns, also auch der Planmäßigkeit in der Erfüllung der Staatsaufgaben und der Verwirklichung der Verwaltungszwecke mit sich gebracht. Hinsichtlich der politischen Planung, d. h. der Planung der Staatsaufgaben auf der Ebene der Staatsleitung, kann das arbeitsteilige und funktionsgerechte Zusammenwirken von Regierung und Parlament veranschaulicht werden.44 Wie für die Staatsleitung 40

Scheuner, U., Der Bereich der Regierung, in: Festschrift für Rudolf Smend, 1952, S. 253; ders., Verantwortung und Kontrolle in der demokratischen Verfassungsordnung, in: Festschrift für Gebhard Müller, 1970, S. 379; Weber, W., Die Teilung der Garalten als Gegenwartsproblem (1959), in: ders., Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, 3. Aufl. 1970, S. 152; Magiera, Parlament (Fn. 24), S. 83 ff.; Badura, P., VVDStRL 40, 1982, S. 107, ders., Staatsrecht, 3. Aufl., 2003, D 47, 48. 41 BVerfGE 34, 52/59 f.; 95, 1/15 f. 42 Badura, P., Planung durch Gesetz, in: Festschrift für Hans Huber, 1981, S. 15; Ossenbühl, Gesetz und Recht (Fn. 2), Rn. 22. 43 BVerfGE 101, 158/217 f.

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und die politischen Grundentscheidungen allgemein gelten für die Zuordnung der Agenden politischer Planung die Grundsätze des parlamentarischen Regierungssystems und der rechtsstaatlichen Bindung der öffentlichen Gewalt, soweit Rechte und Freiheiten der einzelnen betroffen sein können. Die Initiative und die Vorbereitung von Planungsentscheidungen liegen regelmäßig in der Hand der Regierung, wie es vor allem die Finanzplanung und die dem Budgetrecht des Parlaments unterworfene Haushaltswirtschaft vor Augen führen (Art. 109 Abs. 3, Art. 110 Abs. 2 GG; §§ 50 ff. HGrG, §§ 28 ff. BHO; §§ 9 ff. StabG). Die politische Planung kann jedoch nicht in Abgrenzung zu der gesetzgebenden Gewalt des Parlaments als „sachlogisch gouvernemental“ betrachtet werden. Staatliche Planung ist weder eindeutig der Legislative noch eindeutig der Exekutive zugeordnet.45 Die Staatspraxis kennt nicht nur – staatsleitende – Maßnahmegesetze und Richtliniengesetze, wie z. B. das Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft vom 8. Juni 1967, sondern auch die Planung durch Gesetz, wie z. B. das Gesetz über die Ausbauplanung für die Bundesfernstraßen und das Gesetz über den Ausbau der Schienenwege des Bundes.46 Unter engen Voraussetzungen ist selbst eine Vorhabenplanung durch Gesetz für bestimmte Investitionsmaßnahmen verfassungsrechtlich zulässig.47 Die Festsetzungen eines einen bestimmten Sektor des Staatshandelns planenden Gesetzes sind zukunftsgerichtet und auf Ausführung, u. U. unter dem Vorbehalt der Mittelbereitstellung durch das Haushaltsgesetz, angelegt und sind insofern eher ein Programm als eine abstrakte Ordnung von Rechtsbeziehungen. Diesen „inneren Widerspruch“48 teilt das Gesetz als Plan für zukünftige Gestaltung mit anderen Rechtsakten und politischen Entscheidungen des heutigen Interventions- und Leistungsstaates, die sich den Änderungen der Gegebenheiten und der politischen Kräfteverhältnisse anpassen müssen.

44 Böckenförde, E.-W., Planung zwischen Regierung und Parlament, Staat 11, 1972, S. 429; Scheuner, U., Zur Entwicklung der politischen Planung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Festschrift für Werner Weber, 1974, S. 369; SchmidtAßmann, E., Planung unter dem Grundgesetz, DÖV 1974, 541; Graf Vitzthum, W., Parlament und Planung, 1978; Würtenberger, Th., Staatsrechtliche Probleme politischer Planung, 1979. 45 BVerfGE 95, 1/15 f. – „Südumfahrung Stendal“. 46 Schneider, H., VVDStRL 40, 1982, S. 101; ders., Gesetzgebung, 3. Aufl., 2002, Rn. 200 ff. 47 BVerfGE 95, 1, mit Anm. Schneller, Chr., ZG 13, 1998, S. 179. – Blümel, W., Fachplanung durch Bundesgesetz (Legalplanung), DVBl. 1997, 205; Schneller, Chr., Objektbezogene Legalplanung, 1999; Badura, P., Vorhabenplanung im Rechtsstaat, in: Festschrift für Werner Hoppe, 2000, S. 167/171 ff. 48 Schneider, Gesetzgebung (Fn. 46), Rn. 205.

Forschung fördern – Innovation vorantreiben Forschungspolitik als staatliche Aufgabe Von Thomas Goppel I. Auf dem Weg in die Wissensgesellschaft Bildung und Forschung sind entscheidende Faktoren in der Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts. Der Forschung kommt dabei eine herausragende Bedeutung zu, denn sie schafft Wissen: • Wissen, das unseren Kenntnisstand erweitert und unser Selbstbild verändert; • Wissen, das uns Orientierung gibt und unser Denken beeinflusst; • Wissen, mit dem wir wirtschaftliches Wachstum, zukunftssichere Arbeitsplätze und Wohlstand schaffen; • Wissen, das uns hilft, unsere Lebens- und Arbeitswelt menschengerechter zu gestalten. Die Forschung von heute eröffnet neue Möglichkeiten für unser Leben von morgen. Viele Dinge, die uns das Leben erleichtern, wären ohne die Neugier von Forscherinnen und Forscher nie möglich geworden: Kommunikationssatelliten im Weltall, Medikamente gegen gefährliche Krankheiten oder Laserskalpelle für sanfte Operationen, um nur einige Beispiele zu nennen. Heute stehen wir vor der Aufgabe, mit der Wissensgesellschaft weiter voranzukommen und einen gemeinsamen europäischen Forschungs- und Innovationsraum zu gestalten. Forschungsintensive Industrien, wissensintensive Dienstleistungen und eine enge Verzahnung von Produkten und Dienstleistungen gewinnen an volkswirtschaftlicher Bedeutung. Europa hat sich in der Lissabon-Erklärung vom März 2000 zum Ziel gesetzt, bis 2010 „zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum“ der Welt zu werden. Deutschland im Allgemeinen und Bayern im Besonderen haben an dieser Zielsetzung mitgewirkt. Mit unserer Bildungs- und Forschungspolitik tragen wir aktiv dazu bei, dieses Ziel zu erreichen.

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II. Fortschritt durch Forschung Wissenschaft und Forschung sind zum Motor der technologischen und damit auch der wirtschaftlichen Entwicklung geworden. Forschung braucht jedoch einen langen Atem. Die Vision von Francis Bacon (1561–1626), die zu seinen Lebzeiten entstehende Naturwissenschaft werde zur Verbesserung der Lebensverhältnisse beitragen, nahm erst im 19. Jahrhundert Gestalt an, als Physik und Chemie ihre Nützlichkeit unter Beweis stellten – etwa in der Elektrotechnik oder bei der Entwicklung des Kunstdüngers. Im 20. Jahrhundert war es die Informationstechnik, die unser Leben nachhaltig verändert hat: Computer oder Handys lassen sich aus unserem Alltag nicht mehr wegdenken. Mit den Lebenswissenschaften haben wir heute ein weiteres großes Wissensgebiet, in dem wissenschaftliche und technologische Entwicklung verstärkt in Wechselbeziehung treten. Zudem erschließen Physik, Chemie und Biologie mit der Nanotechnologie zahlreiche neue Anwendungsgebiete. Nicht alle Wissenschaftszweige haben einen derart unmittelbaren Bezug zur technologischen und wirtschaftlichen Entwicklung wie die genannten. Sie sind aber trotzdem unentbehrlich für die Gesellschaft. Denn die Forschung ist zum verlängerten „Auge der Menschheit“ geworden: Wissenschaftliche Beobachtung zeigt uns die Welt in neuen und vielfältigen Facetten. Ohne Mikroskope wüssten wir nichts von Bakterien und Viren; ohne die Arbeit von Historikerinnen und Historikern würden wir unsere gewachsene Identität vergessen. Wissenschaftliche Theorien geben uns oft erst das Denkgebäude vor, in dem wir Ziele und Wünsche formulieren können. Wissenschaft und Forschung haben aber auch eine weitere Funktion: Sie bilden die hoch qualifizierten Arbeitskräfte der Wissensgesellschaft aus. Die Studierenden von heute sind die Fachkräfte von morgen. Nur Länder, die ausreichend Hochqualifizierte ausbilden und für ausländische Fachkräfte attraktiv sind, können im internationalen Wettbewerb um die besten Köpfe bestehen. Mehr denn je kommt es heute darauf an, dass Deutschland seine wichtigsten Ressourcen optimal nutzt: die Talente und Fähigkeiten seiner Bürgerinnen und Bürger. III. Grundlagenforschung zum Nutzen der Gemeinschaft Forschung ist auf das Unbekannte gerichtet. Lösungen sind oft dort zu suchen, wo wir sie heute nicht vermuten. Niemand kann präzise voraussagen, zu welchen Ergebnissen Forschungsvorhaben führen werden. Das gilt vor allem für die Grundlagenforschung, die nach unbekannten Phänomenen sucht und Theorien formuliert, die schon beobachtete Phänomene erklären.

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Um immer wieder in das Neuland jenseits der Grenzen unserer Kenntnis vorstoßen zu können, brauchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Freiheit und die Möglichkeiten, ihrer Neugier zu folgen. Deshalb ist der Staat hier in einer besonderen Verantwortung, um den Forschern die Mittel zu geben, die sie brauchen, um ihre Freiheit zum Nutzen aller einzusetzen. Grundlagenforschung hat auch einen kulturellen Aspekt: Die Suche nach Antworten auf ethische Fragen, auf Fragen nach unserer Herkunft und nach historischen Entwicklungen gehören fundamental zu unserer Kultur – ebenso wie Kunst und Musik. Grundlagenforschung gibt aber auch Impulse für die anwendungsorientierten Zweige von Wissenschaft und Forschung. Der Staat unterstützt insbesondere solche Forschung, die im Interesse der Allgemeinheit liegt oder späteren Generationen zugute kommt. Beispiele für diese Vorsorgeforschung sind die Sicherheitsforschung, die Gesundheits-, Umwelt- oder Energieforschung. Rund ein Drittel aller Aufwendungen für Forschung und Entwicklung (FuE) werden vom Staat finanziert. Die Entwicklung neuer Technologien, die volkswirtschaftlichen Wohlstand schaffen, ist jedoch vorrangig Aufgabe der Wirtschaft. Entsprechend werden auch rund zwei Drittel aller Aufwendungen für FuE in Deutschland von der Wirtschaft getragen. Dies entspricht 36 Mrd. Euro oder 1,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Wenn Unternehmen selbst Forschung betreiben, so bringt dies positive externe Effekte mit sich, weil Forschungsergebnisse oft nicht allein dem Unternehmen nützen, das die Forschung durchgeführt hat. Andererseits birgt Forschung immer die Möglichkeit des Scheiterns in sich. Deshalb muss der Staat das wirtschaftliche Risiko für die forschenden Unternehmen reduzieren. Es liegt im Interesse der Allgemeinheit, die Innovationskraft der heimischen Unternehmen durch innovationsfreundliche Rahmenbedingungen und staatliche Förderung von Forschung und Entwicklung zu stärken. Denn nur innovative Unternehmen bieten dauerhaft wettbewerbsfähige Arbeitsplätze an. IV. Forschungspolitik im europäischen Rahmen Innovation und Forschung haben heute eine internationale Dimension. So entwickelte sich in den letzten drei Jahrzehnten die europäische Forschungspolitik kontinuierlich fort und bildet nun einen wesentlichen Faktor der internationalen Forschungsförderung. Die Ziele einer gemeinsamen Wissenschafts- und Technologiepolitik wurden 1974 festgelegt, 1983 wurde das „Erste Rahmenprogramm der Gemeinschaft im Bereich Forschung, Technologie und Demonstration“ verabschiedet. Im Jahr 2007 läuft nunmehr das siebte dieser Forschungsrahmenprogramme (FRP) an. Sie sind das Haupt-

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element der Forschungsförderung in Europa und legen die Ziele und Prioritäten fest. Bislang hatten sie in erster Linie die Aufgabe, durch die Kooperation zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten im Bereich Wissenschaft und Technologie bedeutende Forschungsergebnisse zu erreichen; schon das 6. FRP setzte aber darüber hinaus auf eine verstärkte und dauerhafte Kohärenz in Europa. Das angestrebte große Ziel, das auch das 7. FRP verfolgt, liegt in der Schaffung eines „Europäischen Forschungsraumes“, der im globalen Wettbewerb bestehen kann. So erstrebenswert dieses Ziel auch sein mag, es darf nicht dazu führen, dass die Mitgliedstaaten keine eigenständige Forschungs- und Bildungspolitik mehr betreiben können. Vielfalt und Kreativität sind ebenso wie ein gesunder Wettbewerb wesentliche Triebfedern der Forschung, die es zu erhalten und zu stärken gilt. Die Politik muss deshalb dafür Sorge tragen, dass so viel Kooperation wie möglich stattfindet, ohne dass die Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten und die Freiheit zu individueller Schwerpunktsetzung in Frage gestellt werden. Das 7. FRP wird über seine Laufzeit von 2007 bis 2013 mit insgesamt 54 Milliarden Euro ausgestattet sein. Die vorgesehenen Themenfelder decken die zukunftsträchtigsten und innovativsten Bereiche ab, z. B. Informations- und Kommunikationstechnologien, die Nanowissenschaften sowie die Forschung im Gesundheitsbereich. Die große Neuerung ist die Förderung der Grundlagenforschung. Zentrale Umsetzungsinstanz des Programms ist der Europäische Forschungsrat (EFR), der sich aus hochrangigen Wissenschaftlern zusammensetzt und autonom ist. Die Förderung erfolgt auf der Basis von Projektvorschlägen der Forscher, die ausschließlich nach dem Grundsatz der Exzellenz im Gutachterverfahren ausgewählt werden. Der beabsichtigte Wettbewerb zwischen Forscher-Teams auf europäischer Ebene soll größere Kreativität freisetzen und Europa für die besten Köpfe der Welt reizvoller machen. Man muss dem EFR einen guten Start bescheinigen, denn vor kurzem wurde ein herausragender Wissenschaftler, Prof. Dr. Ernst-Ludwig Winnacker, der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, zu seinem Generalsekretär ernannt. Seine umfassenden Kenntnisse der internationalen Forschungslandschaft und ihrer Bedürfnisse werden ihm dabei helfen, die richtigen Weichenstellungen vorzunehmen. Forschung in Europa, insbesondere das Bemühen um Forschungsgelder der Europäischen Union, ist ein Wettbewerb der Eliten. Erfolg wird haben, wer gemeinsam mit anderen Partnern ein hervorragendes Projekt vorlegt. Dabei muss er sich gegen eine Vielzahl von Konkurrenten beweisen. Die bayerischen Hochschulen sind im Wettlauf um die Fördergelder in den letzten Jahren immer erfolgreicher geworden: Im Jahr 2005 wurde mit fast 43 Millionen Euro ein Spitzenergebnis erzielt, das erneut deutlich über dem

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Ergebnis des Vorjahres lag. Es zeigt, dass Bayerns Hochschulen im europäischen Wettbewerb mithalten wollen und können. V. Vernetzung von Wissenschaft und Wirtschaft Die Zusammenarbeit und den Wettbewerb in Europa zu forcieren, ist ein wichtiges Zukunftsfeld der Forschungspolitik. Daneben ist es auf nationaler Ebene aber von entscheidender Bedeutung, die Unternehmen stärker mit der Forschung an Hochschulen und außeruniversitären Instituten zu vernetzen. Vor allem kleine und mittelständische Unternehmen, die das wirtschaftliche Rückgrat Deutschlands bilden, werden hierbei vom Staat zielgerecht unterstützt. Sie sind oftmals Vorreiter bei der Umsetzung von FuE-Ergebnissen in neue Produkte, Verfahren und Dienstleistungen. Forschung stimuliert wirtschaftliches Wachstum. Die Wege zwischen Forschung und Markterfolg verlaufen jedoch selten geradlinig, sondern sind ein dynamischer, interaktiver Prozess. Deshalb ist es schwierig, die Wirkung der Forschungsförderung mit Zahlen eindeutig zu messen. Dennoch zeigen viele Fälle: Der Nettoeffekt von Innovationen ist positiv. Beispiele verschiedenster Art machen zudem deutlich, dass öffentliche Förderung erst die positiven Effekte ausgelöst hat. So war Deutschland in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts noch Importeur von Lasertechnik. Der Maschinenbau erkannte das hohe Potenzial des Lasers als Werkzeug. Durch gezielte Forschungsförderung hat sich Deutschland so zu einem führenden Anbieter optischer Technologien entwickelt: Heute produzieren wir 40 Prozent aller für die Materialbearbeitung eingesetzten Laser. Allein der Umsatz von Laser produzierenden Unternehmen hat sich mehr als verzehnfacht und beträgt mittlerweile 1 Mrd. Euro im Jahr. Heute sind 110.000 Menschen in Deutschland bei Herstellern optischer Komponenten und Geräte beschäftigt. Mehr als 50.000 zusätzliche Arbeitsplätze sind in den letzten Jahren allein in diesem Bereich entstanden. Außerdem schaffen Laser Arbeitsplätze auf der Anwenderseite. Dazu zählt nicht zuletzt der Maschinenbau, denn eine moderne Maschine kann ihre Arme nur deshalb zielgenau bewegen, weil optische Systeme dafür sorgen, dass die Anpassung fehlerfrei gelingt. Nacharbeiten werden dadurch überflüssig, die Produktion wird preiswerter und in bester Qualität möglich. VI. Instrumente der Forschungsförderung Je nach Zielsetzung sind unterschiedliche Verfahren in der Forschungsförderung notwendig. Um die Effizienz der Förderung zu steigern, müssen wettbewerbliche Vergabeverfahren gestärkt werden. So müssen wir insbe-

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sondere die Projektförderung ausweiten. Denn sie schafft Wettbewerb unter den Forschern und kurbelt die Leistungsfähigkeit an; sie schweißt Wissenschaft und Wirtschaft eng zusammen und hat sich so in zentralen Bereichen zum Treibriemen für Innovationen entwickelt. Vor allem die Grundlagenforschung muss sich frei entfalten können. Die dafür nötigen Mittel werden den dort tätigen Organisationen deshalb von Bund und Ländern in erster Linie institutionell zur Verfügung gestellt. Der Anteil dieser Grundfinanzierung an den Gesamtmitteln der Forschungsorganisationen hängt dabei von ihrem Profil ab. Eine wichtige Rolle bei der Förderung erkenntnisorientierter Forschung spielt die von Bund und Ländern gemeinsam finanzierte Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). Sie vergibt ihre Mittel im Wettbewerb an die besten Projektvorschläge, insbesondere aus Hochschulen und aus Forschungsinstituten. Das sichert Effizienz und Qualität der geförderten Vorhaben. Besonders hervorzuheben ist die Förderung von Sonderforschungsbereichen (SFB) durch die DFG. Die Bewilligung solcher Sonderforschungsbereiche ist ein besonderes Gütezeichen für die Forschung an einer Universität. In Bayern gibt es derzeit 47 dieser begehrten und hochkarätigen Förderungen. Basis des deutschen Forschungssystems sind die Universitäten. Sie bilden den wissenschaftlichen Nachwuchs aus und stehen damit für die Einheit von Lehre und Forschung. Die Grundfinanzierung der Hochschulen, für die die Länder verantwortlich sind, wird zunehmend an Leistungsindikatoren geknüpft. Daneben spielen verstärkt Projektmittel aus der Wirtschaft und der EU eine Rolle, die zu stärkerer Anwendungsnähe und durch mehr Wettbewerb zu mehr Effizienz führen. Neben den Hochschulen verfügt Deutschland über eine historisch gewachsene und ausdifferenzierte außeruniversitäre Forschungslandschaft. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der gemeinsam von Bund und Ländern finanzierten Max-Planck-Gesellschaft (MPG) betreiben Grundlagenforschung auf der wissenschaftlichen terra incognita. Der Anteil der Grundfinanzierung liegt dementsprechend knapp bei 90 Prozent. Adolf von Harnack, der erste Präsident der heutigen Max-Planck-Gesellschaft, hat als Maxime für die Gründung eines Forschungsinstituts einst formuliert: „Man wähle einen hervorragenden Wissenschaftler und baue um ihn herum ein Institut“. Darin spiegelt sich die – sicherlich überspitzte – Überzeugung, dass neue Horizonte eröffnende Forschung am besten gedeiht, wenn hervorragende Forscherinnen und Forscher ihrer Neugier folgen können. Der Erfolg zeigt sich in der großen Zahl von Nobelpreisen, die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen der MPG erringen konnten: So ist beispielsweise

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der Träger des Physik-Nobelpreises 2005, Professor Theodor W. Hänsch, neben seiner Tätigkeit an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität Direktor am Max-Planck-Institut für Quantenoptik in Garching. Eine weitere wichtige Säule der deutschen Forschungslandschaft ist die Helmholtz-Gemeinschaft (HGF). Bei ihren 15 Zentren, die neben der Grundlagenforschung vor allem an Großgeräten auch längerfristige Themen der Daseinsvorsorge wie Gesundheit, Luft- und Raumfahrt, Energie, Verkehr und Umwelt als Kernaufgaben verfolgen, beträgt der Anteil der institutionellen Grundfinanzierung ebenfalls ca. 90 Prozent. In Bayern haben drei Helmholtz-Zentren ihren Sitz: das GSF-Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit GmbH, das Max-Planck-Institut für Plasmaphysik (IPP; zugleich MPI und HGF-Zentrum) sowie das Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. V. (DLR, Teilstandort). Bei der anwendungsorientiert arbeitenden Fraunhofer-Gesellschaft (FhG) hingegen hat die Grundfinanzierung nur einen Anteil von ungefähr 40 Prozent der Gesamtmittel. Diese dient zur Finanzierung von Vorlaufforschung, um den Fraunhofer-Instituten eine kontinuierliche Weiterentwicklung ihrer Kompetenzen zu ermöglichen und den Kontakt zur übrigen akademischen Welt zu erhalten. Da die Grundfinanzierung sich nach der Höhe der eingeworbenen Drittmittel richtet, besteht ein hoher Anreiz zur Einwerbung solcher Gelder. In Bayern unterhält die Fraunhofer-Gesellschaft neben ihrer Zentralverwaltung eigenständige Forschungsinstitute sowie verschiedene Außenstellen, Arbeitsgruppen und Anwendungszentren. Das fachliche Spektrum ist dabei außerordentlich vielfältig: Es reicht von der Mikroelektronik über die Lebensmitteltechnologie bis hin zum Patentwesen. Sehr unterschiedlich in ihrem Profil sind die Einrichtungen der LeibnizGemeinschaft (WGL). Sie umfassen die ganze Bandbreite von wissenschaftlichen Serviceeinrichtungen bis zu grundlagenorientierten Instituten. Entsprechend ist der Anteil der Drittmittel in den einzelnen Leibniz-Instituten unterschiedlich hoch. In Bayern befinden sich fünf Forschungseinrichtungen der WGL, darunter die beiden Forschungsmuseen Deutsches Museum (München) und Germanisches Nationalmuseum Nürnberg. Über die genannten Institutionen hinaus unterhalten der Bund und auch die Länder Ressortforschungseinrichtungen. Diese haben die Aufgabe, wissenschaftliche Grundlagen für die Entscheidungen und Aufgaben der Ministerien zu erarbeiten. Neben dieser Beratungsfunktion nehmen die Einrichtungen wissenschaftlich eingebundene, hoheitliche Aufgaben wahr und führen begleitende Vorlaufforschung durch. Durch ihre vornehmlich anwendungsorientierten Forschungsaktivitäten erweitern sie zugleich die wissen-

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schaftlichen Erkenntnisse zum Nutzen des Gemeinwohls. Ein Beispiel für eine solche Einrichtung ist die Bayerische Landesanstalt für Weinbau und Gartenbau (LWG) des Bayerischen Staatsministeriums für Landwirtschaft und Forsten. Der LWG in Würzburg obliegt in den Bereichen Gartenbau, Landespflege, Kellerwirtschaft, Weinbau und Rebenzüchtung die Förderung der Bodenfruchtbarkeit, der Pflanzenzüchtung, des umweltgerechten Pflanzenbaus einschließlich des Pflanzenschutzes und der Vermarktung durch anwendungsorientierte Forschung. VII. Cluster: Nucleus für Kooperationen In wissenschaftlich gereiften Gebieten liegen Erkenntnis und Anwendung oft nicht weit voneinander entfernt. Eine eindeutige Grenze zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung gibt es hier nicht. Damit die Wirtschaft die neuesten Forschungsergebnisse möglichst rasch aufgreifen und die Forscher die Fragen der Anwender berücksichtigen, kommt es darauf an, einen engen Kontakt zwischen akademischen Forschern und Anwendern herzustellen. Die Projektförderung von Bund, Ländern und EU unterstützt deshalb eine solche Zusammenarbeit zwischen Forschungsinstituten und Wirtschaft besonders. In Bayern verfolgen wir diese Zielsetzung mit der Förderung unserer Bayerischen Forschungsverbünde. Dabei handelt es sich um interdisziplinäre Netzwerke der vorwettbewerblichen Forschung. Die Verbünde widmen sich für einen begrenzten Zeitraum – meist drei Jahre – ausgewählten, zukunftsrelevanten Themen und beziehen anwendungsorientierte Problemstellungen in ihre Arbeit ein. In den Verbünden arbeiten jeweils Wissenschaftler aus mehreren bayerischen Hochschulen und in der Regel auch Vertreter der Wirtschaft zusammen. Der Schwerpunkt der Bayerischen Forschungsverbünde liegt in den Bereichen Life Sciences (Medizin, Gen- und Umwelttechnik), Nanowissenschaften, Neue Materialien, Informations- und Kommunikationstechnik sowie innovative Produktion. Eine kontinuierliche Zusammenarbeit zwischen Forschern und Praktikern, die über die Dauer eines einzelnen Projekts hinausgeht, lässt sich vor allem in regionalen Clustern erzielen. Ergebnisse der Innovationsforschung bestätigen: Regional gebündelte Exzellenz stimuliert ein innovationsfreundliches Klima. Das prominenteste internationale Beispiel dafür ist das Silicon Valley: Dort befindet sich eine Vielzahl von Forschungseinrichtungen und Unternehmen der IT-Branche auf engstem Raum. Die lokale Konzentration fördert den gegenseitigen Austausch und schafft ein spezielles soziales Klima. Denn hier sind Hochschulen und Forschungseinrichtungen sowie High-Tech-Unternehmen und Risikokapitalgeber eng miteinander verzahnt.

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Aus exzellenten Forschungszentren gehen High-Tech-Unternehmen hervor, die wiederum als Kondensationskeime für die Ansiedlung von neuen Unternehmen mit komplementären Kompetenzen in der Region wirken. Ein solches Zentrum wirkt wie ein Magnet, der weitere Ansiedlungen von Unternehmen und Einrichtungen hervorruft und so seine Anziehungskraft weiter verstärkt. Aus einem zunächst nur regional sichtbaren Zentrum kann so ein international bekanntes werden. Diese Erwartung haben wir an den Campus Martinsried-Großhadern im Südwesten von München. Er bildet das Herzstück des BiotechnologieStandorts Großraum München und ist schon heute weit über die Grenzen Deutschlands bekannt. Hier sind ein Großteil der naturwissenschaftlichen Fakultäten der Ludwig-Maximilians-Universität München einschließlich des Genzentrums, das Klinikum Großhadern der Universität München, Institute der Max-Planck-Gesellschaft und der GSF, eine große Anzahl an Biotechnologie-Unternehmen sowie das Innovations- und Gründerzentrum Biotechnologie (IZB) angesiedelt. VIII. Die Zukunft der Forschung Die Zukunft ist offen. Diese simple Weisheit gilt für die Forschung in ganz besonderem Maße. Denn Forschung fragt gerade nach dem, was wir noch nicht wissen. Viele gesellschaftliche Herausforderungen – etwa die Schaffung zukunftssicherer Arbeitsplätze oder die Bekämpfung von Krankheiten – sind ohne nachhaltige Forschung nicht zu bewältigen. Deshalb gilt vor allem für diesen Bereich: Wir müssen schon heute an das Morgen denken. In der Forschungspolitik müssen wir uns daher immer wieder fragen: • Haben wir wichtige Themen übersehen und gefährden somit die Innovationskraft unseres Landes im internationalen Wettbewerb? • Setzen wir auf die richtigen, zukunftsorientierten Themen und Forschungsschwerpunkte? • Trägt unsere Forschungsförderung zur Problemlösung in unserer Gesellschaft und auf diesem Globus bei? Wenn wir in Wirtschaft und Staat anhand dieser Leitfragen unser Handeln immer wieder überprüfen und an den nötigen Stellen nachjustieren, dann befinden wir uns auf dem richtigen Weg. Eine große Aufgabe für die Zukunft ist es, ein innovationsfreundlicheres Klima in Deutschland zu schaffen. Die allgemeine Wertschätzung für Forschung ist insgesamt noch zu gering. Nicht allgemeine Bedenken und Vorurteile, sondern Phantasie und Entschlossenheit sind gefordert, wenn es darum geht, Forschungsergebnisse für die Zukunft nutzbar zu machen. Wir

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müssen innovative Herausforderungen aktiv angehen. Für einen solchen Klimawandel brauchen wir die Zusammenarbeit von Politik, Wissenschaft und Wirtschaft. Denn wenn alle gemeinsam an einem Strang ziehen, können wir die Forschung in unserem Land optimal fördern und so die Innovationskraft Deutschlands für die Zukunft stärken.

Das Grundgesetz zwischen Stabilität und Veränderung* Von Peter Lerche Ich sammle einige Tortenstücke meiner Vorredner auf und verwandle sie in Brosamen. Von diesen lebe ich, aber in gekürzter Form. Rupert Scholz spricht in seinem schon mehrfach zitierten, aber nicht genug zitierbaren Buch „Deutschland – In guter Verfassung?“ dem Grundgesetz hohes Lob zu. In der Sache verneint er deutlich, dass sich Deutschland in guter Verfassung befände; daher sehe ich mit Herrn Isensee das Fragezeichen ausradiert, aber aus dem Grunde, den auch Herr Schäuble genannt hat: Scholz meint in dieser Richtung die eingetretene Situation und nicht das Grundgesetz als Normenwerk. Insofern versteht Scholz ausdrücklich seine Kritik an den eingetretenen Zuständen zugleich als „Werben“ für das Grundgesetz, dem „wieder mehr politisches und gesellschaftliches Gehör“ zu leihen sei. Wenn ein Staatsrechtslehrer mit so reicher politischer Erfahrung und Gestaltungskraft dem Grundgesetz einen solch schmucken und – modisch ausgedrückt: nachhaltigen – Lorbeerkranz flicht, dann ist dies für sich allein schon eine Art Politikum, ein lehrreiches Politikum. Natürlich sind von Scholz bei diesem Lorbeerkranzflechten zugleich die Reformmöglichkeiten, die das Grundgesetz von sich aus eröffnet, samt den schon vollzogenen Reformen des Grundgesetzes, mitbedacht. Dies zumal, als er ja höchstselbst an vielen dieser Reformen mitgewirkt und hierzu höchsteigene Formulierungen beigesteuert hat; darunter auch solche von höchstsympathischer Deutungshöchstweite, wie z. B. die Klausel von der „gesamtstaatliche(n) Verantwortung des Bundes“ in Art. 23 GG. Nur bösartige Gesellen, die nie zu Scholzens Füßen saßen oder in sonstiger Weise von ihm lernen durften, stören sich an den mit derlei Klauseln verbundenen Unklarheiten und daraus angeblich sprießenden Instabilitäten; in Wirklichkeit sichern solche elastischen Klauseln umgekehrt die Anpassungsfähigkeit des Verfassungsverständnisses und damit die Lebenskraft des Grundgesetzes, kurz: seine Stabilität – freilich nur in gewissen Grenzen; d.h. sie setzen auf die Hoffnung, * Dieser Beitrag wurde als Vortrag beim Abschiedssymposium für Rupert Scholz am 30. September 2005 gehalten.

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dass sie vernünftig gehandhabt werden – wie z. B. hier von sämtlichen Anwesenden. Auch sonst darf die Bedeutung der sprachlichen Form des Grundgesetzes wohl nicht überschätzt werden. Herr Isensee hat in seinem vor einiger Zeit gehaltenen faszinierenden Vortrag „Vom Stil der Verfassung“ zu Recht bemerkt: „die beispiellose Akzeptanz des Grundgesetzes gründet sicher nicht in seiner sprachlichen Form . . .“ Er hat dies näher begründet, sosehr er zugleich konstatierte, das Grundgesetz enthalte sich des modischen Jargons, der rasch gealtert wäre; eben deshalb erweise es sich über die Jahrzehnte hindurch als frisch und lebendig, habe wenig Patina angesetzt (wobei freilich zahlreiche der späteren Verfassungsänderungen brutale Stilbrüche darstellten). Die Stilfrage will ich nicht erneut aufwerfen, sondern die Frage der Stabilität in anderer Weise stellen; und zwar speziell dahin, ob das Grundgesetz nicht doch erhebliche Stabilitätsschwächen kennt, ja teilweise sogar ein höheres Maß an Stabilität gewissermaßen vortäuscht als es ihm tatsächlich zukommt und als es vielfach gesehen wird. Dazu fünf kurze Punkte. Erster Punkt: Naheliegt es zunächst allgemein zu sagen: Eine Verfassung, die diese Bezeichnung im Sinn einer normativen Grundordnung verdient, bedarf einer besonderen Portion an Stabilität. In dieser farblosen Abstraktheit ist das gewiss richtig. Bei der näheren Bemessung jener Portion an Stabilität, die das Grundgesetz auszeichnen soll, muss man nun aber doch eines sehen: Bei allen üblichen Beschwörungen seiner Heiligkeit, seiner Popularität (trotz weitgehender Unbekanntheit bei den Bürgern) und auch angesichts des ganzen Federwerks seiner prozeduralen und prozessualen Absicherungen ist zu sagen: Die wirkliche Bewährungsprobe hat das Grundgesetz bislang noch nicht bestanden. Dies insbesondere auch nicht dadurch, dass sich das Grundgesetz seinerzeit bei der Wiedervereinigung im Prinzip zur gesamtdeutschen Verfassung auszuweiten vermochte. So besonders erfreulich dieser Schritt auch war: Die entscheidende Bewährungsprobe besteht ein Verfassungswerk doch wohl erst dann, wenn es sich in Zeiten existentieller Not und Gefahr, etwa elementarer Wirtschaftskrisen, zu behaupten vermag. Eine solche scharfe Kost blieb dem Grundgesetz bislang erspart. Sollten künftig besonders ungünstige Konstellationen dieser Art eintreten, dann wäre es wohl zu viel erhofft, darauf zu vertrauen, dass die feinziselierte, scheinbar alles einberechnende Apparatur des Grundgesetzes – auch als eine in das europäische Räderwerk eingebundene – dass diese Apparatur schon für sich allein für den nötigen Grundrespekt sorgen würde. Das ist vielleicht doch mehr Hoffnung als Sicherheit. Auch etwa das Bundesverfassungsgericht lebt aus solchem Grundrespekt, ersetzt ihn aber nicht. Dieser Grundrespekt bezieht sich sowohl auf die Achtung des Grundgesetzes durch

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die hoheitlichen Organe als auch auf das Vertrauen der Bürger und deren Achtung. Was man dennoch mit vorsichtiger Zuversicht vielleicht sagen kann, ist: Ausgestaltung und Handhabung des Grundgesetzes können ihrerseits mehr als nur ein bescheidenes Scherflein dazu beitragen, dass existentielle Krisen möglichst schon im Ansatz vermieden werden. Eine Garantie gegen den Eintritt zutiefst kritischer Situationen sind sie aber nicht: Letztlich bleibt die Frage, ob eine Krise derartigen Ausmaßes mit dem Instrumentarium des Grundgesetzes beherrscht werden kann. Ein zweiter Punkt: Es kommt hinzu, dass die Stabilität, die uns das Grundgesetz verspricht, durch mehrere eigentümliche Faktoren geschwächt wird. Zu diesen stabilitätsschwächenden Komponenten zählen manche externen Mächte, wobei sich die Macht der Medien – ich darf etwa an den Beitrag Herrn Schäubles in der Festschrift für Mahrenholz erinnern – in gewissen Grenzen ihrerseits auf das Grundgesetz berufen kann, allerdings gedacht als eine nicht homogene Macht: eben dieser vom Grundgesetz vorausgesetzte Mangel an Homogenität wird aber durch manche medienübergreifende Gemeinsamkeiten zunehmend in Frage gestellt – Gemeinsamkeiten nicht so sehr in der unmittelbaren politischen Aussage, sondern in der Art der Präsentation; wie z. B. durch den „zunehmenden Magazin-Charakter von Nachrichtensendungen, deren Qualität weniger nach dem Informationsgehalt, sondern nach dem Unterhaltungswert beurteilt wird“ (Schäuble, a. a. O.). Zu den stabilitätsschwächenden Komponenten zählen aber auch Aussagen des Grundgesetzes selbst; so etwa der ebenfalls von Herrn Schäuble heute genannte, aber in anderer Weise herangezogene Schlussartikel des Grundgesetzes, also Art. 146. Dessen im Zuge der Wiedervereinigung veränderte Fassung lässt bekanntlich die Gültigkeit des Grundgesetzes insgesamt an dem Tage entfallen, an dem „eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“. Man weiß, wie überaus unterschiedlich diese Bekundung verstanden wird. Auch Scholz hat sie im Kommentar Maunz/Dürig unter die Lupe genommen und einen klaren Standpunkt bezogen. So klar sein Standpunkt, so unklar dieser Artikel. Zahlreiche sonstige Interpretationen wuchern. Sogar Maunz/Dürig kann sie nicht schlicht totschlagen, leider. Sie reichen bis zur wolkenkratzerhaften Architektur eines angeblichen Auftrags zur Neuverfassung Deutschlands; sie lösen sich teilweise von der historischen Bindung an die Wiedervereinigungsphase und flackern immer wieder dann auf, werden umstürzende Situationen als möglich oder sogar als aktuell bevorstehend ins Auge gefasst; genauer gesagt:

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Situationen, bei denen angenommen wird, das Rüstzeug des Grundgesetzes reiche nicht mehr aus, um der neuen Grundsituation Herr zu werden; etwa in Richtung Europa (worauf Herr Schäuble schon aufmerksam gemacht hat), mag dies zur Zeit auch in den Hintergrund getreten sein, so dass man sich mit der Formulierung von Scholz: „Europäisierung der Verfassung im Prozess der Verfassung Europas“ gegenwärtig begnügen kann, gekrönt durch die heutigen Ausführungen von Herrn Streinz. Zaubert man sich aber einen Marsbewohner vor Augen, der erstmals den Grundgesetz-Text liest und daher auch den Art. 146, mag sich der Marsbewohner verwundert die Augen reiben (falls er solche hat) und sich fragen, warum ausgerechnet eine Verfassung auf ihr eigenes mögliche Ende hinweist, d. h. auf die Selbstverständlichkeit, dass sie durch eine neue Verfassung kraft verfassunggebender Gewalt abgelöst werden kann. Unser Marsbewohner mag sich überdies erstaunt fragen, wie denn unter diesem Aspekt von offizieller Seite die notwendigen prozeduralen Vorbereitungen für die Schaffung einer genuin neuen Verfassung getroffen werden könnten, ohne das in Art. 20 Abs. 4 GG anerkannte Widerstandsrecht aufzustacheln. Jedenfalls kann man bei der Bewertung der Stabilität des Grundgesetzes kaum vorbeigehen an der Existenz dieser Vieldeutigkeit des Schlussartikels samt dem hier gespeicherten Verführungspotential gerade bei existentiellen Situationen. Statt schön dekorierter Schlussbaustein, tückisches Munitionsdepot. Herr Isensee sprach einmal von einer Zeitbombe. Die Möglichkeit zur Scheinlegalisierung eines wirklichen Umbruchs hat wohl stets etwas Verführerisches an sich. Das sind Sirenenklänge unserer Verfassung. Man sollte daher wohl wie Odysseus sie zwar hören, sich aber zugleich an einen Mast binden, d.h. an die Kommentierung durch Scholz. Das müsste genügen. Davon zu unterscheiden ist eine andere, aber immerhin verwandte Frage: Ob nicht völlig neue „Lagen“ (im Sinn Herbert Krügers) eintreten könnten, zu deren Bewältigung das Grundgesetz von vornherein nicht gedacht war und nicht imstande ist, so dass möglicherweise der Boden seiner Geltung, d.h. seine legitime Aussagekraft, tatsächlich schwindet. Das aber ist keine Frage der Stabilität nur des Grundgesetzes, sondern jeder Verfassung; sie ist zudem eine Frage, die hier nicht einmal annähernd in ihrer Tiefe ausgemessen werden könnte. Sie bereitet zumindest außerordentliche Abgrenzungsschwierigkeiten. Als dritter Punkt: Speziell zum Grundgesetz zurückkehrend mag man sich unter dem Eindruck möglicher existentieller Gefährdungen zur Beruhigung sagen: Ohnehin denke niemand daran, dasjenige, was Scholzens Schüler Uhle als Kernidentität bezeichnet, anzutasten: nämlich die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze, abgesichert durch Art. 79 Abs. 3 GG.

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In der Tat schien eine solche Entwicklung noch bis vor nicht langer Zeit als höchst unwahrscheinlich. Aber auch ganz abgekettet von Art. 146 GG muss man ja doch wohl sehen, dass seither sogar im Verständnis des Art. 1 Abs. 1 GG tiefe Unsicherheiten, schwebende Wolkenzonen undurchsichtiger Art, eingeflossen sind; mit dem Potential nur spekulativ erfassbarer weiterer Veränderungen. Das scheinbar zutiefst Sichere hat nicht nur zu schwanken begonnen, es entlarvt sich vielmehr zunehmend als zutiefst unsicher. Die realen Anlässe sind bekannt; sie entwickeln sich etwa in der Materie der Humangenetik, aber keineswegs in ihr allein. In meiner Torheit habe ich 1986 in einem sehr gelehrten Vortrag zur Humangenetik, der in einem leider von Scholz mitherausgegebenen Sammelband veröffentlicht ist (Lukes/Scholz, Rechtsfragen der Gentechnologie), den Bereich der Menschenwürde prinzipiell auf jene Bereiche begrenzt gesehen, die sich auf selbstverständliche Übereinstimmung der Rechtsgenossen gründen. Ausnahms- und Bedingungslosigkeit des Art. 1 Abs. 1 GG seien nur angesichts dieser Selbstverständlichkeit des Konsenses der Vernünftigen durchzuhalten. Darin haben in der weiteren Gegenwart einige Autoren und ähnlich auch Böckenförde einen Vorläufer erblicken wollen jener Minimalisierung des durch Art. 1 GG Geschützten, die sich heute ausbreite und gefährlich sei. Aber war jene Torheit wirklich so unbeschreiblich, war sie nicht wenigstens beschreiblich? Ich wollte zum Ausdruck bringen, dass Menschenwürde einen Schutzbereich bezeichne, der als selbstverständlich auch dann vorbehaltlos gelten müsste, wenn es einen Art. 1 Abs. 1 im Text des Grundgesetzes nicht gäbe, wie in anderen rechtsstaatlichen Verfassungen auch. Nur durch Partikularethiken Anerkanntes ist nicht selbstverständlich in diesem Sinn. So war das damals gemeint. In der Gegenwart erleben wir allerdings, dass manches, was viele als in diesem Sinn selbstverständlich empfunden haben mögen, in wichtigen Teilbereichen zerbricht. Damit zerbricht zugleich eine durch den Text des Grundgesetzes vorgespiegelte Stabilität und dies in einem elementaren Bereich. Vierter Punkt: Es liegt nahe, das Augenmerk ebenso auf sonstige sogenannte Fundamentalnormen des Grundgesetzes zu richten. Also vor allem auf jene ersten drei Absätze des Art. 20, deren Grundsatzgehalt auch durch Art. 23 Abs. 1 GG mit besonderer Stabilität ausgestattet zu sein scheint: demokratischer und sozialer Bundesstaat, die Elemente der Gewaltenteilung und weiteres. Angesichts der außerordentlichen Formungsweite dieser Termini wandeln sie sich aber – überspitzt gesagt – eher zum

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bloß Stichwortartigen im Sinn der Akzentuierung von Wichtigem. Sind sie außerhalb von Extremzonen wirklich viel mehr als Stichworte, geboren aus historischen Erfahrungen? Sind sie wirklich mehr als Eingrenzungen, die nicht ohne weiteres für zukünftige Problemlagen voll brauchbar sind? – Sieht man dies eher pessimistisch, dann täuscht das Grundgesetz auch in diesen Beziehungen dieses sein Fundament als besonders stabil vor, es täuscht eine besondere konkrete „Beweisbarkeit“ vor, wiewohl es sogar vor fast erdbebenhaften Bewegungen nicht unbedingt gefeit ist, d.h. vor Neuverständnissen erheblichen Ausmaßes. Allenfalls drei Anstrengungsgruppen mögen in ihrem Zusammenwirken geeignet sein, dem entgegenzuwirken, d.h. Stabilität einigermaßen zu sichern. Erstens: Kontinuierliche Überprüfungen des Gegebenen mit der Möglichkeit von Revisionen. Auf der Staatsrechtslehrertagung 2004 etwa unterstrich Hans Zacher in der Diskussion, die Verwirklichung des Sozialstaatsprinzips bedürfe immer wieder einer Revision; das Sozialstaatsprinzip müsse dafür ebenso offen sein, wie es neu interpretiert werden müsse, um auch unter den neuen Umständen wegleitend sein zu können. Er stimmte dabei grundsätzlich dem Referat von Herrn Pitschas („Die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme“) zu. Zweite mögliche Stabilitätshilfe: Verlagerung der Gewichte auf das konkrete Instrumentarium, das das Grundgesetz bietet, um jenen Stichworten gerecht werden zu können. Damit eröffnet sich die fortdauernde Notwendigkeit des Zusammensehens der einzelnen Teile dieses Instrumentariums; vor allem aber auch die Notwendigkeit des Vertrauensschutzes im Sinn der Kontinuitätswahrung. Auf die Bedeutung des gebotenen Vertrauensschutzes bei der Anpassung von Begünstigungen im Rahmen des Sozialstaats wies die Diskussionsbemerkung von Peter Badura auf der erwähnten Staatsrechtslehrertagung hin. An dritter Stelle ist einzurechnen, dass zur Stabilität der Verfassung ein Mindeststandard an Durchsichtigkeit gehören dürfte. Wievielen Gegenkräften hat in dieser Beziehung der arme Text des Grundgesetzes standzuhalten! Er spiegelt oft eine Schlichtheit, die inhaltlich alles andere als stabil ist. Man kann hier ein Schlagwort an das andere reihen: von überbordender Politikverflechtung bis zu grandiosen Verlusten an Verantwortungsklarheit oder zu judikativen Umformungen, wie etwa phantasievollen Erfindungen ungeschriebener Tatbestandsmerkmale. Das vielleicht tollste Stück, das aber zugleich wohl unvermeidlich ist, dürfte die weitgehende Überlagerung des Verfassungstextes durch den Vorrang des europäischen Rechts sein; eine Überlagerung, die zwar dem Klarheitsanspruch des Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG in formal korrekter Weise entgeht, im Effekt aber doch das Prinzip der

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Durchsichtigkeit in sein Gegenteil verkehrt. Heilen lässt sich dies wohl nicht. Fünfter und letzter Punkt: Wichtig für die Stabilität des Grundgesetzes ist – bis zu einem gewissen Grade – das Funktionieren der Gesetzgebung. Ins Gelehrte übersetzt: Funktionsfähigkeit und Konstanz des Instruments des formellen Gesetzes und damit eines handhabbaren Gesetzesbegriffs. Dieser aber ist – wie Scholz in allem Glanze der Wahrheit bemerkt – „in eine deutliche und schwere Krise abgeglitten“. Die Gründe sind bekannt. Auch Herr Huber hat mitgewirkt, sie aufzuhellen. Dazu kommen tröstlicherweise aber auch neue Aufgaben des Gesetzes; vor allem in Richtung besonders komplex gewordener Verwaltungsbereiche. Das erkennt man seit einiger Zeit wohl genauer als früher. Manche Autoren sprechen z. B. von „Qualitätssicherung“ als neu und beherrschend hervortretende Aufgabe des einfachen Gesetzes. Die damit verbundenen Chancen mögen die Gesamtentwicklung in der Tat nicht ausschließlich als Verfall, nicht ausschließlich negativ bewerten lassen. Auf Notwendigkeit und positive Wirkung einer – wie er sagt – „disziplinierenden Gesetzesfolgenabschätzung“ etwa wies Scholz speziell hin. In Verfassungshöhe erweist sich das wohl als Stabilitätsgewinn. Die Fülle dieser Veränderungen auf der Ebene der Gesetzgebung muss jedenfalls wichtige Etagen des Grundgesetzes selbst in ihren Bann ziehen. Denn das Instrument des Gesetzes wird vom Grundgesetz an zahlreichen Stellen eingesetzt: gewissermaßen als Trumpfkarte zum sicheren Erreichen auch von Stabilität. Verliert diese Trumpfkarte vielfach das Trumpfhafte, wird jene Garantie an Stabilität brüchig. Sie wird zur bloßen Hoffnung. Gelingt es wirklich, dem Instrument des Gesetzes neue Funktionen zu erschließen oder alte wiederzubeleben, mag immerhin solche Hoffnung Nahrung erhalten. Für Hoffnung aber (und auch für Nahrung) ist Herr Scholz glücklicherweise immer zu haben! Und darüber hinaus: Scholz selbst ist und bleibt grundstabil; das aber ist mehr als nur eine Hoffnung, das ist eine Garantie, eine ihrerseits stabile Garantie – auf sie und damit auf ihn kann man sich verlassen.

Recht und Politik: Rechtsgelehrte im Deutschen Bundestag Von Volker Kauder I. Einleitung In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland repräsentieren diejenigen Mitglieder des Deutschen Bundestages, die vor, während oder im Anschluss an ihre wissenschaftliche Tätigkeit als Rechtsgelehrte den Weg in die aktive Politik gefunden haben – eindrucksvoll die Einheit von Geist, Recht und Politik. Als „politische Professoren“ haben sie den Ordnungsrahmen der Bundesrepublik Deutschland wesentlich mitgeprägt und immer wieder herausragende Ämter in Parlament, Regierung, Verwaltung und Rechtsprechung bekleidet. Ein Musterbeispiel für den Typus des „politischen Professors“ ist Rupert Scholz, dem diese Festschrift gewidmet ist und an dessen politisches und wissenschaftliches Wirken sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion mit Dank und hoher Wertschätzung erinnert. Mir wurde Rupert Scholz ein guter Freund und bis in die aktuelle Zeit hinein ein verlässlicher Ratgeber. Die „politischen Professoren“ haben durch ihre Persönlichkeit und Präsenz im öffentlichen Leben sowie durch ihr literarisches und wissenschaftliches Werk das gesellschaftliche und politische Leben in Deutschland beeinflusst und mitgeprägt. Überwiegend unterhielten die Rechtsgelehrten auch während der politischen Tätigkeit enge Verbindung zu ihrer Fakultät, zum Teil mit weitergehenden Lehrverpflichtungen. Ihre Abhandlungen sind geprägt durch die politische Praxis. Diese Symbiose aus Theorie und Praxis ist von großem Wert: für die Politik wie die Wissenschaft. Sie beweist, dass politische Praxis und rechtswissenschaftliche Theorie kein Gegensatz, sondern zwei Aspekte ein und derselben Sache sind. Beide sind der gleichen Autorität untergeordnet sind: dem Recht. Die zumeist bestehende Möglichkeit der Rückkehr in die universitäre Lehre gewährt zudem die wertvolle Unabhängigkeit, um als Parlamentarier auch unbequem sein zu können. Die Auswahl der nachfolgend dargestellten Rechtsgelehrten im Deutschen Bundestag ist nicht vollständig, sondern exemplarisch und erstreckt sich auf Universitätsprofessoren, die über ihre Tätigkeit an der Hochschule und im Bundestag hinaus durch ihre Persönlichkeit und Präsenz im öffentlichen Le-

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ben sowie durch ihr literarisches und wissenschaftliches Werk das gesellschaftliche und politische Leben in Deutschland wesentlich beeinflusst und mitgeprägt haben. Allesamt nahmen sie die Herausforderung an, die Lehrkanzel gegen den mitunter Mühsal beladenen Verhandlungstisch einzutauschen und damit die Rechtstheorie auf den Prüfstand der politischen Wirklichkeit zu stellen. II. Rechtsgelehrte1 Carlo Schmid (MdB 1949–1972, SPD): Die Reihe bedeutender Rechtsgelehrter im deutschen Bundestag beginnt mit einer Persönlichkeit, die die Bundesrepublik in ihren Anfängen entscheidend mitgeprägt hat. Die Komplexität der Persönlichkeit Carlo Schmids2 und seine Rolle im demokratischen Nachkriegsdeutschland entzieht sich jeder einfachen Charakterisierung. Er war Jurist, Vater des Grundgesetzes – zugleich Publizist, und in der Verbindung beider Metiers auch charakterisiert als „Homme de lettres et de normes“, engagierter Reformpolitiker, Bundesminister und Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Der im Südwesten Frankreichs geborene, in Tübingen und Frankfurt studierte Staats- und Völkerrechtler war in besonderer Weise dafür prädestiniert, die ersten Schritte der Bundesrepublik im Geflecht der Alliierten Kontrollgewalt entscheidend mitzuprägen. Als Professor für Öffentliches Recht und Völkerrecht an der Universität Tübingen (1946 bis 1953) konnte er selber am besten einschätzen, welche innen- und außenpolitischen Spielräume der wiedererstehenden Republik zur Verfügung standen. Als Präsident des Staatssekretariats für die französische Besatzungszone und Präsident der provisorischen Regierung von Württemberg-Hohenzollern hatte er nach dem Krieg großen Anteil am Aufbau dieses Landes, das er beim Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vertrat. Der Sozialdemokrat Carlo Schmid nahm als Vorsitzender des Hauptausschusses sowie Mitglied des Organisationsausschusses und des Ausschusses für die Präambel und die Menschenrechte des Parlamentarischen Rates in den Jahren 1948/49 großen Einfluss auf die Gestaltung des Grundgesetzes 1

Zu den nachfolgenden biographischen Angaben siehe insbes. Vierhaus, Rudolf und Herbst, Ludolf (Hrsg.), Biographisches Handbuch der Mitglieder des Deutschen Bundestages 1949–2002, München 2002; sowie Munzinger Archiv online. 2 Zur Person Carlo Schmids u. a.: Stammen, Theo, Carlo Schmid, in: Bernecker, Walther L./Dotterweich, Volker, Persönlichkeit und Politik in der Bundesrepublik Deutschland. Politische Portraits, Band 2, Göttingen, 1982, S. 147–159; Beise, Marc, Ein geistreicher Jurist: Carlo Schmid, NJW 1992, S. 1288 ff.; Weber, Petra, Carlo Schmid 1896–1979. Eine Biographie, München 1996; Hirscher, Gerhard, Carlo Schmid und die Gründung der Bundesrepublik. Eine politische Biographie, Bochum 1986.

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und trat für dessen freiheitlich demokratische Ausrichtung ein. Die Unbedingtheit des Grundrechtskatalogs, die internationale Offenheit des Grundgesetzes, das konstruktive Misstrauensvotum und die Abschaffung der Todesstrafe gehen maßgeblich auf Carlo Schmid zurück.3 Sein enormer Fundus an Staats- und Völkerrechtskenntnissen gepaart mit schöpferischer Phantasie und rhetorischer Überzeugungskraft konnten sich bei dem großen Verfassungswerk voll entfalten. Insbesondere jene Verfassungsbestimmungen, mit denen erstmals im deutschen Verfassungsrecht Regeln des Völkerrechts durch die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu bindenden Bestandteilen der deutschen Verfassung wurden, tragen die Handschrift des erfahrenen Völkerrechtsexperten.4 Fast ein Viertel Jahrhundert (1949 bis 1972) gehörte Carlo Schmid als Abgeordneter der Stadt Mannheim dem Deutschen Bundestag an, mehr als 20 Jahre als Vizepräsident (1949–1966/1969–1972). Aufgrund seines außen- und europapolitischen Engagements war er 1949 bis 1953 Vorsitzender und 1953 bis 1966 stellvertretender Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses. Sein europapolitisches Engagement spiegelt sich in zahlreichen europäischen Mitgliedschaften wieder. So war er Mitglied der deutschen Delegation des Europarates und der Versammlung der Westeuropäischen Union, deren Präsidentschaft er von 1963 bis 1966 innehatte. Während der großen Koalition (1966–1969) übernahm Carlo Schmid das Amt des Bundesratsministers, nach eigener Einschätzung eine Art Außenminister des Innern. Als Koordinator der deutsch-französischen Beziehungen (1969–1979) blieb er bis zu seinem Tod Brückenbauer zwischen den Menschen und Völkern, die sich in den Weltkriegen noch feindlich gegenüberstanden.5 Der universitären Lehre blieb Carlo Schmid auch während seiner parlamentarischen Tätigkeit als Ordinarius für politische Wissenschaften (1953–1966) an der Universität Frankfurt am Main und darüber hinaus als leidenschaftlicher akademischer Lehrer auch nach seiner Emeritierung eng verbunden. Wilhelm Laforet (MdB 1949–1953, CSU): Die Verwaltungslaufbahn steht am Anfang des beruflichen Lebens Wilhelm Laforets. Von 1908 bis 1927 – unterbrochen durch die Teilnahme am ersten Weltkrieg – war er über fünfzehn Jahre zunächst im bayerischen Verwaltungsdienst tätig, bis er 1927 3

Hirscher, Carlo Schmid (Fn. 2), S. 216 ff. Ferdinand, Horst, Schmidt, Carlo, in: Baden-Württembergische Biographien, Band I, Stuttgart 1994, S. 330. 5 Möller, Horst, Carlo Schmid, Frankreich, Europa, in: Nach-Denken. Carlo Schmid und seine Politik, Wissenschaftliches Symposion am 2. Dezember 1996 aus Anlass des 100. Geburtstages von Professor Dr. Carlo Schmid, hrsg. von der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Zusammenarbeit mit der Carlo-Schmid-Stiftung, Berlin 1997. 4

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vom Staatsdienst in die akademische Laufbahn wechselte und eine Professur für deutsches und bayerisches Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Würzburg übernahm. Diese nahm er bis zu seiner Emeritierung 1951 wahr. Nach dem Krieg war Laforet eines der Gründungsmitglieder der CSU und Mitglied des von den amerikanischen Militärbehörden eingesetzten Ausschusses für Verwaltungsrecht in Heidelberg sowie Sachverständiger im vorbereitenden Verfassungsausschuss von Baden-Württemberg. Der bayerische Rechtsprofessor zog 1946 in den bayerischen Landtag ein. Als Vertreter der CSU wirkte er im Parlamentarischen Rat an der Ausarbeitung des Grundgesetzes mit. In den die Bund-Länder-Beziehungen betreffenden Fragen trat er als strenger Sachwalter für die föderalistischen Interessen ein.6 Nach Gründung der Bundesrepublik gehörte Laforet 1949 bis 1953 dem Deutschen Bundestag an. In der Phase grundlegender gesetzlicher Weichenstellungen gestaltete der Staatsrechtslehrer in der ersten Wahlperiode als Vorsitzender des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht die ersten Schritte der Bundesrepublik entscheidend mit. Eduard Wahl (MdB 1949–1969, CDU): Der Titel der dem Zivilrechtler Eduard Wahl zum siebzigsten Geburtstag gewidmeten Festschrift „Rechtswissenschaft und Gesetzgebung“7 zeigt die bestimmenden Elemente seines Engagements in Wissenschaft und Politik. Als Wissenschaftler, Mitglied des Bundestages, Mitglied der Versammlung der Westeuropäischen Union und der Beratenden Versammlung des Europarates (1953–69), deren Vizepräsident er 1966 wurde, sowie als Vorsitzender der Gesellschaft für die Vereinten Nationen hat Eduard Wahl einen wissenschaftlich und politisch bedeutenden Beitrag für den Aufbau der Bundesrepublik Deutschland geleistet. Nach einer ersten Professur in Göttingen (1935) folgte er im Jahre 1940 dem Ruf auf den Heidelberger Lehrstuhl für Zivilrecht und Rechtsvergleichung. Unterbrochen durch Kriegsteilnahme und Gefangenschaft nahm er nach Kriegsende seine Tätigkeit in Heidelberg wieder auf und wurde Direktor des Heidelberger Instituts für ausländisches und internationales Privat- und Wirtschaftsrecht. Sein Hauptarbeitsgebiet war die Erforschung des französischen Rechts und – in der Tradition seines großen Lehrers Ernst Rabel, dem bedeutendsten deutschen Rechtsvergleicher des 20. Jahrhunderts – das Fach Rechtsvereinheitlichung, insbesondere des Kaufrechts. Ihm gelang auf diese Weise ein menschlicher und wissenschaftlicher Brückenschlag nach Frankreich. 6

Lange, Erhard H. M., Gestalter des Grundgesetzes. Die Abgeordneten des parlamentarischen Rates, Brühl 1999, S. 88. 7 Müller, Klaus (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Gesetzgebung. Festschrift für Eduard Wahl zum siebzigsten Geburtstag am 29. März 1973, Heidelberg 1973.

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Als Abgeordneter des Wahlkreises Heidelberg gehörte der Mitbegründer der Heidelberger CDU zwanzig Jahre dem Deutschen Bundestag an (1949–1969). Er war u. a. im Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten, Kulturpolitik, Rechtswesen und Verfassungsrecht engagiert. Im Rechtsausschuss des Bundestages und in der Rechtskommission der Europäischen Versammlung hat er viele große Gesetzgebungsvorhaben wie das Strafrechtsänderungsgesetz 1950, das Saarstatut und den Beitritt Deutschlands zum Brüsseler Vertrag und Nordatlantikvertrag entscheidend mitgestaltet.8 Franz Böhm (MdB 1952–1965, CDU): „Architekt der Freiheit, Rechtslehrer, Parlamentarier und Moralist“ – lautet die Überschrift eines Artikels zum 80. Geburtstag von Franz Böhm9. Als einer der Väter der sozialen Marktwirtschaft war Böhm wichtiger Mittler zwischen Politik und Wissenschaft in der Vor- und Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Franz Böhm agierte viele Jahre an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik. Als Dozent, Professor und Rektor in Jena, Freiburg und Frankfurt sowie langjähriges Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft, Hessischer Minister sowie Leiter der Delegation für die Wiedergutmachungsverträge mit Israel. Nach dem Studium in Freiburg – unterbrochen durch freiwillige Teilnahme am ersten Weltkrieg – promovierte und habilitierte sich Franz Böhm mit seinem bedeutenden Werk „Wettbewerb und Monopolkampf“,10 dessen theoretische Grundlagen die deutsche Wirtschaftsgeschichte durch die ordoliberale Prägung der Sozialen Marktwirtschaft entscheidend geprägt hat. Die Wirkungen von Monopolen hatte Franz Böhm von 1925 bis 1932 bereits im Referat „Kartelle“ des Reichswirtschaftsministeriums in ihren tatsächlichen Auswirkungen kennen gelernt. Sein theoretischer Ansatz hat eine realisierbare und rechtsstaatlich beherrschbare Wirtschaftsverfassung zum Ziel,11 die dem Staat die Aufgabe der Wettbewerbsbewahrung und -sicherstellung zuweist.12 Als Vertreter der Freiburger Schule, für die die Namen Franz Böhm und Walter Eucken stellvertretend stehen, leistete er die geistigen Vorarbeiten für eine neue deutsche Währungs-, Wirtschafts- und Sozialpolitik. 8 Reinhart, Gert, Bibliographie der Veröffentlichungen von Eduard Wahl, in: Festschrift für Eduard Wahl (Fn. 7), S. 501 ff. (Bundestag), S. 503 ff. (Beratende Versammlung des Europarates). 9 So die Überschrift eines Artikels zum 80. Geburtstag von Franz Böhm, von Hans-Herbert Götz, in FAZ 12.2.1975. 10 Böhm, Franz, Wettbewerb und Monopolkampf. Eine Untersuchung zur Frage des wirtschaftlichen Kampfrechts und zur Frage der rechtlichen Struktur der geltenden Wirtschaftsordnung, Berlin 1933. 11 Grosseketter, Heinz, Franz Böhm als Protagonist einer Ökonomischen Theorie der Gesetzgebungslehre, Volkswirtschaftliche Diskussionsbeiträge, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Beitrag 217, Münster 1995. 12 Zieschang, Tamara, Das Staatsbild Franz Böhms, Stuttgart 2003, S. 95.

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1953 trat der Wissenschaftler Böhm als CDU-Bundestagsabgeordneter in die aktive Politik ein. Dieser Schritt beruhte auf der tiefen Überzeugung, dass die politische Abstinenz des gebildeten Bürgertums die Weimarer Demokratie zu Fall und den Nationalsozialismus an die Macht gebracht hatte.13 Wirtschaft und Wiedergutmachung wurden die beiden Felder, in denen Böhm im Nachkriegsdeutschland prägend wirkte. Von 1944 bis 1965 widmete sich Franz Böhm als stellvertretender Vorsitzender des Wiedergutmachungsausschusses der gesetzlichen Regelung der Entschädigung von Opfern des Nationalsozialismus. Als Parlamentarier (bis 1965) kämpfte er mit Ludwig Erhardt für das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen und war einer der maßgebenden Akteure bei dessen Einführung. Mit seinem berühmten Zitat „Der Wettbewerb ist das großartigste und genialste Entmachtungsinstrument der Geschichte“14 umriss er die gesellschaftspolitische Dimension des Wettbewerbs. Franz Böhm sah sich als Jurist in der Lage, eine geistige Brücke zwischen Nationalökonomen und Politikern zu schlagen und die von der Wirtschaftsverfassung geschaffene herrschaftsfreie Sphäre von Wettbewerbsprozessen in die politische Vorstellungswelt zu integrieren.15 Wesentliche Aspekte einer Wettbewerbsordnung und des Rechtsstaatsprinzips im Sinne Franz Böhms finden sich in der Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland wieder. Böhms Arbeiten zu den Auswirkungen von Kartellen und Monopolen auf den Markt und zur Ausgestaltung des Kartellrechts wirken auch im europäischen Recht fort und haben mit dem Wettbewerb als Ordnungssystem Eingang in die römischen Verträge gefunden.16 Die theoretische Konzeption der Freiburger Schule und insbesondere das Denken von Franz Böhm haben damit eine große Wirkung auf die praktische Politik ausgeübt.17 Wie die Mehrheit der Rechtsgelehrten, die zu Parlamentariern wurden, wusste auch Franz Böhm die weiter bestehende enge Verbindung zu seiner Fakultät zu schätzen und blieb Universität und Studenten bis ins hohe Alter verbunden. Die Frankfurter Universität bleibe seine Heimat, so Böhm 1960 in einer Dankesrede anlässlich eines Festaktes, die man gerade als in die 13 Blumenberg-Lampe, Christine, Franz Böhm (1895–1977), in: Buchstab, Günter/ Kaff, Brigitte/Kleinmann, Hans-Otto, Christliche Demokraten gegen Hitler, 2004, S. 108, 112. 14 Böhm, Franz, Die Bedrohung der Freiheit durch private ökonomische Macht in der heutigen Gesellschaft, in: Universitas, 1963, S. 46. 15 Grosseketter, Franz Böhm (Fn. 11), S. 9. 16 Zieschang, Das Staatsbild Franz Böhms (Fn. 12), S. 220. 17 Biedenkopf, Kurt, Erneuerung der Ordnungspolitik, in: Wirtschaftsordnung als Aufgabe. Zum 100. Geburtstag von Franz Böhm, hrsg. von der Ludwig-Erhard-Stiftung, Krefeld 1995.

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Politik Verschlagener brauche, „um Stöße und Püffe vertragen zu können, die mit einem solchen Gewerbe verbunden sind“18. Hans Furler (MdB 1953–1972, CDU): Als einer der „Väter Europas“ hat Hans Furler durch herausragende Ämter im transnationalen Kräftespiel die Anfänge des Europäischen Einigungsprozesses entscheidend geprägt. Nach einer Karriere als Rechtsanwalt und Wissenschaftler, die ihn nach wettbewerbsrechtlicher Habilitation zur außerplanmäßigen Professur für gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht an die technische Universität Karlsruhe (1940) und im Jahre 1950 an die Universität Freiburg führte, begann die parlamentarische, außenpolitische und europäische Karriere Hans Furlers mit seiner Wahl in den deutschen Bundestag im Jahre 1953. Diesem gehörte Hans Furler fast zwanzig Jahre u. a. als Mitglied bzw. Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten, des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht sowie des Ausschusses für gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht an. In den Bundestagsdebatten um die Pariser Verträge hinterließ Hans Furler einen bleibenden Eindruck in Parlament und Öffentlichkeit.19 Sein außenpolitisches Engagement führte ihn nach Straßburg, wo er neben dem Bundestagsmandat in den drei parlamentarischen Gremien vertreten war. 1956 wurde Hans Furler zum Präsidenten der Gemeinsamen Versammlung der Montanunion gewählt. 1957 wurde er Mitglied der beratenden Versammlung des Europarates und der Versammlung der Westeuropäischen Union. Dem Europäischen Parlament gehörte er von 1958 bis 1973 an, von 1960 bis 1962 war er Präsident des Parlaments. Hans Furler war maßgeblich an der Konzipierung und Ausführung der Römischen Verträge beteiligt. Als unermütlicher Streiter für die europäische Integration gehört der badische Rechtsgelehrte und Europapolitiker zu den großen Persönlichkeiten der europäischen Geschichte. Ernst Benda (MdB 1957–1971, CDU):20 Wissenschaft und Lehre standen nicht am Anfang der beruflichen Laufbahn von Ernst Benda. Dem voran ging eine Karriere als erfolgreicher Berliner Rechtsanwalt und christdemokratischer Abgeordneter. Der Mitgliedschaft im Berliner Abgeordnetenhaus 18 Zitiert in: Wiethölter, Rudolf: Franz Böhm (1895–1977), in: Diestelkamp, Bernhard/Stolleis, Michael (Hrsg.), Juristen an der Universität Frankfurt am Main, Baden-Baden 1989, S. 247. 19 Winter, Johann F., Prof. Dr. Hans Furler. Außenpolitiker und Europäer aus Passion, in: Das neue Journal, 1959 (Heft 3), S. 4 (6); Ferdinand, Horst/Kohler, Adolf, a. a. O., S. 49 f. 20 Zur Person Ernst Bendas siehe u. a.: Hesse, Konrad, Skepsis und Zuversicht. Zu Ernst Bendas 70. Geburtstag, in: Klein, Eckart (Hrsg.), Grundrechte, soziale Ordnung und Verfassungsgerichtsbarkeit. Festschrift für Ernst Benda zum 70. Geburtstag, Heidelberg 1994, S. 1 ff., Simon, Helmut, Ernst Benda zum 70. Geburtstag, in: AöR 1995 (120), S. 138 f.

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(1955–1957) folgten 14 Jahre parlamentarischen Wirkens als Mitglied des deutschen Bundestages (1957–1971), u. a. im Rechtsausschuss. Das Eintreten für die Verlängerung der Verjährungsfristen für nationalsozialistische Verbrechen machte den Parlamentarier Ernst Benda schlagartig als profilierten Innen- und Rechtspolitiker bekannt.21 Als Berichterstatter brachte er die Notstandsgesetzgebung in konsensfähiger Gestalt zum Abschluss. Während der großen Koalition erfolgte 1967 die Ernennung zum parlamentarischen Staatssekretär im Bundesinnenministerium. Ende März 1968 folgte Ernst Benda bis zum Regierungswechsel im Oktober 1969 Paul Lücke als Bundesinnenminister nach und verteidigte in dieser Funktion auf dem Höhepunkt der Studentenunruhen die Notstandsgesetzgebung. Die zwölfjährige Amtszeit als Präsident des Bundesverfassungsgerichts (1971–1983) stellt zweifellos den Höhepunkt im beruflichen Leben Ernst Bendas dar. Zahlreiche wichtige Urteile fielen in seine Amtszeit (u. a. Urteil zum Grundlagenvertrag, Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs, Volkszählungsurteil). Bereits während der Zeit als Präsident des Bundesverfassungsgerichts widmete sich Ernst Benda wieder der akademischen Lehre. Nach seiner höchstrichterlichen Tätigkeit trat die Universität in den Vordergrund seines Wirkens. Von 1984 bis 1994 übernahm Ernst Benda in innerer Kontinuität zu seinen bisherigen Aufgaben und Ämtern an der Universität Freiburg einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht mit Schwerpunkt Verfassungsrecht. Die Fakultät gewann damit einen „politischen Professor“, der anders als seine Kollegen, die aus der Lehre in die aktive Politik gingen, aus der Politik kam. Damit strahlte bei Ernst Benda nicht die Wissenschaft auf das parlamentarische Geschehen aus, sondern er brachte als ehemaliger Parlamentarier die unmittelbare und konkrete Anschauung der politischen Lebensverhältnisse und der Staatspraxis in die akademische Lehre ein. Er war damit prädestiniert, seinen Studenten die Anschauung der parlamentarischen und verfassungsrechtlichen Praxis nahe zu bringen. Der Lehre schlossen sich mannigfaltige Tätigkeiten in Kommissionen und Verbänden sowie als Gutachter und bei Anhörungen an. Das umfangreiche literarische Werk Ernst Bendas zeugt von der Vielseitigkeit des passionierten Seglers, der sich in seiner beruflichen Laufbahn auf verschiedenen Meeren bewegte.22 Walter Hallstein (MdB 1969–1972, CDU): Auch der Frankfurter Rechtsgelehrte Walter Hallstein gehörte dem Deutschen Bundestag an. Anders als bei den meisten politischen Professoren schließt jedoch die parlamentarische Tätigkeit seine beeindruckende politische Laufbahn ab und steht ange21 Rede im Deutschen Bundestag am 10.3.1965 zum Entwurf eines achten Strafrechtsänderungsgesetzes, 4. WP, 170. Sitzung, Ziff. 8519 ff. 22 Schneider, Franz (Bearb.), Bibliographie Ernst Benda, Berlin 1984.

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sichts der Bedeutung seines Wirkens in der Bundesregierung und in der Europäischen Kommission nicht im Zentrum seines politischen Wirkens. Walter Hallstein wurde 1930, mit knapp 29 Jahren als reichsweit jüngster Ordinarius der Rechtswissenschaften, zum ordentlichen Professor an der Universität Rostock berufen. Nach mehr als zehnjähriger Lehr- und Forschungstätigkeit, vor allem im Bürgerlichen Recht und Handelsrecht, im Internationalen Privatrecht und in der Rechtsvergleichung, folgte er 1941 einem Ruf nach Frankfurt am Main auf den Lehrstuhl für Handelsrecht, Arbeitsrecht und Wirtschaftsrecht und als Direktor des Instituts für Rechtsvergleichung. Im Jahre 1944 in amerikanische Gefangenschaft geraten blieb er auch dort seiner Berufung treu: Hallstein wurde nach Camp Como im Staat Missisippi verbracht, wo er eine Lageruniversität mit einem breit gefächerten juristischen Angebot aufbaute.23 Nach seiner Rückkehr wurde Hallstein zum Rektor der Universität Frankfurt gewählt und trug in dieser Zeit entscheidend zum Wiederaufbau der Universität bei. Er übernahm den Lehrstuhl für Internationales Privatrecht, Völkerrecht, Rechtsvergleichung und Gesellschaftsrecht. Der Fakultät gehörte er – seit 1954 als Ehrenbeamter – über 40 Jahre bis zu seinem Tod an, wenn ihm auch seine Ämter seit 1950 wenig Gelegenheit ließen, den Beruf des Rechtslehrers in Frankfurt auszuüben.24 Hallsteins politische Laufbahn begann mit der Berufung zum Leiter der deutschen Delegation bei den Verhandlungen über den Schuman-Plan im Juni 1950. Bundeskanzler Konrad Adenauer war von dem ergebnisorientierten Auftreten des Hochschullehrers mit internationaler Erfahrung beeindruckt und betraute ihn im August 1950 mit dem Amt des Staatssekretärs für außenpolitische Aufgaben im Bundeskanzleramt, von wo er 1951 als Staatssekretär ins Auswärtige Amt wechselte. Der Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik ist untrennbar mit seinem Namen verbunden („Hallstein Doktrin“). Als enger Mitarbeiter und Berater Konrad Adenauers in den Jahren 1950 bis 1957 gehörte Hallstein zu den Architekten der Westintegration der Bundesrepublik Deutschland und war maßgeblich an der Ausarbeitung der Römischen Verträge beteiligt. Seit Bildung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Anfang 1958 stand Hallstein der EG-Kommission als Präsident vor. An der Gestaltung des Gemeinsamen Marktes hatte er in den fast zehn Jahren seiner Amtszeit einen führenden und bestimmenden Anteil. 23

Dazu Schönwald, Matthias, Hinter Stacheldraht – vor Studenten. Die „amerikanischen Jahre“ Walter Hallsteins, 1944–1949, in: Dietl, Ralph/Knipping, Franz (Hrsg.), Begegnung zweier Kontinente. Die Vereinigten Staaten und Europa seit dem ersten Weltkrieg, 1999, S. 31 ff. 24 Kübler, Friedrich, Walter Hallstein (1901–1982), in: Juristen an der Universität Frankfurt, S. 268.

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Erst im Jahre 1969 wurde Walter Hallstein auf Einladung Helmut Kohls als Spitzenkandidat der rheinland-pfälzischen CDU-Landesliste in den Deutschen Bundestag gewählt. Als ordentliches Mitglied des Auswärtigen Ausschusses und europapolitischer Sprecher der CSU/CSU-Bundestagsfraktion blieb er auch im Parlament der Europapolitik treu. Sein Sachverstand in Fragen der deutschen Außenpolitik und europäischen Politik dürfte auch in dieser Funktion schwerlich zu übertreffen gewesen sein. Parteiarbeit an der Basis und Machtkämpfe in Parteigremien lagen ihm hingegen fern. Bei der vorgezogenen Neuwahl im Herbst 1972 ließ sich Walter Hallstein nicht erneut aufstellen, er widmete sich neben der ehrenamtlichen Verbandsarbeit in der Europäischen Bewegung seinen literarischen Vorhaben und warb fast bis zu seinem Tod publizistisch für seine europäischen Ideen und europapolitischen Vorstellungen. Die spätere Laufbahn der öffentlichen Ämter Walter Hallsteins wurde durch seine frühere Karriere als Hochschullehrer entscheidend beeinflusst. Das Zustandekommen der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft entspricht in hohem Maße seinen rechts- und gesellschaftstheoretischen Vorstellungen.25 Karl Carstens (MdB 1969–1979, CDU): Anwalt, Staatsrechtslehrer, Staatssekretär, Abgeordneter des deutschen Bundestages, Fraktionsvorsitzender, Bundestagspräsident und Bundespräsident – auf seinem beispiellosen Weg hatte Karl Carstens all diese Ämter inne. Neben seiner zunächst anwaltlichen Tätigkeit war Karl Carstens von 1949 ist 1954 Bevollmächtigter Bremens beim Bund und 1954–1955 ständiger Vertreter der Bundesrepublik beim Europarat in Straßburg. Seine Europaexpertise führte ihn ins Auswärtige Amt, wo er nach wenigen Jahren Staatssekretär wurde (1960). Parallel verfolgte er seine wissenschaftliche Karriere an der Universität Köln, wo er sich 1952 habilitierte, über Staatsrecht und Europarecht las und im Jahre 1960 zum Ordinarius und Leiter des Instituts für das Recht der Europäischen Gemeinschaften ernannt wurde. Nach Bildung der „Großen Koalition“ 1966 wurde Karl Carstens zum Staatssekretär im Verteidigungsministerium, dann im Bundeskanzleramt ernannt. Mit Bildung der sozialliberalen Koalition im Herbst 1969 schied er aus dem Staatsdienst aus und übernahm 1970 die Leitung des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Die parlamentarische Karriere Karl Carstens begann 1972 mit der Wahl in den deutschen Bundestag. Diese entsprach zunächst nicht seinen beruflichen Vorstellungen. Eindrucksvoll schildert er in seinen Erinnerungen von seinem vergeblichen Versuch, Kai-Uwe von Hassel, den damaligen Prä25 Kübler, Walter Hallstein (Fn. 24), S. 279; Steindorff, Ernst, Der Beitrag Walter Hallsteins zur europäischen Integration, in: von Caemmerer, Ernst, Schlochauer, Hans-Jürgen, Steindorff, Ernst (Hrsg.), Festschrift für Walter Hallstein zu seinem 65. Geburtstag, Frankfurt am Main 1966, S. 1 ff.

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sidenten des Bundestages, davon zu überzeugen, dass er als Parlamentarier nicht erfolgreich sein würde. Dazu fehle ihm jede parlamentarische Erfahrung.26 Wie sehr er irrte. Karl Carstens wurde Mitglied des Auswärtigen Ausschusses und des Ausschusses für innerdeutsche Beziehungen, wo wichtige Weichenstellungen anstanden, die die Expertise des Staats- und Völkerrechtlers forderten: der UNO-Beitritt und der Abschluss des Grundlagenvertrages. In seiner beeindruckenden „Jungfernrede“ im Februar 1973 setzte er sich vehement gegen den Grundlagenvertrag ein und erwarb so den Respekt der Mehrheit seiner Fraktion. Bereits im Mai 1973 wurde Karl Carstens Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und damit Oppositionsführer. Drei erfolgreiche Jahre später wurde er Bundestagspräsident. Im Jahre 1979 erreichte er mit der Wahl zum Bundespräsident das höchste Staatsamt. Die Kompetenzen des Bundespräsidenten einschließlich des Prüfungsrechts des Bundespräsidenten interpretierte der Staatsrechtler Karl Carstens in einem restriktiven Sinne.27 Besonders war er gefordert, als ihm im Januar 1983 die Macht und die Last der Entscheidung zuviel, die Auflösung des Deutschen Bundestages zu verfügen und Neuwahlen anzusetzen. Ein besonderes Beispiel der Verzahnung von Politik und Wissenschaft. Seine Entscheidung wurde 1983 vom Bundesverfassungsgericht bestätigt. Auch nach seiner Emeritierung und dem Ablauf seiner Amtszeit als Bundespräsident blieb Karl Carstens Wissenschaft und Universität eng verbunden.28 Paul Mikat (MdB 1969–1987, CDU): Der Rechtswissenschaftler und Theologe Paul Mikat hat als akademischer Lehrer an den Universitäten Würzburg und Bochum, als Kultusminister des Landes Nordrhein Westfalen (1962–1966), Abgeordneter des Landtages von Nordrhein-Westfalen (1966–1969) und Abgeordneter des Deutschen Bundestages (1969–1987) sowie in anderen bedeutenden Funktionen in Staat und Gesellschaft das politische und gesellschaftliche Leben der Bundesrepublik mitgeprägt. Nach Ablegung beider theologischer Examina war Paul Mikat zunächst im höheren Schuldienst (1950–54) tätig. Nebenbei studierte er Rechtswissenschaften und lehrte nach seiner kirchenrechtlichen Habilitation ab 1957 als Ordinarius an der Universität Würzburg und ab 1965 bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1990 an der neu gegründeten Universität Bochum Bürgerliches Recht, Rechtsgeschichte und Staatskirchenrecht. Während seiner fast 20 Jahre währenden Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag war er u. a. als Mitglied bzw. stellvertretendes Mitglied des Aus26 von Jena, Kai/Schmoeckel, Reinhard (Hrsg.), Karl Carstens, Erinnerungen und Erfahrungen, Boppard 1993, S. 416. 27 von Jena/Schmoeckel (Hrsg.), Karl Carstens (Fn. 26), S. 531. 28 Siehe Schiedermair, Hartmut, Politik und Wissenschaft im Dienst der Humanität – Karl Carstens (14.12.1914–30.5.1992) zum Gedächtnis, in: NJW 1992, S. 2608 (2612).

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wärtigen Ausschusses und des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft aktiv. Er diente der CDU/CSU-Bundestagsfraktion als Justitiar. Dem grellen Licht der Öffentlichkeit eher abgeneigt erwarb er sich als interdisziplinär agierender Rechtsgelehrter und Politiker und ausgleichender Moderator hinter den Kulissen ein breites Ansehen. Nach dem Ausscheiden aus dem Bundestag machte sich Paul Mikat als Struktur- und Wirtschaftspolitiker einen Namen. 1987 übernahm er den Vorsitz der Kommission „Montanregionen“ und wurde 1989 Vorsitzender der unabhängigen „Kohle Kommission“. Die breiten interdisziplinären wissenschaftlichen Interessen und die intensiven Wechselbeziehungen zwischen Wissenschaft und Politik, prägen nicht nur das politische, sondern auch das wissenschaftliche Werk Paul Mikats, der von sich selbstironisch sagt „Für öffentliche Ämter war und bin ich eigentlich nicht geeignet. Bei Sitzungen und Konferenzen habe ich viele Aufsätze geschrieben“.29 Horst Ehmke (MdB 1969–1994, SPD): Auch dem Wechsel Horst Ehmkes in die Politik ging eine wissenschaftliche Karriere voraus. Seine akademischen Lehrjahre in Freiburg und Princeton beendete er 1952 mit der bei Rudolf Smend gefertigten Dissertation „Grenzen der Verfassungsänderung“, deren dort entwickelte Umrisse einer Verfassungstheorie als tragfähiges und bleibendes Grundelement heutiger Verfassungstheorie angesehen werden.30 Nach einer bis 1956 währenden Tätigkeit bei dem damaligen „Kronjuristen“ der SPD-Bundestagsfraktion, Dr. Adolf Arndt, schien zunächst alles auf eine wissenschaftliche Karriere hinzudeuten. Im Jahre 1963 übernahm Ehmke den Lehrstuhl für öffentliches Recht in Freiburg und wurde 1966 zugleich Dekan der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät.31 Bereits seine Freiburger Antrittsvorlesung über Carl v. Rotteck, die den Zusatz „Der politische Professor“ trägt, wies jedoch in Richtung seines zukünftigen Weges. Spielte Politik während der Freiburger Zeit zunächst nur eine Nebenrolle, so sollte sich dieses durch die Spiegel-Affaire 1962 rasant ändern. Als einer der Strafverteidiger des Redakteurs Conrad Ahlers und als Prozessvertreter im Verfassungsbeschwerdeverfahren des Spiegel wurde Horst Ehmke in den Jahren 1963 bis 1966 auch in der Öffentlichkeit bekannt. Der Aufforderung Helmut Schmidts, mit der „Rolle als professoraler Wochenendpolitiker“ Schluss zu machen,32 folgte 1967 der Wechsel in die Politik.33 Ehmke kam 29 „Paul Mikats zeitlose Wahrheiten für NRW“, Interview mit Paul Mikat, in: Die Welt, 12. Juni 2005. 30 Hesse, Konrad, Horst Ehmke zum 65. Geburtstag, in: AöR (117) 1992, S. 1 (2); Häberle, Peter, Vorwort, in: Häberle, Peter (Hrsg.), Horst Ehmke, Beiträge zur Verfassungstheorie und Verfassungspolitik, Königstein/Ts. 1981, S. 9. 31 Zur Bedeutung des wissenschaftlichen Werkes Horst Ehmkes, siehe Häberle (Hrsg.), Horst Ehmke (Fn. 30), S. 7 ff. 32 So Ehmke, in: Mittendrin, S. 44.

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als Seiteneinsteiger von „oben“ in die Politik, zunächst als Staatssekretär im Bundesjustizministerium, von 1969 an als Bundesminister der Justiz, noch im gleichen Jahr als Bundesminister für besondere Aufgaben und Leiter des Bundeskanzleramtes. Von 1972 bis zu dem gemeinsamen Rücktritt mit Willy Brandt im Jahre 1974 hatte Horst Ehmke das Amt des Bundesministers für Forschung und Technologie, Post- und Fernmeldewesen inne. Nach dem Ausscheiden aus der Regierung in Folge der Guillaume-Affaire riet ihm sein wissenschaftlicher Mentor Rudolf Smend, allen weiteren politischen Versuchungen zu widerstehen und in die Wissenschaft zurückzukehren.34 Doch seine innere Bindung an die Politik war für eine Rückkehr schon zu weit fortgeschritten. Als Bundestagsabgeordneter und SPDVorstandsmitglied nahm er nun seine Aufgaben im Bundestag, in der Fraktion und Partei, u. a. als außenpolitischer Sprecher seiner Fraktion war. Nach den Bundestagswahlen 1983 und 1987 blieb Ehmke als stellvertretender Fraktionsvorsitzender in der Führungsmannschaft des Parteivorsitzenden Vogel und behauptete als Außen- und Innenpolitiker weiterhin eine wichtige Position innerhalb seiner Fraktion. Nach 20 Jahren wissenschaftlicher und 25 Jahren politischer Arbeit schied Ehmke 1994 aus dem Bundestag aus. Hans Hugo Klein (MdB 1972–1983, CDU): Die Trias von Universität, Parlament und Verfassungsgerichtsbarkeit kennzeichnet die Biographie von Hans Hugo Klein. 1969 zum ordentlichen Professor für Öffentliches Recht an der Universität Göttingen berufen, wurde er bereits drei Jahre später für die CDU Mitglied des Deutschen Bundestages, dem er über 10 Jahre angehörte. Bis 1982 lehrte er neben dem Mandat in Göttingen weiter und lebte damit dreizehn Jahre im Austausch und wechselseitigem Dialog von Wissenschaft und Politik. Im Bundestag vorwiegend mit Fragen der Rechtspolitik, der inneren Sicherheit und der Medienpolitik befasst, war er im Ausschuss für Wahlprüfungs-, Rechts- und Innenausschuss vertreten. Nach dem Regierungswechsel 1982 wurde Hans Hugo Klein zunächst Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Justiz, bis er im Dezember 1983 zum Richter des Bundesverfassungsgerichts ernannt wurde. In seiner mehr als zwölfjährigen Amtszeit als Verfassungsrichter (1983 bis 1996) hat er an wesentlichen Entscheidungen mitgewirkt.35 Im Bereich der Parteienfinanzierung und des Parteienrechts berührten diese unmittelbar sei33

Ehmke, in: Mittendrin (Fn. 32), S. 30. Ehmke, in: Mittendrin (Fn. 32), S. 247. 35 So etwa zu den Anforderungen an Personalratswahlen (BVerfGE 67, 369 ff.), zur Neuregelung des Rechts der Kriegsdienstverweigerung (BVerfGE 69, 1 ff.), zum Personalvertretungsrecht (BVerfGE 91, 367 ff.) zur Parteienfinanzierung (BVerfGE 85, 264 ff.) und zum Begriff der Partei (BVerfGE 91, 262 ff.). 34

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nen vorherigen Wirkungsbereich als Parlamentarier. Nach seinem Ausscheiden nahm er seine Lehrtätigkeit an der Universität Göttingen wieder auf. Das wissenschaftliche Werk Hans Hugo Kleins ist neben dem Richteramt insbesondere durch sein politisches Mandat geprägt.36 Zahlreiche wissenschaftliche Abhandlungen zur Aufgabe und Stellung des Bundestages,37 des Abgeordneten38 und der Parteien39 zeigen die gelungene Synthese praktischer Erfahrungen des homo politicus und wissenschaftlicher Tiefe des Gelehrten.40 Werner Maihofer (MdB 1972–1980, FDP):41 Ist es in Deutschland eher die Ausnahme, dass ein Wissenschaftler eine exponierte Rolle in der Politik übernimmt, so ist es auch eine Rarität unter Juristen, dass ein Rechtsphilosoph den Weg in die Politik findet. Der Strafrechtsprofessor und Rechtsphilosoph Werner Maihofer trat nach 17 Jahren universitärer Lehre Anfang der siebziger Jahre in die aktive Bundespolitik ein. Nach Dozententätigkeiten in Freiburg begann seine universitäre Karriere im Jahre 1955 durch Berufung zum Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Sozialphilosophie an der Universität des Saarlandes, 1956/57 war er Dekan der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, 1967–1969 Rektor der Universität. Im Jahre 1970 folgte Werner Maihofer einem Ruf an die ebenfalls neu gegründete Universität Bielefeld und wurde dort 1971 Direktor des Instituts für Interdisziplinäre Forschung. Mit seinem Eintritt in die FDP im Jahre 1969, im Alter von 51 Jahren, begann seine Laufbahn als Politiker mit einer Blitzkarriere. Sein Engagement für eine große Strafrechtsreform führte ihn ins Zentrum der Politik. Als liberaler Strafrechtler war er maßgebend an dem „Alternativ-Entwurf eines Straf36 Auszugsweise zusammengestellt in: Klein, Hans H., in: Kaufmann, Marcel/ Schwarz, Kyrill-A. (Hrsg.), Das Parlament im Verfassungsstaat – ausgewählte Beiträge, Tübingen 2006 37 Insbes. Klein, Hans H.: Stellung und Aufgaben des Bundesstages, in: Isensee, Josef/Kirchof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 2005, Band III, S. 711 ff.; Klein, Hans H., Zur Öffentlichkeitsarbeit von Parlamentsfraktionen, in: Der Staat des Grundgesetzes – Kontinuität und Wandel. Festschrift für Peter Badura zum siebzigsten Geburtstag, 2004, S. 263 ff. 38 Klein, Hans H., Der Abgeordnete, in: Isensee, Josef/Kirchof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (Fn. 37), S. 741 ff. 39 So die Kommentierung von Art. 21 GG in: Maunz/Dürig/Herzog, Grundgesetz: Kommentar, Loseblattsammlung. 40 Schwarz, Kyrill-A.: Hans Hugo Klein zum 70. Geburtstag, in JZ 2006, S. 15 f. 41 Zu Person siehe u. a.: Zirngibl, Willy, Gefragt: Werner Maihofer, Bornheim 1975; Winter, Herbert, Recht als menschenwürdige Ordnung. Grundlagen zu einer Rechtsontologie bei Werner Maihofer, Fürth 2000, S. 10–57; Sobczyk, Peter, Werner Maihofer, in: Bernecker, Walther L., Dotterweich, Volker (Hrsg.), Persönlichkeit und Politik in der Bundesrepublik Deutschland, Politische Portraits, Band 2, Göttingen 1982, S. 71–79.

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gesetzbuches“ beteiligt. Die fruchtbare Zusammenarbeit von Wissenschaft und Politik sowie seine Überzeugung, dass „wir ohne konsequente Reformen von der Strafrechtsreform an bis hin zur Gesellschaftsreform in ein politisches Chaos hineintreiben“42, veranlasste ihn, politische Verantwortung zu übernehmen. Als Vorsitzender der Programmkommission der FDP erhielt er eine Schlüsselfunktion innerhalb seiner Partei und wirkte maßgeblich an der Entstehung der „Freiburger Thesen“ der FDP von 1971 mit. Er gilt seitdem als theoretischer Vordenker einer linksliberalen Politik und programmatischem Kopf der damaligen sozial-liberalen Koalition. Werner Maihofer war von 1972 bis 1980 Mitglied des Bundestages, wo er sich im Ausschuss für Bildung und Wissenschaft engagierte. Als stellvertretendes Mitglied gehörte er dem Sportausschuss an. Mit seinem Eintritt in den Bundestag wurde er im Dezember 1972 Bundesminister für besondere Aufgaben, im Mai 1974 als Nachfolger von Hans-Dietrich Genscher Bundesminister des Innern. Die Probleme des Extremismus und der inneren Sicherheit zwangen zu Maßnahmen, die mit den liberalen Vorstellungen der Liberaldemokraten nur schwer in Einklang zu bringen waren. Liberale Rechtstheorie und politische Wirklichkeit und der Leitspruch Maihofers „Im Zweifel für die Freiheit“ wurden auf eine harte Probe gestellt. Sie rieben Maihofer im Widerstreit zwischen Theorie und Praxis auf. Im Zusammenhang mit der Entführung von Hans-Martin Schleyer trat er 1978 als Innenminister zurück. Werner Maihofer kehrte als Rechtsprofessor auf seinen Bielefelder Lehrstuhl zurück. Er kandidierte nicht mehr für den Bundestag, sondern wurde Präsident des Europäischen Hochschulinstituts in Florenz (1981–87). Kurt Biedenkopf (MdB 1976–1980, CDU): Wissenschaft, Wirtschaft und Politik bilden im öffentlichen Leben von Kurt Biedenkopf von Beginn seiner akademischen Laufbahn an bis heute eine einzigartige, sich wechselseitig befruchtende Symbiose. Sein berufliches Leben ist eine ständige „Wanderung zwischen den Welten“ auf höchstem Niveau. Nach Studien in den USA, München und Frankfurt am Main nahm Biedenkopf 1964 einen Ruf an die neu gegründete Ruhr-Universität Bochum an, wo er bis 1970 als Ordinarius für Handelsrecht, Wirtschaftsrecht und Arbeitsrecht lehrte sowie als Dekan seiner Fakultät (1966–67) und – auf dem Höhepunkt der Studentenunruhen – auch als Rektor (1967–69) wirkte.43 Der Vorsitz in der von Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger 1966 berufenen Kommission zur Auswertung der Erfahrungen mit der Mitbestimmung führte zu verstärktem Interesse von Wirtschaft und Politik an dem jungen Universitätsrektor.44 42

Zirngibl, Gefragt: Werner Maihofer (Fn. 41), S. 25. Köpf, Peter, Der Querdenker: Kurt Biedenkopf. Eine Biographie, Frankfurt a. M. 1999, S. 61 ff. 44 Wendt, Alexander, Kurt Biedenkopf. Ein politisches Portrait, Berlin 1994, S. 21. 43

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Bereits damals bekannte Biedenkopf, er sei „leidenschaftlich an Politik interessiert“45. Sein Weg in Spitzenämter der Politik führte zunächst über die Wirtschaft. 1971 warb ihn Konrad Henkel als Mitglied der zentralen Geschäftsführung des Henkel-Konzerns. Dieser Wechsel von der Universität in die Industrie, ein seltener Schritt unter deutschen Rechtsgelehrten, gab ihm nach eigenem Bekunden die Unabhängigkeit, für die Politik zu leben und nicht von der Politik46. Eine steile politische Karriere ließ nicht lange auf sich warten. Bereits 1973 folgte Biedenkopf der Aufforderung Helmut Kohls und wurde Generalsekretär der CDU (bis 1977). Nach seiner Ablösung setzte er seine politische Karriere zugleich auf drei Ebenen fort: im Bundestag, im Fraktionsvorstand der CDU/CSU, und im Landesverband Westfalen Lippe sowie in der Bundespartei, deren stellvertretender Vorsitzender er wurde. In den Bundestag wurde er – wie 23 Jahre zuvor Franz Böhm, sein prägender akademischer Lehrer an der Universität Frankfurt am Main47 – im Jahre 1976 gewählt. 1978 wurde er wirtschaftspolitischer Sprecher und engagierte sich seinen akademischen Schwerpunkten folgend als marktwirtschaftlicher und wettbewerbsorientierter Politiker. Mit seinem Ausscheiden aus dem Deutschen Bundestag im Jahre 1980 endete das Wirken Kurt Biedenkopfs als Parlamentarier nicht. Als Mitglied des Landtages von Nordrhein Westfalen (1980–1988) übte er auf Landesebene weiter parlamentarische Funktionen aus und nahm Spitzenfunktionen in der CDU Nordrhein-Westfalens ein. 1987 wurde er erneut in den Deutschen Bundestag gewählt. Die Einheit Deutschlands führte Kurt Biedenkopf in eine weitere politische Karriere und auf den Gipfel seiner Laufbahn: dem Amt des Ministerpräsidenten des Freistaates Sachsen (1990–2002). Seine Verdienste um Sachsen und die Belange der ostdeutschen Länder sichern ihm einen festen Platz in der Geschichte der deutschen Einheit. Nach seinem Rücktritt 2002 traten bei Kurt Biedenkopf Wissenschaft und Wirtschaft wieder in den Vordergrund seiner vielfältigen öffentlichen Aktivitäten. Edzard Schmidt-Jortzig (MdB 1994–2002, FDP): Der Staatsrechtler Edzard Schmidt-Jortzig48, zunächst Kommunaljurist in Göttingen, nahm 1977 einen Ruf an die Universität Münster an, seit 1982 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht der Universität Kiel. In den Jahren 1983 bis 1994 war er zudem im Haupt- bzw. Nebenamt als Richter an Verwaltungsgerichten und am Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen tätig und seit 1989 in diversen Verfassungskommissionen engagiert. Im Jahre 45

Köpf, Der Querdenker (Fn. 43), S. 71. Köpf, Der Querdenker (Fn. 43), S. 77. 47 Wendt, Kurt Biedenkopf (Fn. 44), S. 15 f. 48 Zur Person u. a.: Kempf, Udo/Merz, Hans-Georg (Hrsg.), Kanzler und Minister (1949–1998). Biographisches Lexikon der deutschen Bundesregierungen, Wiesbaden 2001, S. 607–612. 46

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1990 wurde Edzard Schmidt-Jortzig in den Bundestag gewählt. Dort war er u. a. Mitglied des Innenausschusses sowie des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. In den Jahren 1996 bis 1998 hatte er das Amt des 17. Bundesministers der Justiz inne. Der Staatsrechtler gilt als nüchterner Pragmatiker, der als juristisch abwägender Rechtsgelehrter eher moderat als polarisierend in der schwarz-gelben Koalition agierte. Schmidt-Jortzig brachte eine Reihe rechtpolitisch bedeutsamer Vorhaben auf den Weg, so die Reform des Ehe-, Kindschafts- und Betreuungsrechts und die große Strafrahmenharmonisierung (Sechstes Strafrechtsreformgesetz). Den in seiner Partei zunächst heftig umstrittenen „großen Lauschangriff“, unterstütze er nach Erkenntnissen über das Anwachsen der Kriminalität und brachte ihn erfolgreich auf den Weg. Seine nüchterne, den Rechtsgelehrten charakterisierende Herangehenswerte kommt in der Äußerung zum Ausdruck „Wenn sich für mich Argumente abzeichnen, über die man als Rationalist nicht hinwegsehen kann, dann sehe ich eine Meinungsänderung als Stärke an – jedenfalls ist das immer noch besser als aus Karrieredenken stur bei der einmal gefassten Meinung zu bleiben.“49 Seit Oktober 2002 wieder im Professorenamt bleibt er dem Parlament verbunden, so etwa als Sachverständiges Mitglied der Enquête-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ des Deutschen Bundestages (2002), der er bereits als Parlamentarier angehörte, sowie der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung („Föderalismuskommission“) (2003) und als Mitglied der G-10-Kommission des Bundes. Rupert Scholz (MdB 1990–2002, CDU): Nach zahlreichen hochschulpolitischen Aktivitäten begann die politische Laufbahn des Jubilars Rupert Scholz im Jahre 1981, als Richard von Weizsäcker den damals noch parteilosen Rechtsprofessor als Senator für Justiz in den Berliner Senat berief. Zu diesem Zeitpunkt war er nach Übernahme des Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Freien Universität Berlin im Jahre 1972 dem Ruf nach München als Inhaber des Lehrstuhls für öffentliches Recht, insbesondere Verwaltungsrecht und Finanzrecht in München gefolgt (1978 bis 2005). Der Eintritt in den Berliner Senat war der Beginn einer politischen Karriere, in der Rupert Scholz über zwanzig Jahre in Exekutive und Legislative führend politisch tätig war – ohne seinen Lehrstuhl in München aufzugeben. 1985 bis 1988 amtierte er als Doppelsenator für Justiz- und Bundesangelegenheiten und war zugleich CDU-Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses. 1988/89 erfolgte der Schritt in die Bundespolitik als Bundesminister der Verteidigung. Die relativ kurze Amtszeit stand unter dem Zeichen der 49 Krause-Brewer, Fides, Edzard Schmidt-Jortzig, „Nach meinem inneren Maßstab“. In Verantwortung für das Gemeinwesen, in: Trend: Zeitschrift für soziale Marktwirtschaft, 1998 (70), S. 71.

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Entspannungspolitik, wurde aber durch die Flugzeugkatastrophen in Ramstein und Remscheid belastet. Nach der Kabinettsumbildung im April 1989 konzentrierte sich der Wanderer zwischen Politik und Wissenschaft zunächst wieder auf seinen Lehrstuhl in München, blieb aber als deutschlandpolitischer Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl weiter eng mit der Politik verbunden. Dem gesamtdeutschen Parlament gehörte er zwölf Jahre von 1990 bis 2002 an. Als stellvertretender Fraktionsvorsitzender (1994–1998) übernahm er Verantwortung für die Innen- und Rechtspolitik, die er in der parlamentarischen und öffentlichen Diskussion wesentlich mitprägte. Im November 1998 übernahm Rupert Scholz den Vorsitz des Rechtsausschusses. Prädestiniert war der Verfassungsrechtler Rupert Scholz als einer der beiden Vorsitzenden der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat (1992 bis 1994), die den Auftrag aus Art. 5 Einigungsvertrag erfüllte und das Grundgesetz in umfänglicher Weise auf seine Reformbedürftigkeit untersuchte.50 Dieser wichtige verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Beitrag zur Vollendung der inneren Einheit Deutschlands ist unauflöslich mit dem Namen von Rupert Scholz verbunden. Rupert Scholz hat als Vertreter des Bundestages im Vorsitz der Verfassungskommission mit Respekt vor den Leistungen der Väter des Grundgesetzes und unter Anerkennung der Bewährung unserer Verfassung durch die Jahrzehnte hindurch dafür Sorge getragen, dass die vorgeschlagenen Änderungs- und Reformanliegen nach einem kritischen Verfassungsdiskurs – dem umfangreichsten nach den Beratungen des Parlamentarischen Rates – maßvoll und verantwortungsbewusst erfolgten. In den Jahren 1995 bis 1997 erarbeitete Rupert Scholz als Vorsitzender der „Sachverständigenkommission Schlanker Staat“ (1995–1997) konkrete Vorschläge für eine effektivere Verwaltungskommission.51 Sein Vorschlag, in den legislativen Prozess eine Kosten-Nutzen-Analyse vor der Verabschiedung neuer Normen zu integrieren, wird nunmehr durch die Arbeit des Normenkontrollrates umgesetzt. Auch nach seinem 50 Scholz, Rupert, Grundgesetz zwischen Reform und Bewährung, Berlin/New York 1993; ders., Zur Reform des Grundgesetzes: die Arbeiten der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat, in: Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft Mittelfranken zu Nürnberg e. V., Regensburg 1993; ders., Die Gemeinsame Verfassungskommission: Auftrag, Verfahren und Ergebnisse, in: Zeitschrift für Gesetzgebung 1994 (1), S. 1–34; ders., Aufgaben und Grenzen einer Reform des Grundgesetzes, in: Wege und Verfahren des Verfassungslebens: Badura, Peter, Scholz, Rupert (Hrsg.), Festschrift für Peter Lerche zum 65. Geburtstag, München 1993, S. 65–81. 51 Scholz, Rupert, Innenpolitisches Ziel: Schlanker Staat: Rupert Scholz leitet eigens eingerichteten Sachverständigenrat, in: VOP 1996 (5), S. 12–14; Scholz, Rupert/Hofmann, Hans, Der Sachverständigenrat Schlanker Staat: Vorschläge und Umsetzungsergebnisse, in: Die Personalvertretung 1998 (6), S. 326–335.

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Ausscheiden aus politischen Ämtern und der aktiven Lehre gehört der politische Professor Rupert Scholz zu den Stimmen, die mit hoher Autorität ausgestattet Gehör in Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit finden und der auf der Grundlage seiner jahrzehntelangen Erfahrungen als Politiker und Rechtsgelehrte wie kaum ein anderer in der Lage ist, zu prüfen, in welcher „Verfassung“ sich Deutschland und die Deutschen befinden.52 III. Typus des politischen Professors Die Rechtgelehrten im deutschen Bundestag verkörpern den in der deutschen Demokratie- und Parlamentsgeschichte selten anzutreffenden Typus des „politischen „Professors“, des Wissenschaftlers, der sich der Politik verschreibt. Was charakterisiert diesen Typus der Rechtsgelehrten, die – dauerhaft oder vorübergehend – dem Ruf in die aktive Politik folgen? Es handelt sich fast ausnahmslos um ausgeprägte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens mit höchst unterschiedlichen Lebensläufen. Gemeinsam ist der Mehrzahl von ihnen, dass die Wissenschaft am Anfang ihrer Karriere steht und das wesentliche theoretische Fundament auch der politischen Karriere bildet. Überwiegend halten die Rechtsgelehrten engen Kontakt zu ihrer Fakultät. Vielfach üben sie weiter zeitweilig oder dauerhaft neben dem Bundestagsmandat ihre Lehrtätigkeit aus. Häufig führt der Weg am Ende der politischen Karriere wieder in die wissenschaftliche Arbeit. Das umfangreiche Verzeichnis ihrer Schriften spiegelt das breite juristische, politische, soziologische und wirtschaftliche Themenspektrum der „politischen Professoren“ wieder. Allesamt sind sie Meister auf vielen Gebieten. Die Motivation der Rechtsgelehrten zu wissenschaftlichem Engagement und politischer Aktivität in der Nachkriegszeit war geprägt durch das Ziel, Deutschland in den Kreis der zivilisierten Nationen zurückzuführen, den Frieden zu sichern und das Ansehen auch der deutschen Rechtswissenschaft im Ausland wiederzugewinnen. Die politischen Professoren der Nachkriegszeit waren überwiegend rechtsvergleichend bzw. völkerrechtlich orientiert und konnten somit auch als Wissenschaftler wichtige Verbindungen in das europäische Ausland und die USA aufbauen und pflegen, die neben ihrem politischen Einsatz neues Vertrauen in die geistigen Grundlagen der deutschen Wissenschaft und Gesellschaft schafften. Als Brückenköpfe für den Wiederaufbau der politischen und wissenschaftlichen Ordnung waren sie unverzichtbar. Die Verankerung der rechtsgelehrten Parlamentarier in der Wissenschaft bewahrt davor, um schneller oder vordergründiger Erfolge willen auf theo52

Scholz, Rupert, Deutschland – In guter Verfassung?, Heidelberg 2004.

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retische Absicherung zu verzichten. Als aktive Politiker haben die deutschen Rechtsgelehrten, die als aktive Parlamentarier für die Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in politische Lösungen gearbeitet und gekämpft haben, einen wichtigen Beitrag für die Kontinuität der Grundlagen unseres politischen Systems geleistet, in dem ohne Theorie keine guten Gesetze gemacht werden können. Da die Sprache der Juristen die dominierende lingua technica der Politik ist und nahezu jede politische Entscheidung in einer Rechtsform Ausdruck findet, ist heute praktische Politik ohne rechtswissenschaftliche Vorbereitung nicht mehr möglich. Die politischen Professoren stellen diese Verbindung in der eigenen Person sicher. Frauen und Männer, die an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik parlamentarische Verantwortung übernehmen, sind rar geworden im Deutschen Bundestag. Die in diesem Artikel nur unzureichend umrissenen Persönlichkeiten sind ein Beispiel dafür, dass große Rechtsgelehrte große Politiker sein können. Die Politik muss sich hingegen fragen, ob sie ausreichend attraktiv für Wissenschaftler ist. Große akademische Gelehrte für die aktive Politik zu gewinnen führt – wie die dargestellten Persönlichkeiten eindrucksvoll zeigen – zugleich zu einer Bereicherung von Wissenschaft und Lehre. Wissenschaft und Politik haben sich einander immer wieder beim Finden der Aufgaben wie beim wirksamen Handeln befruchtet, kontrolliert und geholfen, so bedauerlich es auch für die Rechtslehre ist, dass sich einige politische Professoren dauerhaft für die praktische Politik entschieden haben. Die durch die aktive Politik einer breiten Öffentlichkeit bekannten Rechtsgelehrten haben nach dem Ausscheiden aus Parlament und Regierungsfunktionen eine besondere, durch ihren wissenschaftlichen und politischen Status begründete Autorität, die auch von den Medien wahrgenommen wird. Als engagierte Demokraten nehmen sie weiterhin lebhaft an der aktuellen politische Diskussion teil und bereichern diese. Rupert Scholz steht in der Reihe all jener Juristen, denen die Sorge um Recht und Gerechtigkeit nicht bloß ein technisches und wissenschaftliches, sondern ein persönliches Anliegen ist. Die „politischen Professoren“ gehören zu jenen, die sich nicht als Fachleute auf ihr Gebiet zurückgezogen, sondern die aus dem Bannkreis der Wissenschaft den Schritt in die politische Öffentlichkeit gewagt haben. Sie sind in die Politik gegangen, um theoretische Erkenntnisse in praktische Politik umzusetzen und sich vom Denken ans Machen zu begeben. Es hat der Politik in Deutschland gut getan, dass sich große Rechtsgelehrte eingemischt haben und Verantwortung übernommen haben. Sie haben einen wertvollen Beitrag zu unserem, als Freiheitsordnung verstandenen Rechtssystem geleistet.

Lehren aus dem Transformationsprozess für die Reform sozialer Sicherungssysteme1 Von Bernd Baron von Maydell I. Reformbedürftigkeit der Systeme sozialer Sicherheit – ein weit verbreiteter Befund Die politische Diskussion in Deutschland, aber auch in vielen anderen Staaten wird seit Jahren bestimmt durch die Notwendigkeit von Veränderungen in den sozialen Sicherungssystemen. Das gilt für die Alterssicherung ebenso wie für die Arbeitsmarktpolitik und die Gesundheitspolitik. Es werden immer wieder Reformgesetze verabschiedet, die jedoch bald erneut zur Disposition stehen und korrigiert werden müssen. Dieser ständige Prozess führt zu einer erheblichen Verunsicherung der Bürger, die sich nicht mehr auf das bestehende Recht verlassen können, so dass Vertrauenspositionen nicht entstehen können. Die Flut von Reformen hat sicherlich eine Ursache in den schnellen Veränderungen der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse und den widerstreitenden Interessen, die zum Ausgleich zu bringen sind. Sie beruht aber auch darauf, dass Stil und Methode der Gesetzgebung2 nicht geeignet sind, dauerhafte Regelungen zu schaffen. Es geht also nicht nur um die inhaltlichen Regelungen sondern auch um die Form der Gesetzgebung. Der Befund, dass es insoweit dringend einer Änderung bedarf, ist inzwischen fast allgemein anerkannt. Das hat sich u. a. auf dem 65. DJT 2004 in Bonn gezeigt, der sich mit dem Thema „Wege zu besserer Gesetzgebung – sachverständige Beratung, Begründung, Folgenabschätzung und Wirkungskontrolle“ befasst hat.3 Die Sozialpolitik ist ein besonders nachdrückliches Beispiel dafür, dass Änderungen in Gesetzgebungsstil und Verfahren dringend 1 Dieser Beitrag ist dem Rechtspolitiker Rupert Scholz gewidmet, der sich neben seinem rechtswissenschaftlichen Wirken in vielfältigen Funktionen um die deutsche Rechtspolitik verdient gemacht hat. 2 Dazu vgl. v. Maydell, Sozialpolitische Gesetzgebung – zwischen Anpassungszwängen und dem Gebot der Rechtsstaatlichkeit, in: Für Recht und Staat, FS für Herbert Helmrich zum 60. Geburtstag, 1994, S. 549 ff. 3 Die Beratungen wurden vorbereitet durch ein Gutachten von Blum, Verhandlungen des 65. Deutschen Juristentages, Bonn 2004, Bd. I, Gutachten Teil I.

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notwendig sind.4 In der Wissenschaft besteht weitgehend Einigkeit darüber, was geschehen müsste, um eine Besserung herbeizuführen.5 In der Praxis jedoch ist die Resonanz gering geblieben. Neben den theoretischen Überlegungen zu einer Veränderung des Stils der Gesetzgebung lassen sich Anregungen auch aus der Auswertung der Erfahrungen gewinnen, die mit Reformen in der Vergangenheit im eigenen und in anderen Staaten gemacht worden sind. Auch dabei geht es – neben den Anregungen für die inhaltliche Ausgestaltung – um die Gesetzgebungskunst. Besonders intensiv ist die Reformtätigkeit in den letzten beiden Jahrzehnten in den sogenannten Transformationsstaaten gewesen. Die Frage liegt daher nahe, ob man aus diesen Reformarbeiten etwas für die Gesetzgebungsmethode allgemein lernen kann. Die Debatte darüber kann nur interdisziplinär erfolgen, weil der komplexe Vorgang der Transformation Objekt der Analyse durch sehr verschiedene Disziplinen ist. II. Der Transformationsprozess In Ost- und Südosteuropa veränderten in dem letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts die meisten Staaten ihre ökonomische, politische und soziale Grundordnung; an die Stelle der sozialistischen Staatsverwaltungswirtschaft traten Formen der Marktwirtschaft und demokratische Strukturen.6 Dieser Veränderungsprozess, der was Schnelligkeit und Intensität des Wechsels anbelangt, von Land zu Land verschieden war, lässt sich durch eine Reihe von Kriterien kennzeichnen, von denen nur einige nachfolgend genannt werden können: • Die Veränderungen der wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Ordnung beschränkten sich nicht auf vereinzelte Maßnahmen sondern tendierten zu einem umfassenden, grundsätzlichen Wandel. • Dieser Wandel erfolgt in relativ kurzen Zeiträumen. 4 Vgl. die grundlegende Analyse der bestehenden Praxis von Helmrich, Zu Stil und Methode sozialpolitischer Gesetzgebung. Wege zu einer Verbesserung der gesetzgeberischen Regelungstechnik, in: v. Maydell (Hrsg.), Probleme sozialpolitischer Gesetzgebung, 1991, S. 11 ff. 5 Vgl. Fn. 3; siehe ferner Böhret, Wenn wir nur wüssten, wie Gesetze wirken . . .!, in: Für Recht und Staat (Fn. 2), S. 487 ff. 6 Speziell zur Transformation von Systemen sozialer Sicherheit vgl. v. Maydell/ Hohnerlein (Hrsg.), The transformation of social security systems in Central- and Eastern Europe, 1994; v. Maydell/Nußberger (Hrsg.), Transformation von Systemen sozialer Sicherheit in Mittel- und Osteuropa, 2000.

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• Die Reformen der sozialen Sicherungssysteme standen nicht am Anfang des Umwandlungsprozesses, sie wurden aber infolge der wirtschaftlichen Umbrüche immer dringlicher. • Die für die Transformation notwendigen personellen, institutionellen und finanziellen Ressourcen stehen in den jeweiligen Staaten nur sehr begrenzt zur Verfügung; daher war Hilfe von außerhalb notwendig und gefragt. • Die Hilfen beim Transformationsprozess, insbesondere die Beratungshilfe, wurden von internationalen Organisationen (Weltbank, ILO, Europarat, Europäische Union etc.), aber auch von Staaten und von privaten Institutionen, wie z. B. Stiftungen geleistet. Entsprechend der Mannigfaltigkeit dieser Akteure waren die mit der Hilfe verfolgten Ziele und Interessen sehr unterschiedlich. • Eine Theorie, wie ein solcher Transformationsprozess gestaltet und gesteuert werden sollte, war nicht vorhanden. Ebenso fehlte ein politischer Masterplan für das Tätigwerden. Die politischen Herausforderungen, vor denen die Akteure standen, haben Impulse für die wissenschaftliche Aufarbeitung der Transformationsprobleme gegeben. • Bei allen Versuchen, zu einer wissenschaftlichen Generalisierung zu kommen, muss stets berücksichtigt werden, dass die Gegebenheiten und die politischen Rahmenbedingungen in den einzelnen Staaten sehr unterschiedlich waren. Das zeigt ein Vergleich zwischen der deutschen Wiedervereinigung, bei der in Anbetracht des politischen Rahmens – dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik – eine Transformationsdebatte nur sehr rudimentär geführt worden ist, und Russland, wo die Probleme der Umwandlung der ehemals sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaft in eine demokratische Marktwirtschaft ganz offensichtlich waren und bis auf den heutigen Tag nicht gelöst worden sind. III. Singularität des Transformationsprozesses? Die besondere historische Situation, die zur Transformation in Ost- und Südosteuropa am Ende des 20. Jahrhunderts geführt hat, wird bisweilen als Beleg für die Singularität dieses Veränderungsprozesses angeführt.7 Die Singularität verbiete es aber, so könnte man folgern, aus dem Transformationsprozess allgemeine Lehren für Reformprozesse zu entwickeln. Demgegenüber ist in der sozialwissenschaftlichen Theorie schon früh die Trans7 In diesem Sinne Jonczyk, Transformation of social protection systems in Central- and Eastern Europe, in: GVG (Hrsg.), Probleme der Umwandlung der Sozialordnungen in Staaten Mittel- und Osteuropas, Bd. 27, 1994, S. 319, 323 ff.

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formation als eine Erscheinungsform eines Modernisierungsprozesses verstanden worden und damit die grundsätzliche Vergleichbarkeit mit anderen Modernisierungsprozessen bejaht worden.8 Für diese Sichtweise spricht, um nur einen Aspekt zu nennen, die Erkenntnis, dass Transformationsprozesse, wie Modernisierungsprozesse allgemein, nicht isoliert von den Besonderheiten des jeweiligen Staates analysiert und bewertet werden können (siehe oben II.). IV. Einige Fragestellungen aus der sozialpolitischen Transformationsdebatte 1. Ausgangslage im Reformstaat Die Typisierung von Transformationsprozessen könnte es nahe legen, die Umgestaltung in den einzelnen Staaten auf der Grundlage von Einheitskonzepten9 zu versuchen, indem man ein Modell einer sozialen Ordnung den Reformen zugrunde legt. Ein solches Vorgehen ist jedoch offensichtlich ungeeignet schon deshalb, weil die Transformationsstaaten nicht am Nullpunkt beginnen;10 sie verfügen vielmehr schon über eine Sozialordnung, die unter Umständen umgestaltet werden kann. Mit welchen Maßnahmen und in welchem Umfang dies geschehen sollte, hängt von der bestehenden Ordnung ab, aber auch von den sonstigen Rahmenbedingungen, die in dem jeweiligen Staat bestehen. So wird etwa die Gemeinsamkeit der Zentralverwaltungswirtschaften in den ehemals sozialistischen Staaten Osteuropas modifiziert durch Einflüsse der unterschiedlichen geschichtlichen Entwicklung. Diese Unterschiede können bis auf die Gegenwart nachwirken. Ein Beispiel dafür ist Polen, das in der ersten Hälfte des 20. Jh. ein Sozialversicherungssystem entwickelt hat, das bis auf den heutigen Tag nachwirkt und im Rahmen der Transformation zu einer Offenheit gegenüber dem Sozialversicherungsmodell führt,11 die sich so in vielen anderen Staaten nicht findet. Polen zeigt, dass die von den Sozialwissenschaften ermittelte Pfadabhängigkeit auch nach Unterbrechungen wirksam werden kann. Gleichzeitig kann es durchaus beachtliche Gründe dafür geben, dass es notwendig wird, das bisherige System grundlegend zu ändern, etwa weil 8

So z. B. Kempe, Chancen und Grenzen sozialwissenschaftlicher Erklärungsansätze zur Transformation der russischen Sozialpolitik, in: ZIAS 1998, S. 86 ff. 9 Solche Pläne lagen – jedenfalls zu Beginn der Transformationsphase – den Beratungsaktivitäten durch die Weltbank zugrunde, vgl. etwa die Studie Averting the old-age crisis, 1994. 10 Zutreffend Pitschas, Die Bedeutung von Modellen für den Transformationsprozess, in: v. Maydell/Nußberger (Hrsg.), Transformation (Fn. 6), S. 323, 338. 11 Auf diese Tradition weist z. B. Florek, Landesbericht Republik Polen, in: v. Maydell/Nußberger (Hrsg.), Transformation (Fn. 6), S. 101 ff., hin.

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die Praxis zu einer tiefgreifenden Korrumpierung der Gesellschaft geführt hat. So kann ein öffentliches Gesundheitssystem mit Steuerfinanzierung kaum aufrecht erhalten werden, wenn es sich allgemein eingebürgert hat, dass die Patienten für die Gesundheitsleistungen dem Arzt oder den sonstigen Leistungserbringern privat und außerhalb des Systems „Gegenleistungen“ erbringen.12 In einer solchen Situation bedarf es offensichtlich einer grundlegenden Änderung des Systems. So lassen sich zahlreiche Beispiele dafür aufzeigen, dass eine gründliche Analyse der bestehenden Verhältnisse in einem Reformstaat notwendig ist, bevor ein Reformkonzept entwickelt werden kann. Dass die wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Gegebenheiten bedeutsam sind, ist offensichtlich. Das gilt auch für die menschlichen Ressourcen. Komplexe Sozialleistungssysteme setzen das Vorhandensein von gut ausgebildeten Ökonomen, Sozialwissenschaftlern und Juristen voraus, woran es in den Reformstaaten häufig fehlte. Wichtig ist auch das bestehende Rechts-, Verwaltungsund Gerichtssystem. Nur bei Anerkennung der Rule of Law können viele Institutionen erfolgreich funktionieren.13 Das gilt insbesondere auch für den Föderalismus. Sozialleistungssysteme können regelmäßig nur wirksam werden, wenn sie nicht nur auf der zentralen sondern auch auf der föderalen Ebene richtig eingesetzt und praktiziert werden.14 2. Zielorientierung Idealiter sollte vor der Entwicklung und Umsetzung von Reformen Klarheit über die Ziele hergestellt werden, die mit den Reformen erreicht werden sollen. Funktional ausgedrückt geht es darum, die Absicherung der sozialen Risiken und Bedarfslagen möglichst wirtschaftlich und gleichzeitig effektiv zu gewährleisten. Diese funktionale Aufgabe kann inhaltlich an nationalen und internationalen Grundnormen ausgerichtet werden. National ist vor allem die Verfas12 Siehe dazu Knieps, Transformationsprozesse im Gesundheitswesen – Die Einführung einer sozialen Krankenversicherung in Polen, in: ZIAS 1998, S. 11 f. 13 Zum Recht in seiner Funktion im Transformationsprozess vgl. Nußberger, Rahmenvorgabe zur Entwicklung des Sozialrechts in den Transformationsstaaten, in: v. Maydell/Nußberger (Hrsg.), Transformation (Fn. 6), S. 229 ff.; vgl. auch Blankenagel, Vollzugsprobleme einer neuen Rechtsordnung, in: Nußberger/Mommsen (Hrsg.), Krise in Russland. Politische und sozialrechtliche Lösungsansätze, 1999, S. 99 ff.; ferner Zielinski, The rule of law in the transition to a democratic system, in: Sewerynski (ed.), Polish Labour Law and collective Labour Relations in the period of transformation, 1995, S. 5 ff. 14 Dazu v. Maydell, Fazit, in: GVG (Hrsg.), Sozialpolitische Beratung in Osteuropa: Einblicke in die Beratungspraxis am Beispiel des Tacis-Projektes „Governments of social security“, Bd. 39, 2003, S. 79, 82.

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sung zu beachten, die liberale und soziale Grundrechte enthalten kann. International sind die Deklarationen und Konventionen heranzuziehen, zu deren Einhaltung sich die jeweiligen Staaten verpflichtet haben, also z. B. die ILO-Konvention Nr. 102 über die Mindestnormen sozialer Sicherheit oder der entsprechende Code sowie die Sozialcharta des Europarats.15 Soweit die Reformstaaten Kandidaten für einen Beitritt zur EU sind, besteht ein weiteres Netz von Zielvorgaben in Form der EU-Normen, die zum Acqui communitaire gezählt werden und die von den Beitrittskandidaten einzuhalten sind.16 Dementsprechend sind die bestehenden Vorschriften und die Reformregeln daraufhin zu überprüfen, ob sie mit den EU-Vorgaben vereinbar sind.17 Reformprojekte müssen sich darüber hinaus an zahlreichen weiteren Vorgaben messen lassen. So müssen die finanziellen, institutionellen und personellen Ressourcen vorhanden sein, damit die Reformen umgesetzt werden können. Auch muss sichergestellt sein, dass die neu zu schaffenden Regeln in die gesamte Rechtsordnung eingepasst werden können und bei der Anwendung keine Wertungswidersprüche entstehen. Es müssen ferner die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass die Reformen auf Akzeptanz in der Bevölkerung stoßen.18 3. Theoretische Konzepte Die Transformationsprozesse der vergangenen Jahre sind ohne die Fundierung durch eine anerkannte Theorie abgelaufen. Die vielfältigen praktischen Schwierigkeiten haben zu intensiven Fragen an die Wissenschaft geführt. Beobachtung, Analyse und Bewertung der Transformationsprozesse beschäftigen Sozialwissenschaftler, Nationalökonomen und Juristen. Ein 15

Vgl. v. Maydell/Nußberger (Hrsg.), Social Protection by way of International Law, 1996; siehe auch Nagel, Der Einfluß internationaler Organisationen auf den Transformationsprozess. Der Beitrag des Europarats, in: v. Maydell/Nußberger (Hrsg.), Transformation (Fn. 6), S. 275 ff.; speziell zum Einfluss der ILO-Konventionen vgl. Florek, Influence of the International Labour Organisation’s conventions and recommendations on Polish Law, in: Sewerynski (ed.), Polish Labour Law (Fn. 13), S. 51 ff. 16 Siehe dazu Schulte, Koordinierung – Harmonisierung – Konvergenz: Souveränitäts- und Autonomieeinschränkung als Vorgaben des Europäischen Gemeinschaftsrechts für die nationale Sozialpolitik, in: v. Maydell/Zielinski (Hrsg.), Die Sozialordnung in Polen und Deutschland in einem zusammenwachsenden Europa. Gedächtnisschrift für Czeslaw Jackowiak, 1999, S. 457 ff. 17 Beispielhaft Wlotzke, Rechtliche Vorgaben der Europäischen Gemeinschaft für das Arbeitschutzrecht der Mitgliedstaaten, in: v. Maydell/Zielinski (Hrsg.), Sozialordnung (Fn. 16), S. 547 ff. 18 Dazu v. Maydell, Zur Akzeptanz des Arbeits- und Sozialrechts in Ostdeutschland, in: Berliner Journal für Soziologie 4/97, S. 491 ff.

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umfangreiches Schrifttum legt davon Zeugnis ab.19 Dabei springt ins Auge, dass der Beitrag der Rechtswissenschaft, insbesondere der Sozialrechtswissenschaft,20 zur Erforschung von Umwandlungsprozessen hinter den sozialwissenschaftlichen und wirtschaftswissenschaftlichen Analysen zurückfällt und im Übrigen von den anderen Disziplinen kaum zur Kenntnis genommen wird. Soweit die Transformationsprozesse Gegenstand rechtswissenschaftlicher Erörterungen sind, geht es zumeist um die konkreten rechtlichen Regelungen, die geändert werden sollen, nicht aber um die Methode, mit Hilfe derer diese Änderungen zu analysieren sind. Ein weiteres Defizit, das die vorhandene Transformationsliteratur offenbart, liegt in der geringen Beachtung, die die interdisziplinäre Sicht erfährt. Wie die verschiedenen Ansätze zur Erforschung von Transformationen sich unterscheiden und wie sie zusammenwirken können, diese Frage ist bislang nicht aufgearbeitet worden. Damit mag zusammenhängen, dass die konkrete Transformationspolitik, wie sie von den Reformstaaten, aber auch von internationalen Institutionen und vielen westlichen Beratern betrieben wird, sich nicht auf ein breites theoretisches Fundament stützen kann, sondern allenfalls einzelne methodische Ansätze, wie z. B. das überwiegend ökonomisch determinierte Konzept der Weltbank zur Gestaltung von Alterssicherungssystemen,21 vorhanden sind. Wie unterschiedlich die Ansätze der verschiedenen Disziplinen sind, belegt ein Colloquium des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Sozialrecht in München aus dem Jahre 1997.22 Die damals ermittelten Befunde haben sich auch heute, trotz eines weiteren Zuwachses an Literatur, nicht wesentlich geändert.23 Die verschiedenen Ansätze sind bis19 Vgl. z. B. Wollmann u. a. (Hrsg.), Transplantation oder Eigenwuchs? Die Transformation der Institutionen in Ostdeutschland. Eine Forschungsdokumentation, 1995; zuletzt dazu Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Bertelsmann Transformation Index 2006, Auf dem Wege zur marktwirtschaftlichen Demokratie, 2005. 20 Dazu Nußberger, Die Rolle des Rechts und der Rechtswissenschaft im Transformationsprozess, in: ZIAS 1998, S. 104 ff.; v. Maydell, Transformation von Systemen sozialer Sicherheit als Gegenstand rechtlicher sowie wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Forschungen, in: ZIAS 1998, S. 5 ff. 21 Vgl. Fn. 9; zur Transformation von Alterssicherungssystemen siehe auch Schmähl/Horstmann (Hrsg.), Transformation of pension systems in Central- and Eastern Europe, 2002; ferner v. Maydell, Die Transformation des Alterssicherungssystems: Von der Einheitsrente zum gegliederten einkommensbezogenen System, in: Bertram/Kollmorgen (Hrsg.), Die Transformation Ostdeutschlands. Berichte zum sozialen und politischen Wandel in den neuen Bundesländern, 2001, S. 209 ff. 22 Dokumentiert in ZIAS 1998, S. 1 ff. 23 Die – weitere – Arbeit an einer Theorie der Transformation bezeichnet Zacher (Transformation und Sozialrechtsvergleichung – zur Notwendigkeit einer Theorie, in: v. Maydell/Nußberger (Hrsg.), Transformation (Fn. 6), S. 371, 382) als „unverzichtbaren Beitrag zur Rationalität des Handelns und zum Gelingen der Transformation“.

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lang nicht zu einer einheitlichen Transformationstheorie24 zusammengeführt worden, sie bereichern aber dennoch – von verschiedenen Blickwinkeln aus – die Diskussion und helfen dabei, die entscheidenden Fragestellungen für die Lösung der praktischen Reformprobleme herauszuarbeiten. So bemüht sich etwa die Konstitutionenökonomie25 darum, die Sozialpolitik zu legitimieren und damit von dem Vorwurf zu befreien, auf vorwissenschaftlichen Werturteilen zu beruhen.26 Die Sozialwissenschaften entwickeln, etwa im Rahmen der Demokratisierungsforschung, Modernisierungstheorien, mit denen z. B. die Bedeutung sozialer Sicherung in sich wandelnden Gesellschaften analysiert und begründet wird.27 Auch werden in historischer Betrachtung Modelle der sozialpolitischen Entwicklung in verschiedenen Staaten herausgearbeitet, die eine Orientierung für Reformmaßnahmen bieten können. Allerdings muss man feststellen, dass die tatsächlich praktizierten nationalen Systeme ganz überwiegend auf einer Mischung verschiedener Modelle beruhen. Die Juristen können bei der Beurteilung von Transformationsprozessen vor allem auf die Rechtsvergleichung zurückgreifen.28 Der Hinweis auf die Rechtsvergleichung verdeutlicht gleichzeitig, dass eine autonome juristische Analyse von Transformationsprozessen nicht möglich ist; denn jeder Rechtsvergleich erfordert zunächst die Formulierung des vorrechtlichen Problems, um dessen sachgerechte Lösung es geht. Dieses vorrechtliche Problem kann aber nicht isoliert sondern nur unter Berücksichtigung der Gesamtheit der gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse definiert werden. Hier ist aus der Sicht der Rechtswissenschaft einer der Berührungspunkte zu anderen Wissenschaftsdisziplinen. Diese Verknüpfung, die auch aus der Sicht der anderen Disziplinen aufgezeigt werden könnte, zeigt, dass Transformationsprozesse nicht isoliert durch die Brille einer Disziplin betrachtet werden können.29 Jede interdisziplinäre Betrachtung steht allerdings vor besonderen Schwierigkeiten, die schon bei der Begriffsbildung30 beginnen, die für jede Disziplin eigenständig ist. 24 Vgl. aber aus politikwissenschaftlicher Sicht Merkel, Systemtransformation, 2002. 25 Vgl. Pankow, Ökonomie der Reformländer. Der gegenwärtige Wandel und Prognosen für die Transformation, 1994. 26 So Voigt, Methodische Konzepte zur Reform sozialer Sicherungssysteme – einige Überlegungen aus konstitutionenökonomischer Sicht, in: ZIAS 1998, S. 53, 54. 27 Dazu Kempe, Chancen (siehe Fn. 8), ZIAS 1998, S. 86, 89. 28 Vgl. Eichenhofer, Die Rolle der Sozialrechtsvergleichung im Transformationsprozess, in: v. Maydell/Nußberger (Hrsg.), Transformation (Fn. 6), S. 351 ff.; siehe auch v. Maydell, Wissenschaftliche Begleitung von Transformationsprozessen als interdisziplinäre Aufgabe, in: Fachinger u. a. (Hrsg.), Die Konzeption sozialer Sicherung, FS für Prof. Dr. Winfried Schmähl zum 60. Geburtstag, 2002, S. 125 ff. 29 Siehe v. Maydell, Begleitung (Fn. 28).

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Abgesehen von diesen methodologischen Grundorientierungen stellen sich bei der Analyse von Transformationsprozessen und bei der Formulierung von Lehren eine Fülle einzelner Fragen, wie etwa, ob es sich empfiehlt, eine notwendige Reform in einem Schritt zu bewältigen oder in verschiedene einzelne Teilreformen aufzuteilen. 4. Akteure Die Aufgabe, Reformen vorzubereiten und durchzusetzen, obliegt regelmäßig in demokratischen Staaten den nationalen Parlamenten, die auf die Vorarbeiten der Ministerialbürokratie zurückgreifen. Ob eine wissenschaftliche Vorbereitung erfolgt, ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Von der Möglichkeit einer rechtsvergleichenden Analyse wird im Bereich der Sozialpolitik nur sehr vereinzelt Gebrauch gemacht.31 Allerdings könnte sich für ausgewählte Themenkomplexe innerhalb der EU in der Zukunft eine Änderung dadurch ergeben, dass im Rahmen der offenen Methode der Koordinierung in breitem Umfange die nationalen Lösungen für sozialpolitische Probleme miteinander verglichen und analysiert werden.32 Dies erfolgt vor allem auch mit dem Zweck, für die Reformen im eigenen Land Anregungen durch gelungene ausländische Regelungen zu erhalten. Inwieweit dieses neue Instrument eines EU-weiten institutionalisierten Rechtsvergleichs die erhofften Wirkungen zeitigen wird, lässt sich im Augenblick noch nicht abschätzen. Sieht man von diesem Beispiel für eine potenzielle Durchbrechung des nationalen Rahmens bei sozialpolitischer Gesetzgebung ab, so verbleibt es im Übrigen bei der Konzentration auf nationale Institutionen. Ein anderes Bild bietet sich allerdings in den Transformationsstaaten. Das gilt sowohl für die involvierten Institutionen als auch für die handelnden Personen, die Akteure im engeren Sinne. Bedingt durch den Mangel an Erfahrungen bei sozialpolitischen Reformen, an finanziellen Mitteln und an adäquat ausgebildeten Personen ist in den Transformationsstaaten in weitem 30 Zum Begriff der Transformation vgl. Hoffer, Modernisierung sozialer Sicherheit in Russland – einige methodische Überlegungen, in: ZIAS 1998, S. 29 ff.; dazu auch Schulte, Gibt es fachspezifische Methoden der Begleitung und Analyse von Transformationsprozessen?, in: ZIAS 1998, S. 109 ff.; bisweilen wird auch der Begriff der Transition gebraucht, so in der Analyse der Transformation in Estland von Lauristin/Vihalemm (Hrsg.), Return to the Western World. Cultural and political perspectives on the Estonian post-communist-transition, 1997. 31 Vgl. v. Maydell, Sozialpolitik und Rechtsvergleich, in: Ruland u. a. (Hrsg.), Verfassung, Theorie und Praxis des Sozialstaats, FS für Hans F. Zacher zum 70. Geburtstag, 1998, S. 591 ff. 32 Zur offenen Methode der Koordinierung vgl. Göbel, Von der Konvergenzstrategie zur offenen Methode der Koordinierung, 2002; vgl. auch v. Maydell et al., Enabling social Europe, 2006.

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Umfange ausländische Hilfe in Anspruch genommen worden. Diese Hilfe wurde gewährt von internationalen Organisationen,33 von der Europäischen Union,34 von anderen Staaten und von privaten Institutionen, wie gemeinnützigen Stiftungen, privaten Beratungsunternehmen etc. Auch wenn weitgehend anzuerkennen ist, dass diese Hilfe unverzichtbar war, so war sie doch verbunden mit zahlreichen Vorbehalten auf Seiten der Menschen in den Transformationsstaaten. Sie empfanden die neuen Systeme als fremd und von außen übergestülpt. Besonders intensiv sind solche Widerstände im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung von vielen Menschen in der früheren DDR entwickelt worden. Der vollständige Verzicht auf die bisherige soziale Ordnung in der DDR ohne Überprüfung, ob einzelne Institute oder Institutionen nicht erhaltenswert sein könnten, und die Ersetzung durch eine neue, sehr viel komplexere und kompliziertere Ordnung35 wurden von vielen nicht akzeptiert; dies hat zu lange nachwirkenden Verstörungen geführt. In den anderen Transformationsstaaten ist der Wechsel nicht so umfassend gewesen. Vor allem kamen die Reformkonzepte nicht aus einem einzigen anderen Staat. Allerdings gab es auch in den anderen Transformationsstaaten Widerstände, insbesondere dort, wo die Reformpläne ohne ausreichende Kenntnis der nationalen Besonderheiten entwickelt worden sind und wo sie von Institutionen stammten, wie etwa der Weltbank oder dem Internationalen Währungsfonds, denen unterstellt wurde, dass diese Vorschläge überwiegend wirtschafts- und finanzpolitisch motiviert gewesen seien. Entscheidende Bedeutung kommt der Frage zu, von wem, d. h. welchen Personen, die konkrete Beratungsarbeit geleistet worden ist. Es liegen insoweit viele Erfahrungen vor, die allerdings nicht aufgearbeitet worden sind. Das gilt für die nationalen Beratungsaktivitäten,36 aber auch noch mehr für international organisierte Projekte und die sehr umfangreiche Beratungstätigkeit der Europäischen Gemeinschaft. Immerhin lassen sich aufgrund persönlicher Erfahrungen einige Aspekte nennen, die bedeutsam sein können. Am besten bewährt haben sich Beraterteams, die aus verschiedenen Staaten mit unterschiedlichen Modellen der Gewährleistung sozialer Sicherheit zusammengesetzt sind, längerfristig und nach Möglichkeit interdisziplinär arbeiten können und nicht eng auf die Absicherung eines sozialen Risikos 33 Vgl. Queisser, Der Einfluss internationaler Organisationen auf den Transformationsprozess, in: v. Maydell/Nußberger (Hrsg.), Transformation (Fn. 6), S. 243 ff. 34 Siehe Jorens, Der Beitrag der Europäischen Gemeinschaft, in: v. Maydell/ Nußberger (Hrsg.), Transformation (Fn. 6), S. 259 ff. 35 Dazu v. Maydell u. a., Die Umwandlung der Arbeits- und Sozialordnung, Berichte zum sozialen und politischen Wandel in Ostdeutschland, Bericht 6, 1996. 36 Eine gewisse Ausnahme stellt insoweit die deutsche Wiedervereinigung dar, die durch viele Erfahrungsberichte dokumentiert worden ist.

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beschränkt sind. Vor allem müssen in diesen Teams Experten aus dem jeweiligen Transformationsstaat in einer Zahl und mit einer Kompetenz vertreten sein, dass ihnen nicht nur eine Alibifunktion zukommt. Sicherlich hat ein solches Konzept einige Schwierigkeiten zu überwinden. In den Teams müssen nicht nur Sprach-, sondern auch sonstige Verständigungsprobleme hinsichtlich der verschiedenen Disziplinen und der unterschiedlichen Systeme überwunden werden. Das kostet Mühe und Zeit. Andererseits kann durch solche Teams erreicht werden, dass die Reformmodelle auf der soliden Basis einer Analyse des jeweiligen Transformationsstaats erarbeitet werden und auf der Kenntnis von unterschiedlichen Modellen und Institutionen sozialer Sicherheit beruhen. Deshalb ist es auch notwendig, dass der Untersuchungsauftrag nicht zu eng auf ein Risiko beschränkt ist, denn im umfassenden internationalen Vergleich könnte dieses Risiko anders und u. U. zusammen mit anderen Risiken abgesichert werden.37 5. Finanzierung Der Umbauprozess, insbesondere wenn er von ausländischen Beratern begleitet wurde, erforderte Finanzmittel, über die die Reformstaaten zumeist nicht verfügten. Diese Mittel mussten daher von dritter Seite zur Verfügung gestellt werden. Das geschah teilweise durch die Beratungsinstitutionen selbst, teilweise durch die Weltbank, den internationalen Währungsfonds oder auch die Europäische Union. Problematisch, vor allem in den Augen der Bevölkerung des jeweiligen Transformationsstaates, war diese Finanzierung dann, wenn die Mittel als Darlehen gewährt wurden und daher zurückgezahlt werden mussten. V. Folgerungen 1. Umfassendes Erfahrungspotential Die knappe Analyse hat gezeigt, dass der Transformationsprozess allgemein und in sozialpolitischen Bereichen im besonderen vielfältige Reformaktivitäten in Gang gesetzt hat, die bislang noch nicht umfassend gesammelt, analysiert und ausgewertet worden sind. Eine solche Auswertung ist in vielerlei Hinsicht nicht nur von wissenschaftlichem Interesse, indem das Verständnis von Sozialrecht und Sozialpolitik vertieft wird, sondern auch von praktisch-politischer Bedeutung. Nur einige der insoweit relevanten Fragestellungen sollen hier genannt werden: 37

Siehe dazu v. Maydell, Fazit (Fn. 14), S. 79 ff.

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• Welchen Anforderungen hat das Sozialrecht in einer globalisierten Welt zu genügen? • Wie können die notwendigen Anpassungsprozesse gestaltet werden? • Wie wirken nationale und internationale Ordnungen zusammen? • Unter welchen Voraussetzungen kann interdisziplinäre Beratung fruchtbar werden? • Welche Folgerungen lassen sich aus den Erfahrungen des Transformationsprozesses für die Gestaltung der offenen Methode der Koordinierung im Rahmen der Europäischen Union ziehen? • Lassen sich die Erfahrungen aus dem Transformationsprozess für nationale Reformvorhaben nutzbar machen? Diese und viele andere mögliche Fragen können hier nicht untersucht werden. Es soll nachfolgend nur versucht werden, einige Folgerungen aus den obigen Feststellungen für nationale sozialpolitische Reformen zu entwickeln. 2. Nationale Sozialreformen und die Erfahrungen aus dem Transformationsprozess a) Offensichtliche Defizite Dass die sozialpolitische Gesetzgebung, was ihren Stil und die konkreten Ergebnisse anbelangt, unzulänglich ist, bedarf keiner besonderen Betonung. Jedes neue Reformvorhaben macht diesen Zustand erschreckend deutlich.38 So liegt es nahe, Erfahrungen aus anderen Bereichen auszuwerten und damit neue Ideen in den Gesetzgebungsprozess einzuführen. b) Einige potenziell hilfreiche Erfahrungen Auch hier wieder können nur einige einzelne Aspekte herausgegriffen werden: In den Transformationsstaaten sind ausländische Erfahrungen und Modelle in weitem Umfange bei der inhaltlichen Gestaltung der Reform herangezogen worden. Dies empfiehlt sich auch für Sozialreformen allgemein, wo bislang der Rechtsvergleich eine eher geringe Rolle spielt. • Die Umwandlung in den Transformationsstaaten orientiert sich in starkem Maße an internationalen Standards, etwa solchen des Europarats oder der ILO. Diese Standards haben in Deutschland einen geringen Bekanntheits38

Vgl. Fn. 2 und 4.

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grad. Allerdings sind sie nur in begrenztem Umfange geeignet, Leitlinien bei sehr komplexen Regelungen zu geben. • In dem Transformationsprozess ergibt sich das Nebeneinander von Wirtschafts- und Finanzreformen einerseits und Sozialreformen andererseits bereits – gleichsam politisch vorgegeben – aus der Umbruchsituation. Auch wenn aus diesem Nebeneinander nicht regelmäßig ein Miteinander wird, so ist damit doch ein wichtiger Aspekt – die notwendige Zusammenschau – angesprochen. • Der Transformationsprozess stand zumeist unter einem erheblichen Zeitdruck, der eine gründliche Vorbereitung der Reformen erschwerte. Dennoch wünscht man sich in Anbetracht der häufig nicht enden wollenden Diskussion über einzelne Reformen ein zügigeres Vorgehen. • Die Vorbereitung der von Reformen durch international zusammengesetzte, interdisziplinär arbeitende Expertenteams könnte auch außerhalb des Transformationsprozesses ein hilfreiches Instrument sein. So könnte erreicht werden, dass die national verkrustete Diskussion aufgebrochen und durch Ideen aus ausländischen Systemen bereichert wird. Die Heranziehung ausländischer Experten, die zusammen mit deutschen Sachverständigen arbeiten, gewährleistet, dass Gedanken aus dem Ausland sehr viel intensiver berücksichtigt werden als dies bei einem rechtsvergleichenden Gutachten üblicherweise der Fall ist. Die Erfahrungen aus Beratungsprojekten im Rahmen des Transformationsprozesses bieten insofern interessante Anregungen.39 3. Sinnhaftigkeit der Intensivierung der Transformationsforschung Auch wenn es eine umfangreiche Transformationsliteratur gibt, die allerdings im Abklingen begriffen ist, sind zahlreiche Fragen nicht hinreichend erforscht. Das gilt vor allem für die internationalen Transformationsprozesse, nicht so sehr für die deutsche Wiedervereinigung, für die es eine Reihe analytischer Untersuchungen gibt.40 So könnten die Beratungsprojekte, die 39

Vgl. v. Maydell, Fazit (Fn. 14), S. 79 ff. Zu verweisen ist insoweit auf die Berichte zum sozialen und politischen Wandel in den neuen Bundesländern der KSPW; aus der umfangreichen Literatur vgl. ferner Zapf, Die Transformation in der ehemaligen DDR und die soziologische Theorie der Modernisierung, in: Berliner Journal für Soziologie 3/94, S. 295 ff.; Reissig, Transformation – theoretisch-konzeptionelle Ansätze und Erklärungsversuche, in: Berliner Journal für Soziologie 3/94, S. 323 ff.; Kollmorgen, Auf der Suche nach Theorien der Transformation. Überlegungen zu Begriff und Theoretisierung der postsozialistischen Transformationen, in: Berliner Journal für Soziologie 3/94, S. 381 ff.; Hradil, Die Transformation der Transformationsforschung, in: 40

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in großer Zahl abgewickelt worden sind, analysiert und evaluiert werden. Das ist bislang nur punktuell geschehen. Eine solche Analyse könnte weitere Aufschlüsse darüber geben, welche Formen bei der Vorbereitung von Reformen sich bewährt haben. Darüber hinaus sollten auch die Bemühungen um die Entwicklung einer Transformations-(Modernisierungs-)Theorie auf der Basis der gemachten Erfahrungen fortgeführt werden. Das ist nicht nur aus wissenschaftlichem Interesse sinnvoll. Darüber hinaus könnten sich aus solchen Forschungserkenntnissen auch Anregungen für die Sozialpolitik, insbesondere für die sozialpolitische Gesetzgebung, ergeben.

Berliner Journal für Soziologie 3/96, S. 299 ff.; v. Beyme, Der kurze Sonderweg Ostdeutschlands zur Vermeidung eines erneuten deutschen Sonderweges: Die Transformation Ostdeutschlands im Vergleich der postkommunistischen Systeme, in: Berliner Journal für Soziologie 3/96, S. 305 ff.; Kaase/Lepsius, Transformationsforschung, in: Bertram/Kollmorgen (Hrsg.), Die Transformation Ostdeutschlands. Berichte zum sozialen und politischen Wandel in den neuen Bundesländern, 2001, S. 343 ff.

Deutsche Sicherheitspolitik im Spannungsfeld von nationalen Interessen und internationalen Herausforderungen Von Klaus Naumann Einleitung und Einführung In seiner relativ kurzen Zeit als Verteidigungsminister hat Rupert Scholz zwei Akzente gesetzt, die im strategischen Denken Deutschlands lange nachwirkten und die, allerdings erst nach seiner Amtszeit, grundlegende Veränderung bewirkten: Rupert Scholz hat vom ersten Tag als Verteidigungsminister an die Option einer Vereinigung der deutschen Staaten in die Überlegungen der Hardthöhe eingebracht und damit den Gedanken reifen lassen, dass die Wahrung deutscher Interessen eine Determinante deutscher Verteidigungspolitik sein müsse. Zum Zweiten hat Rupert Scholz in den auch in seiner kurzen Amtszeit nicht nachlassenden Auseinandersetzungen mit dem von Außenminister Genscher geprägten Auswärtigen Amt über die Frage eines Bundeswehreinsatzes außerhalb Deutschlands nie Zweifel aufkommen lassen, dass die Genscher’sche Linie des Ausschlusses dieser Option nicht vom Grundgesetz geboten sei und nichts anderes bewirke als eine Einschränkung deutschen außenpolitischen Spielraumes. Diese letztere Frage ist durch das Bundesverfassungsgericht 1994 entschieden worden. Sie bedarf daher keiner weiteren Diskussion, aber ohne das Wirken von Männern wie Rupert Scholz hätte ein Jahrzehnt später ein sozialdemokratischer Verteidigungsminister nicht sagen können: Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt. Noch immer ungelöst ist dagegen die Frage der deutschen nationalen Interessen. Warum stellt sich eigentlich die Frage nach deutschen Sicherheitsinteressen und nach einer nationalen Sicherheitsstrategie nun erst, im sechsten Lebensjahrzehnt der Bundesrepublik Deutschland? Warum hat Bundespräsident Köhler als Erster unserer Bundespräsidenten im September 2005 in seiner Rede vor der Kommandeurtagung der Bundeswehr eine Diskussion

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dieser Frage gefordert? Er, Köhler, ist gewiss frei von der in ganz Europa zu beobachtenden Rückbesinnung auf nationalstaatliches Denken. Man sieht in Europa durchaus nationalen Egoismus, den man gerade in Diskussionen um industrielle Zusammenschlüsse beobachten konnte, übrigens auch hierzulande und nicht nur bei EU-Partnern. Im deutschen Falle mag zu dieser Rückbesinnung die Auflehnung einer nicht mehr von der eingeschränkten Souveränität der beiden deutschen Teilstaaten geprägten Generation gegen scheinbare, zumindest subjektiv empfundene Fremdbestimmung geführt haben. Aber dies dürfte nur die Oberfläche sein. Der eigentliche Grund könnte der von Rupert Scholz in die Diskussion um deutsche Sicherheitsund Verteidigungspolitik eingebrachte Gedanke nationaler Interessen sein. Dieser Anstoß verdient es deshalb in einer Festschrift zu seinem 70. Geburtstag festgehalten und erinnert zu werden. Doch erinnern allein wäre nicht im Sinne des Jubilars, deshalb wird nachstehend versucht, von den deutschen Interessen ausgehend deutsche Sicherheitspolitik im Spannungsfeld von nationalen Interessen und internationalen Herausforderungen zu beschreiben.

I. Deutsche Interessen als neuer Faktor deutscher Sicherheitspolitik Sicher ist, dass die ersten vierzig Jahre der Bundesrepublik Deutschland durch die Realitäten eingeschränkter Souveränität geprägt worden sind und von dem engen Spielraum bestimmt waren, den die erstarrte bipolare Welt des Kalten Krieges der deutschen Politik bot. Deutschland West war ein sicher wichtiges und großes Schiff im Konvoi des westlichen Bündnisses der NATO und Deutschland Ost hatte eine durchaus ähnliche Rolle im östlichen Bündnis des Warschauer Paktes, der Unterschied war, dass man im westlichen Konvoi dem Geleitzugführer eine Kursänderung vorschlagen und auch durchsetzen konnte während im Warschauer Pakt ein „Aye, Aye, Sir“ schon ein Höchstmaß an Meinungsfreiheit darstellte und an Unbotmäßigkeit grenzte. Im Westen wurde Deutschlands Sicherheitspolitik geprägt von der Entscheidung für die Westintegration und für das Bündnis mit den USA. Ein deutlicher Ausdruck dafür ist die Bundeswehr, die als erste deutsche Streitmacht für die volle Integration in das internationale Bündnis der NATO aufgestellt wurde, nachdem der weiter reichende Ansatz einer die Nationalstaatlichkeit überwindenden Europäischen Verteidigungs-Gemeinschaft (EVG 1953) am Nein Frankreichs gescheitert war. Man ging in der alten Bundesrepublik Deutschland oft so weit zu sagen, die NATO sei ein Teil der „raison d’être“ der Bundesrepublik Deutschland. Dieses Urteil sei späte-

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rer Geschichtsschreibung überlassen. Fest steht aber, dass die alte Bundesrepublik Deutschland sich nur Dank der NATO so entfalten konnte wie sie es tat, dass nur unter dem Schirm des Bündnisses ein unglaublicher wirtschaftlicher, staatlicher und gesellschaftlicher Aufbau erfolgen konnte und dass nur mit der Hilfe des gütigen Hegemon USA das Friedens- und Versöhnungswerk der EU und ihr Kernstück, die deutsch-französische Aussöhnung, gelingen konnte. Deutschlands Außen- und Sicherheitspolitik wurde in den Jahren bis zur deutschen Einheit aber dadurch eben auch zu einem Spagat: Deutschland wollte niemals Erfüllungsgehilfe der USA sein und war es auch nicht, wollte aber auch niemals als willenloser Steigbügelhalter Frankreichs für die Erfüllung gaullistischer Träume eines von Frankreich geführten und als Konkurrenz zu den USA verstandenen Europa herhalten. Deutschland war niemals in einem Verhältnis blinder Gefolgschaft zu den USA. Das können nur Leute behaupten, die in den Jahren bis zur Einheit und im Jahrzehnt danach mit Außenpolitik nichts zu tun hatten und die nun im Versuch, die groben handwerklichen Fehler deutscher Außenpolitik des Jahres 2002 zu kaschieren, davon sprechen, dass erst 2002 der Aufbruch zu deutscher Eigenständigkeit erfolgt sei. Dieser Aufbruch erfolgte in Wirklichkeit im Prozess der Verhandlungen zur deutschen Einheit, spätestens aber 1991/92, unter anderem auch als erstmals deutsche nationale Sicherheitsinteressen in einem Regierungsdokument festgehalten wurden. Das Dokument waren die Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR) von 1992. Sie gingen zurück auf ein Papier des Führungsstabes der Streitkräfte (FüS), das ich bei Amtsantritt als Generalinspekteur mit Zustimmung des damaligen Verteidigungsministers Stoltenberg hatte erarbeiten lassen, weil nach dem Ende der Ost-West Konfrontation eine konzeptionelle Grundlage für die weitere Planung der Bundeswehr benötigt wurde. Dieses Papier wurde im Februar 1992 dem Bundeskabinett zur Kenntnis gebracht und die darin enthaltenen, erstmals schriftlich fixierten deutschen Sicherheitsinteressen wurden in den VPR übernommen, einem Dokument, das mit Zustimmung des Auswärtigen Amtes erlassen worden war. Das Thema, Deutsche Sicherheitspolitik im Spannungsfeld von nationalen Interessen und internationalen Herausforderungen, ist aber weiter gefasst und verlangt auf zwei Komplexe einzugehen: Die nationalen Interessen und die internationalen Herausforderungen, die deren Durchsetzung entweder im Wege stehen oder für sie förderlich sind. Diese beiden Komplexe werden nachfolgend zuerst behandelt, bevor das Spannungsfeld beschrieben wird, in dem deutsche Sicherheitspolitik zu gestalten ist, und daraus abgeleitet wird, welche Faktoren deutsche Sicherheitspolitik bestimmen sollten.

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II. Deutsche Sicherheitsinteressen Die Kabinettsvorlage für die jährliche Sitzung des Bundeskabinetts auf der Hardthöhe des Jahres 1992 enthielt folgende Formulierung deutscher Sicherheitsinteressen: „Deutschland verfolgt als übergeordnete sicherheitspolitische Zielsetzung, Konflikte in Europa zu verhüten und Sicherheit für Europa im Rahmen einer dauerhaften und gerechten Friedensordnung zu wahren, die auf pluralistischer Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und sozialer Marktwirtschaft gründen soll. Dabei lässt sich die deutsche Politik von vitalen Sicherheitsinteressen leiten: 1. Schutz Deutschlands und seiner Staatsbürger vor äußerer Gefahr und politischer Erpressung; 2. Vorbeugung, Eindämmung und Beendigung von Krisen und Konflikten, die Deutschlands Unversehrtheit und Stabilität beeinträchtigen können; 3. Bündnisbindung an die Nuklear- und Seemächte der Nordatlantischen Allianz, da sich Deutschland als Nichtnuklearmacht und kontinentale Mittelmacht mit weltweiten Interessen nicht allein behaupten kann; 4. Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Integration einschließlich der Entwicklung einer europäischen Verteidigungsidentität; 5. „Partnerschaft unter Gleichen“ zwischen Europa und Nordamerika, ausgedrückt in der Teilhabe Nordamerikas an den europäischen Prozessen und in der signifikanten militärischen Präsenz der USA in Europa; 6. Festlegung und Ausbau einer global und regional wirksamen Sicherheitsstruktur komplementärer Organisationen; 7. Förderung der Demokratisierung und des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts in Europa und weltweit; 8. Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt im Rahmen einer gerechten Weltwirtschaftsordnung und 9. Fortsetzung eines Stabilitätsorientierten rüstungskontrollpolitischen Prozesses in und für Europa.“

Wenn man das mit dem Abstand von fünfzehn Jahren liest, dann kann man sagen, dass die Zielsetzung erreicht wurde, wenn auch wegen der jugoslawischen Sezessionskriege erst nach Krieg und Gewalt, und man große Teile dieser Formulierungen trotz Revisionsbedürftigkeit im Einzelnen auch heute noch so wählen könnte. Die Sicherheitsinteressen in der Fassung des Jahres 1992 enthalten nichts grundsätzlich Falsches, sind aber doch zu sehr auf Schutz vor herkömmlicher äußerer Gefahr ausgerichtet und im geographischen Rahmen zu eng gesteckt. Damals aber waren es zumindest zwei Elemente, die anzeigten, welch grundsätzlicher Wandel sich aus dem Ende des Ost-West Konfliktes für Deutschland ergeben hatte:

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1. Es ging nun um mehr als militärische Sicherheit, es wurde ein umfassender Sicherheitsanspruch formuliert und damit auch ein über das Militärische hinausreichendes Instrumentarium gefordert und 2. der räumliche Bezug ging weit über das eigene Territorium hinaus und machte damit schon damals deutlich, dass Sicherheit für Deutschland allenfalls im regionalen Geltungsbereich, teilweise sogar nur darüber hinaus zu erreichen ist. Deutschlands Politik hatte sich also bereits 1992 von Hindelang gelöst, aber Hindukusch konnte man wegen der innenpolitischen Befindlichkeit damals noch nicht aussprechen und Niemand dachte daran, dass schon ein Jahrzehnt später in Afghanistan deutsche Kasernen gebaut werden würden. Was den Planern im Verteidigungsministerium allerdings sehr klar war: Die so genannte Out-of-Area Frage war damit bereits 1992 politisch beantwortet, wenngleich es noch zweier weiterer Jahre bedurfte bis die politische Schutzbehauptung der 80er Jahre, das Grundgesetz verbiete solche Einsätze der Bundeswehr, vom Bundesverfassungsgericht beseitigt wurde. Was würde man heute wohl deutlicher oder anders fassen? Vielleicht wäre es zweckmäßig vom Schutz Deutschlands, seiner Staatsbürger, seines Staatsgebietes und seiner Interessen vor Gefahren aller Art und vor jeglicher Erpressung zu sprechen. Damit würde man der Notwendigkeit Rechnung tragen nicht mehr zwischen innerer und äußerer Sicherheit zu unterscheiden, was angesichts neuer Risiken und der Möglichkeit, dass nichtstaatliche Akteure mit militärischen Mitteln handeln können, sinnvoll ist. Zwingend geboten ist außerdem den geographischen Rahmen den Gegebenheiten einer globalisierten Welt anzupassen. Das Mindeste wäre also von Sicherheit in und für Europa zu sprechen. Ferner erscheint es zweckmäßig, den Gedanken der Vorbeugung deutlicher zu fassen und zu sagen, dass Deutschland Krisen vorbeugend begegnen will und Konflikte dort verhindern will, wo sie entstehen, sie auf jeden Fall aber einzudämmen und zu beenden sucht, wenn sie die Unversehrtheit und Stabilität Deutschlands beeinträchtigen können. Anpassen müsste man schließlich die Formulierungen der Ziffern 5 bis 8. Es ist heute eine Utopie von einer Partnerschaft unter Gleichen zwischen Europa und den USA zu sprechen, diesen Zug hat Europa in den 90er Jahren verpasst und die Idee der komplementären Organisationen ist von der Wirklichkeit überholt worden. Völlig neu fassen müsste man die Ziffer 9. Rüstungskontrolle ist zwar weiterhin geboten, aber die Beschränkung auf Europa ist falsch, und die notwendigen Ansätze für eine weltweite, auch qualitative Rüstungskontrolle sind in Zeiten, in denen der Atomwaffensperr-

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vertrag (NPT) Gefahr läuft entwertet zu werden, nicht zu erkennen. Es gilt neue Formen und Foren multilateraler Rüstungskontrolle zu finden ohne in der Zwischenzeit den Fehler zu machen, den man so in offiziellen Dokumenten sehen kann, Phrasen der Vergangenheit gebetsmühlenartig zu wiederholen. Man müsste heute versuchen, deutsche Interessen so weit zu formulieren, dass die Sicherheitsinteressen nur noch Teilmenge sind. Dazu muss man allerdings zunächst betrachten, welche Entwicklungen und Faktoren die Sicherheit und Unversehrtheit Deutschlands in der überschaubaren Zukunft beeinträchtigen könnten. III. Die Gefahren 1. Die innere Befindlichkeit Es erscheint angesichts der deutschen Neigung nach innen zu sehen und der lieb gewordenen Gewohnheit Risiken aus dem Weg zu gehen zweckmäßig bei der Betrachtung der Gefahren, die der Wahrung deutscher Interessen im Wege stehen könnten, mit der inneren Lage Deutschlands zu beginnen und dann Schritt für Schritt nach außen zu gehen. Die deutsche Gesellschaft lebt trotz des für die Deutschen typischen Pessimismus und einer immer wieder beschämenden, zum Teil von den Medien erzeugten Neigung zu Hysterie und Angst doch relativ sorglos in den Tag hinein. Ein jüngerer Beleg: Eine Gesellschaft, deren Medien, wie im Frühjahr 2006 geschehen, vier Tage lang als Thema Nr. 1 die Frage des Torwarts der Fußballnationalmannschaft behandeln, kann keine ernsten Sorgen haben. In Wahrheit aber steht Deutschland vor gewaltigen Herausforderungen und vor beträchtlichen Gefährdungen, doch die Deutschen nehmen sie kaum wahr. Da ist zum einen das nahende Ende der Fiktion, man könne das System sozialer Einbettung durch den so genannten Generationenvertrag aufrechterhalten. Je länger man wegen fehlenden Mutes zur Wahrheit den Menschen diese trügerische Sicherheit vorgaukelt, desto schneller werden immer mehr junge Leistungsträger diesem Land den Rücken kehren und damit den Abstieg Deutschlands beschleunigen. Diese Gefahr ist hierzulande zudem noch größer als in anderen europäischen Ländern, weil man bei in Deutschland zu lange Patriotismus nahezu mit Rechtsradikalismus gleichgesetzt und zugleich den Irrglauben gefördert hat, eine europäische Identität könne die Bindung an die eigene Nation ersetzen. Dieser als Vision durchaus richtige Gedanke ist jedoch in Europa auf absehbare Zeit nicht mehrheitsfähig. Jeder Versuch, aus der EU mehr als ein Europa der

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Vaterländer zu machen, ist zum Scheitern verurteilt und könnte sogar den gegenwärtig besorgt machenden Marsch Europas in Richtung nationaler Egoismen beschleunigen. Deswegen ist auch zu hoffen, dass die Bundesregierung noch zweimal nachdenkt, bevor sie den Versuch macht, in der deutschen EU-Präsidentschaft 2007 die von den Franzosen und Niederländern abgelehnte „Verfassung“ noch einmal zu beleben. Doch zurück nach Deutschland. Das Land steht unausweichlich vor einem gewaltigen gesellschaftlichen Umbruch, den die Deutschen durch die Entwertung vieler Werte, durch die Auflösung zu vieler Bindungen, darunter auch ein Hintanstellen des christlichen Glaubens, das allerdings die Jugend rückgängig zu machen scheint, und schließlich durch eine das Überleben als Nation gefährdende Nachwuchsrate selbst erzeugt haben. Die Deutschen werden nun als Erstes schwer mit sich selbst ringen müssen, wie sie die die deutsche Wirtschaft lähmende Überregulierung abbauen, wie sie die Initiative erstickende Angst vor Risiko, das unmündige und freier Bürger unwürdige Rufen nach noch mehr Staat und die Furcht vor jeder Veränderung des Status Quo bei vielen Deutschen beseitigen können. Die Neigung so mancher, dem Staat noch mehr Verantwortung für seine Bürger zu übertragen hat im Übrigen direkte Auswirkungen für die Bundeswehr. Sie erzeugt bei den Menschen von Kindesbeinen an immer stärker Unselbständigkeit und Passivität und damit wird die Aufgabe in der Bundeswehr, Menschen nach den Prinzipien der Auftragstaktik zu führen, also durch Delegation und Selbständigkeit, immer schwerer lösbar. Die Deutschen werden prüfen müssen wie sie ein erträgliches und für die nachfolgenden Generationen bezahlbares Maß an sozialer Gerechtigkeit in einer immer älter und immer kleiner werdenden Gesellschaft sichern wollen. Dazu werden sie angesichts der für Jahrzehnte nicht veränderbaren demographischen Entwicklung auch fragen müssen, ob Deutschland nicht doch Einwanderungsland werden muss. Deutschland wird deshalb für einige Zeit, wie übrigens die meisten Staaten Europas, wenngleich in unterschiedlicher Ausprägung, nach Innen gewandt sein, muss aber seine Probleme trotz seiner veränderungsunwilligen Gesellschaft auch im Interesse Europas lösen, weil die Sogwirkung eines sonst absteigenden Deutschlands den Rest Europas nicht gleichgültig lassen könnte. Bliebe es aber dennoch bei der Orientierung nach Innen, dann könnte sich die Verwundbarkeit gegenüber äußerer Gefahr erhöhen, vor allem wenn der Wille zur Wahrung eigener Interessen fehlt. Bei einem nüchternen Blick auf Deutschland muss man heute zweifeln, ob die Menschen mehrheitlich den Willen haben, zupackend Veränderung zu gestalten, in schweren Krisen hart zu bleiben und auch dann nicht nachzugeben, wenn Opfer unvermeidlich sind. Den Deutschen sind wirklich

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schwere Prüfungen in den vergangenen, doch überwiegend guten sechs Jahrzehnten ihrer Geschichte erspart geblieben, dafür haben sie jeden Tag Grund, laut danke zu sagen. Aber mit diesem Glück einher ging ein schleichender Abbau des Willens zum Zupacken, der Fähigkeit selbständig zu handeln und der Standfestigkeit in Gefahr. Wären die Deutschen in der Lage gewesen, die stoische Gelassenheit unserer britischen Freunde bei den U-Bahn Anschlägen des vergangenen Jahres zu zeigen, eine Gelassenheit, die Wiederholungstäter abschreckt? Die von Angst vor Risiko dominierte Debatte um den Einsatz der Bundeswehr im Libanon im Sommer 2006 lässt zweifeln. Haben wir noch die Kraft hart und entschlossen zu handeln, wenn eine Gefahr erst in Umrissen erkennbar ist oder muss hier erst Schreckliches geschehen bevor die Deutschen sich aufraffen können, mehr zu tun als die zu kritisieren, die sich zum Handeln entschlossen haben? Würden in Deutschland selbst nach einem verletzenden Schlag nicht Stimmen laut, die Einlenken statt Risiko fordern würden, auch wenn dabei Grundsätze unserer Ordnung preiszugeben wären? Haben wir die innere Kraft, unsere Bundeswehr zu Kampfhandlungen unseres Bündnisses einzusetzen, die auch der Durchsetzung vitaler deutscher Interessen dienen, oder sind wir nicht ganz zufrieden, wenn die Bundeswehr auf Stabilisierungsmissionen beschränkt wird und damit zu einer Art Technisches Hilfswerk mit Waffen wird? Man muss fürchten, dass die deutsche Gesellschaft nicht in ausreichendem Maße krisenfest ist. Deutschland könnte deshalb gegenüber äußerer Gefahr anfälliger als sein als viele seiner europäischen Nachbarn und Freunde. Diese Befindlichkeit Deutschlands in Verbindung mit einer sehr liberalen Rechtsordnung und der teilweise durch Föderalismus bewirkten Schwächung macht Deutschland zu einem idealen Ruheraum für Terroristen und zu einem guten Handlungsraum für organisierte Kriminalität. Es mag überraschend sein, die innere Befindlichkeit Deutschlands an den Anfang zu stellen, doch hier liegt der Schlüssel zur Frage der Sicherheit Deutschlands. Wichtiger noch als die Festlegung der Interessen eines Landes ist nämlich der Wille sie durchzusetzen und sich zu behaupten. Besteht dieser Wille, dann entsteht die Entschlossenheit das zum Schutz des Landes Nötige zu tun, zumindest aber für die machbaren Aufwendungen ein Höchstmaß an Wirksamkeit der zur Durchsetzung verfügbaren Instrumente zu erreichen. Hat eine diesen Willen zeigende Nation dann noch klar umrissene nationale Interessen, dann wird sie zum berechenbaren, vor allem aber begehrten Partner, einem Partner also, dem man Einfluss einräumt. Fehlt dagegen der Wille zur Behauptung, bleiben die Interessen unscharf, und man vernachlässigt auch noch die zum Schutz des Landes notwendigen Instrumente, dann wird eine Nation leicht zum Spielball. Zu dieser letztge-

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nannten Kategorie könnte Deutschland heute in den Augen vieler seiner Partner gehören, darf das aber nicht, denn die Größe des Landes könnte dann ganz Europa zum Spielball der Weltpolitik werden lassen. Es ist deshalb unerlässlich, zusätzlich zur Lösung der vielen inneren Probleme, die gegenwärtig bei einer Mehrheit der Deutschen vorherrschende Sorglosigkeit vor Gefahren und die daraus entstandene Lethargie des Willens zu ebenso zu überwinden wie die ans Lächerliche grenzende Neigung zur Hysterie. Zusätzlich muss Deutschland seine nationalen Interessen deutlich machen und die vorhandenen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Fähigkeiten gebündelt zum Schutz Deutschlands und Europas in einer instabilen Welt einzusetzen. 2. Die äußeren Gefahren Instabil ist diese Welt, und damit beginnt die Betrachtung der von Außen einwirkenden Faktoren, weil nach der Auflösung der Ost-West-Konfrontation, die einerseits die letzte Phase des 100-jährigen Krieges um den Platz Deutschlands in Europa und andererseits im globalen Rahmen eine wichtige Phase im Kampf zwischen Demokratie und Totalitarismus war, keine neue Weltordnung entstand. Die deutsche Frage ist zwar dauerhaft gelöst, die Demokratie hat in der Auseinandersetzung mit Totalitarismus und Kommunismus gesiegt und die USA sind zur einzigen und bis auf weiteres auch unangefochtenen Weltmacht aufgestiegen. Doch der Preis war hoch: Die Westfälische Staatenordnung ist angeschlagen, alle Ordnungsinstrumente der letzten sechzig Jahre sind beschädigt und allenfalls eingeschränkt handlungsfähig. Ein prüfender Blick auf die UNO, die WTO, die G 7, die sich merkwürdigerweise trotz der fundamentalen Unterschiede zwischen den sieben alten und dem einen neuen Partner Russland nun G 8 nennen, die NATO und die EU bestätigt diese pauschale Diagnose. Der Libanon-Konflikt des Sommer 2006 hat diese Welt noch instabiler gemacht, denn sein Ausgang könnte von transnationalen Terrorgruppen in Verbindung mit dem einen oder anderen Staat als Chance gesehen werden, eine als ungerecht empfundene internationale Staatenwelt herauszufordern und zu verändern. In dieser instabilen Welt gibt es außerhalb Europas die alten Gefahren, die zu Kriegen und bewaffneten Konflikten zwischen Staaten führen können und es gibt die neuen, auch in Europa wirksamen Gefahren, die jedermann geläufig sind. Zu letzteren zählen innerstaatliche Konflikte, die zu Migrationsbewegungen und Flüchtlingsströmen führen können, Kriege um Ressourcen, insbesondere um Energie und Wasser, Proliferation von Massenvernichtungswaffen (MVW) und von Flugkörpertechnologie, internationaler Terrorismus einschließlich der Sonderform des islamistischen Djihadismus, zerfallende Staaten, organisierte internationale Kriminalität und wahrscheinlich zunehmend auch die Lähmung eines oder mehrerer Staaten durch Cyber Attack.

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Diese Gefahren stehen den Sicherheitsinteressen Deutschlands ebenso wie denen Europas, der USA und anderer mit Deutschland durch gemeinsame Überzeugungen und Werte verbundener Staaten entgegen. Bei der Beurteilung der daraus resultierenden Gefahren aus der Sicht eines auf Solidarität angewiesenen und wegen mangelnder Krisenfestigkeit nur eingeschränkt zur solidarischen Unterstützung seiner Partner fähigen Deutschland gilt es zwischen den Ursachen für Krisen und Konflikten und den zur Anwendung kommenden Mitteln zu unterscheiden. Den Ursachen kann und muss man vorbeugend und mit dem Ziel begegnen, Konflikte zu verhindern, sie einzudämmen oder sie zu beenden. Die Mittel dagegen kann man nicht beseitigen, man kann sich nur gegen ihre Wirkung schützen oder ihre Anwendung zu verhindern suchen. Dieser Gedanke sei an Hand des nach Transformation am häufigsten genutzten Schlagworts dieser Tage erläutern, dem Kampf gegen den Terrorismus. Terrorismus kann man weder beseitigen noch in absehbarer Zeit besiegen. Terrorismus ist eine uralte Form asymmetrischer Kriegführung. Sie wird bei uns bleiben solange es gewaltsame Konflikte gibt. Was man erreichen kann, ist sich gegen die Anwendbarkeit und die Auswirkungen von Terrorismus zu schützen und ihn damit zu weitgehender Wirkungslosigkeit verurteilen, aber ausrotten kann man Terrorismus nicht. Was man zusätzlich tun kann und auch tun muss, ist die Ursachen zu bekämpfen, die Menschen in Konflikten zu Terroristen werden lassen. Welche Konfliktursachen müssen Deutschland und seine Verbündeten zu beseitigen suchen? Die Konfliktursache Nummer eins dürfte in den kommenden Jahren der Zugang zu kritischen Ressourcen sein. Damit spreche ich nicht nur Öl und Gas oder Energie an, nein, es geht um Rohstoffe aller Art und um die Freiheit des Handels schlechthin. Ohne gesicherten Zugang zu Rohstoffen und ohne freien Handel ist das Überleben Deutschlands wie Europas gefährdet. Eine in Teilen der Welt wachsende Bevölkerung und die zunehmende Konkurrenz um Rohstoffe aller Art zwischen den USA, China und Indien könnte Europa in kritische Abhängigkeit von externen Akteuren bringen, die durch die hohe Verwundbarkeit der europäischen Infrastruktur noch verstärkt werden wird. Man bedenke zur Verdeutlichung der Rohstoffknappheit nur, dass allein die Verwirklichung des verständlichen, nicht zuletzt von der westlichen Welt erzeugten Wunsches aller Chinesen und Inder nach einem eigenen PKW selbst dann nicht zu verwirklichen ist, wenn den beiden Staaten die gesamte Weltproduktion an Stahl und Aluminium zur Verfügung stünde. Konfliktursache Nummer zwei könnten zerfallende Staaten und oder extreme Formen von „bad governance“ sein, die zu Migrationswellen oder

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zu schweren Menschen-Rechtsverletzungen bis hin zum Genozid führen können. In einer durch Kommunikation vernetzten Welt kann und wird Derartiges nicht mehr schweigend hingenommen werden. Man wird, wo unabwendbar, intervenieren und anschließend zur Stabilisierung im Land verbleiben müssen. Die Entscheidung der Generalversammlung der Vereinten Nationen im Herbst 2005 fünf Legitimations-Kriterien für die Anwendung militärischer Gewalt festzulegen (Ernst der Bedrohung, Redlichkeit der Motive, Anwendung militärischer Gewalt als letztes Mittel, Verhältnismäßigkeit und Angemessenheit der Folgen) ist ein erster Schritt hin zu einem neuen Verständnis von staatlicher Souveränität als Verantwortung zum Schutz des Staatsvolkes und seiner Menschenrechte und, damit verbunden, zu einer zeitgemäßen Auslegung des Interventionsverbotes nach Artikel II der Charta. Ein solches Verständnis ist aber eben auch eine Verpflichtung zum Handeln, das allerdings immer legitimiert sein muss. Konfliktursache Nummer drei dürften sich ausweitende innerstaatliche oder zwischenstaatliche Konflikte um Selbstbestimmungsrechte und Gebietsansprüche sein. Man sollte nie vergessen, dass von den mehr als 500 von den VN anerkannten Nationalitäten dieser Erde etwas mehr als 200 auf dem Gebiet von einem oder mehreren Staaten anderer Nationalität leben. Konflikte um den Zugang zu überlebenswichtigen Ressourcen könnten in einer solchen Lage verschärfend wirken. Diese These unterstreichend sei angemerkt, dass in mehr als 150 Fällen die Quellgebiete von Flüssen außerhalb des Territoriums des Hauptnutzerstaates liegen und nur wenige Länder der Erde eine so kluge Regelung diesbezüglicher Ansprüche gefunden haben wie ausgerechnet Indien und Pakistan. Schließlich könnte das Streben von Staaten nach freiem Zugang zu jeglicher Technologie zur Konfliktursache Nummer vier werden. Gegenwärtig denkt bei diesen Worten jedermann an Iran und Kernenergie, doch dieser Konflikt dürfte nur der Anfang einer Reihe von ähnlichen Konflikten sein. Das Streben nach Kernwaffen wird anhalten und das jüngste Abkommen zwischen Indien und den USA könnte diesen Trend sogar noch verstärken. Es ist keineswegs Pessimismus, wenn man annimmt, dass der Damm des NPT bald brechen wird. Die Welt wird in den kommenden Jahrzehnten eine Reihe neuer Kernwaffenstaaten sehen und in so manchem Land wird neues Nachdenken über Kernwaffenbesitz beginnen. Rupert Scholz hat dies übrigens unlängst auch für Deutschland gefordert, wenngleich dies wegen des völkerrechtlich bindenden Verzichts durch Deutschland extrem schwierig sein dürfte. Jede dieser vier Konfliktursachen kann sich mittel- oder sogar unmittelbar auf ein so exportabhängiges Land wie Deutschland auswirken, das noch

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dazu eben wegen seines soeben erwähnten Verzichts auf Kernwaffen auf den Schutz durch Kernwaffenstaaten angewiesen ist. Die Verhinderung, Eindämmung oder Beendigung derartiger Konflikte bleibt deutsches wie europäisches Interesse und auch Ziel der Sicherheitspolitik. Deutschland muss dazu eine aktive Sicherheitspolitik betreiben, die die Ursachen der Konflikte dort zu entschärfen sucht, wo sie entstehen, und die alle Mittel der Politik nutzt, auch militärische Mittel und diese, wo unvermeidlich, auch präventiv in einem frühen Stadium einer Krise. Eine solch aktive Politik ist allerdings nur machbar, wenn die politische Führung begreift, dass man in Bündnissen und Koalitionen die Willensbildung nur beeinflussen kann und den eigenen Beitrag nur dann in maximalen Einfluss umsetzt, wenn man sich anbietet statt zu warten bis man gefragt wird. Das aber kann man nur, wenn man den Willen zum Handeln hat und dabei das Volk hinter sich weiß, wenn die Entscheidungsmechanismen den Bedingungen des Handelns in Krisen entsprechen und wenn das eigene Volk gegen die Handlungsoptionen der Gegner geschützt ist. Hindelang und Hindukusch sind also kein Gegensatz, im Gegenteil, nur ein geschütztes Hindelang gibt Handlungsfreiheit für das Eingreifen am Hindukusch. Doch der Schutz Deutschlands und seiner Menschen ist nicht länger Schutz vor den Auswirkungen herkömmlichen Krieges auf deutschem Boden. Selbst im sehr unwahrscheinlichen Fall einer neuen Ost-West Konfrontation in Europa wäre Deutschland nicht mehr Frontstaat, eine gewaltige Verbesserung seiner geostrategischen Lage. Deutschland ist damit jedoch nicht vor Gewalt von Außen geschützt. Es kann nach wie vor durch Luftangriffe mit bemannten und unbemannten Luftangriffsmitteln, durch Angriffe mit MVW, durch Cyber Attack, durch Terrorismus aller Art und durch das Handeln organisierter Krimineller, die militärische Mittel nutzen, gefährdet werden. Hinzu kommt die Gefährdung deutscher Handelsschiffe und der Luftfahrt durch die in besorgniserregender Weise zunehmende Piraterie. Die Gefährdungslage muss im Einzelnen nicht geschildert werden, sie ist weitgehend bekannt, aber die Folgerungen daraus sind noch keineswegs Allgemeingut: 1. Das Gewaltmonopol der Staaten ist gebrochen und 2. innere und äußere Sicherheit sind nicht mehr zu trennen. Deutschland ist in dieser Lage besonders gefährdet, insbesondere durch Terrorismus, weil das Land dank seiner fehlenden Robustheit, seiner bis zum Leichtsinn liberalen Rechtsordnung und seiner durch die föderalen Strukturen eingeschränkten Handlungsfähigkeit ein nahezu ideales Einsatzgebiet ist. Weltweit aber gilt, dass Terroristen wie Kriminelle nahezu alle Mittel moderner Kriegführung erwerben und nutzen können und dies vo-

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raussichtlich auch tun werden. Im Gegensatz zu den meisten Streitkräften der Nationen verfügen diese nichtstaatlichen Akteure nämlich über nahezu unbegrenzte Geldmittel. Als Beleg sei nur genannt, dass allein durch Drogenhandel weltweit ungefähr 500 Milliarden Dollar jährlich umgesetzt werden, das entspricht ungefähr sieben Prozent des Welthandels. Zieht man dann noch in Betracht, dass Terroristen wie Kriminelle sich an keinerlei Recht und Gesetz halten, die Ordnungskräfte dies aber sehr wohl tun müssen, dann muss man wohl zustimmen, wenn diese Gefahr besonders hoch eingeschätzt wird. Ferner gilt es im Auge zu behalten, was Technik heute und morgen bieten kann. Heute ist es machbar, in einem Gebiet von 360 × 360 km ein Objekt von weniger als einem Kubikmeter Größe innerhalb weniger Sekunden zu erkennen, zu identifizieren und mit Genauigkeiten unter einem Meter zu orten und, abhängig von der Flugzeit, binnen Minuten mit Präzisionswaffen bekämpfen zu können. Doch, obwohl die Bundeswehr und alle europäischen Streitkräfte noch Jahre davon entfernt sind dies zu können, hat die nächste technische Revolution in vielen Laboren, leider aber kaum in europäischen, schon begonnen. Sie wird auf Nano-Technologie und neuen Werkstoffen, Biotechnologie, Robotik und neuen Antriebstechniken beruhen und sie könnte ab circa 2020 eine Strategie der strategischen Lähmung möglich machen, die Sun Tzu’s Ideallösung eines Konfliktes endlich Wirklichkeit werden lassen könnte: Einen Gegner zu besiegen ohne eine Schuss abzufeuern. Als weitere Tatsache ist zu bedenken, wo unsere Welt im Bereich der Trägertechnologie und der Massenvernichtungswaffen steht. Rund vierzig Länder entwickeln oder besitzen unbemannte Luftfahrzeuge (Unmanned Air Vehicles (UAV)). Selbst wenig entwickelte Länder besitzen Trägermittel wie Raketen von zirka 1.500 km Reichweite. Gegenwärtig können rund siebzig Länder der Welt Raketen oder Cruise Missiles herstellen und in zwölf Staaten gibt es Industrien, die Raketentechnologie exportieren. Gegenwärtig besitzen bereits vermutlich mehr als 25 Staaten unserer Welt Massenvernichtungswaffen. Sie reichen von den bekannten, allerdings kaum einsetzbaren Atomwaffen über die leicht herzustellenden und einzusetzenden radiologischen Waffen zu den leicht herzustellenden, aber relativ schwierig einzusetzenden C-Waffen bis hin zu den weit gefährlicheren biologischen Waffen. Rund ein Dutzend Staaten, darunter vermutlich zwei Ständige Mitglieder des UNSC, dürften gegenwärtig an B-Waffen Programmen arbeiten. Bedenken muss man schließlich die Auswirkungen von terroristischen Anschlägen mit Massenvernichtungswaffen auf die Weltwirtschaft. Die Anschläge an 9/11, also etwas viel Harmloseres als beispielsweise ein B-Waffen Einsatz, erzeugten für jeden Dollar, den die Terroristen

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ausgeben mussten, einen Schaden von 300.000 Dollar in der US-Wirtschaft. Bei den Olympischen Spielen in Athen bewirkten allein Gerüchte über Terroranschläge eine Belastung der griechischen Volkswirtschaft von 1,5 Milliarden Euro durch die von der griechischen Regierung ergriffenen Sicherheits-Maßnahmen. Deutsche Sicherheitspolitik muss weitgehenden Schutz vor den aus der Entwicklung von Technik und Proliferation resultierenden Gefahren sicherstellen. Das kann nur im Zusammenwirken aller Sicherheitskräfte des Landes geschehen. Die Bundeswehr wird allerdings im Inneren immer nur subsidiär und stets unter Führung des Innenministers insbesondere da einzusetzen sein, wo sie Fähigkeiten aufweist, die eben kein Anderer hat wie beispielsweise Luftverteidigung, weiträumige Aufklärung oder ABC Abwehr. Es ist ein überwiegend reaktiver Schutz, der allerdings die Option des im Völkerrecht ja weitgehend unstrittigen präemptiven Einsatzes von Streitkräften zur Abwehr unmittelbarer Gefahr einschließen muss. Präemption ist dann auch das Stichwort, das zu einem Bereich führt, in dem dringlicher Handlungsbedarf besteht. Die Staatenwelt muss ihre Rechtsordnung an die Gegebenheiten dieser Welt anpassen, international sind davon das „ius ad bellum“ ebenso betroffen wie das „ius in bello“ und national muss die Anpassung nationaler Vorschriften und Gesetze an einen noch zu bestimmenden gemeinsamen Nenner in der EU überlegt werden. 3. Die Akteure Die internationalen Herausforderungen zu skizzieren, die der Durchsetzung deutscher Interessen im Wege stehen könnten, verlangt auch einen kurzen Blick auf die wichtigsten Akteure zu werfen. Der Wichtigste sind und bleiben die USA, doch sie können die Last des globalen Ordnungshüters aus einer Reihe von Gründen allein nicht mehr schultern. Zum einen haben sie einen dramatischen Verlust an Glaubwürdigkeit durch ihr Handeln im Irak, dabei eben auch durch die Verletzung internationalen Rechts, erlitten, dann setzen sie zu sehr und zu einseitig in einer ungemein komplexen Welt auf militärische Macht und schließlich schieben sie ihre gewaltigen finanziellen und sozialen Probleme ungelöst vor sich her. Bedenkt man allein wie destabilisierend Handelsdefizite im dreistelligen Milliardenbereich sein können und wie verwundbar man in einer solchen Lage wird, wenn beispielsweise China seine Währungsreserven von rund 1,2 Billionen Dollar als „Währungswaffe“ einsetzen würde, dann wird

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deutlich, dass die USA nicht länger ihre dominierende Macht unbeschränkt einsetzen können. Europa, das auf absehbare Zeit uneins bleiben dürfte und dazu noch über allenfalls eingeschränkte, im Militärischen sehr eingeschränkte Handlungsfähigkeit verfügen wird, steckt voller ungelöster Probleme und dürfte allein deshalb eher nach Innen denn nach Außen sehen. Die EU ist aus der IrakKrise angeschlagen hervorgegangen und sie hat sich außerdem auch noch selbst handlungsunfähig gemacht, weil die Staaten der EU die Gemeinschaft gleichzeitig vertiefen und erweitern wollten, für beide Prozesse aber weder klare noch konsensfähige Zielvorstellungen hatte. Hinzukommt ein gewaltiges demographisches Problem: Heute hat die EU mehr Menschen als die USA und diese Menschen haben mit circa 37 Jahren ein nahezu gleiches Durchschnittsalter wie die Amerikaner. Im Jahr 2050 wird es selbst bei einer türkischen Mitgliedschaft in der EU mehr Amerikaner als Europäer geben. Diese Amerikaner, deren Mehrheit allerdings voraussichtlich nicht mehr Englisch als Muttersprache haben wird, werden noch immer im Durchschnitt 37 Jahre alt sein während der Durchschnittseuropäer dann fünfzig Jahre alt sein wird. Die Folge sind soziale Probleme, die alle heute Kopfzerbrechen bereitenden Fragen als harmlos erscheinen lassen dürften, und noch mehr Konzentration auf Innenpolitik. China dürfte noch anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwung erleben, wird sich aber kurz- und mittelfristig wohl noch nicht aus den lähmenden Fängen seiner kommunistischen Ordnung lösen können. Es wird wegen gewaltiger sozialer, die Volksrepublik China hat zurzeit rund 150 Millionen Arbeitslose, und seiner demographischen Probleme auch weiterhin nach Innen orientiert sein. China dürfte, wird es nicht provoziert, keine Machtprojektion nach außen versuchen, noch nicht einmal in der Taiwan-Frage. Indien dürfte zumindest durch Wissensexport zum globalen Akteur werden, hat aber in der näheren Zukunft ebenfalls mit riesigen inneren Problemen zu kämpfen, deren Lösung zum Teil durch religiöse Fragen besonders schwer fällt. Hinzukommt die große Energieabhängigkeit des riesigen Landes und eine sich manchmal selbst ein Bein stellende Überheblichkeit seiner Eliten. Indien weiß, dass es eine Großmacht im 21. Jahrhundert und eine Vormacht in seiner Region sein wird. Es bleibt zu hoffen, dass Indien weise genug ist, sich langsam darauf vorzubereiten. Russland hat trotz seiner aus Energieexporten und Nuklearwaffen gewinnbaren Macht keine echte Chance, wieder der wahre, uneingeschränkt handlungsfähige globale Akteur des Kalten Krieges zu werden. Russland wird mehr als jeder andere Staat Eurasiens mit demographischen Problemen zu kämpfen haben. Seine Bevölkerungszahl könnte bis 2050 auf weniger als 100 Millionen Menschen sinken, während gleichzeitig im rohstoffrei-

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chen Sibirien, in dem heute bei abnehmender Tendenz etwa sechs Millionen Russen leben, die Zahl illegaler chinesischer Einwanderer das heutige Niveau von zwischen zwei und vier Millionen übersteigen dürfte. Das riesige Land könnte regelrecht unregierbar werden. Japans Rolle in Asien verändert sich rasch. Es mag noch zu früh sein, Japan als einen Akteur von überregionaler Bedeutung zu sehen, aber es gilt angesichts des chinesisch-japanischen Antagonismus und einer Reihe ungelöster territorialer Fragen die Entwicklung in Ostasien im Auge zu behalten, insbesondere falls die Welt eine Vereinigung der beiden Koreas und daraus folgend das Entstehen einer Nuklearmacht Korea erleben sollte. Afrika bleibt ein Kontinent voller natürlichen Reichtums und voller unmenschlicher Krisen, Krisen, die fast immer regional begrenzt, aber oft von einem unglaublichen Maß an barbarischer Gewalt gekennzeichnet sind. Teile Afrikas wie der Golf von Guinea könnten wegen ihres Rohstoff- und Ölreichtum im nächsten Jahrzehnt zu einem Brennpunkt konkurrierender Interessen der Großen werden. Afrika braucht Hilfe, aber es sollte Hilfe zur Selbsthilfe sein, auch weil eines der großen Probleme Afrikas seine Selbstentvölkerung durch Aids und Migration ist. Südamerika schließlich wird auch in Zukunft kein globaler Akteur sein, könnte aber zunehmend ein Unruhefaktor im Hinterhof der USA sein, denn der romantisch-utopische Nationalismus, der von Venezuela, Bolivien, Peru und vielleicht schon bald auch Ekuador ausgeht, kann zu lokalen Krisen und zu einem weiteren Anstieg des Anti-Amerikanismus führen. Deutsche Sicherheitspolitik, das unterstreicht dieser flüchtige Blick auf die Akteure, wird deshalb künftig vielleicht noch mehr als heute in einer unruhigen Welt zu gestalten sein und wird noch stärker als heute eine ganz enge Koordination von Außen-, Verteidigungs-, Entwicklungs- Wirtschafts-, Finanz-, Umwelt-, Innen- und Gesundheitspolitik verlangen. Ob dies mit heutigen Entscheidungsstrukturen und -mechanismen möglich ist, ist zu bezweifeln und bleibt somit eine offene Frage. IV. Das Spannungsfeld Die Beschreibung der internationalen Herausforderungen hat gezeigt, dass in der Tat ein Spannungsfeld zwischen nationalen Interessen und den internationalen Herausforderungen besteht. Angesichts des Reformbedarfs in Deutschland könnte man wohl verstehen, wenn sich Deutschland vorrangig der gewaltigen Aufgabe des tief greifenden Umbaus von Staat und Gesellschaft zuwenden und anstreben würde, in der Außen- und Sicherheitspolitik so wenig wie möglich gefordert zu

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werden. Das wäre Ausdruck des in allen Demokratien üblichen Primats der Innenpolitik und in der gegebenen Lage Deutschlands des Zwangs, sich auf überfällige Reformen und auf Vollendung des Aufbauprozesses im Osten Deutschlands zu konzentrieren. Ein solches Verhalten entspräche außerdem der den Deutschen beinahe zum Reflex gewordenen Kultur der Zurückhaltung. Ein solches Verhalten Deutschlands wäre jedoch angesichts der Abhängigkeit Deutschlands von Außenhandel und Außenbeziehungen völlig falsch. Deutschland muss einer der Motoren des europäischen Integrationsprozesses sein und gleichzeitig einer der Gestalter in der Erneuerung des transatlantischen Bündnisses. Deutschland muss also handeln, es muss jetzt handeln statt getrieben zu werden. Das zweite Spannungsfeld ist mit dem Schlagwort Kultur der Zurückhaltung angedeutet. Sie entstand aus der Last der Geschichte und aus der durch die Teilung zur Gewohnheit gewordenen Sonderrolle Deutschlands. Heute kann sich Deutschland darauf nicht mehr zurückziehen. Seine europäischen Nachbarn würden es weder verstehen noch verzeihen und im Inneren liefen die Deutschen Gefahr, die Jugend an Scharlatane auf der rechten Seite des politischen Spektrums verlieren zu können. Die unverändert gültige Lehre aus der jüngsten deutschen Geschichte ist, Verantwortung für die Herrschaft des Rechts zu übernehmen, nicht aber sich wegzuducken. Teilmenge dieses Spannungsfeldes ist es, die Menschen in Deutschland mitzunehmen, sie an Aktion statt Reaktion zu gewöhnen und sie aus ihrer Sorglosigkeit zu wecken ohne Panik zu erzeugen. Ein drittes Spannungsfeld entsteht durch den Gegensatz zwischen dem gewohnten Denken in regionalen Kategorien und der durch die Globalisierung unvermeidlich gewordenen Notwendigkeit, in allen Feldern der Politik global zu denken und zu handeln. Europa muss ein globaler Akteur werden und das bedeutet im strategischen Denken der Europäer sich eher als maritime denn wie gewohnt als kontinentale Macht zu begreifen. Nur so kann Europa im strategischen Dialog mit den USA sozusagen der intellektuelle Sparringspartner in strategischen wie politischen Fragen werden, den die USA brauchen – so dringend brauchen wie das doch an das Denken des 20. Jahrhunderts erinnernde Nuklear-Abkommen der USA mit Indien zeigt. Ein weiteres Spannungsfeld entsteht zwischen den Ambitionen eines mit sich selbst nicht im Reinen Europa, das den Anspruch erhebt, Akteur zu sein, aber allenfalls eingeschränkte Fähigkeiten zum Handeln besitzt. Europa muss dazu als Erstes Abschied nehmen von der Fiktion eines europäischen Bundesstaates, die für manche als Fernziel hinter der gescheiterten Verfassung stand, und muss zu einer gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik finden, die den weniger ambitiösen Realitäten eines Europa der Vaterländer entspricht, aber wenigstens erlaubt, mit einer Stimme zu

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sprechen. Deutschland muss dazu Anstöße geben, in der Entwicklung einer fortzuschreibenden Europäischen Strategie ebenso wie bei der Bereitstellung eines Mindestmaßes an gemeinsamen europäischen Fähigkeiten. Das wäre dann zugleich die Grundlage eines europäisch-amerikanischen Dialogs, der zur überfälligen, bislang überhaupt nicht angepackten politischen Transformation der NATO und wünschenswerter Weise auch zu einer neuen Charta transatlantischer Zusammenarbeit führen müsste. Ein weiteres Spannungsfeld könnte schließlich durch die sich wandelnden Bedingungen beim Einsatz militärischer Mittel entstehen. Militärische Mittel von immer größer werdender Zerstörungskraft werden zunehmend mitten unter der zivilen Bevölkerung zum Einsatz kommen. Dies wird politische Optionen der Staaten, nicht aber der nichtstaatlichen Akteure begrenzen und dies wird nicht ohne Auswirkung auf die strategische, operative und taktische militärische Führung bleiben. Diese Punkte umreißen das Spannungsfeld in dem deutsche Sicherheitspolitik zu gestalten ist. Sie zeigen, dass Voraussetzung einer zeitgemäßen Sicherheitspolitik eine alle Politikfelder erfassende nationale Sicherheitsstrategie ist. V. Auf dem Weg zu einer nationalen Sicherheitspolitik Ziel einer solchen Strategie, die Ausdruck und Grundlage deutscher Sicherheitspolitik wäre, ist es unverändert, den Schutz Deutschlands, seiner Bürger und seiner Infrastruktur vor Gefahren aller Art zu gewährleisten, die Handlungsfreiheit seiner Verfassungsorgane zu erhalten und die weitere Entfaltung des durch soziale Marktwirtschaft und Wohlstand gekennzeichneten deutschen Rechtsstaates zu sichern. Diese Zielsetzung kann in der globalisierten Welt nur durch partnerschaftlichen Verbund mit Bündnispartnern gelöst werden, die zu globalem Handeln befähigt sind. Das Bündnis mit den USA, das in der NATO und in der USA – EU Übereinkunft seinen völkerrechtlichen Rahmen hat, bleibt deshalb die wichtigste Determinante deutscher Sicherheitspolitik und Basis der nationalen Sicherheitsstrategie. In diesem Bündnis muss das politische, wirtschaftliche und militärische Gewicht des Europa der EU geschlossen zur Geltung gebracht werden. Nur dann ist es möglich, Einfluss auf amerikanisches Denken und handeln zu gewinnen. Dies verlangt die weitere Vertiefung der EU hin zu einer nach Außen geschlossen auftretenden und handelnden Konföderation der Nationalstaaten, die allerdings die Aufgabe der Verteidigung Europas und des Schutzes seiner Interessen der NATO übertragen sollte. Duplizierungen von Strukturen werden so unterbunden, und ein eigenständiges Handeln der EU

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in der Sicherheitspolitik würde damit auf die Fälle beschränkt, in denen die NATO nicht handeln kann oder will. Die NATO bliebe in einer so gestalteten Sicherheitspolitik ein regionales Bündnis mit eingeschränkter globaler Handlungsfähigkeit, das Risiken aktiv vom Bündnisgebiet fern hält und überall dort handelt, wo es im gemeinsamen Interesse aller seiner Mitglieder notwendig ist. Ziel dieses Handelns müsste es stets sein, Konflikte vorbeugend zu verhindern und sie, wo sie dennoch entstehen, einzudämmen und so rasch wie möglich zu beenden. Dazu müssten die Mitgliedsländer bereit sein, dem Bündnis von Fall zu Fall alle Instrumente der Politik zur Nutzung zur Verfügung stellen und sie hätten sicherzustellen, dass deren Einsatz legitimiert und im Einklang mit internationalem Recht erfolgte. Ein so verändertes NATO-Bündnis würde in der Regel in einer Zone gemeinsamer Sicherheit handeln, deren Kern das NATO-Vertragsgebiet ist, in dem die Verpflichtung zu kollektiver Verteidigung besteht. Der vorgelagert wäre die Zone gemeinsamen Schutzes, in der die NATO mit ihren Partnern aus der Partnerschaft für den Frieden (PfP), dem Membership Action Plan (MAP), dem Mediterranean Dialogue und und der Istanbul Cooperation Initiative (ICI) gemeinsame Sicherheit zu gestalten sucht. Dieser Zone wiederum vorgelagert ist eine Zone zur Wahrung gemeinsamer Interessen, gebildet von Staaten, die mit der NATO wegen übereinstimmender Wertvorstellungen oder ähnlicher Interessen auf der Grundlage individueller Vereinbarungen zusammenarbeiten wollen. Deutsche Sicherheitspolitik ist und bleibt defensiv und sie hat zu bewirken, dass das Handeln der Bündnisse, denen Deutschland angehört, strategisch defensiv ist. Das bedeutet keineswegs Beschränkung auf die strategische Reaktion wohl aber den Verzicht auf (1) eine erzwungenen Ausweitung des eigenen Staats- wie Bündnisgebietes und (2) ein Erzwingen der Übernahme der eigenen Staats- und Rechtsordnung durch Dritte. Im Ergebnis muss deutsche Sicherheitspolitik eine internationale Ordnung anstreben, in der die Menschenrechte geschützt, in der good governance und die Herrschaft des Rechts für alle Menschen erreicht, in der Ungleichgewichte Schritt für Schritt durch Hilfe zur Selbsthilfe abgebaut und in der der Schutz von Klima und Umwelt ebenso möglich sind wie freier Zugang zu und freier Handel mit den natürlichen Ressourcen. Werkzeuge einer solchen Politik sind alle Instrumente der internationalen Politik einschließlich eines weiter entwickelten internationalen Rechtes, wirtschaftliche und finanzielle Mittel, leistungsfähige, moderne und zumin-

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dest zum Teil schnell verfügbare Sicherheitskräfte, aber auch Instrumente wie Partnerschaften und multilaterale, voll verifizierbare Rüstungskontrolle. Diesen Eckpunkten entsprechend sollte Deutschland eine nationale Sicherheitsstrategie entwickeln und sie als Ausdruck deutscher Berechenbarkeit auch veröffentlichen. Diese Strategie sollte als deutscher Beitrag zur Modernisierung der Sicherheitsstrategien von NATO und EU in diese Organisationen eingebracht werden. Sie müsste in einer sich auch künftig weiter verändernden Welt ständig fortgeschrieben werden. Sie könnte deshalb durchaus, analog zum Verfahren der USA, zumindest einmal in jeder Legislatur dem Parlament zur Kenntnis gebracht werden. Der Entwicklung einer solchen nationalen Sicherheitsstrategie müssten die Überprüfung und Anpassung der nationalen Organisationen zur Krisenund Konfliktbewältigung folgen, die Überprüfung und erforderlichenfalls Änderung der Strukturen aller sich gegenseitig ergänzender Sicherheitskräfte einschließlich der Bundeswehr und die Erhöhung der internationalen Handlungsfähigkeit dieser Kräfte durch Anpassung der nationalen Gesetzgebung an transatlantische, zumindest aber europäische Standards. Das zu beschreiben würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen. Es bleibt also viel zu tun für Menschen, die bereit sind Denkanstöße zu geben. Rupert Scholz war dazu immer bereit, und darum wünsche ich ihm zum Siebzigsten die Kraft, das noch viele Jahre tun zu können.

Zeitgeist – Was ist das? Von Albrecht Randelzhofer Das rechtswissenschaftliche Werk von Rupert Scholz ist eindrucksvoll. Eine Fülle von Publikationen zu fast allen bedeutsamen Themen des Öffentlichen Rechts, zum Arbeitsrecht und Wettbewerbsrecht stammen aus seiner Feder. Dies spiegelt sich in der ganz überwiegenden Zahl der Beiträge in dieser Festschrift wider. Rupert Scholz ist aber nicht nur ein herausragender Wissenschaftler, sondern auch ein Mann, der es in der Politik zu hohen Ämtern gebracht hat. Daher hat er sich nicht nur mit juristischen Problemen befasst. Vielmehr ging und geht sein Blick über das nur Juristische hinaus und richtet sich auch auf die generellen geistigen Strömungen, die unseren Staat und unsere Gesellschaft beeinflussen. Auch dieser Teil seines Interesses und seines Wirkens hat seinen Niederschlag in seinem literarischen Werk gefunden. Es seien hier nur die beiden Bücher genannt „Daran halte ich fest“, 1988 und „Deutschland in guter Verfassung?“, 2004. Ich möchte mit meinem Beitrag in dieser Festschrift zu diesem Aspekt seines Wirkens ein Mosaiksteinchen beitragen. I. Einleitung Der Begriff Zeitgeist wird sowohl im Gespräch und in Debatten wie auch in schriftlichen Äußerungen der verschiedensten Art häufig gebraucht, ohne dass der jeweilige Autor sich bemüßigt fühlt, ihn überhaupt, geschweige denn präzise und vertieft, zu erläutern. Daraus könnte ja müsste man den Schluss ziehen, dass dieser Begriff einen allgemein anerkannten, von jedermann im gleichen Sinne verstandenen Inhalt hat. Ein solcher Schluss wird auf den ersten Blick auch dadurch bestätigt, dass in den beiden führenden Lexika, nämlich in Meyers Enzyklopädischem Lexikon und in der Großen Brockhaus-Enzyklopädie quasi eine Definition des Begriffes Zeitgeist gegeben wird. Im Brockhaus lesen wir: „Zeitgeist (ist) die eine historische Epoche vorherrschend prägende Ausrichtung der geistigen Haltung, des Stils, der Lebensformen und Ideen“. Im gleichen Sinne liest man im Meyers: „Zeitgeist (ist) die Bezeichnung für die einer

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geschichtlichen Periode eigentümlichen Auffassungen und Ideen“ (Brockhaus, 19. Auflage 1994, Bd. 24, S. 476; Meyers, 9. Auflage 1979, Bd. 25, S. 639). Schon auf den zweiten Blick erkennt man dann aber, dass diese Definition weitgehend nur formal ist und als zeitübergreifende wohl auch nur sein kann. Sie sagt uns nichts über den Inhalt des Zeitgeistes, sein Entstehen, seine Wandlungen, oder gar was bzw. wie der gegenwärtige Zeitgeist ist. Ich maße mir nicht an auf all diese Fragen hier eine umfassende und tiefschürfende Antwort zu geben. Es gehört ein gewisses Maß an Verwegenheit dazu, sich einem so weitgespannten und komplexen Thema in so knapper Form zuzuwenden. Dennoch will ich mich bemühen, Inhalt und grundsätzliche Probleme des Zeitgeistes vorzustellen. Freilich kann es dabei nur um eine skizzenhafte Darstellung gehen. Wer sich mit dem Thema vertiefter befassen will, der sei verwiesen auf die ausgezeichnete Abhandlung von Thomas Würtenberger, Zeitgeist und Recht, 2. Auflage 1991, die weit über das nur Juristische hinausgeht. II. Hauptteil 1. Begriffsgeschichte Als derjenige, der dem Begriff des Zeitgeistes erstmals klarere Konturen verlieh, ist Johann Gottfried Herder zu nennen. In seinen Briefen zur Beförderung der Humanität, 1793, II, 15, heißt es: „Der Geist der Zeiten ist ein mächtiger Genius, ein gewaltiger Dämon, unter dem alle bald tätig bald leidend stehen. Zeitgeist ist nicht Geist des Aufruhrs oder abgeschmackter Pöbelsinn, sondern Stimme des geläuterten Zeitgeistes, ist verständig, überredend, sanft, freundlich. Der Zeitgeist kommt aus den Erfahrungen voriger Zeiten. Er führt mit großer Macht in die folgenden Zeiten, die Reformation macht ihn frei; Künste und Wissenschaften, am meisten aber die Buchdruckerei gaben ihm Flügel. Der Verständige bemerkt und nutzt die Macht des Zeitgeistes; mit behutsamer und sicherer Hand kann der Weise den Zeitgeist zu rechter Zeit lenken, muß ihm im Prinzip aber nachgeben. Den Zeitgeist zu lenken gelingt nicht der Menge, sondern wenigen, tiefer als andere blickenden, standhaften und glücklichen Geistern.“ Herder steht dem Zeitgeist, den er deutlich vom Geist des Tages unterscheidet und als Geist der Zeiten versteht, positiv gegenüber. Er ist für ihn Maßstab, an dem er den Geist seiner aktuellen Zeit misst, mit nicht selten negativem Ergebnis für den Geist seiner Zeit.

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Bei G. W. F. Hegel (Geschichte der Philosophie, Werke Bd. XV, 2. Auflage 1844, S. 53, 562 f.) erfährt der Begriff des Zeitgeistes eine Überhöhung, indem er dem Zeitgeist Ausprägungen des Weltgeistes zuspricht, der sich als objektiver Geist in der Geschichte entfalte und in allen Erscheinungen eines Zeitalters wirksam sei. Zu solchen Erscheinungen zählte er auch Napoleon. Als dieser 1808 zum Fürstentag in Erfurt einritt, sprach Hegel vom Weltgeist zu Pferde, wohingegen Ernst Moritz Arndt in seiner Schrift „Geist der Zeit“ aus dem Jahre 1805 Napoleon ein „erhabenes Ungeheuer“ nannte. Auch bei Hölderlin entdeckt man in seinem Gedicht „Der Zeitgeist“ ein überindividuelles Verständnis dieses Begriffes, wenn er den Zeitgeist anspricht mit den Worten: „Du in der dunklen Wolke, du Gott der Zeit.“ Und noch der nüchterne Schweizer Staats- und Völkerrechtler J. K. Bluntschli meinte in seinem umfangreichen Werk, Lehre vom modernen Staat, Bd. 3, 1876, S. 138, Gott lenke mit dem Zeitgeist den Gang der Geschichte. Dieser objektiven, über die Menschen hinausweisenden Sicht des Zeitgeistes trat schon Goethe entgegen. Im Ersten Teil des „Faust“ sagt Wagner: „Verzeiht! Es ist ein groß Ergetzen, sich in den Geist der Zeiten zu versetzen.“ Und Faust (d. h. Goethe) antwortet ihm: „Was Ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigener Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln.“ Goethe hat eindeutig den Sieg über Hegel davongetragen. Es ist heute ganz unbestritten, dass der Zeitgeist nicht göttlichen Ursprungs ist, auch nicht ein aus einer sonstigen Quelle objektiv herrschendes, vielmehr ein von den Menschen herrührendes Phänomen. Goethes Sicht auf den Zeitgeist unterscheidet sich aber nicht nur insofern von Hegel als es um die Quelle geht, sondern auch in der Bewertung des Zeitgeistes. Hegel sieht, wie schon Herder, etwas Positives, Maßstabsetzendes im Zeitgeist. In den Worten, die Goethe Faust in den Mund legt, kommt dagegen eine kritische Distanz gegenüber dem Zeitgeist zum Ausdruck. Auch insoweit erscheint Goethe moderner. Wenn heute der Begriff Zeitgeist verwendet wird, dann wird dabei zumeist eine Strömung angesprochen, der man zumindest kritisch wenn nicht gar klar ablehnend gegenübersteht. Der Schweizer Literaturwissenschaftler Emil Staiger legte 1961 eine Schrift mit dem Titel „Der Zeitgeist und die Geschichte“ vor. Darin diagnostiziert er als eine Ausprägung des damaligen Zeitgeistes eine Technikeuphorie, die sich u. a. darin zeige, dass zunehmend naturwissenschaftliche und technische Fächer studiert würden, wohingegen geisteswissenschaftliche Fächer immer mehr in den Hintergrund träten. Staiger hält diesen Zeitgeist für schädlich, da die Vernachlässigung der Geisteswissenschaften auf Kosten der allgemein geistigen Ausbildung des Menschen gehe.

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Die genannte Schrift erschien 1964 zusammen mit einer weiteren Abhandlung Staigers in einem Band, der den Titel „Geist und Zeitgeist“ trug. Schon in diesem Titel wird deutlich: Staiger sieht den Zeitgeist in Gegnerschaft zum wirklichen Geist. Es ist bemerkenswert, dass das Meyersche Lexikon, das sich zum Stichwort „Zeitgeist“ auf zwei Literaturnachweise beschränkt, gerade die Schrift Staigers anführt. 2. Geist der Zeiten Ungeachtet des Unterschiedes, ob der Zeitgeist objektiven, göttlichen oder menschlich individuellen Ursprungs sei, ist allgemein anerkannt, dass es für die Qualifizierung als Zeitgeist nicht ausreicht, dass der Geist hier und heute herrscht. Vielmehr ist es erforderlich, dass er über einen längeren Zeitraum herrscht. In zuvor genannten Aussagen zum Zeitgeist sollte aufgefallen sein, dass dabei fast immer vom Geist der Zeiten die Rede war. Beachtenswert ist insoweit auch, dass das Wort Zeitgeist im Englischen „spirit of the times“ und im Französischen „esprit du siècle“ heißt. In diesen Bezeichnungen kommt zum Ausdruck, dass als Zeitgeist nicht gelten soll, was nur heute, gestern und morgen gilt. Vielmehr ist erforderlich, dass die entsprechende Sicht schon seit längerer Zeit und mit dem Anspruch auf die nächste Zukunft gilt. Der Zeitgeist ist die Signatur, die Physiognomie einer Epoche und bestimmt die epochalen Zeitabschnitte. Mit anderen Worten, der Unterschied im Zeitgeist ermöglicht die Einteilung der Geschichte in Epochen. In diesem Sinne spricht man z. B. vom Zeitgeist der Renaissance, der Aufklärung, der Romantik etc. Der „Genosse Trend“, den eine Partei gelegentlich als ihren Wahlhelfer ausgemacht hat, trägt meist nur über eine oder zwei Legislaturperioden und kann insofern wohl kaum als Zeitgeist erkannt werden. Die Ausrufung eines sozialdemokratischen Jahrhunderts in Europa zielt auf einen entsprechenden Zeitgeist, doch haben ihn die Wähler in den europäischen Staaten bisher nicht befolgt. 3. Wandlungen des Zeitgeistes Auch wenn der Zeitgeist deutlich zu unterscheiden ist von den Stimmungen des Tages, den kurzfristigen Moden oder gar den Stimmungen des Augenblicks, so ist doch nicht zu übersehen, dass auch er dem Wandel unterliegt. Die Gründe für den Wandel sind vielfältig. Zu nennen sind Veränderungen im sozialen und ökonomischen Bereich, wie z. B. der Wandel von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft oder der Prozess der Tech-

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nisierung. Weitere Gründe für den Wandel des Zeitgeistes sind historische Schlüsselereignisse wie die Revolutionen von 1789, 1848 und 1917. Auslösende Momente sind auch wissenschaftliche Entdeckungen. Es ist leicht einsehbar, dass der Wandel vom geozentrischen zum heliozentrischen System, ausgelöst durch Kopernikus und Keppler tiefgreifende Wandlungen des Zeitgeistes auslösen musste. Technische Entwicklungen wie das Fernsehen wirken sich erheblich auf den Zeitgeist aus, wie auch die vielfach bedingten Veränderungen in der Arbeitswelt. Schließlich wirken sich Veränderungen der religiösen, weltanschaulichen und politischen Ideen auf den Zeitgeist aus. Diese Gründe für die Veränderung des Zeitgeistes haben schon immer gegolten. Neu ist, dass solche Gründe für die Veränderung in rascherer historischer Abfolge auftreten, und als Folge davon der Zeitgeist sich rascher wandelt. Noch immer gilt, dass der Zeitgeist nicht verwechselt werden darf mit den Moden des Tages, doch wird es zunehmend fraglicher, ob er sich nur in Epochen wandelt. Die allgemeine Beschleunigung der geschichtlichen Entwicklung macht auch vor dem Zeitgeist nicht halt. Im Übrigen schrieb schon im Jahre 1841 (in: Rotteck/Welcker (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. 12, S. 278 zu dem Stichwort „Öffentlichkeit“) der Staatsrechtler und Politiker Carl Theodor Welcker: „So ist der Zeitgeist heute ein industrieller, morgen mehr auf die höhere Kultur gerichtet, heute politisch morgen religiös, heute mehr liberal und aufklärend, morgen mehr fromm und monarchisch.“ Ein weiterer Aspekt des Wandels des Zeitgeistes liegt darin, dass vom Zeitgeist längst nicht mehr nur die Rede ist, wenn er alle Lebensbereiche umfasst, sondern dass er sich seit langem segmentiert hat. Wir sprechen heute vom Zeitgeist in der allgemein politischen Entwicklung, in der Kunst, in der Technik, in der Medizin und in manchen anderen Lebensbereichen wie der Kultur, der Erziehung, der Philosophie etc.

4. Heutige Strömungen des Zeitgeistes Ich habe eben darauf hingewiesen in welch vielfältigen Bereichen der Zeitgeist wirkt und wie verhältnismäßig rasch er sich wandeln kann. Es versteht sich daher von selbst, dass ich auch nicht annähernd alle Strömungen des heutigen Zeitgeistes ansprechen kann. Ich muss mich auf eine Auswahl beschränken, die natürlich subjektiv ist. Ich meine, dass die folgenden Beispiele heute besonders wirkmächtig sind. Andere würden vielleicht eine andere Auswahl treffen.

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a) Der Gleichheitssatz Die geistige Strömung, die ich heute für am wirkmächtigsten halte und die das nicht erst jüngsten Datums ist, sehe ich in der Wirkung des Gleichheitssatzes. Alexis de Tocqueville hat schon 1835 in seinem bedeutsamen Werk „De la démocratie en Amérique“ auf die zentrale Bedeutung des Gleichheitssatzes für die Demokratie hingewiesen. Gleichzeitig erkannte er das Spannungsverhältnis zwischen der Gleichheit und der Freiheit. Er sorgte sich um die Freiheit, die Gefahr laufe, von der Gleichheit überwältigt zu werden. Diese Gefahr sah auch Heine, ein insofern unverdächtiger Zeuge, der eher von links als von rechts angerufen wird. In deutlich kritischer Sicht gegenüber einem allgemeinen Gleichheitssatz reimte er in seinem Atta Troll (Caput VI): „Strenge Gleichheit! Jeder Esel sei befugt zum höchsten Staatsamt, und der Löwe soll dagegen mit dem Sack zur Mühle traben.“ Die übersteigerte Wirkung des Gleichheitssatzes wirkt sich auch im Demokratieverständnis aus. Ursprünglich und grundsätzlich gilt das Demokratiegebot für die Organisation und Lenkung des Staates. Unterdessen aber wird das Demokratiegebot auch auf andere Gebiete ausgedehnt, wie z. B. die Universität. Professoren, Assistenten, Studenten und sonstige Hilfskräfte sollen viertelparitätisch über alle Angelegenheiten in der Universität entscheiden. Das ist gegenwärtig noch nicht geltendes Recht, denn das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung betont, dass den Professoren in Fragen der Wissenschaft ein entscheidender Einfluss zukommen müsse. Unbeeindruckt davon beabsichtigte der vorangegangene Wissenschaftssenator in Berlin bei einer Änderung des Hochschulgesetzes die Viertelparität durchzusetzen. Er vertraute dabei wohl auf den Zeitgeist, der jedoch im klaren Gegensatz zum geltenden Verfassungsrecht steht. b) Schicksal als einklagbarer Rechtsverlust Eine weitere Ausprägung des Zeitgeistes sehe ich darin, dass die Menschen heute kaum mehr bereit sind, schicksalhafte Beeinträchtigungen, selbst wenn sie sie z. T. selbst herbeigeführt haben, als Schicksal zu tragen. Stattdessen verlangen sie in solchen Fällen, dass der Staat helfend und entschädigend eintritt. Trotz Warnungen des Auswärtigen Amtes reisen die Menschen in Gebiete, in denen ihre Sicherheit gefährdet ist. Werden sie entführt und gefangen, erwarten sie wie selbstverständlich, dass der Staat alles tut, um sie zu befreien. Rupert Scholz spricht ganz treffend von „Kasko-Mentalität“ und hält dem zu Recht entgegen, dass wirkliche Frei-

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heit ohne Eigenverantwortung und damit ohne eigenes Risiko nicht denkbar ist. Eine Gesellschaft, die den notwendigen Zusammenhang und die wechselseitige Abhängigkeit von Freiheit, Verantwortung und auch Risiko vergisst, eine solche Gesellschaft büße ihren entscheidenden Grundwert ein, den Grundwert von Freiheit in Menschenwürde (siehe Scholz, Deutschland in guter Verfassung?, 2004, S. 70 f.). Ich sehe darin, ganz vergleichbar, die Haltung, Schicksal als einklagbaren Rechtsverlust zu missverstehen. Dieses Diktum stammt von Fritz Werner, dem 1969 verstorbenen Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts (siehe Fritz Werner, Wandel des Rechtsgefühls, Radius 1957, Heft 4, S. 35 ff.; ders., Recht und Gericht in unserer Zeit, 1971, S. 192), der in dieser Vorstellung auch die Macht des Gleichheitsgedankens in unserer Zeit sah. c) Umweltschutz Jüngeren Datums im Zeitgeist ist der Umweltschutz. Objektiv veranlasst ist er durch die Einsicht, dass seine Vernachlässigung Schäden grundlegender Art herbeiführen kann. Freilich ist nicht zu übersehen, dass insofern ganz widersprüchliche Verhaltensweisen festzustellen sind. Zu Hause wird der Abfall vielfältig und sorgfältig getrennt. Auf jedem Parkplatz finden sich dagegen alle Abfälle aus dem Auto. Immerhin ist der Umweltschutz als Ausdruck des Zeitgeistes so wirkmächtig geworden, dass im Jahre 1994 ein neuer Artikel 20a in das Grundgesetz eingefügt wurde, in dem der Schutz der Umwelt als Staatsziel formuliert ist. Auch wenn auf diesem Gebiet noch Vieles zu tun bleibt, so darf doch festgestellt werden, dass insbesondere im Bereich des Gewässerschutzes schon erhebliche Fortschritte erzielt wurden. Flüsse und Seen in Deutschland sind heute deutlich weniger verschmutzt als vor vierzig Jahren. Selbst im Rhein leben wieder Fische, die man ohne Sorgen um die Gesundheit auf den Tisch bringen kann. d) Antiautoritäre Erziehung Eine weitere Ausprägung des Zeitgeistes ist die antiautoritäre Erziehung. In ihrem Buch „Das bleiche Herz der Revolution“, 2004, schildert Sophie Dannenberg ihre Erziehung durch Eltern, die bewusst und überzeugt der so genannten 68er-Generation angehörten. Die Ablehnung jeglicher Autorität und die sexuelle Freiheit stehen im Zentrum ihres Erziehungszieles. Im Untertitel des Buches heißt es: „Dieser Roman beschreibt den Zeitgeist, nichts anderes.“

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Das Buch zeigt den Anspruch, den dieser Zeitgeist erhebt, aber zugleich, welche negativen Auswirkungen dieser Zeitgeist auf die betreffenden Kinder hat oder zumindestens haben kann. e) Abbau bürgerlicher Werte Schließlich kennzeichnet den heutigen Zeitgeist auch der Abbau so genannter bürgerlicher Werte wie Leistung, Pünktlichkeit, Sorgfalt etc. Ein einstiger Vorsitzender einer deutschen Partei kennzeichnete diese Werte als Sekundärtugenden und meinte, mit ihnen ließe sich auch ein Konzentrationslager führen. Im vorletzten Bundestagswahlkampf erklärte ein Filmschaffender im Fernsehen, der Spitzenkandidat einer bestimmten Partei sei für ihn schon deshalb nicht wählbar, weil er seit 37 Jahren mit der selben Frau verheiratet sei. Im letzten Bundestagswahlkampf griffen politische Gegner Paul Kirchhof nicht nur wegen seines Steuerkonzeptes an, das sie im Übrigen ganz entstellt zeichneten, sondern auch deshalb, weil er den Prototyp der bürgerlichen Familie verkörperte: Eine Frau – auch immer noch dieselbe – und vier Kinder. Wenn ich mich nicht täusche, ist diese Strömung des Zeitgeistes, d. h. die radikale Ablehnung bürgerlicher Werte, dabei, ihre Prägekraft zu verlieren. Schaden nähme unsere Gesellschaft dadurch m. E. nicht. Das Bewusstsein für die vitale Bedeutung der Familie für Gesellschaft und Staat nimmt wieder zu, nicht zuletzt in der jüngeren Generation. III. Abschluss Ich komme zum Ende und stelle fest: Vom Herderschen Konzept des Zeitgeistes ist nicht viel geblieben. Einen über alle Lebensbereiche herrschenden und allgemein akzeptierten Zeitgeist vermag ich heute nicht mehr festzustellen. Stattdessen wirkt der Zeitgeist heute in den unterschiedlichsten Segmenten und in rascherem Wandel als früher. Statt eines allgemein gültigen Zeitgeistes sehe ich heute eine Verschiedenheit von Zeitgeistern, denen die Menschen oft nicht als Leitbilder folgen, sondern eher kritisch gegenüberstehen.

Der wehrfähige Rechtsstaat Von Wolfgang Schäuble Rupert Scholz hat immer wieder darauf hingewiesen, dass es Aufgabe und Verantwortung des Rechtsstaats sei, für Rechtsfrieden und Rechtssicherheit zu sorgen.1 Wo diese gefährdet seien, müsse der Rechtsstaat – also Gesetzgeber, Verwaltung und Justiz – wirksam reagieren.2 Die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus etwa erfordere eine funktionierende präventive Abwehr von Gefahren aus der Luft, auf dem Boden und zur See – auch durch die Bundeswehr.3 Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz4 ebenso wie die aktuelle Diskussion über die Antiterrordatei bringen die damit zusammenhängenden verfassungsrechtlichen Themen wieder auf die Tagesordnung: den Zusammenhang von Freiheit und Sicherheit, die Regelungsmöglichkeiten des Gesetzgebers und die verfassungsrechtliche Unterscheidung zwischen ziviler Polizeigewalt und militärischer Gewalt in all ihren Implikationen. Anlass für das Luftsicherheitsgesetz ebenso wie für die Antiterrordatei ist der neue internationale Terrorismus, der sich in Mitteln, Zielen, Motiven und in der Globalität seiner Infrastruktur von früheren Bedrohungen unterscheidet und den demokratischen Rechtsstaat herausfordert. I. Alte und neue Herausforderungen: Die Bedrohung des Rechtsstaats durch den Terrorismus in Zeiten der Globalisierung Auch wenn der Terrorismus schon in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts in Europa Teil der Realität war, die sich in Deutschland als Rote Armee Fraktion, in Italien als Brigate Rosse oder in Frankreich als Action Directe zeigte, so hat sich seine Stoßrichtung doch erheblich gewandelt. Der politische Mord ist durch das Massenverbrechen abgelöst worden. 1 2 3 4

Etwa NJW 1983, 705; ders., Deutschland – In guter Verfassung?, 2004, S. 177. Scholz, Deutschland – In guter Verfassung? (Fn. 1), S. 177. Scholz, Deutschland – In guter Verfassung? (Fn. 1), S. 181. BVerfG, 1 BvR 357/05 vom 15.2.2006, NJW 2006, 751.

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Es wird nicht gemordet, um konkrete Ziele – wie etwa die Befreiung politischer Gefangener – zu erreichen. Es geht lediglich darum, möglichst viele Menschen zu töten. Hier spielt das manichäische Weltbild der Täter eine Rolle, welches die bedingungslose Gewalt der „Gläubigen“ gegen die „Ungläubigen“ scheinbar legitimiert. Der Terror richtet sich nicht nur gegen staatliche Funktionsträger, sondern gegen die Gesellschaft insgesamt. Selbst eine Mehrzahl von Anschlägen wird indes wohl nicht die physische Kraft haben, um einen Staat zu vernichten. Die physischen Auswirkungen stellen aber nur einen Teil der von den Terroristen intendierten Wirkung dar. Mindestens ebenso erheblich sind die psychischen Auswirkungen auf die freiheitlichen Gesellschaften, die der Terrorismus vor allem durch mediale Aufmerksamkeit erreicht. Die Strategie der Terroristen zielt letztlich auf die Ermattung des politischen Willens der westlichen Demokratie als Staats- und Gesellschaftsform.5 Das Leid der von einem Anschlag betroffenen Menschen dient diesem Ziel. Denn es soll Unsicherheit und Angst in die gesamte Gesellschaft tragen und sie so in ihrem Mark treffen. Dabei wird die Verteidigung erschwert durch die Wahl weicher Ziele wie Geschäftshäuser, Hotels oder Diskotheken, die sich nur begrenzt schützen lassen, sowie durch die Bereitschaft der Täter, selbst das eigene Leben für den Erfolg eines Anschlags zu opfern. Ganz so neu ist das wiederum nicht. Manche Facetten, die wir beim internationalen Terrorismus als neuartig empfinden, hat es schon zuvor gegeben: Bombenangriffe auf die Zivilbevölkerung oder auch japanische Kamikazeflieger sind frühere Beispiele einer asymmetrischen Kriegsführung. Und dennoch sind die Bedrohungen heute vielfältiger und unberechenbarer geworden. Die Staaten drohen, ihr Monopol zur Kriegsführung zu verlieren. Ob völkerrechtlicher Angriff oder innerstaatliches Verbrechen, ob Kombattant oder Krimineller, ob Krieg oder Frieden: Die überkommenen Begriffe verlieren ihre Trennschärfe und damit ihre Relevanz. Grundlegend geändert hat sich das Bedrohungsszenario vor allem durch die von der Globalisierung profitierende, völlig neue Infrastruktur des Terrors. Was in New York 2001, auf Bali 2002, in Madrid 2004 oder in London 2005 geschah, bedurfte eines logistischen Umfelds, wie es in der Vergangenheit nicht existierte. Der neue Terrorismus lässt die überkommene Grenze zwischen innerer und äußerer Sicherheit verschwimmen. Spätestens der 11. September 2001 hat gezeigt, dass dem neuzeitlichen Terror in der globalisierten Weltgesellschaft durch polizeiliche Mittel allein nicht begegnet werden kann. Auch wenn nicht hinter jeder Gewalttat ein Staat steht, dem sie zugerechnet wer5 Vgl. Münkler, Der Bürger im Staat, 2004, S. 174 ff., ders., Die neuen Kriege, 2004, S. 198 ff.

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den kann, so sind dennoch in der Regel Akteure im Ausland beteiligt, und das Zerstörungspotential erreicht zumindest punktuell Ausmaße, wie wir es vorher nur aus kriegerischen Auseinandersetzungen kannten. Auch die Vereinten Nationen gehen von einem existenziellen Gefährdungspotential des Terrorismus für die gesamte westliche Welt aus. Am 12. September 2001 verabschiedete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Resolution 1368, die die Anschläge in den USA als Bedrohung für den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit qualifiziert. Die Resolution bestätigt die Notwendigkeit, alle erforderlichen Schritte gegen solche Bedrohungen zu unternehmen und unterstreicht das im Falle eines Angriffs bestehende Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung. Diese Auffassung bekräftigt der Sicherheitsrat in späteren Resolutionen.6 Schließlich führten die Anschläge des 11. September 2001 auch erstmals dazu, dass die NATO den Bündnisfall nach Art. 5 des NATO-Vertrags ausrief, in dem wir uns bis heute befinden. Wer meinte, dass die Gefahr solcher Anschläge in Deutschland zum Beispiel auf Grund der Nichtbeteiligung Deutschlands an dem Krieg im Irak nicht oder nicht in dem Maße bestehe, wie das in den USA oder in Großbritannien der Fall ist, der wurde eines Besseren belehrt. Spätestens die fehlgeschlagenen Anschläge auf Regionalzüge in Dortmund und in Koblenz haben gezeigt, dass sich die Aggressionen auch gegen Deutschland richten. II. Die Antwort des Rechtsstaats: staatliche Verantwortung für die Sicherheit unter dem Grundgesetz Welche Aufgaben ergeben sich daraus für den Staat des Grundgesetzes? Schon am Beginn modernen Staatsdenkens stand die Vorstellung, dass es die erste und wichtigste Aufgabe des Staates sei, im Inneren Sicherheit zu gewährleisten, um den Bürgerkrieg zu verhindern, sowie Vorkehrungen gegen Angriffe äußerer Feinde zu treffen. Damit einher ging die Verstaatlichung des Krieges. Spätestens seit Thomas Hobbes’ „Leviathan“ von 1651 wird es als Ziel staatlicher Gewalt angesehen, die Bedingungen eines Lebens in Sicherheit und die Befriedigung der individuellen Lebensbedürfnisse zu ermöglichen: „Die Aufgabe des Souveräns, ob Monarch oder Versammlung, ergibt sich aus dem Zweck, zu dem er mit der souveränen Gewalt betraut wurde, nämlich der Sorge für die Sicherheit des Volkes.“7 Mit Sicherheit ist hier aber nicht die bloße Erhaltung des Lebens gemeint, sondern auch alle anderen Annehmlichkeiten des Lebens, die sich jedermann durch rechtmä6 Resolution 1373 vom 28. September 2001 und Resolution 1624 vom 14. September 2005. 7 Hobbes, Leviathan, hrsg. von Iring Fetscher, 1984, S. 255.

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ßige Arbeit ohne Gefahr oder Schaden für den Staat erwirbt. Dieses Zieles wegen wird der Staat begründet und mit dem summum imperium, das heißt der höchsten, zur Letztentscheidung berufenen und damit souveränen Herrschaftsgewalt ausgestattet. Denn nur durch eine solche souveräne, in letzter Instanz entscheidende Institution kann Frieden und Sicherheit gewährleistet, zwischen Recht und Unrecht sicher unterschieden werden. Der „Leviathan“ beschrieb das Prinzip einheitlicher staatlicher Machtausübung. Mit dieser Errungenschaft gelang es, die konfessionellen Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts, die von den jeweiligen Kombattanten als „gerechte Kriege“ geführt wurden, zu beenden und den Staat als obersten Hüter von Ruhe, Sicherheit und Ordnung zu etablieren – und zu rechtfertigen. Das Ergebnis war eine Konzentration und Bündelung der Gewaltmittel in den Händen des aus den Wirren der Bürgerkriege hervorgehenden Fürstenstaates. Die Herausbildung des modernen staatlichen Gewaltmonopols, die Verstaatlichung der Gewalt, legitimierte sich in der Schutz und Sicherheit gewährenden Funktion des Staates. Die Sicherung und Wahrung des Rechtsfriedens gehören zu den zentralen Grundwerten und höchsten Pflichten des demokratischen Rechtsstaats. Nur der Rechtsfriede sichert den sozialen Frieden, und nur er garantiert die Gleichheit und die Achtung von Gesetz und Recht.8 Der Staat ist damit von Verfassungs wegen auch unter dem Grundgesetz gehalten, die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten.9 Das Bundesverfassungsgericht hat dies schon früh anerkannt: Wiewohl ein Staatsziel Sicherheit nicht ausdrücklich im Grundgesetz genannt wird, habe die Wahrung von Sicherheit und damit von Rechtsfrieden Verfassungsrang.10 Die Sicherheit des Staates als verfasster Friedens- und Ordnungsmacht sowie die von ihm zu gewährleistende Sicherheit seiner Bevölkerung sind Verfassungswerte, die mit anderen im gleichen Rang stehen und unverzichtbar sind, weil die Institution Staat von ihnen die eigentliche und letzte Rechtfertigung herleitet.11 Nur so kann der Staat seiner grundrechtlichen Schutzpflicht für Leben und Gesundheit der Menschen gerecht werden.12 Bei der Erfüllung dieser Aufgabe gilt es die Balance zwischen sicherheitspolitisch Notwendigem und rechtsstaatlich Vertretbarem zu halten, wo8

Scholz, NJW 1983, 705 (710). Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 17 ff., 21 ff., 27 ff. 10 BVerfGE 49, 24 (56 f.). 11 BVerfGE 49, 24 (56 f.). 12 BVerfGE 39, 1 (41 f.); BVerfGE 46, 160 (164); BVerfGE 49, 24 (53). Zum Zusammenhang zwischen Staatsaufgabe Sicherheit und grundrechtlicher Schutzpflicht siehe auch Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts, Band V, 2., durchges. Aufl., § 111, Rn. 83 ff. 9

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bei kein kategorischer Gegensatz zwischen Sicherheit und Freiheit besteht, sondern ein Verhältnis wechselseitiger Ergänzung, ein Erfordernis „praktischer Konkordanz“,13 das mit einem Denken in Gegensätzen nicht erfasst werden kann. Schon Wilhelm von Humboldt hat ebenso klar wie bündig festgestellt, dass „keine Freiheit ohne Sicherheit ist“.14 Freiheit im Rechtsstaat bedingt immer Bindung an das Recht und damit staatliche wie gesellschaftliche Pflicht zum Rechtsfrieden. Sind Rechtsfrieden und Rechtssicherheit nicht gewährleistet, so verliert sich Freiheit sehr rasch, droht Freiheit in „bindungslose Libertinage“ oder gar anarchisches Verhalten umzuschlagen, wie Rupert Scholz es ausgedrückt hat.15 Diese praktische Konkordanz herzustellen, ist allen Staatsgewalten aufgetragen: dem Gesetzgeber ebenso wie der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung. Hier wie in anderen Zusammenhängen stellt sich häufig die Frage nach der funktionsgerechten Zuordnung: Was sollte, was muss der Gesetzgeber regeln? Und damit zusammenhängend: Worüber muss das Parlament entscheiden? Ebenso stellt sich die Frage nach der Reichweite eines Verfassungsvorbehalts, wie ihn Art. 87a Abs. 2 GG enthält. Die Fragen nach dem Gesetzesvorbehalt berühren aber auch die Frage nach den Grenzen des Regelbaren. Was ist individueller Entscheidung überlassen und anvertraut – in der typischen Gefahrenlage damit der vollziehenden Gewalt, also Regierung, Verwaltung und der Bundeswehr? Gibt es Grenzen des Normierbaren? In welchem Verhältnis stehen Legalität und gesetzliche Regelung? Gerade zu dieser Diskussion hat der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts mit seinem Urteil zum Luftsicherheitsgesetz einen Kontrapunkt gesetzt, der sich nur sehr schwer in das herkömmliche Verständnis der Grundrechte und der Funktion des Gesetzes im demokratischen Rechtsstaat einfügt. Die Verfassungswidrigkeit der Tötung von Passagieren eines entführten Luftfahrzeuges ergibt sich, Andeutungen des 1. Senats zufolge, gerade daraus, dass sie auf gesetzlicher Grundlage vorgenommen werde. Damit gerät der Staat in ein kaum mehr lösbares Dilemma zwischen Regelungszwang aus Art. 87a Abs. 2 GG einerseits und angeblichem grundgesetzlichen Regelungsverbot andererseits. Auf den ersten Blick führt diese Entscheidung in einen scheinbar ausweglosen Konflikt: Genügt der Staat seiner Schutzpflicht gegenüber den Menschen, die am Boden durch das Flugzeug bedroht sind, so würde dies im 13 Hesse, Konrad, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1995, Rn. 317 ff. 14 v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, 1792 (Nachdruck 1967), S. 58. 15 Scholz, Deutschland – In guter Verfassung? (Fn. 1), S. 167.

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Extremfall zu einer ausnahmslos verbotenen Verletzung der Menschenwürde führen. Bleibt der Gesetzgeber hingegen untätig, überlässt er die exekutiv Verantwortlichen in nicht hinnehmbare Unsicherheit und verletzt damit die Schutzpflicht gegenüber den betroffenen Bürgern. Eine solche Rücknahme der Regelungsdichte mag gewisse Fehlentwicklungen beantworten, welche die – oft durch die Gesetzesvorbehaltslehre getriebene – Verrechtlichung in anderen Bereichen verursacht hat. Aber in der Bedrohungslage des Luftsicherheitsgesetzes ist eine solche Zurücknahme des rechtlichen Gestaltungsanspruchs völlig fehl am Platz. Um eine Bedrohung im Ernstfall ohne Hysterie und Chaos bewältigen zu können, ist eine eindeutige, klare Regelung notwendig. Dies gilt umso mehr, da die Entscheidung des Inhabers der Kommandogewalt angesichts der rechtsstaatlich vielfach beschränkten Weisungs- und Befehlskette im Ernstfall nur wirksam werden kann, wenn sie sich auf klare rechtliche Grundlagen stützen kann. Das in jüngerer Zeit ergangene, vielfach kritisierte Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zur Befehlsverweigerung16 hat diese Grenzen allgemein in Erinnerung gerufen. Schließlich muss auch eine weitere Tarierung des Grundgesetzes im Gleichgewicht bleiben: jene der Verantwortungsteilung zwischen Polizei und Streitkräften – von jeher eines der großen Themen der deutschen Republik seit 1918. Wir müssen uns die Frage stellen, ob die Bundeswehr zu bestimmten Voraussetzungen, die zu diskutieren und zu definieren sind, auch im eigenen Land zu Schutzzwecken eingesetzt werden kann. Denn es macht auf Dauer keinen Sinn, dass die Bundeswehr überall auf der Welt vielfältige Aufgaben wahrnehmen kann, nur nicht in dem Land, in dem das Grundgesetz gilt – eine Aufgabentrennung, mit der die deutsche Verfassungslage nahezu ein Unikat unter den westlichen Demokratien ist.17 Hier setzt das Urteil zum Luftsicherheitsgesetz Akzente, die über den Entscheidungsanlass weit hinausreichen. Gewiss war es ein Wagnis, ein neues Rechtsinstitut wie die Abschussermächtigung – typologisch nichts anderes als ein militärischer Kampfeinsatz18 – ausschließlich als Anwendungsfall der Amtshilfe des Bundes für die Länder (Art. 35 GG) einzuordnen.19 Es war daher wenig überraschend, dass das Bundesverfassungsgericht dieser Überdehnung der Amtshilfe eine Absage erteilt hat. 16 BVerwG, 2 WD 12/04 vom 21.6.2005 (Truppendienstgericht Nord), NJW 2006, 77. 17 Martínez Soria, DVBl 2004, 597 ff. 18 Linke, AöR 129 (2004), 490 (523 f.). 19 Ablehnend Schäuble, FS Zimmermann, 2005, 45 (57 f.), ders., EuGRZ 2005, 294 (296); von Danwitz, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 5. Aufl., Art. 35, Rn. 71.

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III. Der Einsatz der Streitkräfte im Innern – die Folgerungen aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz Der 11. September 2001 hat uns vor Augen geführt, welche Gefahr von dem international operierenden Terrorismus ausgeht. Flugzeugentführungen als terroristisches Mittel waren vorher schon bekannt. Die entführte Maschine als Waffe gegen Ziele auf dem Boden einzusetzen, hat jedoch eine neue Qualität. Das Leben der Passagiere ist nicht einmal mehr Faustpfand für Erpressungsversuche, ihr bedingungsloser Tod erhöht lediglich das Schreckenspotential des Angriffs. Vor diesem Hintergrund sollte das Luftsicherheitsgesetz als ultima ratio den Abschuss von Flugzeugen durch die Luftwaffe ermöglichen. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verstößt das Gesetz formell wegen fehlender Gesetzgebungskompetenz des Bundes, welche sich weder aus Art. 87a Abs. 2 GG noch aus Art. 35 Abs. 2 und 3 GG ergebe, gegen das Grundgesetz.20 Den materiellen Verstoß sieht das Bundesverfassungsgericht in der Unvereinbarkeit mit dem Recht auf Leben aus Art. 2 Abs. 2 GG in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie aus Art. 1 Abs. 1 GG.21 Dass das Luftsicherheitsgesetz vor dem Bundesverfassungsgericht teilweise gescheitert ist, kann den Staat jedoch nicht entheben, sich der neuen Bedrohungslage zu stellen. Das Gericht hat sich ausdrücklich mit den Regelungen des 3. Abschnitts des Luftsicherheitsgesetzes und damit mit Regelungen der Gefahrenabwehr befasst. Das Institut der Gefahrenabwehr lässt keinen Platz für die gezielte Tötung Tatunbeteiligter.22 Daraus folgt jedoch nicht, dass der demokratische Rechtsstaat ohnmächtig zuschauen muss oder darf, wenn Terroristen mit einem als Waffe missbrauchten Flugzeug das Gemeinwesen in seinem Innersten treffen wollen. Wenn der Staat hier kapituliert, stellt er auf Dauer nicht nur das Gewaltmonopol in Frage, sondern er verweigert sich kategorisch seiner Schutzpflicht gegenüber den von dem Anschlag bedrohten Menschen. Eine Lösung dieses Konflikts ist nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gleichwohl möglich, sie erfordert jedoch eine Verfassungsänderung. Dabei sind zwei Regelungskomplexe zu unterscheiden: Zum einen geht es um die Abwehr von terroristischen Angriffen, die – etwa wie die Anschläge vom 11. September 2001 – den Staat in seinen Grundlagen erschüttern. Diese Fälle sind wegen der Zielrichtung und der 20

Zu den kompetenzrechtlichen Fragen Burkiczak, NZWehrr 2006, 89 (93 ff.). Gegen die Ableitung aus der Menschenwürdegarantie Isensee, AöR 131 (2006), 173 (191 ff). 22 So schon Schäuble, EuGRZ 2005, 294 (296). 21

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Intensität des Angriffs nicht mehr der bloßen polizeilichen Gefahrenabwehr zuzuordnen. Zum anderen geht es um Bedrohungslagen, die in den Bereich der polizeilichen Gefahrenabwehr gehören – beispielsweise das Frankfurter Kleinflugzeug –, die aber andere als typisch polizeiliche Mittel erforderlich machen. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seiner Entscheidung zu § 14 Abs. 3 LuftSiG darauf beschränkt, den Abschuss eines Flugzeuges samt tatunbeteiligter Insassen für den Bereich der Gefahrenabwehr als mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG unvereinbar und damit nichtig zu erklären.23 Ausdrücklich heißt es: „Auch wenn sich im Bereich der Gefahrenabwehr Prognoseunsicherheiten vielfach nicht gänzlich vermeiden lassen . . . ist es unter der Geltung des Art. 1 Abs. 1 GG schlechterdings unvorstellbar, auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung unschuldige Menschen . . . zu töten.“ Der Frage, ob die Menschenwürdegarantie durch eine solidarische Einstandspflicht in extremen Notstandssituationen immanent beschränkt sei, konnte der Senat ausweichen, weil es im Anwendungsbereich von § 14 Abs. 3 LuftSiG nicht um die Abwehr von Angriffen gehe, die auf Beseitigung des Gemeinwesens und die Vernichtung der staatlichen Rechts- und Freiheitsordnung gerichtet seien, sondern ausschließlich um Gefahrenabwehr.24 Damit geht das Bundesverfassungsgericht implizit davon aus, dass der Abschuss im Verteidigungsfall eine andere verfassungsrechtliche Beurteilung zulässt.25 Der Senat hat auch ausdrücklich nicht entschieden, ob der Einzelne unabhängig vom Verteidigungsfall notfalls verpflichtet ist, sein Leben aufzuopfern, wenn nur so das rechtlich verfasste Gemeinwesen vor Angriffen bewahrt werden kann, die auf seine Zerstörung gerichtet sind.26 Wenn auch im Einzelnen offen bleiben kann, wie weit der Begriff der Verteidigung im Bereich der Terrorismusbekämpfung trägt, so setzt er nach bisherigem Verständnis voraus, dass es sich um einen von außen geführten Angriff auf das Bundesgebiet handelt. Mag zwar im Einzelfall die Zurechnung terroristischer Aktivitäten zu hinter ihnen stehenden Staaten gelingen, so wird dies aber nicht bei einer notwendigerweise durchzuführenden Exante-Betrachtung desjenigen, der über Maßnahmen zu entscheiden hat, möglich sein. Dies haben zuletzt wieder die verhinderten Anschläge in London vom August 2006 gezeigt. Der Großteil der Verdächtigen wurde in England 23

BVerfG, 1 BvR 357/05 vom 15.2.2006, Rn. 130. BVerfG (Fn. 23), Rn. 135 f. 25 Die vom Bundesverfassungsgericht verwendete Terminologie „kriegerisch“ kennt das Grundgesetz allerdings nicht. 26 So auch Hase, DÖV 2006, 213 ff. 24

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geboren und gehört der Mittelschicht an. Wenn Staatsbürger vom Staatsgebiet aus einen Angriff auf das Staatsgebiet ausüben, dann ist es zunächst schwer, von einem Angriff von außen und damit von Verteidigung zu sprechen – selbst wenn bei der späteren Aufklärung Verbindungen ins Ausland erkennbar werden sollten. Die klassische Unterscheidung von innerer und äußerer Sicherheit ist für eine wirksame Bekämpfung des Terrorismus daher nicht hinlänglich tragfähig. Weil sich staatlich initiierte oder staatlich unterstützte und nur scheinbar innergesellschaftliche Terrorismen nahezu unauflöslich miteinander mischen, weil der Terrorismus längst zu einem Gefahrentatbestand mit sehr unterschiedlichen Erscheinungsformen erstarkt ist, ist diese Unterscheidung im Bereich der Terrorismusbekämpfung untauglich geworden.27 Die Abwehr eines drohenden terroristischen Anschlags mittels eines entführten Passagierflugzeugs wird also nicht stets unmittelbar als Verteidigung im Sinne des Grundgesetzes bezeichnet werden können. Dies kann aber nur ein Zwischenergebnis sein. Denn der Staat muss in der Lage sein, auf die tatsächlich vorhandenen Bedrohungen mit wirksamen Handlungsoptionen zu reagieren, um die Gesellschaft zu schützen. Wir müssen den Staat und seine Organe daher mit eindeutigen rechtlichen Befugnissen ausstatten, die notwendig sind, um Gefahren für den Staat und seine Bürger abzuwehren. Damit die Bundeswehr, die über die militärischen Mittel und Fähigkeiten für wirksame Gegenmaßnahmen verfügt, im Falle eines zerstörerischen Anschlags auch schützend einschreiten darf, bedarf es einer zusätzlichen Einsatzermächtigung für die Streitkräfte in Art. 87a GG. Bei Angriffen auf die Grundlagen unseres Gemeinwesens müssen die Streitkräfte ebenso eingesetzt werden dürfen wie zur Verteidigung. Eine auf dieser Annahme fußende Rechtsgrundlage würde den Streitkräften die notwendige Handlungsfähigkeit geben. Sie würde als ultima ratio den Abschuss eines mit Tatunbeteiligten besetzten Flugzeuges ermöglichen, ohne dabei in Konflikt mit Art. 1 Abs. 1 GG zu geraten. Anders als der vom Bundesverfassungsgericht verworfene § 14 Abs. 3 LuftSiG, dient eine solche Regelung nicht der Gefahrenabwehr, sondern dem Schutz des Gemeinwesens. Bei der Gefahrenabwehr geht es um den Schutz individueller Rechtsgüter. Die Grundlagen des Gemeinwesens sind demgegenüber ein kollektives Schutzgut. Ist der Staat als Ganzer bedroht, ist er berechtigt, seine Existenz zu verteidigen und das zu tun, dessen es bedarf, um das rechtlich verfasste Gemeinwesen vor Angriffen zu bewahren, die auf seinen Zusammenbruch zielen.28 Dies ist dem demokratischen Rechtsstaat und dem Grundgesetz nicht fremd. 27

Scholz, Deutschland – In guter Verfassung? (Fn. 1), S. 179.

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Auch für Fälle, die in ihrer Intention und von ihrer Intensität her nicht darauf gerichtet sind, die Grundlagen unseres Gemeinwesens zu erschüttern, besteht Handlungsbedarf aufgrund der vom Bundesverfassungsgericht gemachten Unterscheidung zwischen „spezifisch militärischen“ und „sonstigen polizeilichen“ Mitteln. Denn es gibt Fallgestaltungen, in denen eine Gefahr, die im Rahmen von Art. 35 GG abgewehrt werden soll, nicht mit polizeilichen Mitteln abgewendet werden kann. Zu denken ist zum Beispiel an das als Waffe missbrauchte, allein vom Täter besetzte Kleinflugzeug. In solchen Fällen muss es den Streitkräften möglich sein, auch spezifisch militärische Mittel zur Abwendung der Gefahr einzusetzen. Soweit die Gefahr in dem Beispiel des Kleinflugzeugs nur durch Abschuss des Flugzeugs effektiv abgewehrt werden kann, steht dem auch nicht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Wege. Das Gericht hat ausdrücklich erklärt, dass der Abschuss dann nicht gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verstößt, wenn es sich um ein allein mit Tätern besetztes Flugzeug handelt. Denn die Täter würden nicht zum bloßen Objekt staatlichen Handelns. Es entspreche vielmehr gerade der Subjektstellung des Angreifers, wenn ihm die Folgen seines selbstbestimmten Verhaltens auch zugerechnet werden und er für das von ihm in Gang gesetzte Geschehen in Verantwortung genommen werde.29 IV. Sicherheit wider Datenschutz am Beispiel der Antiterrordatei Das wichtigste Element der Sicherheitsvorsorge angesichts der anhaltenden und unübersichtlichen Bedrohungslage ist vorbeugende Information. Die Amerikaner hatten viele relevante Informationen, bevor die Anschläge am 11. September ausgeführt wurden. Wenn sie die Informationen vernetzt hätten, dann hätten sie die Planung der Anschläge erkennen können. Das konnten sie damals nicht. Wir sollten aber für die Zukunft Schlüsse aus dieser Erfahrung ziehen. Dem Ziel der Informationsvernetzung dient die Antiterrordatei, die damit – ebenso wie das Luftsicherheitsgesetz – das Spannungsfeld von Sicherheit und Freiheit berührt. Das ambivalente Verhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit wird häufig bei staatlicher Sammlung, Verknüpfung und Verwendung von Informationen deutlich. Das im Volkszählungsurteil30 beschriebene Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) wird bekanntlich nicht schrankenlos gewährleistet. Das Grundgesetz hat die Spannung zwischen Individuum und Gemeinschaft im Sinne der Gemein28 29 30

Stern, Staatsrecht Bd. II, S. 1336 ff. BVerfG, 1 BvR 357/05 vom 15.2.2006 (Fn. 23), Rn. 141. BVerfGE 65, 1 ff.

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schaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden. Es erlaubt daher Einschränkungen im überwiegenden Allgemeininteresse auf verfassungsmäßiger gesetzlicher Grundlage, die insbesondere auch am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auszurichten sind, also geeignet, erforderlich und angemessen sein müssen. Mit der standardisierten zentralen Antiterrordatei wird der Informationsaustausch zwischen dem Bundeskriminalamt (BKA), den Landeskriminalämtern, den Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder, dem Militärischen Abschirmdienst (MAD), dem Bundesnachrichtendienst (BND), der Bundespolizeidirektion (BPolD) und dem Zollkriminalamt (ZKA) bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus intensiviert und beschleunigt. Einzelne Erkenntnisse, über die eine Behörde bereits verfügt und die bei einer Verknüpfung mit den Informationen anderer Behörden zur Terrorismusbekämpfung beitragen können, werden durch die zentrale Antiterrordatei leichter zugänglich. Zu diesem Zweck sind die beteiligten Behörden verpflichtet, Daten zu den relevanten Personen und Objekten in der Antiterrordatei zu speichern. Ein Datenabruf aus der Antiterrordatei führt zu einer deutlichen Vereinfachung des Verfahrens und damit zu einer Optimierung des Informationsaustauschs. Ihre verfassungsrechtliche Legitimation findet die Antiterrordatei in der Pflicht des Staates zur Erfüllung seines staatlichen Sicherheitsauftrags, zu der er in besonderem Maße auf Informationen angewiesen ist. Der Staat kommt seiner Verpflichtung zur Gewährleistung der Sicherheit nur nach, wenn er – unter Beachtung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit – die zu ergreifenden Maßnahmen an die jeweilige Bedrohungslage anpasst. Dies geschieht mit dem Gesetz zur Antiterrordatei. Der durch das Gesetz verursachte Eingriff ist angesichts der tatsächlich bestehenden Bedrohungslage verhältnismäßig. Die Datei enthält nur bereits vom Betroffenen offenbarte oder sonst erhobene und bereits in anderen Dateien gespeicherte Daten. Hinzu kommt, dass Merkmale wie Geschlecht und Wohnsitz ohnehin offen zutage liegen. Auch der Staat kann diese zur Kenntnis nehmen und verwenden, ohne dass darin immer schon ein besonders schwerer Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Einzelnen zu sehen wäre. Die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppierungen kann ein kriminalistisch bedeutsames Merkmal für eine sicherheitsbehördliche Abfrage darstellen. In diesem Zusammenhang kann auch die Zugehörigkeit zu einer Religionsoder Weltanschauungsgemeinschaft oder deren Untergliederungen von Bedeutung sein. Die negative Bekenntnisfreiheit, die durch Artikel 4 Abs. 1 und 2 GG ebenso wie durch Art. 136 Abs. 3 Satz 1 WRV geschützt wird, kann durch kollidierendes Verfassungsrecht ebenso wie im Rahmen des in

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Artikel 136 Abs. 3 Satz 2 WRV genannten Vorbehalts unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eingeschränkt werden. Diese Maßgaben sind letztlich auch für die Speicherung und Weitergabe zu beachten. Danach kann im Rahmen der vorstehend genannten Erwägungen – unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – eine Speicherung und in sehr engen, auf die Abwehr der konkreten Gefahr bezogenen Grenzen auch die Weitergabe der Daten grundrechtlich zulässig sein. Die im Volkszählungsurteil beschriebene Gefahr, das Individuum werde in seiner Freiheit wesentlich gehemmt, in eigener Selbstbestimmung über sein Verhalten zu entscheiden, tritt weit mehr durch die – gerade im öffentlichen Raum an neuralgischen Orten wie Flughäfen – allgegenwärtige terroristische Bedrohung ein als durch einen streng auf die Terrorbekämpfung begrenzten, zweckbestimmten innerstaatlichen Informationsaustausch. V. Fazit Die Anschläge des internationalen Terrorismus auf die freiheitlichen Gesellschaften des Westens sind in ihrer Gesamtheit darauf gerichtet, diese Gesellschaften in ihren Grundfesten zu erschüttern und auf lange Sicht zu zerstören. Deutschland ist hierbei ebenso bedroht wie alle anderen Staaten mit freiheitlichen Gesellschaftsordnungen. Gegen diese neuen Bedrohungen muss sich der wehrhafte Rechtsstaat wappnen, und er muss dazu neue Wege beschreiten. Ein solcher Weg ist die Antiterrordatei für den notwendigen Informationsaustausch. Für den Bereich der Luftsicherheit liegt er in der Ergänzung des Art. 35 GG um den Einsatz spezifisch militärischer Mittel sowie in der Erweiterung des Aufgabenspektrums der Streitkräfte in Art. 87a GG. Auch in Grenzsituationen muss der Staat sagen können, wer rechtmäßig entscheidungsbefugt ist. Eine verfassungsrechtliche Ordnung darf diese Antwort auf die alte Frage Thomas Hobbes’: „Quis iudicabit? Quis interpretabitur?“ nicht verweigern, wenn sie sich nicht selbst aufgeben will. Denn ohne einen wehrfähigen Rechtsstaat gibt es keine Menschenwürdegarantie. Und auch das Grundrecht auf Freiheit fordert die Gewährleistung der Sicherheit durch den Staat. Denn Sicherheit ist die Grundlage, auf der sich Freiheit erst entfalten kann.

Staatsreform und Verfassungspolitik Rupert Scholz als Initiator und Innovator im konstitutionellen Modernisierungsprozess des vereinigten Deutschland Von Hans-Peter Schneider I. Vorrede „Denn sie tun nicht, was sie wissen!“ – so lautet bisweilen ein Vorwurf, den leidgeprüfte, kampferprobte Politiker ihren Kritikern aus Forschung und Lehre entgegenhalten, wenn diese sich weigern, den „Elfenbeinturm“ zu verlassen und ihre hehren Theorien dem Test der rauen Wirklichkeit auszusetzen. Umgekehrt hört man immer wieder, dass sich Wissenschaft und Politik nur schwer miteinander vereinbaren ließen und schon gar nicht wechselseitig befruchteten, wobei zugleich auf vermeintlich abschreckende Beispiele von Professoren verwiesen wird, die in einem Ministeramt gescheitert sind oder resigniert haben. Als einst Gustav Radbruch im Jahre 1924 endgültig die politische Bühne verließ und – wie er sagte – „von der Lebendigkeit meines politischen Lebens“ die „Rückkehr ins stillere akademische Dasein“ antrat, hat er allerdings an diesem Schritt gezweifelt und sich gefragt, ob er damit recht getan habe. Denn: „Die Politik ist nun einmal für absehbare Zeit das Schicksal und alle andere Arbeit durch sie bedingt“1. Zuvor hatte schon Max Weber bei Wissenschaftlern und Politikern Gemeinsamkeiten entdeckt: Beide müssten zumindest über einen Charakterzug verfügen, ohne den ihr Tagwerk bloß „frivol intellektuelles“ oder „steril aufgeregtes“ Spiel bleiben werde: über Leidenschaft. Nur die leidenschaftliche Hingabe an eine Sache mit gehöriger Distanz zu sich selbst verwandle das Leben von der Wissenschaft und Politik in einen echten Beruf zur Wissenschaft und Politik.2 Zu den wenigen Professoren, die zugleich auch politisch erfolgreich waren und sind, gerade weil sie über jene distanziert kühle Leidenschaft in 1 Im Brief an den damaligen Oberreichsanwalt Ludwig Ebermayer vom 24. Mai 1924, in: Wolf, Erik (Hrsg.), Gustav Radbruch, Briefe, Göttingen 1968, S. 88. 2 Max Weber äußerte diese Gedanken in seinen beiden Vorträgen über „Politik als Beruf“ von 1919 (Frankfurt am Main 1999) und „Wissenschaft als Beruf“ von 1922 (10. Aufl., Berlin 1996).

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beiden Welten verfügen, gehört Rupert Scholz, dem diese Festschrift zum siebzigsten Geburtstag gewidmet ist. Um den Antriebskräften solch seltener Eigenschaften in seiner Person näher auf die Spur zu kommen, sollen aus seinem vielfältigen Wirken in verschiedenen hohen Ämtern und Funktionen gleichsam exemplarisch drei Bereiche in den Blick genommen werden, denen bei den notwendigen Staatsreformen seit der Wiedervereinigung Deutschlands bis zur gegenwärtigen Neuordnung des Verhältnisses von Bund und Ländern sein Hauptinteresse galt: den Problemen der Verfassungsänderung in System und Methode (II.), dem Föderalismus (III.) und dem Prozess der europäischen Einigung (IV.). Dabei soll das verfassungspolitische Wirken von Scholz in zwei Reformkommissionen im Mittelpunkt stehen, bei denen auch der Autor mit ihm zusammenarbeiten durfte: die „Gemeinsame Verfassungskommission“ aus Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates von 1992 bis 1993,3 der er zusammen mit Henning Voscherau vorsaß, und die „Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung“ von 2003 bis 2004,4 der er als Sachverständiger angehörte. II. Probleme der Verfassungsänderung 1. Die „Gemeinsame Verfassungskommission“ war ein Kind der Wiedervereinigung beider Teile Deutschlands – für die einen ein Wunsch-, für die anderen aber eher ein Stiefkind. Denn schon vor der ersten gesamtdeutschen Wahl am 3. Oktober 1990 hatte beiderseits der Grenze eine heftige Diskussion darüber eingesetzt, ob das „Zusammenwachsen“ dessen, „was zusammengehört“ (Willy Brandt) durch den Beitritt der ehemaligen DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Art. 23 a. F. GG oder durch die Schaffung einer neuen Verfassung, die vom deutsche Volk in freier Entscheidung beschlossen wird, nach Art. 146 a. F. GG bewerkstelligt werden soll. Während die Kritiker eines bloßen Beitritts nach Art. 23 a. F. GG mit 3 Vgl. den „Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission“ vom 28. Oktober 1993 (Bundestagsdrucksache 12/6000), erschienen in der Reihe des Deutschen Bundestages „Zur Sache“ 5/93, Bonn 1993, sowie die „Materialien zur Verfassungsdiskussion und zur Grundgesetzänderung in der Folge der deutschen Einigung“, Band 1: Berichte und Sitzungsprotokolle, Band 2: Anhörungen und Berichterstattergespräche, Band 3: Arbeitsunterlagen und Gesetzesmaterialien, erschienen in „Zur Sache“ 2/96, Bonn 1996. 4 Vgl. die „Dokumentation der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung“, erschienen in „Zur Sache 1/2005“, Berlin 2005. Dazu auch die Beiträge von Kommissionsmitgliedern in: Holtschneider, Rainer/Schön, Walter, (Hrsg.), Die Reform des Bundesstaates. Beiträge zur Arbeit der Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung 2003/2004 bis zum Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens 2006, Baden-Baden 2007.

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dem provozierenden Slogan „Kein Anschluss unter dieser Nummer“ auf die Annexion Österreichs durch das Naziregime 1938 anspielten und sich für die Wahl einer verfassunggebenden Nationalversammlung einsetzten, fürchteten die Gegner eines solchen Verfahrens einen Ausverkauf elementarer Prinzipien des Grundgesetzes und damit die „Selbstpreisgabe“ der Bundesrepublik. Ihren ersten wissenschaftlichen Niederschlag fand diese Kontroverse auf einer „Sondertagung“ der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer am 27. April 1990,5 wo auch Scholz sich zu Wort meldete und bereits damals darauf hinwies, dass mit dem Ruf nach dem Volksentscheid über eine neue Verfassung nicht nur das Grundgesetz, sondern auch die Wiedervereinigung selbst zur Disposition gestellt werde, und davor warnte, „den Prozess der deutschen Verfassungseinheit . . . mit alten kontroversen Fragen (zu) belasten – angefangen vom Aussperrungsverbot bis hin zu plebiszitären Fragen“6. Einen vorläufigen Abschluss fand diese Auseinandersetzung mit dem Einigungsvertrag vom 31. August 1990, der in Art. 5 vorsah, dass sich die gesetzgebenden Körperschaften „innerhalb von zwei Jahren mit der im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes“ befassen sollten. Aber schon bei der Frage nach dem Namen, der Zusammensetzung und dem Arbeitsprogramm des dazu erforderlichen Gremiums schieden sich wieder die Geister. Während SPD und GRÜNE einen von der Bundesversammlung gewählten „Verfassungsrat“ forderten, schlugen CDU/CSU und FDP einen „Gemeinsamen Verfassungsausschuss“ vor, bestehend aus je 16 Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates, und setzten sich damit auch im Wesentlichen durch. Dennoch schwelte der Konflikt weiter und warf seine Schatten bis hinein in die Beratungen dieser „Gemeinsamen Verfassungskommission“, die sich am 16. Januar 1992 konstituierte und Rupert Scholz zu einem der beiden Vorsitzenden wählte. Weil dieses Amt ihm ein durchaus ungewohntes Maß an politischer Neutralität und Zurückhaltung in den Sachfragen auferlegte, ließ er sich nicht davon abhalten, seine Vorstellungen in einigen Begleitaufsätzen klar und deutlich zum Ausdruck zu bringen.7 Denn obwohl der „Wegestreit“ mit dem 5 Mit Berichten von Jochen A. Frowein, Josef Isensee, Christian Tomuschat und Albrecht Randelzhofer in: VVDStRL 49 (1990), S. 7 ff., 39 ff., 70 ff., 101 ff. 6 Ebenda, S. 156 f. 7 Vgl. Neue Verfassung oder Reform des Grundgesetzes?, in: Zeitschrift für Arbeitsrecht 22 (1991), S. 683–694; Was soll ein reformiertes Grundgesetz leisten?, in: Zeitschrift zur politischen Bildung 29 (1992), S. 29–36; Das Grundgesetz zwischen Reform und Bewahrung, Berlin 1993; Aufgaben und Grenzen einer Reform des Grundgesetzes, in: Wege und Verfahren des Verfassungslebens (1993), S. 65–81.

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Beitritt der DDR nach Art. 23 GG entschieden war, blieben zwei Fragen weiterhin offen, nämlich erstens, ob die Kommission eine Totalrevision des Grundgesetzes in Angriff nehmen oder sich mit Änderungen einzelner Teile begnügen sollte, und zweitens, ob ihre Ergebnisse als normale Verfassungsänderungen zu behandeln und im Verfahren des Art. 79 Abs. 2 GG zu beschließen seien oder zusätzlich noch einem Volksentscheid unterworfen werden müssten. Schon in seiner Eingangrede gab Scholz die Richtung vor und stellte den begrenzten Auftrag der Kommission klar: Es gehe um eine Reform des Grundgesetzes, also lediglich um eine Verfassungsergänzung: „Unser Grundgesetz gehört zu den wirklichen Glücksfällen unserer Geschichte“; es habe sich bewährt und stehe daher „nicht zur Disposition“8. Auch eine anschließende Volksabstimmung über das reformierte Grundgesetz, wie sie von einigen Mitgliedern aus den neuen Ländern angeregt wurde, hielt Scholz für unangebracht und überflüssig. Das alte Grundgesetz sei durch seine von den Landtagen gewählten Schöpfer, den Parlamentarischen Rat, hinreichend demokratisch legitimiert. Daher sei eine Volksabstimmung nicht geboten, im Übrigen aber auch gar nicht zweckmäßig. „Denn wenn ich das Volk ernst nehme, muss es das Grundgesetz auch ablehnen können“9. Ohne dieses schlagende Argument relativieren zu wollen, muss allerdings hinzugefügt werden, dass es an Überzeugungskraft gewinnen würde, wenn man nicht zugleich vom Grundgesetz behauptete, das allein schon seine feste Verankerung im Volke jede Debatte über eine neue Verfassung ad absurdum führt. 2. Ein zweites wichtiges Thema in der Kommission war die Aufnahme von „Staatszielen“ in das Grundgesetz. Sie sollten an die Stelle sozialer Grundrechte im Sinne subjektiver Teilhabe- oder Leistungsansprüche treten und als objektiv-rechtliche Gewährleistungen staatliche Pflichtaufgaben begründen. Dabei ging es um den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, den Tierschutz, den Schutz ethnischer Minderheiten sowie um die Sicherung von Arbeit, Wohnung, sozialen Lebensrisiken, Bildungschancen sowie um die Verankerung von Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn in der Verfassung. Letzteres Ansinnen, das vor allem von Kommissionsmitgliedern aus den neuen Ländern ins Gespräch gebracht worden war, lehnte Scholz mit aller gebotenen Rücksicht und einer ihm sonst eher fremden Sensibilität, aber – soweit dies seine Stellung als Vorsitzender zuließ – auch mit unmissverständlicher Deutlichkeit ab. Im Übrigen bezog er zu diesen Fragen eine bemerkenswert differenzierte Position, die ihm gestattete, auf allseits akzeptable Kompromisse hinzuwirken. 8 Gemeinsame Verfassungskommission, 1. Sitzung am 16. Januar 1992 (Materialien [Fn. 3], Bd. 1 S. 5). 9 Ebenda, 20. Sitzung am 22. April 1993 (Materialien [Fn. 3], Bd. 1, S. 900–906).

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Einzelne Forderungen, soziale Grundrechte wie ein Recht auf Arbeit, Wohnung, Bildung oder soziale Sicherung in der Verfassung zu verankern, wies er überzeugend zurück. Dabei ging es ihm weniger um deren geringen normativen Gehalt und die daraus resultierende eingeschränkte Durchsetzbarkeit, auch nicht um die systemverändernden Wirkungen solcher Rechte unter den Bedingungen einer marktwirtschaftlichen Gesellschaftsordnung. Ebenso wenig leugnete er die Notwendigkeit eines „Tropfens sozialen Öls“ (von Gierke) im Grundgesetz oder die Pflicht des Staates, für einen hohen Beschäftigungsstand, bezahlbaren Wohnraum, gleiche Bildungschancen und soziale Sicherheit zu sorgen. All dies hielt er aber bereits vom Sozialstaatsprinzip für gewährleistet, welches durch das Rechtsstaatsprinzip ergänzt und in Form gebracht wird. Darüber hinaus verleiten derartige „Rechte“ zu dem Irrtum, dass auf all jenen Gebieten, wo die Politik gefordert ist, bei deren vermeintlichem Versagen ein Gericht, im Zweifel sogar das Bundesverfassungsgericht helfen könne. Gleiches gelte freilich auch für den Vorschlag, die soziale Marktwirtschaft in den Rang einer Verfassungsnorm zu heben. Man schaffe dann einen „justiziablen Begriff“ mit der Folge, das fast jedes wirtschaftslenkende Gesetz in Karlsruhe lande und die Richter klären müssten, was Marktwirtschaft sei. Wenn man in dieser Weise die „Büchse der Pandora“ öffne, gäbe es bald auch eine Staatszielbestimmung „innere Sicherheit“10. Ganz anders verhielt sich Scholz bei der Debatte über das ebenfalls heftig umstrittene Staatsziel „Umweltschutz“. Nach langem, bis in die späten achtziger Jahre zurückreichenden fruchtlosen Ringen um die Frage, ob dabei der Mensch im Mittelpunkt stehen solle (sog. anthropozentrische Lösung) und wie ein entsprechender Gesetzesvorbehalt zu formulieren sei, war es in der Kommission Rupert Scholz, der mit seinem Vorschlag den Durchbruch erzielen konnte. Er lautete schlicht: „Die natürlichen Lebensgrundlagen stehen im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung unter dem Schutz des Staates“11. Zwar verbarg sich hinter dieser Bezugnahme auf die verfassungsmäßige Ordnung eine Selbstverständlichkeit; unter bestimmten Umständen können in der Politik aber gerade solche Kompromissformeln, in denen sich alle Seiten „wiederfinden“, gleichsam Wunder bewirken. Dafür hatte und hat Scholz ein untrügliches Gespür. Zwar wurde der Wortlaut des künftigen Art. 20a GG noch etwas verändert und um einen Durchführungsauftrag an die drei Staatsfunktionen Gesetzgebung, Vollziehung und Rechtsprechung angereichert, blieb aber in seiner Kernaussage erhalten. 10 Gemeinsame Verfassungskommission, 6. Sitzung am 14. Mai 1992 (Materialien [Fn. 3], Bd. 1, S. 406 ff.). 11 Ebenda, S. 407; vgl. auch den Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission (Fn. 3), S. 131. Vgl. auch Gemeinsame Verfassungskommission, 25. Sitzung am 1. Juli 1993 (Materialien [Fn. 3], Bd. 1, S. 1091 f).

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Auch an der neuen, nicht minder umkämpften Förderklausel von Frauen in Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG, die sich auf die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung bezieht, hatte Scholz maßgeblichen Anteil. Mit seiner stets auf Differenzierung bedachten Grundhaltung hat er damals den Prozess der „Verfassungsmodernisierung“12 wesentlich mitgestaltet und vorangebracht. 3. Als einzigem Verfassungsrechtswissenschaftler in der Kommission fiel Scholz aber auch noch eine Sonderaufgabe zu, die er ebenso behutsam wie engagiert wahrnahm, nämlich bei allem berechtigten Reformeifer das Grundgesetz nicht zu überfordern und auf die Verfassungssprache zu achten. Er nannte dies „Verfassungsmethodik“13 und ermahnte die Mitglieder immer wieder, sich der Tatsache bewusst zu sein, dass eine Verfassung (und damit auch jede Änderung oder Ergänzung) zumindest den Anspruch erhebe, auf lange Zeit gültig zu bleiben. Sie müsse einerseits im „Verfassungsbewusstsein der Bürger“ akzeptiert, andererseits aber auch hinreichend flexibel sein, um Raum für Politikgestaltung zu geben, oder – mit Scholz’ eigenen Worten: „Eine Verfassung muss buchstäblich in die Zeit hinein offen sein. Sie muss mit der Zeit leben“14. Dabei maß er insbesondere der Staatspraxis eine wichtige Rolle zu. Eine Verfassung lebe „entscheidend aus der Verfassungswirklichkeit heraus“. Sie müsse die Verfassungswirklichkeit gestalten, zugleich aber für die politische Wirklichkeit handhabbar und praktikabel sein. „Perfektionismus ist im Verfassungsrecht immer gefährlich!“15. In seiner klaren, auf das Wesentliche konzentrierten Sprache, in seiner normativen Sparsamkeit und Präzision erblickte er daher gerade auch eines der großen „Erfolgsgeheimnisse“ des Grundgesetzes, das „eben nicht in deutschem Juristenperfektionismus abgefasst ist, mit dem Anspruch, alles regulieren, politisch sichern zu wollen“16. Zwar waren solche Äußerungen in erster Linie an diejenigen gerichtet, die den begrenzten Arbeitsauftrag der Kommission mit einer Art „Weltverbesserungsprogramm“ zu verwechseln schienen. Hinter ihnen verbargen sich aber auch unverkennbar gewisse verfassungspädagogische Ambitionen. Dies zeigte sich besonders deutlich bei der Diskussion um die Aufnahme 12 Auch dieser Ausdruck stammt von Scholz: Vgl. Gemeinsame Verfassungskommission, 1. Sitzung am 16. Januar 1992 (Materialien [Fn. 3], Bd. 1, S. 176). 13 Gemeinsame Verfassungskommission, 6. Sitzung am 14. Mai 1992 (Materialien [Fn. 3], Bd. 1, S. 406). 14 Ebenda. 15 Ebenda, 26. Sitzung am 28. Oktober 1993 (Materialien [Fn. 3], Bd. 1, S. 1185 ff.). 16 Gemeinsame Verfassungskommission, 6. Sitzung am 14. Mai 1992 (Materialien [Fn. 3], Bd. 1, S. 406, vgl. auch die 26. Sitzung am 28. Oktober 1993 (Materialien [Fn. 3], Bd. 1, S. 21).

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von Gruppenrechten in das Grundgesetz, die sich an der Frage des Schutzes ethnischer Minderheiten entzündete. Scholz sprach sich grundsätzlich gegen derartige „Privilegien“ aus17, wohl in der nicht unbegründeten Sorge, dass solche kollektiven Rechte das Sektierertum in der Gesellschaft fördern und zu einer Art Refeudalisierung führen könnten. Denn wenn ein Gruppenrecht erst einmal existiert, findet sich erfahrungsgemäß auch eine Gruppe, die es zu nutzen weiß. Ähnlich vermochte Scholz auch im Bereich des Staatsorganisationsrechts keinen Änderungs- oder Ergänzungsbedarf zu erkennen. Man müsse sich bei solchen Gegenständen stets fragen: „Gehört es in die Verfassung, oder gehört es nicht in die Verfassung. Das betrifft vor allem das Parteienrecht, das Wahlrecht, das Fraktionsrecht oder die Auswahl der Kandidaten. Das sind alles sicherlich sehr wichtige Themen. Aber ich denke, dass nicht alles in die Verfassung gehört“18. Auf diese Weise war es natürlich sehr leicht, mit der Verweisung solcher Materien an den einfachen Gesetzgeber zunächst einmal die Zuständigkeit der Kommission zu negieren und folglich das jeweilige Reformanliegen selbst auf den Sankt Nimmerleinstag zu verschieben. Immerhin hat sich Scholz auch noch nach Abschluss der Beratungen in der Kommission zu Wort gemeldet und ihre Arbeit trotz des relativ mageren Ergebnisses19 unvoreingenommen und sachgerecht gewürdigt.20 III. Probleme der Föderalismusreform 1. Zu den zentralen Aufgaben schon der Gemeinsamen Verfassungskommission gehörte die Beschäftigung mit Fragen des Föderalismus. Zuvor hatte bereits eine „Kommission Verfassungsreform“ des Bundesrates im Schwerpunkt „die verfassungsrechtlichen Fragen einer Stärkung des Föderalismus in Deutschland und Europa“ behandelt und entsprechende Empfehlungen verabschiedet.21 In die Beratungen einbezogen wurden darüber hinaus der 17

Ebenda, 24. Sitzung am 17. Juni 1993 (Materialien [Fn. 3], Bd. 1, S. 1020 f.). Ebenda, 9. Sitzung am 9. Juli 1992 (Materialien [Fn. 3], Bd. 1, S. 499. 19 Viele sinnvolle Vorschläge fanden nur eine einfache Mehrheit und wurden daher wegen Fehlens der notwendigen Zweidrittelmehrheit, die für Verfassungsänderungen in Bundestag und Bundesrat benötigt wird (Art. 79 Abs. 2 GG), schon gar nicht in den Katalog der Kommissionsempfehlungen aufgenommen. Vgl. dazu Schneider, Hans-Peter, Das Grundgesetz – auf Grund gesetzt? Die Deutschen haben wenig Talent zur Verfassungsreform, in: NJW 1994, S. 558–561. 20 Vgl. die Artikel: Zur Reform des Grundgesetzes: die Arbeiten der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat, Regensburg 1993; Zur Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat, in: Deutsche Wiedervereinigung 4 (1993), S. 5–28; Die Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat, in: Zeitschrift für Gesetzgebung 9 (1994), S. 1–34. 18

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Verfassungsentwurf des „Kuratoriums für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder“22, der ersten, noch vor der Wiedervereinigung gegründeten gesamtdeutschen Bürgerinitiative sowie der Schlussbericht der „Enquête-Kommission Verfassungsreform“ des Bundestages vom 2. Dezember 1976.23 Unter ausdrücklichem Hinweis auf die Forderungen der Ministerpräsidenten vom 5. Juli 199024 erteilte Art. 5 des Einigungsvertrages der Gemeinsamen Verfassungskommission unter anderem den Auftrag, entsprechend jenem Beschluss das Verhältnis von Bund und Ländern zu überprüfen und in Bezug auf die Möglichkeit einer Neugliederung im Raum Berlin/ Brandenburg abweichend von Art. 29 GG den Weg über eine Vereinbarung zwischen beiden Ländern freizumachen. Demgemäss widmete sich die Kommission schon damals den Gesetzgebungskompetenzen und dem Gesetzgebungsverfahren sowie dem Verwaltungsaufbau, der territorialen Neugliederung des Bundesgebiets (mit besonderem Augenmerk auf Berlin/Brandenburg) und der Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung. Trotz dieser weiten Aufgabenstellung waren die Ergebnisse der Kommission zur Föderalismusreform eher mager. Daher flaute die öffentliche Debatte über dieses Thema seither niemals ab und gipfelte in den Beschlüssen der Ministerpräsidentenkonferenz vom Dezember 1998 und Oktober 2001 sowie in einer Verständigung der Regierungschefs von Bund und Ländern Ende 2001, aufgrund deren zwei Bund/Länder-Arbeitsgruppen erneut eine kritische Überprüfung der bundesstaatlichen Ausgaben-, Ausgaben- und Einnahmenverteilung vornahmen. Nach weiteren Verhandlungen auf Regierungsebene setzte der Bundestag nunmehr ein zweites Bund/Länder-Gremium, die „Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung“ (kurz: Föderalismuskommission) ein – mit dem damaligen Fraktionsvorsitzenden der SPD Franz Müntefering und dem bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber als gemeinsamen Vorsitzenden sowie mit Rupert Scholz und dem Autor als Experten. Anders als die Gemeinsame Verfassungskommission 1992/93 erhielt die Föderalismuskommission, die ebenfalls aus 16 Ländervertretern und 16 Bundestagsabgeordneten bestand, mit dem Einsetzungsbeschlüssen des Bundestages vom 16. und des Bundesrates vom 17. Oktober 2003 einerseits einen umfassen21

Stärkung des Föderalismus in Deutschland und Europa sowie weitere Vorschläge zur Änderung des Grundgesetzes, hrsg. vom Bundesrat, Bonn 1992 (BRDrucksache 360/92). 22 Vom Grundgesetz zur deutschen Verfassung: Denkschrift und Verfassungsentwurf, vorgelegt vom Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder, Baden-Baden 1991. 23 Bundestagsdrucksache 7/5924. 24 Eckpunkte der Länder für die bundesstaatliche Ordnung im vereinten Deutschland, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Heft 3/1990, S. 461 ff.

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den, die volle Breite der Föderalismusthemen abdeckenden Arbeitsauftrag, andererseits aber klare Richtungsvorgaben: sie sollte Vorschläge mit dem Ziel entwickeln, „die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit von Bund und Ländern zu verbessern, die politischen Verantwortlichkeiten deutlicher zuzuordnen sowie die Zweckmäßigkeit und Effizienz der Aufgabenerfüllung zu steigern“25. In der Sache waren erneut die Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten zwischen Bund und Ländern zu prüfen, zudem jetzt aber auch die Zuständigkeiten und Mitwirkungsrechte der Länder bei der Bundesgesetzgebung sowie die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern (insbesondere Gemeinschaftsaufgaben und Mischfinanzierungen). 2. Schon zu Beginn der Beratungen in der Gemeinsamen Verfassungskommission hatte sich Rupert Scholz für eine grundlegende Reform der bundesstaatlichen Ordnung ausgesprochen.26 Dazu gehörte seiner Meinung nach in erster Linie eine Stärkung der Gesetzgebungskompetenzen der Länder: „Das, was entgegen der Grundannahme des Art. 70 GG Staatspraxis der Bundesrepublik Deutschland, wenn man so will, geworden ist, dass nämlich der faktische Primat der Gesetzgebung zum Bund gewandert ist, haben wir nach Möglichkeit zu reparieren. Wir können es reparieren. Ich denke, wir werden es auch reparieren“27. Wenn Scholz dabei an eine (Rück-)Verlagerung von Bundeskompetenzen an die Länder gedacht haben mag, so war dies – wie sich bald erweisen sollte – leichter gesagt als getan. Schon beim Streit um das Hochschulrahmengesetz zeigte sich, dass der Bund nicht im Geringsten bereit war, auf irgendwelche Gesetzgebungskompetenzen zu verzichten, im Gegenteil: der Katalog konkurrierender Zuständigkeiten wurde um zahlreiche Bundeskompetenzen erweitert, etwa um das Staatshaftungsrecht sowie um das Recht der künstlichen Befruchtung und 25 Vgl. die BT-Drucksache 15/1685 vom 14.10. und die BR-Drucksache 750/03 vom 15.10.2003. 26 „Mit Recht hebt der Einigungsvertrag in diesem Sinne die Überprüfung der bundesstaatlichen Ordnung, die Stärkung des Föderalismus hervor. In der Tat, zur wirklichen inneren Einheit Deutschlands gehört ein ausgewogenes und gestärktes System der Bundesstaatlichkeit; denn nur dies kann das Verfassungsversprechen einheitlicher Lebensverhältnisse im ganzen Land einlösen“ (Gemeinsame Verfassungskommission, 1. Sitzung am 16. Januar 1992 (Materialien [Fn. 3], Bd. 1, S. 175). Vgl. dazu auch die folgenden Schriften von Rupert Scholz: Einheit in der Vielfalt – aktuelle Strukturfragen im deutschen Föderalismus, in: Die politische Meinung 32 (1987), S. 11–17; Föderalismus am Scheideweg, in: Bayerische Staatszeitung 44 (1989), S. 1; Der Föderalismus im unitarischen Bundesstaat der Bundesrepublik Deutschland, in: Föderalismus in Deutschland und Europa, 1993, S. 20–36; Die Reform des bundesstaatlichen Systems, in: Der Staat des Grundgesetzes – Kontinuität und Wandel, 2004, S. 491–511; Das bundesstaatliche System der Bundesrepublik Deutschland muss reformiert werden, in: Der Landkreis 74 (2004), S. 31–34. 27 Ebenda, 5. Sitzung am 7. Mai 1992 (Materialien [Fn. 3], Bd. 1, S. 327).

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der Organtransplantation. Folglich musste die Lösung bei einem Neuzuschnitt der Bedingungen gesucht werden, unter denen der Bund von einer konkurrierenden Zuständigkeit Gebrauch machen kann, also bei Art. 72 Abs. 2 GG. Hier sprach sich Scholz schon frühzeitig für die spätere Lösung aus, nämlich die Justiziabilität der Kriterien für die Inanspruchnahme einer Bundeskompetenz „wiederherzustellen“, also das, „was das Bundesverfassungsgericht mit seiner Rechtsprechung in Sachen Ermessensklausel unmöglich gemacht hat“. Damit wandte er sich zugleich gegen einen Vorschlag der Bundesratsseite, der eine wirksame und belastbare Bedürfnisprüfung bereits während eines laufenden Gesetzgebungsverfahrens vorsah.28 Letztlich folgte man auch hier Scholz und ersetzte erstens die Bedürfnisklausel durch das Erforderlichkeitskriterium (vgl. Art. 72 Abs. 2 n. F. GG) und räumte zweitens den Ländern ein sog. Rückholrecht für den Fall ein, dass die Erforderlichkeit eines Bundesgesetzes nachträglich entfällt (vgl. Art. 72 Abs. 3 n. F. GG). Wie sich bald herausstellen sollte, nahm das Bundesverfassungsgericht jedoch diese Verfassungsänderung viel ernster, als der Politik lieb war. In seiner Entscheidung zum Altenpflegegesetz vom 24. Oktober 2002 erklärte es die Merkmale des Art. 72 Abs. 2 GG zu „unbestimmten Rechtsbegriffen“ und fuhr fort: „Die gerichtliche Kontrolle ihrer Auslegung ist umfassend; sie geht über eine bloße Vertretbarkeitskontrolle hinaus“29. Dabei stützte sich das Gericht vor allem auf eine Ansicht von Scholz, der schon 1976 dafür plädiert hatte, dass die neuen Kriterien nicht für das jeweilige Gesetzesziel, sondern auch für die Auswirkungen und Folgen eines Gesetzes maßgebend sein sollen.30 „Erforderlich“ sollte danach eine bundesgesetzliche Regelung nur noch insoweit sein, „als sie ohne die vom Gesetzgeber für sein Tätigwerden im konkret zu regelnden Bereich in Anspruch genommene Zielvorgabe des Art. 72 Abs. 2 GG . . . nicht oder nicht hinlänglich erreicht werden kann“31. Nachdem die Länder aufgrund dieses Urteils in der Folgezeit namentlich in Kernbereichen des Hochschulrechts (Personalstruktur32, Zulassungsbedingungen33) weitere Erfolge verbuchen konnten, hatte sich ihre Position auf dem Gebiet der Gesetzgebungskompetenzen in 28

Ebenda, 4. Sitzung am 2. April 1992 (Materialien [Fn. 3], Bd. 1, S. 292 f.). BVerfGE 106, 62 (148 ff.). 30 Vgl. Scholz, Rupert, Ausschließliche und konkurrierende Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Starck, Christian (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Festgabe aus Anlass des 25-jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Tübingen 1976, Bd. II, S. 252 ff. (261 f.). 31 BVerfGE 106, 62 (149). 32 Urteil vom 27. Juli 2004 (BVerfGE 111, 226 ff.). 33 Urteil vom 26. Januar 2005 (BVerfGE 112, 226 ff.). 29

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der Föderalismuskommission von 2003/04 gegenüber der Gemeinsamen Verfassungskommission von 1992/93 erheblich verbessert. Sie konnten ihren Forderungen nach mehr Legislativbefugnissen schlicht mit dem Argument Nachdruck verleihen, dass sie anderenfalls ihre Rechte in Karlsruhe einklagen würden. Damit hatte im Ergebnis gleichsam als „List der Vernunft“ (Hegel) die Ersetzung der alten Bedürfnisklausel in Art. 72 Abs. 2 GG durch den Erforderlichkeitsmaßstab, also eine kleine Korrektur der Voraussetzungen, unter denen der Bund den Ländern die Ausübung einer konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz „versperren“ kann, unter Mithilfe des Bundesverfassungsgerichts große Fernwirkungen entfaltet, die aus der Sicht des Bundes einer Art „Kuckucksei“ entsprungen waren. In Anlehnung an diese Judikatur schlug Rupert Scholz in der Föderalismuskommission vor, statt eines an bestimmte Bedingungen geknüpften (konditionierten) Zugriffsrechts der Länder auf Materien der konkurrierenden Gesetzgebung, das lange Zeit favorisiert worden war, die Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts in Art. 72 Abs. 2 zu übernehmen. Demgemäß solle der Bund in diesem Bereich nur dann zuständig sein, „wenn und soweit die zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet erforderliche Rechtseinheit, die Wirtschaftseinheit oder die geordnete Entwicklung des Bundesgebiets im gesamtstaatlichen Interesse nur durch eine bundeseinheitliche Regelung zu erreichen ist. Bundesgesetze sind auf diejenigen Regelungen zu beschränken, die erforderlich sind, um die vorgenannten Ziele zu erreichen“34. Wäre man diesem Vorschlag von Scholz in der Kommission nur gefolgt, man hätte sich viel Verwirrung und manche Kritik erspart. Statt dessen beließ man es für einige Materien bei der bisherigen Regelung und „erfand“ für Gegenstände von besonderem Landesinteresse eine Art „Ping-Pong“-Verfahren: Einerseits wird der Bund auf diesen Gebieten zu einer Gesamtregelung ermächtigt, ohne an die Kriterien des Art. 72 Abs. 2 GG gebunden zu sein; andererseits dürfen die Länder davon abweichen, müssen sich anschließend aber vom Bund wieder „überholen“ und korrigieren lassen, jedenfalls solange nicht das betreffende Land erneut abweicht und sich das Hin und Her fortsetzt. Gelten soll nach der „lex posterior“-Regel das jeweils jüngste Gesetz. Selbst wenn man nur hoffen kann, dass dieses Wechselspiel nicht unendlich betrieben wird oder gar in einen dauernden Konkurrenzkampf zwischen Bund und Ländern ausartet, dürfte schon das einmalige Abweichen einzelner Länder, gefolgt von einem Rück34 Vorschlag zur Regelung der Kompetenzen von Bund und Ländern im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung (Föderalismuskommission, Arbeitsunterlage 0083). Auf dieses Konzept bezog sich auch der Sachverständige Fritz Scharpf für den Fall, dass eine Bedürfnisklausel weiterhin für erforderlich gehalten wird (vgl. Dokumentation [Fn. 4], S. 113). Ebenso bereits die Stellungnahme von Scholz zur öffentlichen Anhörung am 12. Dezember 2003 (Kommissionsdrucksache 0005, S. 5).

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abweichen des Bundes, zu einem Schwebezustand der Rechtsunsicherheit führen, der sich letztlich allein zum Nachteil der Bürger auswirken wird. Andere Materien, die wegen ihres Regionalbezugs oder mangelnden Erfordernisses einer bundeseinheitlichen Regelung ganz in die Gesetzgebungshoheit der Länder übergegangen sind, bleiben weiterhin heftig umstritten. Dazu gehören insbesondere der Strafvollzug, das Notariat und das Versammlungsrecht. Selbst Scholz, der stets für mehr Legislativbefugnisse der Länder eingetreten war, hatte insoweit eher Zurückhaltung empfohlen. Beim Strafvollzug befürchtet man nicht nur von Land zu Land unterschiedliche Haftbedingungen, sondern auch neue Hindernisse für die bisher relativ reibungslose länderübergreifende Zusammenarbeit. Das Notarwesen ist zwar traditionell zersplittert, erfordert aber auch künftig allgemeine Zugangsregeln sowie eine einheitliche Aus- und Fortbildung. Im Versammlungsrecht könnten sich für Auflagen oder Verbote unterschiedliche Maßstäbe herausbilden und bei bundesweiten Demonstrationen ebenfalls Probleme für die notwendige Länderkoordinierung (Amtshilfe) ergeben. Begründet wurde diese Kompetenzverschiebung trotz jener Nachteile vor allem mit dem Argument einer Stärkung der Landesparlamente. Ob dieser Effekt aber wirklich eintritt, kann durchaus bezweifelt werden. Denn nicht selten dürften die genannten Schwierigkeiten in der Praxis dadurch behoben werden, dass sich statt der Parlamente die Länderbürokratien in Staatsverträgen oder Verwaltungsabkommen auf gemeinsame Regeln verständigen, wenn nicht gar Musterentwürfe erarbeiten, deren unveränderte Übernahme einzelne Volksvertretungen kaum verweigern können. Dennoch haben die Länder in der Föderalismuskommission mit dem Rückenwind aus Karlsruhe sehr viel mehr erreicht, als sie in der Gemeinsamen Verfassungskommission auch nur zu hoffen wagten. Ob sie diese neuen Kompetenzen nicht nur im eigenen, sondern auch gesamtstaatlichen Interesse zu nutzen wissen, wird die Zukunft zeigen. 3. Ein neues Problem, das der Gemeinsamen Verfassungskommission noch nicht präsent war, betraf die Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung des Bundes, genauer: die Zustimmungsrechte des Bundesrates bei Gesetzen, die von den Ländern in landeseigener Verwaltung ausgeführt werden (vgl. Art. 84 Abs. 1 GG). Im Gefolge der Bundestagswahl von 1994 hatten sich bis in die jüngste Zeit hinein in Bundestag und Bundesrat stets gegensätzliche Mehrheiten herausgebildet, so dass der Bundesrat – bis 1998 von SPD-regierten, danach von CDU- oder CSU-geführten Ländern dominiert – die zustimmungsbedürftigen Gesetzesbeschlüsse der jeweiligen Regierungskoalition in ein aufwendiges Vermittlungsverfahren schieben und letztlich sogar scheitern lassen konnte. Dies hat dem Bundesrat immer wieder den Ruf eines „Blockadeinstruments“ der Opposition eingetragen.

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In der Föderalismuskommission waren offenbar die zahlreichen Nachtsitzungen des Vermittlungsausschusses den Mitgliedern beider Seiten noch zu gut (oder besser: schlecht) in Erinnerung, als dass man dieses Thema einfach hätte ausklammern oder ohne greibares Ergebnis erledigen können. Daher waren von vornherein alle Beteiligten an einer konstruktiven Lösung interessiert. Die Suche danach gestaltete sich jedoch schwieriger als angenommen. Denn ihr stand nicht nur die sog. Einheitstheorie des Bundesverfassungsgerichts im Wege, wonach sich die Zustimmungspflichtigkeit einzelner Vorschriften auf das ganze Gesetz auswirkt. Die Länder wiesen vor allem darauf hin, dass sie auf das Zustimmungsrecht des Bundesrates schon deshalb nicht verzichten könnten, weil sie es dringend benötigten, um finanzielle Lasten, die ihnen der Bund aufzuerlegen gedenke, wirksam abwehren zu können. Hier war es wiederum namentlich Rupert Scholz, dem es gelang, mit seinen Vorschlägen eine „win/win“-Lage zu schaffen, also eine Situation herzustellen, von der sich beide Seiten: die Regierung(skoalition) im Bund ebenso wie die Länder, Vorteile versprechen konnten. Das Modell war ebenso einfach wie genial: Wenn der Bund die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren ohne Zustimmung des Bundesrates regeln wollte, sollten die Länder von diesen Regelungen abweichen können. In Sonderfällen solle jedoch der Bund die Verbindlichkeit seiner Regelungen anordnen dürfen, wobei diese dann wieder nur bei Vorliegen eines gesamtstaatlichen Bedürfnisses und nur mit Zustimmung des Bundesrates zu erlassen seien.35 Die letztlich in Kraft getretene Neufassung des Art. 84 Abs. 1 GG kam diesem Vorschlag schon sehr nahe. Die einzige Modifikation bestand darin, dass auch hier eine Art „Ping-Pong“ ermöglicht wurde: Hat ein Land abweichende Regelungen getroffen, so kann der Bund erneut tätig werden. Jedoch treten seine herauf bezogenen späteren Vorschriften in dem betroffenen Land frühestens sechs Monate nach ihrer Verkündung in Kraft, soweit nicht mit Zustimmung des Bundesrates etwas anderes bestimmt ist. Außerdem sollen nach Art. 104a Abs. 4 Bundesgesetze, die Pflichten der Länder zur Erbringung von Geldleistungen, geldwerten Sachleistungen oder vergleichbaren Dienstleistungen gegenüber Dritten begründen und als eigene Angelegenheit oder im Auftrag des Bundes ausgeführt werden, weiterhin der Zustimmung des Bundesrates unterliegen, wenn die daraus entstehenden Lasten von den Ländern zu tragen sind.36 Ob mit diesen Neuregelungen viel 35

Vorschlag zur Neuformulierung des Art. 84 GG vom 29. Januar 2004 (Föderalismuskommission, Arbeitsunterlage 0024). 36 Diese Lösung des Finanzierungsproblems geht auf Vorschläge des Sachverständigen Ferdinand Kirchhof (Föderalismuskommission, Arbeitsunterlage 0057, S. 4)

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gewonnen ist und die Zahl der zustimmungspflichtigen Gesetze von bisher fast 60 Prozent spürbar reduziert wird, darf angesichts der beiden genannten Ausnahmen von der Zustimmungsfreiheit (Wiederherstellung von Bundesregelungen, Lastentragung durch die Länder) mit Fug und Recht bezweifelt werden. Optimistische Prognosen beziffern den Anteil zustimmungspflichtiger Gesetze am Gesamtvolumen künftig auf etwa 25 Prozent,37 pessimistische Schätzungen auf über 40 Prozent. Vermutlich dürfte die reale Größe dazwischen liegen, was allerdings auch schon als erheblicher Fortschritt zu betrachten ist. IV. Probleme der europäischen Einigung 1. Nachdem bereits die Ministerpräsidenten in ihrem „Eckpunkte-Beschluss“ vom 5. Juli 1990,38 auf den Art. 5 des Einigungsvertrages Bezug nahm, wesentliche Aspekte für eine aus der Sicht der Länder notwendige Verfassungsänderung im Zusammenhang mit der europäischen Einigung formuliert hatten, konnte und wollte auch die Gemeinsame Verfassungskommission an dieser Problematik nicht vorbeigehen. Ein Übriges zur intensiven Befassung mit Europa trug der „Vertrag über die Europäische Union“ (sog. Maastricht-Vertrag) vom 7. Februar 1992, der durch das – mitten in die Beratungszeit fallende – Gesetz vom 28. Dezember 1992 (BGBl. II, S. 1251) ratifiziert worden war.39 Dieser Vertrag hatte unter anderem zur Folge, dass mit jenem Gesetz mehrere Artikel des Grundgesetzes geändert oder ergänzt werden mussten, darunter auch solche, die an die unantastbaren Grundsätze des Art. 79 Abs. 3 GG rührten. So wurde zum Beispiel in Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG das Kommunalwahlrecht für Ausländer aus den EG-Mitgliedstaaten eingeführt, obwohl kurz zuvor das Bundesverfassungsgericht in zwei wichtigen Entscheidungen ein kommunales Ausländerwahlrecht ausdrücklich als unvereinbar mit demokratischen Prinzipien abgelehnt hatte.40 und des Autors (Kommissionsdrucksache 0032, S. 12 und 14) zurück. Vgl. auch die Dokumentation (Fn. 4), S. 679 f. 37 So eine – allerdings umstrittene – Expertise des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages: Georgii, Harald/Borhanian, Sarab, Zustimmungsgesetze nach der Föderalismusreform. Wie hätte sich der Anteil der Zustimmungsgesetze verändert, wenn die vorgeschlagene Reform bereits 1998 in Kraft gewesen wäre?, in: Deutscher Bundestag WD 3 – 37/06 und 123/06, Berlin 2006. 38 Siehe oben Fn. 24. 39 Auch das „Maastricht-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993 (BVerfGE 89, 155 ff.) hat zwar die Ergebnisse der Gemeinsamen Verfassungskommission nicht mehr unmittelbar beeinflusst, aber mit seiner These in Leitsatz 5, dass der EU-Vertrag nicht in einer Weise ausgelegt werden dürfe, die einer Vertragsänderung gleichkomme, und eine derartige Auslegung für die Bundesrepublik keine Bindungswirkung entfalten würde, gewisse „Vorwirkungen“ erzeugt.

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2. Angesichts des Umstandes, dass europäisches Recht Vorrang sogar vor nationalem Verfassungsrecht beansprucht, drängte sich die Frage auf, ob nicht im Grundgesetz expressis verbis klargestellt werden muss, dass sich Deutschland keinesfalls an einem europäischen Einigungsprozess beteiligen darf, der ihre Staatsstrukturprinzipien zur Disposition stellt. Die Antwort war rasch gefunden. In einem Gespräch zwischen Rupert Scholz und dem Autor wurde die Idee einer „Struktursicherungsklausel“ geboren.41 Danach sollte Deutschland nur noch bei der Entwicklung einer Europäischen Union mitwirken (und Hoheitsrechte auf sie übertragen dürfen), die den unveränderlichen Grundsätzen der Art. 1 und 20 GG im Sinne von Art. 79 Abs. 3 GG sowie dem Subsidiaritätsprinzip verpflichtet ist und einen weitgehend vergleichbaren Grundrechtsschutz bietet. Würde bei der Schaffung dieser Union oder durch Änderung ihrer vertraglichen Grundlagen das Grundgesetz in seinem Inhalt verändert oder ergänzt oder dies ermöglicht, sollten auf das Ratifizierungsverfahren die Art. 79 Abs. 2 und 3 GG Anwendung finden. Dieser Gedanke machte in der Kommission rasch Schule. Vor allem fand er auch bei Mitgliedern Anklang, die politisch der damaligen Opposition zuzurechnen waren, weil jene dadurch im europäischen Einigungsprozess praktisch eine Veto-Position erhielt. Das war die Geburtsstunde des Art. 23 Abs. 1 GG, der in der Folgezeit oft missverstanden worden ist und an dem sich insbesondere die Kritik von Vertretern des Europarechts entzündet hat, die von „überflüssig“ bis hin zu „abträglich“ reichte. Schon im Bericht der Kommission42 und danach in der Kommentierung des Art. 23 GG durch Scholz bei Maunz-Dürig43 wurde eindeutig klargestellt, dass diese Struktursicherungsklausel mit Europa eigentlich nur indirekt zu tun hat. Denn es handelt sich in Satz 1 der Sache nach um eine Staatszielbestimmung, die sich in erster Linie an die Bundesregierung richtet, in Satz 2 um eine Ermächtigung zur Übertragung von Hoheitsrechten, deren Inhaber der Gesamtstaat ist, und in Satz 3 um Verfahrensvorschriften, deren Adressat die gesetzgebenden Körperschaften sind. Was die Europarechtler offenbar als anstößig empfinden, ist die Tatsache, dass in dieser Norm ein gewisses Misstrauen gegenüber dem europäischen Einigungsprozess zum Ausdruck kommt, das angesichts des nach wie vor bestehenden Demokratiedefizits und Bürokratieüberschusses bei den Orga40

Vgl. BVerfGE 83, 37 ff. (Schleswig-Holstein); 83, 60 ff. (Hamburg). Scholz hat in der 3. Sitzung der Gemeinsamen Verfassungskommission am 12. März 1992 freundlicherweise auf dieses Gespräch hingewiesen (Materialien [Fn. 3], Bd. 1, S. 253). 42 Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission (Fn. 3), S. 40 f. 43 In: Maunz-Dürig, Grundgesetz (Kommentar), München (Stand 1996), Rdnr. 54 ff. zu Art. 23. 41

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nen der EU sowie der stockenden Ratifizierung des Verfassungsvertrages keineswegs völlig unbegründet erscheint. 3. In der Föderalismuskommission war hingegen Art. 23 Abs. 1 GG weitestgehend unbestritten. Umso intensiver beschäftigte man sich mit den Absätzen 2 bis 6, wo in Angelegenheiten der Europäischen Union die Mitwirkung der Länder geregelt ist. Die dortigen Vorschriften gehen ursprünglich auf informelle Absprachen zwischen Bund und Ländern zurück, die noch in die Zeit vor der Wiedervereinigung reichen. Die Gemeinsame Verfassungskommission hat dann nach intensiven Beratungen die jetzigen Regelungen geschaffen und damit die Kernelemente jener Vereinbarungen in den Rang von Verfassungsrecht erhoben. Die Länder waren damals zufrieden, während der Bund offenbar die negativen Auswirkungen auf die Repräsentanz Deutschlands in den Gremien der EU unterschätzt hat. Auf europäischer Ebene fällt besonders nachteilig ins Gewicht, dass die Interessen von Bund und Ländern nicht von permanenten Unterhändlern der Bundesrepublik Deutschland vertreten, mit einer Stimme vorgetragen und aus einem Guss durchgesetzt werden. Vielmehr wechseln nicht nur die Minister in den Fachräten; auch die Vertreter des Gesamtstaates werden ausgetauscht, sobald die Länder ihr Beteiligungsrecht nach Art. 23 Abs. 6 GG reklamieren und der Bundesrat einen Länderbevollmächtigten benennt. Dass ein solcher Wechsel in der Verhandlungsführung der mühsamen Kompromisssuche in Brüssel nicht gerade förderlich ist, versteht sich von selbst. Deshalb erhob sich immer drängender die Frage nach den selbst gestellten verfassungsrechtlichen „Fallen“ bei der Durchsetzung nationaler Interessen in Europa. Die einschlägigen Debatten in der Kommission über die Europatauglichkeit des Grundgesetzes kreisten überwiegend um das Problem, ob und inwieweit sich diese Formen und Verfahren des Zusammenwirkens von Bundestag, Bundesrat und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union bewährt haben. Während von Länderseite zumeist behauptet wurde, jene Regelungen seien bisher durchaus mit Erfolg praktiziert worden, sind aus der Sicht der Bundesregierung die darin liegenden Möglichkeiten von den Ländern bisher gar nicht hinreichend ausgeschöpft worden. Einig war man sich freilich darin, dass die Vertretung deutscher Interessen gegenüber den Organen der Europäischen Union in der Vergangenheit wenig befriedigend gewesen ist. Während die einen diesen ebenso reformbedürftigen wie verbesserungsfähigen Zustand in erster Linie auf eine mangelhafte horizontale Koordination im Bereich der Bundesregierung zurückführten, sahen andere die Ursachen eher bei den Ländern und deren ausufernden Mitwirkungsmöglichkeiten nach Art. 23 Abs. 2 bis 7 GG. Die Vorschläge in der Kommission reichten daher von einer ersatzlosen Streichung dieser Vorschriften

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über eine Reduzierung des Ländereinflusses bis hin zu ihrer vollständigen oder teilweisen Neufassung. Um den genannten Missständen abzuhelfen, entwarf Rupert Scholz eine ganze Reihe bemerkenswerter Konzepte, die durchaus geeignet gewesen wären, die allseits beklagten Mängel wenn nicht zu beheben, so doch zu entschärfen, und daher verdient hätten, näher in Betracht gezogen zu werden. So hätte etwa die Benachteiligung des unzureichend einbezogenen Bundestages gegenüber dem Bundesrat, die sich vor allem bei der innerstaatlichen Umsetzung von europäischen Recht negativ bemerkbar macht, durch die Bildung eines „Gemeinsamen Ausschusses für Angelegenheiten der Europäischen Union“ ausgeglichen werden können.44 In Art. 23 Abs. 5 GG solle der Begriff der „gesamtstaatlichen Verantwortung“ durch die Worte „aus zwingenden außen- und europarechtlichen Gründen“ ersetzt und Art. 23 Abs. 6 GG vollständig gestrichen werden, da diese Norm demnächst mit der europäischen Verfassung ohnehin obsolet werde, welche die Außenvertretung der Bundesrepublik Deutschland allein der Bundesregierung zuweise. Im Übrigen empfahl er, sich am österreichischen Modell zu orientieren, demzufolge bei Nichteinigung das Bundesvotum immer dann ausschlaggebend ist, wenn dafür zwingende außen- oder integrationspolitische Gründe sprechen. Bedauerlich ist, dass all diese Vorschläge von Scholz, dessen besondere Vorliebe schon immer dem europäischen Einigungsprozess galt,45 nicht aufgegriffen wurden. Die Positionen von Bund und Ländern waren letztlich so weit voneinander entfernt, dass es zu überhaupt keiner nennenswerten Änderung des Mitwirkungsverfahrens der Länder in europäischen Angelegenheiten gemäß Art. 23 Abs. 2 bis 7 GG kam. Damit steht die Reform des Grundgesetzes mit dem Ziel einer Verbesserung seiner Europatauglichkeit weiterhin aus.

44 Stellungnahme zur Thematik „Reform der bundesstaatlichen Ordnung und Europäische Union“ zur öffentlichen Sitzung über „Europa“ am 14. Mai 2004 (Föderalismuskommission, Kommissionsdrucksache 0040, S. 7 f.). 45 Vgl. aus seinen zahlreichen Schriften zu diesem Thema: Europäische Einigung und deutsche Frage, in: Föderalismus und europäische Gemeinschaften, 1990, S. 283–296; Europäische Union und deutscher Bundesstaat, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 12 (1993), S. 817–824; Grundgesetz und europäische Einigung – Zu den reformpolitischen Empfehlungen der Gemeinsamen Verfassungskommission, in: Neue Juristische Wochenschrift 45 (1992) S. 2593–2601; Europäische Union und Verfassungsreform, in: Neue Juristische Wochenschrift 46 (1993), S. 1690–1692; Die Verfassung der Europäischen Union – Entwurf einer Neufassung des Vertrages über die Europäische Union für den Verfassungskonvent der EU, Heidelberg 2002; Deutschland – In guter Verfassung?, Heidelberg 2004; Zur nationalen Handlungsfähigkeit in der Europäischen Union oder: Die notwendige Reform des Art. 23, in: Gaitanides, Charlotte u. a. (Hrsg.), Europa und seine Verfassung, 2005, S. 274–287.

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V. Nachrede Reformen der Binnengliederung eines Staates sind überall auf der Welt ein mühsames Geschäft. Denn es geht dabei stets um die Verteilung politischer Macht. Dies gilt zumal für föderative Systeme. In Bundesstaaten sind Erfolge auf diesem Gebiet selten und eher die Ausnahme als die Regel. Kanada ist vor mehr als einem Jahrzehnt mit dem sog. Charlottetown Accord gescheitert.46 In Australien bemüht man sich ebenfalls seit Dekaden um eine Reform der Finanzverfassung. Erst kürzlich hat auch der sog. Österreich-Konvent zwar noch einen Abschlußbericht zustande gebracht,47 dem aber bisher keine Taten gefolgt sind. Angesichts dieser internationalen Erfahrungen nehmen sich die Empfehlungen, welche die Gemeinsame Verfassungskommission und die Föderalismuskommission verabschiedet haben, bei aller unvermeidlichen Kritik doch recht ansehnlich, ja geradezu imposant aus, ganz zu schweigen von deren schwieriger, aber weitestgehend erfolgreicher Umsetzung durch die gesetzgebenden Körperschaften. Dennoch bleibt auch in Zukunft noch Vieles zu tun. Die unvollendete, jedoch dringend notwendige Verbesserung der Europatauglichkeit des Grundgesetzes steht nach wie vor auf der Tagesordnung. Vor allem aber müssen der jetzigen „Aufgabenreform“ (Föderalismusreform I) auch die dazugehörigen „Ausgabenreformen“ (Föderalismusreform II) folgen und die Finanzverfassung neu geordnet werden. Zu diesem Zweck haben Bundestag und Bundesrat am 15. Dezember 2006 eine weitere „Gemeinsame Kommission zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen“ eingesetzt, der wiederum 16 Ländervertreter, aber nur 12 Bundestagsabgeordnete und 4 Regierungsmitglieder angehören sollen.48 Offenbar gilt das berühmte, aus huge46 Vgl. den „Consensus Report on the Constitution“ vom 28. August 1992, der schließlich von einer Mehrheit der Provinzen abgelehnt wurde. 47 Der Österreich-Konvent hat vom 30. Juni 2003 bis zum 31. Januar 2005 über Vorschläge für eine grundlegende Staats- und Verfassungsreform beraten. Er wurde am 2. Mai 2003 durch ein Gründungskomitee eingerichtet, das die Aufgaben und die Zusammensetzung des Konvents festgelegt hat. Unter dem Vorsitz von Dr. Franz Fiedler hat der Österreich-Konvent einen umfassenden Bericht erstellt, der anlässlich seiner letzten Plenarsitzung am 28. Januar 2005 präsentiert wurde. Dazu Bußjäger, Peter, Klippen einer Föderalismusreform – Die Inszenierung Österreich-Konvent zwischen Innovationsresistenz und Neojosephinismus, in: Jahrbuch des Föderalismus 2005. Föderalismus, Subsidiarität und Regionen in Europa, Baden-Baden 2005, S. 403–426. 48 Vgl. BT-Drucksache 16/3885: Die Kommission soll „Vorschläge zur Modernisierung der Bund-Länder-Beziehungen mit dem Ziel“ erarbeiten, „diese den veränderten Rahmenbedingungen inner- und außerhalb Deutschlands insbesondere für Wachstums- und Beschäftigungspolitik anzupassen. Die Vorschläge sollen dazu führen, die Eigenverantwortung der Gebietskörperschaften und ihre aufgabenadäquate Finanzausstattung zu stärken“. Eine von den Ministerpräsidenten zusammengestellte

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nottischer Tradition stammende und ursprünglich auf die Kirche gemünzte Wort auch für Verfassungen: „Constitutio reformata, semper reformanda“. Bleibt nur zu wünschen, dass der Jubilar als Initiator und Innovator im konstitutionellen Modernisierungsprozess Deutschlands mit seinem Rat der Politik auch weiterhin so erfolgreich wie bisher zur Seite stehen möge.

„Offene Themenliste“ ist dem Einsetzungsantrag als Anlage beigefügt und soll die Grundlage der Arbeiten bilden.

„Politik als Beruf“ Von Rudolf Seiters I. Als Max Weber im Revolutionsjahr 1918/19 vor dem Münchner Freistudentischen Bund seine berühmte Rede „Politik als Beruf“ hielt, tat er es mehr, um den Revolutionär Kurt Eisner am Reden zu hindern, und weniger, um einen Fürstenspiegel für nachfolgende Politikergenerationen zu liefern, er tat es vor dem Hintergrund eines radikalen politischen Umbruchs und einer zunehmenden Gesinnungspolemik, und er tat es in dem schmerzhaften Bewusstsein einer fortschreitenden bürokratischen Rationalisierung, die seiner Einschätzung nach in einer „Entzauberung“ aller Lebensverhältnisse münden würde, womit für Max Weber das Ende des Idealtypus eines Politikers verbunden war, der als autonomes, moralisches Subjekt Werte schafft und Welt gestaltet. Wenn wir heute, im Abstand von fast einem Jahrhundert, auf Politik und Politiker reflektieren, dann tun wir es vor dem Hintergrund von 50 Jahren Grundgesetz, 50 Jahren Demokratie, 50 Jahren Wohlstand, 50 Jahren Frieden, 50 Jahren Freiheit und über 10 Jahren Deutsche Einheit, aber wir tun es auch mit Blick auf ganz neue Herausforderungen; ich nenne hier nur einige Stichworte: den Prozess der Einigung Europas, die ökonomischen und sozialen Folgen der Globalisierung, den wachsenden Organisationsgrad von Verbrechen und Terrorismus, die Bedrohungen durch Raubbau und Verschmutzung unserer natürlichen Ressourcen, die schwer abschätzbaren Risiken der modernen Bio- und Gentechnik, den beschleunigten Wandel aller Lebensverhältnisse durch eine fortschreitende Digitalisierung. Ich will nicht bestreiten, dass die Rahmenbedingungen heute andere sind als zur Zeit der Analyse von Max Weber, und ich will auch nicht bestreiten, dass uns die erhoffte Befreiung aus der Bürokratisierungsfalle der Politik durch eine charismatische Führung fremd ist, aber: Webers Kernforderungen an jene Eliten, die – wie er sagte – ihre „Hand in die Speichen des Rades der Geschichte legen“ dürfen, sind bis auf den heutigen Tag richtig und gültig, nämlich: Leidenschaft, Verantwortungsgefühl, Augenmaß! Danach muss damals wie heute ein Politiker leidenschaftlich und zugleich selbstkritisch bei der Sache sein, denn die Sache ist nicht er, sondern die

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res publica, und Politik wird, wie Max Weber richtig bemerkte, „mit dem Kopf gemacht, nicht mit anderen Teilen des Körpers oder der Seele“. Die latente Gefahr, wie Max Weber notierte, der ein Politiker ausgesetzt ist, „zum Schauspieler zu werden“, und sein ganzes Handeln nach dem erzielten „Eindruck“ auszurichten, diese Gefahr ist in unserer Zeit, in der die Medien, vor allem die Bildmedien, eine beherrschende Rolle eingenommen haben, zu einer ernst zu nehmenden Bedrohung für jede nachhaltige Politik geworden. Wenn in der modernen Berufsforschung heute immer wieder auf sogenannte Schlüsselqualifikationen hingewiesen wird, dann können wir für unser Thema hieraus die Erkenntnis gewinnen, dass eine Reflexion auf „Politik als Beruf“ immer zwei Seiten im Auge haben muss, nämlich Schlüssel und Schloss, also Politik und Politiker. Das möchte ich entlang von drei meiner Meinung nach zentralen politischen Fragen zur Diskussion stellen: 1. Was erwarten die Menschen heute von der Politik, und was kann die Politik leisten? 2. Was erwarten die Menschen heute von Politikern, und was können Politiker leisten? 3. Was geht allen Erwartungen und Leistungen voraus? II. Wer wollte ernsthaft leugnen, dass die Erwartungen an die Politik ganz wesentlich geprägt sind durch die Versprechungen, die Politiker geben. Solange Politik als „Kunst des Möglichen“ begriffen, praktiziert und vermittelt wurde, solange ließen sich Erwartungen und Leistungen – zumeist als „second best“ Lösungen – in einem relativ stabilen Gleichgewicht ausbalancieren. Es gehörte zur handwerklichen wie berufsethischen Professionalität eines Politikers, immer auch die Grenzen politischer Problemlösungskompetenz aufzuzeigen. Was sich aber als möglich und machbar erwies, das galt es auch möglich zu machen. Eine so verstandene Realpolitik hielt klugerweise Distanz gegenüber allen Versuchen ihrer Indienstnahme, sei es als Erfüllungsgehilfe von Utopien oder sei es als Ersatzmedium für eine verloren gegangene Glaubensheimat. Darum gehörte und gehört untrennbar zum Berufsethos eines Politikers Wahrhaftigkeit in der Analyse des Notwendigen und Ehrlichkeit in der Vermittlung des Machbaren. Aber zur handwerklichen Qualität des professionell Politischen gehört es weiter, das als richtig, notwendig und möglich erkannte auch umzusetzen, wenn nötig, auch gegen den Widerstand partieller Interessen. Wer den Konsens dieses Politikverständnisses – zumeist aus kurzfristigen opportunistischen Über-

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legungen heraus – aufkündigt, gerät auf eine Rutschbahn unbegrenzter Begehrlichkeiten, die spätestens dann, wenn sie über entsprechendes Wachstum nicht mehr zu finanzieren sind, in eine politisch schwer zu kontrollierende Talfahrt führt. Das dann zwingend notwendige Gegensteuern erfordert Kräfte und macht Gegenkräfte frei, die in der Größenordnung an die eines Herkules heranreichen, die seinerzeit nötig waren, um den Stall des Augias auszumisten. Die Politik hat sich im Zuge der Realisierung des politischen Versprechens eines expandierenden Wohlfahrts- und Sozialstaates allzu leichtgläubig immer neue Zuständigkeiten zuschreiben lassen und auch selbst zugeschrieben, mit der Folge einer wachsenden Verstaatlichung und eines wachsenden Apparates, der im Umkehrschluss in wachsendem Maße heute selbst Einfluss auf die Politik nimmt. Die Politik permanenter Forderungen mündete in eine Politik der nicht zuletzt selbstverschuldeten Selbstüberforderung. Der Konstanzer Verwaltungsrechtler Thomas Ellwein hat schon vor Jahren zu Recht darauf hingewiesen, dass im politischen Diskurs mit anspruchserhebenden Gruppen nicht die Ansprüche reflektiert würden, sondern, wenn denn die Mittel nicht aufzubringen seien, lediglich bedauernd festgestellt werde, nur „die Umstände ließen eine Befriedigung der Ansprüche nicht zu.“ Es wird nach dieser Fehlentwicklung von Erwartungen und Leistungen von Staat und Politik nicht leicht fallen, politisch klarzumachen, dass Staat und Politik keine Wunschbefriedigungsmaschinen sind, aber es macht gerade die Professionalität eines Politikers aus, in Verantwortung auch gegenüber der Zukunftsfähigkeit von Staat und Politik, mit Leidenschaft und Augenmaß den Bürgern reinen Wein einzuschenken, Klartext zu reden, also zu sagen, was Politik soll und kann und was nicht, was notwendig und machbar ist und was nicht, also eine ehrliche und verlässliche Perspektive zu bieten. Und ich füge hinzu, diese Politik muss in Berlin und nicht in Karlsruhe gemacht werden! Bescheidenheit und Begrenzung der Politik sind aber noch aus ganz anderen Gründen an der Zeit: Heute stehen wir vor der Bewältigung eines weiteren schmerzhaften Prozesses, einer von externen Prozessen aufgezwungenen neuen Rollenverteilung zwischen den tragenden Subsystemen unserer Gesellschaft – zwischen Ökonomie und Politik, zwischen Nationalstaat und Supranationalen Institutionen, zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen. Politik und Staat heute werden von außen wie von innen gezwungen, sich auf die eigentlichen Kernaufgaben zu konzentrieren. Darin liegt aber eine doppelte Chance, zum einen, sich von Staatsballast zu befreien, also die Staatsquote zu senken, zum anderen den gut begründeten Forderungen der Bürgergesellschaft nach Mitgestaltung und Eigenverantwortung in einer neu zu entwickelnden Partnerschaft gerecht zu werden.

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Ein anderer Aspekt der Erwartungen an und Leistungen von Politik betrifft die Verwischung der Grenzen von Inhalt und Form. Hier hat die Medien- und Spaßgesellschaft tiefe Spuren hinterlassen. Das öffentliche Ringen um die besseren Argumente verkommt immer öfter zu einem personalisierten Showkampf um den ersten Preis der moralischen Entrüstung. Die Kunst der Inszenierung von Politik überflügelt die Kunst der Politik selbst, und mediale Kompetenzen der Selbstinszenierung werden immer wichtiger, wie die Auswertung der Kanzlerduelle einmal mehr gezeigt hat. Eine Gefahr rein symbolischer Politik liegt darin, dass der Kredit öffentlichen Interesses an Politik für kurzhubige persönliche Erfolge verspielt wird. Am Ende dieser mehr auf „Schein“ ausgerichteten Politik steht eine „Kulissendemokratie“ und es droht ein radikaler Vertrauensverlust. Das aber kann ernsthaft von niemandem gewollt sein. Hier gegenzusteuern ist auch ein gutes Stück politischer Bildungsarbeit. III. Ich komme zu meiner zweiten Frage, der Frage nach denen, die Politik denken und gestalten. An der ideengeschichtlichen Wiege unserer Demokratie stand der Gedanke Pate, an der Gestaltung des Zusammenlebens der Menschen sollten alle mitwirken können, ja alle mitwirken müssen – also keinesfalls eine exklusive Veranstaltung für Expertokraten oder Technokraten. Nun wird niemand in Kenntnis unseres hoch differenzierten und komplexen Gemeinwesens ernsthaft die Notwendigkeit von Professionalität in der Wahrnehmung von politischer Verantwortung bestreiten wollen, streitig ist freilich die Frage, was unter Professionalität zu verstehen ist. Zum einen gehört hierher sicherlich die Einsicht, dass in einer von Wissen und Technik bestimmten und zunehmend komplexer werdenden Gesellschaft Fachwissen für das effiziente Funktionieren unserer Demokratie unverzichtbar ist. Zum anderen gehören hier Erfahrungen in und mit Organisationen des Staatsaufbaus und des organisierten Interesses und deren Kommunikationskultur, die dem politischen Gestaltungswillen erst den Weg frei machen zu einem tragfähigen, das meint mehrheitsfähigen Konsens und damit zum Erfolg – dies verbunden mit dem notwendigen Maß an Routine und Kontinuität von Politik. Zum dritten haben wir zu Recht ein Parteienprimat – so wie das Bundesverfassungsgericht vom „Parteienstaat“ gesprochen hat, wo vorrangig Parteien zu politischen Willensbildungen beitragen. Aber dieses Parteienprimat muss und sollte offen sein für Quereinsteiger, damit wir – stärker als bisher eine gesunde, will heißen repräsentative, Mischung verschiedener Qualifikationen und Biographien von Politikern in den Stadträten und Parlamenten haben. Wenn wir aber mehr Repräsentativität haben wollen, dann müssen wir die rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen

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verändern und verbessern, die den Wechsel in die „Politik als Beruf“ möglich und attraktiv machen. Der jetzige Zustand, dass die tragenden Säulen von Wirtschaft und Gesellschaft, der Mittelstand und die freien Berufe, im Parlament nur unzureichend vertreten sind, kann von niemanden gewünscht und gewollt sein- doch wohl auch nicht von den Medien, die sich oftmals nur oberflächlich mit den Rahmenbedingungen der politischen Arbeit oder auch mit der Höhe der Diäten beschäftigen. Umgekehrt müssen sich aber auch die externen Eliten fragen lassen, wie sie es mit ihrem Engagement und ihrer Berufsethik halten: Wenn ein ehemaliger Vorstandsvorsitzender einer berühmten deutschen Automarke erklärte, er sei gerne bereit, Regierender Bürgermeister zu werden, aber nicht bereit, Wahlkampf zu machen, dann ist ein solches Demokratieverständnis ein im wörtlichen und übertragenen Sinne wenig Hoffnung gebendes Versprechen. Dazu fällt mir ein Satz meines geschätzten Kollegen Professor Rupert Scholz ein, der in einem Aufsatz über „Berufspolitiker oder Politik als Beruf?“ die „Wiederbesinnung auf die Notwendigkeit eines Politikverständnisses“ gefordert hat, das sich nicht in organisationspolitischer, innerparteilicher Professionalität erschöpfe, sondern Politik wieder und definitiv als Beruf im Sinne von Berufung begreife. Und hier würde ich jedem jungen Menschen, der Politik zum Beruf machen möchte, raten, der Berufung folgen ja, aber „Politik als Beruf“ zu planen nein. Ich selbst bin wie viele andere am Ende zu einem Berufspolitiker geworden, aber als ich meine politische Laufbahn begonnen habe, habe ich im Traum nicht daran gedacht, dies als Lebensstellung zu sehen. Das hat sich im Laufe der Zeit erst viel später und aus den Umständen so ergeben, war aber zu keinem Zeitpunkt das Resultat einer rationalen Kalkulation. Aber, wenn es um die Besetzung von Positionen mit professionell wahrgenommener politischer Verantwortung geht, müssen sich nicht nur die Parteien in Richtung auf mehr Pluralität und mehr Wettbewerb der Besten öffnen, auch der Prozess der politischen Willensbildung insgesamt muss mehr Wettbewerb zulassen. Das heißt, der politische Raum außerhalb von Parteien, was wir heute gerne Bürgergesellschaft nennen, muss gefördert und in die Entscheidungsfindung einbezogen werden. Nach Artikel 21 Absatz 1 GG haben die Parteien kein Monopol auf die politische Willensbildung – sie sind „nur“ – und das ist keine kleine Aufgabe – Mitwirkende. Hierzu gehört auch, sich als ein Kommunikationsforum anzubieten für den Dialog aller Mitspieler. Nun darf der Gedanke der Bürgergesellschaft sicherlich nicht überdehnt und nicht überfordert werden, denn unbestritten ist auch, dass hochkomplexe Gesellschaften Organisationsformen der Koordinierung und Focussierung von pluralistischen Interessen brauchen. Gerade aber mit Blick auf den Prozess der Europäisierung und Globalisierung wird es darauf ankommen, dass die kleinen föderalen Einheiten in einer neuen Aufgaben-

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verteilung Verantwortung übernehmen und Identität bewahren. Vieles von der erschreckend weit verbreiteten Ahnungslosigkeit über die wirkliche Beschaffenheit unseres politischen Systems, wie es der renommierte Parteienforscher Werner Patzelt unlängst herausgefunden hat, ließe sich gerade durch eine Stärkung der Bürgergesellschaft und des Föderalismus abbauen. Das kann, muss aber nicht immer plebiszitäre Elemente beinhalten. Die meisten Bundesländer haben heute plebiszitäre Elemente und sie haben durchweg gute Erfahrungen damit gemacht. Im Umkehrschluss muss dies für die Entscheidung auf Bundesebene nicht richtig sein. Für die „Politik als Beruf“ bedeutet dieser Gedanke aber auf jeden Fall ein Stück weit Entberuflichung und zugleich die neue Kompetenz, professionell mit dem Nichtprofessionellen umzugehen. IV. Der angedeutete Wandel der Erwartungen an Politik und Politiker und an das, was sie leisten können und sollen, hat in jüngster Vergangenheit einige pessimistische Stimmen dazu bewegt, vom Ende der Politik zu sprechen. Der Münchner Althistoriker Christian Meier hat entsprechend in seinen gerade veröffentlichten „Betrachtungen zur Lage der Geschichte“ darauf hingewiesen, dass in einer grenzenlos werdenden Welt gegenseitiger Abhängigkeiten das politische Handeln an historischem Gewicht abnehme und damit die Gefahr drohe, dass, „wo man die Gesellschaft nicht mehr verändern könne, es nun mit den Menschen versuche!“ Ich halte dagegen, und das gilt im besonderen Maße für die wild wuchernden Utopien in Verbindung mit der Gen- und Biotechnologie: Wer sonst als der homo politicus selbst entscheidet darüber, was er aus sich macht, aus sich machen lässt – jedenfalls dann, wenn er über den Tag hinaus denkt, den eingangs erwähnten inneren Dialog führt, und vor allem auf den Wertekompass schaut. Für einen christdemokratischen Politiker heißt das, sich auf das christliche Menschenbild zu besinnen. Daraus lassen sich für die „Politik als Beruf“ zwei handlungsleitende Einsichten ableiten: Zum einen gehört es zum Kern christlichen Glaubens, dass der Mensch unvollkommen ist und sich vor der Hybris menschlicher Allmacht hüten soll. Es kann darum auch in der Politik nicht um letzte Ziele gehen. Zum anderen gehört es ganz wesentlich zum personalen Selbstbild, dass der Mensch in moralischer Freiheit und Verantwortung entscheiden kann und muss. Erst mit dem Ende dieser Freiheit wäre das wahre „Ende der Geschichte“, das reale „Ende der Politik“ erreicht. Wer also Politik zum Beruf macht, der steht in der großen Verantwortung, diese Freiheit der Selbstbestimmung zu bewahren. Sich hierüber immer wieder neu Rechenschaft abzulegen, das wäre dann der zur politischen vita activa komplementäre Part der politischen vita contemplativa.

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Wann was zu tun ist, dafür gibt es keinen vorgedruckten Terminkalender. Wir kennen alle die biblische Weisheit, alles hat seine Zeit – nicht anders ist es in der Politik: Zeit zum Reden, Zeit zum Handeln, Zeit zum Denken. Für mich persönlich war die geglückte Deutsche Einheit eine der ganz großen Erfahrungen, verbunden mit der politischen Lehre, dass es darauf ankommt, zum richtigen Zeitpunkt nicht nur das Richtige zu erkennen, sondern das Richtige auch gegen den Widerstand durchzusetzen. Zur politischen vita activa gehört es, eine sich bietende historische Chance zu ergreifen. Das Zeitfenster der Wiedervereinigung war damals sehr eng. Viele haben damals gesagt, und einige sagen noch heute: Das sei alles viel zu schnell gegangen. Wer dies sagt, vergisst, dass die Menschen der DDR die Einheit schnell wollten, er vergisst, dass der Übersiedlerstrom der die DDR ausblutete, mit der Ausreisefreiheit für die Flüchtlinge in den Botschaften nicht aufhörte, nicht aufhörte mit dem Fall der Mauer und nicht mit der Öffnung des Brandenburger Tores, sondern erst, als mit dem Angebot der DM und dem der Wirtschafts- und Währungsunion die Menschen die konkrete und schnelle Perspektive der deutschen Einheit erkannten. Den Mantel der Geschichte zu ergreifen, ist also nicht nur eine Frage dessen, was die Griechen „kairos“ nannten, sondern unabdingbar auch eine Frage der Entschlossenheit.

II. Europäisches Gemeinschaftsrecht und Rechtsvergleichung

Die Europäische Union als Wertegemeinschaft: aktuelle Herausforderungen Von Matthias Herdegen Im breiten Wirkungsspektrum von Rupert Scholz nimmt das Verhältnis zwischen dem europäischen Integrationsprozess und in den nationalen Verfassungsordnungen wurzelnden Grundwerten besonderen Stellenwert ein.1 Sichtbar wird dabei die Sorge um eine reflektierte, auch vom Bedacht auf verfassungsrechtliche Substanz getragene Steuerung der europäischen Rechtsentwicklung.2 Die vielbeschworene (im Kern entwicklungsgeschichtlich und normativ gut begründete) Formel von der europäischen „Wertegemeinschaft“ liefert aus der Scholzschen Perspektive nicht einfach eine beliebig einsetzbare Legitimation für eine beständige Verlagerung und ausgreifende Ausübung von Kompetenzen auf und durch die Europäische Union (die Europäischen Gemeinschaften); vielmehr erscheint jenseits abstrakter Legitimationsschablonen der auch konkret zu fordernde Gleichklang in Leitbildern des selbstverantwortlichen Individuums und rechtlich verfasster Gemeinschaft als Bedingung für eine sinnvolle Harmonisierung und zwischenstaatliche Kooperation im europäischen Rechtsraum.3 Daraus erge1 Siehe nur Scholz, R., Nationale und europäische Grundrechte – Zum Verhältnis von Grundgesetz und Europäischer Grundrechtscharta, in: Festschrift für Andreas Heldrich (2005), S. 1311 ff.; ders., Zur nationalen Handlungsfähigkeit in der Europäischen Union. Oder: Die notwendige Reform des Art. 23 GG, in: Festschrift für Manfred Zuleeg (2005), S. 274 f.; ders., Das institutionelle System im Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa, in: Schwarze, J. (Hrsg), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Verfassungskonventes (2004), S. 101 ff.; ders., Der Verfassungsstaat im Wandel: Europäisierung der Verfassung im Prozeß der Verfassung Europas, dargestellt am Beispiel des Grundgesetzes, in: Battis, U./Kunig, P./Pernice, I./Randelzhofer, A. (Hrsg.), Das Grundgesetz im Prozeß europäischer und globaler Verfassungsentwicklung (2000), S. 21 ff.; ders., Europäische Union und Verfassungsreform, NJW 1993, S. 1690 ff.; ders., Der europäische Rechtsstaat, in: Festschrift für Ernst Steindorff (1990), S. 1413 ff. 2 Scholz, R., Europäisches Gemeinschaftsrecht und innerstaatlicher Verfassungsschutz, in: Friauf, K. H./Scholz, R., Europarecht und Grundgesetz (1990), S. 53 ff. 3 Scholz, R., in: Maunz, T./Dürig, G., Kommentar zum Grundgesetz (Stand: August 2005), Art. 23 Rn. 54 ff. Speziell zum Wertetopos Scholz, R., Deutschland in guter Werte-Verfassung, in: Fikentscher, W. u. a., Wertewandel – Rechtswandel. Perspektiven auf die gefährdeten Voraussetzungen unserer Demokratie (1997), S. 51 ff.

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ben sich Forderungen nicht nur an die Organe des Europäischen Unionssystems, sondern auch an deutsche Verfassungsorgane bei der Mitwirkung an europäischer Rechtsetzung.4 Das Anliegen einer nachhaltigen Sicherung des mit der europäischen Wertegemeinschaft verbundenen Anspruches ist aktueller denn je. Der Konsens über bestimmte Grundwerte und Leitprinzipien erreicht nicht nur in der weiteren Staatengemeinschaft des Europarats, sondern auch im engeren Staatenverbund der Europäischen Union oft nur eine hohe Abstraktionsebene. Die Diskussion um die Gemeinschaftsförderung der Stammzellforschung5 oder im Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention um den Schutz des menschlichen Embryos6 oder den Schutz der Privatsphäre gegenüber medialer Neugier7 belegen, wie leicht der Konsens im Abstrakten dann im Widerstreit konkreter Interessen zerbricht. Beim Rahmenschluss über den Europäischen Haftbefehl8 hat das Bekenntnis zum abstrakten Grundwert zwischenstaatlicher Verbrechensbekämpfung 25 Innen- und Justizminister in kollektiver Kooperationsseligkeit die sehr konkreten Wertdivergenzen im materiellen Strafrecht, im Strafprozess und im Strafvollzug – und einige auch die Wertentscheidungen der eigenen Verfassung – schlicht vergessen lassen.9 Daneben droht eine weitere Gefahr: Der in einer bestimmten politischen Konstellation bestehende, ephemere Wertegleichklang als Basis einer qualifizierten Mehrheit oder gar Einstimmigkeit im europäischen Konzert droht mit seiner normativen Fixierung das Recht der Europäischen Union zu versteinern und spätere Korrekturen sowohl im europäischen als auch im nationalen Kontext auf längere Sicht zu vereiteln. Die Komplexität des europäischen Gesetzgebungsverfahrens stabilisiert den einmal gefundenen Konsens selbst gegen massive Änderungstendenzen in einem gewandelten politischen Umfeld. Im Ergebnis ist Gemeinschaftsrecht bei politisch hochumstrittenen Regelungskomplexen oft änderungsresistenter als manches Verfassungsrecht. Die Antidiskriminierungsrichtlinien der Europäischen Ge4 Friauf, K. H., Die Bindung deutscher Verfassungsorgane an das Grundgesetz bei Mitwirkung an europäischen Organakten, in: Friauf/Scholz (Fn. 2), S. 11 ff.; siehe auch Herdegen, M., Grundrechtsschutz bei der Mitwirkung an EG-Rechtsakten, in Festschrift G. Ress (2005), S. 1175 ff. 5 Siehe Starck, C., Ist die finanzielle Förderung der Forschung an embryonalen Stammzellen durch die Europäische Gemeinschaft rechtlich zulässig?, EuR 2006, S. 1 ff. 6 EGMR, Vo ./. Frankreich, NJW 2005, S. 727; EGMR, Evans ./. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 7.3.2006, abrufbar unter: www.echr.coe.int. 7 EGMR, von Hannover ./. Deutschland, NJW 2004, S. 2647. 8 ABl. 2002 L 190, S. 1 ff. 9 Vgl. BVerfGE 113, 273.

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meinschaft10 schnüren Privatautonomie und Vertragsfreiheit auf Dauer in ein Korsett, aus dem sie selbst eine Mehrheit von Mitgliedstaaten bei neuer Einsicht nicht mehr leicht befreien kann. Schließlich erreicht die Diskussion um eine Neudefinition der Aufgaben öffentlicher Gemeinwesen – Wilhelm von Humboldt hätte von den „Grenzen der Wirksamkeit des Staates“11 gesprochen – notwendig auch die Wirksamkeit der Europäischen Institutionen. Zu dieser Problematik gehören die Ruhigstellung politischer Begehrlichkeiten durch überbordende Regulierung und die beharrliche Alimentierung des Agrarsektors. I. Die Europäische Union als Wertegemeinschaft 1. Vertragliche Grundlagen Die Europäischen Verträge haben von Anfang an deutlich gemacht, dass die Schaffung gemeinsamer Märkte und die wirtschaftliche Integration nicht Selbstzweck oder Endziel der Europäischen Integration sind. Vielmehr haben die Gründer und Entwickler des verfassten Europas sich immer als im Dienst einer Wertegemeinschaft stehend verstanden. Der Vertrag über die Montanunion gründet diese Gemeinschaft nicht auf bloße Werthülsen, sondern auf die Überwindung einer konkreten historischen Last. Seine Präambel betont die Entschlossenheit, „. . . an die Stelle der jahrhundertealten Rivalitäten einen Zusammenschluss ihrer wesentlichen Interessen zu setzen, durch die Errichtung einer wirtschaftlichen Gemeinschaft den ersten Grundstein für eine weitere und vertiefte Gemeinschaft unter Völkern zu legen, die lange Zeit durch blutige Auseinandersetzungen entzweit waren, und die institutionellen Grundlagen zu schaffen, die einem nunmehr allen gemeinsamen Schicksal die Richtung weisen können . . .“ 10 Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, ABl. 2000 L 180, S. 22 ff.; Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl. 2000 L 303, S. 16 ff.; Richtlinie 2002/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2002 zur Änderung der Richtlinie 76/207/EWG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen, ABl. 2002 L 269, S. 15 ff.; Richtlinie 2004/113/EG des Rates vom 13. Dezember 2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, ABl. 2004 L 373, S. 37 ff. 11 von Humboldt, W., Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1791).

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Die Europäische Union begreift sich seit dem Vertrag von Maastricht als Verbund, der auf bestimmten Grundwerten beruht: der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit (Art. 6 Abs. 1 EU). Auch die Achtung der nationalen Identität ihrer Mitglieder (Art. 6 Abs. 3 EU) und damit einer gewissen Diversität ist eine wichtige Komponente dieser Wertegemeinschaft. In aller Deutlichkeit definiert der Europäische Verfassungsvertrag die Europäische Union geradezu über bestimmte Grundwerte nämlich die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte (Art. I-2). In der engen Wechselbeziehung der Achtung von Grundrechten, Rechtsstaatlichkeit und demokratischen Standards auf europäischer und nationaler Ebene findet die europäische Wertegemeinschaft ihre sichtbare Verwirklichung. Dies verlangt von beiden Seiten, von den EU-Organen wie von den Mitgliedstaaten ein beachtliches Maß an wechselseitiger Sensibilität. Dies gilt vor allem bei Prinzipien, die für das Selbstverständnis des jeweiligen Verbandes von tragender Bedeutung sind. Anlass zur Sorge gibt jüngst das massive Vorgehen der Europäischen Kommission gegen eine gesetzliche Steuerung der Marktregulierung im Telekommunikationssektor zugunsten eines weitgehend gesetzesfreien Agierens der nationalen Regulierungsbehörden.12 Hier sollen bei erheblichen Grundrechtseingriffen Vorrang und Vorbehalt des parlamentarischen Gesetzes offenbar einer Art Verwaltungsvorbehalt geopfert werden. Nur unter der Bedingung hinreichender Homogenität in den Grundwerten lassen sich in der Europäischen Union Mehrheitsentscheidungen verwirklichen, wie wir sie heute ganz überwiegend in den Europäischen Gemeinschaften haben. Wo der Konsens in Grundfragen fehlt, muss Einstimmigkeit regieren. Sonst würde die Legitimationskraft europäischer Entscheidungen überfordert. So ist bis heute die Einstimmigkeit im Grundsatz die Maxime in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (Art. 23 Abs. 1 EU). Das mag man als Hemmnis einheitlichen Agierens nach außen beklagen. Aber die Mehrheitsentscheidung stellt die gemeinsame Perspektive nicht her, sondern setzt sie voraus. Das ist auch eine der Lehren aus dem IrakKonflikt. Glücklicherweise sehen wir inzwischen, dass die Kluft zwischen dem „alten“ und dem „neuen“ Europa nicht zu einer dauerhaften Trennungslinie geworden ist. Das Mehrheitsprinzip wäre jedenfalls in der Außen- und Sicherheitspolitik ungeeignet, qualitative Unterschiede in der Position zu überbrücken, die einzelne EU-Mitgliedstaaten in der Weltgemeinschaft haben. Nur Frankreich und das Vereinigte Königreich sind ständige 12 Hierzu etwa Herdegen, M., Die Freistellung neuer Telekommunikationsmärkte von Regulierungseingriffen, MMR 2006, S. 580 ff.

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Mitglieder des UN-Sicherheitsrats, und nur sie sind Atommächte. Heterogenität im Status nährt durch das ungleiche Interesse am Konsens oft auch Heterogenität in der Sache. Man muss die Regel der Einstimmigkeit auch in anderen Bereichen nicht immer als Webfehler in der europäischen Konstruktion sehen. Der Zwang zum Konsens mag sich als Hemmnis für Integrationsfortschritte erweisen, aber auch vor übereilter Harmonisierung schützen und Raum für einen Wettbewerb unterschiedlicher Systeme lassen. Eine weitreichende Steuerharmonisierung in Europa etwa könnte eine dauerhafte Abgabenlast bescheren, in der sich sehr viele wieder den Systemwettbewerb auch innerhalb der Europäischen Union zurückwünschen.

2. Erneuerung des Bewusstseins für die Europäische Wertegemeinschaft Die vertraglichen Grundwerte verankern die Europäische Union als stabile Friedensordnung in Europa. Aber das zumindest aus dem Erleben der Elterngeneration gespeiste Erinnerungsband zum Krieg und staatlichem Terror endet etwa bei der Generation der in der Adenauer-Zeit Geborenen. Dies führt zu einem ernüchternden Befund: Die befriedende Leistung, welche auch die Generation der „Adenauer-Enkel“ immer wieder beschworen hat und beschwört, genügt heute nicht mehr den jüngeren Generationen für eine emotionale Bindung an Europa. Daraus ergibt sich die schwierige Aufgabe, Europa auch als Wertegemeinschaft wieder neu begreifbar zu machen. Dies ist auch eine der Botschaften, die von ablehnenden Referenden zum Verfassungsvertrag in Frankreich und den Niederlanden ausgeht.

II. Aspekte der Europäischen Wertegemeinschaft Für eine verstärkte Verankerung der Europäischen Wertegemeinschaft im Bewusstsein der „Völker Europas“ (Art. 1 Abs. 2 EU) erscheinen fünf Aspekte wesentlich: a) Eine bewusstseinsmäßige Erneuerung liegt sicher darin, dass die Leistung einer auf Rechtsstaatlichkeit, Menschenwürde und Demokratie gegründeten Europäischen Gemeinschaft im Blick nach innen und außen immer wieder erlebbar wird. Im Umfeld der Europäischen Union und noch im Rahmen des Europarats und der Europäischen Menschenrechtskonvention arbeitet jetzt der Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte die erschre-

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ckende Fülle von Menschenrechtsverletzungen im Tschetschenien-Konflikt auf.13 Auch sonst zeigt uns der Blick über die Grenzen, dass die Völker unter dem Dach der Europäischen Union mit der Sicherung der bürgerlichen Freiheitsrechte immer noch auf einer Insel der Seligen leben. b) Die Anerkennung europäischer Grundwerte bedarf der Ergänzung durch die klare Formulierung eigener nationaler Interessen, die sich nicht stets hinter hehren Idealen der europäischen Integration verstecken muss. Die Demokratie lebt in den Mitgliedstaaten und in der Europäischen Union davon, dass die von Mehrheitswillen getragenen Interessen auch selbstbewusst artikuliert und dann auf europäischer Ebene zum Ausgleich gebracht werden. Nur so lässt sich auf Dauer Legitimität und Akzeptanz europäischer Entscheidungen sichern. c) Das Selbstverständnis der Europäischen Union als Friedensmacht bedarf ihrer glaubwürdigen Betätigung nach außen. Dies gilt nicht nur für die sehr selektiv, zuweilen symbolgetrieben anmutende Leistung bescheidener Beiträge zum Schutz von Leib und Leben oder zur Förderung demokratischer Mechanismen in Afrika und in anderen fernen Regionen. Das viel zu spät korrigierte Versagen beim Zerfall des früheren Jugoslawien sollte eine dauerhafte Mahnung sein. Der Verfassungsvertrag würde in solchen Zusammenhängen wohl eine bessere Handlungsfähigkeit der Europäischen Union nach außen sichern, ohne den politischen Konsens für entschlossenes Handeln zu garantieren. d) Die Europäische Union ist Teil der nordatlantischen Wertegemeinschaft. Das Bekenntnis zu Rechtsstaat, Demokratie und einem offenen Wettstreit politischer Ideen verbindet die Union dauerhaft mit den Vereinigten Staaten und den anderen Staaten des amerikanischen Kontinents, die diese Grundwerte mit ihr teilen. e) Schließlich lohnt es sich, immer wieder um die Einsicht zu ringen, dass nicht nur abstrakte Grundsätze wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit die Europäische Union als Wertegemeinschaft prägen. Bürgerliche Freiheit verwirklicht sich auch in einer wettbewerbsoffenen, zugleich bestimmten sozialen Standards verpflichteten, Marktwirtschaft (Art. 2, 3 lit. k EG). Die bürgerliche Freiheit lebt weiterhin von einem hohen Maß an Privatautonomie und vertraglicher Gestaltungsfreiheit ohne ständige Gängelung im Dienste irgendeines Gutmenschentums. Das Bemühen um gesunde öffentliche Finanzen und eine anhaltende Rückführung des Haushaltsdefizits (Art. 4 Abs. 3, 104 Abs. 1 EG) sichern den materiellen Freiraum kommender Generationen. Nur bei einem solchen Verständnis wird die Wertegemeinschaft jenseits abstrakter Proklamationen auch erlebbar. 13

Siehe etwa EGMR, Isayeva ./. Russland, EuGRZ 2006, S. 41.

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III. Christliches Menschenbild in der Europäischen Union Im Europäischen Verfassungskonvent hätte die Chance bestanden, ein christliches Menschenbild als Basis der geistesgeschichtlichen Grundlagen der Europäischen Union – auch im Hinblick auf Toleranz und Pluralismus – deutlich zu machen.14 Dabei ginge es gar nicht um eine Beschwörung der Verantwortung vor Gott, wie sie das deutsche Grundgesetz in seiner Präambel enthält, sondern nur um die Anerkennung des prägenden Einflusses christlichen Gedankenguts. Am Ende hat der Verfassungskonvent in der Präambel das Wort „christlich“ geradezu peinlich vermieden. Dass selbst diese bescheidene Anerkennung in einer weltanschaulich neutralen Form nicht zu erreichen war, droht als Ausdruck einer beachtlichen Unsicherheit über die geistigen Grundlagen unserer Wertegemeinschaft gedeutet zu werden. Diese Unsicherheit droht zuweilen in eine gewisse Ängstlichkeit abzugleiten, die eine schlechte Basis für eine verlässliche Abgrenzung zwischen Toleranz und dem festen Beharren auf unverzichtbare Wertmaßstäbe liefert. Wichtiger ist freilich, dass die Substanz des christlichen Menschenbildes durchaus Eingang in die vertraglichen Grundwerte gefunden hat. IV. EU-Erweiterung Der entscheidende Test über die Substanz der Europäischen Wertegemeinschaft liegt in der Aufnahme der Türkei. Man muss nicht gleich mit dem früheren französischen Präsidenten Giscard d’Estaing in einem Beitritt der Türkei das Ende der Europäischen Union in ihrer jetzigen Form sehen. Aber bloße geo-strategische Erwägungen wie sie uns vor allem aus Washington nahegelegt werden, und nebulöse Formeln über eine Brückenfunktion zwischen Europa und der islamischen Welt tragen sicher keine Erweiterung bis an die Grenzen mit Irak und Syrien, die der Europäischen Union in jedem Sinne, auch als Wertegemeinschaft, eine völlig neue Qualität geben wird. Dass jeder Beitrittskandidat menschenrechtliche und rechtsstaatliche Mindeststandards erfüllt, kann nur eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung sein. Unverzichtbar ist etwa die Anschlussfähigkeit an einen gesamteuropäischen Raum des politischen Diskurses mit politischen Bewegungen, die auch als Teil einer gesamteuropäischen Gruppierung denkbar sind. Die Europäische Union hat der Türkei eine sehr konkrete Beitrittsperspektive gegeben, ohne sich über das mittelfristige Ziel der Europäischen 14 Scholz, R., Eine Verfassung für Europa – Zum Verfassungskonvent der Europäischen Union, 5. Juni 2003, abrufbar unter: http://www.kas.de/proj/home/pub/ 30/1/year-2003/dokument_id-2051/index_print.html.

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Integration, das gebotene Maß innerer Homogenität und die Grenzen ihrer Ausdehnung nach Asien zu vergewissern. Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten haben dabei in der Türkei und im türkischen Volk Erwartungen geweckt, die in den einzelnen Mitgliedstaaten eine außerordentliche schmale Legitimationsbasis haben. Umso wichtiger sind die staatsrechtlichen Bedingungen für eine Zustimmung Deutschlands und anderer Mitgliedstaaten zu den vertraglichen Grundlagen des Beitritts. Unter dem Grundgesetz bedarf jede Erweiterung der Europäischen Union in Deutschland der Zustimmung mit den verfassungsändernden Mehrheiten.15 Denn jeder Beitritt verändert die Gewichtsverteilung in den Organen der Europäischen Union (und der Europäischen Gemeinschaften) und ändert damit die Qualität der deutschen Mitwirkung an der Rechtsetzung in einer Weise, die der Übertragung von Hoheitsrechten im Sinne von Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG gleichkommt. Ein Beitritt verlangt daher die gesetzesförmige Zustimmung mit verfassungsändernder Mehrheit. Dies sichert jedenfalls am Ende des Verhandlungsprozesses eine hinreichend breite Akzeptanz eines Beitritts in der Bundesrepublik Deutschland. V. Elastizität der europäischen Grundwerte In einer als Staatenverbund mit Achtung der nationalen Identität verfassten Europäischen Union kann sich die Europäische Wertegemeinschaft nur mit einer gewissen Elastizität im Hinblick auf die Deutung und Umsetzung bestimmter Grundwerte verwirklichen. Dies setzt voraus, dass nicht alle Leitvorstellungen eines Mitgliedstaates für ganz Europa verbindlich gemacht werden können. Umgekehrt lässt das Recht der Europäischen Union Raum für staatsrechtliches Eigenleben. Ein Beispiel liefert das Verbot der Aufstellung eines Laserdroms mit Tötungsspielen, das deutsche Behörden und Gerichte mit einem Verstoß gegen die Menschenwürde verboten haben; der Europäische Gerichtshof hat dies nicht als gemeineuropäischen Standard, sondern nur als Ausübung eines nationalen Regelungsspielraums gebilligt.16 Wesentlich heikler ist die geplante Förderung embryonenverbrauchender Stammzellenforschung nach dem Siebten Forschungsrahmenprogramm der Europäischen Gemeinschaft, wenn man hierin einen Verstoß gegen die Menschenwürde sieht.17 Dies mag in Deutschland Anlass sein, über die Menschenwürde in weiteren europäischen Zusammenhängen neu nachzudenken. 15 16 17

Herdegen, M., Europarecht (8. Aufl. 2006), S. 88 f. EuGH, Rs. C-36/02, Slg. I-2004, S. 9609 – Omega-Spielhallen. Vgl. Starck, Förderung (Fn. 5), S. 1 ff.

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Im Übrigen bleibt zu prüfen, ob man deutsche Forscher und deutsche Forschungseinrichtungen von der europäischen Förderung ausschließen will. Auch dann bleibt das Problem, dass diese Forschung von Deutschland mitfinanziert wird. Auch hier wird deutlich, dass Europa ein Haus mit vielen Wohnungen ist. VI. Balance zwischen Freiheit und staatlicher Reglementierung Wie die einzelnen Staaten steht auch die Europäische Gemeinschaft immer wieder vor der Aufgabe, die rechte Balance zwischen Freiheit und staatlicher Reglementierung zu sichern. Politischen Kräften gelingt es dabei zuweilen, auf europäischer Ebene Regelungsvorhaben durchzusetzen, die auf nationaler Ebene nicht mehrheitsfähig wären. Dies gilt etwa für die dramatischen Eingriffe in die Privatautonomie und die Vertragsfreiheit, wie sie etwa die EG-Antidiskriminierungsvorschriften18 bedeuten. Wenn sich der Gesetzgeber ständig als moralische Instanz begreift, bleibt langfristig die bürgerliche Freiheit auf der Strecke. Dies gilt für die Europäische Union ebenso wie für die einzelnen Staaten. Welche Früchte ein regulatorischer Übereifer tragen kann, zeigt das Schicksal des deutschen Gesetzes zur zulässigen Befristung von Arbeitsverträgen mit älteren Arbeitnehmern. Hierin hat der Europäische Gerichtshof aufgrund der Antidiskriminierungsbestimmungen eine verbotene Ungleichbehandlung aus Gründen des Alters gesehen.19 Was der Zwang zum Abschluss unbefristeter Arbeitsverträge für die Beschäftigungschancen älterer Arbeitsloser bedeutet, liegt auf der Hand. Man braucht nicht gleich mit deutschen Medien von „Tugendterror“20 zu sprechen, um an den paternalistischen Segnungen des europäischen Antidiskriminierungseifers zu zweifeln. VII. Freiheit und Sicherheit Zu schwierigen Balanceakten zwingt das rechte Verhältnis von individueller Freiheit und innerer oder äußerer Sicherheit. Die Bedrohungen des internationalen Terrorismus und international agierender Formen der organisierten Kriminalität zwingt zu entschlossenem Handeln auf Gemeinschaftsebene. Aber dabei darf grundrechtliche und rechtsstaatliche Substanz nicht einem überstürzten und unbedachten Aktionismus zur Last fallen. 18

Siehe Fn. 22. EuGH, Rs. C-144/04, Slg. I-2005, S. 9981 – Mangold. 20 Jahn, W., Tugendterror aus Luxemburg, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3.12.2005, Seite 11. 19

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Ein warnendes Beispiel bietet etwa der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl21, der bei einer Reihe von völlig unbestimmten Straftaten wie Sabotage, Ausländerfeindlichkeit oder Cyberkriminalität eine Auslieferung auch dann vorsieht, wenn die Tat im Heimatstaat des Auszuliefernden gar nicht strafbar ist. Hier zeigt sich, wie leicht harmonisierungsseliger Regelungsdrang bei den Regierungen der EU-Mitgliedstaaten im Rat der Europäischen Union zum Ausfall rechtsstaatlicher Sicherungen führen kann. Der Deutsche Bundestag hat diesen Rahmenbeschluss ohne jede Reflexion über die damit verbundenen rechtsstaatlichen Probleme im getreuen Nachvollzug des von den Ministern Beschlossenen umgesetzt. Das Bundesverfassungsgericht musste dieses Gesetz dann wegen gravierender rechtsstaatlicher Mängel für nichtig erklären.22 Vergleichbares ist in Polen geschehen: Der polnische Minister im Rat der Europäischen Union hat einer Auslieferung eigener Staatsangehöriger zugestimmt, welche die polnische Verfassung verbietet. Deswegen hat das polnische Verfassungsgericht das polnische Umsetzungsgesetz für verfassungswidrig erklärt.23 Das belgische Verfassungsgericht hat an den Europäischen Gerichtshof die Frage gerichtet, ob der europäische Rahmenbeschluss überhaupt mit den Grundinhalten europäischer Rechtsstaatlichkeit vereinbar ist.24 Solche Vorgänge müssen bei den Bürgern tiefe Unruhe über die Qualität der europäischen Gesetzgebung auslösen. Betont sei dabei, dass dies ein Vorwurf nicht (nur) an die europäischen Organe, sondern vor allem eine Mahnung gegenüber den nationalen Regierungen ist. VIII. Wettbewerb und „Globalisierung“ Eine besondere Herausforderung für Europa als Wertegemeinschaft bildet der Umgang mit dem Wettbewerb innerhalb der Europäischen Union und mit dem Phänomen der sog. Globalisierung. 21

Siehe Fn. 8. BVerfGE 113, 273; siehe hierzu auch die Dokumentation von Schorkopf, F. (Hrsg.), Der Europäische Haftbefehl vor dem Bundesverfassungsgericht. Dokumentation des Verfahrens (2006). 23 Polnischer Verfassungsgerichtshof, EuR 2005, S. 494 ff. Ebenso Oberster Gerichtshof von Zypern, Rs. 294/2005, Urteil v. 7.12.2005. Anders tschechisches Verfassungsgericht, Rs. 66/04, Urteil v. 3.5.2006, in englischer Übersetzung abrufbar unter: http://test.concourt.cz/angl_verze/doc/pl-66-04.html. 24 Belgischer Schiedsgerichtshof, Urteil Nr. 124/2005, 13.7.2005, abrufbar unter: www.arbitrage.be. Vgl. hierzu Schlussanträge GA Ruiz-Jarabo Colomer vom 12.9.2006, Rs. C-303/05 – Advocaten voor de Wereld, abrufbar unter: http://curia. europa.eu. 22

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Das Ringen um die neue Dienstleistungsrichtlinie25 zeigt, wie stark das Festhalten an eigenen Standards und die Abwehr von Konkurrenz aus anderen Mitgliedstaaten ist. Wer einen funktionsfähigen Binnenmarkt will, kann nicht gleichzeitig den Protektionismus innerhalb der Europäischen Gemeinschaft fördern. Dabei sei durchaus die verständliche Sorge um ungleiche Wettbewerbsbedingungen auf europäischer Ebene berücksichtigt. Der von dieser Sorge bestimmte politische Willen in den „alten“ Mitgliedstaaten lässt sich auch nicht auf europäischer Ebene „verbiegen“. Aber dann müssen die Mitgliedstaaten entweder in der nationaler Gesetzgebung etwas zur Hebung der Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Industrie und des eigenen Handwerks tun oder aber bei der Aufnahme neuer Mitgliedstaaten von vornherein die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs begrenzen. In jedem Fall gebietet es die Redlichkeit auch gegenüber den eigenen Bürgern, sich vorab über die Bedingungen einer Erweiterung der Europäischen Union nicht nur im Hinblick auf die großen Linien Rechenschaft abzulegen, sondern auch dort, wo sich konkrete wirtschaftliche Interessen hart im Raum stoßen. Die Vernetzung der Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalmärkte wird auch in Europa, und vor allem im Kern des alten Europa, von vielen als etwas Neues und zugleich als etwas Bedrohliches empfunden. Richtig ist eine ganz andere Einsicht: Einmal ist die Globalisierung keineswegs ein neues Phänomen. Zum anderen gehören die Staaten im westlichen Europa seit Jahrzehnten weltweit zu den ganz großen Gewinnern der Globalisierung. Dies gilt ganz besonders für Deutschland. Die Gewinnerrolle fordert auch eine gewisse Solidarität nach außen. Wir können nicht ständig hochtrabend von internationaler Solidarität gegenüber Entwicklungsländern reden und gleichzeitig in volkswirtschaftlicher Größenordnung wettbewerbsverzerrende Beihilfen ausschütten. Nur ganz nebenbei würde der radikale Abbau von Ausfuhr- und sonstigen Subventionen vor allem im Agrarsektor nicht nur ein Stück internationaler Verteilungsgerechtigkeit herstellen. Er würde auch unseren Haushalten auf der Ausgabeseite einen wesentlichen Dienst erweisen. Auch in anderen Bereichen ist ängstlicher Protektionismus ein schlechter Ratgeber. Wir können nicht mit unseren großen Unternehmen auf fremde Märkte und ausländische Firmen zugreifen, und gleichzeitig unsere eigenen Unternehmen gegenüber Übernahmen zu nationalen Heiligtümern erklären. Wenn ein französischer Energieversorger von einem italienischen Unternehmen oder eine deutsche Großbank von einem europäischen Wettbewerber 25 Vgl. zuletzt Gemeinsamer Standpunkt des Rates vom 24.7.2006 im Hinblick auf den Erlass einer Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Dienstleistungen im Binnenmarkt, Interinstitutionelles Dossier 2004/0001 (COD).

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übernommen wird, ist dies kein Anlass, den Zusammenbruch des nationalen Erbes zu beschwören. IX. Ausblick Bei aller Skepsis und Sorge angesichts einzelner Entwicklungen erscheint in der langfristigen Betrachtung eine ermutigende Zwischenbilanz und Zukunftsprognose für die europäische Wertegemeinschaft angezeigt. (1) Zum geschichtlichen Erbe der europäischen Wertegemeinschaft gehört die Vorstellung von Eigenverantwortung, individueller Selbstbestimmung und Subsidiarität. Dieses Leitbild kämpft gegenwärtig heftig mit der Sehnsucht nach kollektiver Zukunftssicherung mit dem Drang, auch solche Aufgaben auf großräumige Gemeinwesen zu überführen, die weitaus effizienter und kostenschonender vom Einzelnen und kleinteiligen Einheiten erfüllt werden können. Nicht nur der einzelne Staat, sondern auch die Europäische Union kann in dem Maße mit Vertrauen in die Zukunft sehen, in dem sie – unter Verzicht auf überzogene Planifikation und Reglementierung – Vertrauen in die Eigenverantwortung des Einzelnen setzt. (2) Der europäische Verfassungsvertrag steht vor einer ungewissen Zukunft. Trotz aller Unvollkommenheiten lohnt es sich aber, für ihn zu kämpfen. Schon die Väter der amerikanischen Verfassung haben vor einem überzogenen Perfektionismus gewarnt und zum Vertrauen in eine künftige Fortentwicklung des einmal verabschiedeten Verfassungsdokuments im Lichte neuer Erfahrungen geraten.26 Inzwischen wird Europa auf der Grundlage der bestehenden Texte seinen Weg weiter gehen, wenn auch etwas schwerfälliger als mit dem Verfassungsvertrag. (3) Im Jahr 2007 jährt sich das Inkrafttreten der Römischen Verträge zum 50. Mal. Die Europäischen Gemeinschaften und die Europäische Union haben nicht nur manche Erschütterungen mit immer wieder neu gefundener Stärke überwunden, sondern einen damals kaum vorstellbaren Beitrag für die politische, soziale und wirtschaftliche Stabilität des stetig wachsenden Integrationsraumes geleistet. Auch das erfolgreiche Wagnis der Währungsunion hat manche Skeptiker eines Besseren belehrt. Im Systemvergleich steht auch das vielbeschworene Referenzbeispiel der Vereinigten Staaten von Amerika vor nicht minder schweren Belastungsproben im Hinblick auf die Leistungskraft seines politischen Systems nach innen.27 Die europäische Wertegemeinschaft ist der erfolgreichste Verbund selbstbewusster Staaten in der gesamten Geschichte. Sie hat allen Anlass, mit großer Zuversicht nach vorne zu blicken. 26 27

Hamilton, A., Federalist Papers, Nr. 85 (1788). Zakaria, F., The Future of Freedom (2002), S. 182 ff., 201 f.

Die Einwirkungen europäischen Rechts auf das nationale Privatrecht – Methode und Prinzipien Von Franz Jürgen Säcker I. Problemstellung Der Anteil des Gemeinschaftsprivatrechts, basierend auf EG-Richtlinien und EG-Rechtverordnungen sowie der Rechtsprechung des EuGH, an den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in der EU wird in vielen Bereichen immer größer, vor allem im Bereich des Vertragsrechts.1 Damit wachsen auch die Reibungsflächen zwischen nationalem und vergemeinschaftetem Recht.2 Die Rechtsnatur des vereinheitlichten Rechts als im Wege der Umsetzung von Richtlinien entstandenem nationalen Recht entbindet die Partner nicht von der völkerrechtlichen und gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtung, das vereinheitlichte Recht einheitlich und richtlinienkonform anzuwenden. Die klassischen Auslegungsmethoden, die das Ziel haben, die einzelne Rechtsnorm aus dem Telos und Geist der Gesamtrechtsordnung kohärent auszulegen, müssen sich dem Ziel der einheitlichen Auslegung des harmonisierten Rechts unterordnen, damit dieses als Einheitsrecht gewahrt bleibt. So ist z. B. der Begriff des Betriebsteils in § 613a BGB, an dessen Veräußerung die EG-Richtlinie 2001/23/EG3 den gesetzlichen Übergang der Arbeitsverhältnisse knüpft, nicht i. S. der engen räumlich-konkret abgrenzenden Tradition des deutschen Arbeitsrechts, sondern weit auszulegen, i. S. des Verständnisses der meisten anderen Mitgliedstaaten der EU, die mit der Richtlinie einen Schutz der Arbeitnehmer auch bei einer identitätswahrenden Funktionsnachfolge anstreben. Die deutsche Methodik der Auslegung 1 Vgl. dazu umfassend Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, 1999; Riedl, Vereinheitlichung des Privatrechts in Europa, 2004, S. 33 ff.; Ranieri, Europäisches Obligationenrecht, 2003, S. 30; Müller-Graf, Private Law Unification by Means other than of Codification, in: Hartkamp u. a., Towards a Europe Civil Code, 2. Aufl. 1998, S. 19; Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages, 2003, S. 66 ff.; Basedow, AcP 200 (2000), 445, 450 ff. 2 Vgl. näher Ekkert, Festschrift für Söllner, 2000, S. 240; Riedl, Vereinheitlichung (Fn. 1), S. 122 ff.; Remien, Vertragsrecht (Fn. 1), S. 39 ff. 3 RL 2001/23, ABl. 2001 L 82/16.

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des Einheitsrechts ist ursächlich gewesen für – m. E. unberechtigte – heftige Angriffe auf den Europäischen Gerichtshof, die in dem Vorwurf gipfelten, der Europäische Gerichtshof verletze den rechtsstaatlichen Grundsatz der Bindung des Richters an das Gesetz.4 Ich werde im Schlussteil meines Aufsatzes darauf noch näher eingehen. II. Einstrahlungen des EG-Rechts in die mitgliedsstaatliche Rechtsordnung (Gemeinschaftsprivatrecht) Das Gemeinschaftsprivatrecht erfasst bekanntlich zwei Bereiche: 1. Der erste Normenbereich dient der Umsetzung der Grundfreiheiten des EG-Vertrages und der Durchsetzung eines Systems unverfälschten Wettbewerbs. In diesem Bereich besteht eine durch das Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 Abs. 2 EG) nicht beschränkte Regelungszuständigkeit der EU-Organe.5 Die Mitgliedsstaaten haben hier dafür Sorge zu tragen, dass Rechtsvorschriften, die das Ziel unverfälschten Wettbewerbs gefährden, außer Kraft gesetzt werden (Art. 10 Abs. 2 EG). Positiv ausgedrückt: Sie haben ihre Rechtsordnungen so einzurichten, dass die praktische Wirksamkeit (effet utile) der Wettbewerbsvorschriften voll zum Tragen kommt.6 4

Vgl. dazu Baudenbacher, Festschrift für Großfeld, 1999, S. 55, 61; Franzen, Jahrbuch junger Zivilrechtswissenschaftler, 1997, S. 285, 287. 5 Vgl. dazu Schwintowsky, in: Grundmann, Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts, 2000, S. 457; Füller, Grundlagen und inhaltliche Reichweite der Warenverkehrsfreiheiten nach dem EG-Vertrag, 2000, S. 91.; Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, 2003, S. 132 ff.; Lienbacher/Hatje, in: Schwarze, EU-Kommentar, 2001, Art. 14 EGV, Rn. 8 ff., Art. 5 EGV, Rn. 11, 13 f.; Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, 2005, S. 5 ff.; Basedow, AcP 200 (2000) (Fn. 1), S. 445, 473 ff. 6 Siehe EuGH vom 19.2.2002, Rechtssache C-35/99 („Manuelle Arduino“): eine Verletzung der Art. 10 und 81 EG liegt vor, „wenn ein Mitgliedsstaat gegen Art. 81 verstoßende Kartellabsprachen vorschreibt oder erleichtert oder die Auswirkung solcher Absprachen verstärkt oder wenn er seiner eigenen Regelung dadurch ihren staatlichen Charakter nimmt, dass er die Verantwortung für in die Wirtschaft eingreifende Entscheidungen privaten Wirtschaftsteilnehmern überträgt“; ebenso bereits EuGH Slg. 1978, S. 3801, 3829 (Tz. 23) („Vlaamsee Reisebueros“); EuGH Slg. 1987, 4789, 4815 (Tz. 24); EuGH Slg. 1993, I-5801, („Reiff“); bestätigt durch EuGH Slg. 1994, I-2517, („Delta-Schifffahrts- und Speditionsgesellschaft“); EuGH Slg. 1993, I-5751 („Meng“); EuGH Slg. 1993, I-5851, Tz. 10 („Ohra Scheverzekeringen“); EuGH Slg. 1995, I-179 (218 f.) („Leclerc-Siplec“); EuGH Slg. 1998, I-3851, 3899 f. (Tz. 53, 54) („Kommission/Italien“); EuGH Slg. 1998, I-5955, 5984 (Tz. 31) („Librandt“); EuGH Slg. 1999, I-5751, 5883 („Albany“); aus der Literatur vgl. Mestmäcker, RabelsZ 52 (1988), S. 522; Füller, Deregulierung durch europäisches Kartellrecht, ARSP-Beiheft 83 (2002), S. 121, 133 f.; Ehricke, Staatliche Eingriffe in den Wettbewerb, 1994; Frenz, DVBl. 2001, S. 573 (682 ff.); Fritzsche, ZHR 160 (1996), S. 31, 52 ff.; Monopolkommission, Sondergutachten E.ON/Gel-

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2. Beim zweiten Normenkomplex geht es um den Bereich fakultativer, durch die „black box“ des Subsidiaritätsprinzips7 begrenzter Rechtsangleichungsaktivitäten zur Verwirklichung der sonstigen Ziele des EG-Vertrages. Hier besteht eine Art „konkurrierende“ Regelungszuständigkeit.8 Rechtsnormen der Mitgliedstaaten sind mit dem EG-Vertrag unvereinbar, wenn sie den Wettbewerb auf dem relevanten EG-Binnenmarkt verfälschen.9 So stellte z. B. das deutsche Arbeitsvermittlungsmonopol einen Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit und gegen Art. 82 EG dar.10 Telekommunikations- und energierechtliche Demarkationsverträge, aber auch Exklusivbindungen in langfristigen Lieferverträgen, die den Wettbewerb für ausländische Anbieter erschweren, sind mit Art. 81 EG unvereinbar.11 Zur Herstellung von funktionstüchtigem Wettbewerb wird die Eigentums- und Vertragsfreiheit von marktbeherrschenden Unternehmen eingeschränkt. Sie müssen anderen den Zugang zu ihren Netzen und Infrastruktureinrichtungen nach den Grundsätzen der sog. essential facilities-Doktrin gewähren (Art. 82 EG).12 In Deutschland verdanken wir dem EG-Recht die Abschaffung staatlich monopolisierter Ausnahmebereiche (Post, Telekommunikation, Energie, Eisenbahnen). 1. Bedeutung der Grundfreiheiten im Privatrecht Die Grundfreiheiten des EG-Vertrages enthalten nicht nur Diskriminierungsverbote, die eine Unterscheidung zwischen in- und ausländischen Unternehmen strikt untersagen;13 sie enthalten darüber hinaus allgemeine Besenberg und Bergemann, S. 123 ff. Diese beruft sich für ihre Position allerdings zu Unrecht auf die Entscheidung „Nouvelles Frontiéres“, in dieser Entscheidung findet sich das von ihr angegebene Zitat gerade nicht (EuGH, Slg. 1986, 1471). 7 Vgl. dazu Hilfe/Pache, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Bd. 1, Stand Jan. 2004, Art. 2 EGV, Rn. 22 ff.; Nicolaysen, Europarecht I, 2. Aufl. 2002, S. 283 ff. 8 Vgl. dazu Reich, ZEuP 1994, 381; Remien, JZ 1994, 349; Schwartz, in: FS Everling, Bd. II, 1995, S. 1331 ff.; v. Bogdandy/Bast, in: Grabitz/Hilf, Recht der EU (Fn. 7), Stand Juni 2005, Art. 5 EGV, Rn. 32 ff.; König, in: Schulze/Zuleeg, Europarecht, 2006, § 2, Rn. 16; Herresthal, in: Langebbucher, Europarechtliche Bezüge des Privatrechts, 2005, § 2, Rn. 23 ff.; Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, 2005, S. 7 ff. 9 Vgl. dazu Sack, EWS 1994, 37; Joliet, GRUR Int. 1994, 979; Basedow, EuZW 1994, 225; Mülbert, ZHR 159 (1995), 2; Dreher, WuW 1994, 193. 10 EuGH, C-41/90, Slg. 1991 I-1979. 11 EuGH, C-393/92, Slg. 1994 I-1477 („Almelo“); EuGH,C-279/95P, Slg. 1998 I-5627 („Langnese – Iglo“); dazu Kirchhoff, WuW 1995, 361; teilweise abweichend Büdenbender, ET 2000, 359. 12 Vgl. dazu umfassend Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, 1999, S. 301, 405, 605, 619.

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hinderungsverbote, die dem nationalen Gesetzgeber Erschwerungen für ausländische Unternehmen auf dem nationalen Markt verwehren14, und verbieten zugleich Privaten, im Rahmen ihrer rechtlichen Autonomie derartige Hindernisse aufzurichten (sog. Drittwirkung der Marktfreiheiten).15 Soweit die Grundfreiheiten in EG-Richtlinien konkretisiert sind, haben diese nach der neuen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes – auch schon vor ihrer Umsetzung – eine weitreichende horizontale Wirkung im Privatrechtsverkehr. Der Richter darf einen Fall nicht unter inhaltlichem Verstoß gegen eine EG-Richtlinie entscheiden. Er muss vielmehr das Gemeinschaftsrecht mittels richtlinienkonformer Auslegung des nationalen Rechts durchsetzen. Die richtlinienkonforme Auslegung hat nicht nur Bedeutung als Ergänzung der Maxime, die rangniedrigere Rechtsquelle nach der jeweils ranghöheren auszulegen; sie hat als Auslegungsziel vielmehr Vorrang vor den Auslegungszielen des nationalen Rechts, damit nicht die Einheit des Gemeinschaftsprivatrechts durch Renationalisierung im Wege der Auslegung verloren geht.16 Diese Vorrangwirkung orientiert sich am Inhalt der europäischen Rechtsvorschrift und kann daher auch nicht weiterreichen als die im Wege der Interpretation festgelegte Normbedeutung. Bei der Interpretation der Grundfreiheiten bleibt der EuGH in seiner neueren Rechtsprechung eher restriktiv. Nach der Keck-Doktrin des Europäischen Gerichtshofes17 stellen die im nationalen Recht wurzelnden unterschiedlichen Regelungen der Verkaufsmodalitäten von Waren und Dienst13

Einzige Ausnahme bislang: EuGH, C-379/98 Slg. 2001 I, 2099 („PreußenElektra“), das erstmals den Umweltschutz als ungeschriebenes Grundprinzip des Gemeinschaftsrechts anerkannte, das auch den Grundfreiheiten bei Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Grenzen setze. 14 EuGH, Rs.8/74, Slg. 1974, 837 („Dassonville“); EuGH Slg. 1979 I, 649 („Cassis de Dijon“). Während es das vorrangige Ziel des europäischen Verbraucherrechts ist, das kompetitive Funktionieren des Binnenmarktes abzusichern, indem der aufgeklärte Verbraucher in die Lage versetzt wird, überall in der EU als Nachfrager nach Gütern und Dienstleistungen aufzutreten, ohne Angst zu haben, dass er, juristisch uninformiert, „hereingelegt“ wird, hatte das nationale Verbraucherrecht in der Vergangenheit den naiven, schutzbedürftigen, leicht irrezuführenden Konsumenten als Leitbild vor Augen, der intensiv vor unlauterer, irritierender Werbung geschützt werden musste. Inzwischen hat der BGH aber kapituliert. Er hat das europäische Leitbild übernommen; vgl. näher Säcker, WRP 2004, S. 1199, 1214. 15 Vgl. EuGH, Slg. 1974, S. 1406, 1419 („Walrave/Union Cycliste Internationale“); EuGH, Slg. 1976, S. 1333, 1339 („Dona/Mantero“); Pernice, Grundrechtsgehalte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1979, S. 234 ff.; Scholz/Langer, Europäischer Binnenmarkt und Energiepolitik, 1992, S. 61 ff.; Schmidt-Preuß, in: Säcker, Berliner Kommentar zum Energierecht, 2007, Einl., RdNr. 260 ff. 16 Näher dazu Säcker, in: Münchener Kommentar zum BGB, Bd. I/1, 5. Aufl. 2005, Einl., RdNr. 137 ff.; Vogenauer, Eine gemeineuropäische Methodenlehre des Rechts – Plädoyer und Programm, ZEuP 2005, 234, 235 ff. 17 EuGH, C-267/91 und C-268/91, Slg. 1993 I-6097 („Keck und Mithouard“).

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leistungen keinen Verstoß gegen die Grundfreiheiten dar.18 Eine immanente Schranke der Grundfreiheiten bilden auch die im nationalen Recht verankerten Prinzipien des kollektiven Arbeits- und Sozialrechts (vgl. Art. 137 Abs. 6 EG). Selbst bei Streiks, die gegen Betriebsverlagerungen ins Ausland gerichtet sind und die dadurch massiv die Niederlassungsfreiheit des Unternehmens beeinträchtigen, scheint es, dass der Europäische Gerichtshof auch hier den Vorrang nationaler Wertvorstellungen im Bereich des kollektiven Arbeitsrechts vor den Grundfreiheiten des EG-Vertrags bejahen wird. Die Abgrenzung im Einzelfall ist allerdings vage; es besteht eine nicht unerhebliche Grauzone. Ein nationales Verbot des Verkaufs unter Einstandspreis soll gleichfalls keinen Verstoß gegen die Warenverkehrsfreiheit darstellen, auch wenn dadurch einem ausländischen Unternehmen eine großangelegte Werbekampagne zur Markteinführung eines neuen Produkts in Deutschland erschwert wird.19 Noch weiterreichendere Einschränkungen des Gemeinschaftsrechts ergeben sich aber aus der Cassis-de-Dijon-Doktrin des Europäischen Gerichtshofes.20 Danach müssen „Hemmnisse für den Binnenhandel der Gemeinschaft, die sich aus den Unterschieden der nationalen Regelungen über die Vermarktung dieser Produkte ergeben, hingenommen werden, soweit diese Bestimmungen notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden, insbesondere den Erfordernissen einer wirksamen steuerlichen Kontrolle, des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, der Lauterkeit des Handelsverkehrs, des Umwelt- und Verbraucherschutzes“. Außerhalb dieser binnenmarktrelevanten Reservate nationaler Zuständigkeiten müssen die Mitgliedstaaten (ggf. unter Einsatz der Polizei) die tatsächliche Freiheit des Waren- und Dienstleistungsverkehrs vor der Gewalt der Straße durchsetzen.21 Im Fall Schmidtberger22 (Demonstrationen auf der Straße gegen den LKW-Verkehr auf der Brenner-Autobahn) fiel die Abwägung zwischen Versammlungsfreiheit und Warenverkehrsfreiheit nach Art. 28 EG zugunsten des Grundrechts aus.

18 Näher dazu Leible, in: Grabitz/Hilf, Recht der EU (Fn. 7), Stand Jan. 2000, Art. 28 EGV, Rn. 28; Mathies, FS Everling, Bd. 1, 1995, S. 803; Ackermann, RIW 1994, 89. 19 EuGH Slg. 1993, I-6097, 6132 („Keck und Mithouard“). 20 EuGH, Rs. 120/78, Slg. 1979 I-649 („Cassis de Dijon“). 21 Vgl. EuGH, C-265/95, Slg. 1997 I-6959. 22 EuGH, C-112/00, Slg. 2003 I-5659.

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2. Vom Leitbild des aufgeklärten Verbrauchers zum Leitbild des verantwortungsvollen, auf die Interessen des Verbrauchers angemessen Rücksicht nehmenden Unternehmers Das europäische Privatrecht steht nach seiner liberalen Antrittsintension (Art. 3 lit. g, Art. 4 EG) im Dienste der wettbewerblichen Organisation des EG-Binnenmarktes, und zwar, wie die EG-Kommission nicht müde wird zu betonen, im Interesse des Verbraucherschutzes. Die Errichtung eines Systems unverfälschten Wettbewerbs soll dem aufgeklärten Konsumenten in Hinblick auf Qualität und Preis optimale Wahlmöglichkeiten vermitteln, wenn er grenzüberschreitend als Nachfrager von Waren und Dienstleistungen auftritt.23 Aus diesem Grunde ist ein europäisches Netz von Kennzeichnungs-, Informations- und Aufklärungspflichten über das Privatrecht gelegt worden, um ein Höchstmaß an Produkttransparenz als Voraussetzung für wirksamen Wettbewerb zu schaffen. Ich erinnere an die in nationales Recht umgesetzte InformationsVO.24 Bei Verletzung dieser Pflichten drohen Schadensersatzansprüche nach allgemeinem Schuldrecht.25 Den rapide wachsenden Aufklärungsverpflichtungen der Unternehmen steht auf der anderen Seite eine Überflutung der Verbraucher mit Informationen gegenüber, die sie größtenteils gar nicht mehr aufnehmen können. Sie werden geradezu ertränkt durch ein Übermaß an Daten. Statt von den ihnen eingeräumten Möglichkeiten des private enforcement (§§ 33 GWB, 32 EnWG, 40 TKG) Gebrauch zu machen und ihre Rechte als David gegenüber industriellen Goliaths wahrzunehmen, verharren die Verbraucher in „rationaler Apathie“. In der Tat ist kaum noch jemand in der Lage, alle zum Schutz des Verbrauchers und Anlegers geschriebenen Gebrauchsanweisungen, Aufklärungsbroschüren oder Geschäftsberichte zu lesen. Angesichts dieser allmählich ins Bewusstsein tretenden alltäglichen und allgegenwärtigen Überforderung wird das Leitbild des aufgeklärten, wachen Verbrauchers26 zunehmend substituiert durch das Leitbild des verantwortungsvollen Unternehmers, der die Interessen des Verbrauchers ex ante angemessen berücksichtigen soll. 23

Vgl. grundlegend EuGH Slg. 1977, S. 1875, 1905 („Metro I“); EuGH, Slg. 1973, S. 215, 245 („Continental Can“); Slg. 1979, S. 461, 520 („Hoffmann-La Roche/Vitamine“). 24 BGBl. 2002 I Nr. 55 S. 3002. 25 Vgl. Reich, JZ 1997, 609; ferner Rittner, JZ 1995, 849; Lettl, WRP 2004, 1079, 1128; Köhler, GRUR 2004, 99. 26 Säcker, WRP 2004, 1199, 1214; EuGH Urteil v. 13.1.2000, Rs. C-220/98, Slg. 2000, I-117, Rn. 27 („Estée Lauder“) = NJW 2000, 1173; EuGH, Urteil v. 16.7.1998, Rs. C-210/96, Slg. 1998, I-4657, Rn. 31 („Gut Springenheide und Tusky“) = NJW 1998, 3183; EuGH Urteil v. 28.1.1999, Rs. C-303/97, Slg. 1999, I-513, Rn. 36 („Kessler Hochgewächs“) = EuZW 1999, 281.

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Das Leitbild der verantwortungsvollen Kreditvergabe überlagert im Entwurf einer neuen EG-Richtlinie bereits das Leitbild des aufgeklärten Verbrauchers bei Finanzdienstleistungen.27 Die liberale Maxime, dass das Recht für die Wachen geschrieben ist („ius civile vigilantibus scriptum est“), wird abgelöst von der den Einzelnen umhegenden, sozialstaatlich motivierten Fürsorge des Staates, der sich zur Erfüllung seiner Gewährleistungsverantwortung im Bereich der Daseinsvorsorge immer stärker der Unternehmen bedient, die den Schutz des Verbrauchers vor seiner eigenen Unvernunft als ihre eigene Aufgabe übernehmen sollen.28 Das Grunddogma der Aufklärung, dass ein jeder seines Glückes Schmied ist, wird korrigiert durch die Verpflichtung der Unternehmen, für das Glück des Verbrauchers eine Mitverantwortung zu übernehmen. In Ergänzung des öffentlichrechtlichen Wirtschaftsaufsichtsrechts entsteht eine privatrechtliche Parallelrechtsordnung durch vom Individualinteresse losgelöste Verbandsund Sammelklagen, die angebliche Insuffizienzen staatlicher Behörden ausgleichen und den vom Einzelnen zu führenden „Kampf ums Recht“ (Jhering) an seiner Stelle übernehmen sollen.29 Freiheitliches Privatrecht, das auf der Gleichheit aller Rechtssubjekte basiert, wird rollenspezifisch ausdifferenziert durch Normen für spezielle Adressatenkreise, z. B. für Unternehmer, Verbraucher und Arbeitnehmer.30 Die Verdichtung des sich auf Grundrechte und Sozialstaat berufenden Interventionismus in das Privatrecht zeigt sich besonders symbolträchtig im Antidiskriminierungsrecht, das den Titel „Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz“ führt.31 Dieses fordert im Geschäftsverkehr in Umkehrung liberalen Vertragsrechts32 den prinzipiellen Vorrang der Gleichbehandlung vor der Vertragsfreiheit. Noch findet das Gesetz keine Anwendung im Familien- und Erbrecht (vgl. § 19 Abs. 4 AGG), weil dem früheren Bundeskanzler und Vizekanzler der für das Gesetz im Wesentlichen noch verantwortlichen Rot-Grünen-Koalition bewusst war, dass es keine „korrekte Liebe“ gibt, die einer Kontrolle durch die Diskriminierungsverbote des Gesetzes standhielte.

27 Vgl. dazu Art. 19 RL 2004/39/EG über Märkte für Finanzinstrumente, ABl. EU vom 30.4.2004 Nr. L 145/38. 28 Näher dazu Säcker, AöR 130 (2005), S. 180 ff. 29 Vgl. dazu Micklitz/Stadler, Das Verbandsklagerecht in der Informations- und Dienstleistungsgesellschaft, 2005, S. 39 ff.; kritisch dazu Säcker, Die Verbandsklage im System des Privatrechts, 2005; Picker, JZ 2003, S. 540, 542. 30 Zur Kritik an dieser Entwicklung vgl. Picker, ZfA 2005, 167, 171 ff.; ders, JZ 2003, 540, 541 ff. 31 BGBl. 2006 I Nr. 39 v. 17.8.2006, S. 1897; dazu näher Säcker, ZeuP 2006, 1 f. 32 Vgl. BAG AP Nr. 184, 102, 83, 38, 32 zu § 242 Gleichbehandlung.

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3. Kompetitives Vertragsrecht Einen wichtigen Beitrag für die Sicherung individueller Freiheit von Unternehmen und Konsumenten liefert dagegen das europäische Wettbewerbsrecht (Art. 81 ff. EG). Langfristige Vertragsverhältnisse, durch die zwei Partner sich z. B. im Bereich von Geschäftsbesorgungs- und Absatzmittlerverträgen oder im Rahmen langfristig angelegter Lieferbeziehungen eng aneinander binden, werden am Wettbewerbsbeschränkungsverbot des Art. 81 EG gemessen, wenn dadurch eine Marktabschottung für Dritte droht. Der Bestandsschutz für Exklusivverträge und Verträge mit Gesamtbezugsverpflichtungen wird bei zu langer Bindung auf 5 Jahre verkürzt.33 Der vor allem im englischen Privatrecht betonte und durch Treu und Glauben kaum relativierte Grundsatz der Vertragstreue („Pacta sunt servanda“!) wird gemeinschaftsrechtlich dem Prinzip untergeordnet, dass die Wiederherstellung der Freiheit, ein Produkt oder eine Dienstleistung bei einem anderen Anbieter günstiger einzukaufen, nach Ablauf einer gewissen Zeit, gleichfalls schützwürdig erscheint. Die Mitgliedstaaten der EU stehen, wenn sie wettbewerbsbeschränkende Regeln auf nationaler Ebene als historisch und kulturell gewachsene Vorstellungen einer sozialgerechten Privatrechtsordnung aufrechterhalten wollen, unter großem Legitimationszwang. Sie müssen dann im Sinne der Cassis-de-DijonDoktrin34 dartun, dass die sich aus Unterschieden in den Einzelrechtsordnungen ergebenden Handelshemmnisse zwingenden Erfordernissen des Gemeinwohls Rechnung zu tragen. Allerdings darf sich hinter der Berufung auf zwingende Erfordernisse keine verschleierte Handelsbeschränkung verbergen. In Bereichen vergemeinschafteter Politiken lässt der Europäische Gerichtshof eine Berufung auf mitgliedstaatliche Souveränitätsreserven i. S. von Art. 86 Abs. 2 EG und der Cassis-de-Dijon-Doktrin dagegen generell nicht zu.35 III. Zur Methode der Rechtsvereinheitlichung auf dem Gebiet des Privatrechts 1. Schaffung einer Rechtsunion durch Einzelrichtlinien oder durch wissenschaftliche Systembildung? Die Gesetzgebungszuständigkeit der EG außerhalb der unmittelbar binnenmarktbezogenen Freiheiten war zunächst „punktualistisch“ und konkret 33 Vgl. Art. 1 und 5 EG-Gruppenfreistellungsverordnung Nr. 2790/1999 über vertikale Vereinbarungen, in Kraft getreten am 1.1.2000. 34 Vgl. EuGH, Rs. 120/78, Slg. 1979 I-649 („Cassis de Dijon“). 35 Die EG-Richtlinie zur Zulässigkeit nicht herabsetzender vergleichender Werbung ist dafür ein Beispiel. Vgl. BGH, WRP 1999, 424.

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anlassbezogen. Das hat sich mit den EG-rechtlichen Regelungen zur Produkthaftung, zu den missbräuchlichen Vertragsklauseln, zum Fernabsatzvertrag und zur Angleichung der Gewährleistungsklauseln des Kaufrechts geändert. Der EG-Vertrag ordnet insoweit die nationalen Privatrechte dem Integrationsziel unter. Maßstab der Rechtsangleichung ist die Beseitigung aller Handelshemmnisse, die der Vollendung des Binnenmarktes entgegenstehen. Normstruktur und Inhalt des vergemeinschafteten Privatrechts sind in aller Regel aber nicht identisch mit dem verdrängten nationalen Privatrecht. Dadurch können teleologische Unabgestimmtheiten mit dem verbleibenden nationalen Recht entstehen.36 Die Notwendigkeit der Harmonisierung des neuen Gemeinschaftsprivatrechts mit den nicht vergemeinschafteten Teilen des nationalen Privatrechts führt, da das europäische Privatrecht ja nicht berührt werden darf, zu einer auch die nationalen, binnenmarktrelevanten Teile der Privatrechtsordnung allmählich erfassenden „schleichenden“ Europäisierung. Joerges37 und Micklitz38 haben diese Entwicklung als einen Prozess beschrieben, bei dem ein immer stärker werdender Rationalisierungsdruck auf die nationalen Rechtsordnungen ausgeübt wird, auch wenn dies nicht der unmittelbare Zweck der EG-Normen ist. Der durch diesen Rationalisierungsprozess erzeugte zusätzliche Europäisierungsprozess weiter Teile des Privatrechts ist m. E. unproblematisch, wenn europäisches und nationales Privatrecht von identischen Wertmaßstäben ausgehen, so dass die Änderungen nur die Form, aber nicht die Sache selbst betreffen. Das ist in weiten Bereichen aber noch nicht der Fall, wie sich am Beispiel des Verbraucherschutzrechts signifikant gezeigt39 und bei der EG-Dienstleistungsrichtlinie zu faulen Kompromissen geführt hat.40 Die von Einzelproblem zu Einzelproblem voranschreitende Rechtsangleichung über Richtlinien der EU stößt vor diesem Hintergrund an ihre ordnungspolitischen und demokratietheoretischen Grenzen. Das Vordringen des staatenübergreifenden Gemeinschaftsrechts in die Kernbereiche der nationalen Privatrechtsordnungen erlaubt nicht länger, die einzelnen, bislang fragmentarischen EG-Richtlinien als „Inseln im Meer“41 zu betrachten, die keine Brücke, d. h. kein innerer Zusammenhang verbindet, und sie innerhalb des Zivilrechts als Fremdkörper einzukapseln. Die EG-Richtlinien über 36 Vgl. dazu Ekkert, Festschrift für Söllner, 2000, S. 240; Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, S. 435; Riedl, Vereinheitlichung des Privatrechts in Europa, 2002, S. 122. 37 Joerges, ZEuP 1995, 181. 38 Micklitz, Rechtseinheit oder Rechtsvielfalt in Europa?, 1996. 39 Vgl. Micklitz/Reich, EuZW 1992, 593; Reich, ZEuP 1994, 381. 40 KOM (2006) 160 endg. 41 Rittner, JZ 1995, 849.

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missbräuchliche AGB-Klauseln und über die Angleichung der Gewährleistungsvorschriften beim Verbraucherkauf enthalten vielmehr substantielle Regelungen zum Vertragsrecht, die eine teleologische Angleichung der nationalen Schuldrechte an das EG-Gewährleistungsrecht beim Kauf gebieten, wenn es nicht zu einem ungeordneten kumulativen Nebeneinander von nationalem und Gemeinschaftsprivatrecht sowie UN-Kaufrecht ohne überzeugende Gründe für unterschiedliche Leistungsstörungsrechte kommen soll.42 Deshalb wurde in Deutschland mit dem Schuldrechtsmodernisierungsgesetz zutreffend nicht nur die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie in das nationale Recht umgesetzt, sondern gleichzeitig im Wege einer „großen Lösung“ das AGB-Gesetz, das Haustürwiderrufsgesetz, das Verbraucherkreditgesetz, das Teilzeitwohnrechtegesetz und das Fernabsatzgesetz in das BGB integriert, während andere Mitgliedstaaten ein eigenständiges Verbrauchergesetzbuch bevorzugen. Es ist deshalb m. E. nur konsequent, wenn nunmehr neben der schrittweisen punktuellen Rechtsvereinheitlichung auf nationaler Ebene auch die Entwicklung eines Europäischen Zivilgesetzbuchs für die binnenmarktrelevanten Teile des Privatrechts in Angriff genommen wird. Bereits 1989 und 1994 erfolgten erste Entschließungen des Europäischen Parlaments, in welchen entsprechende Vorarbeiten gefordert wurden.43 Ich erwähne als Beispiel für solche Vorarbeiten hier nur die drei Teile der „Principles of European Contract Law“ (PECL) der Lando-Kommission. Die Europäische Kommission hat seitdem an einem 2003 dem Europäischen Parlament und Rat vorgelegten „Aktionsplan für ein kohärentes europäisches Vertragsrecht“ gearbeitet, der zur Entwicklung eines Gemeinsamen Referenzrahmens (GRR) mit einem sog. „optionellen Instrument“ führen soll, das den EUBürgern zusätzlich zur Wahl des eigenen oder eines anderen, im Wege kollisionsrechtlicher Verweisung gewählten Vertragsrechts die Möglichkeit einräumt, das im gemeinsamen Referenzrahmen statuierte Recht als anwendbares Sachrecht zu bestimmen.44 Neben dem Acquis communautaire verweist der Aktionsplan auf die gemeinsamen Prinzipien des Vertragsrechts in den Mitgliedstaaten, auf die Auswertung der Fallrechtsstudien sowie auf das UN-Kaufrecht als „Basisquellen“ für den Gemeinsamen Refe42 Die literarische Kontroverse um die Frage, ob eine Irrtumsanfechtung neben den Gewährleistungsrechten aus dem vereinheitlichten Kaufrecht möglich ist, zeigt dies exemplarisch. Vgl. dazu Huber, UN-Kaufrecht- und Irrtumsanfechtung, ZEuP 1994, 586. 43 ABl. EG 1989 C 158/400 und ABl. EG 1994 C 205/518 f.; näher Tilmann, ZEuP 1995, 534, 539. 44 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat vom 15.3.2003 – Ein kohärentes europäisches Vertragsrecht – ein Aktionsplan, KOM (2003) 68 Nr. 89 ff.

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renzrahmen. Im Oktober 2004 hat die Kommission angekündigt, zur Verbesserung des Gemeinschaftsrechts das „optionelle Instrument“ selbstständig auszuarbeiten.45 Ein in sich geschlossenes System eines neuen europäischen Schuldrechts ist aber trotz aller Vorarbeiten noch nicht ersichtlich.46 Ein gleiches gilt für das Regulierungsrecht im Bereich der Netzwirtschaften (Eisenbahn, Telekommunikation und Energie). TKG, AEG und EnWG basieren auf europäischen Rahmenrichtlinien, die viel Spielraum für nationale Entgeltregulierungssysteme lassen. Im Bereich des europäischen Wettbewerbsrechts haben wir dagegen eine nahezu komplette europäische Regelung durch die Art. 81 ff. EG und die ergänzenden EG-Rechtsverordnungen. Das nationale Wettbewerbsrecht spielt außerhalb der Fusionskontrolle praktisch keine Rolle mehr. Der Grund für die fehlende privatrechtssystematische Gesamtkonzeption des europäischen Schuldrechts hat ihren Grund in der Kompetenzregelung der Gemeinschaft. Der EG-Vertrag bietet keine allgemeine Rechtssetzungsbefugnis für das Privatrecht.47 Im EG-Vertrag existieren keine sachgebietlich gegliederten Zuständigkeitskataloge, sondern funktionell zugewiesene Zuständigkeiten, die aus den Kompetenzen resultieren, die die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft übertragen haben.48 Die funktionell orientierten Ermächtigungsnormen knüpfen die Rechtsetzungsbefugnisse der Gemeinschaft an Voraussetzungen, namentlich an das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes (Art. 95 Abs. 1 Satz 2 EG), die Effektuierung der Grundfreiheiten (Art. 40, 44 Abs. 2 lit. g EG), die Errichtung eines Schutzsystems gegen Wettbewerbsbeschränkungen (Art. 83 EG) sowie an die Verwirklichung der Ziele der Gemeinschaft im Rahmen des Gemeinsamen Marktes (Art. 308 EG).49 Mit Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages wurde nur der Verbraucherschutz durch Einfügung der Art. 3 lit. t EG und Art. 153 EG in den Rang eines Verfassungsziels der Europäischen Union erhoben und damit die Grundlage für eine Verbraucherschutzpolitik in Europa geschaffen. Der Vertrag von Nizza vom 24.12.2002 hat daran nichts geändert. Gemäß Art. 3 lit. t EG hat die EU „einen Beitrag zur Verbesserung des Verbraucherschutzes“ zu leisten, und Art. 153 EG verpflichtet zur Verwirklichung eines hohen Verbraucherschutzniveaus.50 45 Mitteilung der Kommission an das europäische Parlament und den Rat, Europäisches Vertragsrecht und Überarbeitung des gemeinschaftlichen Besitzstandes – weiteres Vorgehen, KOM (2004) 651. 46 Palandt/Heinrichs, 66. Aufl. 2007, Einl. v. § 1 RdNr. 32, 33. 47 Rittner, DB 1996, 25. 48 Müller-Graff, Verfassungsziele der EG, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EGWirtschaftsrechts, Stand: Dezember 2004, A I RdNr. 23. 49 Rittner, JZ 1995, 849, 850.

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2. Der Grundsatz der einheitlichen, integrationsfreundlichen Auslegung von Normen EG-rechtlichen Ursprungs Die Durchdringung nationalen Rechts mit Normen EG-rechtlichen Ursprungs kompliziert den Prozess der Gesetzesauslegung. Sind Normen nationalen Ursprungs gemäß dem etablierten Interpretationskanon (grammatikalische, historische, systematische und teleologische Interpretation) auszulegen, so kann dies für Normen EG-rechtlichen Ursprungs, auch wenn diese Bestandteil der nationalen Rechtsordnung geworden sind, nicht in gleicher Weise gelten. Hier ist der Grundsatz der EG- und richtlinienkonformen Auslegung zu beachten.51 Die EG-basierte Norm ist nicht im Wege systematischer Auslegung aus dem Kontext der sie umgebenden nationalen

50 Die Vorschrift des Art. 153 EG ermöglicht darüber hinaus spezifische Aktionen, welche die Politik der Mitgliedstaaten zum Schutz der Gesundheit, der Sicherheit und der wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher und zur Sicherstellung einer angemessenen Information der Verbraucher unterstützen und ergänzen. 51 Literatur zur europarechtskonformen Auslegung nationaler Normen sowie zur Auslegungspraxis des EuGH: Canaris, Die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung im System der juristischen Methodenlehre, Festschrift für Bydlinski, 2002, S. 47; Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, 1994; Ehricke, Die richtlinienkonforme und die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts, RabelsZ 59 (1995), 598; Grundmann, Richtlinienkonforme Auslegung im Bereich des Privatrechts – insbesondere der Kanon der nationalen Auslegungsmethoden als Grenze?, ZEuP 1996, 399; Herberger, Eine Frage des Prinzips. Auslegung, Rechtsfortbildung und die Wirksamkeit nicht umgesetzter Richtlinien, in: Rechtsanwendung in Theorie und Praxis, 1993, S. 35; Hommelhoff, Zivilrecht unter dem Einfluß europäischer Rechtsangleichung, AcP 1992, 71; Karpenstein, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften und seine für das Arbeitsrecht relevanten Auslegungsmethoden, in: Tomandl (Hrsg.), Arbeitsrecht in einer sich wandelnden Rechtsordnung, 1993, S. 1; Koller, Die Bedeutung von EG-Richtlinien im Zeitraum vor Ablauf der Umsetzungsfrist, 2003; Klamert, Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, 2001; Lang, Die Rolle des Europäischen Gerichtshofs bei der Integration auf dem Gebiet des Arbeits- und Sozialrechts, SGb 1996, 103; Lubitz, Die Angleichung des Privatrechts in den Mitgliedsstaaten durch die europäische Richtlinie und Verordnung, 2000; Lutter, Die Auslegung angeglichenen Rechts, JZ 1992, 593; Meyer, P., Die Grundsätze der Auslegung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, Jura 1994, 455; Nettesheim, Auslegung und Fortbildung nationalen Rechts im Lichte des Gemeinschaftsrechts, AöR 1994, 26; Odersky, Harmonisierende Auslegung und europäische Rechtskultur, ZEuP 1994, 1; Olbertz, Auslegungsgrundsätze des Europäischen Gerichtshofs, StVj 1992, 37; Rodriguez Iglesias/ Riechenberg, Zur richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts, Festschrift für Everling, 1995, S. 1213; Sonnenberger, Auf dem Weg zu einer europäischen Rechtsquellenordnung – Das französische Verständnis rechtsvergleichend skizziert, Festschrift für Lerche, 1993, S. 575; Zöckler, Probleme der richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Zivilrechts, Jahrbuch junger Zivilrechtswissenschaftler 1992, S. 141 ff.

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Normenperipherie heraus auszulegen; es ist vielmehr die europarechtliche Intention und ihre Kohärenz mit den relevanten EG-rechtlichen Normen zu beachten, und sie muss gemäß dieser EG-rechtlich geprägten Teleologie in allen Mitgliedstaaten der EG als ursprungsgleiches Recht erhalten bleiben. Art. 36 EGBGB gebietet ausdrücklich, bei der Auslegung der für vertragliche Schuldverhältnisse geltenden Vorschriften der Art. 27 ff. EGBGB zu berücksichtigen, dass diese entsprechend dem ihnen zugrunde liegenden völkerrechtlichen Übereinkommen einheitlich ausgelegt und angewandt werden. Der durch die supra- bzw. internationale Regelung erreichte Rechtsvereinheitlichungsstandard darf im Wege mitgliedstaatlicher Auslegung nicht wieder durchlöchert werden. Art. 27 EGBGB drückt damit einen an sich selbstverständlichen Auslegungsgrundsatz aus, der bei den Normen suprabzw. internationalen Ursprungs eingehalten werden muss, wenn inter- oder supranationale Verträge ihren Sinn behalten sollen. Der hermeneutische Zirkel des Verstehens dieser vereinheitlichten Vorschriften ist nicht mehr national geprägt, sondern er ist „europadimensional“ aus der gemeinsamen Seh- und Wertungsweise der Mitgliedstaaten heraus zu definieren.52 Die EG-geprägten Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten sind eingespannt in das Kräfteparallelogramm mitgliedstaatlicher und EG-rechtlicher Zuständigkeiten, und zwar nicht i. S. des klassischen dualistischen Parallelismus von Völkerrecht und nationalem Recht, sondern i. S. einer integrativ-summativen Gesamtordnung. Deshalb sind Rechtsvorschriften EG-rechtlichen Ursprungs gemäß den EG-rechtlichen Definitionen, dem EG-Kontext und der Intention der europäischen Regelung auszulegen. Bei der Interpretation einer Gemeinschaftsvorschrift – so der Europäische Gerichtshof – „sind nicht nur der Wortlaut zu berücksichtigen, sondern auch der Zusammenhang, in dem sie steht, und die Ziele, die mit der Regelung verfolgt werden.“ Der Interpret hat die Aufgabe, sich bei Zweifelsfragen um eine integrationsfreundliche Lösung zu bemühen. Zwar weisen die nationalen Privatrechtsordnungen nach Zerfall des ius commune in ihrer dogmatischen Struktur und in ihren Resultaten zum Teil erhebliche Unterschiede auf. Immerhin entwickeln sich aber im Vorfeld einer solchen Kodifikation allgemeine Prinzipien des europäischen Vertrags-, Schuld- und Kreditsicherungsrechts, die den Ausbau nationaler Sonderlösungen vermeiden helfen. Es geht, wie Zimmermann53 formuliert hat, darum, „durch rationale Diskussionen die Divergenzen der nationalen Rechte abzuschleifen und zu überwinden“, und zwar auf der Grundlage gemeinsamer Begriffe, Institutionen, Denkformen, systematischer 52

Vgl. Vogenauer, Methodenlehre (Fn. 16), S. 253. ZOEP 1995, 732; vgl. Domröse und Roth, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, 2006, S. 139 ff., 250 ff. 53

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und ideengeschichtlicher Grundlagen. Die Auslegung der Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs, das in den ersten einhundert Jahren dank richterlicher Fortbildung seine Leistungsfähigkeit bewahrt hat, ist deshalb so fortzuentwickeln, dass die Divergenzen zu den übrigen europäischen Rechtsordnungen nicht vertieft, sondern möglichst eingeebnet werden. Für das deutsche Recht folgt daraus z. B., dass § 313 BGB nicht als Ausfluss eines fundamental interpretierten Grundsatzes von Treu und Glauben zu immer stärkerer Einschränkung des Grundsatzes der Vertragstreue führen darf, während die Mehrzahl der europäischen Länder der immer weiteren Auflockerung abgeschlossener Verträge durch Berufung auf Treu und Glauben eher kritisch gegenübersteht.54 Vor dem Hintergrund einer gemeinsamen europäischen Rechtskultur kommt keiner einzelnen nationalen Rechtsordnung eine Vorbild- oder Leitfunktion zu; es sind vielmehr durch eine gemeineuropäische Rechtswissenschaft die Grundlagen für eine Annäherung der Privatrechtsordnungen zu schaffen und diese dann langfristig zusammenzuführen, um in einem europäischen Binnenmarkt wettbewerbsverzerrende Wirkungen unterschiedlicher Vertrags- und Schuldrechtsordnungen langsam abzubauen. Interpretationen, die eine nationale Rechtsordnung weiter von den sich entwickelnden Prinzipien einer europäischen Privatrechtsordnung wegführen, sind möglichst zu vermeiden. Richterliche Rechtsfortbildung ist so zu gestalten, dass sie nach Möglichkeit die Lösung wählt, die von den übrigen Rechtsordnungen mitvollzogen werden kann. Ein Wettbewerb konkurrierender Wirtschaftsordnungen um die beste Lösung, der von vielen liberalen Wettbewerbstheoretikern empfohlen wird, widerspricht der Funktion des Rechts, eine gemeinsame Rahmenordnung bzw. eine gemeinsame Basis für eine behinderungs- und diskriminierungsfrei funktionierende Wirtschaftsunion zu schaffen. Für große multinationale Konzerne fallen rechtliche Transaktionskosten von Land zu Land kaum ins Gewicht. Für mittelständische Unternehmen stellen sie häufig kaum überwindbare Barrieren des grenzüberschreitenden Warenaustausches dar. Wenn ein Europa freier Bürger ohne überflüssige Regulierungen entstehen soll, ist der Abbau möglichst vieler Schleusen notwendig, die dem freien Transport von Ideen, Dienstleistungen und Gütern auf den europäischen Kanälen entgegenstehen.55 Uneinigkeit über die richtige rechtliche Rahmengestaltung perforiert auf Dauer eine Gemeinschaft, die nicht nur als Wirtschaftsgemeinschaft, sondern auch als europäische Wertegemeinschaft gegründet und ausgebaut worden ist. 54

Vgl. dazu näher Säcker, Festschrift für Beys, 2003, S. 1405 m. w. N. Dazu bereits überzeugend Scholz/Langer, Europäischer Binnenmarkt und Energiepolitik, 1992, S. 27 ff., 92 ff. 55

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Das Wettbewerbsprinzip ist kein universelles Ordnungsprinzip, sondern bedarf der Einbettung in eine zwingende staatliche Rahmenordnung in den Bereichen Umweltschutz, soziale Mindeststandards und Kultur. Das Herkunftslandprinzip, das jedem Mitgliedsstaat das Recht gibt, seine Vorstellungen vom richtigen Recht über die auf seinem Territorium produzierten Güter, über neu gegründete Gesellschaften und über elektronische Direktwerbung in andere Mitgliedsstaaten zu exportieren, führt, wie wir zuweilen im Kapitalgesellschaftsrecht erleben, zur Nivellierung wirtschaftsethischer Standards, z. B. des Grundsatzes der Aufbringung und Erhaltung eines Mindestkapitals. Die Mitgliedsstaaten sind de facto gezwungen, ihre Normen dem Mitgliedsstaat mit den geringsten Schutzstandards anzupassen.56 Der makroökonomisch mit großen Vorteilen verbundene Prozess der Liberalisierung und Globalisierung des Austausches von Ideen, Waren und Dienstleistungen bedarf nicht der Absicherung durch ethische Deregulierung und Minimalisierung, sondern durch Harmonisierung der rechtlichen Grundüberzeugungen. Das Streben der Mitgliedsstaaten sollte daher nicht auf eine wertfreie europäische Wirtschaftsunion gerichtet sein, es sollte vielmehr eine von ihren abendländischen Wurzeln geprägte Europäische Union sein, die durch gemeinsame, rechtlich fundierte Überzeugungen geprägt ist. Harmonisierung des Rechts auf der Basis gemeinsamer Tradition und Philosophie bleibt eine Zukunftsaufgabe, wenn die rechtliche Domestizierung der mit einem ungebändigten Wettbewerb verbundenen homo homini lupus-Praxis gelingen soll. Ohne Harmonisierung der binnenmarktbezogenen Teile des Privat-, Gesellschafts- und Wirtschaftsrechts bleibt als Motor zur Verwirklichung der europäischen Grundfreiheiten – trotz der damit verbundenen Gefahr ethischer Deregulierung – nur das Herkunftslandprinzip übrig, wie die E-Commerce-Richtlinie57 und die vom Europäischen Gerichtshof58 durchgesetzte Gründungstheorie im Gesellschaftsrecht anschaulich demonstrieren. Im Wettstreit der wirtschaftsbezogenen Rechtsordnungen um die Ansiedlung von Unternehmen drehte sich ohne europäische Harmonisierung die Spirale der Tugend nach unten; ein Laissez-faire-Liberalismus würde den Sieg davontragen. Einem Zuviel an Fürsorge auf der Ebene des Verbraucherschutzrechts stünde dann ein Zuwenig auf der Ebene des Handels- und Gesellschaftsrechts gegenüber.59 Europa wird nur dann „in guter Verfas56 Vgl. zur Kritik daran Kindler, in: Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 11, 4. Aufl. 2006, Rn. 341 ff., 348 ff. 57 RL 2000/31/EG, ABl. 2000 L 178/1. 58 EuGH Slg. 1999, 1459 = NJW 1999, 2027 („Centros“); EuGH NJW 2002, 3614 („Überseering“); EuGH NJW 2003, 3331 („Inspire Art“). 59 Georgiades, Festschrift für Canaris, 2007, fordert daher zutreffend die „fortlaufende Annäherung der Privatrechte Europas untereinander“ für ein gutes Funktionie-

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sung“60 sein, wenn es die rechtlichen Rahmenbedingungen kontinuierlich und konsistent in Richtung einer Europäischen Rechtsunion als gemeinsame Grundlage der Wirtschaftsunion weiterentwickelt.

ren des gemeinsamen Marktes und weist den Richtern die Aufgabe zu, dass jede von ihnen getroffene Entscheidung „einen kleinen Stein für den Bau des Rechts darstellt, das vom europäischen Geist getränkt sein muss“. 60 In Anlehnung an Rupert Scholz’ kluges Buch: „Deutschland – in guter Verfassung“?, 2004, S. 42 ff., 79 ff.

Richtlinienumsetzung „eins zu eins“ Von Jürgen Schwarze I. Fragestellung Es liegt nahe, Rupert Scholz einen Beitrag zu widmen, der nicht nur eine rechtsdogmatische Fragestellung aufgreift, sondern darüber hinaus auch eine rechts- und verfassungspolitische Dimension aufweist. Das zu behandelnde Thema liegt im Schnittfeld von nationalem Verfassungsrecht und Europarecht. Es hat in der jüngsten politischen Debatte beim Streit um die Umsetzung europarechtlicher Antidiskriminierungsrichtlinien in einem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG)1 besondere Aktualität erlangt. Es soll im Folgenden aber weniger um die Frage gehen, ob die „Übererfüllung“ des europarechtlichen Richtliniensolls im AGG politisch sinnvoll ist, sondern um das davon zu trennende Problem, welchen Sinn die Forderung nach einer Richtlinienumsetzung „eins zu eins“ unter juristischen Gesichtspunkten allgemein besitzen kann. Immerhin hat diese Forderung nicht nur in der jüngsten Debatte bei der Umsetzung von Richtlinien in deutsches Recht eine erhebliche Rolle gespielt.2 Als Grundlage für die Diskussion des Problems wird exemplarisch auf den Entwurf des AGG verwiesen. Die exemplarische Bedeutung dieses Gesetzgebungsvorgangs wird nicht dadurch geschmälert, dass der ursprüngliche Entwurf im Laufe des Rechtsetzungsverfahrens abgeschwächt wurde und das Gesetz mittlerweile mit diesen Einschränkungen in Kraft getreten ist.3 1

AGG-Gesetzentwurf der Bundesregierung v. 8.6.2006, BT-Drs. 16/1780. Eine Übersicht mit zahlreichen Beispielen, in denen in der Bundesrepublik Deutschland eine solche „Übererfüllung“ trotz der Forderung nach einer Umsetzung „eins zu eins“ stattgefunden hat, findet sich in einer Stellungnahme des Staatsministeriums von Baden-Württemberg v. 13.4.2005, LT-Drs. 13/3958. Auch in Großbritannien wird die Tendenz zur Überimplementierung von Richtlinien zunehmend kritisiert, s. etwa: House of Lords, Select Committee on the Merits of Statutory Instruments, The Management of Secondary Legislation, 29th Report of Session 2005–06, HL 149-I, S. 41 ff.; House of Commons, Select Committee on Modernisation of the House of Commons, Scrutiny of European Business, 2nd Report of Session 2004–05, HC 465-I, S. 40 ff. Näher hierzu vgl. unter IV. 4. 3 s. den Beschluss des Bundestages v. 29.6.2006, BR-Drs. 466/06; das AGG ist am 18.8.2006 in Kraft getreten, BGBl I, Nr. 39, S. 1897. 2

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Der Beitrag soll vor allem zur Begriffsklärung in der rechtlichen und politischen Debatte dienen. In Form einer Abschichtung des Problems soll zunächst der Bereich behandelt werden, in dem das Postulat der Richtlinienumsetzung „eins zu eins“ aus rechtlichen Gründen unstreitig ist. Sodann wird der hinter der Forderung stehende eigentliche Problembereich erörtert, ob und inwieweit eine Richtlinienumsetzung über das europarechtlich gebotene Maß hinaus jedenfalls rechts- und verfassungspolitisch verhindert werden sollte. Schließlich soll ein Blick auf zusätzliche Facetten der Problematik geworfen werden, die sich aus der Föderalismusreform ergeben. Der Beitrag endet unter Übernahme britischer Empfehlungen mit einem Vorschlag zur künftigen Gesetzgebungspraxis in Deutschland. II. Die gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung zur Umsetzung von EG-Richtlinien Zunächst zum unstreitigen Bereich der Formel Richtlinienumsetzung „eins zu eins“. Es liegt im Wesen einer EG-Richtlinie,4 dass sie als Instrument abgestufter gemeinschaftsrechtlicher Gesetzgebung der Umsetzung bedürftig ist. Gemäß Art. 249 Abs. 3 EG wird für die Mitgliedstaaten auf EGEbene nur das gemeinsame Ziel fixiert, das dann jeweils auf mitgliedstaatlicher Ebene nach Norminhalt und festgelegter Frist in nationales Recht umzusetzen ist. Soweit das gemeinschaftsrechtlich festgelegte Ziel reicht, besteht kraft europäischen Gemeinschaftsrechts für die Mitgliedstaaten trotz aller Anerkennung ihres Umsetzungsspielraumes und der Wahlfreiheit ihrer Umsetzungsmittel eine Pflicht zur Richtlinienumsetzung ohne Abstriche, also eine Umsetzungspflicht „eins zu eins“.5 Um die Gesamtproblematik besser abschätzen zu können, sollen hier die wesentlichen europarechtlichen Folgen und Sanktionen einer mangelnden Richtlinienumsetzung „eins zu eins“ kurz rekapituliert werden. Wenn der Mitgliedstaat seine gemeinschaftlichen Verpflichtungen nicht erfüllt, macht er sich der Vertragsverletzung schuldig, die von der Kommission bzw. einem anderen Mitgliedstaat ggf. durch Klage vor dem EuGH sanktioniert werden kann.6 Im Übrigen besteht die gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung, nationales Recht in jedem Fall richtlinienkonform auszule4 Grundsätzlich zur Problematik der Richtlinie Hilf, M., Die Richtlinie der EG – ohne Richtung, ohne Linie? Hans Peter Ipsen zum 85. Geburtstag, EuR 1993, S. 1 ff. 5 Vgl. EuGH, Rs. C-281/03, Cindu Chemicals BV u. a./College voor de toelating van bestrijdingsmideelen, Slg. 2005, I-08069, Rn. 44. 6 Art. 226 EG und Art. 227 EG.

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gen.7 Ein Vertragsverletzungsverfahren kann nur die Vertragsverletzung feststellen, nicht aber kann der Gerichtshof die erforderliche nationale Umsetzung selbst vornehmen.8 Immerhin kann der Gerichtshof, um seinem eigenen Urteil Nachdruck zu verleihen, in einem auf Veranlassung der Kommission betriebenen zweiten Vertragsverletzungsverfahren gegenüber dem vertragsbrüchigen Mitgliedstaat eine finanzielle Sanktion verhängen.9 Es entspricht ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes, dass den Mitgliedstaat eine objektive Pflicht zur Richtlinienumsetzung mit einer „Erfolgsgarantie“ trifft. Ein Mitgliedstaat kann deswegen im Vertragsverletzungsverfahren seiner Verurteilung auch dann nicht entgehen, wenn er nachweisen sollte, dass ihn an der fehlerhaften Richtlinienumsetzung kein Verschulden trifft.10 Diese objektive Einstandspflicht reicht soweit, dass der Mitgliedstaat als durch die jeweilige zentrale Regierung vertretener Gesamtstaat auch dann die Verantwortung übernehmen muss, wenn nach der innerstaatlichen Verfassungsordnung die fehlerhafte Richtlinienumsetzung auf eine autonome Institution – etwa ein Bundesland, ein Parlament oder sogar ein Gericht – zurückzuführen ist.11 Abgesehen vom Vertragsverletzungsverfahren hat der EuGH zwei weitere Sanktionen entwickelt, die im Fall fehlerhafter Richtlinienumsetzung zu Gebote stehen. Zum einen kann sich der Einzelne nach Ablauf der Umsetzungsfrist gegenüber dem vertragsbrüchigen Mitgliedstaat unmittelbar auf die Richtlinie berufen, wenn sie für letzteren wie die anderen Mitgliedstaaten eine unbedingte und eindeutige Verpflichtung begründet.12 Zum anderen kann der durch die fehlerhafte Richtlinienumsetzung geschädigte Einzelne von dem vertragsbrüchigen Mitgliedstaat sogar Schadensersatz verlangen, wenn die Richtlinie bindende Verpflichtungen für den Staat begründet, de7 Zur richtlinienkonformen Auslegung vgl. zuletzt EuGH, Urteil v. 4.7.2006, Rs. C-212/04, Konstantinos Adeneler u. a./Ellinikos Organismos Galaktos (ELOG), noch nicht in der amtl. Slg., NJW 2006, S. 2465 ff.; s. auch Herrmann, C., Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, 2003, S. 87 ff. 8 Vgl. Art. 228 EG. 9 Art. 228 Abs. 2 EG. 10 Vgl. dazu Schwarze, J., in: ders. (Hrsg.), EU-Kommentar, 2000, Art. 226 EG, Rn. 28 ff. 11 s. nur EuGH, Rs. C-131/88, Kommission/Deutschland, Slg. 1991, I-825, Rn. 71; Rs. C-298/95, Kommission/Deutschland, Slg. 1996, I-6747, Rn. 18; Rs. C-147/94, Kommission/Spanien, Slg. 1995, I-1015, Rn. 4 f.; Rs. C-297/95, Kommission/Deutschland, Slg. 1996, I-6739, Rn. 9. Vgl. zum Ganzen Schwarze, J., in: ders. (Hrsg.), EU-Kommentar (Fn. 10), Art. 226 EG, Rn. 28; Hackspiel, S., in: Rengeling, H.-W./Middeke, A./Gellermann, M. (Hrsg.), Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, 2. Aufl., 2003, § 6, Rn. 39. 12 EuGH, Rs. 8/81, Ursula Becker/Finanzamt Münster-Innenstadt, Slg. 1982, 53 ff.; bestätigt durch BVerfGE, 75, 223 ff.

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ren Erfüllung auch dem verletzten Einzelnen zugute kommen sollte.13 Dieser gemeinschaftsrechtlich begründete Haftungsanspruch ist nach der Rechtsprechung in den Formen des mitgliedstaatlichen (Staats)-Haftungsrechts abzuwickeln.14 Da die sanktionsbewehrte gemeinschaftsrechtliche Verantwortlichkeit des Mitgliedstaates also weit reicht, ist es unter diesem Blickwinkel nur folgerichtig, wenn der Mitgliedstaat sein eigenes Leistungsvermögen bei der Richtlinienumsetzung von vorneherein nüchtern abschätzt und sich gegebenenfalls nicht mehr vornimmt, als ihm gemeinschaftsrechtlich obliegt, d. h. die Richtlinienumsetzung „eins zu eins“. III. Die Beschränkung auf die Richtlinienumsetzung „eins zu eins“ Das eigentliche, mit der knappen Formulierung verbundene Problem stellt sich erst, wenn die Forderung erhoben wird, die Richtlinienumsetzung ausnahmslos oder jedenfalls grundsätzlich auf das europarechtlich unzweifelhaft Gebotene zu begrenzen. Um an dieser Stelle von vornherein Klarheit für die rechts- und verfassungspolitische Debatte zu schaffen, so ist die Feststellung geboten, dass eine solche Forderung aus dem geltenden Recht nicht abzuleiten ist. Ein Gebot der Richtlinienumsetzung „eins zu eins“ ergibt sich weder aus den Regeln des Europarechts noch denjenigen des nationalen Verfassungs- und Verwaltungsrechts. Es ist eine selbständige politische Entscheidung nationaler Regierungen und/oder Parlamente, bei der Umsetzung europäischer Richtlinien gegebenenfalls über deren Vorgaben hinauszugehen oder sich streng an die Vorgaben der Richtlinie zu halten. Damit ist nach demokratischen Grundsätzen eine Zuweisung der Entscheidungsverantwortung verbunden. Für eine Richtlinienumsetzung mit überschießender Regelungstendenz, die über das europarechtlich Gebotene hinausgeht, trifft die Verantwortung allein die nationalen Verfassungsorgane, die diese Regelung beschlossen haben. Diese grundsätzliche Feststellung wird nicht dadurch in Zweifel gezogen, dass es bei der juristischen Bewertung im Einzelfall Grenzbereiche oder Grauzonen geben mag, in denen die Frage nicht einfach zu beantworten ist, ob es sich bei einer bestimmten nationalen Regelung noch um eine funktionsadäquate Richtlinienumsetzung „eins zu eins“ oder schon um eine überschießende Richtlinienumsetzung handelt. Denn bei der Richtlinienum13 Grundlegend EuGH, verb. Rs. C-6/90 u. C-9/90, Francovich u. a./Italien, Slg. 1991, I-5357. 14 EuGH, verb. Rs. C-46/93 u. C-48/93, Brasserie du Pêcheur/Deutschland und The Queen/Secretary of State for Transport („Factortame“), Slg. 1996, I-1029; verb. Rs. C-178/94, C-179/94, C-188/94, C-189/94 u. C-190/94, Dillenkofer u. a./ Deutschland, Slg. 1996, I-4845; vgl. hierzu Oppermann, T., Europarecht, 3. Aufl., 2005, § 4, Rn. 21 ff.

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setzung geht es nicht darum, einen gemeinschaftlichen Rechtstext als solchen lediglich zu übernehmen, sondern ihn in adäquater Form in das eigene nationale Recht einzupassen. Die Forderung nach einer Richtlinienumsetzung „eins zu eins“ versteht sich im Übrigen nicht von selbst, sondern sie bedarf ihrerseits der Begründung und Rechtfertigung. Nachfolgend sollen einige allgemeine Gesichtspunkte herausgearbeitet werden, anhand derer sich die Richtlinienumsetzung im Einzelfall im Hinblick auf die hier behandelte Problematik als rechts- und verfassungspolitisch sinnvoll oder als verfehlt bewerten lässt. Das zuletzt genannte Abgrenzungsproblem, zwischen noch funktionsadäquater Richtlinienumsetzung „eins zu eins“ und einer darüber hinausreichenden „überschießenden“ Umsetzung15 zu unterscheiden, deutet bereits daraufhin, dass es durchaus auch akzeptable Gründe geben mag, in geeigneten Fällen über eine wortgetreue Umsetzung hinauszugehen. Dazu gehört zunächst, dass der Richtlinienerlass, weil er ohnehin eine Neuordnung des nationalen Rechts bedingt, zum Anlass für eine weiterreichende neue Gestaltung eines bestimmten (Teil-)Rechtsgebietes genommen wird, die ohnehin beabsichtigt war oder jedenfalls bei vernünftiger Betrachtung in Angriff genommen werden musste. Sodann kann dazu rechnen, dass die weiterreichende Richtlinienumsetzung eine systematische, in sich stimmige Rechtsreform zustande bringen soll, die gegenüber einer rein punktuellen Veränderung des nationalen Rechts unter dem Druck Europas vorzugswürdig erscheint. Dafür sollte dann allerdings eine nachprüfbare, einleuchtende Begründung geliefert werden. Wie oben bereits erwähnt, hat eine wortgetreue Umsetzung zumindest für sich, dass sie das aus weitergehenden Reformplänen resultierende Risiko einer nicht fristgerechten Umsetzung ausschaltet. Weil europarechtlich zwingend geboten, lässt sich der Richtlinienumsetzung „eins zu eins“ in der politischen Auseinandersetzung letztlich nicht erfolgreich widersprechen. Die Hauptgründe, die gegen eine überschießende Richtlinienumsetzung sprechen, sind die einleuchtenden Gebote, die Gesetzesflut nicht weiter anschwellen zu lassen, sondern einzudämmen16 und damit einhergehend Bürokratie ab- statt aufzubauen.17 Auch der moderne industrielle Staat, der sich im Zeichen der Globalisierung komplexen Steuerungsnotwendigkeiten aus15 Zu den Auslegungsproblemen bei überschießender Umsetzung siehe u. a. Lutter, M., Zur überschießenden Umsetzung von Richtlinien der EU, in: Gedächtnisschrift für M. Heinze, 2005, S. 571 ff.; Brandner, G., Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, 2003, S. 91 ff. 16 s. dazu Scholz, R., Deutschland – In guter Verfassung?, 2004, S. 203 ff. 17 A. a. O.; vgl. auch den Abschlußbericht des Sachverständigenrats „Schlanker Staat“, Band 1, 2. Aufl., 1998, S. 15 ff.

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gesetzt sieht,18 kann im Interesse der Erhaltung lebenswerter liberaler Verhältnisse für seine Bürger und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit seiner Wirtschaft auf eine ständige Überprüfung nicht verzichten, ob sich der gesamte Umfang gesetzlicher Regulierung und der damit verbundene bürokratische Aufwand nicht weiter reduzieren lässt.19 Dies bedeutet, dass die Umsetzung europäischer Richtlinien auch nicht verdeckt zum Anlass genommen werden darf, um gerade gegenläufig zu verfahren und ohne sachlich zwingenden Grund zusätzliche gesetzliche Regelungen und zusätzliche Bürokratie zu schaffen. Ferner erscheint die überschießende Richtlinienumsetzung auch unter dem Gesichtspunkt demokratischer Verantwortungszuweisung20 problematisch, insbesondere wenn nicht klar erkennbar ist, welche Aspekte des nationalen Rechtsaktes tatsächlich der Umsetzung einer EG-Richtlinie dienen und welche vielmehr aus nationalen Interessen und Erwägungen herrühren. Es kommt ein weiterer Gesichtspunkt hinzu, der gegen eine überschießende Richtlinienumsetzung spricht. Die Richtlinien sollen bekanntlich eine Angleichung derjenigen nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften bewirken, die sich insbesondere zur Herstellung und Aufrechterhaltung eines europäischen Binnenmarktes als erforderlich erweisen (Art. 95 EG). Dieses Ziel, bestimmte einheitliche Rechtsregeln für den Binnenmarkt zu schaffen, kann wiederum dadurch konterkariert werden, dass die nationalen Umsetzungsregeln deutlich über das in der Richtlinie festgelegte Ziel hinausgehen und dadurch möglicherweise neue rechtliche Ungleichheiten schaffen,21 die durch den Einsatz der Richtlinien gerade abgebaut werden sollten. Lässt man sich von diesen Gesichtspunkten bei der Bewertung des Entwurfs eines Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes als Beispielsfall leiten, so handelt es sich unstreitig um einen Fall einer überschießenden Richtlinienumsetzung. Der Entwurf sah in seinem den Zivilrechtsverkehr betreffenden Abschnitt 3 zusätzliche Diskriminierungsverbote (Religion, Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexuelle Identität) vor, deren Anerkennung von den gemeinschaftlichen Antidiskriminierungsrichtlinien nicht verlangt wird.22 Letz18 Näher zur Steuerungsnotwendigkeit im modernen Staat Zippelius, R., Allgemeine Staatslehre, 14. Aufl., 2003, S. 366 ff. 19 Vgl. hierzu die Pressemitteilung des BDI v. 16.5.2006 (49/06), abrufbar unter: http://www.bdi-online.de/. 20 Vgl. zur parlamentarischen Verantwortlichkeit Stern, K., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl., 1984, S. 988 f.; Scholz, R., Deutschland – In guter Verfassung? (Fn. 16), S. 94; Badura, P., Staatsrecht, 3. Aufl., 2003, S. 521. 21 v. Danwitz, T., Wege zu besserer Gesetzgebung in Europa, JZ 2006, S. 1 (7 f.). 22 Vgl. §§ 19 ff. AGG-Entwurf (Schutz vor Benachteiligung im Zivilrechtsverkehr) sowie die Begründung des Entwurfs, BT-Drs. 16/1780, S. 25 f. Siehe dazu

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tere (die Antirassismusrichtlinie 2000/43/EG v. 29.6.2000, die Rahmenrichtlinie 2000/78 EG v. 27.11.2000, die revidierte Gleichbehandlungsrichtlinie 2002/73/EG v. 23.9.2000 und die vierte Gleichstellungsrichtlinie zur Gleichstellung der Geschlechter außerhalb des Erwerbslebens 2004/113/EG v. 13.12.2004) beschränken sich bei den unzulässigen Diskriminierungsmerkmalen auf Rasse, ethnische Herkunft und Geschlecht. Wenn nun in der politischen Debatte gegen den deutschen Gesetzentwurf das Gebot der Richtlinienumsetzung „eins zu eins“ angeführt wird, so geht es augenscheinlich weniger um die allgemeinen Prinzipien der Richtlinienumsetzung, als um die Sache selbst. Die Kritik entzündet sich m. E. zu Recht daran, dass der deutsche Entwurf die Diskriminierungsverbote im Verhältnis zu den europäischen Richtlinien ausweitet und insbesondere in § 19 eine so weitreichende Regelung zum zivilrechtlichen Benachteiligungsverbot vorsieht.23 Es liegt im Interesse der Transparenz der öffentlichen Debatte, dies auch so zu benennen. Zugleich wird dadurch erkennbar, wer im Verhältnis von EG und Mitgliedstaaten für welche Regelung die Verantwortung trägt: die EG für die verschiedenen Antidiskriminierungsrichtlinien, deutsche Stellen für den überschießenden Teil der nationalen Umsetzungsgesetzgebung. Man wird hier schwerlich davon sprechen können, dass ohne Ausweitung der Diskriminierungsverbote eine in sich stimmige, systematisch geordnete nationale Gesetzgebung nicht zu erzielen gewesen wäre. Immerhin hätte man eine solche Neuregelung auch losgelöst von den Geboten der Richtlinienumsetzung später erwägen können. Der Kern des Problems liegt also weniger in der Richtlinienumsetzung „eins zu eins“, als in der Abwägung der konkreten Vor- und Nachteile, die der deutsche Gesetzentwurf mit sich bringt. Dazu liefern die Empfehlungen der beteiligten Bundesratsausschüsse für die 823. Sitzung des Bundesrats vom 16. Juni 2006 eine entschiedene, m. E. sehr zutreffende Stellungnahme.24 Danach bringt das Überschreiten der europarechtlichen Vorgaben in concreto „erhebliche zusätzliche bürokratische und finanzielle Belastungen für die deutsche Wirtschaft mit sich und ist nicht geeignet, die Freiheit des Einzelnen mit berechtigten Anliegen auch die Pressemitteilung des Bundesministeriums der Justiz v. 4.5.2006, abrufbar unter: http://www.bmj.bund.de. 23 Zu den Auswirkungen des AGG auf den Zivilrechtsverkehr Maier-Reimer, G., Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz im Zivilrechtsverkehr, NJW 2006, S. 2577 ff. 24 Vgl. die Empfehlungen der Ausschüsse an den Bundesrat v. 6.6.2006, BR-Drs. 329/1/06, S. 7 f.; s. dazu auch die Pressemitteilung des baden-württembergischen Justizministeriums v. 31.5.2006 „Baden-Württemberg stellt zum Antidiskriminierungsgesetz Änderungsanträge“, abrufbar unter: http://www.jum.badenwuerttemberg.de.

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von Wirtschaft und Gesellschaft zu einem vernünftigen Ausgleich zu bringen“25. An dieser prinzipiellen Beurteilung ändert sich nichts dadurch, dass die große Koalition das Gleichbehandlungsgesetz zuletzt in einzelnen Punkten entschärft hat.26 Als weiterer Testfall zum Thema überschießender Richtlinienumsetzung aus jüngster Zeit lässt sich der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Umsetzung der europäischen Richtlinie über Mindesttransparenzanforderungen für börsennotierte Gesellschaften27 in deutsches Recht anführen.28 Schließlich sei der Hinweis gestattet, dass das Problem durch die mittlerweile in Kraft getretene Föderalismusreform29 sicherlich eine neue Dimension erfahren hat. Dies gilt insbesondere für diejenigen Bereiche, in denen die Länder unter bestimmten Voraussetzungen von der Bundesgesetzgebung abweichen dürfen. Durch den neuen Typus der konkurrierenden Gesetzgebung mit Abweichungsbefugnis der Länder kann der Bund zwar auch künftig für die fristgerechte Erfüllung der auf EU-Ebene entstehenden Umsetzungsverpflichtungen sorgen, die Länder können aber sodann in bestimmten Bereichen von den Vorgaben des Bundesrechts abweichen.30 Denkbar erscheint nun, dass dieser neue Kompetenztypus der Überimplementierung von EU-Richtlinien durch den Bundesgesetzgeber entgegenwirkt.31 Dieser müsste schließlich damit rechnen, dass einzelne Länder eine Umsetzung 25

A. a. O., Begründung zu § 20. s. die Nachweise in Fn. 3. 27 RL 2004/109/EG v. 15.12.2004 zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind (ABl. L 390/38 v. 31.12.2004). 28 BR-Drs. 579/06 v. 11.8.2006; vgl. diesbezüglich die schriftliche Frage des Abgeordneten F. Schäffler sowie die Antwort der Bundesregierung v. 15.8.2006, BT-Drs. 16/2415, S. 32 ff. sowie die Änderungsempfehlungen des Wirtschaftsausschusses des Bundesrates, der mehrfach eine strikte Orientierung der Umsetzung an den entsprechenden Vorgaben der Transparenzrichtlinie fordert und die im Gesetzentwurf vorgesehene Überimplementierung kritisiert, vgl. BR-Drs. 579/1/06. Kritisch hinsichtlich des Entwurfs eines Transparenzrichtlinie-Umsetzungsgesetzes auch Gottschalk, B., Testfall Transparenzrichtlinie, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 15.9.2006, S. 18. 29 Das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v. 28.8.2006 ist am 1.9.2006 in Kraft getreten, BGBl I, Nr. 41, S. 2034; vgl. auch das Föderalismusreform-BegleitG v. 5.9.2006, BGBl I, Nr. 42, S. 2098. 30 Art. 72 Abs. 3, 84 Abs. 1 GG n. F. Art. 125b GG n. F. regelt Übergangsfristen für die Abweichungsgesetzgebung der Länder. 31 Vgl. hierzu auch den Stenographischen Bericht der gemeinsamen öffentlichen Anhörung von Sachverständigen durch den Rechtsausschuss des Bundestages und den Ausschuss für Innere Angelegenheiten des Bundesrates v. 15./16.5.2006, S. 10, 14 (abrufbar unter: http://www.bundestag.de/ausschuesse/a06/foederalismusreform/ index.html). 26

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„eins zu eins“ favorisieren und die auf Bundesebene erfolgte Umsetzung korrigieren. Zugleich wird deutlich, dass der neue Kompetenztypus der konkurrierenden Gesetzgebung mit Abweichungsbefugnis der Länder geeignet ist, zahlreiche neue (europarechtliche) Probleme aufzuwerfen. Er kann unter Umständen nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch auf europäischer Ebene eine erhebliche Rechtsunsicherheit herbeiführen. So stellt sich etwa die Frage nach der Einhaltung der in der Richtlinie vorgesehenen Übergangsfrist, wenn die Länder in Gebieten von ihrem Abweichungsrecht Gebrauch machen, die wesentliche Gemeinschaftskompetenzen berühren – wie etwa im Umweltrecht. Auch dürfte für die Kommission die Überprüfung, ob eine EG-Richtlinie ordnungsgemäß und fristgerecht umgesetzt wurde, deutlich erschwert werden, wenn eine Vielzahl verschiedener nationaler Umsetzungsregelungen existiert. Unabhängig davon, wie auf nationaler Ebene im Bund-Länder-Verhältnis die Verantwortung bei nicht fristgerechter oder mangelhafter Umsetzung von EG-Richtlinien haushaltsmäßig und finanziell verteilt wird,32 ist aus der Sicht des Europarechts jedenfalls eindeutig, dass der Gesamtstaat im Außenverhältnis gegenüber der EU auch bei abweichender Richtlinienumsetzung durch die Bundesländer die Verantwortung trägt. IV. Ergebnisse Welche Folgerungen lassen sich nun aus diesen Erörterungen ziehen? 1. Die Formulierung Richtlinienumsetzung „eins zu eins“ lässt verschiedene Deutungen zu. Zunächst beschreibt sie eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten nach geltendem Gemeinschaftsrecht. Sie sind gehalten, die vereinbarten europarechtlichen Zielsetzungen ohne Abstriche – „eins zu eins“ – innerhalb der dafür bestimmten Frist in nationales Recht umzusetzen. Demgegenüber wird die Formulierung in der gegenwärtigen politischen Debatte in dem Sinne verwendet, dass eine Richtlinienumsetzung nicht mehr tun solle, als die bestehenden gemeinschaftsrechtlichen Gebote zu erfüllen. Insoweit hat sie keinen normativ-juristischen, sondern einen politischen Gehalt. Sie muss deshalb, wenn sie als Forderung in der Debatte verwendet wird, sachlich weiter begründet werden. 32 Auch diese Frage wurde im Rahmen der Föderalismusreform behandelt: Art. 104a Abs. 6 S. 1 GG n. F. normiert nun ausdrücklich den Grundsatz der Haftung nach der innerstaatlichen Zuständigkeits- und Aufgabenverteilung. Die grundgesetzliche Regelung wird durch ein Gesetz zur Lastentragung im Bund-Länder-Verhältnis bei Verletzung von supranationalen oder völkerrechtlichen Verpflichtungen konkretisiert; vgl. Art. 15 des Föderalismusreform-BegleitG v. 5.9.2006, BGBl I, Nr. 42, S. 2098.

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2. Hierzu ist festzustellen, dass ein Vergleich der Richtliniengebote und der Umsetzungsakte des jeweiligen nationalen Rechts eine wesentliche Funktion im Rahmen demokratischer Verantwortungszuweisung zu erfüllen vermag. Folgt die Richtlinienumsetzung genau den europarechtlichen Vorgaben, sind die Gemeinschaftsorgane, die an ihrem Erlass mitgewirkt haben, für die Zielsetzung, die Mitgliedstaaten demgegenüber im Rahmen ihres Handlungsspielraums allein für die Art und Weise der Umsetzung verantwortlich. Dass auch im letzteren Bereich eine echte, eigenständige Verantwortung der Mitgliedstaaten besteht, hat die Entscheidung des BVerfG zum Europäischen Haftbefehl33 eindrucksvoll unterstrichen, in dem das Gericht den Bundestag dafür kritisiert hat, die bestehenden Handlungsspielräume bei der nationalen Umsetzung des EU-Rahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbefehl nicht hinreichend unter Berücksichtigung der Vorgaben des Grundgesetzes genutzt zu haben.34 Für das prinzipielle Problem der Verantwortlichkeit der mitgliedstaatlichen Parlamente bei der Art und Weise der Umsetzung bleibt das Beispiel auch dann aufschlussreich, wenn man berücksichtigt, dass es beim Erlass des (deutschen) Haftbefehlsgesetzes nicht um die Umsetzung einer europäischen Richtlinie, sondern eines europäischen Rahmenbeschlusses gegangen ist.35 Davon unberührt bleibt, dass die Mitgliedstaaten und in Sonderheit ihre Regierungen regelmäßig auch der Richtlinie auf europäischer Ebene zugestimmt haben. Dieser Gesichtspunkt spielt auch eine Rolle bei dem nicht selten zu beobachtenden Abschieben der Verantwortung auf „Brüssel“. Dadurch wird die Akzeptanz Europas bei den Bürgern nicht befördert. 3. Für den Fall, dass der nationale Gesetzgeber eine Richtlinie „übererfüllt“, trägt er dann nicht nur für die Art und Weise der Umsetzung, sondern auch für die hinzugefügten weiteren legislativen Elemente die politische Verantwortung. Im Rahmen der Debatte um den Europäischen 33

BVerfGE 113, 273. BVerfGE 113, 273 (300 ff.). Im Rahmen der Anhörung vor dem BVerfG am 13./14.4.2005 hatten Bundestagsabgeordnete vorgebracht, von einer Pflicht „zur eins zu eins Umsetzung“ der Vorlage ausgegangen zu sein. Das BVerfG hat das EuHbG mit Urteil v. 18.7.2005 (2 BvR 2236/04) für nichtig erklärt. Ausführlich zum Ganzen: Schorkopf, F. (Hrsg.), Der Europäische Haftbefehl vor dem Bundesverfassungsgericht, 2006; vgl. auch Böhm, K. M., Das Europäische Haftbefehlsgesetz und seine rechtsstaatlichen Mängel, NJW 2005, S. 2588 ff.; v. Unger, M., „So lange“ nicht mehr: Das BVerfG behauptet die normative Freiheit des deutschen Rechts, NVwZ 2005, S. 1266 ff. Die Neufassung des Gesetzes ist am 2.8.2006 in Kraft getreten, s. BGBl I, Nr. 36, S. 1721. 35 Rahmenbeschluss des Rates gemäß Art. 31, 34 Abs. 2 lit. b) EU v. 13.6.2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, 2002/584/JI, ABl. 2002, L 190/1 ff. 34

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Verfassungsvertrag hat die Frage einer besseren Kompetenzabgrenzung zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten vor allem zur leichteren Einforderbarkeit der jeweiligen politischen Verantwortung eine maßgebliche Rolle gespielt.36 Diese Frage wird bereits nach geltendem Gemeinschaftsrecht vor allem bei der Richtlinienumsetzung relevant. Dieser Beitrag hat versucht, darzutun, dass eine überimplementierende Richtlinienumsetzung nicht per se mit Mängeln behaftet sein muss. Wer über die Zielsetzung einer Richtlinie hinausgeht, trägt dafür aber in jedem Fall die volle politische Verantwortung. Hinter der europäischen Richtlinie kann er sich insoweit nicht verstecken. 4. Was die parlamentarische Praxis anbelangt, ist an dieser Stelle ein Blick auf unsere britischen Nachbarn aufschlussreich. Dort haben sich in jüngerer Zeit in beiden parlamentarischen Kammern Ausschüsse intensiv mit der Stärkung der Rolle des Parlaments bei der Entscheidung über europäisch veranlasste Gesetzgebung – nicht zuletzt bei der Umsetzung europäischer Richtlinien in nationales Recht – befasst.37 Auch dort ist das Problem überschießender Richtlinienumsetzung („gold plating“) wohl bekannt. Die Statutory Instruments, die von der Exekutive zur Umsetzung von europäischem Sekundärrecht erlassen werden und formal einer parlamentarischen Kontrolle unterliegen,38 werden nicht nur von einem gemeinsamen Ausschuss beider Häuser, dem Joint Committee on Statutory Instruments im Hinblick auf rechtlich und technisch bedeutsame Aspekte hin überprüft.39 Seit April 2004 werden alle Statutory Instruments zudem im Hinblick auf ihre politische und administrative Zweckmäßigkeit von einem im House of Lords eingerichteten Select Committee on the Merits of Statutory Instruments analysiert. Zu den Aufgaben dieses Ausschusses zählt es insbesondere auch, das Plenum auf eine möglicherweise unsachgemäße Umsetzung von sekundärem Ge36

Vgl. Art. I-11 ff. des Vertrages über eine Verfassung für Europa; vertiefend Götz, V., Kompetenzverteilung und Kompetenzkontrolle in der Europäischen Union, in: Schwarze, J. (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Konvents, 2004, S. 43 ff. 37 House of Lords, Select Committee on the Merits of Statutory Instruments, The Management of Secondary Legislation (Fn. 2), S. 41 ff.; House of Commons, Select Committee on Modernisation of the House of Commons, Scrutiny of European Business (Fn. 2), S. 40 ff. 38 In Großbritannien erfolgt die Umsetzung von europäischem Sekundärrecht weitgehend durch sog. subordinate legislation, also durch Akte der Exekutive und nicht durch Parlamentsgesetz; vgl. sec. 2 (2) des European Communities Act 1972. Die Ausnahmen sind in Schedule 2 niedergelegt. s. hierzu Bradley, A. W./Ewing, K. D., Constitutional and Administrative Law, 13. Aufl., 2003, S. 650 ff.; Hood Phillips, O./Jackson, P./Leopold, P., Constitutional and Administrative Law, 8. Aufl., 2001, S. 668 ff. 39 House of Commons, S. O. Nr. 151.

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meinschaftsrecht aufmerksam zu machen.40 In einem aktuellen Bericht kritisierte der Ausschuss im Hinblick auf die Umsetzung von Richtlinien die Tendenz der Regierung, mit einem Statutory Instrument weitergehende, aus dem innerstaatlichen Bereich entspringende Anliegen zu verbinden.41 Durch diese Praxis des „gold-plating“ entstünden teilweise unnötig komplexe, belastende oder gar unverhältnismäßige Regelungen, die von dem umzusetzenden EU-Rechtsakt gar nicht verlangt würden. In dieselbe Richtung geht die Kritik des Modernisierungsausschusses des House of Commons. In einem einschlägigen Bericht dieses Ausschusses wird der Abgeordnete Chris Huhne mit dem Satz zitiert: „During this (transposition) process, it is quite possible for departments to hang all sorts of their own decorations onto the Christmas tree before it arrives as a statutory instrument.“42 Der dort vorgeschlagenen Empfehlung für die parlamentarische Beratung der Umsetzungsakte für europäische Richtlinien sollte man sich m. E. auch in Deutschland anschließen. In pragmatisch-nüchterner Betrachtung geht der Bericht davon aus, dass es aus Anlass der Umsetzung europäischer Richtlinien immer wieder zu Umsetzungsakten kommen darf und wird, die über die von der jeweiligen Richtlinie geforderten Vorgaben hinausgehen. Allerdings sollten die Mitglieder des Parlaments ihre abschließende Entscheidung in voller Kenntnis treffen, wem sie etwas schuldeten: der europäischen Richtlinie oder den darüber hinaus reichenden Vorschlägen ihrer eigenen Regierung.43 So könnte man auch bei uns verfahren. Bei Gesetzesvorschlägen zur Umsetzung europäischer Richtlinien müsste die Begründung jeweils genau angeben, welche Maßnahmen zur Erfüllung der Richtlinie zwingend getroffen werden müssten und welche zusätzlichen, nicht von der Richtlinie erzwungenen Vorschläge ggf. zusätzlich unterbreitet werden. Damit wären jedenfalls bei der parlamentarischen Entscheidung mehr Transparenz und eine klarer herausgestellte Verantwortlichkeit in dem komplexen Prozess der Gesetzgebung bei der Umsetzung europäischer Richtlinien geschaffen.

40 Die Orders of reference des am 17.12.2003 eingerichteten Ausschusses sind abrufbar unter: http://www.parliament.uk/parliamentary_committees/merits.cfm. 41 House of Lords, Select Committee on the Merits of Statutory Instruments (Fn. 2), HL 149-I, Ziff. 108 ff. sowie die Protokolle der Anhörungen in HL 149-II. 42 House of Commons, Select Committee on Modernisation of the House of Commons, Scrutiny of European Business (Fn. 2), S. 40 (Ziff. 102). 43 Ebd., S. 42 (Ziff. 107 f.). Vgl. hierzu auch die Umsetzungs-Leitlinien der britischen Regierung: Regulatory Impact Unit, Cabinet Office, Transposition Guide: how to implement European directives effectively, März 2005, abrufbar unter: http://www.cabinetoffice.gov.uk/.

Die europäischen Institutionen und die Nationalstaaten – Die Rechtskultur im Bau Europas Von Christian Starck I. Einführung Der Kongress1 soll die Frage beantworten: Wohin geht Europa? Als Themenschwerpunkte sind angegeben: Kultur, Völker, Institutionen. Gegenstand der Eröffnungssitzung sind die kulturellen Fundamente. Der Theologe spricht über die religiöse Dimension Europas,2 der Philosoph über die anthropologischen Fundamente und die europäische Identität.3 Dem Juristen bleiben die Institutionen und die darin zum Ausdruck kommende Rechtskultur. Die Komposition der Themen der drei Eröffnungsvorträge zeigt ein sicheres Gespür für die Tiefendimension der europäischen Realitäten. Denn die europäische Rechtskultur mit ihren Institutionen hat tiefe Wurzeln im Christentum und in der abendländischen Philosophie. Das gilt für die Institutionen der Europäischen Union ebenso wie für diejenigen der Mitgliedstaaten. Die innere Verwandtschaft der nationalen und unionalen Institutionen ist eine unabdingbare Voraussetzung der Union europäischer Staaten. Das kommt sehr schön in Art. 23 Abs. 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland zum Ausdruck, der 1992 eingefügt worden ist: „Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderalen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet“. 1 Vortrag vom 28. September 2006, gehalten in Rom zur Eröffnung des 5. Europäischen Symposions der Universitätslehrer in Vorbereitung auf die europäische Begegnung der Universitätslehrer des Jahres 2007 anlässlich des 50. Jahrestages des Vertrages von Rom, organisiert vom Ufficio per la Pastorale Universitaria – Vicariato di Roma. Der Vortrag wird in italienischer Sprache in dem Kongressband zusammen mit den anderen Vorträgen dieser Tagung veröffentlicht. 2 Cañizares Llovara, Antonio Card., La dimensione religiosa in Europa. 3 Brague, Remi, Fondamenti antropologici e identità europea.

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Ähnliche Homogenitätsklauseln gibt es auch in anderen Verfassungen.4 Fehlen sie in einer Verfassung, gilt das Homogenitätserfordernis aus dem Selbstverständnis des Mitgliedstaates. Als die Europäische Gemeinschaft 1957 als Wirtschaftsgemeinschaft gegründet wurde, war stillschweigende Voraussetzung unter den sechs Gründerstaaten, dass ihre Rechtsordnungen auf gleichen Rechtsgrundsätzen beruhen, auf deren Grundlage Gemeinschaftsrecht geschaffen werden konnte. Das galt auch für später beitretenden Staaten. Einige von ihnen hatten autoritäre oder kommunistische Diktaturen überwunden. Diese neuen Mitgliedstaaten, die früher diktatorisch regiert wurden, haben sich neue Verfassungen gegeben – zunächst Griechenland, Portugal und Spanien, dann die osteuropäischen Länder –, die es ihnen ermöglichten, jeweils ca. 10 Jahre später der Europäischen Union beizutreten. Es gilt nämlich nicht nur das Homogenitätserfordernis mitgliedstaatlicher Verfassungen, sondern auch ein unionales Homogenitätserfordernis (Art. 6 EUV). Dieses enthält die gemeinsamen Grundsätze der Mitgliedstaaten, die diese nicht verletzen dürfen (Art. 7 EUV) und die neuen Mitgliedstaaten erfüllen müssen. Das Recht ist ein Kulturphänomen ersten Ranges. Es ist Kulturträger. Wegen der stabilisierenden Kraft seiner Institutionen fördert, ja schafft und prägt es auch selbst die Kultur. Kultur ist ein Erzeugnis des Menschen, das in der Folge der Generationen entwickelt wird. Kultur wird im Wesentlichen von dem Bild bestimmt, das der Mensch von sich selber hat. Und das Recht als Kulturphänomen verfestigt dieses Menschenbild. Das Menschenbild der europäischen Kultur ist wesentlich bestimmt durch das Christentum mit seinen antiken und jüdischen Wurzeln. Das hat auch die Aufklärung nicht geändert. Denn diese ist nur aus der Kontinuität der europäischen Geschichte zu verstehen. Keine andere Zivilisation der Welt hat eine nachhaltige Aufklärung hervorgebracht. Die Nachhaltigkeit beruht darauf, dass – entgegen manchem äußeren Anschein – mit der Aufklärung keine Gegenkultur errichtet worden ist. Vielmehr ist an voraufklärerische Phänomene angeknüpft worden, z. B. an Vorformen der Menschenrechte in der spanischen Spätscholastik,5 an die Zweiteilung des Rechts im Ius utrumque6 und die Unterscheidung von Temporalia und Spiritualia.7 4 Kap. 10 § 5 Schwedische Verfassung, Art. 28 Abs. 3 Griechische Verfassung, schwächer in den Anforderungen z. B. Art. 7 Abs. 6 Portugiesische Verfassung, Art. 7 Abs. 2 Satz 1 Slowakische Verfassung, Art. 6 Abs. 4 Ungarische Verfassung. Zu Frankreich siehe Conseil constitutionnel, Entscheidung v. 10.6.2004. 5 Starck, Christian, Die philosophischen Grundlagen der Menschenrechte, in: Festschrift für Peter Badura, 2004, S. 553, 559 ff. 6 Starck, Christian, Freiheit und Institutionen, 2002, S. 53 ff. mit weiteren Nachweisen. 7 Tierney, B., The Crisis of Church and State, New Jersey 1964, S. 13 ff.; Spinelli, L., Lo Stato e la Chiesa, Turin 1988, S. 7 ff.; Caron, P. V., Corso di Storia

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Schaut man in den tiefen Brunnen der Vergangenheit, erkennt man Quellen unserer Rechtskultur in der Vorstellung des Menschen als Ebenbild Gottes, in der Erbsündenlehre, in der christlichen Caritas und in Frühformen der Trennung von Kirche und politischer Herrschaft.8 Hieraus sind die wesentlichen Institutionen gebildet worden, die die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten – bei all ihrer Verschiedenheit im Einzelnen – gemeinsam charakterisieren. Ich werde über vier wichtige Institutionen sprechen: die Gewaltenteilung, die Menschenrechte, den sozialen Auftrag und die Subsidiarität. II. Gewaltenteilung Die Erbsündenlehre Augustins auch in ihrer reformatorischen und tridentinischen Gestalt hat großen Einfluss auf die Staatsphilosophie und die politische Praxis. Die Einsicht, dass der Mensch aus „krummem Holz gewachsen ist“9 (Kant), d. h. korrumpierbar ist, hat im Laufe der Zeit zu der Erkenntnis geführt, dass die Herrschaft von Menschen über Menschen Regierungssysteme verlangt, in die gegenseitige Kontrollen eingebaut sind. Diese auf antike Autoren und auf Erfahrungen mit „gemischten Verfassungen“ zurückgehenden Instrumente ermöglichen Kontrollen, Öffentlichkeit, Artikulation von Interessen und Diskussion, die sämtlich dazu geeignet sind, die Wirkungen der Mängel der menschlichen Natur zu verringern. Diese Instrumente sind seit dem Ende des 18. Jhds. vielfältig erprobt und verbessert worden.10 Wir fassen sie heute in den Prinzipien der Demokratie und des Rechtsstaates zusammen. Insbesondere die Rechtsstaatlichkeit bezeichnet inhaltliche und formale Grenzen der Staatsgewalt. Die Europäische Union, deren Mitgliedstaaten sämtlich – wenn auch auf verschiedenartige Weise – demokratisch und gewaltenteilig organisiert, d. h. demokratische Rechtsstaaten sind, muss diesen Grundsätzen selbst entsprechen. Zur Bedeutung des Demokratieprinzips in der Union hat das Bundesverfassungsgericht 1993 in seinem Urteil über den Vertrag von Maastricht zutreffend ausgeführt:11 „Nimmt ein Verbund demokratischer Staaten hoheitliche Aufgaben wahr und übt dazu hoheitliche Befugnisse aus, sind es zuvörderst die Staatsvölker dei Rapporti fra Stato a Chiesa, Mailand 1981, S. 5 ff.; Gaudemet, J., Eglise et Cité, Paris 1994, S. 137. 8 Vgl. dazu Starck, Christian, Le radici comuni dell’Europea, e la loro importanza par l’ordinamento giuridico dell’Unione Europea, in: D’Atena/Grossi (cura) Tutela dei diritti fondamentali e costituzionalismo multilevello, 2004, p. 3 e seq. 9 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), Sechster Satz. 10 Siehe The Federalist (1788) No. 9, 51. 11 BVerfGE 89, 155, LS 3a.

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der Mitgliedstaaten (Hervorhebung C. S.), die dies über die nationalen Parlamente demokratisch zu legitimieren haben. Mithin erfolgt demokratische Legitimation durch die Rückkoppelung des Handelns europäischer Organe an die Parlamente der Mitgliedstaaten; hinzu tritt – im Maße des Zusammenwachsens der europäischen Nationen zunehmend – innerhalb des institutionellen Gefüges der Europäischen Union die Vermittlung demokratischer Legitimation durch das von den Bürgern der Mitgliedstaaten (Hervorhebung C. S.) gewählte Europäische Parlament“. Die demokratische Legitimation ist dualistisch. In Art. 1 Abs. 1 des Vertrages über eine Verfassung für Europa (VVE) heißt es: „Geleitet vom Willen der Bürger und Staaten Europas“. Die demokratische Repräsentation, Integration und Kontrolle durch Wahlen in der Europäischen Union ist in doppelter Weise eingeschränkt. Die Unionsbürger sind im Europäischen Parlament weiterhin degressiv proportional vertreten. Die Bürger kleiner Staaten sind überproportional repräsentiert. Entsprechendes gilt für Abstimmungen im Rat. Berücksichtigt man die weitreichenden Zuständigkeiten der Union, die heute die nationale Gesetzgebung stark binden, ist die demokratische Legitimation und Kontrolle zu schwach.12 Was die Rechtsstaatlichkeit anbelangt, werden zwar die wesentlichen Verwaltungsgrundsätze beachtet.13 Aber bei der Kontrolle des Gemeinschaftsgesetzgebers hält sich der Europäische Gerichtshof auffällig zurück. Die Gründe, die der Gemeinschaftsgesetzgeber zur Rechtfertigung eines Eingriffs geltend macht, werden nicht näher am Maßstab der Rechtsstaatlichkeit überprüft. Maßnahmen scheitern nur, wenn sie offensichtlich ungeeignet sind.14 Diese Zurückhaltung des Gerichtshofs steht im Widerspruch zu seiner starken inhaltlichen Kontrolle nationalstaatlicher Gesetze.15 Diese verfügen aber über eine klarere demokratische Legitimation als die europäischen Rechtssetzungsakte. Die Gewaltenteilung mit ihren verschiedenen Aspekten ist für die Europäische Union verpflichtend. Die besonderen Ausprägungen der Gewaltenteilung, die für eine Staatenunion angemessen sind, sind aber im Hinblick auf die Fülle von Kompetenzen, über die die Union verfügt, noch nicht ausreichend entwickelt. Es liegt in der Hand der Mitgliedstaaten, hier eine Änderung herbeizuführen, damit die Institutionen der Europäischen Union den Standards der Mitgliedstaaten entsprechen. Dazu sollte die bevorstehende Revision des Entwurfs einer Verfassung für Europa Anlass geben. 12 13 14 15

Vgl. dazu Streinz, Rudolf, Europarecht, 7. Aufl. 2005, S. 111, 123. Vgl. die Kommentarliteratur zu Art. 220 EGV. EuGH Rs C-306/93 Slg. 1994, I-5555. Vgl. Streinz, Europarecht (Fn. 12), S. 288.

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III. Menschenrechte Die Wurzel des Menschenrechtsgedankens ist in der biblischen christlichen Auffassung zu sehen, dass Gott den Menschen nach seinem Bilde geschaffen hat (Gen. 1, 27; Eph. 4, 24). Die christliche Theologie sieht den Menschen ungeachtet seiner Einbindung in die Familie und in die christliche Gemeinde in seiner Beziehung zu Gott als Individuum, das eine unsterbliche Seele hat und Gott gegenüber verantwortlich ist, was Freiheit voraussetzt. Die Gleichheit der Menschen ergibt sich daraus, dass alle Menschen gleichermaßen Ebenbilder Gottes sind. Dieser theologische Freiheitsbegriff hat im Laufe der Geschichte in doppelter Weise auf die säkularen Verhältnisse gewirkt: Der Christ erhebt einen Freiheitsanspruch gegen die politische Herrschaft, um seiner Verantwortung vor Gott genügen zu können und verlangt Religionsfreiheit. Löst man die Freiheitsposition des Menschen von ihrer theologischen Grundlage ab und säkularisiert sie, so kann sie – ungeachtet einer religiösen Verantwortlichkeit und über diese hinaus – gegenüber der politischen Herrschaft geltend gemacht werden. Entsprechendes gilt für die Gleichheit. Naturrechtslehre, Aufklärung und Revolution haben den im Christentum keimenden Freiheitsgedanken in die Staatstheorie und in die Gesetzgebung gebracht.16 Die Grundrechtskataloge sind also nicht die Quelle der Menschenrechtsidee, sondern nur wichtige gesetzgeberische Ausformungen, denen im Übrigen zunächst auch nur philosophische Relevanz zukam.17 Die Härtung der Menschenrechte setzte Gerichte voraus, die sie zum Maßstab ihrer Entscheidungen nahmen. Das geschah in den USA zu Beginn des 19. und in Europa erst im 20. Jhd. Der inzwischen erreichte Standard gehört zu den europäischen Institutionen, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg und – im Rahmen seiner Zuständigkeiten – der Europäische Gerichtshof in Luxemburg hüten. Menschenrechtsschutz und Menschenrechtsgerichtshof sind zwei elementare europäische Institutionen, die weit über das Gebiet der Europäischen Union hinausreichen. Sie beeinflussen unmittelbar die Staaten, die dem Europarat angehören. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kann von Individuen angerufen werden, die Schutz vor ungerechtfertigten Eingriffen ihres Staates suchen. Der Schutz der Menschenrechte gewährleistet zugleich die Rechtsstaatlichkeit, die nicht nur formale Garantien enthält. 16 Siehe Starck, Die philosophischen Grundlagen der Menschenrechte (Fn. 5), S. 553 ff. 17 Vgl. Boutmy, Emile, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und Georg Jellinek (1902), in deutscher Übersetzung abgedruckt in: Schnur (Hrsg.), Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, 1964, S. 78, 88.

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Der Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa enthält die im Dezember 2000 proklamierte Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Proklamation und Entwurf verstehen sich in dem Sinne, dass sie die schon geltenden Grundrechte „sichtbarer“ machen, wie es in der Präambel der Charta der Grundrechte heißt. Sie beruft sich auf die gemeinsamen Verfassungstraditionen, die gemeinsamen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten und die Rechtsprechung der Europäischen Gerichtshöfe. Die Charta der Grundrechte, die nur für die Organe, Einrichtungen, Ämter und Agenturen der Union gilt (Art. 111 Abs. 1 VVE), gliedert sich in sieben Titel: Würde des Menschen, Freiheiten, Gleichheit, Solidarität, Bürgerrechte und justizielle Rechte. Der letzte Titel enthält die allgemeinen Bestimmungen über die Auslegung und Anwendung der Charta, insbesondere über die Einschränkung der Grundrechte. Sie umfasst die klassischen Grundrechte und unter dem Titel Solidarität auch soziale Rechte und politische Ziele, die erst durch die Gesetzgebung der Union, freilich nur im Rahmen ihrer Zuständigkeiten, umgesetzt werden müssen. An der Spitze der Charta der Grundrechte steht der Satz, dass die Würde des Menschen unantastbar ist und folglich geachtet und geschützt werden muss. Diese Garantie hat große Bedeutung für den Embryonenschutz, über den ich aus aktuellem Anlass folgendes sagen möchte:18 Die In-vitro-Fertilisation hat die Vorstellung aufkommen lassen, dass die der Frau und dem Mann entnommenen Zeugungsingredienzien, die Eizelle und die Samenzelle, Sachen sind, die in vitro ihre Sacheigenschaft nicht verlieren, allenfalls eine neuartige Sache werden. Dabei wird übersehen, dass die Zeugung eines Menschen auf einer Handlung beruht. Wird der Zeugungsvorgang aus dem weiblichen Körper heraus in eine Retorte verlegt, um körperliche Fehlfunktionen der Zeugungswilligen zu überwinden, ändert dies qualitativ nichts an dem Vorgang. Er bleibt ein Zeugungsakt. Vom Moment der Kernverschmelzung an ist die befruchtete menschliche Eizelle, d. h. der Embryo, Person; sie gehört zur Species Mensch. Ihr genetisches Programm enthält die Potentialität der Entwicklung als Mensch, die kontinuierlich ohne besondere Zäsur erfolgt. Die Identität von Embryo und geborenem Mensch ist eine genetische, um mehr kann es nicht gehen, da später bei der Entwicklung des Menschen weitere, der Umwelt entstammende Faktoren hinzukommen, die die volle, im Übrigen im Laufe des Lebens durchaus veränderbare Identität des Menschen ausmachen.

18 Ausführlich Starck, Christian, Verfassungsrechtliche Grenzen der Biowissenschaften und Fortpflanzungsmedizin, in: Juristenzeitung 2002, S. 1065 ff.; ders. The Human Embryo is a Person and not an Object, in: Vöneky/Wolfrum (ed.), Human Dignity and Human Cloning, 2004, S. 63 ff.

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Jede andere Betrachtung der In-vitro-Fertilisation führt zu unlösbaren Schwierigkeiten. Versagt man nämlich der befruchteten Eizelle die Personenwürde und betrachtet sie folglich als Sache, so müsste begründet werden können, dass aus einer Sache irgendwann einmal eine Person werden kann, was philosophisch und juristisch unmöglich erscheint. Deshalb verstößt es gegen die Pflicht der Europäischen Union, die Menschenwürde und das menschliche Leben zu achten und zu schützen, wenn sie die Forschung mit embryonalen Stammzellen finanziell fördert.19 Embryonale Stammzellen werden durch den Verbrauch, d. h. die Tötung, von Embryonen gewonnen. IV. Sozialer Auftrag Zu den europäischen Institutionen gehört der soziale Auftrag der Union. Es handelt sich dabei um die auf Unionsebene gebrachte Sozialstaatlichkeit. Sie kommt besonders eindringlich in Art. 3 Satz 2 der italienischen Verfassung zum Ausdruck: „Es ist Aufgabe der Republik, die Hindernisse wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Art zu beseitigen, die die Freiheit und Gleichheit der Bürger tatsächlich einschränken, und die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die wirksame Teilnahme aller Arbeitenden an der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gestaltung des Landes verhindern“. Die Sozialstaatsklauseln in den verschiedenen modernen Verfassungen sind der vorläufige Schlusspunkt einer Entwicklung, die im 19. Jhd. begann, als mit dem Aufkommen der Industriegesellschaft Kommunen und Staat sich genötigt sahen, die aus der christlichen Caritas entstandene Armenpflege als säkulare Aufgabe zu übernehmen. Sie wurde damit zugleich verrechtlicht und im Laufe der Zeit durch Sozialversicherungssysteme und Fürsorgegesetze perfektioniert. Spätestens mit der Gründung der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion wurde die soziale Dimension des Binnenmarktes erkannt und im Gemeinschaftsrecht zum Ausdruck gebracht. In Art. 136 EGV in der Fassung des Amsterdamer Vertrages wird auf die Sozialcharta des Europarates von 1961 und auf die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989 verwiesen. Und folgende Ziele werden festgelegt: „Die Förderung der Beschäftigung, die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, um dadurch auf dem Wege des Fort19 Vgl. seit 2003 die folgenden Projekte „Euro Stem Cell“, Heart Repair“, „Thercord“, Vitrocellomics, EStolls (v. l. Bericht von Schwägerl, Christian, FAZ v. 25.7.2006/Nr. 170, S. 4). Diese Praxis soll 2007 und in den weiteren Jahren fortgesetzt werden, so der Bericht von Schwägerl, a. a. O.; vgl. Starck, Christian, Ist die finanzielle Förderung der Forschung an embryonalen Stammzellen durch die Europäische Gemeinschaft rechtlich zulässig?, in: Europarecht, 2006, S. 1 ff.

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schritts ihre Angleichung zu ermöglichen, einen angemessenen sozialen Schutz, den sozialen Dialog, die Entwicklung des Arbeitskräftepotentials im Hinblick auf ein dauerhaft hohes Beschäftigungsniveau und die Bekämpfung von Ausgrenzungen“. Zahlreiche Instrumente der unionalen Sozialpolitik, insbesondere auf den verschiedenen Gebieten des Arbeitsschutzes sind entwickelt worden. Allerdings führt die Europäische Union die Maßnahmen nicht selbst durch, sondern unterstützt und ergänzt die entsprechende Tätigkeit der Mitgliedstaaten (Art. 137 EGV). Soweit die Europäische Union Finanzmittel dafür einsetzt, kommt es zu sozialem Ausgleich zwischen den Mitgliedstaaten. So werden 75% des Sozialfonds für die Bekämpfung der strukturell bedingten Arbeitslosigkeit in unterentwickelten Gemeinschaftsregionen verwendet. Dieses Beispiel zeigt, dass die Union solidarischen Finanzausgleich zugunsten ökonomisch schwacher Mitgliedstaaten betreibt. Es würde zu weit gehen, hier das Gebot der Nächstenliebe ins Spiel zu bringen und es auf Nationen unter sich zu beziehen.20 V. Subsidiarität Das in der katholischen Soziallehre stark betonte Subsidiaritätsprinzip21 besagt folgendes: Größere Gemeinschaften sollen nur solche Aufgaben wahrnehmen, die kleinere Gemeinschaften nicht ebenso gut oder besser erfüllen können. Je kleiner die Gemeinschaft ist, umso mehr Einfluss hat der Einzelne auf die demokratisch organisierte Willensbildung. Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Jahre 1957 und die späteren Phasen ihrer Kompetenzerweiterung beruhen auf dem umgekehrten Prinzip, dass größere Einheiten bessere Entscheidungen treffen können als kleinere. Jahrzehnte lang hat der Europäische Gerichtshof durch dynamische Interpretation der Verträge als „Motor der Integration“ gewirkt. Das führte zu einer schleichenden Kompetenzerweiterung.22 Die Aufnahme des Subsidiaritätsprinzips in den EG-Vertrag im Jahre 1992 ist als Reaktion auf die schleichende Kompetenzausdehnung der Gemeinschaft zu verstehen.23 Danach wird die Europäische Gemeinschaft in Bereichen, die nicht ihrer ausschließlichen Zuständigkeit unterfallen, „nur 20 So aber Ziólkowski, Janusz, Christentum und Nationalitäten in Europa, in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Christentum und Kultur in Europa (Stimmen der Weltkirche 33), 1993, S. 69. 21 Enzyklika Quadragesimo anno, 1931, Nr. 79. 22 Vgl. dazu Streinz, Europarecht (Fn. 12), S. 164, 566. 23 Calliess, Christian, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union, 2. Aufl. 1999, S. 65 ff., Oppermann, Thomas, Europarecht, 2. Aufl. 1999, Rdnr. 514 ff.

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tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkung besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können“ (Art. 5 Abs. 2 EGV). Der Vertrag über eine Verfassung für Europa hat das Subsidiaritätsprinzip übernommen (Art. 11). Ein dazu vorgesehenes Protokoll24 verpflichtet jedes Organ der Union, den Grundsätzen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit Rechnung zu tragen und zu diesem Zweck Anhörungen durchzuführen, bevor ein Gesetzgebungsakt vorgeschlagen wird. Die Vorschläge müssen besonders im Hinblick auf die beiden Prinzipien begründet und begründete Stellungnahmen eines nationalen Parlaments oder einer Kammer dieses Parlaments berücksichtigt werden. Schließlich wird auf die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs hingewiesen, auf Klage eines Mitgliedstaates – gegebenenfalls im Namen des nationalen Parlaments – Verstöße gegen das Subsidiaritätsprinzip festzustellen. Man sollte auf den Europäischen Gerichtshof nicht zu viele Hoffnungen setzen. Denn er war es bisher, der Kompetenzerweiterungen der EG-Organe immer nur gebilligt hat und mit dem Subsidiaritätsprinzip einen sehr lockeren Umgang pflegt.25 Es wird eher die im Protokoll vorgesehene präventive Kontrolle sein, die dem Subsidiaritätsprinzip Geltung verschaffen wird. Es gibt viele Regelungsbereiche, in denen in Zukunft dem Subsidiaritätsprinzip Respekt verschafft werden muss. Bei Erfüllung der bereits erwähnten Sozialvorschriften muss die Europäische Union – wie es im Vertragsentwurf heißt – die „Vielfalt der einzelstaatlichen Gepflogenheiten“ berücksichtigen (Art. 136 Abs. 2 EGV). Die Entfaltung der Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt soll von der Europäischen Union gefördert werden (Art. 151 Abs. 1 EGV). Im Zusammenhang mit dem Subsidiaritätsprinzip möchte ich am Schluss Bemerkungen zur Position der Kirchen im europäischen Recht26 machen, insbesondere zu der Frage, ob und inwieweit das Europarecht auf das nationalstaatlich geregelte Verhältnis von Staat und Kirche Einfluss nimmt. Die institutionelle Verschiedenartigkeit des Verhältnisses von Staat und Kirche, die zur jeweiligen Identität der Mitgliedstaaten gehört (Art. 6 Abs. 3 EUV, Art. 5 Abs. 1 VVE) – nordisches Staatskirchentum, religiöse Neutralität des 24 Abgedruckt bei Schwarze, Jürgen (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents (2004), S. 702 f., Nr. 5, 6. 25 Vgl. EuGH Rs. C-377/98, Slg. 2001 I-7079; kritisch dazu Götz, Volkmar, in: ders./Martínez Soria (Hrsg.), Kompetenzverteilung zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten, 2002, S. 91 f. 26 Vgl. Mückl, Stefan, Europäisierung des Staatskirchenrechts, 2005, S. 409; Starck, Christian, Die Position der Kirchen im europäischen Recht, in: Festschrift für Heinz Schäffer, 2006, S. 765 ff.

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Staates, d. h. Trennung und Kooperation in den meisten Staaten, bis zum französischen Laizismus –, darf durch Europarecht nicht gestört werden, zumal es keine direkt auf die Kirchen bezogenen Kompetenzen der Europäischen Union gibt. Allgemeines Europarecht kann sich aber mittelbar auf die Rechtstellung der Kirchen auswirken, und zwar ganz verschieden, je nachdem auf welche nationalstaatliche Rechtsordnung es trifft. Mögliche Materien sind staatliche Dotationen an kirchliche Wohlfahrtseinrichtungen, das Arbeitsrecht, der Rechtsstatus der Kirchen, der Sonn- und Feiertagsschutz und das Kirchensteuerrecht. Dazu ein Beispiel: Eine Zeitlang war es unsicher, ob die geplante Datenschutzrichtlinie in Zukunft in Deutschland die Erhebung der Kirchensteuer unmöglich machen wird, weil die Steuerbehörde nicht mehr nach der Konfession fragen darf.27 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaft hat nicht sofort Klarheit geschaffen. Es bedurfte langer Verhandlungen. Das zeigt, dass das deutsche Staatskirchenrecht der Anfechtung von Seiten der Europäischen Gemeinschaft unterliegt. Inzwischen ist die Rechtslage geklärt. In der Datenschutzrichtlinie heißt es:28 „Die Verarbeitung personenbezogener Daten durch staatliche Stellen für verfassungsrechtlich oder im Völkerrecht niedergelegte Zwecke von staatlich anerkannten Religionsgesellschaften erfolgt ebenfalls im Hinblick auf ein wichtiges öffentliches Interesse“. VI. Schlussbemerkung Der Gang durch die wichtigsten Institutionen hat uns gezeigt, dass sie eine gemeinsame Herkunft haben. Zwischen den europäischen und staatlichen Institutionen besteht im Grundsätzlichen eine große Übereinstimmung. Die Homogenität der Institutionen ist doppelt gesichert im nationalen Verfassungsrecht und im Europarecht. Im Einzelnen gibt es Probleme und Konflikte, die politisch ausgetragen und letztlich gerichtlich entschieden werden müssen. Dabei muss man sich vor einer falschen Interpretation des Europarechts hüten, die die nationale Identität stört. Hier dürfte das vom Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil beschworene „Kooperationsverhältnis“29 zwischen dem Europäischen Gerichtshof und den nationalen Verfassungsgerichten eine wichtige Sicherung bedeuten.

27 Starck, Christian, Das deutsche Kirchensteuerrecht und die Europäische Integration, in: Festschrift für Ulrich Everling, 1995, S. 1427 ff. 28 Erwägung Nr. 35 der Datenschutzrichtlinie vom 24.10.1995, Eri 95/46 EG des Europäischen Parlaments und des Rates. 29 BVerfGE 89, 155, 175.

Europäisierung des öffentlichen Dienstes Von Andreas Voßkuhle I. Einleitung Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem öffentlichen Dienst der Bundesrepublik Deutschland war ungeachtet der Europäisierung der nationalen Rechtsordnung1 in fast allen zentralen Lebensbereichen lange Zeit geprägt durch eine stark nationale Perspektive. Insbesondere das öffentliche Dienstrecht2 schien aufgrund fehlender Regelungszuständigkeit der Europäischen Gemeinschaft in diesem Bereich3 vor „Übergriffen“ aus Brüssel gefeit. Mittlerweile hat sich das Bild grundlegend geändert. Mehr und mehr wird deutlich, dass auch das deutsche Beamtenrecht den Einflüssen des Gemeinschaftsrechts keineswegs schlechthin entzogen ist.4 Gleichzeitig setzt 1 Diesen Prozess hat der Jubilar von Anfang an kritisch begleitet und auf manche mögliche Fehlentwicklung hingewiesen, vgl. nur Scholz, Rupert, Grundrechtsprobleme im europäischen Kartellrecht, WuW 1990, S. 99 ff.; ders., Wie lange bis „Solange III“?, NJW 1990, S. 941 ff.; ders., Zum Verhältnis von europäischem Gemeinschaftsrecht und nationalem Verwaltungsverfahrensrecht, DÖV 1998, S. 261 ff.; ders./Hofmann, Hans, Perspektiven der europäischen Rechtsordnung, ZRP 1998, S. 295 ff.; ders., Frauen an die Waffe kraft Europarechts?, DÖV 2000, S. 417 ff. 2 Der Begriff „öffentlicher Dienst“ ist nicht eindeutig. In Art. 33 Abs. 5 GG sind damit lediglich die Beamten (und Richter), nicht aber die im Staatsdienst beschäftigten Angestellten und Arbeiter gemeint. In einem weiteren Sinne verwenden dagegen Art. 131, 132 GG den Begriff. Dort bezieht er sich auf jede Art der Beschäftigung bei einem öffentlichen Dienstherrn. Das Recht des öffentlichen Dienstes in systematischer Sicht umfasst von daher gesehen alle Rechtsnormen, die die Rechtsverhältnisse der Funktionsträger regeln, welche für öffentliche Dienstherren tätig sind. Es besteht aus einem öffentlich-rechtlichen (beamtenrechtlichen) Teil (öffentliches Dienstrecht) und einem privatrechtlichen Teil (Recht der Angestellten und Arbeiter des öffentlichen Dienstes), so statt vieler Kunig, Philip, Recht des öffentlichen Dienstes, in: Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 13. Aufl. 2005, 6. Kap., Rn. 4 f. 3 Vgl. nur Jakobs, Sebastian, Europäische Arbeitnehmerfreizügigkeit und nationaler Ämterzugang, in: FS Isensee, 2002, S. 507 (521). 4 Eingehender zum Folgenden Kämmerer, Jörn A., Das deutsche Berufsbeamtentum im Gravitationsfeld des Europäischen Gemeinschaftsrechts, DV 37 (2004), S. 353 ff.; Demmke, Christoph, Die Europäisierung der öffentlichen Dienste – zwischen nationaler Souveränität und Rechtsangleichung, ZTR 2005, S. 1 ff. m. w. N. Vgl. ferner Rieckhoff, Thomas, Die Entwicklung des Berufsbeamtentums in Europa,

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sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass angesichts der vielfältigen administrativen Verflechtungen von inner- und zwischenstaatlich angesiedelten Verwaltungssträngen im europäischen Verwaltungsverbund,5 wie sie besonders anschaulich im Ausschusswesen der Kommission zutage treten,6 der Steuerungsfaktor Personal7 heute offensichtlich eine europäische Dimension besitzt, die bei nationalen Reformüberlegungen8 nicht mehr einfach ausgeblendet werden darf. Aus rechtlicher Sicht lassen sich vor diesem Hintergrund drei aufeinander bezogene Themenfelder unterscheiden: die Einwirkung des Europarechts auf das nationale Dienstrecht (II.), die Ausgestaltung 1993; Schotten, Thomas, Die Auswirkungen des Europäischen Gemeinschaftsrechts auf den Zugang zur öffentlichen Verwaltung in der Bundesrepublik Deutschland, 1994; Fabis, Henrich, Die Auswirkungen der Freizügigkeit gemäß Art. 48 EG-Vertrag auf Beschäftigungsverhältnisse im nationalen Recht, 1995; Burgi, Martin, Soziale Rechte und Zugang zum Beruf: Zur Situation von Berufen in der öffentlichen Verwaltung im Zeichen des steten Wandels der Staatlichkeit, in: Kay Hailbronner (Hrsg.), 30 Jahre Freizügigkeit in Europa, 1998, S. 115 ff.; Maurer, Volkhard, Recht des öffentlichen Dienstes, Wehrpflicht-, Zivildienst- und Unterhaltssicherungsrecht, Recht der freien Berufe, in: Bergmann, Jan/Kenntner, Markus (Hrsg.), Deutsches Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, 2002, S. 351 ff.; Alber, Siegbert, Das europäische Recht und seine Auswirkungen auf den öffentlichen Dienst, ZBR 2002, S. 225 ff.; Battis, Ulrich, Rechtsprechungsbericht zum öffentlichen Dienstrecht, JZ 2005, S. 1095 (1099 f.). 5 Näher dazu Schmidt-Aßmann, Eberhard, Verfassungsprinzipien für den Europäischen Verwaltungsverbund, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR, Bd. I., 2006, § 5, Rn. 16 ff. 6 Einer Überschlagsberechnung zufolge waren Mitte der 1990er Jahre insgesamt mehr als 1500 verschiedene Ausschüsse mit ca. 10 000 Sitzungen jährlich zu bedienen. Bei diesen Sitzungen, an denen in der Regel Beamte aus fünfzehn Mitgliedstaaten teilnahmen, wirkten annähernd 150 000 Beamte pro Jahr mit. Dementsprechend waren ca. 25% der höheren Beamte der Bundesministerien an der Gremienarbeit auf EU-Ebene beteiligt, so Bach, Maurizio, Europa als bürokratische Herrschaft, in: Schuppert/Pernice/Haltern (Hrsg.), Europawissenschaft, 2005, S. 575 (599) m. w. N. Allgemein zum Ausschusswesen vgl. nur Joerges, Christian/Falke, Josef (Hrsg.), Das Ausschußwesen der Europäischen Union, 2000; Töller, Ingeborg, Komitologie: theoretische Bedeutung und praktische Arbeitsweise am Beispiel der Umweltpolitik, 2001; Schmidt-Aßmann, Verwaltungsverbund (Fn. 5), § 5, Rn. 24. 7 Zu dieser Perspektive instruktiv Schuppert, Gunnar Folke, Verwaltungswissenschaft, 2000, S. 625 ff. 8 Zu ihnen zusammenfassend z. B. Kunig, Recht des öffentlichen Dienstes (Fn. 2), Rn. 24 ff., sowie z. B. Ziemske, Burkhardt, Öffentlicher Dienst zwischen Bewahrung und Umbruch, DÖV 1997, S. 605 ff.; Bull, Hans Peter, Das öffentliche Dienstrecht in der Diskussion, DÖV 2004, S. 155 ff.; ders., Bürokratieabbau und Dienstrechtsreform, DÖV 2006, S. 241 ff.; Lorse, Jürgen, Eckpunktepapier „Neue Wege im Dienstrecht“: Wie verbindet man Eckpunkte zu Grundlinien einer Reform?, DÖV 2005, S. 445 ff. Im Zuge der Föderalismusreform ist die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz zur Regelung der Besoldung und Versorgung der Landesbeamten und Landesrichter auf die Länder übergegangen. Dementsprechend sind in diesem Bereich Neuregelungen zu erwarten.

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des öffentlichen Dienstes der EU-Organe (III.) und die Harmonisierung der Dienstrechte der EU-Mitgliedstaaten (IV.). Ihre nähere Analyse soll Auskunft darüber geben, wie weit der Prozess der Europäisierung des öffentlichen Dienstes fortgeschritten ist. II. Einwirkungen des Europarechts auf das nationale Dienstrecht 1. Freizügigkeit der Arbeitnehmer im europäischen Binnenmarkt Bereits Anfang der 1980er Jahre stellte der EuGH fest, dass die Gewährleistung der Freizügigkeit der Arbeitsnehmer in Art. 39 Abs. 1 EGV auch für Beamte gilt.9 Der daraus resultierenden Notwendigkeit, neben Deutschen im Sinne des Art. 116 GG auch Staatsangehörigen aus anderen Mitgliedstaaten der europäischen Union grundsätzlich Zugang zum Beamtenstatus zu gewähren,10 trug Deutschland erst nach Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens durch die Kommission11 und unter starkem Protest in der Literatur12 Ende der 1980er Jahre mit entsprechenden Änderungen des BRRG (vgl. § 4 Abs. 1 Nr. 1) und des BBG (vgl. § 7 Abs. 1 Nr. 1) Rechnung.13 Die Freizügigkeitsgarantie beschränkt sich dabei nicht allein auf die Ermöglichung des Zugangs zum öffentlichen Dienst, sondern verpflichtet Bund und Länder, deutsche und ausländische Beamte bei der Berufsausübung insgesamt gleich zu behandeln. Dementsprechend müssen z. B. Vordienstzeiten im öffentlichen Dienst eines anderen Mitgliedstaates bei der Bestimmung des Besoldungsdienstalters berücksichtigt werden,14 eine Erkenntnis, die der 9

Grundlegend EuGH, Rs. 53/81, Slg. 1982, 1035, Rn. 11 ff. – Levin; Rs. 66/85, Slg. 1986, 2121, Rn. 16 – Lawrie-Blum. 10 Zur umstrittenen Vereinbarkeit des Art. 33 Abs. 2 GG mit Art. 39 Abs. 1 und Abs. 4 EGV vgl. nur Jachmann, Monika, in: v. Mangold/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. II, 2005, Art. 33 Abs. 2, Rn. 14 m. w. N. 11 Riotte, Wolfgang/Fey, Franz-Georg, Artikel 48 Absatz 4 EWG-Vertrag und nationales Dienstrecht – Probleme bei der Koordinierung zweier Rechtssysteme, NWVBl. 1992, S. 7 (8), sprechen von einer „Systematischen Aktion“ der Kommission. 12 Vgl. etwa Lecheler, Helmut, Die Interpretation des Art. 48 IV EWGV und ihre Konsequenzen für die Beschäftigten im nationalen Dienst, 1999; Loschelder, Wolfgang, Der Staatsangehörigkeitsvorbehalt des deutschen Beamtenrechts und die gemeinschaftsrechtliche Freizügigkeit der Arbeitnehmer – zu den verfassungsrechtlichen Grenzen supranationaler Definitionsmacht, ZBR 1991, S. 102 (104). 13 Zehntes Gesetz zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften vom 20.12.1993, BGBl. I, S. 2136. 14 So deutlich EuGH, Rs. C-187/96, Slg. 1998, I-1095, Rn. 17 – Kommission/ Griechenland; EuGH, Rs. C-15/96, Slg. 1998, I-47, Rn. 27 – Schöning-Kougebetopoulou/Hamburg. Vgl. dazu Maurer, Recht des öffentlichen Dienstes (Fn. 4), Rn. 56 ff.

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deutsche Gesetzgeber zunächst ignorierte (vgl. jetzt aber § 29 Abs. 2 BBesG15). Über Art. 39 Abs. 1 EGV hinaus steht einer „protektionistischen laufbahnrechtlichen Privilegierung deutscher Bildungsabschlüsse“ auch das europäische Sekundärrecht entgegen,16 auf das nunmehr in § 14c BRRG und § 20a BBG ausdrücklich Bezug genommen wird.17 Allerdings erfährt die soeben skizzierte Freizügigkeitskonzeption eine erhebliche Relativierung durch die Bereichsausnahme des Art. 39 Abs. 4 EGV, der zufolge Art. 39 Abs. 1 EGV keine Anwendung findet für die „Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung“. Während man in der Bundesrepublik zunächst dazu neigte, diese Vorschrift in Anlehnung an die herrschende extensive Interpretation des beamtenrechtlichen Funktionsvorbehalts des Art. 33 Abs. 4 GG weit auszulegen, um auf diese Weise die traditionellen Tätigkeitsbereiche des Beamten der Öffnung für EG-Ausländer zu entziehen,18 hat sich auf Gemeinschaftsrechtsebene eine enge Auslegung durchgesetzt. Nach der – freilich wenig konzisen – Rechtsprechung des EuGH19 soll die organisatorische Zuordnung des Amtsträgers zur Verwaltung, insbesondere die Gewährung des (öffentlich-rechtlichen) Beamtenstatus, für die Interpretation des Art. 39 Abs. 4 EG bedeutungslos sein; andernfalls hätten es die Mitgliedstaaten selbst in der Hand, die Reichweite der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu bestimmen. Abweichungen vom Grundsatz des Art. 39 Abs. 1 GG seien vielmehr nur zulässig, wenn dies zum Schutz der mitgliedstaatlichen Interessen zwingend erforderlich sei.20 Davon ist nach Auffassung der Kommission21 nur auszugehen bei den Streitkräften, dem diplomatischen Dienst, den Regierungsfunktionen im engeren Sinne sowie öffentlichen Stellen mit der primären Funktion, „Rechtsakte“ 15 Sechstes Besoldungsänderungsgesetz vom 14.12.2001, BGBl. I, S. 3702 und dazu BR-Drs. 615/01, S. 27. 16 So Masing, Johannes, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 33, Rn. 21. 17 Ausführlich dazu Maurer, Recht des öffentlichen Dienstes (Fn. 4), Rn. 6 ff. 18 So z. B. Lecheler, Helmut, Öffentliche Verwaltung in den Mitgliedsstaaten nach Maßgabe der „Dynamik der Europäischen Integration“, DV 22 (1989), S. 137 (139); Meyer, Albert, Die europäische Integration und das deutsche Beamtenrecht, BayVBl. 1990, S. 97 ff.; Loschelder, Staatsangehörigkeitsvorbehalt und Freizügigkeit (Fn. 12), S. 102; Hillgruber, Christian, Die Entwicklung des deutschen Beamtenrechts unter der Entwicklung des europäischen Gemeinschaftsrechts, ZBR 1997, S. 1 (2 f.). 19 EuGH, Rs. 149/79, Slg. 1980, 3881, Rn. 21 f. – Kommission/Belgien; EuGH, Rs. 307/84, Slg. 1986, 1725, Rn. 15 f. – Kommission/Frankreich; EuGH, Rs. 225/85, Slg. 1987, 2625, Rn. 10 – Kommission/Italien. 20 So explizit EuGH, Rs. 149/79, Slg. 1980, 3881, Rn. 21 f. – Kommission/Belgien; EuGH, Rs. C-405/01, Slg. 2003, 10419, Rn. 44, 50 – Colegio de Oficiales; EuGH, Rs. C-47/02, Slg. 2003, 10469, Rn. 63 f., 69 – Anker. 21 Kommissionsbeschluß 88/C 72/02, Abl. Nr. C 72/2 (72/3).

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zu setzen, durchzusetzen, ihre Anwendung zu überwachen oder Aufsicht über nachgeordnete Stellen zu führen, nicht dagegen bei primär dienstleistenden Stellen wie z. B. Einrichtungen des öffentlichen Verkehrs-, Kommunikations-, Gesundheits- und Bildungswesens. Im Einzelfall kann die Abgrenzung hier schwierig sein,22 weshalb die ausdrückliche Bezugnahme auf Art. 48 Abs. 4 EWG (jetzt 39 Abs. 4 EGV) in § 4 Abs. 2 BRRG und § 7 Abs. 2 BBG ebenfalls offen formuliert ist.23 Auch wenn Art. 39 EGV nach alledem die Definitionsmacht der Nationalstaaten über den eigenen öffentlichen Dienst deutlich einschränkt,24 bleiben doch aufgrund des Art. 39 Abs. 4 GG zentrale Verwaltungsbereiche den eigenen Staatsangehörigen weiterhin vorbehalten.25 Mit fortschreitender Integration und Manageralisierung der Verwaltung26 dürften die Gründe für ein solches Nationalitätsprivileg27 an Überzeugungskraft verlieren.28 Gleichwohl hat sich der Verfassungskonvent entschieden, Art. 39 Abs. 4 EGV unverändert in den Verfassungsentwurf zu übernehmen.29

22 Eingehend dazu statt vieler Franzen, Martin, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 39 EG, Rn. 149 ff.; Brechmann, Winfried, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2. Aufl. 2002, Art. 39 EG, Rn. 101 ff., jeweils m. w. N. Vgl. ferner Alber, Auswirkungen (Fn. 4), S. 229 ff. 23 „Wenn die Aufgaben es erfordern, darf nur ein Deutscher im Sinne des Artikels 116 Grundgesetz in ein Beamtenverhältnis berufen werden (Artikel 48 Abs. 4 EWG-Vertrag).“ Der Bund-Länder-Arbeitskreis für Beamtenrechtsfragen hat zur näheren Konkretisierung des Vorbehalts Anwendungsempfehlungen ausgearbeitet, abgedruckt bei Schwidden, Frank, Die europäische Freizügigkeit im öffentlichen Dienst nach nationalem Recht und nach europäischem Gemeinschaftsrecht, RiA 1996, S. 166 (174 f.). 24 Krit. zur autonomen Auslegung des Art. 39 Abs. 4 EGV die in Fn. 18 Genannten. 25 Relativierend auch Demmke, Europäisierung (Fn. 4), S. 14. 26 Krit. z. B. Kutscha, Martin, Flexibilisierung des Beamtenrecht, NVwZ 2002, S. 942 ff.; Czerwick, Edwin, Die Reform des öffentlichen Dienstrechts: Ökonomisierung durch Politisierung, ZBR 2005, S. 24 ff. Allgemein zu New Public Management-Ansätzen und zum sog. Neuen Steuerungsmodell vgl. statt vieler Voßkuhle, Andreas, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR, Bd. I, 2006, § 1, Rn. 50 ff. m. w. N. 27 Kämmerer, Europäisierung des öffentlichen Dienstrechts, EuR 2001, S. 27 (42 ff.). 28 Krit. etwa Alber, Auswirkungen (Fn. 4), S. 229; Kämmerer, Berufsbeamtentum (Fn. 4), S. 363–366; Demmke, Europäisierung (Fn. 4), S. 10. Vgl. auch Hailbronner, Kay, Öffentlicher Dienst und EG-Freizügigkeit, VBlBW 2000, S. 129 ff. 29 Art. III-18 Abs. 4 des Verfassungsvertrages.

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2. Gemeinschaftsrechtliche Diskriminierungsverbote Erheblichen Einfluss auf das deutsche Dienstrecht besitzen die verschiedenen gemeinschaftsrechtlichen Diskriminierungsverbote aus Art. 3 Abs. 2, 13 und 141 EGV, die ihrerseits ergänzt und konkretisiert werden durch zahlreiche gleichstellungsbezogene Richtlinien, insbesondere die sog. Gleichbehandlungsrichtlinie 76/207/EWG30, die für „Öffentliche Stellen“ Anwendung findet (Art. 3 Abs. 1).31 Zwar entsprechen die Maßgaben der Gleichbehandlungsrichtlinie in Bezug auf die Gleichstellung von Frauen im öffentlichen Dienst im Wesentlichen denen des Art. 33 Abs. 2 GG, der seinerseits zusammen mit Art. 3 Abs. 2, 3 GG zu lesen ist, es ist aber in erster Linie das Verdienst des EuGH, auf Vorlagen deutscher Gerichte32 hin und gegen den damaligen Widerstand der überwiegenden Rechtsprechung und Literatur in Deutschland33 flexiblen Quotenregelungen für die grundsätzliche Bevorzugung von Frauen bei gleicher Qualifikation in Tätigkeitsbereichen, in denen Frauen gegenüber Männern unterrepräsentiert sind, den Weg gebahnt zu haben, indem er entsprechende Regelungen aus Nordrhein-Westfalen (§ 25 Abs. 5 S. 2 LBG NW) und Hessen für mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar erklärte34 und im Gegenzug strikten Quotenregelungen in Bremen (§ 4 Bremisches Landesgleichstellungsgesetz) eine Absage erteilte.35 30 Richtlinie des Rates vom 9.2.1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen (76/207/EWG), ABl. Nr. L 39/40. Vgl. ferner die Richtlinie des Rates vom 29.6.2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft (2000/43/EG), ABl. EG Nr. L 180; Richtlinie des Rates vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (2000/78/EG), ABl. EG Nr. L 303. 31 Instruktiver Überblick bei Kämmerer, Berufsbeamtentum (Fn. 4), S. 366–374 m. w. N. Vgl. ferner Alber, Auswirkungen (Fn. 4), S. 231 ff.; Demmke, Europäisierung (Fn. 4), S. 10–13. 32 BAG, NZA 1994, S. 77 ff. (Kalanke); VG Gelsenkirchen, EuZW 1996, S. 223 ff. (Marschall); VGH Kassel, StAnz Hess 1997, S. 1447 ff. (Badeck). 33 Zum Meinungsstand in der Literatur vor der Marshall-Entscheidung des EuGH (Rs. C-409/95, Slg. 1997, I-6363) vgl. den Überblick bei Heun, Werner, in: Dreier, Grundgesetz Bd. I., 2. Aufl. 2004, Art. 3, Rn. 97, Fn. 580. Zur Rechtsprechung vgl. eingehend Laubinger, Hans-Werner, Die „Frauenquote“ im Öffentlichen Dienst, VerwArch. 87 (1996), S. 305 ff. (Teil 1), 473 ff. (Teil 2). 34 EuGH, Rs. C-409/95, Slg. 1997, I-6363 – Marschall; EuGH, Rs. C-158/97, Slg. 2000, I-1875 – Badeck. 35 EuGH, Rs. C-450/93, Slg. 1995, I-3051 – Kalanke. Vgl. auch EuGH, Rs. C-407/98, Slg. 2000, I-5539 – Abrahamsson. Zu dieser Rechtsprechung vgl. Nishihara, Hiroshi, Das Recht auf geschlechtsneutrale Behandlung nach dem EGV und GG, 2002, S. 120 ff.; Kämmerer, Berufsbeamtentum (Fn. 4), S. 369 ff.

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Diese Linie hat sich in der Praxis und im verfassungsrechtlichen Schrifttum durchgesetzt.36 III. Der Europäische öffentliche Dienst Die Europäische Gemeinschaft besitzt zwar nur sehr eingeschränkt eigene Verwaltungsbefugnisse, angesichts der vielfältigen Koordinierungs- und Harmonisierungsaufgaben der Gemeinschaftsorgane bestand über die Notwendigkeit eines größeren personellen Apparats zu ihrer Unterstützung aber von Anfang an kein Zweifel.37 Statt für eine (immer wieder erwogene) Rotation zwischen nationaler und Brüsseler Verwaltung38 entschied man sich für die Schaffung eines eigenen öffentlichen Dienstes mit Dauerplanstellen, in der Hoffnung, auf diese Weise die Loyalität der Bediensteten gegenüber der Gemeinschaft zu stärken und einen auf ein genuin europäisches Wertebewusstsein gestützten ésprit de corps herauszubilden.39 Ob und inwieweit dies tatsächlich gelungen ist, lässt sich nur schwer beurteilen.40 Jedenfalls sprechen der Bildungshintergrund41 sowie eine Reihe von sozialen und kulturellen Faktoren (nationale Entwurzelung [„dépaysement“], multilinguales 36 Vgl. VGH Mannheim, VBlBW 1996, S. 464 (465); OVG Lünneburg, ZBR 1997, S. 188 (190 f.); OVG Koblenz, DVBl. 1999, S. 1445 f.; OVG Münster, NVwZ-RR 2000, S. 176 (177 f.); OVG Saarlouis, NVwZ-RR 2000, S. 31 (32 ff.), sowie Sacksofsky, Ute, in: Umbach/Clemens, GG, Bd. I, 2002, Art. 3, Rn. 365 ff.; Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG I (Fn. 33), Art. 3, Rn 112; Philip Kunig, in: v. Münch/ Kunig (Hrsg.), Grundgesetzkommentar, Bd. II, 4./5. Aufl. 2001, Art. 33, Rn. 34; Osterloh, Lerke, in: Sachs (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2003, Art. 3, Rn. 288, sowie z. B. Schweizer, Kerstin, Der Gleichberechtigungssatz – neue Form, alter Inhalt?, 1998, S. 210 ff.; Schumann, Jutta, Faktische Gleichberechtigung, 1997, S. 62 ff. 37 So Oppermann, Europarecht, 3. Aufl. 2005, § 10, Rn. 4. 38 Eine Abordnung nationaler Beamter an die Behörden der EG für einen begrenzten Zeitraum ist weiterhin möglich (vgl. § 123a BRRG und dazu Kotulla, Michael, Rechtsfragen im Zusammenhang mit der vorübergehenden Zuweisung eines Beamten nach § 123a BRRG, ZBR 1995, S. 168 ff.). 39 Zur historischen Entwicklung vgl. Rogalla, Dieter, Das Dienstrecht der Europäischen Gemeinschaften, 2. Aufl. 1992, S. 4 ff.; Heyen, Volkmar (Hrsg.), Die Anfänge der Verwaltung der EG, 1992. 40 Deutliche Ansätze für eine eigene supranationale Verwaltungselite mit einer eigenen Verwaltungskultur sehen Bach, Maurizio, Die Bürokratisierung Europas. Verwaltungseliten, Experten und politische Legitimation in Europa, 1999; ders., Europa (Fn. 6), S. 591–596; Priebe, Reinhard, Anmerkungen zur Verwaltungskultur der Europäischen Kommission, DV 33 (2000), S. 379 (insbes. S. 382–386, 404–411); Shore, Chris, Building Europe. The Cultural Politics of European Integration, 2000. Eher zurückhaltend dagegen Hooghe, Liesbet, The European Commission and the Integration of Europe. Images and Governance, 2001. 41 Mitte der 1990er Jahre besaßen 49% der Kommissionsbeamten einen sozialwissenschaftlichen, 18,3% einen geisteswissenschaftlichen und 36% einen juristischen Abschluss, vgl. Page, Edward, People who run Europe, 1997, S 76 ff.

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und multikulturelles Arbeitsumfeld, Dominanz des höheren Dienstes, keine bestehende Verwaltungstradition, wenig formalisierte Kommunikationsformen [„oral administration“], hohes Einkommen usw.) dafür, dass Innovationsbereitschaft und eine managerial-technokratische „Problemlösungsphilosophie“ gerade unter den Bediensteten der Kommission, der die Rolle der strategischen „Prozeßführerschaft bei der europäischen Politikformulierung“42 zukommt, deutlich stärker ausgeprägt sind als in den nationalen Verwaltungen. Aus diesem Umstand erklärt sich ein gutes Stück weit auch die Dynamik der Rechtsentwicklung auf europäischer Ebene. Sie ist ein weiterer Beleg für den – häufig unterschätzten – engen Zusammenhang zwischen Personal- und Sachsteuerung. Über die Ausbildung, Rekrutierung, organisatorische Einbindung und Anleitung des Personals beeinflussen die politisch verantwortlichen Akteure maßgeblich die Art und Weise der Aufgabenerledigung. Je offener gesetzliche Vorgaben gefasst sind „desto bedeutsamer wird das gesetzesanwendende Personal, da nicht nur dessen Professionalität im Umgang mit Rechtsnormen, sondern auch dessen methodische Grundhaltung, Wertmaßstäbe und Ansichten den Vorgang der Rechtsanwendung . . . beeinflussen“43. Im Zentrum des europäischen öffentlichen Dienstes steht der „Europabeamte“, der in einem dauernden, prinzipiell unlösbaren Dienst- und Treueverhältnis zur Gemeinschaft steht.44 Daneben existieren sog. sonstige Bedienste; zu dieser Gruppe (etwa 10% des EG-Personals) gehören u. a. Bedienstete auf Zeit, Hilfskräfte (nur noch bis 2007), örtliche Bedienstete, Sonderberater und nationale Experten auf Zeit. Während das Recht der Beamten im Statut der Beamten der Europäischen Gemeinschaft (BSt.) geregelt ist, gelten für die Einzelverträge der Nicht-Beamten die Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten.45 Die Ausgestaltung des 42 Eichener, Volker, Das Entscheidungssystem der Europäischen Union, 2000, S. 160. Zur Rolle der Kommission vgl. daneben Cini, Michelle, The European Commission. Leadership, organisation und culture in the EU administration, 1996; Nugent, Neill, The European Commission, 2001. 43 Schuppert, Verwaltungswissenschaft (Fn. 7), S. 625 f. 44 EuGH, Rs. 124/87, Slg. 1988, 3491 ff. 45 Beide Regelungswerke beruhen auf dem jetzigen Art. 283 EGV und sind festgelegt durch Art. 2 und Art. 3 der Verordnung (EWG, Euratom, EGKS) Nr. 259/68 des Rates vom 29.2.1968, ABlEG Nr. L 56. Sie gelten i. d. F. der VO 723/2004, ABl. L 124/1 nebst Anhängen für die bei den Haupt- und Nebenorganen der EG beschäftigten Personen. Für die Bediensteten der Europäischen Investitionsbank und der Europäischen Zentralbank sowie für Europol gelten eigene Personalrechtsregime. Bei den durch Sekundärrecht gegründeten Agenturen und Einrichtungen sehen die Gründungsakte regelmäßig die Anwendung des BSt. und des BSB vor, vgl. den Überblick bei Steinle, Stephanie, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV (Fn. 22), Art. 283 EGV, Rn. 2 m. w. N.

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Beamtenverhältnisses46 orientiert sich stark am deutschen und französischen öffentlichen Dienstrecht:47 Der auf der Grundlage eines in der Regel unionsweiten „Concours“48 ausgewählte Beamte wird durch einseitigen Hoheitsakt ernannt und ist in eine Laufbahn eingegliedert, in der er durch Beförderung aufsteigen kann. Er unterliegt Weisungen, ist aber ansonsten unabhängig und hat sich grundsätzlich mit seiner ganzen Arbeitskraft der neutralen, unparteilichen Amtsführung im ausschließlichen Interesse der Gemeinschaft zu widmen (Art. 11 ff. BSt.). Den Dienstherrn trifft umgekehrt eine Beistands- und Fürsorgepflicht (Art. 24 BSt.), der insbesondere Rechte des Beamten auf angemessene Besoldung, Versorgung und soziale Sicherheit korrespondieren (Art. 62 ff. BSt.). Nach dem Rücktritt der Santer-Kommission 1999 und den in diesem Zusammenhang zutage getretenen Missständen innerhalb der EG-Verwaltung führte die Kommission im Jahre 2004 eine umfassende Reform ihrer Dienste durch (sog. Kinnock-Reform).49 Ausgehend von Prinzipien wie Verantwortung, Rechenschaftspflicht, Effizienz und Transparenz soll die Qualität der europäischen Verwaltung verbessert werden durch Stärkung des Leistungsprinzips, Verbesserung des Personal- und Finanzmanagements, geeignete Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung sowie eine Neustrukturierung des Laufbahnrechts.50 Mit der Erweiterung der Gemeinschaft von 6 auf 25 Mitgliedstaaten ist der Personalbestand auf ca. 40 000 Dauer- und Zeitplanstellen angewachsen; weitere zusätzliche 6 000 Stellen sollen als Folge der Osterweiterung hinzukommen.51 Ob die häufig geäußerte Kritik an der Größe des Beamten46

Rechte und Pflichten der sonstigen Bediensteten sind denjenigen ihrer beamteten Kollegen weitgehend angepasst, vgl. Oppermann, Europarecht (Fn. 37), § 10, Rn. 24. 47 Ausführliche Darstellung etwa bei Rogalla, Dieter, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 283 EGV (Bearbeitung 2004), Rn. 7 ff.; Kalbe, Peter, in: v. d. Groeben/Schwarze (Hrsg.), EU-/EG-Vertrag, 6. Aufl. 2003, Art. 283 EG, Rn. 1 ff. 48 Vgl. Art. 29 ff. BSt. i. V. m. Anhang III zum Statut, dazu Mitteilung betr. die Durchführung allg. Auswahlverfahren, ABl. 2002, C 170 A/1 und Bewerbungsleitfaden, ABl. 2002, C 177/A1. 49 Vorbereitet durch das unter Romano Prodi von der Kommission erarbeitete Weißbuch (KOM [2000] 200) und den Vorschlag der Kommission vom 24.4.2002 (KOM [2002] 213 endg.). Näher dazu Mehde, Veith, Verwaltungsreformen in der Europäischen Kommission, ZEuS 2001, S. 403; Kilb, Wolfgang, Die Reform des EU-Beamtenstatus, NVwZ 2003, S. 682 ff.; Rogalla, Dieter, Europas Diener sollen besser werden, EuR 2003, S. 670 ff. 50 Anstelle der früheren 4 Laufbahngruppen (A–D) bestehen jetzt nur noch 2 Funktionsgruppen: Administration (AD) mit 12 Besoldungsgruppen (AD 5 bis 16) und Assistenz (AST) mit 11 Besoldungsgruppen (AST 1 bis AST 11). 51 Oppermann, Europarecht (Fn. 37), § 10, Rn. 1.

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apparats der „Brüsseler Eurokratie“52 und der weit überdurchschnittlichen Bezahlung der dort tätigen Menschen53 berechtigt ist, erscheint angesichts der Aufgabenvielfalt, der Bewältigung von 20 Amtssprachen54 und der Schwierigkeiten, fähige Kandidaten aus „Hochlohnländern“ zu bewegen, nach Brüssel zu gehen,55 eher fraglich. Ernsthafte strukturelle Probleme ergeben sich aber aufgrund der „nationalen Vielgestaltigkeit einer überstaatlichen Verwaltung, ihrem gelegentlich schwierigen Verhältnis zu den öffentlichen Diensten der Mitgliedstaaten und der relativen ‚Ferne‘ der EG-Ebene von den praktischen Auswirkungen der europäischen Verwaltungstätigkeit“56. Als besonders prekär erweist sich in der Praxis das permanente Ringen der Mitgliedstaaten um die Sicherung ausreichender politischer Einflussnahme auf die EG-Verwaltung über die Personalsteuerung.57 So haben sich etwa die Mitgliedstaaten auf einen institutionalisierten Nationalitätenproporz geeinigt, der als „Prinzip der geographischen Ausgewogenheit“ bei der Einstellung von Bediensteten in Art. 27 BSt. und Art. 12 Abs. 1 BSB verankert ist und auf allen Hierarchieebenen Beachtung verlangt.58 Notwen52 Vgl. z. B. Starbatty, Joachim, Die Administration: Was und wie bestimmt Brüssel tatsächlich?, in: Scholz, Rupert (Hrsg.), Deutschland auf dem Weg in die Europäische Union: Wieviel Eurozentralismus – wieviel Subsidiarität?, 1994, S. 44 ff.; Vaubel, Roland, Europa-Chauvinismus. Der Hochmut der Institutionen, 2001; Odleg, Andreas/Tillack, Hans-Martin, Raumschiff Brüssel. Wie Demokratie in Europa scheitert, 2003. Diffr. Wessels, Wolfgang, Verwaltung im EG-Mehrebenensystem: Auf dem Weg zur Megabürokratie?, in: Kohler-Koch, Beate/Jachtenfuchs, Markus (Hrsg.), Europäische Integration, 1996, S. 165 ff.; Bach, Europa (Fn. 6), S. 596 ff. 53 Vgl. zuletzt wieder von Arnim, Hans Herbert/Schurig, Martin, Die Besoldung und Versorgung von Angehörigen des Öffentlichen Dienstes und die Ausgestaltung der Politikfinanzierung in Europa, 2005; von Armin, Hans Herbert, Das EuropaKomplott, 2006, S. 181 ff. m. statistischen Hinweisen. 54 Die EU verfügt über den größten Sprachendienst der Welt. Nach der Osterweiterung 2004 rechnet man mit 5000 Stellen und Gesamtkosten von 1 Milliarde e jährlich. Als „Arbeitssprachen“ herrschen weiterhin Englisch und Französisch vor, obwohl Deutsch als dritte Arbeitssprache anerkannt und seit 1995 die verbreitetste Muttersprache in der EU ist, vgl. dazu Kürten, Markus, Die Bedeutung der deutschen Sprache in der EU, 2004; Lohse, Christian (Hrsg.), Die deutsche Sprache in der EU, 2004. Allgemein zur Sprachenregelung und ihrer Problematik vgl. z. B. Wägenbaur, Bertrand, Die Erweiterung der Union zwischen Sprachenvielfalt und Sprachlosigkeit, EuZW 2003, S. 705 ff.; Yvon, Yannic, Sprachenvielfalt und europäische Einheit, EuR 2003, S. 681 ff.; Mayer, Franz C., Europäisches Sprachenverfassungsrecht, Der Staat 44 (2005), S. 367 ff.; Schübel-Pfister, Isabel, Sprache und Gemeinschaftsrecht, 2004; Creech, Richard, Law and Language in the EU, 2005. 55 So z. B. Kilb, Reform (Fn. 48), S. 686. 56 Oppermann, Europarecht (Fn. 37), § 10, Rn. 2. 57 Vgl. nur Spence, David, Staff and personal policy in the Commission, in: Edwards, Geoffrey/Spence, David (Hrsg.), The European Commission, London 1997, S. 68 (81 ff.).

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dige Folge dieses Proporzdenkens sind neben der generellen Relativierung des Leistungsprinzips die sachlich nicht unbedingt immer indizierte Vermehrung von Stellen bei jeder Erweiterung der EU, mit der zugleich finanziell großzügig abgefederte Pensionierungen bisheriger Stelleninhaber in Spitzenpositionen einher gehen, eine gewisse Immobilität bei Versetzungen und Beförderungen, die immer zwischen verschiedenen Akteuren in langwierigen Prozessen „ausgehandelt“ werden müssen, sowie die integrationshemmende „Pflege“ der eigenen Verwaltungskultur. IV. Konvergenz nationaler Verwaltungskulturen in einem europäischen Verwaltungsraum? Trotz der Konvergenz in vielen anderen Bereichen59 sind die öffentlichen Dienste der Mitgliedstaaten weiterhin durch Vielfalt und nur historisch erklärbare nationalspezifische Eigenheiten geprägt:60 Weder findet der öffentliche Dienst in allen Verfassungen gleichermaßen Erwähnung61, noch existieren überall eingehende gesetzliche Regelungen.62 Während für manche 58

Vgl. dazu bereits Ophüls, Carl Friedrich, Ein Problem des europäischen Beamtenrechts: Eignungsprinzip oder Nationalitätenproporz?, DÖV 1964, S. 588 ff. In der Praxis versuchen die Mitgliedstaaten häufig, ihre eigenen Leute unter Missachtung der regulären Karrierewege in der Kommission zu platzieren (sog. parachutage). Mitte der 1990er Jahre waren mehr als die Hälfte der Kommissionsbeamten sog. parachutists, so Page, People (Fn. 41), S. 49, 51. 59 Zu großer Vorsicht bei vergleichenden Aussagen angesichts der Unterschiedlichkeit der Staatsstrukturen in den Mitgliedstaten der Europäischen Union sowie der von den gesetzlichen Regelungen häufig abweichenden Praxis mahnt Ziller, Jaques, Das öffentliche Dienstrecht aus der Perspektive der vergleichenden Verwaltungswissenschaft, DÖV 2006, S. 233 ff. 60 So zuletzt Demmke, Christoph, Die Europäisierung der öffentlichen Dienste – zwischen nationaler Souveränität und Rechtsangleichung, ZTR 2005, S. 2 (4 ff.) mit einem Überblick über die bisherigen Studien. Vgl. ferner etwa das Fazit von Siedentopf, Heinrich, Der öffentliche Dienst in Europa, in: GS Roman Schnur, 1997, S. 327 (338). Ziller, Jaques, European Models of Government: Towards a Patchwork with Missing Pieces, Parliamentary Affairs, Nr. 54, 2001, S. 102 ff., unterscheidet vier Modelle: das Westminster-Modell, das napoleonische Modell, das Webersche Modell und das schwedische Modell. Auch die neuen Beitrittsstaaten sind keinem bestimmten Verwaltungs- oder Dienstrechtsmodell gefolgt, vgl. Bossaert, Danielle/Demmke, Christoph, Die öffentlichen Dienste in den Beitrittsstaaten, EIPA, Maastricht 2002. Die nachfolgende Darstellung beruht im Wesentlichen auf den übergreifende Studien von Magiera, Siegfried/Siedentopf, Heinrich (Hrsg.), Das Recht des öffentlichen Dienstes in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, 1994, und Bossaert, Danielle/Demmke, Christoph/Nomden, Koen/Polet, Robert, Der öffentliche Dienst im Europa der Fünfzehn, 2001. 61 Überblick bei Masing, in: Dreier (Hrsg.), GG II (Fn. 16), § 33, Rn. 26 m. w. N. 62 Die rechtliche Grundlage des Civil Service in Großbritannien besteht z. B. aus wenigen Vorschriften des Civil Service Order in Council von 1991.

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Rechtsordnungen die Unterscheidung zwischen öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Dienstverhältnissen schlechthin konstituierend ist (z. B. in Deutschland, Luxemburg und Österreich), kennen andere Mitgliedstaaten diese Unterscheidung nicht (z. B. Großbritannien, Irland) oder gewichten beide Bereiche sehr unterschiedlich (z. B. quantitativ deutlich höherer Anteil privatrechtlicher Beschäftigungsverhältnisse in Dänemark und Italien, Bevorzugung des öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisses in Frankreich und den Niederlanden).63 Überwiegend sind öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse auf Lebenszeit ausgerichtet, das ist aber nicht zwingend (wie z. B. Großbritannien oder Schweden zeigen)64. In manchen Mitgliedstaaten beruht die Auswahl des Personals auf einem formalisierten Wettbewerbsverfahren (z. B. in Frankreich, Griechenland, Italien, Portugal), in anderen ist noch nicht einmal der materielle Grundsatz der Bestenauslese in die Beamtengesetze aufgenommen worden (z. B. in den Niederlanden). Auch das Laufbahnprinzip65 ist keineswegs überall anerkannt (z. B. nicht in den Niederlanden, in Estland und in Schweden). Durchgehend großen Wert legen dagegen alle Mitgliedstaaten auf die Sicherung der Neutralität der Bediensteten, was eine grundsätzliche Trennung zwischen politischer und administrativer Ebene sowie das Handeln der Verwaltung nach allgemeinen Gesetzen voraussetzt.66 Ferner lässt sich eine allgemeine Tendenz in Richtung einer „Manageralisierung“ des öffentlichen Dienstes67 erkennen mit der Folge, dass auch internationale Leistungsvergleiche an Bedeutung gewinnen. Dadurch entsteht ein gewisser Harmonisierungsdruck, nicht zuletzt aufgrund der weiterhin vorhandenen Mobilitätshindernisse beim grenzüberschreitenden Austausch der Bediensteten68 wird es aber noch einige Zeit 63 Nach einer neueren Untersuchung in den 25 Mitgliedstaaten bestehen in vielen Mitgliedstaaten zwar Angleichungstendenzen zwischen dem öffentlichen Dienst und dem Privatsektor, kein Mitgliedstaat ist aber bereit, den öffentlichen Dienst vollständig zu privatisieren und das Beamtentum abzuschaffen, vgl. Demmke, Christoph, Who is a Civil Servant?, Studie des europäischen Instituts für öffentliche Verwaltung für die Präsidentschaftsgruppe „Personalpolitik“, EIPA, Maastricht 2004. 64 Die Dienstverhältnisse sind grundsätzlich befristet, werden aber in der Praxis regelmäßig verlängert. 65 Eingehend dazu Lecheler, Helmut, Das Laufbahnprinzip – seine Entwicklung, seine rechtliche Grundlage und Bedeutung für das Berufsbeamtentum, 1981; Güntner, Michael, Laufbahnbewerber und Außenseiter, 2005, S. 20 ff. Zu den charakteristischen Elementen der Systeme mit anderen Strukturmerkmalen vgl. Bossaert/ Demmke/Nomden/Polet, Dienst (Fn. 59), S. 88 f. 66 Vgl. die Zusammenfassung der Länderberichte bei Niedobietek, Matthias, Das Recht des öffentlichen Dienstes in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, in: Magiera/Siedentopf (Hrsg.), Recht des öffentlichen Dienstes (Fn. 60), S. 11 (47–49); Bossaert/Demmke/Nomden/Polet, Dienst (Fn. 59), S. 35 f., 279. 67 Bossaert/Demmke/Nomden/Polet, Dienst (Fn. 59), S. 282 f. 68 Vgl. oben II. 1.

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brauchen, bis (sich) die unterschiedlichen Verwaltungskulturen zu einem gemeineuropäischen Dienstverständnis verschmelzen (lassen). V. Ausblick Will man aus der vorangegangenen Analyse ein kurzes Fazit ziehen, dann kann man festhalten: Die Europäisierung des öffentlichen Dienstes verläuft zögerlich aber stetig und unaufhaltsam. Noch sind die Reservate des nationalen Dienstrechts deutlich erkennbar, ein funktionsfähiger europäischer Verwaltungsraum ist aber auf Dauer notwendigerweise auf eine gewisse Homogenität des Personals angewiesen. Das schließt Unterschiede in der Personalkultur, die ihrerseits zentraler Bestandteil der Verwaltungskultur ist, sicherlich auch zukünftig nicht aus, diese Unterschiede dürften aber im Zuge der Ausbildung einer gemeineuropäischen Verwaltungspraxis immer mehr abgeschliffen werden.

III. Grundrechte, Staatszielbestimmungen und Staatsorganisationsrecht

Alterungsrückstellungen und Eigentumsgarantie Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen einer Portabilität von Alterungsrückstellungen Von Otto Depenheuer I. Versicherungseigentum – ein blinder Fleck der Eigentumsdogmatik Die verfassungsrechtliche Eigentumsqualität von Ansprüchen, Anwartschaften und Aussichten im Rahmen privater Versicherungsverhältnisse ist in der Vergangenheit selten thematisiert worden. Zu selbstverständlich erschienen verfassungsrechtlicher Status und grundrechtlicher Schutz derartiger Rechtspositionen zu sein. Demgegenüber erfuhr lange Zeit die Frage größte Aufmerksamkeit und intensive Diskussion, ob auch Ansprüche im Rahmen der Sozialversicherung eigentumsrechtlich geschützt sein können.1 Seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Versorgungsausgleich ist diese Frage entschieden. Das Gericht erstreckt den Garantiegehalt des Eigentumsgrundrechts seither unter bestimmten Bedingungen auch auf einfachrechtliche Rechtspositionen, die ihre Grundlage nicht im Privatrecht, sondern im öffentlichen Recht finden: „Voraussetzung für einen Eigentumsschutz sozialversicherungsrechtlicher Positionen ist eine vermögenswerte Rechtsposition, die nach Art eines Ausschließlichkeitsrechts dem Rechtsträger als privatnützig zugeordnet ist; diese genießt den Schutz der Eigentumsgarantie dann, wenn sie auf nicht unerheblichen Eigenleistungen des Versicherten beruht und zudem der Sicherung seiner Existenz dient.“2 Erst das Problem der Überschussbeteiligungen im Rahmen kapitalbildender Lebensversicherungen3 sowie die rechtspolitische Diskussion um die Portabilität der Alterungsrückstellungen im Rahmen der privaten Krankenversicherungen4 hat die Frage des verfassungsrechtlichen Status privatver1 Nachweise Depenheuer, Otto, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Art. 14, Rdnr. 387 ff. 2 BVerfGE 69, 272, 300 ff., LS 1. 3 Zum Problem: BGHZ 128, 54 ff.; BVerfGE, NJW 2005, S. 2376 ff. 4 Zur politischen Diskussion vgl. Verband der privaten Krankenversicherung e. V. (Hg.), Zu den Altersbeiträgen der Privatversicherten. Gutachten der unabhängigen

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sicherungsrechtlicher Ansprüche, Anwartschaften und Aussichten aufkommen lassen. Für Ansprüche und Anwartschaften auf versicherungsrechtliche Leistungen ist die Qualifikation als Eigentum im Sinne des Art. 14 Abs. 1 GG im Grundsatz unproblematisch; diese sind mehr als bloße Erwerbschancen, Zukunftshoffnungen oder Aussichten, sondern haben sich bereits zu Vermögensbestandteilen verdichtet.5 Fraglich aber ist der verfassungsrechtliche Status der Rückstellungen im Rahmen kapitalbildender Versicherungen. Das in Rückstellungen angelegte Kapital ist vor der individuellen Gutschreibung nicht dem konkreten Versicherungsnehmer zugewiesen, sondern nach dem Prinzip der Versicherung an der Deckung der kalkulatorisch berechneten Ausschüttungen insgesamt orientiert. Bei den von den Versicherten durch Beiträge finanzierten und von den Versicherungen angelegten Rückstellungen handelt es sich also nicht um ein vom einzelnen Versicherungsnehmer für sich erspartes Kapital, sondern um das Kapital aller zum Versichertenkollektiv kalkulatorisch zusammengefassten Versicherten. Innerhalb dieses Versichertenkollektivs hat der einzelne Versicherungsnehmer nur die Chance, bei Realisierung des versicherten Risikos bzw. bei Erleben des Versicherungsfalls seine Ansprüche konkret und individuell realisieren zu können. Verstirbt er vorher oder kündigt er den Versicherungsvertrag, „vererbt“ oder storniert er seine Anwartschaften ganz oder teilweise zugunsten des Versichertenkollektivs. Eine Portabilität der ARS bedeutete vor diesem Hintergrund eine Individualisierung der Rückstellungen und veränderte dadurch die Kalkulationsvoraussetzungen des Versicherungsvertrags, weil es Stornowahrscheinlichkeiten nicht mehr gäbe. Bei der eigentumsrechtlichen Verortung des Versicherungseigentums geht es daher wegen der kalkulatorischen Bindung des zurückgestellten Kapitals entscheidend um die Klärung der Frage, ob sich die einzelnen Ansprüche der Versicherungsnehmer vor der Gutschreibung bzw. dem Eintritt des Versicherungsfalls überhaupt aus ihrer Bindung an das Versichertenkollektiv herauslösen, isolieren und dem Versicherten individuell zurechnen lassen. Die versicherungskalkulatorische Bindung der Rückstellungen im Rahmen von Versicherungsverhältnissen steht einer isolierten rechtlichen6 BeExpertenkommission zur Untersuchung der Problematik steigender Beiträge der privat Krankenversicherten im Alter, PKV-Dokumentation 19, 1997; Abschlussbericht der Kommission zur Reform des Versicherungsvertragsrechts v. 19. April 2004, S. 141 ff. 5 Vgl. BVerfGE 28, 119, 142; 68, 193, 222 f.; 74, 129, 148; 105, 252, 277 f.; BGHZ 45, 150, 155; 76, 387, 394; BGH, NVwZ-RR 2000, 744 f.; Kimminich, Otto, in: BK, Art. 14, Rdnr. 84 ff. 6 Eine andere Frage ist es, ob kalkulatorisch gebildete Rückstellungen auch rechnerisch individualisierbar sind. Skeptisch für die Alterungsrückstellungen im Rahmen der privaten Krankenversicherung die Unabhängige Expertenkommission, Gutachten (Fn. 4), S. 120 ff.; Boetius, Jan, Bilanz- und europarechtliche Grenzen für

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trachtung und Zuordnung der Rückstellungen an den Versicherungsnehmer nicht entgegen. Die Bindung resultiert aus dem Eintritt des Einzelnen in ein Versichertenkollektiv. Solange die vertragliche Bindung trägt, schließt dies eine Verfügungsmacht des einzelnen über das in den Rückstellungen angelegte Kapital aus, weil nur so Risikoschutz durch Kollektivversicherung möglich wird. Nicht aber beantwortet die kalkulatorische Bindung an und durch das Versichertenkollektiv die Frage nach dem verfassungsrechtlichen Status der Rückstellungen im Rahmen von Privatversicherungsverhältnissen. Auch versicherungskalkulatorisch gebundenes Eigentum kann Eigentum der Versicherten im Sinne des Art. 14 GG sein. II. Der verfassungsrechtliche Status von Rückstellungen 1. Rückstellungen als vermögenswerte Rechtsposition der Versicherten Das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren Grundsatzentscheidungen kapitalgedeckte Ansprüche im Rahmen von Lebensversicherungen objektiv dem Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG unterstellt. Die durch Beiträge der Versicherungsnehmer gebildeten Rückstellungen sind verfassungsrechtlich – auch und sogar in erster Linie – Eigentum der Versicherungsnehmer.7 Diese genießen objektiv Eigentumsschutz für „ihre“ Rückstellungen.8 Der Reformen in der privaten Krankenversicherung, in: Festschrift für Arndt Raupach, 2006, S. 213 ff. 7 Zwar erwirbt das Versicherungsunternehmen zivilrechtlich Eigentum an den Rückstellungen. Es kann, darf und soll über das Geld nach eigenem unternehmerischen Kalkül verfügen, Erträge erwirtschaften und Gewinne erzielen. Insoweit ist das in den Alterungsrückstellungen zusammengefasste Kapital auch als Eigentum des Versicherungsunternehmens verfassungsrechtlich geschützt und garantiert ihm die Freiheiten eines Eigentümers (vgl. dazu näher Depenheuer, Art. 14 [Fn. 1], Rn. 64 ff.). Aber diesen Eigentumsschutz genießt das Versicherungsunternehmen hinsichtlich der Alterungsrückstellungen nur als Treuhänder des ihm anvertrauten Geldes: nur in deren Interesse darf und muss es das Kapital verwalten, mehren und schützen. 8 BVerfGE, NJW 2005, S. 2363; NJW 2005, S. 2376 ff. Vgl. dazu: Bäuerle, Michael, Privatautonome Interessenwahrnehmung und Schutzpflichten des Staates, VuR 2005, S. 401 ff.; Grobenski, Zdenko, Schmiedearbeit am „heißen Eisen“ – Die rechtliche Bewertung stiller Reserven im Lebensversicherungsbereich, ZfV 2005, S. 535 ff.; Schwintowski, Hans-Peter, Die Rechte der Versicherten bei einer Bestandsübertragung, VuR 2005, S. 321 ff.; Weber-Rey/Ressos/Mönnich, Lebensversicherung vor Veränderungen, ZfV 2005, S. 494 ff. – Kritisch gegenüber dem dogmatischen Ansatz: Schenke, Wolf-Rüdiger, Versicherungsrecht im Fokus des Verfassungsrechts – die Urteile des BVerfG vom 26. Juli 2005, in: VersR 2006, 871 ff.; ders., Die Anforderungen des BVerfG an die Berücksichtigung von Bewertungsreserven bei der Ermittlung von Überschussbeteiligung bei kapitalbildenden Lebensversicherungen, in: VersR 2006, 725 ff.

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Schutzbereich der grundgesetzlichen Eigentumsgarantie erfasst mithin auch das bei einem Versicherungsunternehmen von dem Versicherungsnehmer durch Beiträge angesammelte Kapital. Denn „den durch die laufenden Prämienzahlungen angesammelten Vermögenswerten entsprechen im Laufe der Vertragszeit auf unterschiedliche Weise herausgebildete vermögensrechtliche Positionen“ [sc. der Versicherten]9. Der Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG umfasst auch „im Entstehen begriffene Ansprüche, die durch die rechtlichen Vorgaben des Versicherungsvertrags- und des Versicherungsaufsichtsrechts so vorgezeichnet sind, dass es sich um mehr als bloße Chancen handelt. Er erstreckt sich auf die Sicherung der späteren Konkretisierung und Realisierung des zunächst nur dem Grunde nach bestehenden Anspruchs auf Teilhabe an den durch die Prämienzahlung geschaffenen Vermögenswerten, nämlich auf Auszahlung der Versicherungssumme und Überschussbeteiligung bei Ablauf der vorgesehenen Vertragszeit10, aber auch auf die Rückvergütung (den „Rückkaufswert“) bei einer vorzeitigen Beendigung des Vertragsverhältnisses.“11 Das in den Rückstellungen angelegte Kapital ist daher verfassungsrechtlich Eigentum der Versicherungsnehmer: es ist „gesetzlich programmiertes werdendes Eigentum“.12 Allerdings stellt sich der Eigentumsschutz des Versicherungsnehmers in einer um den subjektiv-rechtlichen Garantiegehalt verkürzten Form dar; sie partizipieren am Eigentumsschutz nur objektiv-rechtlich.13 2. Eigentumsschutz durch objektives Recht Der nur objektiv-rechtliche Schutz der Rückstellungen folgt rechtsdogmatisch aus der Tatsache, dass der Gesetzgeber bzw. die Vertragsparteien des Versicherungsvertrages eine allgemeine Portabilität für die Rückstellungen nicht geschaffen haben. Es gibt mithin keine positiv-rechtliche vermögenswerte Rechtsposition, an die ein subjektiv-rechtlicher Eigentumsschutz nach Art. 14 Abs. 1 GG anknüpfen könnte.14 Schon deswegen kann der Versicherungsnehmer über den auf ihn entfallenden rechnerischen Anteil an den Rückstellungen nicht verfügen; sie bilden nur die objektiv-rechtliche Grundlage für die Erfüllung seiner subjektiv-rechtlichen Teilhabe auf künftige Ausschüttung. 9

BVerfGE, NJW 2005, S. 2367. Vgl. BVerfG, NJW 2005, S. 2376, 2377. 11 BVerfGE, NJW 2005, S. 2366. 12 BVerfGE, NJW 2005, S. 2367. 13 BVerfGE, NJW 2005, S. 2363, 2366; BVerfGE, NJW 2005, S. 2376, 2378. 14 Vgl. BGHZ 141, 214 ff.; Zur Notwendigkeit positiv-rechtlicher Vermittlung des verfassungsrechtlichen Eigentumsschutzes vgl. BVerfGE 58, 300, 330; Depenheuer, Art. 14 (Fn. 1), Rn. 29 ff. 10

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Der Ausschluss des Verfügungsrechts an den individualisierten Rückstellungen sowie – damit korrespondierend – der nur objektiv-rechtliche Schutz der Rückstellung stellen nur scheinbar eine Atypizität des Versicherungseigentums dar. Tatsächlich ist die fehlende Verfügungsmacht des Versicherungsnehmers an „seiner“ Rückstellung nur Folge der Ausübung seiner eigentumsrechtlichen Verfügungsbefugnisse: weil und insoweit Versicherungsnehmer kapitalbildende Beiträge an das Versicherungsunternehmen übereignen, d.h. über ihr Geld verfügt haben, haben sie sich durch Vertrag ihrer Verfügungsmacht über ihr Eigentum begeben. Nach Maßgabe des Vertrages haben sie einen Teil ihres Vermögens dem Versicherungsunternehmen anvertraut und damit zugleich für die Dauer des Vertrags auf eigene Vermögensdispositionen verzichtet.15 Schließlich resultiert die Versagung subjektiv-rechtlicher Eigentumsqualität an den Rückstellungen aus der Tatsache, dass das in den Rückstellungen angesammelte Kapital in einem solidarischen Verbund aller Versicherungsnehmer steht. Der einzelne Versicherungsnehmer kann über seinen Anteil an den angesammelten Vermögenswerten de lege lata und der Logik des Versicherungsprinzips entsprechend nicht frei verfügen. Andernfalls würden nicht nur die Kalkulationsgrundlagen des Versicherungsunternehmens in Fortfall geraten; vor allem könnte das Versicherungsunternehmen seine Versicherungsleistungen gegenüber den Bestandskunden nicht mehr in dem vertraglich zugesicherten Umfang einlösen, wenn die Versicherten jederzeit frei über ihre Anteile verfügen könnten. Die Rückstellungen sind nämlich nicht identisch mit der Summe angesparter Beiträge aller Versicherungsnehmer, sondern das Resultat kalkulatorischer Berechnungen, die auf das jeweilige Gesamtkollektiv der Versicherungsnehmer bezogen sind.16 Das positive Recht gibt daher konsequenterweise dem einzelnen Versicherungsnehmer keine Rechtsmacht, über seinen vermögensmäßigen Anteil an den Rückstellungen zu verfügen. 15 Eigentumsdogmatisch gesprochen hat der Eigentümer, der sein Eigentum vertraglich der Nutzung durch Dritte zuführt (= verfügt), seine Verfügungsmacht über sein Eigentum ausgeübt, und zwar mit dem Inhalt, für die Zeit des Vertrages seine Verfügungsmacht nicht auszuüben. Zur Bedeutung der Verfügungsbefugnis für den verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriff vgl. Depenheuer, Art. 14 (Fn. 1), Rn. 65 ff. Dies gilt bei der kapitalbildenden Versicherung in gleicher Weise wie bei Miete und Pacht. Dies gilt auch unabhängig von der hier nicht erheblichen Frage, ob die Versicherung freiwillig oder pflichtig ist. Allerdings muss bei einer kapitalbildenden Pflichtversicherung der Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und der partielle Ausschluss des Verfügungsrechts über die zu zahlenden Beiträge (Art. 14 Abs. 1 GG) ihrerseits verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. 16 Maßgeblich auf die Logik der versicherungsmathematischer Beitragskalkulation für die Frage einer Portabilität abstellend: Scholz, Rupert, „Mitgabe“ der Alterungsrückstellung in der privaten Krankenversicherung beim Wechsel des Versicherers?, in: PKV-Dokumentation, 2001, S. 8 ff.

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3. Grundrechtliche Schutzpflicht in Ansehung von Rückstellungen Der objektiv-rechtliche Eigentumsschutz des Art. 14 Abs. 1 GG, den die Rückstellungen der Versicherungsnehmer genießen, wirkt verfassungsrechtlich in zwei Richtungen: er verpflichtet den Staat einerseits dafür Sorge zu tragen, dass die Rückstellungen im Interesse der Versicherungsnehmer in der Substanz und in ihren Erträgen geschützt werden, andererseits nicht durch eigenes Handeln Substanz und Funktion der Rückstellungen und ihrer Erträge zu unterminieren. Kompensatorisch zum „nur“ objektiv-rechtlichen Schutz der Rückstellungen durch die Verfassung wird der Staat in die Pflicht genommen: ihm obliegt verfassungsrechtlich die Aufgabe, im Verhältnis von Versicherungsunternehmen und Versicherungsnehmer die Integrität des Kapitalstocks sowie eine angemessene Beteiligung an den daraus erwirtschafteten Überschüssen sicherzustellen.17 „Diese Schutzpflicht fordert insbesondere Schutzvorkehrungen dafür, dass die durch Prämienzahlungen der Versicherungsnehmer beim Versicherer geschaffenen Vermögenswerte als Quellen für die Erwirtschaftung von Überschüssen erhalten bleiben und den Versicherten im Fall von Bestandsübertragungen in gleichem Umfang zugute kommen wie ohne Austausch des Schuldners.“18 Auch muss der Gesetzgeber hinreichende rechtliche Vorkehrungen dafür vorsehen, dass bei der Ermittlung eines bei Vertragsende zuzuteilenden Schlussüberschusses die Vermögenswerte angemessen berücksichtigt werden, die durch die Prämienzahlungen geschaffen worden sind. III. Portabilität von Alterungsrückstellungen Für einen Fall kapitalgedeckter Rückstellungen wird seit vielen Jahren die Frage einer Portabilität diskutiert: für die Alterungsrückstellungen in der privaten Krankenversicherung.19 Insoweit stellt sich die Frage, ob aus der verfassungsrechtlichen Qualifikation der Rückstellungen im Rahmen privatversicherungsrechtlicher Beziehungen als Eigentum im Sinne des Art. 14 Abs. 1 GG Vorgaben für eine Ausgestaltung und Grenzen einer Portabilitätsregelung abgeleitet werden können. Zu diesem Zweck sollen zunächst Idee und Rechtsgrundlagen der Alterungsrückstellungen skizziert werden. 17 Vgl. grundlegend BVerfGE, NJW 2005, S. 2366 ff.; BVerfGE, NJW 2005, S. 2378 ff.; vgl. auch gleichsinnig BGH, NJW 2005, S. 3559, 3562. Zur dogmatischen Begründung und Wirkkraft der grundrechtlichen Schutzpflichten vgl. Isensee, Josef, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/ Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § 111. 18 Vgl. BVerfG, NJW 2005, S. 2363, 2365 ff.; BVerfG, NJW 2006, S. 1783, Ziff. 55. 19 Vgl. o. Fn. 4.

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Aus der eigentumsgrundrechtlichen Qualifikation dieser Rückstellungen können sodann Legitimation, Reichweite und Grenzen einer Portabilität abgeleitet und bestimmt werden. 1. Idee und Rechtsgrundlagen der Alterungsrückstellungen Die private Versicherung gegen das Risiko der Krankheit geht davon aus, dass die gesamten Leistungen des Versicherungsunternehmens für jeden Versicherten durch seinen Beitrag gedeckt sein müssen (individuelles Äquivalenzprinzip). Dafür wird eine homogene Versichertengruppe gebildet, die gleiche Leistungsansprüche, gleiches Eintrittsalter und gleiches Geschlecht haben. Da mit zunehmendem Alter das Krankheitsrisiko steigt, würde ein System der Risikoprämienbildung dazu führen, dass die Beiträge in der Jugend sehr gering wären und mit zunehmendem Alter immer stärker anstiegen. Sie wären schließlich so hoch, dass sie von einem Teil der älteren Versicherungsnehmer nicht mehr bezahlt werden könnten.20 Um dieses Ergebnis zu vermeiden, wird gem. § 12 Abs. 1 VAG die substitutive Krankenversicherung seit Jahrzehnten nach Art der Lebensversicherung betrieben. Bei ihr müssen die Beiträge so festgesetzt werden, dass sie vom Vertragsschluss bis zum Vertragsende gleich hoch bleiben. Dies gelingt mit Hilfe der Alterungsrückstellungen, mittels derer dem Versicherungsnehmer garantiert wird, dass seine Prämien jedenfalls nicht aufgrund des Älterwerdens steigen.21 Nach § 12 Abs. 1 Nr. 2 VAG haben die Privaten Krankenversicherungen Alterungsrückstellungen nach § 341f HGB zu bilden. Diese speisen sich aus einem Zuschlag, der zur Risikoprämie des Versicherten hinzugerechnet wird (sog. Sparanteil).22 Die Summe der Sparanteile aller Versicherten bildet die sog. Alterungsrückstellung i. S. d. § 341f HGB. Beitragsmindernd wird bei der Kalkulation der Alterungsrückstellung berücksichtigt, dass beim Ausscheiden eines Versicherten durch Tod oder Kündigung („Storno“) der für ihn noch vorhandene Teil der Alterungsrückstellung der Versichertengemeinschaft zugute kommt (sog. „Vererbung“). 20 Vgl. dazu und zum folgenden: Unabhängige Expertenkommission, Gutachten (Fn. 4), S. 39 ff. 21 Alterungsrückstellungen dienen also lediglich dazu, dass das Versicherungsunternehmen seine rechtliche Verpflichtung einlösen kann, dass die Versicherungsbeiträge nicht allein wegen des Älterwerdens steigen. Beitragserhöhungen wegen steigender Preise, des medizinischen Fortschritts, steigender Lebenserwartung und eines (nicht altersbedingten) veränderten Inanspruchnahmeverhaltens bleiben hingegen weiter möglich. 22 Solche Sparanteile werden vom Versicherungsunternehmen ertragbringend angelegt, bis sie benötigt werden. Dabei wird als sicher angenommen, dass die Versicherungsunternehmen mit den Kapitalanlagen aus solchen Sparanteilen mindestens einen Zinsertrag von 3,5% erwirtschaften (sog. rechnungsmäßiger Zinssatz).

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Sobald bei steigendem Alter infolge des höheren Krankheitsrisikos die altersabhängige Risikoprämie die konstante Prämie übersteigt, ist der für den jeweiligen Versicherten vorgesehene Anteil aus der Alterungsrückstellung sukzessive zur Finanzierung des übersteigenden Teils der Risikoprämie heranzuziehen. Der Sparanteil ist so zu kalkulieren, dass die Alterungsrückstellung gerade ausreicht, um den Beitrag für die gesamte Lebensdauer des Versicherten konstant zu halten. Daneben müssen seit dem Jahr 2000 alle Versicherten zwischen dem 21. und 60. Lebensjahr gem. § 12 Abs. 4a VAG einen weiteren 10%-Zuschlag der jährlichen Bruttoprämie leisten. Dieser dient der Vorsorge für die möglichen Mehrkosten des medizinischen Fortschritts und ist den Alterungsrückstellungen direkt zuzuführen. Auch diese Zuschläge sind nach § 12 Abs. 4a VAG „zur Prämienermäßigung im Alter nach § 12a Abs. 2a,“ d.h. „ab der Vollendung des 65. Lebensjahres als Beitragsgutschrift zu verwenden“. Die gesamten Alterungsrückstellungen im Bereich der privaten Krankenversicherung dürften derzeit ein Volumen von ca. 100 Mrd. EUR betragen. 2. Alterungsrückstellungen als Eigentum iSd. Art. 14 GG Das in den Alterungsrückstellungen angesammelte Kapital aus den Sparanteilen der Beiträge, der Überschussbeteiligungen und den Beitragszuschlägen, aus dem später die Beitragsgutschriften geleistet werden müssen, unterfallen als Konsequenz der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Garantiewirkung der verfassungsrechtlichen Eigentumsgewährleistung.23 Die Versicherungsnehmer haben das in den Alterungsrückstellungen zusammengefasste Vermögen durch ihre Beiträge „angespart“. Das positive Recht – Versicherungsaufsichtsgesetz und individueller Versicherungsvertrag – hat diese Vermögenswerte objektiv den Versicherungsnehmern zugeordnet. Es ist „gesetzlich programmiertes werdendes Eigentum“24 und wird vom Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG erfasst. Daher dürfen die Versicherungsunternehmen diese Vermögenswerte verfassungsrechtlich – abgesehen von den Verwaltungskosten des Versicherungsunternehmens – auch ausschließlich im Interesse der Versicherten verwalten und mehren; es ist zwar formal, nicht aber material Eigentum des Versicherungsunternehmens. 23 Vgl. o. II. 1. – Die Maßstäbe der Entscheidung kommen dem Grundsatz nach bei allen kapitalbildenden Versicherungstypen zur Anwendung. Dies gilt also auch für die Alterungsrückstellungen in der substitutiven privaten Krankenversicherung, die „nach Art der Lebensversicherung“ gebildet werden. 24 BVerfGE, NJW 2005, S. 2367.

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3. Keine Pflicht zur Einführung einer Portabilität Eine Verpflichtung, die Alterungsrückstellungen für den einzelnen Versicherungsnehmer portabel auszugestalten, besteht für den Gesetzgeber indes nicht. Auch aus der vom Bundesverfassungsgericht aus Art. 14 Abs. 1 GG abgeleiteten objektiv-rechtlichen Schutzpflicht ergibt sich eine derartige Pflicht nicht. Über die allgemeine Schutzverantwortung des Staates zur Sicherung des Versicherungseigentums hinausgehend lässt sich keine Verpflichtung ableiten, eine Portabilität der individuell zurechenbaren Alterungsrückstellungen dem Grund nach gesetzlich einzuführen. Die vom Bundesverfassungsgericht für den Bereich der Lebensversicherung konkretisierte grundrechtliche Schutzpflicht des Staates zielt auf die Integrität des Kapitalstocks der Rückstellungen und die angemessene Teilhabe an erwirtschafteten Überschüssen.25 Diesem Schutzauftrag kommt zwar auch im Rahmen einer Portabilitätsregelung eine gewichtige Bedeutung zu; aus ihm lässt sich indes darüber hinausgehend eine verfassungsrechtliche Verpflichtung zur Einführung einer Portabilität nicht herleiten. Insoweit kommt dem Gesetzgeber vielmehr ein breiter Ermessensspielraum schon deswegen zu, weil eine Portabilität von Versicherungsleistungen sowohl Vorzüge – Stärkung des Wettbewerbs im Bereich der privaten Krankenversicherungen26 – als auch Nachteile – höhere Beiträge der Versicherten für die Rückstellungen wegen fehlender Stornowahrscheinlichkeiten27 – aufweist. Es obliegt daher verfassungsrechtlich der legitimen Prärogative des Gesetzgebers einzuschätzen, ob die höheren Kosten für eine Portabilität deren erhoffte Vorteile einer Wettbewerbsstärkung aufwiegen. IV. Grenzen einer Portabilität im Versichertenstamm Eine Portabilität kapitalgedeckter Versicherungsansprüche ergänzt und erweitert den objektiv-rechtlichen Schutz des Versicherungseigentums partiell zu einem subjektiv-rechtlichen. Für eine Beurteilung der eigentumsgrundrechtlichen Zulässigkeit einer Portabilität der Alterungsrückstellungen muss danach differenziert werden, ob die Portabilität nur im Neugeschäft, d.h. für neue Versicherungsverträge, oder auch im Versichertenstamm eingeführt werden soll. Im Neugeschäft wäre ferner zu differenzieren zwischen einer Portabilität innerhalb der Privaten Krankenversicherung und einer systemübergreifenden, auch die gesetzliche Krankenversicherung einschließenden Portabilität. Die nachfolgenden Überlegungen beschränken sich auf das Problem einer Portabilität im Versichertenstamm.28 25 26 27

BVerfG, NJW 2005, S. 2363, 2366. Vgl. Unabhängige Expertenkommission, Gutachten (Fn. 4), S. 113 ff. Vgl. Unabhängige Expertenkommission, Gutachten (Fn. 4), S. 116 ff.

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1. Umverteilung von Grundrechtssubstanz Portabilität hat ihren Preis. Nicht nur eine Portabilität der Alterungsrückstellungen im Neugeschäft würde wegen der fehlenden Stornowahrscheinlichkeiten höher zu kalkulierende Beitragssätze zur Folge haben. Dieser Preis einer Portabilität müsste auch dann gezahlt werden, wenn eine Portabilität rückwirkend für bestehende Versicherungsverträge eingeführt würde. Allerdings würde dieser Preis in diesem Fall nicht von allen Versicherten entrichtet werden müssen, sondern einseitig nur die im Kollektiv verbleibenden Versicherten belasten. Denn in dem Maße wie Versicherungsnehmer ihre Versicherung wechseln und ihre Alterungsrückstellungen mitnehmen, entwerten sie deren Wert für das verbleibende Versichertenkollektiv. Die Versicherung kann ihre vertragliche Garantie und gesetzliche Pflicht, die Beiträge nicht wegen des erhöhten Krankheitsrisikos im Alter zu erhöhen, wegen der Verschlechterung der Kalkulationsgrundlagen nicht mehr einhalten. Da eine rückwirkende Erhöhung der auf die Alterungsrückstellungen entfallenden Beitragsanteile nicht in Betracht kommt, können also nur entweder die Wechsler oder das übrigbleibende Kollektiv zum Ausgleich der erhöhten Kosten herangezogen werden. Lässt man die Belastung der wechselnden Versicherten zunächst außer Betracht,29 so bedeutet dies rechtspraktisch für den verbleibenden Versichertenstamm eine Erhöhung der Beiträge für die Alterungsrückstellungen oder eine Schmälerung der daraus zu leistenden Beitragsgutschriften im Alter.30 Das verbleibende Versichertenkollektiv müsste also den Preis dafür bezahlen, dass durch die Einführung portabler Alterungsrückstellungen andere ihre Versicherung wechseln können. Dieser Effekt einer Portabilitätsregelung würde zusätzlich noch dadurch verstärkt, dass vor allem die jüngeren und gesunden Versicherten von der durch eine Portabilität der Alterungsrückstellungen eröffneten Wechseloption Gebrauch machen dürften. Denn diesen guten Risiken könnten neue Versicherungsunternehmen entsprechend günstigere Angebote unterbreiten als diejenigen, die auch die schlechteren Risiken der älteren und kranken Versicherten im Bestand einkalkulieren müssen. Eine Portabilität der Alte28 Zur Frage einer systemübergreifenden Portabilität im Neugeschäft vgl. Depenheuer, Otto, Verfassungsrechtliche Grenzen einer Portabilität von Alterungsrückstellungen in der Krankenversicherung, Gutachten, 2006 [MS]. 29 Diese Option soll hier zunächst deswegen außer Betracht bleiben, weil eine Belastung wechselwilliger Versicherten das erklärte Ziel einer Portabilitätsregelung, den Wettbewerb im Krankenversicherungsmarkt zu stärken, zumindest teilweise konterkarieren würde. Vgl. aber unten Fn. 40. 30 Vgl. zum folgenden Unabhängige Expertenkommission, Gutachten (Fn. 4), 116 ff.

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rungsrückstellungen führt also zu einer Selektion der guten und schlechten Risiken, zu einer Entsolidarisierung der Gesunden und Jungen auf Kosten der Alten und Kranken.31 Damit die Wechselwilligen mit guten Risiken mit ihrer Alterungsrückstellung wechseln können, müssen die verbleibenden Versicherten mit schlechten Risiken eine Erhöhung der Beiträge und/oder eine künftige Verminderung der Beitragsgutschriften hinnehmen, würden in ihren rechtlich begründeten Erwartungen enttäuscht, durch die Sparanteile ihrer Beiträge „ihre“ Beitragsgutschriften „angespart“ zu haben, und damit insgesamt vermögensmäßig schlechter gestellt. Der kalkulatorische Nominalwert ihrer Alterungsrückstellungen vermindert sich durch die Einführung der Portabilität.32 Eine Portabilität für den Versichertenstamm erweist sich damit der Sache nach als eine Umverteilung von Grundrechtssubstanz.33 Diese Umverteilung von Eigentumssubstanz innerhalb der Versichertengemeinschaft durch die Einführung einer Portabilität für die Alterungsrückstellungen für den Versichertenstamm stellt einen Eingriff in die durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Vermögensposition der verbleibenden Versicherungsnehmer dar.34 Dieser Eingriff in das Eigentum der Versicherungsnehmer ist in Ansehung der Eigentumsgarantie verfassungsrechtlich nur zulässig, wenn den bestehenden Rechtfertigungsvoraussetzungen Rechnung getragen wird. Dabei ist zwischen den zwei zulässigen Zugriffsarten des Gesetzgebers auf das Eigentum zu unterscheiden: die gesetzliche Inhaltsbestimmung gemäß Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG und die Enteignung nach Art. 14 Abs. 3 GG.35

31 Diese gesetzlich angelegte Entsolidarisierung der Jungen und Gesunden zu Lasten der Älteren und Kranken dürfte ihrerseits mit dem Sozialstaatsprinzip nur schwerlich vereinbar sein und widerspräche auch dem für das Versicherungsrecht typischen Grundgedanken einer Risikogemeinschaft. Ein kompensatorisch angeordneter Risikostrukturausgleich könnte dem Problem wiederum nur unter Denaturierung der Idee der „Privatenversicherung“ abhelfen: privatrechtliche Risikoversicherung und hoheitliche Risikonivellierung passen nicht zueinander. 32 Nur wenn die Alterungsrückstellungen als eine Form staatlichen Zwangssparens organisiert wären, würde die Inanspruchnahme einer Portabilität die Vermögenspositionen der übrigen Versicherungsnehmer unberührt lassen. 33 Dazu zuletzt BVerfG, NJW 2005, S. 3564. 34 Dieser rückwirkende Eingriff in den individuellen Versicherungsvertrag ist seinerseits verfassungsrechtlich problematisch. Denn dessen konkreter Inhalt ist gegen staatliche Veränderungen als Ausfluss der Privatautonomie durch Art. 2 GG geschützt, seine Integrität für die Dauer des Versicherungsverhältnisses durch das Prinzip des Vertrauensschutzes, das im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG verankert ist. Insbesondere bei langfristigen und existentiellen Versicherungsverträgen von grundlegenden Lebensrisiken kommt dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit eine besondere Bedeutung zu. 35 Zu den dogmatischen Grundlagen Depenheuer, Art. 14 (Fn. 1), Rn. 197 ff.

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2. Rechtfertigung Rechtsdogmatisch handelt es sich bei der Vermögenseinbuße als Folge der Einführung einer Portabilität der Alterungsrückstellungen um eine Inhaltsbestimmung des Eigentums, weil das Eigentum der Versicherungsnehmer an den Alterungsrückstellungen abstrakt-generell neu ausgestaltet wird.36 Gesetzliche Inhaltsbestimmungen des Eigentums sind nur zulässig, wenn sie einem legitimen öffentlichen Zweck dienen, insoweit geeignet und erforderlich sind und die betroffenen Grundrechtsträger nicht unverhältnismäßig belasten. a) Wettbewerb im Krankenversicherungsmarkt als legitimer öffentlicher Zweck Insoweit in der rechtspolitischen Diskussion die Einführung einer Portabilität der Alterungsrückstellungen damit begründet wird, nur so ließe sich Wettbewerb im Markt der privaten Krankenversicherung etablieren,37 so mag dieses Ziel in seiner Legitimität und das Mittel der Portabilität in seiner Tauglichkeit zur Zielerreichung unterstellt werden. Ob es aber erforderlich ist, dazu die Integrität des Kapitalstocks der vorhandenen Alterungsrückstellungen in Frage zu stellen, muss verfassungsrechtlich schon deswegen nachdrücklich bezweifelt werden, weil im prospektiven Ergebnis die damit verbundenen Selektionswirkungen einseitig die guten zu Lasten der schlechten Risiken bevorzugt. Das ist nicht nur mit dem Gedanken der Risikogemeinschaft unvereinbar,38 sondern widerspricht darüber hinaus fundamentalen Wertungen des Sozialstaatsprinzips des Art. 20 Abs. 1 GG. Vor allem aber erwiese sich eine derartig begründete Portabilität im Sinne des verfassungsrechtlichen Gebots eines verhältnismäßigen Grundrechtseingriffs als nicht erforderlich. Denn Wettbewerb ließe sich auch schon dadurch erreichen, dass eine Portabilität nur für das Neugeschäft eingeführt wird und bestehende Eigentumspositionen respektiert und unberührt bleiben. Eine rückwirkende Umverteilung von bestehender Eigentumssubstanz und verfassungsrechtlich geschützten Eigentumspositionen ist jedenfalls nicht erforderlich, um ein Element des Wettbewerbs im privaten Markt der Krankenversicherung zu etablieren, und schon deswegen verfassungswidrig.

36 Näher zur Kategorie des Inhaltsbestimmung: Depenheuer, Art. 14 (Fn. 1), Rn. 203, 218 ff. 37 Vgl. Unabhängige Expertenkommission, Gutachten (Fn. 4), S. 115 ff. 38 Vgl. BVerfGE, NJW 2005, S. 3564.

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b) Unmittelbarer Verstoß gegen eine grundrechtliche Schutzpflicht Darüber hinaus stellt eine Portabilitätsregelung im Ergebnis eine unmittelbare Verletzung der grundrechtlichen Schutzpflicht dar. Indem nämlich die Einführung einer Portabilität auch für den Versichertenbestand zu Einbußen der bestehenden Alterungsrückstellungen und damit zu einem Eingriff in das Eigentum der verbleibenden Versicherungsnehmer führt, liegt darin das genaue Gegenteil der Aufgabe, die das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber in Ansehung eines von den Versicherten angesparten und vorhandenen Kapitalstocks als grundrechtliche Schutzpflicht ins Stammbuch geschrieben hat: der Staat ist verfassungsrechtlich verpflichtet, die Integrität des Kapitalstocks sowie eine angemessene Beteiligung an den daraus erwirtschafteten Überschüssen sicherzustellen, um die nach dem VAG vorgesehenen und vertraglich vereinbarten Beitragsgutschriften im Alter sicherzustellen.39 Führt eine Einführung einer Portabilität hingegen zu einer Minderung des Wertes der Alterungsrückstellungen, so hat der Gesetzgeber damit nicht nur seiner grundrechtlichen Schutzpflicht nicht Genüge getan, sondern direkt dagegen verstoßen. Darin liegt zugleich ein prinzipiell nicht zu überbrückender Widerspruch zur Idee kapitalgedeckter Alterungsrückstellungen überhaupt. So plausibel deren Erhebung ist, so abwegig mutet der Versuch an, deren Funktion durch Einführung einer nachträglichen Portabilität zu ruinieren. Der Gesetzgeber zeigte nicht nur keinen Respekt vor der verfassungsrechtlichen Garantie des Eigentums, sondern führte die Idee kapitalgedeckter Risikovorsorge an einem Beispiel ad absurdum.40

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Vgl. BVerfG NJW 2005, S. 2363, 2366 ff. Um der grundrechtlichen Schutzpflicht in Ansehung bestehender Alterungsrückstellungen Rechnung zu tragen, könnte der Gesetzgeber die Portabilität der individuellen Alterungsrückstellungen mit der Maßgabe ausgestalten, dass bei einem Wechsel von Versicherten die Integrität des Kapitalstocks der Alterungsrückstellungen in dem Umfang gewährleistet bleibt, dass daraus die kalkulierten Beitragsgutschriften für die verbleibenden Versicherungsnehmer im vertraglich vereinbarten Umfang gewährleistet bleiben. Ob dies versicherungsmathematisch möglich ist, kann hier nicht entschieden werden; ob es rechtspraktisch realisierbar ist, erscheint fraglich. 40

Staatszielbestimmungen Von Roman Herzog Der Begriff „Staatszielbestimmung“ gehört seit einigen Jahrzehnten zum festen Bestand der deutschen verfassungsrechtlichen Terminologie. Man kann also sagen, dass er unumstritten sei. Die Sache, für die er steht, ist es allerdings nicht. Von allen möglichen Seiten wird je nach den gerade öffentlich diskutierten Problemen die Aufnahme neuer Staatszielbestimmungen in das Grundgesetz gefordert, von anderer Seite werden solche Forderungen leidenschaftlich bekämpft, und insgesamt besteht der Eindruck, mit der Frage als solcher gehe es nicht recht vorwärts, sondern sie trete, wie viele andere Fragen in unserem Lande auch, recht eigentlich auf der Stelle. Die folgenden Erörterungen dürften daran nicht allzu viel zu ändern vermögen. Vielleicht tragen sie aber doch ein wenig zur Klärung des Themas bei, und in jedem Fall mögen sie den Jubilar interessieren, der in seinen politischen Funktionen mehr als einmal mit Staatszielbestimmungen befasst war. I. Der Streit um die Staatszielbestimmungen Wer das Grundgesetz am Tage seines Inkrafttretens oder gleich danach las, der dürfte schwerlich geahnt haben, dass unser Thema künftighin die Bedeutung erlangen würde, die es heutzutage besitzt. Die Lektüre des Art. 20 GG hätte in ihm zwar den Gedanken an Staatszielbestimmungen entstehen lassen können. Bei etwas genauerer Besinnung auf den Sinn deutscher Wörter hätte er sich wohl aber gesagt, dass Republik, Demokratie, Gewaltenteilung und Bundesstaatlichkeit genau genommen keine Ziele, sondern Organisationsprinzipien des neu entstehenden Staates seien; die Vokabel „Demokratisierung“, die aus der Demokratie zumindest auch ein Staatsziel zu machen versuchte, war damals noch nicht erfunden und die Rechtsstaatlichkeit, die es in den hergebrachten Terminologien sowohl als formelle wie auch als materielle gab, war erstens im Text des Art. 20 GG nicht aufzufinden und wäre zweitens wohl auch besser dem Charakter des Staates als dessen Zielen zuzurechnen gewesen. So blieb aus dem Textbestand des Art. 20 GG zunächst einmal nur die Sozialstaatlichkeit, die man ernstlich als Staatszielbestimmung deuten konnte; darauf wird später noch einmal zurückzukommen sein.

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Andere Staatszielbestimmungen hätte man seinerzeit wenigstens ahnen können, so das Bekenntnis zur europäischen Integration, das dem Art. 24 GG offensichtlich eingeboren war, und das Wiedervereinigungsgebot, das vom Bundesverfassungsgericht später aus einer Gesamtschau der Präambel und des Schlussartikels hergeleitet wurde. Ein negatives, d. h. verbotenes Staatsziel benannte Art. 26 GG mit der Untersagung des Angriffskrieges und einen Verteidigungsauftrag hat wiederum das Bundesverfassungsgericht aus einschlägigen, meist aber erst später eingefügten Verfassungsartikeln deduziert. Die Staatsrechtslehre hat gegenüber Forderungen nach der Aufnahme neuer Staatszielbestimmungen ins Grundgesetz im allgemeinen eher Skepsis an den Tag gelegt. Das mag im einen oder anderen Fall mit dem Inhalt der geforderten Bestimmungen zu erklären sein. Meist waren die Motive dafür jedoch prinzipieller Natur. Es ist ja zuzugeben, dass Staatszielbestimmungen meist sehr umfassend formuliert werden (und wohl auch werden müssen) und bei den interessierten Laien daher übertriebene Hoffnungen erwecken. An den politischen Führungsorganen und ganz besonders am Bundesverfassungsgericht liegt es dann, solche Hoffnungen, die oft genug in Parlaments- und Sonntagsreden noch hochgepuscht worden sind, auf ein realistisches Maß zurückzuschneiden oder sagen wir es deutlich, zu enttäuschen. Dem Vertrauen der Bürger in die Seriosität der staatlichen Politik dient das auf keinen Fall und in Zeiten, in denen dieses Vertrauen ohnehin tief erschüttert ist, kann man sich solche Effekte noch weniger wünschen als sonst. Dass das Bundesverfassungsgericht, wenn es solche Bestimmungen nicht restriktiv auslegen würde, sich mühelos zum eigentlichen Herrn der deutschen Politik (und ganz besonders zum Herrn über die staatlichen Haushalte) aufschwingen könnte, soll hier nur am Rande erwähnt werden, auf den enttäuschten Bürger wirken solche Argumente, so richtig sie sein mögen, allerdings kaum. Die Zurückhaltung der Staatsrechtlehre, von der gesprochen wurde, hat jedenfalls gute Gründe für sich. II. Sonderfall Sozialstaat Solchen Überlegungen widerspricht – zumindest auf den ersten Blick – die Erfahrung, die Deutschland bisher mit der ältesten und zugleich umfassendsten Staatszielbestimmung des Grundgesetzes gemacht hat, nämlich mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG. Obwohl dieses Prinzip im Text des Grundgesetzes ziemlich allein dasteht und – anders als die weiteren Grundsätze des Art. 20 Abs. 1 GG – im Text der Verfassung auch kaum näher konkretisiert ist, wird man die Bundesrepublik Deutschland als einen voll ausgebauten, manche sagen sogar: als einen überspitzten Sozialstaat bezeichnen können. Hier hat es, so könnte man argumentieren, weder

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eine restriktive Auslegung des Grundgesetzes noch irgendeine Zurückhaltung in Haushaltsfragen gegeben. Beides ist durchaus richtig. Nur zeigt eine nüchterne Analyse der historischen Entwicklung, dass diese bei weitem nicht so sehr auf der Verankerung der Sozialstaatlichkeit im Grundgesetz beruhte als auf politischen Motiven, die in einem breiten Spektrum von ernsten staatspolitischen und staatsethischen Gesichtspunkten bis zu ganz banalen utilitären Überlegungen gereicht haben dürften, wie sie der Grundsatz des allgemeinen Wahlrechts in Massendemokratien hervorruft. III. Sinn und Wesen von Verfassungen Bei alledem gibt es, entgegen den bisherigen Überlegungen, auch gute Gründe für die Aufnahme von Staatszielbestimmungen in moderne Verfassungen; nur muss man sich, um das objektiv zu sehen, auf eine etwas andere Ebene der Betrachtung begeben als üblich. Dass sich Verfassungen mit dem Staat beschäftigen, bedarf keines besonderen Hinweises. aber wie tun sie es und wie tut es insbesondere das Grundgesetz? In seinem ersten Abschnitt, dem Grundrechtsteil, trifft es nur Aussagen darüber, was der Staat, den es konstituiert, nicht tun darf. In den weiteren Abschnitten dagegen richtet es seinen Staat ein, entscheidet also über seine Organisation. Offen bleiben dabei, zu welchem Zweck es den Staat schafft und verfasst. Man mag sagen, dass das ohnehin jedermann klar ist. aber das ist ein Irrtum. Die Unsicherheiten über die Aufgaben des Staates, die im Augenblick sowohl die politische Theorie als auch die politische Praxis beherrschen, zeigen das ganz deutlich. Wenn Zweck und Aufgaben des Staates aber weder allgemein bekannt noch in seiner Verfassung ausdrücklich beschrieben sind, dann wirkt diese nicht sehr viel anders als ein Auto-Prospekt, in dem zwar alles über Gewicht, Farbe und Zusammensetzung des Fahrzeugs mitgeteilt wird, in dem aber sorgfältig verschwiegen wird, wozu es da ist: nämlich zum Fahren. Und es fragt sich dann, ob es nicht doch sinnvoll wäre, wenigstens über Sinn und Zweck des Staates Auskunft zu geben – und zwar in seiner Verfassung. Man mag sich in dieser Frage so oder so entscheiden. Klar muss aber sein, dass es sich bei ihr letztlich um die Frage nach dem Wesen einer Verfassung handelt. Ist sie ein – wenn auch höherrangiges – Gesetz mit ausschließlich rechtlichen Inhalten oder trifft sie, zumindest auch, empirische Aussagen über den Willen und die Vorstellungen der Nation, der sie ihre Existenz verdankt? Die Auffassungen darüber gehen schon unter den heute bestehenden westlichen Demokratien weit auseinander: Den Aussagetyp

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repräsentiert mehr als jede andere Verfassung die französische Verfassung von 1958, den juristischen Typ hingegen das deutsche Grundgesetz und der Punkt, an dem sich alles entscheidet, ist die Verfassungsgerichtsbarkeit, die in Frankreich im sogenannten Verfassungsrat nur rudimentär vorhanden ist, während sie in Deutschland nach Zuständigkeit und Kontrolldichte so massiv ausgebaut ist, dass man sich ein Mehr kaum vorstellen kann. Man kann die Frage, um die es hier geht, noch weiter zuspitzen: Ist die Verfassung ausschließlich ein Rechtsinstrument, so haben alle Argumente, die sich gegen die Aufnahme von Staatszielbestimmungen in ihren Text vorbringen lassen, unverändert Gültigkeit. Hat sie – stattdessen oder zumindest daneben – auch noch andere Funktionen, beispielsweise die politische Integration des Staatsvolkes, so können kraftvolle und allgemein einsichtige Aussagen über Zwecke, Funktionen und Ziele des Staates sehr wohl einen guten Sinn haben. Hier ist man alsbald beim Begriff des Verfassungspatriotismus angelangt. Erfunden wurde dieser Begriff, wenn nicht alles täuscht, um das Wort „Patriotismus“, das im öffentlichen Bewusstsein eindeutig positiv besetzt ist, für unseren Staat zu verwenden, ohne dass man sich zugleich zur Nation bekennen musste. Das war zu bestimmten Zeiten gewiss vertretbar. Heute wird mit dem Begriff der Nation in Deutschland aber ebenso unverkrampft umgegangen wie mit dem der Verfassung, so dass sich dieser Umweg in absehbarer Zukunft wohl selbst erledigen wird. Trotzdem bleibt der Gedanke, dass eine gute Verfassung, selbstverständlich neben vielen anderen Elementen, das Staatsvolk integrieren und ihm ein positives Verhältnis zu seinem Staat verschaffen kann, richtig. Die Bundesrepublik Deutschland hat das in ihren ersten Jahrzehnten erlebt und sie wäre gut beraten, sich diese Quelle der Vertrauensbildung zu erhalten. Dann muss man allerdings den Begriff der Verfassung bzw. das, was der berühmte Mann auf der Straße darunter versteht, etwas näher beleuchten. Was die ersten Jahrzehnte nach 1949 betrifft, so geht man wohl nicht fehl, wenn man annimmt, dass sich der damalige Verfassungspatriotismus bei weitem nicht nur auf den geschriebenen Buchstaben des Grundgesetzes bezog, sondern auf das gesamte „System“ und seine Politik, als da sind Verfassungstreue der Staatsorgane und nötigenfalls Kontrolle durch das Verfassungsgericht, soziale Marktwirtschaft und ständiges Wirtschaftswachstum, erfolgreiche Außenpolitik, Rückgewinnung des verlorenen Ansehens in der Welt, langjährige politische Stabilität usw. Viele von diesen Punkten sind heute nicht mehr so wirkkräftig, teils weil sie im Schwinden begriffen sind wie die wirtschaftliche Prosperität, teils weil sich das Volk an sie so gewöhnt hat, dass es sie für gar nicht mehr erwähnenswert hält und schon gar nicht mehr als besondere Leistung des „Systems“ betrachtet.

Staatszielbestimmungen

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Das wäre einmal einer zusammenfassenden Untersuchung wert, soll hier aber nur am Beispiel der Verfassung selbst – und auch insoweit nur kursorisch – durchgespielt werden. Das Wichtigste, was in Verfassungen wie dem Grundgesetz integrativ wirken könnte, sind zweifellos die Grundrechte, die dem Bürger ein bisher ungeahntes Maß an Freiheit und Sicherheit garantieren. Heute sind sie jedoch so zur Selbstverständlichkeit geworden, dass ihre integrierende Kraft nicht mehr sehr hoch einzuschätzen sein dürfte. Bei anderen Elementen der Rechtsstaatlichkeit liegen die Dinge nicht besser. Für Gewaltenteilung und Föderalismus interessiert sich die Öffentlichkeit so gut wie gar nicht. Dass die Parteien zuviel Macht haben und in ihrem Innenleben zuviel par ordre de Moufti entschieden wird, ist zwar allenthalben zu hören; wenn dann aber innerhalb einer Partei einmal eine Frage kontrovers diskutiert wird, erklingen sofort laute Klagen über Uneinigkeit, mangelnde Entschluss- und Führungskraft und vor allem über verlorene Zeit. Hase und Igel lassen grüßen. Die Beispiele sollen hier nicht weiter vermehrt werden. Auf einen wichtigen Sonderaspekt soll aber doch hingewiesen werden. Die Bürger der Bundesrepublik haben bislang selbst in relativ unbedeutenden verfassungsrechtlichen Fragen den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts fast uneingeschränkt Beifall gezollt und, was noch wesentlich wichtiger war, Vertrauen geschenkt. Daran dürfte sich in absehbarer Zukunft auch nicht viel ändern. Trotzdem gibt es hier eine Gefahr: Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen muss sich das Bundesverfassungsgericht im Augenblick mit immer spezieller und meist auch immer unbedeutender werdenden Fragen befassen, mit Fragen also, die der Mann auf der Straße nicht mehr versteht und aus deren Entscheidung durch das höchste Gericht er auch kein großes Vertrauenspotential mehr zieht. Der Grund dafür liegt auf der Hand: In seinen nunmehr über 110 Entscheidungsbänden hat das Verfassungsgericht so viele grundsätzliche Fragen geklärt, dass der Weg zu den Bagatellen immer unausweichlicher wird, und für den einzelnen Betroffenen sind sie ja immer noch wichtig. Nur: Wenn beim Bürger, der sich dabei oft auch noch auf inkompetente Medien verlassen muss, der Eindruck entsteht, das höchste Gericht befasse sich nur noch mit Quisquilien und die Ergebnisse seien auch gar nicht mehr auf einen Nenner zu bringen, dann ist Polen offen. Die Bürger Frankreichs und der Niederlande haben mit Recht schon eine EUVerfassung nicht goutiert, die aus 488 Artikeln bestand. Wie sollen die Deutschen auf die Dauer ein Grundgesetz goutieren, das sich in 20.000 Seiten verfassungsgerichtlicher Urteilsbegründungen aufgelöst hat? Für Ohren, die nur am bisherigen Text des Grundgesetzes orientiert sind, mag die weitere Frage, die sich daraus ableitet, merkwürdig klingen, aber eigentlich ist sie nur folgerichtig: Sollte man nicht an einen neuen Artikel

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denken, in dem alle wesentlichen Grundsätze unseres staatlichen Lebens zusammengefasst sind – die organisatorischen Prinzipien wie Parlamentarismus, Gewaltenteilung, Bundesstaatlichkeit, unabhängige Gerichtsbarkeit, sodann die Aussagen über den „Charakter“ des Staates wie Rechtsstaatlichkeit, Grundrechtsbindung und Menschenwürde und schließlich die Ziele staatlicher Politik wie soziale Verantwortung, Sicherheit der Bürger, Sicherung ihres Wohlstands, Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen usw.? Rechtsverbindlich müsste ein solcher Artikel gar nicht sein; denn er würde ja nur kurz und einprägsam erwähnen, was ohnehin Verfassungsinhalt und Quintessenz einer fünfzigjährigen Verfassungsrechtsprechung ist. Man könnte ihn sogar ausdrücklich für nicht justiziabel erklären oder ihn, noch wesentlich klarer, überhaupt in die Präambel stellen. Aber die Bürger hätten Auskunft darüber, wie der Staat aussehen soll, den sie sich leisten, und vor allem wozu sie ihn sich leisten – und die Kinder könnten das sogar schon in der Schule lernen, Neubürgern könnte man es schwarz auf weiß in die Hand geben. Wenn es gut ginge, wüssten die Menschen wieder, wofür sie einen Staat haben – und wofür nicht.

Die Menschenwürde in Grenzbereichen der Rechtsordnung Von Hans Hofmann I. Definitions- und Anwendungsprobleme zum Menschenwürdebegriff des Art. 1 I GG „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ In seiner Absolutheit wirft der Art. 1 I S. 1 GG seit seiner Entstehung in Grenzbereichen und Konfliktsituationen Probleme auf. In diesem Kontext sind exemplarisch insbesondere fünf Fallkonstellationen zu thematisieren, in denen zur Durchsetzung von Grundrechten anderer Grundrechtsträger (z. B. das Recht auf Leben) oder zur Abwehr von Gefahren für das Gemeinwesen die Einschränkung bzw. Verletzung der Menschenwürde eines Grundrechtsträgers diskutiert oder faktisch praktiziert werden.1 Es handelt sich dabei sowohl um Maßnahmen, die eindeutig der Gefahrenabwehr einerseits als auch der Strafverfolgung andererseits, aber auch keiner dieser klassischen Kategorien zugeordnet werden können. Gemeint sind diese Fallkonstellationen: • der so genannte finale Rettungsschuss als polizeiliche Gefahrenabwehrmaßnahme, • die Verabreichung von Brechmitteln bei der Drogenbekämpfung (Drogendealer oder body packer), • der Embryonenschutz in corpore und in vitro (Schwangerschaftsabbruch, Bio- und Gentechnologie bzw. Fortpflanzungsmedizin), • der Einsatz von Zwangsmitteln zur Rettung von Entführten oder Verhinderung von Bombenanschlägen (auch als Rettungsfolter bezeichnet) sowie • der mögliche Abschuss eines entführten Passagierflugzeuges, wie er durch das Luftsicherheitsgesetz legitimiert werden sollte (renegate-Fall). 1 Vgl. dazu ein „Memorandum“ zur Stellung des Art. 1 GG im Grundrechtsgefüge: Isensee, AöR 131 (2006), S. 173 ff.; zu ähnlichen Fragen im Bereich des Persönlichkeitsrechts bereits: Scholz, R., Das Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit, AöR 100, S. 80 ff., 265 ff.

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Diese Konstellationen machen das „Antasten“ der Menschenwürde jedenfalls desjenigen notwendig bzw. denkbar, der als unmittelbarer Angreifer oder Störer hochwertige Rechtsgüter Einzelner oder der Gemeinschaft gefährdet bzw. verletzt. Aber in einigen Fällen werden auch menschenwürderelevante Maßnahmen gegenüber anderen Personen für vertretbar gehalten, die als Nicht-Störer und Indolos-Unbeteiligter im Rahmen einer privaten Lebensentscheidung oder staatlichen Maßnahme in ihrer Menschenwürde angetastet werden. Dabei stellt sich die Frage, wie die Antastung der Menschenwürde in diesen diversen Konstellationen zu legitimieren bzw. zu begründen ist und ob dabei ein konsequentes und geschlossenes System im Sinne der Einheit der Rechtsordnung festzustellen ist. II. Fallkonstellationen zur Menschenwürde in rechtlichen Grenzbereichen Es ist allgemein anerkannt, dass Art. 1 I GG die Rolle des Bürgers im Staat elementar darstellt: er ist als verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff bindendes Recht sogar für den Verfassungsgeber; er bildet das Fundament der Werteordnung und stellt eine Werterangordnung als Basis für ein Wertsystem her; er ist oberstes Konstitutionsprinzip allen objektiven Rechts.2 Art. 1 will als allgemeines Wirkprinzip dem Recht Halt und Orientierung geben – er ist keine Supergeneralklausel.3 Probleme bereitet aber seit jeher eine positive Definition des Menschenwürdebegriff. Es besteht Anerkennung für die Objektformel Günter Dürigs, wonach sich der Rechtsbegriff der Menschenwürde am besten negativ vom Verletzungsvorgang her bestimmen lässt.4 Vereinfacht kann gesagt werden: die Menschenwürde ist getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird.5 In der konkreten Fallkonstellation erscheint aber allein die Objektformel als zu vage, um einen Lösungsansatz zu bieten. Eine Annäherung an den Begriff der Menschenwürde wird daher meist nur durch Vergleich einzelner Fallgruppen6 und unter Einsatz des 2 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 1 I, Rdnr. 8 f., 16, 23, 29; Dürig, in: Maunz/Dürig, Sonderdr., Art. 1 I, Rdnr. 4, 14; Isensee, AöR 131 (2006), S. 173 ff.; Kunig, in: von Münch, Art. 1, Rdnr. 3, 19. 3 Di Fabio, in: Maunz/Dürig (Fn. 2), Art. 2 II, Rdnr. 11. 4 Dürig, in: Maunz/Dürig (Fn. 2), Sonderdr., Art. 1 I, Rdnr. 28. 5 Dürig, in: Maunz/Dürig (Fn. 2), Sonderdr., Art. 1 I, Rdnr. 28; so auch (sein Nachfolger) Herdegen, in: Maunz/Dürig (Fn. 2), Art. 1 I, Rdnr. 43: es könne hinsichtlich des, die Menschenwürde verletzenden Vorganges unterschieden werden nach dem Modus der Maßnahme und der Finalität der Maßnahme. 6 Kunig, in: von Münch (Fn. 2), Art. 1, Rdnr. 22; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck (Fn. 2), Art. 1 I, Rdnr. 13; di Fabio, in: Maunz/Dürig (Fn. 2), Art. 2 II, Rdnr. 12.

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Art. 1 GG als allgemeiner Abwägungsregelung7 zu erreichen sein. Insoweit soll eine derartige Annäherung anhand der genannten, exemplarischen Konfliktsituationen vollzogen und dabei die Vergleichbarkeit akzeptierter und bestrittener Verletzungen der Menschenwürde vor Augen geführt werden. 1. Finaler Rettungsschuss als polizeiliche Gefahrenabwehrmaßnahme Der finale Rettungsschuss ist der tödliche Einsatz von Schusswaffen durch Polizeikräfte um Gefahren von Dritten abzuwenden, insbesondere bei Geiselnahmen, bei denen ein Entführer seine Geisel unmittelbar festhält, sie als Schutzschild und als Pfand gegen einen möglichen Zugriff durch die Polizeikräfte verwendet. Dieses Instrument polizeilicher Gefahrenabwehr ist nach heftigen Diskussionen in den 70er Jahren mittlerweile insoweit anerkannt, als er in 14 Ländern durch einschlägiges Polizei- oder Ordnungsbehördenrecht geregelt ist.8 Die meisten Länder erachten also grundsätzlich den Einsatz von Schusswaffen gegen etwa einen Geiselnehmer für zulässig.9 In allen Normen kommt zum Ausdruck, dass der Rettungsschuss ultima ratio und das Ziel nicht die Tötung des Angreifers sondern seine Angriffs- und Fluchtunfähigkeit ist. Zur dogmatischen Begründung wird zumeist ohne nähere Begründung10 vertreten, eine durch diese Gefahrenabwehrmaßnahme herbeigeführte Tötung verletze die Menschenwürde nicht, sondern „nur“ das Recht auf Le7

Herdegen, in: Maunz/Dürig (Fn. 2), Art. 1 I, Rdnr. 43. Unmittelbar und konkret geregelt ist der Rettungsschuss in: § 54 II PolG BW, § 34 II SächsPolG: „Ein Schuss, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tödlich wirken wird, ist nur zulässig, wenn er das einzige Mittel zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der körperlichen Unversehrtheit ist.“ Allgemeiner geregelt ist der Einsatz der Schusswaffe bei Gefahr in Verzug (wobei im Wege der Interpretation der Norm von der Erfassung des finalen Rettungsschusses ausgegangen werden muss) durch: Art. 67 I Nr. 1 Bay PAG, § 61 I Nr. 1 HSOG, § 64 I Nr. 1 PolG NRW, § 64 I Nr. 1 POG RP, § 57 II Nr. 1 SPolG, § 258 I, II Nr. 1 LVwG SH, § 65 I Nr. 1 PAG T, § 66 I Nr. 1 SOG SA, § 47 I Nr. 1 BremPolG, § 109 I, II Nr. 1 MV PolG: „Schusswaffen dürfen gegen einzelne Personen nur gebraucht werden, um eine gegenwärtige Gefahr für Leib oder Leben abzuwehren.“ In einer weiteren Konzeption die Regelungen über Notstand und Notwehr unberührt gelassen, d. h. im Falle eines unmittelbaren rechtswidrigen Angriffes kann der Polizeibeamte im Sinne des § 32 StGB die erforderliche Nothilfe leisten: § 25 III Hmb SOG, § 9 IV UZwG Bln: „Das Recht zum Gebrauch von Schusswaffen in den Fällen der Notwehr und des Notstandes bleibt unberührt.“ 9 Zu dem grundsätzlichen Problem, inwieweit es formal einer konkreten Ermächtigungsgrundlage bedarf, Kunig, in v. Münch, Grundgesetzkommentar (Fn. 2), Art. 2, Rdnr. 85 a. E.; Jakobs, Terrorismus und polizeilicher Todesschuss, DVBl. 2006, 83 ff. 10 Dreier, Art. 1 I, Rdnr. 67; ähnlich: Schlink, in: Brugger/Schlink, Podiumsdiskussion, S. 6. 8

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ben, und die Verletzung dieses Grundrechts könne aufgrund des Gesetzesvorbehaltes des Art. 2 I GG gerechtfertigt sein.11 Der finale Rettungsschuss beruht demnach nicht auf Umständen, die entwürdigend im Sinne einer Menschenwürdeverletzung sind, weil die Haftung des Täters für seine eigene Gefahrenverursachung eine solche Verletzung ausschließt.12 Aufgrund dieser Haftung des Täters im Verhältnis zur Gesellschaft besteht eine Duldungspflicht seinerseits, die auch existentielle Rechtspositionen einbezieht und die Verletzung der Menschenwürde ausschließt. Der finale Rettungsschuss stellt keine Würdeverletzung dar; die Tötung ist in seiner Tat als Risiko durch ihn selbst angelegt. Die Erschießung eines gefährlichen Geiselnehmers zur Rettung der Geisel verletzt die Menschenwürde des Geiselnehmers nicht.13 Auch unter den Maßstäben der Verhältnismäßigkeit wird der Rettungsschuss für zulässig erachtet, da in der einschlägigen Gefahrensituation z. B. die Geisel akut, für jeden sichtbar durch den Beschuldigten bedroht wird. Insofern kann der Polizist über die unmittelbare Lebensgefahr für die Geisel nicht irren oder ein Unbeteiligter kann nicht für den Beschuldigten gehalten und getötet werden. Auch Geeignetheit und Erforderlichkeit der Mittel werden somit in dieser Situation als erfüllt angesehen.14 2. Einsatz von Brechmitteln als Strafverfolgungsmaßnahme zur Drogenbekämpfung Der Einsatz von Brechmitteln (Emetika) wird zur Strafverfolgung u. a. gegenüber Drogendealern angeordnet; die Fälle der sog. „body-packer“ betreffen Drogenkuriere, die als lebende Behältnisse in ihrem Körper Drogen transportieren.15 Die Fälle, die unter dem Stichwort „Brechmitteleinsatz“ diskutiert werden, betreffen hauptsächlich den täglichen Drogenhandel auf der Straße, wobei (im Verhältnis zu den body-packern) kleinste Mengen an Drogen von Dealern transportiert werden. Soweit die zuständigen Beamten den Verkauf von Drogen beobachten und während der Festnahme feststellen, dass der vermutete Drogendealer die noch in seinem Besitz befindlichen 11

Di Fabio, in: Maunz/Dürig (Fn. 2), Art. 2 II, Rdnr. 37 und 80. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 2), Art. 1 I, Rdnr. 42, 78; Pieroth/ Schlink, Grundrechte, Rdnr. 405, 444; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Art. 2 II, Rdnr. 15; Merten, D., Zum Streit um den Todesschuss, in: FS Doehring 1989, S. 579 ff. 13 Bereits zu den Diskussion bei Einführung der Regelungen: Di Fabio, in: Maunz/Dürig (Fn. 2), Art. 2 II, Rdnr. 80 u. Rdnr. 15. 14 Gebauer, NVwZ 2004, 1405 ff., 1407, 1409. 15 Dabei werden in bis zu 60 Kondomen Drogen im Gewicht von mit bis zu 2 kg transportiert: vgl. U. Montgomery, Grundrechte Report 2002: http://www. montgomery.de/position/2002/brechmittel.html. 12

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Drogen geschluckt hat, um sie vor dem Zugriff durch die Polizeibeamten zu verstecken, kann das Verabreichen eines Emetikums16 angeordnet werden. Für diese durch deutsche Obergerichte noch nicht ausdrücklich geklärte Frage17 kommt es darauf an, ob es sich überhaupt um eine Verletzung der Würde der Drogendealer handelt oder diesem nicht im Verhältnis zur Gemeinschaft eine allgemeine Duldungspflicht aufzuerlegen ist. Als Ermächtigungsgrundlage werden die Grundsätze des § 81a StPO angesehen, die in einer verfassungskonformen Interpretation eine allgemeine Aufopferungspflicht enthalten, an der Strafverfolgung und Verbrechensaufklärung mitzuwirken und daher solche körperlichen Eingriffe legitimieren. Eine solche Mitwirkungspflicht im Sinne eine Duldungspflicht basiert nicht auf einer Unrechtshaftung – der Einsatz des Emetikums ist gerade nicht Strafe – sondern auf einem allgemeinen Aufopferungsgedanken. Diese Aufopferungspflicht kann nicht in den existentiellen Bereich hineinreichen; eine Lebensgefahr muss ausgeschlossen sein.18 Ein Verstoß gegen die Menschenwürde wird weiterhin damit ausgeschlossen, dass der Vorgang des Erbrechens ein natürlicher sei, bei dem nicht der Wille gebrochen, sondern über das vegetative Nervensystem eine unwillkürliche Reaktion gesteuert wird.19 Es handelt sich nach dieser Meinung vielmehr um einen nicht beeinflussbaren Reiz, welcher vom Willen nicht gesteuert werden kann, so dass darin keine Erniedrigung zu sehen ist.20 Da der Brechreiz aufgrund des Emetikums allein vom Körper des Betroffenen gesteuert wird, er also nicht in seiner Willensfreiheit gebeugt, d. h. gar keine Handlung von dem Betroffenen gefordert wird, kann danach auch kein Verstoß gegen den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit vorliegen.21 Zwar würde dem Betroffenen das Emetikum notfalls auch zwangsweise verabreicht; dies würde aber medizinisch fachgerecht durch einen Arzt 16

Typischer Weise wird Ipecacuanha-Sirup verabreicht; weiteres Mittel ist Apomorhin als Emetikumderivat von Morphin. 17 Zu den Aussagen des BVerfG v. 29.9.1999 u. zur Entscheidung des EuGMR v. 11.7.2006 vgl. im Folgenden noch. 18 Dreier (Fn. 10), Art. 2 II, Rdnr. 62; Di Fabio, in: Maunz/Dürig (Fn. 2), Art. 2 II, Rdnr. 40. 19 Herdegen, in: Maunz/Dürig (Fn. 2), Art. 1 I, Rdnr. 81. 20 Birkenholz u. a., Kriminalistik 1997, 277 ff., 279 auch mit dem Argument, dass ein Erbrechen auch bei kleinen Kindern eingeleitet wird, die etwas Schädliches zu sich genommen haben. 21 Herdegen, in: Maunz/Dürig (Fn. 2), Art. 1 I, Rdnr. 81; Bachmann, Kriminalistik 2004, 678 ff., 681. Hiergegen Argumentiert Dallmeyer, KritV 2000, 252 ff., 262 ff. mit dem Argument, dass bei dem Aufspüren von Drogen im Körperinneren nicht der Mensch im Vordergrund stehe, und es nicht um Merkmale, die ihm anhaften gehe, sondern die Strafverfolgungsbehörden lediglich etwas aus seinem Besitz haben wollten.

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durchgeführt. Ferner soll es sich um medizinische Eingriffe handeln, wie sie von Ärzten täglich vorgenommen werden einschließlich der Einführung einer Magensonde.22 Aufgrund von Brechmitteleinsätzen sind 2 Betroffene verstorben.23 Wie sich an diesen Fällen zeigt, ist die Situation von zu vielen Faktoren abhängig, um das Verabreichen eines Emetikums in dieser angespannten Situation als absolut ungefährlich beschrieben zu können (auch ohne hinreichende Möglichkeit einer sicheren Anamnese).24 Zur Rechtfertigung solcher Maßnahmen wird ebenfalls das verfassungsrechtliche Gebot der Gewährleistung einer rechtsstaatlichen, der Gerechtigkeit verpflichteten Strafrechtspflege betont. Andernfalls wird der Rechtsfrieden in zweierlei Hinsicht als beeinträchtigt angesehen: zunächst bzgl. der Durchsetzung des Strafrechts einschließlich des Legalitätsprinzips sowie durch eine ohne den Einsatz von Emetika deutlich erschwerte Überwachung der Drogenszene.25 Nach dieser Argumentation wird darauf abgestellt, dass die Beweissicherung in allen Betäubungsmittelverfahren als essentielles Instrument zur Strafverfolgung anzusehen ist und ein die generalpräventive Wirkung in Frage stellendes Nachlassen in der Verfolgung des Handels mit Betäubungsmitteln zur Gefährdung wichtiger Rechtsgüter führt.26 Als Zweck des Erbrechens wird schließlich auch nicht nur die Strafverfolgung gesehen, sondern das Erbrechen würde zudem auch zum Schutz des Betroffenen eingeleitet.27 22 Bachmann u. a., Kriminalistik 2004, 678 ff., 679; Birkenholz, Kriminalistik 1997, 277 ff., 279, 282. Hierbei sei zu beachten, dass Ausgangslage nicht der kooperierende Betroffene ist, sondern der sich gegen den Einsatz wehrende Betroffene. Gerade das Einführen der Magensonde ist in diesem Fall gefährlich mit der Möglichkeit der Perforation der Speiseröhre, der Luftröhre oder des Magens. 23 Hamburg 12.12.2001, Bremen 08.01.2005. 24 Binder u. a., NStZ 2002, 234 ff., 235; Dallmeyer, KritV 2000, 252 ff., 254. 25 Schäfer, NJW 1997, 2437 ff., 2438. 26 Birkenholz u. a., Kriminalistik 1997, 277 ff., 281; Bachmann, Kriminalistik 2004, 678 ff., 680 mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass es sich bei Betäubungsmitteldelikten nicht um sog. „Bagatelldelikte“ handele. 27 Birkenholz u. a., Kriminalistik 1997, 277 ff., 281. Ob sich sog. body-packer oder Drogendealer aufgrund der Menge von im Körper befindlichen Drogen in akuter Lebensgefahr befinden, ist allerdings streitig, einschließlich der Frage, ob der Einsatz eines Emetikums (erst recht gegen den Willen des Betroffenen) zugunsten des Lebensschutzes in Betracht kommt (Binder u. a., NStZ 2002, 234 ff., 235 dort insb. Fn. 31). Dies betrifft die Frage nach der Aufgabe der Strafverfolgungsbehörden, den Eintritt eines selbstgeschaffenen Risikos zu verhindern und einer sich ergebenden derartigen staatlichen Schutzpflicht. Auch eine andere Möglichkeit durch den Einsatz von Laxativa wirft im Übrigen die gleichen Rechtsfragen auf. Dabei handelt es sich um pharmazeutisch wirksame Mittel, die die Stuhlentleerung beschleunigen. Dies kann durch mehrere Mechanismen ausgelöst werden, weshalb Abführmittel individuell auszuwählen sind, entsprechende Präparate können enthalten: Ballaststoffe oder Zuckeralkohole wie Mannitol oder Lactose.

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Nach einer jüngeren Entscheidung des EuGMR28 ist diese Form der Erlangung von Beweismitteln ein Verstoß gegen Vorschriften der EMRK, so dass die Praxis in den Ländern derzeit überprüft wird, soweit es sich bei dem Spruch um einen über die Umstände des Einzelfalls hinausgehende Aussage des Gerichts handelt. Der EuGMR hat mehrheitlich einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK29 festgestellt, obwohl er medizinische Eingriffe unter Zwang, die zur Aufklärung einer Straftat dienen können, grundsätzlich nicht per se missbilligt. Er hält aber das zusätzliche Mindestmaß der Schwere eines solchen Einriffs für gegeben, weil dieser gegen den Willen des Betroffenen vorgenommen wurde und die Beweismittel auch auf andere Art zu erlangen gewesen wären; zudem seien die Maßnahmen auch dazu angetan gewesen, bei dem Betroffenen Gefühle der Angst, Beklemmung und Unterlegenheit hervorzurufen, die geeignet waren ihn zu demütigen und zu entwürdigen. Im Rahmen der Prüfung des Art. 6 EMRK (faires Verfahren) hat der EuGMR dessen Verletzung zwar bejaht, aber nicht feststellen können, dass der Beschwerdeführer Folterhandlungen unterzogen worden sei, weil nicht die für Folterhandlungen typische besondere Niedertracht vorliegt.30 Das BVerfG hatte in diesem Fall in einem vorausgegangenen Verfahrenstadium die Verfassungsbeschwerde durch eine Kammerentscheidung wegen des Subsidiaritätsgrundsatzes nicht angenommen, da eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 GG zunächst durch fachgerichtliche relevante Tatsachen- und Rechtgrundlagenprüfung vorzuprüfen sei. Das BVerfG hat allerdings zudem festgestellt, dass das Verabreichen eines Brechmittels bzgl. des Schutzes der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG und bzgl. des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit aus Art. 1 I GG grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken nicht begegnet.31 28 Der Fall hatte sich bereits i. J. 1993 zugetragen; sowohl AG Wuppertal, LG Wuppertal als auch OLG Düsseldorf hatten die Maßnahme als nach § 81a StPO für zulässig und insbesondere verhältnismäßig gehalten. In diesem Fall jetzt aber: EuGMR, Indiv.Beschw. Nr. 54810/00, Abu Bakah Jalloh ./. Bundesrep. Deutschland v. 11.7.2006, wonach die zwangsweise Vergabe von Brechmitteln ein nicht unerhebliches Gesundheitsrisiko für den Betroffenen mit sich bringt und damit gegen Art. 3 der EMRK (nach dem abweichenden Votum von drei Richtern gegen Art. 8 der EMRK) verstößt. Das Gericht hält die Möglichkeit, auf das natürliche Ausscheiden des Beweismittels zu warten für eine weniger einschneidende und demütigende Alternative. Der Beschwerdeführer hat allerdings ggü. AG Wuppertal im Ausgangsverfahren selbst die Maßnahme einer Magenspülung nach § 81a StPO für zulässig gehalten. Im Land Hamburg werden seitdem diese Mittel nicht mehr verabreicht. 29 „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“ EuGMR, Urt. v. 11.7.2006, IndivBeschw. Nr. 54810/00, S. 24. Eine Verletzung des Art. 8 der EMRK (Recht auf Privatleben) sieht der EuGMR als nicht gegeben an, S. 27. 30 EuGMR, Urt. v. 11.7.2006, IndivBeschw. Nr. 54810/00, S. 32, 33.

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3. Embryonenschutz in corpore und in vitro Die Entwicklungen der modernen Biomedizin bzw. -technologie stellen namentlich das Verfassungsrecht vor besondere Herausforderungen in Bezug auf die Menschenwürde nach Art. 1 I GG und den verfassungsrechtlichen Lebensschutz nach Art. 2 GG. Die herrschende Auffassung geht davon aus, dass dem Embryo bereits mit der Kernverschmelzung spätestens aber mit der Nidation das Recht auf Leben gemäß Art. 2 II 1 GG und die Garantie der Menschenwürde gemäß Art. 1 I GG zusteht.32 Nach den Urteilen des BVerfG zum Schwangerschaftsabbruch steht die Menschenwürde aufgrund der Zugehörigkeit zur menschlichen Rasse auch dem ungeborenen Menschen zu, sie kommt jedem Menschen aufgrund seines Menschseins zu, allein aufgrund seines Potentials, ein Mensch zu werden.33 Die Stellung des Lebensrechts in der verfassungsrechtlichen Werteordnung und im Zusammenspiel von Art. 2 II 1 Alt. 1 und Art. 1 I GG bei der Ausgestaltung des Lebensschutzes ist nicht absolut zu setzen, sondern einer Abwägung mit anderen Verfassungspositionen grundsätzlich für zugänglich erklärt worden (BVerfGE 88, 203 ff., 251 ff.). Bereits durch die Verschmelzung von Ei und Samenzelle entsteht menschliches Leben, das von diesem Zeitpunkt an unter dem Schutz des verfassungsrechtlichen Lebensrechts steht. Dieser Lebensschutz bezieht sich auch auf den außerhalb des Mutterleibs entstandenen Embryo, schütz also sowohl den Nasciturus als auch den in-vitro-fertilisierten Embryo. Das Grundgesetz verpflichtet daher den Staat, menschliches Leben, auch das ungeborene zu schützen. Die Rechtsordnung muss die rechtlichen Voraussetzungen seiner Entfaltung im Sinne eines eigenen 31

BVerfG, Entsch. v. 15.9.1999; Pressemitteilung vom 29.09.1999, Nr. 103/99, ohne freilich wegen des Subsidiaritätsvorbehaltes darüber eine endgültige Aussage zu machen. Das Gericht hat in einer Pressemitteilung vom 13.12.2001 nochmals betont (Pressemitteilung Nr. 116/2001), dass mit diesen genannten Ausführungen keine Entscheidung über die Zulässigkeit des Brechmitteleinsatzes getroffen wurde, diese Aussage aber wiederum lediglich auf die körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 GG und die Verhältnismäßigkeit des Einsatzes beschränkt; man mag daraus ablesen können, dass das Gericht der Auffassung ist, die Menschenwürde sei bei diesen Konstellationen nicht berührt. 32 BVerfGE 6, 32 ff., 41; 6, 389 ff., 433; 27, 344 ff., 350; 32, 373 ff., 379; 39, 44; 88, 203 ff.; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 2), Art. 1, Rdnr. 18; Kunig, in: v. Münch/Kunig, Art. 2, Rdnr. 49; Laufs, JZ 1986, 769, 774; Lorenz, HStR Bd. VI, § 128, Rdnr. 12; Steiner, Der Schutz des Lebens durch das Grundgesetz, 1992, S. 11; Minderheitenvotum Rupp-von Brünneck zu BVerfGE 39, 1 ff., 68 ff., 80; a. A. was den Menschenwürdeschutz anbetrifft: Podlech, in: WassermannAK, Art. 1, Rdnr. 57; Stern, StaatsR, Bd. III/1, S. 1056 ff.; Dreier, in: Dreier (Fn. 10), Art. 1, Rdnr. 48 ff.; Hilgendorf, Jahrbuch für Recht und Ethik 1999, 153 f. 33 BVerfG, 39, 1 ff., 41; Herdegen, in: Maunz/Dürig (Fn. 2), Art. 1 I, Rdnr. 48; Di Fabio, in: Maunz/Dürig (Fn. 2), Art. 2 II, Rdnr. 12; Kunig, in: von Münch (Fn. 2), Art. 1, Rdnr. 12.

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Lebensrechts des Ungeborenen gewährleisten. Dieses Lebensrecht wird nicht erst durch die Annahme seitens der Mutter begründet.34 a) Embryonenschutz beim Schwangerschaftsabbruch Das BVerfG hat hier Aussagen getroffen, deren Gehalt zu erinnern wert ist: Zumindest vom Zeitpunkt der Einnistung an handelt es sich um einen Prozess des sich Entfaltens als Mensch; der Nasciturus ist kein werdender Mensch (Vorstufe zum Menschen) sondern ein sich entfaltender Mensch. Bereits der Embryo kann für sich beanspruchen, um seiner selbst Willen angenommen zu werden.35 Ein Ausgleich, der sowohl den Lebensschutz des Nasciturus gewährleistet als auch der Schwangeren die Freiheit des Schwangerschaftsabbruchs belässt, ist nicht möglich, da Schwangerschaftsabbruch immer Vernichtung ungeborenen Lebens bedeutet; rechtlicher Schutz gebührt dem Ungeborenen auch gegenüber seiner Mutter. Ein solcher Schutz ist nur möglich, wenn der Gesetzgeber ihr einen Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich verbietet und ihr damit die grundsätzliche Rechtspflicht auferlegt, das Kind auszutragen. Das grundsätzliche Verbot des Schwangerschaftsabbruchs und die grundsätzliche Pflicht zum Austragen des Kindes sind zwei untrennbar verbundene Elemente des verfassungsrechtlich gebotenen Schutzes. Der Schwangerschaftsabbruch muss daher nach dem BVerfG auch für die ganze Dauer der Schwangerschaft grundsätzlich als Unrecht und als rechtswidrig angesehen und dem gemäß rechtlich verboten sein.36 Bei der deshalb erforderlichen Abwägung in der Konfliktsituation sind beide Verfassungswerte in ihrer Beziehung zur Menschenwürde als dem Mittelpunkt des Wertesystems der Verfassung zu sehen.37 Nach dem Prinzip des schonendsten Ausgleichs konkurrierender grundgesetzlich geschützter Positionen unter Berücksichtigung des Grundgedankens des Art. 19 II GG muss deshalb dem Lebensschutz des Nasciturus der Vorzug gegeben werden. Bei einer Orientierung an Art. 1 I GG genießt grundsätzlich der Lebensschutz der Leibesfrucht Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren und darf nicht für eine bestimmte Frist in Frage gestellt werden.38 Das grundsätzliche Verbot des Schwangerschaftsabbruches (§ 218 StGB) trifft die Mutter nicht in ihrer Würde, weil sie für ihren Zustand und für das werdende Leben aufgrund selbstbestimmter Handlung die Verantwortung trägt (mit der Ausnahme bei einer Vergewaltigung). Die Grundrechte 34 35 36 37 38

So BVerfGE 88, 203 ff. BVerfGE 88, 203 ff. BVerfGE 88, 203 ff., unter Bestätigung von BVerfGE 39, 44 ff. BVerfGE 88, 203 ff., 251 ff., 225. BVerfGE 39, 1 ff., 42 f.

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der Mutter tragen insoweit nach dem BVerfG nicht so weit, dass die Rechtspflicht zum Austragen aufgehoben wäre.39 Ferner ist der Embryo in einer wehrlosen Lage und abhängig von seiner Mutter. Ein echter Ausgleich der Interessen im Sinne der praktischen Konkordanz kann naturgemäß nicht stattfinden, weil Leben nur absolut gewährt werden kann, nicht aber eingeschränkt. Deshalb kann eine Abtreibung nur rechtmäßig respektive entschuldigt sein, wenn die Schwangerschaft und das Gebären des Kindes für die Mutter unzumutbar ist.40 Dies ist gegeben, wenn das Leben oder die Würde der Mutter aufgrund der Schwangerschaft bzw. aufgrund besonderer, zu einer normalen Schwangerschaft hinzutretender Umstände (Vergewaltigung) verletzt wird.41 Die aus dieser Rechtsprechung erwachsene strafrechtliche Konzeption des Gesetzgebers geht indes davon aus, dass nach dem vorgesehenen Beratungskonzept der Straftatbestand des Schwangerschaftsabbruchs befristet keine Anwendung findet und bei Vorliegen eines Indikationstatbestandes ansonsten grundsätzlich rechtswidrige Abtreibungen nicht rechtswidrig sein sollen. In diesen Fällen ist die Tötung des Nasciturus unter Verletzung seiner Rechte aus Art. 1 I und Art. 2 II 1 Alt. 1 nur im Sinne einer Aufopferungspflicht des ungeborenen Menschen zu verstehen, indem diesem das Sonderopfer zugunsten der entsprechenden Rechte seiner Mutter abverlangt wird. b) Embryonenschutz bei der Bio- und Gentechnologie bzw. der Fortpflanzungsmedizin Der objektivrechtliche Gehalt von Art. 1 I GG ist angesprochen, wenn es um die Frage der Zulässigkeit bestimmter Möglichkeiten der Bio- und Gentechnologie bzw. der Fortpflanzungsmedizin geht.42 Die Gentechnologie beeinflusst in vielen Bereichen die Strukturen und das Wertesystem der Gesellschaft und wirft Fragen des Grundrechtsschutzes vor dem Hintergrund der Entwicklung der Humangenetik auf. Dabei gilt die Grundformel, wonach alle Maßnahmen oder Experimente, die den Menschen seiner personalen Einzigartigkeit im Sinne einer Verfälschung zu Reproduktionszwecken berauben, mit der Menschenwürde unvereinbar sind.43 Nach dem Embryonen39

BVerfG, NJW 1993, 1751 (1754). Di Fabio, in: Maunz/Dürig (Fn. 2), Art. 2 II, Rdnr. 44; das BVerfG spricht von einer lebensbedrohende Konfliktlage, einem Überschreiten der zumutbaren Opfergrenze: BVerfG NJW 1993, 1751 (1761). 41 Di Fabio, in: Maunz/Dürig (Fn. 2), Art. 2 II, Rdnr. 44. 42 Herdegen, in: Maunz/Dürig (Fn. 2), Art. 1, Rdnr. 55 ff. 43 Häberle, HStR I, § 20, Rdnr. 86 ff. 40

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schutzgesetz ist die Forschung an Embryonen, einschließlich der Abgabe und der Einfuhr von Embryonen zu Forschungszwecken unzulässig. Denn der Embryo in vitro darf nur zu einem seiner Erhaltung dienenden Zweck verwendet werden; daher ist auch die Gewinnung von embryonalen Stammzellen aus Embryonen verboten. Das Verbot erstreckt sich auch auf die Verwendung sog. überzähliger Embryonen, also auf solche Embryonen, die zum Zwecke der Herbeiführung einer Schwangerschaft (in vitro fertilisation – IVF) erzeugt, dafür aber nicht mehr verwendet werden können. Mit diesen Verboten wollte der Gesetzgeber der Wertentscheidung der Verfassung zugunsten der Menschenwürde und des Lebens Rechnung tragen.44 Dennoch wird auch deren Instrumentalisierung zum Zweck der Zeugung und Geburt menschlichen Lebens – wie sie im Übrigen auch bei der natürlichen Fortpflanzung geschieht – mit der Menschenwürde als vereinbar angesehen.45 Diverse neuartige und daher ethisch wie verfassungsrechtlich kontroverse Techniken und Diagnosemöglichkeiten erwachsen aus den Verfahrensabläufen der IVF als Einstiegstechnik, so etwa Präimplantationsdiagnostik (PID; auch Präimplantation Genetic Diagnosis, PGD), Klonierung (Erzeugung identischer Zellen durch Verknüpfen von DNA-Abschnitten) oder Keimbahneingriffe(-therapie); sie werden differenziert beurteilt:46 • Insbesondere über die Frage, ob die Einführung der PID rechtlich zulässig und rechtspolitisch vertretbar ist, wird kontrovers diskutiert. Dabei wird argumentiert, dass das Verbot der PID einen schweren Eingriff in die Rechte der Eltern und des Arztes darstellt, der nicht durch eine Menschenwürdeverletzung auf Seiten des Embryos gerechtfertigt werden kann, da ein solcher Verstoß gegen Art. 1 I GG nicht vorliege.47 Demgegenüber wird die Auffassung vertreten, dass die PID sowohl die Menschenwürde als auch das Lebensrecht des Embryos verletzt und zudem nicht mit § 1 I Nr. 2 ESchG zu vereinbaren ist.48 • Während der Gesetzgeber bei der Forschung an embryonalen Stammzellen bereits einen vermittelnden Weg bei der Zulassung durch befristeten 44 So die Begründung des Gesetzentwurfes zum Embryonenschutzgesetz BTDrucks. 11/5460, S. 6. 45 Ebenso Lorenz, ZfL 2001, 38 ff.; ähnl. Häberle, HStR I (Fn. 43), § 20, Rdnr. 86 ff. 46 Vgl. im Einzelnen Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 1, Rdnr. 28 ff. u. Art. 2, Rdnr. 62 ff.; s. bereits Lukes/Scholz, Rechtsfragen der Gentechnologie, 1986, sowie Scholz, R., Instrumentale Beherrschung der Biotechnologie durch die Rechtsordnung, Bitburger Gespräche 1/86, 59 ff. 47 Hufen, ZRP 2002, 372 ff. m. w. Nachw. 48 Reiter, ZRP 2002, 372 ff.; Duttge, GA 2002, 241 ff.

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Import und die Benutzung ohnehin im Rahmen zugelassener in-vitro-fertilisation (IVF) erzeugter Embryonen beschritten hat,49 ist bei der PID bisher noch die strenge Verbotslinie eingehalten.50 • Mit der Begründung, dass für den Umfang der Menschenwürde auf ein jeweiliges Entwicklungsstadium abgestellt werden kann, wird die verbrauchende Embryonenforschung nicht als Würdeverletzung angesehen.51 Der Verlauf des Entwicklungsprozesses und die Entwicklungsperspektive prägen danach das Maß des gebotenen Würdeschutzes.52 Es wird daher nach der Art der Zeugung abgegrenzt: wenn eine natürliche oder künstliche Befruchtung der Eizelle stattfand soll Menschenwürde bestehen, wenn mit Hilfe des in-vitro-Verfahrens ein Klon geschaffen wurde soll keine Menschenwürde bestehen. Unterschieden wird nach der Kontinuität des Entwicklungsprozesses, ob es noch eines Zwischenschrittes für die weitere Austragung bedarf und welche Bestimmung der (künstlich) befruchteten Eizelle zukommt. Auch in diesen menschenwürde-relevanten Konstellationen ist eine klare, bruchlinienfreie Argumentation für den Umgang mit menschlichem Leben in Konfliktsituationen noch nicht gefunden; entweder wird dem Embryo nicht die Menschenwürde zugebilligt, der Schutzbereich für nicht tangiert 49 Gesetz zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen (StammzellG, Ges. v. 28.6.2002 BGBl I, S. 2277); ausführliche Diskussion im Deutschen Bundestag (BT-Drucks. 14/8102). 50 Hinzuweisen bleibt auf die Parallelwertung bei der Abtreibung: Entsprechende genetische Untersuchungen wie sie bei der PID vorgenommen werden, sind nach geltender Rechtslage nach dem Embryotransfer an dem nidierten Embryo zulässig (Chorionzottenbiopsie, Fruchtwasseruntersuchung); bis zur zwölften Woche kann anschließend der nidierte Embryo auch bei negativen Befund (keine Schädigung) sowie völlig unbefristet (also noch unmittelbar vor der Geburt) bei einem positiven Befund über die medizinische Indikation abgetrieben werden. Es wäre daher – will man nicht die herrschende Rechtslage zur Abtreibungsfrage ändern – kaum vertretbar, eine Untersuchung vor der Nidation bzw. dem Embryotransfer keinesfalls zuzulassen, wenn diese nach derselben mit den gleichen Konsequenzen erlaubt ist. Eine Abtreibung wegen schwerer Schädigung könnte nicht widerspruchsfrei zugelassen sein, wenn gleichzeitig die Weiterentwicklung eines erst in vitro bestehenden Lebens nicht unterlassen, sondern dieses erst auf fortgeschrittener Entwicklungsstufe in corpore aktiv getötet werden dürfte (Vgl. Brohm, JuS 1998, 204 ff.; zu den grundsätzlichen Wertungswidersprüchen des differenzierten Schutzes von Embryo in corpore und in vitro vgl. auch Dreier, in: Dreier (Fn. 10), Art. 1, Rdnr. 51, 59; Hofmann, H., JZ 1986, 259 ff.; Isensee, in: FS f. Hollerbach, S. 262 ff., 265; Röger, JVL 17 (2000), 71 ff.; Laufs, NJW 2000, 2717 ff.; Beckmann, MedR 2001, 174 f.; Herdegen, in: Maunz/Dürig (Fn. 2), Art. 1, Rdnr. 60 ff., der für einen prozesshaften Würdeschutz mit entwicklungsabhängiger Intensität eintritt). 51 Herdegen, in: Maunz/Dürig (Fn. 2), Art. 1 I, Rdnr. 61, 62, 63, 65, 78. 52 Herdegen, in: Maunz/Dürig (Fn. 2), Art. 1 I, Rdnr. 60.

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gehalten oder ihm unausgesprochen die Pflicht zugeordnet, dass die Gesellschaft an ihm forschen und ihn zudem verbrauchen darf. 4. Zwangsmittel zur Befreiung von Entführten oder Verhinderung von Anschlägen (Rettungsfolter) Der Begriff der Rettungsfolter ist in Anlehnung zum finalen Rettungsschuss aufgekommen und umfasst Fälle, in denen etwa Polizeikräfte zur Rettung eines entführten Opfers gegenüber dem mutmaßlichen Entführer die Anwendung von Gewalt androhen (und möglicherweise durchsetzen), um das Opfers aus seiner zumeist lebensbedrohlichen Lage zu befreien. Auch können Fälle in diese Kategorie eingeordnet werden, in denen Bomben oder Massenvernichtungswaffen (atomare, chemische oder biologische Kampfstoffe) an öffentlichen oder ansonsten besondere Gefahren verursachenden Orten (Kernkraftwerke) deponiert werden, und das Mitwirken des mutmaßlichen Täters für Entschärfung bzw. Entfernung der Waffe erreicht werden soll. Wie der Begriff der Rettungsfolter insinuiert, kommt es bei einem solchen Vorgehen zur Kollision mit respektive zur Verletzung von nationalen wie internationalen Vorschriften zum Verbot von Folter.53 Alle 53 Art. 104 I S. 2 GG: Festgehaltene Personen dürfen weder seelisch noch körperlich misshandelt werden. Art. 3 EMRK: Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Art. 15 Abs. 2 EMRK: Aufgrund des Absatzes 1 darf von Artikel 2 nur bei Todesfällen infolge rechtmäßiger Kriegshandlungen und von Art. 3, Art. 4 (Absatz 1) und Art. 7 in keinem Fall abgewichen werden. Art. 7 S. 1 IPbpR (Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte): Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder strafe unterworfen werden. Art. 2 I und 2 UN-Anti-Folter-Konvention: Jeder Vertragsstaat trifft wirksame gesetzgeberische, verwaltungsmäßige, gerichtliche oder sonstige Maßnahmen, um Folterungen in allen seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Gebieten zu verhindern. Außergewöhnliche Umstände gleich welcher Art, sei es Krieg oder Kriegsgefahr, innerpolitische Instabilität oder ein sonstiger öffentlicher Notstand, dürfen nicht als Rechtfertigung für Folter geltend gemacht werden. Art. 1 UN-Anti-Folter-Konvention: Im Sinne dieses Übereinkommens bezeichnet der Ausdruck „Folter“ jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispiel um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, um sie für eine tatsächliche oder mutmaßliche von ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen oder um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen, oder aus einem anderen, auf irgendeiner Art von Diskriminierung beruhenden Grund, wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichen oder stillschweigenden Einverständnis verursacht werden. Der Ausdruck umfasst nicht Schmerzen oder Leiden, die sich ledig-

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diese Normen sprechen von einem absoluten Schutz vor Folter – zum Schutz der Menschenwürde.54 Demgegenüber wird aber argumentiert, dass solche Maßnahmen nicht als Folter, vielmehr als „unmittelbarer Zwang“ (wie er in den Polizeigesetzen der Länder geregelt ist) einzustufen seien, jedenfalls keine Verletzung der Menschenwürde darstellten und somit zulässig seien.55 Das subjektive Element der Folter, gekennzeichnet durch die Ausübung von staatlicher Gewalt der Gewalt wegen bzw. als im Vergleich zu dem antizipierten Zweck unverhältnismäßige Gewaltanwendung, sei hier nicht vorhanden.56 Die Befürworter solcher Maßnahmen lassen diese in sehr eng begrenzten Fällen zu – auch um einer Zersetzung des Rechtsstaates und einer Gefahr für das Gewaltmonopol des Staates entgegenzuwirken. In der vorliegenden Notsituation sollen allerdings bestimmte Tatsachenvoraussetzungen vorliegen: eine (1) klare, (2) unmittelbare, (3) erhebliche Gefahr für (4) das Leben oder die körperliche Integrität einer Person (5) durch einen identifizierten Aggressor, der (6) gleichzeitig die einzige Person ist, die zur Gefahrenabwehrbeseitigung in der Lage und (7) dazu auch verpflichtet ist; (8) die Anwendung körperlichen Zwanges ist schließlich das einzige erfolgversprechende Mittel.57 Zu einem konkreten Fall von Kindesentführung in Frankfurt hat das LG Frankfurt 2004 eine milde Verurteilung wegen Nötigung im Amt gegen den leitenden Polizisten ausgesprochen.58 lich aus gesetzlich zulässigen Sanktionen ergeben, dazu gehören oder damit verbunden sind. Ebe. Zu nennen ist Art. 4 EU-Grundrechtecharta. 54 Strikt ablehnend Pieroth/Schlink, Grundrechte, (Fn. 12), Rdnr. 366; Poscher, JZ 2004, 756 ff., 758; Gebauer, NVwZ 2004, 1405 ff., 1408; Marx, KJ 2004, 278 ff., 300 f. 55 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 2), Art. 1, Abs. 1, Rdnr. 79 ff. verwendet den Begriff der „präventiv-polizeilicher Folter“; Hilgendorf, JZ 2004 331 ff., 338 spricht von Schmerzzufügung unterhalb der Schwelle einer Verletzung der Menschenwürde; Kunig, in: von Münch (Fn. 2), Art. 1, Rdnr. 24; Götz, NJW 2005, 953 ff.; Brugger, in: Brugger/Schlink, Podiumsdiskussion (Fn. 10), S. 11; Brugger, Der Staat 35 (1996), 67 ff., 75; Wittreck, DÖV 2003, 873 ff., 876, 880 f. 56 Götz, NJW 2005, 953 ff.; Brugger, in: Brugger/Schlink, Podiumsdiskussion (Fn. 10), S. 11; Brugger, Der Staat 35 (1996), 67 ff., 75. Aus den Normen des IPbpR und zu der UN-Anti-Folter-Konvention ergibt sich gerade, dass ein derartiges subjektives Element nicht gefordert wird. Vielmehr liegt auch dann Folter bzw. eine unerlaubte Gewaltanwendung vor, wenn sie durch einen Hoheitsträger zur Rettung eines anderen Menschen angewandt wird, mithin zur Verfolgung eines, grundsätzlich von der Verfassung gedeckten Zwecks (Gebauer, NVwZ 2004, 1405 ff., 1406 m. w. N.). 57 So etwa: Götz, NJW 2005, 953 ff., 956; Brugger, Der Staat 35 (1996), 67 ff., 74. 58 LG Frankfurt, NJW 2005, 692; s. dazu ebf. einige Stimmen, die solche präventiv-polizeilichen Maßnahmen für zulässig erachten: Götz, NJW 2005, 953 ff., Herzberg, JZ 2005, 321 ff.; Jerouschek, JuS 2005, 296 ff.; zu dieser Frage auch

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Zu diesem Thema werden u. a. folgende themenspezifisch-neue Argumente zur Menschenwürde vorgetragen: • Das Verbot staatlicher Maßnahmen wird als schlicht „ungerecht“ eingestuft.59 Unschuldige Opfer, die sich in lebensgefährlicher Situation befinden können nicht gerettet werden, weil staatlichen Amtsinhabern gegenüber dem Täter die Hände gebunden seien. Dabei müsste der Täter den Aufenthaltsort (des Entführungsopfers, der Massenvernichtungswaffe) nur preisgeben – und könnte dies sogar nachteilsfrei tun, wenn die Auskunft unter Anwendung von Zwang geschieht, da die Angaben dann nach § 136a StPO im anschließenden Strafprozess keine Berücksichtigung finden dürften.60 • In dieser Fallkonstellation könne nicht etwa die Würde der Täter gegen die Würde der Opfer abgewogen werden. Zu einer dazu notwendigen Grundrechtskollision kann es nur kommen, wenn Rechte auf gleicher Stufe stehen und abwägungsfähig sind: wenn sich beide Seiten auf ihre Menschenwürde berufen, ist eine derartige Kollision nicht gegeben, weil die Menschenwürde ausdrücklich nicht abwägungsfähig ist.61 Dies wird auch bezüglich des Lebensrechtes festgestellt; zwar stellt das Leben einen Höchstwert dar; aber auch das BVerfG geht nicht davon aus, dass es sich immer gegen andere Grundrechte durchsetzen muss.62 • Es bestünde demgegenüber hinsichtlich des Art. 1 I GG eine Wertungslücke, die es zu schießen gelte.63 Bei Schließung der Wertungslücke64 sei zu berücksichtigen, dass nicht nur die Menschenwürde ein Höchstwert der Verfassung sei, sondern auch das Recht auf Leben.65 Dies umso mehr, als dass das Leben vitale Basis einer jeden Grundrechtsausübung66 Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein (Fn. 46), Art. 1, Rdnr. 17, Art. 2, Rdnr. 19 zur Frage nach der „Verwerflichkeit“, die korrespondiert mit dem Erfordernis der nach dem EuGH für Folterhandlungen typische besondere Niedertracht. 59 Götz, NJW 2005, 953; Brugger, in: Brugger/Schlink, Podiumsdiskussion (Fn. 10), S. 11; Brugger, Der Staat 35 (1996), 67 (75). 60 Götz, NJW 2005, 953 (956); ganz umfassend zu allem: Ender; in: Rettungsfolter im modernen Rechtsstaat? Eine Verortung, S. 133 ff. 61 Di Fabio, in: Maunz/Dürig (Fn. 2), Art. 2 II, Rdnr. 80; hier wird auch keine Schutzpflichtverletzung des Staates bei Nichtanwendung von Folter gesehen. 62 Brugger, Der Staat 35 (1996), 67 (79); Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 10), Art. 1 I Rdnr. 31, 42; Götz, NJW 2005, 953 (955); Brugger, in: Brugger/ Schlink, Podiumsdiskussion (Fn. 10), S. 4. 63 Brugger, in: Brugger/Schlink, Podiumsdiskussion (Fn. 10), S. 4. 64 Brugger, Der Staat 35 (1996), 67 (74). 65 Statt vieler: BVerfG Urt. v. 16.10.1977, NJW 1977, 2255. 66 Brugger, Der Staat 35 (1996), 67 ff., 83; Götz, NJW 2005, 953 (954); Brugger, in: Brugger/Schlink, Podiumsdiskussion (Fn. 10), S. 10; Starck, in: v. Mangoldt/

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– auch der Menschenwürde – sei. Ferner könnte das Leben als unverletzliches und unveräußerliches Menschenrecht nach Art. 1 II GG eingeordnet werden, womit das Recht auf Leben auch nach dem Wortlaut der Verfassung auf gleicher Stufe wie das Recht auf Menschenwürde stünde. Es müsse von einer Gleichrangigkeit des Lebensschutzes und der Menschenwürde ausgegangen werden – insbesondere im Hinblick auf die Rechtsprechung des BVerfG zum Schwangerschaftsabbruch, da die Schutzpflichtdimension per se nicht schwächer ausgeprägt sei als die Abwehrdimension des Grundrechtsbereiches.67 • Die Wortlaute von Art. 3 und Art. 2 EMRK stünden im Widerspruch zueinander;68 bei Beachtung des Grundsatzes der praktischen Konkordanz müsse daher der Wortlaut des Art. 3 EMRK wie folgt ausgelegt werden: Folter oder eine foltergleiche Behandlung wird nicht als Verletzung dieses Artikels angesehen, wenn sie das einzige Mittel zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der körperlichen Unversehrtheit eines Dritten ist und sich gegen den Verursacher dieser Gefahr wendet.69 • Durch klare Regeln zu einem moderaten Einsatz von Zwangsmitteln werde das Rechtsstaatsprinzip weit mehr gefördert und gestärkt, weil die Mehrheit der Bürger in einer solchen Gesetzeslage ihre Rechtsansicht vertreten sehen würden und die Akzeptanz des Rechtsstaat erhöht werde. In einem Rechtsstaat sei die konkrete und genaue Bestimmung bestimmter Fallkonstellationen und angemessener Zwangsmaßnahmen möglich, ohne damit die Gefahr eines Dammbruchs befürchten zu müssen. Besser als eine mitunter augenzwinkernd geduldete70 tatsächliche Grauzone für Klein/Starck (Fn. 2), Art. 1 I, Rdnr. 37; Herdegen, in: Maunz/Dürig (Fn. 2), Art. 1 I, Rdnr. 23; Di Fabio, in: Maunz/Dürig (Fn. 2), Art. 2 II, Rdnr. 9. 67 Brugger, Der Staat 35, (1996), 67 ff., 80; Gebauer, NVwZ 2004, 1405 ff., 1407. 68 Art. 2 EMRK lässt unter bestimmten Umständen die Tötung von Menschen zu; Art. 3 EMRK verbietet unter allen Umständen die Misshandlung. 69 Brugger, FAZ 10.03.2003, Nr. 58, S. 8, Spalte 4 f. 70 In der Vergangenheit kam es in einzelnen Fällen bei Entführungen von Kindern zum Einsatz bzw. Androhung von Gewaltmitteln durch die Polizei, bei denen die Entführten gerettet werden konnten, ohne dass es in der Folge zu Sanktionen gegen diejenigen gekommen wäre. Vergleichbar damit auch ein jüngerer Fall, in dem eine Vielzahl von Anschlägen auf Flugzeuge, die von Londoner Flughäfen in die USA starten sollten und deren Verhinderung nur durch Informationen möglich war, die Sicherheitsorgane im Libanon aus Mittätern „herausgepresst“ haben (FAZ v. 12.8.2006 unter Hinweis auf die pakistanische Zeitung „The Nation“). Auch in diesen Fällen kam es weder zu irgendwelchen Sanktionen, noch zu öffentlich vernehmbarer Kritik an den Methoden zur Erlangung dieser Informationen, durch die vermutlich Tausende von Menschen gerettet werden konnten.

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solche Maßnahmen sei im Interesse der Rechtskultur unserer Gesellschaft die normative Ausgestaltung bestimmter, moderater Zwangsmittel.71 • Die Rettungsfolter sei mit anderen, akzeptierten staatlichen Zwangsmaßnahmen durchaus vergleichbar. Zwangsmittel wie die lebenslange Freiheitsstrafe72 oder das Versprechen von Begünstigungen für den Fall einer Aussage (mit dem darin beinhalteten indirekten Zwang zur Aussage)73 seien anerkannt, würden den Menschen aber gleichwohl in seiner Menschenwürde verletzten. Auch mit dem Vollzug einer (lebenslangen) Freiheitsstrafe sei eine Persönlichkeitsdeformation bzw. Persönlichkeitsveränderung74 verbunden, welche im Sinne des Resozialisierungsgedanken sogar erwünscht ist.75 • Nicht erklärt würde ferner, warum gerade die Verbindung zwischen Foltermittel und Folterzweck die Menschenwürdeverletzung begründen sollen, wo jedes Merkmal isoliert betrachtet (Mittel und Zweck) eine Menschenwürdeverletzung nicht begründen.76 Das Gefahrenabwehrrecht nehme in Kauf, dass zunächst Unbeteiligte zur Abwehr herangezogen werden; die Rechtmäßigkeit der Handlung im Gefahrenabwehrrecht werde zudem grundsätzlich ex ante betrachtet.77 • Für die Gefahrenverursachungsverantwortung sei nicht ausschließlich die „Täterschaft“ relevant, im Zweifel sei diese sogar irrelevant, weil im Polizeirecht regelmäßig auch gegen den Nichtstörer vorgegangen werden kann; relevant sei allein die drohende Gefahr. Daher sei die Folter auch nicht das mildere Mittel im Verhältnis zu dem finalen Rettungsschuss; sie stünden vielmehr in einem aliud-Verhältnis zueinander.78 71

Brugger, Der Staat 35 (1996), 67 ff., 85. Diese ist nach der Judikatur des BVerfG verfassungskonform, sofern dem Verurteilten eine Chance verbleibt durch das Begnadigungsrecht jemals wieder in Freiheit zu gelangen (BVerfGE 45, 187 ff., 240 ff.; 63, 261 ff., 271 f.; 72, 105 ff., 133 f.; 86, 288 ff., 312. 73 Gebauer, NVwZ 2004, 1405 ff., 1407. 74 Götz, NJW 2005, 953 ff., 955. 75 Scholz, R., Das Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit (Fn. 1), S. 80 ff., 265 ff. 76 Gebauer, NVwZ 2004, 1405 ff., 1407; Enders, in: BKGG, C, Art. 1, Rdnr. 93 ff. 77 Brugger, Der Staat 35 (1996), 67 ff., 85. 78 Gebauer, NVwZ 2004, 1405 ff., 1408; Brugger, in: Brugger/Schlink, Podiumsdiskussion (Fn. 10), S. 10; Brugger, Der Staat 35 (1996), 67 ff., 77: Die Kugel der Polizeipistole bei Rettungsschuss stelle ein Hinnehmen, eine Duldung dar, während der Zwang zu einer Aussage ein aktives Verhalten des Betroffenen erfordere, nämlich die Pflicht zur Preisgabe; insoweit stellten diese Modalitäten zwei verschiedene Dinge dar; der körperliche Zwang sei nicht die Vorstufe zum finalen Rettungsschuss. 72

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5. Abschuss eines entführten Passagierflugzeuges bei terroristischem Zielflug (renegate-Fall) Das Problem des renegate-Falles betrifft einen möglichen Abschuss eines von Terroristen als Waffe (etwa gegen ein Hochhaus oder ein Kernkraftwerk) eingesetzten Passagierflugzeugs, an Bord dessen sich unbeteiligte Personen befinden. Nachdem das BVerfG sein Urteil vom 15.2.200679 gesprochen hat, gibt es derzeit keine staatliche Befugnis zum Einsatz von Waffen gegen ein Luftfahrzeug; § 14 Abs. 3 LuftSichG sollte eben dies regeln und ist für nichtig erklärt worden. Die „Abschussregelung“ verstoße nach dem Urteil gegen die Menschenwürde (Art. 1 GG) und das Lebensrecht (Art. 2 II GG). Das Gericht hat zugleich die strafrechtliche Beurteilung eines solchen Abschusses offen gelassen und ausdrücklich auf die mögliche Straffreiheit der im renegate-Fall handelnden Personen hingewiesen.80 Das BVerfG hat zudem ausdrücklich offen gelassen, ob und unter welchen Umständen im Fall von Angriffen, „die auf die Beseitigung des Gemeinwesens gerichtet sind“, dem Grundgesetz über die mit der Notstandsverfassung geschaffenen Schutzmechanismen hinaus eine „solidarische Einstandspflicht“ des einzelnen entnommen werden könne.81 Der Einsatz von Waffengewalt gegen ein unbemanntes oder nur mit Tätern besetztes Luftfahrzeug, das gegen ebensolche Ziele eingesetzt werden soll, ist bei Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nach dem Urteil des Gerichts mit dem Grundrecht auf Leben vereinbar.82 79 BVerfG, 1 BvR 357/05, BGBl I 2006, 466 ff. Das Überprüfen, Umleiten und Warnen von Luftfahrzeugen (§ 15 Abs. 1 S. 2 LuftSiG) bleibt ebenfalls weiterhin zulässig. Auch § 14 Abs. 1 LuftSiG ist weiterhin in Kraft. Zur Verhinderung des Eintritts eines besonders schweren Unglücksfalles dürfen die Streitkräfte weiterhin Luftfahrzeuge im Luftraum abdrängen und zur Landung zwingen. 80 Diese Aussage im Urteil könnte auf die Möglichkeit einer Regelung im StGB hinweisen, die für entsprechende Handlungen den Ausschluss der Tatbestandsmäßigkeit oder der Rechtswidrigkeit bzw. einen Strafausschließungsgrund vorsieht (ähnlich wie §§ 218 ff. StGB, denen ebenfalls eine Abwägung höchster Güter zugrunde liegt). Der BVerfG-Präsident Papier hat bei der Urteilsbegründung ausdrücklich betont, dass das BVerfG die strafrechtliche Relevanz eines Passagierflugzeug-Abschusses nicht bewertet hat. Daraus würde folgen, dass derjenige, der in einer renegade-Situation für den Abschuss eines Passagierflugzeugs verantwortlich wäre (Befehlsgeber und Befehlsempfänger), möglicherweise durch Nothilfe bzw. Notwehr gerechtfertigt oder durch die strafrechtlichen Grundsätze des übergesetzlichen entschuldigenden Notstands entschuldigt sein könnte. 81 BVerfG, 1 BvR 357/05, BGBl I 2006, 466 ff. 82 BVerfG, 1 BvR 357/05, BGBl I 2006, 466 ff. Siehe ebf. Hartleb, NJW 2005, 1397 ff., 1398. Unproblematisch ist der Abschuss des Flugzeuges hinsichtlich der Entführer. Die Situation ist vergleichbar mit der des finalen Rettungsschusses. Die handelnden Beamten wissen sicher, dass ein Gebäude Ziel eines Angriffes ist, indem sie das Flugzeug direkt darauf zusteuern sehen. Die Gefahrensituation ist damit

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Das Luftsicherheitsgesetz war geschaffen worden, um eine staatliche Befugnis zum Waffeneinsatz in Situationen der so genannten asymetrischen Kriegsführung und darin erfolgender zielgerichteter Terrorangriffe aus der Luft durch staatliche Gefahrenabwehrmaßnahmen zu verhindern. Diese Konstellationen, bei der ebenfalls die Konfrontations- bzw. Kollisionssituation von Würde gegen Würde respektive Leben gegen Leben eintritt, sind bereits vor dem Urteil des BVerfG problematisiert worden.83 Auch nach der höchstrichterlichen Entscheidung ist die Diskussion weitergeführt worden.84 Dabei werden folgende Aspekte besonders betont: In Fortsetzung der vorstehend bereits behandelten Grundsätze zur Verletzung der Menschenwürde ist hinsichtlich des LuftSichG zu problematisieren, ob die Gesellschaft den betroffenen unbeteiligten Passagieren „auferlegen“ kann, zum Schutze der weitergehenden Opfer, die durch den Aufprall des Flugzeugs auf sein terroristisches Ziel entstehen würden, ihr eigenes Leben opfern zu sollen. Die Theorie von einer Aufopferungspflicht basiert auf dem Grundgedanken, nach dem die Entführer die Passagiere in ihrer Würde verletzen – nicht der Staat, der seiner Schutzpflicht gegenüber den weitergehenden Opfer nachkommt.85 Dies wurde damit ergänzt, dass die Passagiere des Flugzeuges ohnehin dem Tode geweiht seien.86 Diese Aufunmittelbar gegeben und sichtbar. Für diesen Fall kann aber verfassungsgesetzgeberischer Handlungsbedarf gesehen werden: für etliche Bedrohungslagen durch terroristische Angriffe fehlen der eigentlich für Gefahrenabwehr zuständigen Polizei die nötigen Mittel, den Streitkräften, die über diese Mittel verfügen, jedoch fehlt die notwendige Rechtsgrundlage für ihren Einsatz. 83 Vgl. nur Enders, in: Berliner-Komm. (Fn. 76), C, Art. 1, Rdnr. 92 ff.; Klein, ZRP 2003, 140 ff.; Wiefelspütz, NZWehrR 2003, 45 ff.; Gramm, NZWehrR 2003, 89 ff.; Odendahl, DV, Bd. 38 (2005), 425 ff.; Pieroth/Hartmann, Jura 2005, 729 ff.; vgl. auch Debatte zum Gesetzgebungsverfahren des BT Sten.Berichte des BT, Plenarprotokoll 15/89, 7887 ff. 84 So etwa Isensee, AöR 131 (2006), 173 ff., 191 f.; Hase, DÖV 2006, 213 ff. In der derzeit – wie vor Inkrafttreten des LuftSichG – gesetzlich ungeregelten Situation könnte ein ungeschriebenes staatliches Notrecht zur Reaktion in Fällen terroristischer Angriffe denkbar sein. Dieses könnte eine Lücke im geschriebenen Recht als ultima ratio in extremen, unvorhergesehenen Fällen staatlichen Organen die Möglichkeit geben, das der Sache nach Erforderliche zu tun, um dem staatlichen Schutzauftrag für die Bürger nachzukommen; Waechter, Polizeirecht und Kriegsrecht, JZ 2007, 61 ff. 85 Isensee, AöR 131 (2006), 173 ff., 191 f.; BVerfG, 1 BvR 357/05, BGBl I, 2006, 466 ff., Replik des Vertreters des Bundestages gegen §§ 13, 14, 15 des LuftSiG (Abschnitt II, S. 11). 86 Diese Argumentation basiert darauf, die Passagiere des Flugzeuges wären ohnehin dem Tode geweiht, es könne für sie keinen Unterschied machen, ob sie durch den Flugzeugabsturz oder durch den Abschuss ihr Leben verlören (so der damalige Innenminister nach Pressemeldungen; a. A. ausdrückl. Schlink, Der Spiegel 2005, 34).

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opferungspflicht kann auf einen Pflichtgrund im Verhältnis von Bürger und Gesellschaft gegründet werden, wenn es eine solche Pflicht gibt. Eine solche Pflicht der unbeteiligten Passagiere als Bürger würde sodann korrespondieren mit der Schutzpflicht des Staates vor Terroranschlägen. Der Staat ist nach dieser Ansicht verpflichtet, zur Erfüllung dieser Pflicht ein Schutzkonzept für solche terroristisch herbeigeführten Notsituationen aufzustellen, er hat die bestmögliche Vorbereitung auf derartige Terroranschläge vorzunehmen.87 Eine solche Maßnahme wäre zudem als ultima ratio-Maßnahme anzusehen, deren Anwendung nur stattfände, wenn größtmögliche Klarheit über Art und Ausmaß der drohenden Gefahr bestehe und alle anderen weniger einschneidenden Mittel erschöpft seien.88 Die Gegenargumentation geht davon aus, dass das Todgeweihtsein (Asymetrie der Rettungschancen) kein rechtsstaatliches Argument darstellt. Der Staat dürfe den Prozess des Sterbens nicht deshalb abkürzen, weil derjenige ohnehin sterbe.89 Auch die Zahl der geretteten Menschen könne daher keinen Ausschlag geben, da jedem Menschen kraft Menschseins die gleiche Würde zukomme. Grundrechte seien anti-utilitaristisch und sie schützten den Einzelnen, nicht den jeweils größten allgemeinen Nutzen – die Zahl der zu rettenden ist daher irrelevant.90 Das Grundgesetz folge der Logik, dass jede Antastung, jede Preisgabe der Würde des Menschen verboten ist: Leben darf nicht gegen Leben verrechnet werden91. Eine Aufopferungspflicht aus zwangsrechtlicher Solidarität könne nur für bagatellhafte bzw. ersetzbare Güter bestehen; im existentiellen Notstand könne zur Gefahrenabwehr aufgrund einer mitmenschlichen Solidaritätspflicht nicht 87 Dies war nach dem Vortrag der Bundesregierung im Verfahren bei dem BVerfG die Absicht des Gesetzgebers, die er mit dem Luftsicherheitsgesetz verfolgte. Danach würde der Staat ansonsten seine Pflicht in vorwerfbarer Weise verletzen; BVerfG, 1 BvR 357/05, BGBl I, 2006, 466 ff., Replik des Vertreters des Bundestages gegen §§ 13, 14, 15 des LuftSiG (Vorbemerkung S. 2, Abschnitt II, S. 12). 88 BVerfG, 1 BvR 357/05, BGBl I, 2006, 466 ff., Replik des Vertreters des Bundestages gegen §§ 13, 14, 15 des LuftSiG (Vorbemerkung, S. 2, Abschnitt II, S. 17. Dem auch durch das BVerfG verwendeten Argument, dass eine zu Unsicherheit herrsche über die tatsächlichen Entscheidungsvoraussetzungen, um einen so gravierenden Eingriff zu rechtfertigen ist mit Isensee (AöR 131 (2006), 173 ff., 192, Fn. 103) zu entgegnen, dass die Sicherheit in der Sachverhaltsfeststellung keine grundrechtlichen Argumentations- und Entscheidungskategorie bildet. 89 Hartleb, NJW 2005, 1397 ff. mit diesem Argument könnte auch aktive Sterbehilfe für Schwerstkranke zugelassen werden. 90 Merkel, Die Zeit 29/2004; Hartleb, NJW 2005, 1397 ff., 1398; dem ist im Übrigen entgegenzuhalten, dass es auch vertretbar sein kann, nur Wenige zu retten, wenn das Leben der übrigen ohnehin verloren ist. Das Schutzgut kann nur ein qualitatives Rechtsgut (etwa das Gemeinwesen und seine Grundlagen) sein dem die Eingriffsmaßnahme dient (vgl. Enders, in: BKGG, C, Art. 1, Rdnr. 94, Fn. 359, 354). 91 Schlink, Spiegel 2004, 34 f.; Merkel, Die Zeit 29/2004 – so auch das BVerfG.

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„auf andere zugegriffen werden“. Auch die Passagiere in dem Flugzeug seien ebenso Opfer der Entführer wie die durch den Aufprall des Flugzeuges bedrohten Personen; die Umfunktionierung des Flugzeuges zur fliegenden Bombe könne den Opfern der Tat nicht zugerechnet werden.92 Der Gesamtdiskussion kann jedenfalls entnommen werden, dass eine Inanspruchnahme von Nichtstörern nur innerhalb der allgemeinen Aufopferungspflicht möglich ist. Ob diese Aufopferungspflicht auch die Existenz, das sichere Opfer des eigenen Lebens, umfassen darf, wird allgemein nur in den Kategorien für zumutbar erachtet, wenn es um den Bestand des Gemeinwesens oder die Existenz der freiheitlichen demokratischen Rechtsordnung geht.93 Dies könnte durch einen schwerwiegenden Terrorangriff mittels eines entführten Flugzeugs etwa in Anlehnung an Opferpflichten, wie sie in Kriegs- oder Verteidigungssituationen anzunehmen sind, bejaht werden. In solche Überlegungen spielt der Verfassungsauftrag der Streitkräfte zur Verteidigung hinein: Wird ein Luftfahrzeug im Rahmen eines Angriffs auf die Bundesrepublik Deutschland gegen das Leben von Menschen eingesetzt, ist die Abwehr dieses Angriffs mit Waffengewalt auf Grund von Art. 87a GG zulässig. Auch bei einem von Terroristen durchgeführten Anschlag kann es sich um einen Angriff im Sinne von Art. 87a GG handeln oder um einen mit dieser Angriffssituation vergleichbaren Fall.94 Notwendige Voraussetzung für staatliche Gefahren- bzw. Terrorabwehrmaßnahmen kann aber nur eine entsprechende Rechts- bzw. Eingriffgrundlage sein, die sicherstellt, dass der Staat seine Bürger gegen jede Art von Angriffen mit den wirksamsten Mitteln und den dafür ausgebildeten Kräften schützen kann.95 Eine mutmaßlich weit verbreitete, stille Hoffnung einer Mehrheit, 92

Merkel, Die Zeit 29/2004. Isensee, AöR 131 (2006), 173 ff., 191 f.; Enders, in: BKGG, C, Art. 1, Rdnr. 93 ff.; Schultze-Fielitz, in: Dreier (Fn. 10), Art. 2 II, Rdnr. 62; Di Fabio, in: Maunz/Dürig (Fn. 2), Art. 2 II, Rdnr. 40; Hartleb, NJW 2005, 1397 ff., 1400. 94 Die Ausrufung des Bündnisfalles durch die NATO ist nach den Anschlägen in den USA am 11. September 2001 erfolgt und bis zum heutigen Tag nicht aufgehoben worden. Vgl. auch die Resolution der UN-Sicherheitsrates mit das Mandat für den Krieg in Afghanistan legitimiert worden ist und die ausdrücklich als Begründung die „Bedrohung des Weltfriedens“ sowie das „Recht auf Selbstverteidigung“ enthielt. Die USA sahen und sehen sich seither im „Krieg gegen den Terrorismus“ und der damalige Bundeskanzler Schröder konstatierte eine „Kriegserklärung gegen die gesamte Menschheit“. 95 Auch für diesen Fall kann verfassungsgesetzgeberischer Handlungsbedarf gesehen werden. Nach der Wesentlichkeitstheorie des BVerfG sind wesentliche Fragen des Grundrechtsschutzes durch den Gesetzgeber zu regeln: die in BVerfGE 47, 46 ff. entwickelte Wesentlichkeitstheorie fordert, dass im Rahmen der Ermächtigung zum Erlass von Verordnungen, die wesentlichen Fragen vom Gesetzgeber selbst geregelt werden müssen. Dies gilt auch und gerade beim Kernbereichsschutz der Hauptgrundrechtsnorm des GG (Art. 1 GG) als eine der wesentlichsten Fragen überhaupt. 93

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dass in einer eintretenden Gefahrensituation der zuständige Inhaber staatlicher Handlungsfunktion handeln möge und „das Richtige tun“ werde, kann sowohl unter dem Aspekt rechtstaatlicher Klarheit wie Bestimmtheit als auch nach Maßstäben politischer Mechanismen96 weder befriedigen noch beruhigt sein lassen. III. Analytische Überlegungen zu den fünf Fallkonstellationen – Schlussfolgerung In einer tabellarischen Übersicht ist zunächst der Versuch unternommen, die rechtliche Akzeptanz der dargestellten Fallkonstellationen in Bezug zu Art. 1 I GG in eine Übersicht zu bringen. Daraus kann gefolgert werden, dass die Verletzung des Schutzbereichs der Menschenwürde in durchaus unterschiedlicher Weise durch die Rechtsordnung geduldet bzw. akzeptiert wird (siehe Tabelle auf gegenüberliegender Seite). Als Schlussfolgerung lässt sich daraus ableiten, dass in allen fünf Fallkonstellationen die Menschenwürde angetastet, ihr Schutzbereich tangiert ist – ungeachtet aller dogmatischen Konstruktionen und kunsthaften Begründungen. Interessant ist nur die Analyse, wie dies in einzelnen Fällen durch die Rechtsordnung und die Dogmatik legitimiert wird, in anderen – oft mehr als nur vergleichbaren – Fällen dies hingegen nicht erfolgt: • Der finale Rettungsschuss wird im Spannungsfeld der Menschenwürde als lebensvernichtender Eingriff in die einschlägigen Grundrechte einer angreifenden Person polizeigesetzlich legitimiert, indem dieser eine Duldungspflicht aufgrund ihres eigenen vorherigen Tuns zugeordnet wird. Der Inhaber der betroffenen Menschenwürde hat zuvor selbst rechtswidrig agiert, eine Situation herbeigeführt, die eine Gefahrenabwehr verlangt und sich daher diese Duldungspflicht selbst auferlegt. • Der Brechmitteleinsatz wird ebenfalls mit einer allgemeinen Aufopferungspflicht im Rahmen strafprozessualer Maßnahmen durch die Pflicht begründet, an der Aufklärung (ggf. eigener) Straftaten und der entspre96 Ein Bundesminister etwa, der nach dem Spruch des BVerfG in einer solchen Bedrohungslage entscheiden muss, hat vermutlich zwei Alternativen: er unternimmt unter Berufung auf das Urteil nichts oder er ordnet einen Abschuss unter Hinweis auf eine Nothilfelage an und hofft nach dem beredten Hinweis des BVerfG darauf, in einem anschließenden Strafprozess frei gesprochen zu werden (s. Fn. 80). In beiden Alternativen dürfte allerdings das politische Ergebnis identisch sein: der Rücktritt des Bundesministers. Denn eine handlungsgelähmte Hinnahme einer potentielle Katastrophe wäre politisch vermutlich ebenso unverzeihlich, wie ein Tätigwerden dieser Gravidität ohne gesetzliche Grundlage im menschenwürderechtlichen Konflikt zu einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung. In dieser Rechtslage ist der Staat wehrlos und erpressbar.

ja (Geiselnehmer)

ja (Drogendealer o. body packer)

nein (Embryo)

nein (Embryo)

ja (Entführer/ Anschlagstäter)

nein (unbeteiligte Passagiere)

1. finaler Rettungsschuss

2. Brechmitteleinsatz

3.a) Schwangerschaftsabbruch

3.b) Bio- und Gentechnologie etc.

4. Rettungsfolter

5. renegate-Fall

Inhaber d. Würde greift an/agiert

Gefahrenabwehr

Gefahrenabwehr

Staat schafft nur rechtlichen Handlungsrahmen

Staat schafft nur rechtlichen Handlungsrahmen

Strafverfolgung

Gefahrenabwehr

Ziel/Zweck staatlichen Handelns

ja

ja

ja/nein

nein

nein

nein

Menschenwürde wird v. Rechtsordnung geschützt

ja – Inhaber d. staatl./polizeil. Gewaltmonopols – Staat hat allein Handlungsinstrumentarium (Waffen)

ja – Inhaber d. staatl./polizeil. Gewaltmonopols

ja/nein – Forschungsförderung – Gesetzgeber – Staat als Garant (Lebensschutz)

nein – nur als Gesetzgeber – Staat als Garant (Lebensschutz)

ja – Inhaber d. staatl./polizeil. Gewaltmonopols

ja – Inhaber d. staatl./polizeil. Gewaltmonopols

Staat als Handelnder

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chenden Strafverfolgung mitzuwirken. Auch hier hat der betroffene Inhaber der Menschenwürde zuvor selbst durch rechtswidriges Tun seine Aufopferungspflicht (mit)begründet. • Dem Nasciturus wird beim Schwangerschaftsabbruch durch den Strafrechtsgesetzgeber eine Aufopferungspflicht für sein eigenes Leben auferlegt – freilich ein Leben, dass nicht eigenständig, sondern nur konditioniert durch das Leben der existenzgebenden wie existenzgewährenden Mutter besteht. Der Embryo als Inhaber der betroffenen Menschenwürde aber verhält sich rechtmäßig, agiert in keiner Weise, ist völlig aktions- ja hilflos. • Der Nasciturus in vitro ist – außerhalb eines mütterlichen Körpers – einem stärkeren Schutzkonzept anvertraut als in corpore. Dies lässt die Antastung seiner Menschenwürde leichter schützen, da sie nicht in der Weise konditioniert ist durch Würde und Leben seiner Mutter. Daher wird in diesen Fällen der Inhaber der betroffenen Menschenwürde in relativ hoher Weise geschützt, auch hier verhält er sich rechtskonform, er agiert nicht, ist ebenfalls völlig hilflos. • In Fällen der Rettungsfolter ist der Würdeschutz des Geiselnehmers oder Anschlagtäters auch hoch angesiedelt, da es sich um den sakrosankten Tabubereich der Folterhandlung dreht. Der Inhaber der Menschenwürde ist zwar ein agierender Täter, der rechtswidrig angreift und eine Situation der notwendigen Gefahrenabwehr herbeiführt, vergleichbar der des finalen Rettungsschusses. Einzig die unmittelbare, plastische Nähe der Bedrohungslage zwischen einem Entführungsopfer und dem Täter unterscheidet diese Lage von der des Rettungsschusses. Beides, das Foltertabu und die abstraktere Bedrohungslage bewahren den lebensbedrohenden Angreifer vor einer Aufopferungspflicht wie sie der Geiselnehmer beim Rettungsschuss hinzunehmen hat – eine Aufopferungspflicht, die freilich milder ausfallen würde, da es im Gegensatz zu einem Geiselnehmer nicht um die Aufopferung des eigenen Lebens gehen würde. • Die Konstellation der renegate-Fälle schließlich ist hinsichtlich der unbeteiligten Nichtstörer (Passagiere) – bisher – nicht mit einer gesetzlich legitimierten Pflicht zum Sonderopfer verbunden. Auch hier werden die Inhaber der betroffenen Menschenwürde geschützt, sie agieren nicht, verhalten sich rechtmäßig, sind als hilflos zu charakterisieren. Im Unterschied zur Lage des Nasciturus jedoch, wird durch den Schutz ihrer Würde auch ihr Leben nicht zu retten sein. Bei der Beurteilung der fünf Konstellationen ist immer auch noch die Unterscheidung vorzunehmen, ob der Staat selbst als Handelnder bzgl. der Antastung der Menschenwürde aktiv wird (sei es zu Gefahrenabwehr oder

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zur Strafverfolgung) wie in den Fällen des finalen Rettungsschusses, des Brechmitteleinsatzes, der Rettungsfolter und der renegate-Fälle. Oder ob der Staat lediglich den gesetzlichen Handlungsrahmen schafft auf Grund dessen sodann andere Grundrechtsträger die Würdeverletzung vornehmen wie beim Schwangerschaftsabbruch und bei der Stammzellforschung und den damit zusammenhängenden Fragen. Der Staat als unmittelbar Handelnder im Spannungsfeld der Menschenwürde sieht sich faktisch höheren Anforderungen ausgesetzt, da er Adressat der Grundrechte ist. Gleichwohl hat er auch als Gestalter des Handlungsrahmens für den Bürger über Art. 1 GG eine Garantenstellung. Zur Gefahrenabwehr sind staatlichen Stellen weitergehende Grundrechtseingriffe erlaubt, als bei der Strafverfolgung. Das Ergebnis einer Betrachtung dieser menschenwürderechtlichen Spannungsfelder ist: Die Ausprägung des Menschenwürdeschutzes durch Legislative, Exekutive und Jurisdiktion ist nicht homogen und konsistent, Bruchlinien der Rechtsordnung sind nicht zu übersehen. Mit dieser – durchaus subjektiven wie streitbaren – Folgerung kann nur ein Anstoß gegeben werden, eine überzeugende und homogene Konzeption unserer Rechtsordnung in Grenzbereichen der Menschenwürde zu diskutieren.

Blasphemie: Gegenstand oder Schranke grundrechtlicher Freiheit – Grenzfragen freiheitlicher Verfassung im Widerspruch der Kulturen Von Josef Isensee I. Fundamentaldissens zwischen islamischer und westlicher Kultur Der Streit um die dänischen Karikaturen des Propheten Mohammed hat das Zeug zu einem Paradigma für den Zusammenprall der Kulturen.1 Die Muslime, denen schlechthin verboten ist, sich ein Bild von ihrem Propheten zu machen, stoßen hier nicht nur auf ein Abbild, sondern auf ein Zerr- und Witzbild, das sie als Schmähung empfinden. In ihrem Aufbegehren wider den Spott auf ihre Religion entlädt sich ein unversöhnter fundamentaler Gegensatz, der die heutige Welt durchzieht: zwischen islamischer Tradition und westlicher Moderne; zwischen Absolutheit des Glaubens und liberalem Relativismus; zwischen eherner, überindividueller Gesetzlichkeit und dem Freiheitsanspruch des Individuums, das, wenn überhaupt, nur die Gesetze anerkennt, die es sich selber gibt; zwischen einer religiös geschlossenen Gesellschaft, die ihre Einheit im gemeinsamen Verständnis einer ewigen Wahrheit findet, und einer säkularen, offenen, beweglichen, pluralen Gesellschaft, der nichts heilig ist. Dort sind Staat und Gesellschaft noch identisch, hier sind sie geschieden. Gegen das Prinzip Freiheit streitet das Prinzip der Ehrfurcht. Libertinismus und Dekadenz stoßen auf vitale Religiosität. Wider die Albernheit der Spaß-, Spiel- und Mediengesellschaft erhebt sich der heilige Ernst. Die deutsche Verfassungsordnung ist selber ein Kind der westlichen Kultur, der hier der Kampf angesagt wird. Aus der Sicht des islamischen Kämpfers steht sie nicht über den Parteien. Vielmehr ist sie geradezu Gegenstand des Kampfes, somit ihrerseits Partei. Das heißt jedoch nicht, dass Huntington, Samuel P., The Clash of Civilisations, 11996. Aus der unabsehbaren Widerlegungs- und Beschwichtigungsliteratur: Büttner, Friedemann, Islamischer Fundamentalismus – eine Herausforderung für den Westen?, in: Essener Gespräche 33 (1999), S. 107 ff. 1

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sie sich als befangen ablehnen, sich der eigenen Wertung enthalten und das Urteil einer Instanz jenseits der Geschichte, dem hegelianischen Weltgeist, überlassen müsste. Sie vermag den Fundamentaldissens der Kulturen nicht aufzuheben und nicht zu überwinden. Wohl aber kann sie seine praktischen Folgen mit ihren Kategorien qualifizieren und über sie nach ihren normativen Kriterien entscheiden. Die Verfassung des Rechtsstaats erkennt beiden Seiten, die im Konflikt stehen, der Aktion wie der Reaktion, der Presse wie der Religion, die genuin gleiche Freiheit zu. Der Rechtsstaat sieht es als seine Aufgabe, die rechtlichen Bedingungen zu gewährleisten, dass die Ausübung der Freiheit des einen mit der Ausübung der Freiheit des anderen nicht in Widerspruch gerät. Die Schranken, die er zu diesem Zwecke zieht, müssen verallgemeinerungsfähig sein, einem „allgemeinen Gesetz der Freiheit“ verpflichtet, wie Kant es sieht: jenem Gesetz, nach dem die Willkür des einen mit der Willkür des anderen vereinigt werden kann.2 In diesem kantianischen Sinn bedeutet Recht „die Einschränkung der Freiheit eines jeden auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit von jedermann, in so fern diese nach einem allgemeinen Gesetze möglich ist“. Dieses Gesetz aber bestimmt jedem das Seine und sichert es „gegen jedes anderen Eingriff“.3 Der Rechtsstaat fungiert also, in Distanz zu den Konflikten der Gesellschaft, als Koordinator der Freiheit eines jeden und sanktioniert die allgemeine Grundpflicht des „neminem laedere“. Das ist jedoch noch nicht die verfassungsrechtliche Lösung des Konflikts, sondern lediglich deren vorpositive Zielprojektion. Der Weg durch das positive Verfassungsrecht ist nicht ganz leicht zu finden.4 2 Kant, Immanuel, Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (1797), S. XXXIII (in: Werke, Weischedel-Ausgabe, Bd. IV. 1966, S. 303 [337]). 3 Kant, Immanuel, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793), A 234 (in: Werke, Weischedel-Ausgabe, Bd. VI, 1964, S. 125 [144]). 4 Erste Analysen nach den Maßstäben der EMRK Akyürek, Metin/Kneihs, Benjamin, Die Karikatur im Spannungsfeld zwischen Religions- und Meinungsfreiheit – eine provokante Skizze, in: JRP 1006, S. 79 ff.; Luf, Gerhard/Schinkele, Brigitte, Kommunikationsfreiheit und der Schutz religiöser Gefühle, ebd., S. 88 ff.; Pabel, Katharina, Grundrechtsbeschränkungen bei grenzüberschreitenden Konfliktlagen, ebd., S. 92 ff.; Stelzer, Manfred, Der Karikaturenstreit: Versuch einer grundrechtlichen Entgrenzung, ebd., S. 98 ff. Analyse nach den Grundrechten des Grundgesetzes von Arnauld, Andreas, Grundrechtsfreiheit zur Gotteslästerung?, Vortrag in der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Sektion der Görres-Gesellschaft am 25.9.2006 (zitiert nach dem Manuskript). – Analyse des Urteils des EGMR v. 20.9.1994 Otto-Preminger-Institut gegen Österreich: Grabenwarter, Christoph, Filmkunst im Spannungsfeld zwischen Freiheit der Meinungsäußerung und Religionsfreiheit, in: ZaöRV 55 (1995), S. 128 ff.

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II. Polygonale Grundrechtskonstellation Zur Aufbereitung für die verfassungsrechtliche Diskussion sei der paradigmatische Fall von Dänemark nach Deutschland versetzt, damit er schulmäßig diskutiert werden kann. Schulmäßigkeit ist angebracht, damit die notwendige Distanz zu der politisch aufgeladenen Materie hergestellt werden kann. Doch die konventionellen Schemata der Grundrechtsdogmatik wollen nicht recht verfangen. Der liberale Dualismus zwischen Staat und Privaten, auf den die Grundrechte in ihrer Abwehrfunktion abstellen, gibt das Argumentationsraster dafür ab, ob und wieweit der Staat in die Freiheitsrechte der Beteiligten eingreifen darf. Hier aber handelt es sich auch und wesentlich darum, ob und wieweit er eingreifen muss, um seiner Schutzpflicht zu genügen. Der Streit entzündet sich nicht an einem Eingriff des Staates, sondern an einem echten oder mutmaßlichen Übergriff von privater Seite. Beide Parteien könnten für sich Grundrechte ins Feld führen: die eine die Meinungs- und Pressefreiheit sowie die Kunstfreiheit, die andere die Religionsfreiheit. Prima facie liegt eine Kollision zwischen Grundrechten vor. Eher scheint das grundrechtliche Dreieck von Staat – Störer – Opfer zu passen: der Störer in einer abwehrrechtlichen, das Opfer in einer schutzrechtlichen Beziehung zum Staat, beide zueinander in einer privatrechtlichen Beziehung.5 Doch wer ist hier Störer, wer Opfer? Ist Störer der Karikaturist, der das religiöse Ehrgefühl der Muslime beleidigt, oder der Fanatiker, der dem Beleidiger nach dem Leben trachtet? Ist Opfer, wer die Schmähung dessen ertragen muss, was ihm heilig ist, oder ist Opfer, wer um seine Sicherheit fürchtet? Wie immer auch diese Rollen zu verteilen sind – sie reichen nicht aus, um die grundrechtliche Problematik erschöpfend darzustellen. Denn der Konflikt greift über die Staatsgrenze hinaus, wenn und soweit grundrechtliche Belange auf ausländischem Territorium gefährdet werden, sei es durch private, sei es durch staatliche Gewalt. Die Schutzpflicht des Staates endet nicht an der Grenze.6 Doch kann der Staat sich zu ihrer Erfüllung nicht auf seine Gebietshoheit stützen. Grundsätzlich sind ihm interventionistische Übergriffe auf fremdes Territorium verwehrt. Er ist angewiesen auf Koope5

Vgl. von Arnauld, Grundrechtsfreiheit zur Gotteslästerung? (Fn. 4), S. 2 f. – Allgemein zur Dreier-Konstellation: Isensee, Josef, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: HStR V, 11992 (22000), § 111, Rn. 1 ff., 86 ff., 168 ff., 182 ff. 6 Zur räumlichen und personalen Reichweite der Grundrechte: Isensee, Josef, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: HStR V, 11992 (22000), § 115, Rn. 77 (Nachw.). Vgl. auch Heintzen, Markus, Auswärtige Beziehungen privater Verbände, 1988, S. 127 ff.

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ration mit dem auswärtigen Staat. Die grundrechtliche Schutzpflicht wird also durch das Völkerrecht mediatisiert und relativiert.7 III. Gewaltmonopol und Friedenspflicht Eine Problemschicht der komplexen Materie lässt sich ablösen und vorab behandeln: die gewalttätigen Reaktionen auf die als blasphemisch wahrgenommenen Karikaturen. Die Androhung wie die Anwendung körperlicher Gewalt gehören nicht zur grundrechtlichen Freiheit. Sie sind per se illegitim als Verstöße gegen das staatliche Gewaltmonopol.8 Der Mob, der Autos, Häuser oder Menschen anzündet, genießt nicht den Schutz der Versammlungsfreiheit, gleich, ob ihn religiöse Empörung, politischer Protest oder bloßer Vandalismus leitet, gleich, ob er sich aus Muslimen, Christen oder Agnostikern rekrutiert. Wer, vom heiligen Zorn übermannt, andere terrorisiert, kann sich nicht auf das Grundrecht der freien Religionsausübung berufen. Das steht auch dem Muslim nicht zu, der sich aufmacht, die Fatwa des Ayatollah Khomeini vom 14. Februar 1989 endlich zu vollstrecken und den Autor des Romans „Die satanischen Verse“ zu töten; dabei spielt es keine Rolle, ob er aus Glaubenseifer handelt oder in der Absicht, das Kopfgeld von nunmehr 6 Mio. US-Dollar zu verdienen. Desgleichen entfällt jeglicher Grundrechtsschutz für den Aufruf des türkischen „Kalifen von Köln“, Gotteslästerer zu ermorden.9 Der Ausschluss des grundrechtlichen Schutzes enthält keinen Widerspruch zur religiösen Neutralität des Staates und keine unzulässige Differenzierung nach der Religion, etwa eine solche zwischen „richtiger“ und „falscher“ Überzeugung, zwischen moderatem und fanatischem, aufgeklärtem und fundamentalistischem Glauben. Es geht überhaupt nicht um die inhaltliche Qualität der Religion, und es geht auch nicht um das Motiv des Handelns, sondern allein um deren Mittel, die physische Gewalt. Diese aber ist schlechthin verpönt. Das Recht, Gewalt gegen Personen oder Sachen anzuwenden, lebt auch dann nicht auf, wenn die Schmähung der Religion das äußerste Maß des Widerwärtigen, des Niederträchtigen, des moralisch wie rechtlich Verwerflichen erreicht. Obwohl sie die Bahnen des Geschmacks, der guten Sitten, des Rechts verlässt, verbleibt sie immerhin noch in den Bahnen der Kommunikation. Auf die Bahnen der Kommunikation ist auch 7 Zum Auslandsschutz der Grundrechte Isensee, Grundrecht als Abwehrrecht (Fn. 5), § 111, Rn. 120 ff.; Szekalla, Peter, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im europäischen Recht, 2002, S. 96 f., 133, 194 f. 8 Dazu Isensee, Josef, Die Friedenspflicht des Bürgers und das Gewaltmonopol des Staates, in: Festschrift für Kurt Eichenberger, 1982, S. 23 ff.; ders., Staat und Verfassung, in: HStR II, 32004, § 15, Rn. 83 ff. (Nachw.). 9 Dazu Spuler-Stegemann, Ursula, Muslime in Deutschland, 1998, S. 89 ff.

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der Protest wider die Blasphemie verwiesen. Er darf sich als Retorsion zu schärfster Intensität steigern, doch nur, solange er unterhalb der Gewaltschwelle verbleibt. Die Voraussetzungen der Notwehr oder der Nothilfe, die ausnahmsweise private Gewalt gestatten, liegen nicht vor, wenn eine Religion durch Wort und Bild beschimpft wird, desgleichen nicht die Voraussetzungen des rechtfertigenden gesetzlichen oder übergesetzlichen Notstandes, weil der Einsatz von physischem Zwang zur Abwehr ideellen Frevels nicht taugt und der Güterabwägung nicht standhält. Darüber herrscht im Ergebnis Konsens, nicht jedoch in der Begründung. Hier gehen die weitere und die engere Theorie des Grundrechtstatbestandes auseinander. Nach der weiten bewegt sich auch die Gewalttätigkeit an sich im Rahmen des jeweils thematisch einschlägigen grundrechtlichen Schutzbereichs. Freilich stößt sie in der Regel auf ein gesetzliches Verbot, das sich nach den für Grundrechtseingriffe geltenden Regeln rechtfertigen lässt, so dass, wenn sie auch vom Tatbestand des Grundrechts erfasst wird, der die Potentialität grundrechtlicher Freiheit verkörpert, nicht effektiv ausübbar ist.10 Die weite Auslegung will den Raum privater Freiheit so weit wie möglich dehnen, um etwaige Schutzlücken zu vermeiden, Freiheit zu optimieren, staatliche Eingriffe stets unter Rechtfertigungszwang zu halten und der Güterabwägung zu unterwerfen. Doch für private Gewalt gibt es nichts zu optimieren. Die staatliche Friedensordnung braucht sich nicht aus der Verfassung zu rechtfertigen. Deren Wirksamkeit ist ihrerseits durch die staatliche Friedensordnung bedingt. Der Gesamtzustand der Sicherheit ist a priori gerechtfertigt als die raison d’être des modernen Staates. Die Grundrechte enthalten keinen Rechtstitel dazu, das staatliche Gewaltmonopol gegen eine „natürliche“ Freiheit des Privaten abzuwägen. Denn die „natürliche“ Freiheit zu gewaltsamer Selbsthilfe ist mit dem Übergang vom status naturalis in den status civilis erloschen. Grundrechtliche Freiheit ist nicht „natürliche“, sondern staatlich befriedete, zivile Freiheit. Diese grenzt sich ab von privater Gewalt. Aber sie lässt sich nicht gegen diese abwägen. Die Versammlungsfreiheit, an der ein besonderes Risiko kollektiver Gewaltsamkeit haftet, wird deshalb vom Grundgesetz nur den Deutschen zuerkannt, die sich „friedlich und ohne Waffen“ versammeln. Die grundrechtlichen Schutzbereiche enthalten also kein Gewaltpotential. Drohung und Einsatz von körperlicher Gewalt liegen mithin außerhalb der Tatbestände. Freilich bedeutet das nicht, dass der Gewalttäter grundrechtlich vogelfrei und jeder beliebigen Sanktion des Staates ausgeliefert wäre. Wenn die Tat als solche 10 Vertreter der weiten Interpretation des Tatbestandes: Alexy, Robert, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 278 ff.; Höfling, Wolfram, Offene Grundrechtsinterpretation, 1987, S. 175 ff.; Lübbe-Wolff, Gertrude, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 87 ff.; Wolfram Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2003, S. 76 ff.; von Arnauld, Grundrechtsfreiheit zur Gotteslästerung? (Fn. 4), S. 5.

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nicht grundrechtlich legitimiert wird, so wird doch der Täter gegen staatliche Maßnahmen der Gefahrenabwehr oder der Strafe geschützt, soweit diese in seine körperliche Unversehrtheit, sein Eigentum, in das Habeascorpus-Grundrecht oder in Persönlichkeitsrechte eingreifen.11 Soweit Gewalt im Spiel ist, herrscht Klarheit über die grundrechtliche Rollenverteilung. Wer mit physischem Zwang droht oder agiert, ist Störer, der Adressat Opfer. Der Staat wird nicht durch die Abwehrrechte des Störers gehindert, ihm in den Arm zu fallen. Doch ist er verpflichtet, das Opfer privater Gewalt zu schützen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob das Opfer, gewollt oder ungewollt, den Zorn des Täters hervorgerufen und die Gewalt letztlich verursacht hat oder ob das Opfer mit der Provokation überhaupt nichts zu tun hat, sondern lediglich mit einer Kollektivverantwortung als Deutscher, als Europäer, als Christ überzogen oder rein zufällig, als Passant etwa, zum Kollateralgeschädigten wird. Die volle Schutzpflicht aktualisiert sich bei inländischen Gefahren. In ihrer eingeschränkten und vermittelten Form erfasst sie jedoch auch Gefahren im Ausland.12 Der Skandal, den die Intendantin der Berliner Städtischen Oper im Oktober 2006 mit der Absetzung einer Aufführung des „Idomeneo“ auslöste, weil sie Terrorakte von Islamisten fürchtete, die sich durch eine an sich opernfremde Passage der Inszenierung beleidigt fühlen könnten, ist ein heilsames Lehrstück darüber, dass grundrechtliche Freiheit nur in einem Gesamtzustand der Sicherheit gedeiht und dass ohne die Freiheit von Furcht die Unbefangenheit des bürgerlichen Daseins und des kulturellen Lebens nicht möglich ist. Das Menetekel des Islamismus zeigte sich in der Fatwa des Ayatollah Khomeini wider den Roman „Die satanischen Verse“ von Salman Rushdie wie in dem Protest des türkischen Religionsministers gegen ein unliebsames historisches Zitat in der Regensburger Rede Papst Benedikt XVI.: dass künftig muslimische Autoritäten Zensur ausüben über Kunst, Wissenschaft, Religion des Westens und im Fall der Widersetzlichkeit der muslimische Mob entfesselt wird. Der Rechtsstaat, der gegenüber religiös motivierter Gewalt Toleranz übt, praktiziert Beihilfe zur Intoleranz und verleugnet sich selbst. In der Attitüde 11

Für die engere Interpretation des Grundrechtstatbestandes: Isensee, Josef, Das staatliche Gewaltmonopol als Grundlage und Grenze der Grundrechte, in: Festschrift für Horst Sendler, 1991, S. 39 ff.; ders., Grundrecht als Abwehrecht (Fn. 5), § 111, Rn. 171 ff. Diese Restriktion bedeutet aber nicht, dass auch die rein verbale Religionsbeschimpfung von vornherein außerhalb des Schutzbereichs der Freiheitsrechte läge. Zutreffend zu § 166 StGB im Verhältnis zur Kunstfreiheit: Scholz, Rupert, in: Maunz, Theodor/Dürig, Günter, Grundgesetz, Stand 1982, Art. 5 Abs. 3, Rn. 69. 12 Isensee, Grundrecht als Abwehrrecht (Fn. 5), § 111, Rn. 120 ff., 123; Ruffert, Matthias, Vorrang der Grundrechte und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 237 ff.

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der Generosität, die im Westen zu beobachten ist, verbirgt sich Feigheit. Ein Minderheitenrabatt widerspräche auch der Rechtsgleichheit. Ein Privileg wäre schon deshalb unangebracht, weil hinter der bereits großen, rasant wachsenden Zahl der Muslime im Lande ausländische Schutzmächte stehen und ein gewaltiges und gewaltfähiges Solidarisierungspotential, das sich im dänischen Karikaturenstreit wie im Protest gegen die Regensburger Rede des Papstes entladen hat. IV. Perspektive des Opfers: Grundrechtlicher Schutz vor Blasphemie? 1. Voraussetzungen der grundrechtlichen Schutzpflicht Wenn das Element der physischen Gewaltsamkeit aus dem Sachverhalt herausgefiltert ist, stellt sich das Thema der grundrechtlichen Schutzpflicht erneut, nunmehr aber in anderer Richtung, dahin nämlich, ob der Staat verpflichtet ist, zum Schutz der Religionsfreiheit oder sonstiger Grundrechte derer, die sich durch blasphemische Akte verletzt fühlen, diese Akte zu verhindern oder zu unterbinden. In diesem Zusammenhang ist es nicht die Frage, was der Staat zu diesem Behufe alles im Rahmen der Verfassung tun darf, sondern lediglich die, was er um der Grundrechte willen tun muss. Es geht also um den Schutz grundrechtlicher Belange, nicht aber um sonstige Belange, etwa um den öffentlichen Frieden. Letztlich geht es um den Schutz von Personen, denen Grundrechte zustehen, konkret also um den Einzelnen, der sich zu einer Religion bekennt, wie auch um eine Religionsgemeinschaft, die als solche grundrechtsfähig ist. Die grundrechtlichen Schutzpflichten sind zwar zuvörderst objektivrechtliche Staatsaufgaben. Doch mittelbar ergeben sich aus ihnen subjektive öffentliche Rechte des betroffenen Grundrechtsträgers, die zumindest einen formellen Anspruch gegen den Staat auf interessengerechte Ausübung des Ermessens darüber geben, ob und mit welchen Mitteln er interveniert.13 Der Tatbestand, der die Schutzpflicht des Staates auslöst, besteht darin, dass ein Privater grundrechtliche Belange eines anderen beeinträchtigt oder gefährdet. Anders gewendet: Voraussetzung ist der private Übergriff auf ein grundrechtliches Schutzgut.14 13

Näher Isensee, Grundrecht als Abwehrrecht (Fn. 5), § 111, Rn. 137 ff., 183 ff. Cremer, Wolfram, Freiheitsgrundrechte, 2003, S. 324 ff., 357 ff. 14 Näher Isensee, Grundrecht als Abwehrrecht (Fn. 5), § 111, Rn. 93 ff., Cremer, Freiheitsgrundrechte (Fn. 13), S. 265 ff.; Ruffert, Vorrang der Grundrechte (Fn. 12), S. 166 ff. Zur Anwendung der Schutzpflicht durch den EGMR: Grabenwarter, Filmkunst (Fn. 4), S. 143 ff.

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2. Grundrechtliche Schutzgüter a) Name und Ehre Gottes Von vornherein scheidet die Intention aus, Gott vor Beleidigung zu schützen. Gott ist kein Grundrechtsträger und seine Ehre kein Rechtsgut. Religiöse Ziele und Aufgaben liegen jenseits des säkularen Horizonts des Verfassungsstaates.15 Für einen Staat anderer Art jedoch, der sich mit einer bestimmten Religion identifiziert und der seine Einheit auf ihr gründet, bedeutet die Gotteslästerung einen Angriff auf seine eigenen Grundlagen, die er mit allen Mitteln abzuwehren hat, um sich selbst zu behaupten, aber auch um die Gottheit nicht zu erzürnen. Das gilt nicht nur für den Islam, sondern auch für die jüdisch-christliche Tradition. Das zweite Gebot des Dekalogs, den Namen Gottes nicht zu verunehren, wurde vom ganzen Volk aufgenommen und sanktioniert. Moses vernahm als göttliche Botschaft: „Wer seinen Gott lästert, lädt Schuld auf sich. Wer aber des Herrn Namen schmäht, leide den Tod! Die ganze Gemeinde soll ihn steinigen. Ob Fremdling oder Eingeborener, wer den Namen lästert, muss sterben.“16 Jesus zog sich den Vorwurf der Gotteslästerung zu, weil er von sich gesagt hatte, dass er Sünden vergeben könne (Mt. 9, 3) und dass er zur Rechten der Macht Gottes sitzen und auf den Wolken des Himmels kommen werde (Mt. 26, 63–64, Mk. 14, 62–64). Wer Gottes Namen schändet, gehört nach Luther in „des Henkers Schule“.17 Doch vom Christentum geht auch der Impuls aus, den Gottesfrevel nicht weiter mit Gewalt und staatlicher Strafe zu ahnden, weil er nicht unter die Gerichtsbarkeit der Menschen falle, sondern unter das Gericht Gottes, und dass das Urteil erst im Endgericht Gottes ergehen werde, nicht aber hier auf Erden, wo Weizen und Unkraut durcheinander wachsen. Mithin, so die Urkirche, sei der Gotteslästerer ebenso zu ertragen wie andere Sünder auch.18 Im konstantinischen Zeitalter gerät diese urchristliche Lehre weithin in Vergessenheit; sie erwachte wieder – unter wenig kirchenfreundlichen Vorzeichen – in der Aufklärung, mit praktischen Konsequenzen für die staatliche Rechtsordnung. Isensee, Josef, Staatsaufgaben, in: HStR IV, 32006, § 73, Rn. 60 ff. Levitikus 24, 15–16. 17 Luther, Martin, Der große Katechismus (1529), in: Luthers Werke, hg. von Otto Clemen, 4. Bd. 1967, S. 1 (11). 18 Dazu Angenendt, Arnold, Toleranz und Gewalt, 2006; ders., Gottesfrevel. Ein Kapitel aus der Lehre der Staatsaufgaben, Vortrag vor der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Görres-Gesellschaft am 25.9.2006 (zitiert nach dem Manuskript). Vgl. auch Schmied, Gerhard, Du sollst den Namen Gottes nicht verunehren, in: ders./Wunden, Wolfgang, Gotteslästerung? Vom Umgang mit Blasphemien heute, in: Mainzer Perspektiven – Orientierungen 3, 1996, S. 9 (20 ff.). 15 16

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b) Religiöse Gefühle und religiöses Selbstverständnis Die Karikaturen beleidigen die religiösen Gefühle von Muslimen. Der Schutz religiöser Gefühle gehörte zu den Aufgaben hergebrachten Polizeirechts. So hielt das Thüringer Oberverwaltungsgericht noch nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem kurzen Intermezzo seiner Existenz unter sowjetischer Besatzung, die Fronleichnamsprozession für eine Störung der öffentlichen Ordnung, weil sie, wegen ihres herkömmlichen Charakters als Demonstration wider die Ketzerei, die Gefühle einer überwiegend evangelischen Bevölkerung ebenso verletze wie ein protestantischer Umzug mit Lutherliedern und Posaunenchören in einem katholischen Wallfahrtsort die Gefühle der dortigen Bevölkerung.19 Heute vertrüge sich eine solche Argumentation nicht mit dem Grundrecht der freien Religionsausübung. So sind denn religiöse Gefühle auch kein mögliches Objekt einer staatlichen Schutzpflicht.20 Der Islam kann seiner besonderen Empfindlichkeit wegen keinen Schutz verlangen, den in objektiv ähnlichen Fällen nicht auch das Christentum beanspruchen könnte. Das Schutzgut muss objektiv und allgemein sein. Subjektiv ist lediglich die jeweilige Betroffenheit. Gefühle konstituieren kein allgemeines Gesetz. Sie lassen sich nicht normativ fassen. Die zufälligen Gemütswallungen des einen ergeben keine Schranke für die Freiheit des anderen. Niemand kann kraft seines Selbstverständnisses von grundrechtlicher Freiheit seinen eigenen Handlungsraum erweitern oder den des anderen schmälern. Generell verbietet das Prinzip der Rechtsgleichheit, die Konflikte nach dem Maß der Empfindlichkeit oder Robustheit einer der streitenden Parteien aufzulösen. Aus diesem Grunde entscheidet auch nicht das religiöse Selbstverständnis des Einzelnen oder einer Glaubensgemeinschaft. Das Selbstverständnis hat legitimen Einfluss auf die jeweilige Ausübung des Grundrechts der Religionsfreiheit, nicht aber auf seine thematische Reichweite und sein Schutzniveau.21 Der Rechtsstaat vermag nicht die Subjektivität als solche zu schützen, wohl aber deren rechtliches Gehäuse, eben die Grundrechte. Diese aber haben objektiven und allgemeinen Rechtscharakter. 19

ThürOVG, Jahrb 1946/47, S. 243 (247 f.). Zutreffend von Arnauld, Grundrechtsfreiheit durch Gotteslästerung? (Fn. 4), S. 7 f., 9. Zurückhaltend Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz (Fn. 11), Art. 5 Abs. 3 GG, Rn. 69. Zum Schutz religiöser Gefühle nach der EMRK Grabenwarter, Filmkunst (Fn. 4), S. 143 ff.; Pabel, Grundrechtsbeschränkungen (Fn. 4), S. 95 f.; Akyürek/Kneihs, Karikatur (Fn. 4), S. 81 f. 21 Näher Isensee, Josef, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980; Muckel, Stefan, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, 1997, S. 27 ff. Gegenauffassung Morlok, Martin, Selbstverständnis als Rechtskriterium, 1993, S. 309 ff. Zu Recht lehnt Scholz ab, dass das Verständnis und das religiöse Gefühl der Anhänger einer Kirche oder Religionsgemeinschaft über die effektive Reichweite der Kunstfreiheit entscheidet (in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, [Fn. 11], Art. 5 Abs. 3, Rn. 69). 20

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c) Religionsfreiheit oder Religion In Betracht kommt das Grundrecht der Religionsfreiheit, sowohl in seiner individuellen als auch in seiner kollektiven Dimension. Dem Staat, so das Bundesverfassungsgericht, obliegt die Pflicht, den Einzelnen wie den religiösen Gemeinschaften „einen Betätigungsraum zu sichern, in dem sich die Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet entfalten kann“ und sie „vor Angriffen oder Behinderungen anderer Glaubensrichtungen oder konkurrierender Religionsgruppen zu schützen“.22 Hinzuzufügen ist: auch vor Angriffen oder Behinderungen religionsindifferenter und religionsfeindlicher Kräfte. Doch die Schmähung der Religion hindert keinen ihrer Anhänger daran, sie nach seiner Fasson auszuüben, wie sie auch keine Religionsgemeinschaft in ihrem Wirken stört. Das Maß religiöser Selbstbestimmung wird nicht gemindert. Es steht den Muslimen frei, ob sie von den Karikaturen Kenntnis nehmen oder sie ignorieren, ob sie mit Gleichmut reagieren oder mit Zorn. Die Bilder tasten die Religionsfreiheit nicht an,23 wohl aber, nach Meinung vieler Muslime, ihre Religion. Die Religion aber steht nicht unter staatlichem Schutz. Sie muss sich im offenen Diskurs und Wettbewerb auf der Basis allgemeiner grundrechtlicher Freiheit selbst behaupten. Affirmation oder Kritik, Identifikation oder Absage, Faszination oder Gleichgültigkeit, alle diese Faktoren, von der ihr gesellschaftliches Leben abhängt, sind Sache individueller Entscheidungen, die der Staat nicht beeinflussen darf. In grundrechtlicher Sicht steht die Religion nicht anders da als wissenschaftliche Erkenntnis, politische Meinung und künstlerische Richtung. Die Grundrechte sichern den freien Fluss der Entwicklung. Der Staat gewährleistet nur die rechtlichen Rahmenbedingungen, vor allem das Gebot des neminem laedere. Die laesio aber setzt ein Rechtsgut voraus, einen vorhandenen Besitzstand wie das Eigentum, ein bestimmtes Persönlichkeitsrecht, das sich aus der Menschenwürde ableitet, oder einen gesicherten, rechtlich definierten Raum der Selbstbestimmung. Ein solcher Raum ist die Religionsfreiheit, nicht aber die Religion als solche. Der Umstand, dass eine blasphemische Äußerung in der Welt ist, reicht also nicht aus, um einen Eingriff in die Religionsfreiheit zu begründen. Es bleibt jedoch die Frage, ob ein Eingriff dann anzunehmen ist, wenn der Einzelne mit dieser Äußerung konfrontiert und er aufgrund der staatsbürgerlichen Friedenspflicht gezwungen wird, den Eingriff auszuhalten. Das Bun22

BVerfGE 93, 1 (16). Eine Beeinträchtigung der Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK durch einen blasphemischen Film nimmt der EGMR an – dazu Grabenwarter, Filmkunst (Fn. 4), S. 143 ff. Ähnlich wohl auch Luf/Schinkele im Karikaturenstreit, wenn sie einen schonenden Ausgleich der beiderseitigen Rechte fordern (Kommunikationsfreiheit, Fn. 4), S. 91 f. 23

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desverfassungsgericht sieht einen staatlichen Eingriff dann für gegeben, wenn Schüler aufgrund der allgemeinen Schulpflicht ohne Ausweichmöglichkeit mit dem christlichen Symbol des Kruzifixes an der Schulwand konfrontiert und gezwungen werden, „unter dem Kreuz zu lernen“.24 Doch ist die Prämisse eines pauschalen Abwehrrechts gegen religiöse Symbole in staatlichen Räumen schon in sich nicht haltbar.25 Allerdings überträgt das Gericht seine Vorstellung vom staatlichen Eingriff nicht auf das Verhalten der Privaten zueinander. Das Konfrontationsverbot solle nicht gelten für die „im Alltagsleben häufig auftretende Konfrontation mit religiösen Symbolen der verschiedensten Glaubensrichtungen“, die nicht vom Staat ausgingen, die in der Regel nicht denselben Grad von Unausweichlichkeit besäßen, jedenfalls nicht auf einem notfalls mit Sanktionen durchsetzbaren Zwang beruhten.26 Im Gegenteil: das Gericht stellt ausdrücklich fest, dass in einer Gesellschaft, die unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen Raum gibt, niemand ein Recht darauf hat, von fremden Glaubensbekundungen verschont zu bleiben.27 Das gilt auch für Bekundungen des Unglaubens, der Glaubenskritik und der Glaubensschmähung, soweit diese nicht gegen ein für alle geltendes, verfassungsgemäßes Gesetz verstoßen. Konfrontation ist unvermeidliche Folge der grundrechtlichen Freiheit, aber kein Eingriff in diese Freiheit. Sie reicht also nicht aus, um einen Grundrechtseingriff anzunehmen. Im Karikaturenstreit fehlt es schon an der Konfrontation. Wer bei der Zeitungslektüre auf blasphemische Bilder stößt, kann die Lektüre einstellen und braucht nicht seinerseits für die Verbreitung der Bilder zu sorgen; er hat es nicht nötig, in zeitaufwendiger öffentlicher Arbeit die allgemeine Empörung zu organisieren. Das gilt auch für die Fernsehtrickserie „Popetown“, die in gequältem Humor einen computeranimierten Vatikanstaat zeigt, in dem von einem geheimen Swimmingpool aus Kardinäle finstere Pläne schmieden, indes der Papst als 77-jähriges Kleinkind japanische Touristen nervt. Der Katholik, der in der Fernsehsendung des MTV auf diesen Unfug stößt, kann abschalten.

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BVerfGE 93, 1 (18). Erheblich vorsichtiger BVerfGE 35, 366 (375 f.) – Kreuz im Gerichtssaal in Bezug auf jüdischen Rechtsanwalt. 25 Näher Isensee, Josef, Bildersturm durch Grundrechtsinterpretation, in: ZRP 1996, S. 10 (13 f.); Jestaedt, Matthias, Das Kreuz unter dem Grundgesetz, in: Journal für Rechtspolitik, 1995, S. 237 (249 ff.); ders., Grundrechtsschutz vor staatlich aufgedrängter Ansicht, in: Festschrift für Joseph Listl, 1999, S. 259 ff. (bes. S. 274 ff.). 26 BVerfGE 93, 1 (18). 27 BVerfGE 93, 1 (16).

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d) Religiöser Aspekt der persönlichen Ehre Wenn die Religionsfreiheit als Schutzgut ausscheidet, bleibt die Möglichkeit, dass die Religionsbeschimpfung den grundrechtlich gesicherten Achtungsanspruch der Person dessen, der Ärgernis nimmt, also ein Persönlichkeitsrecht verletzt. Für die Annahme eines solchen Persönlichkeitsrechts sprechen gute Gründe. Es handelt sich um den religiösen Aspekt des Grundrechts auf Ehre,28 die Ehre des Menschen als homo religiosus, die ihrerseits an seiner Menschenwürde teilhat. Die Schmähung der Religion kann eine Schmähung der Personen enthalten, die sich zu ihr bekennen, indem der Täter ihnen „die Anerkennung als ernstzunehmende, ebenbürtige Mitbürger“ bestreitet, als „Personen, deren gemeinsame Lebensgrundlage, obwohl sie kritikwürdig sein mag, dennoch verdient, mit einem Mindestmaß an Fairness behandelt zu werden“.29 Die Religion, die sich auf letzte Wahrheit bezieht, kann tiefere Identifikation auslösen als Philosophie oder Wissenschaft. Der Philosoph, der sein ganzes Gelehrtendasein dem Werk Immanuel Kants widmet, wird nicht in seiner Ehre gekränkt, wenn sich über den Gegenstand seiner Arbeit Spott und Hohn ergießt. Verächtliche Äußerungen über das Bürgerliche Gesetzbuch beeinträchtigen nicht die Ehre des Zivilisten, auch wenn er sich in Forschung und Lehre mit ganzer Leidenschaft dem Bürgerlichen Recht hingibt. Religion aber rechtfertigt spezifischen Ehrenschutz. Das heißt jedoch nicht, dass jedwede Äußerung, die aus der Sicht einer Glaubensgemeinschaft als Blasphemie empfunden wird, sich als Beleidigung ihrer einzelnen Mitglieder qualifizieren lässt. Vielmehr muss sie sich aus der Sicht eines nichtbetroffenen Dritten als Schmähung der Personen erweisen.30 Das aber ist nicht ohne weiteres für jedwede Gotteslästerung und Religionsbeschimpfung anzunehmen. Es kann nicht ein jeder in jedweder Hinsicht die Sache seines Glaubens zur Sache seiner persönlichen Ehre machen. Ebenso vermag der Einzelne nicht aus eigener Machtvollkommenheit die Reichweite seiner Ehre mit Wirkung gegen andere zu bestimmen. Ehre ist kein „selbst definierter sozialer Geltungsanspruch“,31 sondern ein 28

Isensee, Josef, Das Grundrecht auf Ehre, in: Festschrift für Martin Kriele, 1997, S. 5 (8 ff.). 29 Richtungweisend Pawlik, Michael, Der strafrechtliche Schutz des Heiligen, Vortrag vor der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Sektion der Görres-Gesellschaft in Regensburg am 25.9.2006 (zitiert nach dem Manuskript). Vgl. auch von Arnauld, Grundrechtsfreiheit durch Gotteslästerung? (Fn. 4), S. 8 f. 30 Zum Tatbestand der Schmähkritik BVerfG, B. v. 25.2.1993, in: EuGRZ 1993, S. 146 (147) – Böll/Henscheid; BVerfGE 66, 116 (151); Stark, Rolf, Ehrenschutz in Deutschland, 1996, S. 67 ff. (Nachw.); Brugger, Winfried, Verbot oder Schutz von Haßrede? in: AöR 128 (2003), S. 372 ff. 31 So irreführend BVerfGE 54, 148 (155); 54, 208 (217).

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von der Verfassung objektivrechtlich vorgegebenes und definiertes Rechtsgut. Im Schutz der religiösen Dimension der persönlichen Ehre erneuert sich kein ständischer Ehrenkodex.32 Abfällige Äußerungen über „die“ Muslime oder „die“ Katholiken im Allgemeinen und Kollektivvorwürfe treffen nicht notwendig die persönliche Ehre des einzelnen Muslim oder des einzelnen Christen. Die religiöse Ehre muss sich in rechtlich fassbarer, für Außenstehende erkennbarer Form objektiviert und als solche die Anerkennung der Rechtsgemeinschaft gefunden haben. Im Einzelfall bedarf es des Nachweises, dass die Beschimpfung der Religion durchschlägt auf die persönliche Ehre. Jedenfalls tasten die Zeitungskarikaturen des Propheten Mohammed nicht den Persönlichkeitsstatus des einzelnen Muslim im In- oder Ausland an,33 ebensowenig der ComicSchwachsinn von „Popetown“ den des einzelnen Katholiken. Wenn dagegen – wie aus dem Irak berichtet wird – US-Soldaten ein Exemplar des Koran in die Toilette warfen, bedeutete diese Schmähung der Religion auch eine Schmähung der Personen, die das ekelhafte Geschehen mit ansehen mussten. Nicht minder widerwärtig agierten deutsche Feministinnen, die einen Besuch des Papstes in Köln zum Anlass nahmen, gegen seine „frauenfeindliche“ Lehre zu protestieren und aus der oberen Etage eines Hauses Hostien auf die Straße warfen, auf der die Menge den Papst begrüßte. In der Verhöhnung der Eucharistie wurden die Menschen mitverhöhnt, vor deren Augen die schändliche Demonstration erfolgte. Verletzt wurde auch der Achtungsanspruch der Kirche, die ihrerseits grundrechtsfähig ist.34 3. Gefahrenabwehr, nicht Strafe Die grundrechtliche Schutzpflicht setzt keine strafbare Handlung voraus. Es kommt also nicht darauf an, dass der Täter gegen die Strafvorschrift der Religionsbeschimpfung nach § 166 StGB oder der Beleidigung nach § 185 StGB verstößt. Überhaupt spielen auf Seiten des Störers subjektive Momente wie Vorsatz und Verschulden keine Rolle. Es kommt allein an auf die objektive Gefährdung oder Verletzung des grundrechtlichen Schutzgutes. Insofern entsprechen der grundrechtlichen Schutzpflicht eher die polizeirechtlichen Kriterien der Gefahrenabwehr als die strafrechtlichen der Ahndung von individuell vorwerfbaren Rechtsverstößen. Da es also auf die Wirkung an32 Zu dessen Erlöschen im egalitären Grundrechtsstaat Isensee, Grundrecht auf Ehre, in: Festschrift Kriele (Fn. 28), S. 8 ff., 20 ff. 33 So auch Pabel, Grundrechtsbeschränkungen (Fn. 4), S. 96. 34 Zur Strafbarkeit der Beschimpfung einer Religionsgemeinschaft als solcher OLG Nürnberg, B. v. 23.6.1998, in: NStZ–RR 1999, S. 238 ff. – Schwein, an das Kreuz genagelt.

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kommt, nicht aber auf die Absicht, kann die Schutzpflicht im Dissens der Kulturen zum Zuge kommen, wenn der Lästerer sich gar nicht bewusst ist, dass er Persönlichkeitsrechte verletzt, weil ihm die Welt der Religion völlig fremd ist und er sich nicht vorstellt, dass Glauben die Identität einer Person begründen kann. Diese Fundamentalignoranz findet sich nicht nur im Verhältnis von Okzident und Orient, sondern auch innerhalb des Okzidents zwischen den paganisierten und den gläubigen Gruppen der Gesellschaft. Das für den Grundrechtsschutz erhebliche Merkmal des privaten Eingriffs ist also weit zu verstehen. Doch der Eingriff als solcher löst noch nicht die Schutzpflicht des Staates aus. Das leistet lediglich der rechtswidrige Eingriff. Damit stellt sich die Frage, ob der Private, von dem der Eingriff ausgeht, sich nicht seinerseits auf ein Grundrecht berufen kann.35 Damit wechselt die grundrechtliche Perspektive vom Standpunkt des Opfers zu dem des Täters, von der Schutzpflicht zum Abwehrrecht. V. Perspektive des Täters: grundrechtliche Freiheit zur Religionsbeschimpfung? 1. Schutzbereiche der Abwehrrechte Im Karikaturenfall streiten für den Täter prima facie mehrere Grundrechte der Beteiligten von ihrem jeweiligen Schutzbereich her: die Meinungsfreiheit in der Tendenz, die Kunstfreiheit in der Gestaltung, die Pressefreiheit im Medium, die Freiheit der Berufsausübung in der erwerbsbezogenen Professionalität. Durchgängig aktualisiert sich die Meinungsfreiheit, die sich auf die Schmähung dem Inhalt nach bezieht. Dieses Grundrecht deckt auch kritische, provozierende, alberne, dümmliche, bösartige Meinungsäußerungen.36 Es verbindet sich häufig mit der Freiheit des Mediums, das für die Verbreitung sorgt.37 Wenn es jedoch wie hier um die Frage geht, ob eine bestimmte Äußerung erlaubt ist oder ob ein Dritter die ihn kränkende Äußerung hinzunehmen hat oder nicht, ist ungeachtet des Verbreitungsmediums der Tatbestand der Meinungsfreiheit einschlägig.38 Soweit 35 Zu den Bausteinen der grundrechtlichen Schutzpflicht Isensee, Grundrecht als Abwehrrecht (Fn. 5), § 111, Rn. 86 ff., 168 ff. Cremer, Freiheitsgrundrechte (Fn. 13), S. 264 ff. 36 Eingehend von Arnauld, Grundrechtsfreiheit zur Gotteslästerung? (Fn. 4), S. 3 ff. Zu Art. 10 EMRK Pabel, Grundrechtsbeschränkungen (Fn. 4), S. 93. 37 Zu einschlägigen Konflikten der Mediengesellschaft Wunden, Wolfgang, Blasphemie: Ärgernisse oder Herausforderung der Christen, in: Schmied/Wunden, Gotteslästerung? (Fn. 18), S. 83 (95 ff.). 38 Zum Verhältnis der Meinungs- zur Medienfreiheit BVerfGE 20, 162 (175 f.); 85, 1 (11, 12 f.); 86, 122 (128); 95, 28 (34); 97, 391 (400); 113, 63 (75).

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sich die Religionsbeschimpfung in künstlerischer Form vollzieht, greift das Grundrecht der Kunstfreiheit ein und absorbiert das der Meinungsfreiheit.39 Hier finden die blasphemische Karikatur und Satire ihren grundrechtlichen Unterschlupf, und das besonders leicht, weil es keine Einlasskontrolle nach dem Niveau gibt. Die obszöne und fäkalistische Besudelung von Christentum und Kirche hält sich gern in den hintersten und finstersten Winkeln des erweiterten Kunstbegriffs auf, aus denen die letzten Residuen von Geschmack und Moral entwichen sind.40 Der Überbietungswettbewerb in Tabubrüchen kennzeichnet gerade das moderne Regietheater, für das die skandalisierte Berliner „Idomeneo“-Aufführung mit ihrem albernen Appendix, der Enthauptung von Religionsstiftern, noch ein harmloses Exempel abgibt. Das krampfhafte Bemühen, die abgeschlaffte Aufmerksamkeit einer reizüberfluteten, reizabgestumpften Gesellschaft zu erlangen, beschränkt sich nicht auf die Kunstszene, sondern erfasst auch die Wirtschaftswerbung, greift also über auf den grundrechtlichen Schutzbereich der Berufsfreiheit, so der Slogan für „Jesus-Jeans“: „Du sollst keine anderen Jeans neben mir haben“. Ein Beispiel für die Konvergenz von Kunst- und Berufsfreiheit ist der Werbespot für die Popetown-Serie: der vom Kreuze herabgestiegene, dornengekrönte, von der Lanzenwunde gezeichnete Jesus, lachend vor einem Fernsehapparat: „Lachen statt rumhängen“, im Hintergrund das leere Kreuz von Golgotha.41 So paradox es klingen mag: die Gotteslästerung findet ihren grundrechtlichen Ort auch in der Religionsfreiheit, soweit sie sich über das moderne Trivialniveau von Kino und Regietheater ins Existentielle zur Höhe Nietzsches erhebt: als Abkehr von Gott und Fluch auf Gott, als Anklage gegen Religion und Kirche, als Enttäuschung über den Widerspruch zwischen dem Ideal christlicher Vollkommenheit und kirchlich-gesellschaftlicher Realität, als Rebellion wider die Mächte der gesellschaftlichen Tradition und der persönlichen Biographie, als Hass auf das eigene Über-Ich, das sich im Gewissen meldet. Wer Gott für tot erklärt, kann von ihm abhängig bleiben 39 BVerfGE 30, 173 (200); 75, 369 (377); Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, (Fn. 11), Art. 5 Abs. 3, Rn. 13, 50. 40 Exempel das Rock-Musical „Maria Syndrom“ – dazu OVG Koblenz, Urt. v. 2.12.1996, in: NJW 1997, S. 1174 ff. – Phänomene der Blasphemie in Literatur, Medium, Kabarett etc.: Schmied, Gerhard, „Du sollst den Namen Gottes nicht verunehren“, in: ders./Wunden, Gotteslästerung? (Fn. 18), S. 11 (42 ff.); Wunden, Blasphemie (Fn. 37), S. 83 (93). Zur Relevanz des Art. 5 Abs. 3 Scholz, in: Maunz/ Dürig, Grundgesetz, (Fn. 11), Rn. 69. 41 So auch von Arnauld, Grundrechtsfreiheit zur Gotteslästerung? (Fn. 4), S. 3. Beispiele Schmied, Du sollst den Namen Gottes nicht verunehren (Fn. 18), S. 52 ff. Zum Grundrechtsschutz exzessiv geschmackloser Werbung BVerfGE 102, 347 (358 ff.) – Benetton. Kritisch Jestaedt, Matthias, „Die Werbung ist ein lächelndes Aas“, in: Jura 2002, S. 552 ff.

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und wer ihn schmäht nach ihm suchen. „Sein bin ich, ob ich in der Frevler Rotte / auch bis zur Stunde bin geblieben: / sein bin ich – und ich fühl die Schlingen, die mich im Kampf darniederziehn / und, mag ich fliehn, / mich doch zu seinem Dienste zwingen.“42 Grundrechtlich gesehen, ist die Negation der Religion ihrerseits Religion.43 Hier zeigt sich, wie schwer es ist, ein verfassungsrechtlich haltbares Verbot der Blasphemie abzusetzen von grundrechtslegitimer, unbeschränkbarer Betätigung von Religion. Die Phänomene der Religionsbeschimpfung lassen sich also nicht über einen grundrechtlichen Leisten schlagen. Verschiedene Grundrechte können relevant werden, übrigens auch die Freiheit von Forschung und Lehre. Die islamische Reaktion auf den Regensburger Vortrag des Papstes bildet auch insoweit ein Signal. 2. Schranken der grundrechtlichen Freiheit Den unterschiedlichen Schutzbereichen korrespondiert ein unterschiedliches Schrankenregime. Diese Unterschiede können jedoch in diesem Rahmen vernachlässigt werden, schon deshalb, weil sich die verfassungsimmanenten Schranken durch großzügige Interpretation des Verfassungstextes den konstitutiven gesetzlichen Schranken weitgehend angeglichen haben. Stets bedarf die Grundrechtsbeschränkung der formellgesetzlichen Grundlage. Doch keine der geltenden Vorschriften steht der Publikation der Mohammed-Karikaturen im Wege, insbesondere nicht die Strafvorschrift der Religionsbeschimpfung (§ 166 StGB). Die Karikaturen erfüllen nicht den objektiven Tatbestand. Es fehlt schon am Merkmal der Beschimpfung, in der sich Missachtung in besonderer Intensität manifestiert durch die Rohheit des Ausdrucks oder durch die Verächtlichkeit des vorgeworfenen Verhaltens.44 Der Grad an Bösartigkeit, den die Religionsbeschimpfung voraussetzt, wird deutlich in der auf das Christentum bezogenen Kasuistik,45 etwa 42

Nietzsche, Friedrich, Dem unbekannten Gott. – Zur religiösen Relevanz der Blasphemie Wunden, Blasphemie (Fn. 37), S. 86 ff. 43 Als Alternative bietet sich die Qualifikation als weltanschauliches Bekenntnis im Sinne von Art. 4 Abs. 1 GG an. 44 Vgl. Tröndle, Herbert/Fischer, Thomas, Strafgesetzbuch, 532006, § 90a, Rn. 4, § 166, Rn. 12; Lenckner, Theodor, in: Schönke, Adolf/Schröder, Horst, Strafgesetzbuch, 272006, § 166, Rn. 9; Dippel, Karlhans, in: Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 5, 112005, § 166, Rn. 24 ff.; Hörnle, Tatjana, in: Münchener Kommentar zum StGB, Bd. 2/2, 2005, § 166, Rn. 16 ff.; Lackner, Karl/Kühl, Kristian, Strafgesetzbuch, 252004, § 90a, Rn. 6, § 166, Rn. 4; OLG Köln, Urt. v. 11.11.1981, in: NJW 1982, S. 657 (658); OLG Karlsruhe, in: NStZ 1986, S. 363 (364 f.). 45 Zusammenstellung bei Tröndle/Fischer, Strafgesetzbuch (Fn. 44), § 166, Rn. 12; Lenckner, in: Schönke/Schröder, Strafbesetzbuch (Fn. 44), § 166, Rn. 9 f.

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der Darstellung des gekreuzigten Schweins auf dem T-Shirt;46 der Deutung des Leidens Christi als perverses Sexualverhalten47 und als „Identifikationsangebot für psychische Outsider“48; der Kreuzesdarstellung mit der Beschriftung „Masochismus ist heilbar“49; der Schmähung des Messopfers als „uralter kannibalischer Ritus“ und des Christentums als Liebesreligion mit Killermentalität;50 der Bezeichnung der Kirche als „größte Verbrecherorganisation der Welt“51; dem Autoaufkleber: „Maria, hättest du abgetrieben, der Papst wäre uns erspart geblieben.“52 Im übrigen eignen sich die Karikaturen nicht dazu, den öffentlichen Frieden zu stören, also den Zustand der Rechtssicherheit und des allgemeinen Rechtsvertrauens der Bürger.53 Unabhängig vom Ausgangsbeispiel des Karikaturenstreits erhebt sich die Frage nach den inhaltlichen Grenzen, die das Recht der grundrechtlichen Freiheit zum Schutz religiöser Belange zieht. Eine klare Grenze bilden die Grundrechte der anderen, welche die Schutzpflicht des Staates auslösen. Der Gesetzgeber darf diese Pflicht über das von Verfassungs wegen gebotene Minimum auf das Vorfeld ausweiten, in dem noch nicht die Gefahr der Rechtsverletzung, wohl aber das Risiko einer solchen besteht, falls die Risikovorsorge keinen unverhältnismäßigen Freiheitseingriff nach sich zieht.54 Doch auch hier geht es letztlich nur um die Sanktion des Neminem-laedereGebots. Die spezifischen Probleme aber, welche die Blasphemie auslöst, 46

OLG Nürnberg, B. v. 23.6.1998, in: NStZ-RR 1999, S. 238 ff. LG Göttingen, Urt. v. 27.12.1984, in: NJW 1985, S. 1652 (1653). 48 OLG Düsseldorf, Urt. v. 7.12.1982, in: NJW 1983, S. 1211. 49 LG Göttingen, Urt. v. 27.12.1984, in: NJW 1985, S. 1652 f. Ähnliches Niveau des Kruzifixes in der Form des Klorollenhalters als Illustration zu dem Text „Spielt Jesus noch eine Rolle?“ im Satirenmagazin Titanic (Beispiel neben anderen bei Püttmann, Andreas, Durch die Lauheit des Glaubens abgestumpft, in: Die Tagespost v. 11.2.2006, Nr. 18, S. 11). 50 OLG Düsseldorf (Fn. 48), S. 1211. 51 LG Göttingen (Fn. 47), S. 1653. 52 LG Düsseldorf, Urt. v. 5.11.1981, in: NStZ 1982, S. 290 (291). Vgl. auch OVG Koblenz, Urt. v. 2.12.1996, in: NJW 1997, S. 1147 f. – Das „Maria-Syndrom“. – Weitere Beispiele: Schmied, Du sollst den Namen Gottes nicht verunehren (Fn. 18), S. 41 ff.; Püttmann, Lauheit des Glaubens (Fn. 49), S. 11. 53 Näher Lenckner, Theodor/Sternberg-Lieben, Detlev, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch (Fn. 44), § 126, Rn. 1, 7 ff.; Lackner/ Kühl, Strafgesetzbuch (Fn. 44), § 90a, Rn. 1, § 166, Rn. 1; Tröndle/Fischer, Strafgesetzbuch (Fn. 44), § 126, Rn. 2; Hörnle, in: MüKo zum StGB (Fn. 44), § 166, Rn. 21 ff. Kritisch Jakobs, Günther, Kriminalisierung im Vorfeld der Rechtsgutsverletzung, in: ZStW 97 (1985), S. 751 (774 ff.). 54 Zur Ausweitung der Regeln der Gefahrenabwehr auf die Risikovorsorge Di Fabio, Udo, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 65 ff. (bezogen auf das Atom- und Immissionsschutzrecht); Möstl, Markus, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, 2002, S. 252 ff. Zum Ausgriff des Strafrechts auf das Vorfeld Jakobs, Kriminalisierung (Fn. 53), S. 751 ff. 47

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werden damit nicht gelöst, das soziale Konfliktpotential nicht entschärft. Die Freiheitsrechte unterliegen nicht einer unbegrenzten Abwägung mit beliebigen anderen Gütern. Vielmehr müssen diese, wenn nicht ihrerseits verfassungsgesetzlich sanktioniert, sich in bezug auf das Grundrecht als legitim erweisen. Zum Kern des Problems stoßen Normen vor, die über den allseits anerkannten Sicherheitszweck hinaus der Blasphemie Grenzen ziehen. Tradierte religiöse Tabus reichen freilich nicht aus. Sie halten der Kritik aus den Freiheitsrechten nicht stand.55 Das herkömmliche Polizeirecht könnte den Weg weisen, indem es sich nicht darin genügte, die Unversehrtheit der Rechtsgüter – in ihnen die öffentliche Sicherheit – zu schützen, sondern auch die öffentliche Ordnung einbezöge. Diese umfasst die Gesamtheit jener ungeschriebenen, außerrechtlichen Gebote der Moral, des guten Geschmacks, des Takts, deren Beobachtung nach den jeweils herrschenden Anschauungen als unerlässliche Voraussetzungen eines gedeihlichen Zusammenlebens betrachtet wird.56 Der Rechtstitel der öffentlichen Ordnung bietet an sich der Verwaltung die Grundlage, unter Berücksichtigung des in der konkreten sozialen Umwelt Üblichen und Zumutbaren Ärgernissen vorzubeugen, exzessive Geschmacklosigkeiten und wildeste Provokationen zu unterbinden und einen schonenden Ausgleich zwischen den Belangen von Minderheit und Mehrheit zu erwirken. Die öffentliche Ordnung bildet gleichsam das Öl im Getriebe des Rechts, weil sie gesellschaftliche Reibungen mindert. Das gute Leben des Gemeinwesens erschöpft sich nicht in bloßer Verwirklichung des Rechts und allseitiger Rechthaberei. Es bedarf auch außerrechtlicher, gesellschaftlicher Regeln, die das Zusammenleben steuern. Obwohl das Grundgesetz selbst auf die „öffentliche Ordnung“ Bezug nimmt,57 zieht die Blankoverweisung auf außerrechtliche Maßstäbe verfassungsrechtliche Kritik auf sich, mit der Folge, dass ihre Anwendungsmöglichkeit bis auf einen kleinen Rest geschrumpft ist.58 Freilich finden manche Sozialnormen, die ursprünglich Bestandteil der Exekutivaufgabe „öffentliche Ordnung“ gewesen sind, heute ihren Platz im förmlichen Gesetzesrecht. Der liberale Reduktionismus, dem die „öffentliche Ordnung“ mehr oder weniger zum Opfer gefallen ist, macht halt vor dem strafrechtlichen Begriff des öffentlichen Friedens, der weiter ausgreift als der polizei55

Isensee, Josef, Tabu im freiheitlichen Staat, 2003, S. 23 ff., 35 ff. Musterhafte Definition PrOVG 91, 139 (140). Näher Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, 91986, S. 245 ff.; Möstl, Garantie (Fn. 54), S. 136 ff. 57 Art. 13 Abs. 7, Art. 35 Abs. 2. 58 Zum verfassungsrechtlichen Streit mit Nachw.: Drews/Wacke/Martens/Vogel, Gefahrenabwehr (Fn. 56), S. 246 ff.; Möstl, Garantie (Fn. 54), S. 139 f.; Isensee, Josef, Demokratischer Rechtsstaat und staatsfreie Ethik, in: Essener Gespräche 11 (1977), S. 92 (96 f.). 56

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rechtliche der öffentlichen Sicherheit59 und Momente der öffentlichen Ordnung erfasst: nämlich auch das gesellschaftliche Klima, in dem das allgemeine Rechtsvertrauen gedeiht, nicht aber der Rechtsbruch, und das nicht geprägt wird von der Sorge vor dem Rechtsbruch, ein Klima, „in dem nicht einzelne Bevölkerungsgruppen zum geistigen Freiwild und zu Parias der Gesellschaft gemacht oder sonst ausgegrenzt werden, und zwar unabhängig davon, ob auf diese Weise zugleich ein latentes Gewaltpotential produziert wird“.60 Deutlicher: die Anhänger der beschimpften Religion sollen nicht Grund haben zu der Furcht, hierzulande leben zu müssen wie Christen in der heutigen Türkei. Die Friedensstörung muss nicht ein Klima offener und latenter Feindschaft erzeugen, die sich jederzeit in Gewalt und Gegengewalt entladen kann; es genügt die begründete Furcht der Betroffenen, in der Gesellschaft um des Glaubens willen diskriminiert zu werden und, ohne sich wehren zu können, Schmähungen ausgesetzt zu sein.61 Der strafrechtliche Begriff ist freilich diffus, an tatbestandlicher Bestimmtheit bleibt er hinter dem polizeirechtlichen Begriffspaar der öffentliche Sicherheit und Ordnung zurück. Immerhin ist er deutlicher als das Prinzip der Toleranz, das genuin ethischer Natur ist und das schon seiner Vagheit wegen ungeeignet ist, der grundrechtlichen Freiheit rechtliche Grenzen zu ziehen.62 Vollends bietet es keinen Rechtstitel dafür, einen spezifischen Schutz für die religiösen Gefühle der Muslime als einer religiösen Minderheit zu begründen.63 Denn die islamische Minderheit, die als solche schon nicht zahlenmäßig schwach ist, genießt die Rückendeckung einer mächtigen, gewaltbedrohlichen staatenübergreifenden Gruppe der Weltbevölkerung. Wenn dem Verfassungsstaat religiöse Tabus fremd sind, so kennt er doch jenseits seiner zweckrationalen Vorkehrungen ein säkulares Tabu: die Wahrung der kulturellen und nationalen Identität des deutschen Volkes, aus der 59 Lenckner/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch (Fn. 53), § 126, Rn. 1. 60 Lenckner/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch (Fn. 53), § 126, Rn. 1. Vgl. auch Dippel, in: LK zum StGB (Fn. 44), § 166, Rn. 55. Kritisch zur Klimapflege durch das Strafrecht Jakobs, Kriminalisierung (Fn. 53), S. 774, 776, 778, 782 f. Zum Schutz des religiösen Friedens nach der EMRK Grabenwarter, Filmkunst (Fn. 4), S. 143 ff. – Verfassungsrechtliche Sicht der staatlichen Garantie einer Friedensordnung von Arnauld, Grundrechtsfreiheit zur Gotteslästerung? (Fn. 4), S. 10. 61 OLG Nürnberg, B. v. 23.6.1998, in: NStZ-RR 1999, S. 238 (240). – In mancher Hinsicht vergleichbar ist das Schutzgut des öffentlichen Friedens als Teil der öffentlichen Ordnung im Sinne des Art. 10 Abs. 2 EMRK: Grabenwarter, Filmkunst (Fn. 4), S. 74; Pabel, Grundrechtsbeschränkungen (Fn. 4), S. 94. 62 Anders Luf/Schinkele, Kommunikationsfreiheit (Fn. 4), S. 92. 63 So im Karikaturenfall Luf/Schinkele, Kommunikationsfreiheit (Fn. 4), S. 92. – Ein anderer Begründungsansatz zum Schutz religiöser Minderheiten: von Arnauld, Grundrechtsfreiheit zur Gotteslästerung? (Fn. 4), S. 20 f.

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sich auch seine staatliche Form rechtfertigt. Die kulturell vermittelten und historisch verwurzelten Wertüberzeugungen und Einstellungen, auf denen der gesellschaftliche Zusammenhalt beruht, und von denen auch die Erfüllung seiner eigenen Aufgaben abhängt, kann der Staat, ungeachtet seiner religiös-weltanschaulichen Neutralität, nicht abstreifen.64 Die Denktraditionen, Sinnerfahrungen und Verhaltensmuster, die auf den christlichen Glauben und die christlichen Kirchen zurückgehen, „können dem Staat nicht gleichgültig sein“.65 Wie der Staat seine Symbole und in ihnen seine Grundwerte vor Verunglimpfung schützt, auch um den Preis einer Beschränkung grundrechtlicher Freiheit,66 so muss er auch die Symbole seiner geistigen Herkunft vor Schmähung schützen, in ihnen Faktoren seiner Kontinuität, Legitimität und Vitalität. Er festigt so die Voraussetzungen, auf denen er gründet.67 Dieses Staatsziel bezieht sich auf die geistige Herkunft Deutschlands, nicht auf beliebigen Religionsimport, sei es der amerikanischen Sekten, sei es des orientalischen Islam.68 Das legitime Ziel rechtfertigt jedoch nicht jedweden Eingriff. Vielmehr muß dieser der Prüfung am Übermaßverbot standhalten. Im Ergebnis bleiben nur schmale Möglichkeiten für gesetzliche Vorkehrungen gegen Blasphemie.69 VI. Keine staatliche Förderung der Blasphemie Was der Staat nicht verbieten darf, das muss er jedoch nicht fördern. Die enge Bindung durch Abwehrrechte setzt sich nicht fort in der Vergabe staatlicher Leistungen, der Bewilligung von Steuervergünstigungen, der Verleihung von Kunstpreisen.70 Hier rührt er nicht an den status negativus des Privaten. Vielmehr bereitet er seinen status positivus. Auch hier bleibt er gebunden an Vorgaben der Verfassung. Doch treten die Freiheitsrechte in den Hintergrund, indes die Gleichheitsrechte als die wesentlichen Handlungsdirektiven verbleiben. Der Staat, der gesellschaftliche Aktivitäten för64

BVerfGE 93, 1 (22). BVerfGE 93, 1 (22). Dazu Isensee, Tabu (Fn. 55), S. 79 ff. 66 Klein, Eckart, Staatssymbole, in: HStR II, 32004, § 19, Rn. 25. Zur Rechtfertigung der Strafvorschrift des § 90a StGB vor dem Grundrecht der Kunstfreiheit BVerfGE 81, 278 (289 ff.) – Bundesflagge; 81, 289 (304 ff.) – Nationalhymne. 67 Dazu Uhle, Arnd, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, 2004, S. 253 ff. 68 Vgl. Uhle, Arnd, Staat – Kirche – Kultur, 2004, S. 150 ff., 156 ff. 69 So wird auch der Schutz staatlicher Symbole durch Grundrechte erheblich eingeschränkt. Vgl. BVerfGE 81, 278 (289 ff.); 81, 198 (304 ff.). 70 Zur staatlichen Förderung gesellschaftlicher Potenzen Uhle, Verfassungsstaat (Fn. 67), S. 434 ff. (Nachw.). Zur Kunstpflege und Kunstförderung Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, (Fn. 11), Art. 5 Abs. 3, Rn. 79 f.; Denninger, Erhard, Freiheit der Kunst, in: HStR VI, 11989 (22001), § 146, Rn. 28 ff. 65

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dert, muss Prioritäten setzen. Er handelt sachgerecht, wenn er nach der Gemeindienlichkeit differenziert und die Aktivitäten bevorzugt, die den Zusammenhalt des Gemeinwesens und seine Integrationsfähigkeit stärken. Umgekehrt darf er nicht die Kräfte fördern, die das gedeihliche Zusammenleben stören oder gefährden. Prinzipiell ist es ihm verwehrt, die Beschimpfung der Religion oder der Religionsgemeinschaften zu prämieren, auch wenn sie sich des Mediums der Kunst bedient. Darin liegt kein Verstoß gegen die Kunstfreiheit.71 Denn diese wehrt dem staatlichen Eingriff, doch gibt sie keinen Anspruch auf staatliche Leistung. Darin liegen auch keine Zensur und kein unzulässiges Kunstrichtertum des Staates. Denn bei der Vergabe von Leistungen muss und darf auch nach ästhetischer und moralischer Qualität geurteilt werden. Der Staat kann sich dieser Verantwortung nicht dadurch entziehen, dass er die Entscheidung über die Zuteilung seiner Ressourcen auf Sachverständige delegiert, die nicht demokratisch legitimiert sind. Diese können Entscheidungsgrundlagen erarbeiten, nicht jedoch ihm die Entscheidung selbst abnehmen. Dem Staat aber, der dem säkularen Gemeinwohl verpflichtet ist, kommt damit kein Recht zu, Blasphemie zu üben oder zu belohnen. Ein Kapitel für sich sind die staatlichen (ebenso die kommunalen) Theater. Dass ihre Aufführungen religiösen und politischen Sprengstoff schaffen können, zeigt der Skandal um den „Idomeneo“ an der Deutschen Oper Berlin im Herbst 2006. Nach dem Selbstverständnis des künstlerischen Personals waltet auf der Bühne unumschränkt die grundrechtlich gesicherte Freiheit der Kunst, indes der öffentlichen Hand die Pflicht obliegt, die organisatorischen, technischen und finanziellen Ressourcen bereitzustellen, ansonsten das Bühnengeschehen, das ohnehin mit verwaltungsrechtlichen Kriterien nicht zu fassen ist, sich selbst zu überlassen, ohne gegen die Selbstherrlichkeit des Intendanten oder den Autismus des Regisseurs einschreiten zu können. Doch solcher Generosität ist nur der Unternehmer eines Privattheaters fähig. Der öffentlichen Hand dagegen kommt Privatautonomie nicht zu; vielmehr steht sie unter dem Gesetz des Gemeinwohls mit seinen spezifischen Pflichten. Sie ist an die Grundrechte gebunden und daher ausgeschlossen von der Teilhabe an der grundrechtlichen Freiheit. Dieses Gesetz ergreift auch die relativ autonomen öffentlichen Einrichtungen. Der staatliche Träger kann sich der rechtlichen Verantwortung vor der Allgemeinheit nicht dadurch entledigen, dass er die Leitung des Hauses dem Intendanten durch Vertrag überträgt. Für diesen verwandelt sich die Leitung nicht in individualrechtliche Grundrechtsfreiheit. Er bleibt auch in 71 Es war legitim, dass der Bundesinnenminister dem Produzenten und Regisseur Achternbusch einen Teil der Mittel entzog, die ihm für seinen blasphemischen Film „Das Gespenst“ zugesagt worden waren. Dazu Schmied, Du sollst den Namen Gottes nicht verunehren (Fn. 18), S. 44.

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künstlerischen Belangen, die ihrer Eigengesetzlichkeit folgen, Sachwalter der Allgemeinheit.72 Damit aber unterliegt das staatliche Theater besonderen Gemeinwohlpflichten des Kulturstaats, wie sie für das Privattheater nicht gelten. VII. Freiheit nach Maßgabe der Scharia? – Auswärtige Einflüsse auf innerstaatlichen Grundrechtsschutz Im Karikaturenstreit gerät der europäische Verfassungsstaat unter außenpolitischen Druck seitens islamischer Staaten, weil seine innere Ordnung den Privaten blasphemische Äußerungen gestattet; er wird für diese verantwortlich gemacht und mit Repressalien bis hin zum Pogrom bedroht. Er sieht, dass Leben und Eigentum seiner Bürger bedroht sind, ohne dass er sie vor den Ausschreitungen des Mobs zwischen Marokko und Mindanao schützen könnte. Überdies weiß er, dass die Protestbewegung auf das eigene Land übergreifen kann, in dem die fünfte Kolonne der islamistischen Internationale operiert. Damit steckt der Verfassungsstaat in einem Dilemma: hält er an den Freiheitsgarantien seiner Grundrechte fest, so gibt er die grundrechtliche Sicherheit von Bürgern im Ausland preis. Will er diese aber vor Gefahren schützen, so muss er ein Opfer an grundrechtlicher Freiheit im Inland bringen.73 Die Figur der grundrechtlichen Schutzpflicht vermag das Dilemma nicht aufzulösen. Sie erweitert die Grundrechtsverantwortung des Staates auf das Ausland, aber sie verkürzt und relativiert nicht die Grundrechtsgeltung im Inland. Eine analoge Fallkonstellation zeigt sich im „unechten“ polizeilichen Notstand: dass die Polizei, deren Kräfte nicht ausreichen, gegen den Störer einzuschreiten und die von ihm ausgehende Gefahr abzuwehren, in die Freiheit des Adressaten der Gefahr, eines Nichtstörers also, eingreift. Der Unterfall: die Verwaltung verbietet eine legale Demonstration, weil sie sonst der drohenden Gewaltsamkeit der Gegendemonstranten nicht Herr würde und weil sie die Einbuße an grundrechtlicher Freiheit für geringer achtet als die körperlichen Schäden, die der Ausbruch der illegalen Gewalt nach sich ziehen könnte.74 Im „unechten“ Notstand bewährt sich die Polizei nicht in ihrer Aufgabe, die öffentliche Sicherheit zu wahren; vielmehr versagt sie, 72 Zutreffende Thesen Kewenig, Wilhelm, Theater und Staat, in: UFITA 58 (1970), S. 91 (100 ff.). 73 Ablehnend Pabel, Grundrechtsbeschränkungen (Fn. 4), S. 94 f. zu Art. 10 EMRK. 74 Exemplarisch OVG Saarlouis, B. v. 16.11.1969, in: JZ 1970, S. 286 ff. mit kritischer Anmerkung von Pappermann, Ernst, ebd., S. 286 f.

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weil sie ein Rechtsgut opfert und der physischen Gewalt weicht. Diese Konfliktlösung taugt nicht zum Muster für das internationale Dilemma der grundrechtlichen Freiheit. Die Stringenz des grundrechtlichen Geltungsanspruchs lässt Nachgiebigkeit gegenüber grenzüberschreitender Gewalttätigkeit und außenpolitischem Druck nicht zu. Außenpolitische Opportunität und illegitime Gewalt sind keine zulässigen Faktoren einer grundrechtlichen Güterabwägung. Sie können deren Ergebnisse nicht relativieren und ein Opfer grundrechtlicher Substanz nicht als das „geringere Übel“ rechtfertigen. Der Jurist darf nicht auf ein ungeschriebenes Notrecht zurückgreifen, um konkrete Konflikte in der Art des Karikaturenstreits zu lösen. Ob es freilich in dem Grenzfall, wenn die Existenz von Staat und Verfassung auf dem Spiele stehen, ein Notrecht jenseits des Verfassungsgesetzes und seiner Tatbestände gibt, stehe dahin. Wahrscheinlicher und fataler als eine offene Kapitulation des Verfassungsstaates ist die heimliche Kapitulation in der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten.75 Nachgiebigkeit und timide Anpassung im Kostüm der Liberalität und Toleranz, der Weltoffenheit und kulturellen Permeabilität. Ob und wie der Geltungsanspruch der Grundrechte eingelöst wird, hängt ab von ihren Interpreten. Ihre Standfestigkeit entscheidet letztlich darüber, ob die Freiheit nach Maßgabe des Grundgesetzes sich am Ende verliert in Freiheit nach Maßgabe der Scharia. Auch unter außenpolitischem Druck braucht sich der Verfassungsstaat gegenüber muslimischen Staaten für Äußerungen seiner Bürger, mögen sie noch so geschmacklos und widerwärtig sein, nicht zu rechtfertigen und nicht zu entschuldigen.76 Er darf noch nicht einmal Satisfaktion anbieten, weil die Gewähr grundrechtlicher Freiheit, die solche Äußerungen ermöglicht, seine raison d’être ist. Das grundrechtslegitime Handeln der Bürger liegt außerhalb seiner völkerrechtlichen Verantwortung.77 Das sehen Staaten anders, denen die Unterscheidung von Staatsgewalt und Gesellschaft fremd ist. Doch gehört es zur legitimen Selbstbehauptung des freiheitlichen Staates, im völkerrechtlichen Verkehr seine Verfasstheit zu verteidigen und auch darauf hinzuwirken, dass die universalen Menschenrechte ihre liberale Ursprungssubstanz bewahren und ihre Exegese am Ende nicht der Scharia an75 Vgl. Häberle, Peter, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, in: JZ 1975, S. 297 ff. 76 Dagegen werfen Akyürek/Kneihs der dänischen Regierung einen Verstoß gegen Art. 9 EMRK vor, weil sie das Erscheinen der Karikaturen nicht unterbunden habe (Karikatur, Fn. 4, S. 83). 77 Das gilt freilich nicht ohne Vorbehalt für kulturelle Aktivitäten in staatlicher Organisation, etwa das staatliche Theater (s. o. VI.). – Skeptisch zu einer Ausweitung der völkerrechtlichen Verantwortung Pabel, Grundrechtsbeschränkungen (Fn. 4), S. 97.

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heimfällt. Die internationalen Deklarationen der Menschenrechte sind von gefährlicher Vagheit, Offenheit und Widersprüchlichkeit. Ursprünglich dazu bestimmt, die Ideen des Westens der ganzen Menschheit zu vermitteln, könnten sie einmal dahin verkehrt werden, den Westen unter das Joch der islamistischen Ideen zu zwingen. Der Fundamentaldissens der Kulturen liegt heute offen zutage. Er lässt sich nicht schönreden. Vielmehr ist es Sache der westlichen Welt, sich wehrhaft, klug und umsichtig zu behaupten.

VIII. Rechtspolitische Folgerungen Am Ende zeigt sich nur ein schmaler verfassungsrechtlicher Spielraum für gesetzgeberische Maßnahmen zur Abwehr von Religionsbeschimpfung. Noch enger ist der politische Spielraum, weil in der Gesellschaft wenig Neigung besteht, die Verbotsnormen zu verschärfen. Die Strafvorschrift der Religionsbeschimpfung läuft heute praktisch leer. Die Kirchen wissen, dass Strafanzeigen und öffentlicher Protest dem Schimpf Publizität und dem Lästerer billigen Ruhm als Märtyrer der Freiheit verschaffen. Sie müssen sich damit abfinden, dass auf dem Boden der grundrechtlichen Freiheit Unkraut und Weizen gedeihen. Die Kirchen dürfte es locken, sich mit dem Islam zu verbünden, gemeinsam wider die westliche Dekadenz und für die Wiederherstellung gesellschaftlicher Moral zu kämpfen, den Staat als bracchium saeculare für gemeinsame Ziele öffentlicher Moral zu gewinnen und das staatliche Verbot der Blasphemie zu reaktivieren. Doch eine solche Allianz wäre fatal. Von einem etwaigen Erfolg würde am Ende nicht das Christentum, sondern der islamische Fundamentalismus profitieren. Die Empörungswellen des Islam mögen Rechtslehre und Rechtspraxis dazu veranlassen, neu und vertieft über die rechtlichen Grenzen der Freiheitsrechte nachzudenken und diese künftig hier und da strenger zu definieren. Doch eine grundsätzliche Änderung steht nicht zu erwarten. Das Ärgernis der Freiheit lässt sich nicht beseitigen, ohne die Freiheit selbst anzutasten. Die religiös, moralisch und ästhetisch blinden Grundrechte entbinden gleichermaßen Erhabenes und Ekelhaftes, Herrlichkeit und Dreck. Gesetze können wenig leisten, grundrechtslegitimierten Unflat zu verhindern. Die Grundrechte vertragen keine Zensur zur Schonung islamischer Empfindlichkeiten, wie sie auch keine Zensur zur Vermeidung islamistischen Terrors leiden. Im heutigen Dissens der Kulturen zeigt sich deutlicher denn je, dass mit Grundrechten allein kein Staat zu machen ist und dass zum gedeihlichen Miteinander ein Mindestmaß an Takt, Ethos, sozialem Instinkt von jeder-

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mann gehört. Das aber ist lediglich eine Verfassungserwartung. Deren Einlösung kann der Staat nicht erzwingen. Zuwanderer, die aus geschlossenen muslimischen Gesellschaften stammen, haben vielfach ihre Not damit, die religiöse und moralische Dekadenz, die ihnen im Aufnahmeland begegnet, auszuhalten. Damit sammelt sich Zündstoff, der sich wie im Streit um die dänischen Karikaturen in terroristischem Protest entladen kann. Es wäre selbstmörderische Toleranz, wenn der Verfassungsstaat der muslimischen Pression nachgäbe und die Freiheitsgarantien aus Furchtsamkeit reduzierte. Für den Zuwanderer wäre es ein wirksamer Test auf seine Integrationsbereitschaft, zu prüfen, ob er bereit ist, die Freiheit des anderen zu ertragen, selbst wenn dieser schmäht, was ihm heilig ist, und ob er davon absieht, wider die Verletzung seiner Gefühle Gewalt zu üben und nach Gewalt zu rufen. Eine Probe aufs Exempel, ob und wieweit die Sicherheit der grundrechtlichen Freiheit in Deutschland belastbar ist, könnte eine werkgetreue Aufführung von Voltaires „Mahomet“ in Goethes Übersetzung abgeben, eines Dramas, das den Propheten als tückischen Gewaltpolitiker zeigt, doch in der exotisch-historischen Verkleidung Christen und Kirche treffen will. Die Christen freilich haben in zweieinhalb Jahrhunderten gelernt, mit dem eleganten Spott und der gelehrten Bosheit des Aufklärers umzugehen, seine giftige Kritik und seinen literarisch sublimierten Hass auf die „Infame“ auszuhalten, und das, ohne an Leib und Seele dauerhaft Schaden zu nehmen. Wird das der Islam jemals lernen?

Generationenkonflikt am Beispiel des Kinderwahlrechts Von Hans H. Klein 1. Mit dem Generationenkonflikt verhält es sich umgekehrt wie mit dem Generationenvertrag: Dieser, zumal in der verstümmelten Form des ZweiGenerationen-Vertrags,1 ist eine bloße Fiktion, bestimmt, „als schiere Harmonisierungsoptik bei der Verschleierung von Wirklichkeit im allgemeinen sowie von Zwang und Ungerechtigkeit im besonderen“ zu dienen.2 Der Generationenkonflikt hingegen ist so alt wie die Menschheit. Für die Gegenwart wird das politische Problem, dem es sich zu stellen gilt, in dem Antrag einiger Mitglieder des Deutschen Bundestages vom 11. September 2003 „Mehr Demokratie wagen durch ein Wahlrecht von Geburt an“3 zutreffend beschrieben: „Unsere Gesellschaft verschiebt finanzielle, soziale und viele andere Lasten in die Zukunft und raubt so den künftigen Generationen ihre Zukunftschancen.“ In Bezug auf das geltende Rentensystem wird mit Recht gesagt, dass die Kosten der Kinderaufbringung den Eltern auferlegt, also privatisiert, die Leistungen der erwachsen gewordenen Kinder zur Versorgung der Alten aber sozialisiert werden.4 An scharfen Kennzeichnungen dieser Lage bis hin zum „verfassungsrechtlichen GAU“5 fehlt es nicht. Hans Hattenhauer6 schreibt: „Unsere vergreisende Gesellschaft hat eine die Greise bevorzugende Politik erzeugt, die ihrerseits zu vergreisen droht.“ 2. Die Hoffnung auf eine Wende der Politik zu mehr Familien- und Kinderfreundlichkeit hat sich, unbeschadet marginaler Verbesserungen, bisher nicht erfüllt. Ein verfassungsgerichtlicher Befreiungsschlag, der das geltende Rentenrecht als unvereinbar mit dem aus Art. 6 Abs. 1 GG abzuleitenden Benachteiligungsverbot7 für verfassungswidrig erklärt,8 ist kaum zu er1 Suhr, D., Transferrechtliche Ausbeutung und verfassungsrechtlicher Schutz von Familien, Müttern und Kindern, Der Staat 29 (1990), S. 69 ff. (73). 2 Zitat: ebenda, S. 74. 3 BT-Drucks. 15/1544, S. 3. 4 Suhr, Ausbeutung (Fn. 1), S. 70 m. N.; Pechstein, M., Wahlrecht für Kinder?, FuR 1991, S. 142 ff. (143, 144). 5 Suhr, Ausbeutung (Fn. 1), S. 69. 6 Über das Minderjährigenwahlrecht, JZ 1996, S. 9 ff. (10). 7 Vgl. nur BVerfGE 99, 216 (232), m. w. N. 8 Dieses Verdikt bei Suhr, Ausbeutung (Fn. 1), S. 81 m. N.

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warten. Also sinnt man auf institutionelle Abhilfen. Sie setzen (vor allem9) beim Wahlrecht an. Konrad Löw streitet seit mehr als drei Jahrzehnten für ein „Kinderwahlrecht“ dergestalt, dass die Altersgrenze für das aktive Wahlrecht entfällt und die Sorgeberechtigten anstelle des noch nicht volljährigen Kindes das Wahlrecht bis zu dessen Volljährigkeit, mindestens bis zur Vollendung seines 16. Lebensjahrs, „treuhänderisch“ wahrnehmen.10, 11 Dieses Modell ist seither Gegenstand mancher Initiativen aus dem politischen Raum,12 über deren bisherige Vergeblichkeit sich seine Anhänger mit dem Hinweis hinwegzutrösten pflegen, auch die Durchsetzung des Frauenwahlrechts habe Jahrzehnte benötigt. Neben diesem Stellvertretermodell wird die Herabsetzung des aktiven Wahlalters von 18 auf 16 Jahre diskutiert, die bekanntlich in einigen Ländern für das Kommunalwahlrecht schon stattgefunden hat,13 ferner ein Eltern- oder Familienwahlrecht,14 bei welchem (ich lasse Variationen beiseite) die Erziehungsberechtigten pro Kind je eine zusätzliche Stimme als eigene erhalten.15 9 Es gibt Kinderparlamente und Jugendbeiräte, die Anhörungsrechte, aber keine Entscheidungsbefugnisse haben. Kinderombudsleute sind in einigen Staaten des Auslands bestellt. 10 U. a.: Löw, K., Das Selbstverständnis des Grundgesetzes und wirklich allgemeine Wahlen, Politische Studien 25 (1974), S. 19 ff.; ders., Verfassungsgebot Kinderwahlrecht? Ein Beitrag zur Verfassungsdiskussion, FuR 1993, S. 25 ff.; ders., Kinder und Wahlrecht, ZRP 2002, S. 448 ff.; ders., One man, one vote. Der Bundestag berät über das Kinderwahlrecht, RuP 2003, S. 231 ff. 11 Einen Formulierungsvorschlag hat etwa Knödler, C., Wahlrecht für Minderjährige – eine gute Wahl?, ZParl 27 (1996), S. 553 ff. (569), vorgelegt; Art. 38 Abs. 2 Satz 1 1. Halbs. GG soll danach lauten: „Wahlberechtigt ist jeder Mensch ab Vollendung der Geburt. Bis zur Vollendung des 16. Lebensjahrs wird das Wahlrecht durch den gesetzlichen Vertreter ausgeübt.“ s. a. Reimer, F., Nachhaltigkeit durch Wahlrecht? Verfassungsrechtliche Möglichkeiten und Grenzen eines „Wahlrechts von Geburt an“, ZParl 35 (2004), S. 322 ff. (324). – In den Parteien haben Minderjährige ab dem 16. Lebensjahr heute regelmäßig das aktive und passive Wahlrecht (Nachw. bei Knödler, Wahlrecht (Fn. 11), S. 555 Fn. 20). Wesentliche Auswirkungen auf politische Richtungsentscheidungen, wie sie nach der Logik der Befürworter eines originären Minderjährigenwahlrechts hätten eintreten müssen, sind freilich ausgeblieben. Werbeeffekte versprechen sich die Parteien vielmehr von der Aufstellung immer jüngerer Kandidaten für die Parlamente. 12 Zuletzt der in Fn. 3 erwähnte Antrag. 13 Niedersachsen: § 34 Abs. 1 Nr. 1 GemO, § 29 Abs. 1 Nr. 1 KreisO i. d. F. des Gesetzes vom 20. November 1995, GVBl S. 432; Schleswig-Holstein: § 3 Abs. 1 Gemeinde- und Kreiswahlgesetz i. d. F. vom 19. März 1997, GVOBl S. 152; Nordrhein-Westfalen: § 7 KommunalwahlG i. d. F. der Bekanntmachung vom 30. Juni 1998, GV S. 454. 14 Die Terminologie ist nicht einheitlich. 15 Die Idee, den Familienstand bei der Gewichtung der Wählerstimmen zu berücksichtigen, ist nicht neu. Bei der Wahlrechtsreform in Belgien 1893 wurde Familienvätern über 35 Jahre mit Hausbesitz eine Zusatzstimme zuerkannt. Die Begrün-

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3. Die Befürworter solcher Vorschläge versprechen sich von deren Verwirklichung ein höheres Maß an Aufmerksamkeit der Parteien – und folgeweise der Parlamente – für Familien, Mütter und Kinder. Wir haben, heißt es plakativ bei Dieter Suhr, „ein Zweigenerationen-Rentensystem, weil wir auch nur ein Zweigenerationen-Wahlsystem haben, in dem die Kinder ein demokratisches Nichts sind“.16 Hattenhauer17 erhofft sich eine Stabilisierung der politischen Ordnung, Peschel-Gutzeit18 die Wiederherstellung der verloren gegangenen sozialen Symmetrie, Löw19 ein Ende der „Depravation der Familien“. Für die Herabsetzung des originären Wahlrechts für Minderjährige auf 16 Jahre oder weniger wird geltend gemacht, die Zuerkennung einer früheren Wahlmündigkeit könne sich erzieherisch positiv auswirken, also politisches Interesse wecken und Teilnahme am staatsbürgerlichen Diskurs beflügeln.20 Aussagen darüber, ob solcherlei Erwartungen erfüllt würden, bewegen sich naturgemäß im Bereich der Spekulation. Skepsis erscheint angezeigt. Ist die Demokratie in jenen Ländern stabiler, in denen 16- und 17-Jährige zu den Kommunalvertretungen wählen dürfen? Erhöht das Wahlrecht Minderjähriger das Stimmgewicht derjenigen Erwachsenen, die als Erzieher, dung lautete hier wie auch sonst, dass derjenige, der Kinder erziehe, den Beweis erhöhter Staatsgesinnung und größerer Einsicht erbracht habe, weshalb ihm eine (oder gar mehrere) Zusatzstimme(n) zu gewähren sei(en). Dazu: v. Münch, I., Kinderwahlrecht, NJW 1995, S. 3165; Nopper, K., Minderjährigenwahlrecht – Hirngespinst oder verfassungsrechtliches Gebot in einer grundlegend gewandelten Gesellschaft?, Diss. Tübingen, 1999, S. 143 f.; Hattenhauer, Minderjährigenwahlrecht (Fn. 6), S. 12. – Umfassende historische Aufarbeitung bei: Groß-Bölting, M. M., Altersgrenzen im Wahlrecht. Entwicklung und systematische Bedeutung im deutschen Verfassungsrecht, Diss. Köln 1993. 16 Suhr, D., Ausbeutung (Fn. 1), S. 86. 17 Hattenhauer, Minderjährigenwahlrecht (Fn. 6), S. 11. 18 Peschel-Gutzeit, L. M., Unvollständige Legitimation der Staatsgewalt oder: Geht alle Staatsgewalt nur vom volljährigen Volk aus?, NJW 1997, S. 2861 f. (2862); s. a. dies., Das Wahlrecht von Geburt an: Ein Plädoyer für den Erhalt unserer Demokratie, ZParl 30 (1999), S. 557 ff.; nüchterner, aber im Erg. zustimmend: Steffani, W., Wahlrecht von Geburt an als Demokratiegebot?, ebenda, S. 563 ff. 19 Politische Studien 25 (1974), S. 23. 20 In diesem Sinne (der spätere niedersächsische Wissenschaftsminister) Oppermann, T./Walkling, T., Zur rechtlichen Zulässigkeit der Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre, RuP 1995, S. 85 ff. (86). Kritisch dazu etwa Langheid, T., Für und Wider des Minderjährigenwahlrechts, ZRP 1996, S. 131 ff. (132), der dieses Argument als Scheinargument bezeichnet, weil mit der gleichen Begründung auch das Wahlrecht für 12-Jährige gefordert werden könne; Mußgnug, R., Das Wahlrecht für Minderjährige auf dem Prüfstand des Verfassungsrechts, in: Stober, R. (Hrsg.), Recht und Recht, Festschrift für G. Roellecke zum 70. Geburtstag, 1997, S. 165 ff. (180): es gehe nicht an, das Wahlrecht „zu einer pädagogischen Maßnahme für noch Erziehungsbedürftige umzufunktionieren“.

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Lehrer, Sport- oder Arbeitskollegen Einfluss auf deren Meinungsbildung haben?21 Würde ein Mehrstimmenwahlrecht für Eltern (in der einen oder anderen Form) deren Wahlverhalten wirklich beeinflussen?22 „Familien bilden keine homogene Gruppe“,23 sie haben nicht zuletzt in Fragen, die ihre Kinder betreffen, unterschiedliche politische Präferenzen: Kinder- und elternfreundliche Investitionen um den Preis höherer Staatsverschuldung oder Konsolidierung der Staatsfinanzen um den Preis gewisser Nachteile für die gegenwärtige Kinder- und Elterngeneration? Und zwänge die Einführung eines höheren Stimmgewichts für Eltern nicht zu einer entsprechenden Begünstigung der Betreuer von Personen, die nach § 13 Nr. 2 BWahlG vom Wahlrecht ausgeschlossen sind? – Das mag auf sich beruhen: die Spekulation ist nicht das Metier des Juristen. Wenden wir uns stattdessen den verfassungsrechtlichen Fragen zu.24 4. Ein kurzer Blick auf das Landesverfassungsrecht erscheint lohnend. Dort ist das Wahlalter 18 – für die Landtagswahlen – regelmäßig festgeschrieben.25 Die Verfassungen von Bayern, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein verweisen die Regelung des Wahlalters in die Zuständigkeit des „einfachen“ Gesetzgebers. Die daran sich anschließende Frage, ob die Festlegung des originären Wahlrechts auf die Vollendung des 18. Lebensjahrs in Art. 38 Abs. 2 GG über das Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG den (verfassungsändernden) Landesgesetzgeber jedenfalls für Parlamentswahlen bindet, wird, soweit sie im Schrifttum Aufmerksamkeit findet, bejaht.26 Sind die für die Wahlen in den Ländern nach Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG geltenden Wahlrechtsgrundsätze mit den in Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG festgelegten identisch,27 so haben die Länder bei der Gestaltung ihres Wahlrechts durchaus einen erheblichen Freiraum.28 21

Mußgnug, Wahlrecht (Fn. 20), S. 171, sieht darin einen Verstoß gegen die Wahlrechtsgleichheit. 22 v. Münch, E.-M., in: Benda, E. u. a. (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl., 1995, § 9, Rdnr. 42, Fn. 157, weist darauf hin, dass die Einführung des Wahlrechts für Frauen entscheidende Änderungen in der Frauenpolitik nicht bewirkt habe. Zust. Reimer, Nachhaltigkeit (Fn. 11), S. 324. 23 Wernsmann, R., Das demokratische Prinzip und der demographische Wandel. Brauchen wir ein Familienwahlrecht?, Der Staat 44 (2005), S. 43 ff. (66). 24 Zuletzt Schreiber, W., Wahlrecht von Geburt an – Ende der Diskussion?, DVBl 2004, S. 1341 ff., und Wernsmann, Das demokratische Prinzip (Fn. 23). 25 Art. 26 Abs. 1 Baden-Württemberg; Art. 39 Abs. 3 Berlin; Art. 22 Abs. 1 Brandenburg; Art. 73 Abs. 1 Hessen; Art. 8 Abs. 2 Niedersachsen; Art. 31 Abs. 2 Nordrhein-Westfalen; Art. 76 Abs. 2 Rheinland-Pfalz; Art. 64 Saarland; Art. 4 Abs. 2 Sachsen; Art. 42 Abs. 2 Sachsen-Anhalt; Art. 46 Abs. 2 Thüringen. – Die Art. 22 Abs. 1 Brandenburg und 4 Abs. 2 Sachsen beziehen sich ausdrücklich auch auf die Wahlen zu den kommunalen Vertretungskörperschaften. 26 Mußgnug, Wahlrecht (Fn. 20), S. 175 ff.; Nopper, Minderjährigenwahlrecht (Fußn. 15), S. 127 ff.

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Die möglichen Abweichungen vom Bundesrecht werden dann durch die Auslegungsspielräume begrenzt, die diese Grundsätze eröffnen. Theodor Maunz29 konkretisiert das für das Wahlalter dahin, es dürften „keine über das normale traditionelle Maß hinausgehenden Ausschlüsse von der aktiven oder passiven Wahlberechtigung vorgenommen werden“.30 Weitergehende Abweichungen sind danach nur auf der Grundlage einer Änderung des Bundesverfassungsrechts zulässig.31 5. Für die Bundesebene, auf die ich mich im Folgenden beschränken werde, ist zunächst festzuhalten, dass nach geltendem Verfassungsrecht (Art. 38 Abs. 2 GG) die bundesgesetzliche Einführung eines originären Wahlrechts Minderjähriger ab dem 16. Lebensjahr oder früher ebenso definitiv ausgeschlossen ist wie die Herabsetzung des Wahlalters für das aktive Wahlrecht auf Null bei gleichzeitiger Einführung eines Stellvertreterwahlrechts für die Sorgeberechtigten.32 Bedenken gegen die Verfassungsmäßig27 In diesem Sinne etwa Stern, K., in: Vogel, K. u. a. (Hrsg.), Bonner Kommentar, Art. 28, Rdnr. 53; Löwer, W., in: v. Münch, I./Kunig, P. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Band 2, 5. Aufl., 2001, Art. 28, Rdnr. 23. 28 Vgl. BVerfGE 4, 31 (44 f.). 29 In: Maunz, T./Dürig, G., Grundgesetz – Kommentar, Art. 28, Rdnr. 29. 30 Danach wäre es wohl möglich, das Wahlalter auf Landesebene auf 21 Jahre heraufzusetzen. Eine Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre würde jedenfalls nicht an Art. 38 Abs. 2 GG scheitern, der keine unmittelbare Entsprechung in Art. 28 Abs. 1 GG hat. Für den notwendigen Gleichklang der aktiven Wahlberechtigung auf Bundes- und Landesebene: Schreiber, W., in: Friauf, K. H./Höfling, W., Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 38, Rdnrn. 129 f. – Für die Zulässigkeit des Minderjährigenwahlrechts auf kommunaler Ebene spricht sich Nopper, Minderjährigenwahlrecht (Fn. 15), S. 130 ff., aus; a. M. Mußgnug, Wahlrecht (Fn. 20), S. 187 ff.; v. Münch, Kinderwahlrecht (Fn. 15), S. 3166; Roellecke, G., Ravensburger Demokratie, NJW 1996, S. 2773 f. 31 Mußgnug, Wahlrecht (Fn. 20), S. 186 ff., weist auf den zwingenden Zusammenhang von Wahlmündigkeit und Volljährigkeit hin; die Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre sei den Ländern deshalb auch durch § 2 BGB versagt. s. a. Hoffmann-Lange, U./de Rijke, J., 16jährige Wähler – erwachsen genug? Die empirischen Befunde, ZParl 27 (1996), S. 572 ff. (585), die gegen eine mögliche Entkoppelung der beiden Altersgrenzen mit Recht einwenden, sie degradiere die demokratische Mitwirkung zu einem Recht, das man auch Jugendlichen verleihen könne, die man in anderer Hinsicht noch für unreif halte. Politik würde damit zu einem Lebensbereich von sekundärer Bedeutung abgewertet. Ferner: Wernsmann, Das demokratische Prinzip (Fn. 23), S. 46. 32 Das ist nahezu unstreitig, vgl. nur: Morlok, M., in: Dreier, H. (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Band II, 1998, Art. 38, Rdnr. 116; Trute, H. H., in: v. Münch/ Kunig (Fn. 26), Art. 38, Rdnr. 103; Peschel-Gutzeit, NJW 1997, S. 2861; dies., ZParl 30 (1999), S. 560; Schreiber, Wahlrecht von Geburt an (Fn. 24), S. 1342 ff.; Schroeder, W., Familienwahlrecht und Grundgesetz, JZ 2003, S. 917 ff. (919); Hattenhauer, Minderjährigenwahlrecht (Fn. 6), S. 15; Wernsmann, Das demokratische Prinzip (Fn. 23), S. 21.

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keit des Art. 38 Abs. 2 GG, die vereinzelt vorgetragen werden,33 sind kaum ernst zu nehmen: die Vorschrift enthält die nähere Bestimmung des Grundsatzes der Allgemeinheit der Wahl.34 Art. 20 Abs. 2 GG steht dieser Annahme nicht entgegen. Der Begriff des „Volkes“ ist in den beiden Sätzen dieser Vorschrift nicht der gleiche: Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG setzt das Staatsvolk im Sinne aller Deutschen als Träger der Staatsgewalt ein, Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG meint die Aktivbürgerschaft, also diejenigen, die nach näherer Maßgabe des Art. 38 Abs. 2 GG mit dem Wahlrecht ausgestattet sind.35 Tragfähig ist auch nicht die Erwägung, Regelungsgegenstand des Art. 38 Abs. 2 1. Halbs. GG sei nicht die Innehabung des Wahlrechts sondern nur die Berechtigung zu seiner Ausübung.36 Der Wortlaut („Wahlberechtigt ist . . .“) lässt keinen Zweifel, dass hier die Wahlrechtsträgerschaft und nicht die Wahlrechtsausübungsbefugnis gemeint ist.37 Dass eine solche Vorstellung dem Verfassungsgeber, der das Wahlrecht einst von 20 auf 21 Jahre heraufgesetzt hat, als gänzlich abwegig erschienen wäre, bedarf keines Beweises.38 6. Ob der verfassungsändernde Gesetzgeber die Untergrenze für das aktive Wahlrecht auf 16 Jahre abzusenken befugt wäre39 (bei gleichzeitiger Beibehaltung des passiven Wahlalters 1840), hängt von der Auslegung des Art. 79 33

Vgl. Löw, FuR 1993, S. 27. BVerfGE 36, 139 (141 f.); 42, 312 (341), 48, 64 (82); Roth, G., in: Umbach, D./ Clemens, T. (Hrsg.), Grundgesetz. Mitarbeiterkommentar, Band II, 2002, Art. 38, Rdnr. 43; Wernsmann, Das demokratische Prinzip (Fn. 23), S. 45 f. – Ein verfassungsrechtliches Gebot zur Einführung eines Minderjährigenwahlrechts besteht nicht: Knödler, Wahlrecht (Fn. 11), S. 561 ff. Wenig überzeugend ist es allerdings, wenn das BVerfG das Wahlalter 18 damit rechtfertigt, dass Begrenzungen des Grundsatzes der Allgemeinheit der Wahl aus zwingenden Gründen zulässig seien, vgl. BVerfG (Kammer), NVwZ 2002, S. 69 f., in Anlehnung an BVerfGE 42, 312 (340 f.). Denn der Verfassungsgesetzgeber bedarf keiner zwingenden Gründe, und über die Hürde des Art. 79 Abs. 3 GG, wenn sie denn bestünde, hülfen sie ihm nicht hinweg. 35 Statt aller: Sachs, M., in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 3. Aufl., 2003, Art. 20, Rdnr. 28; Schreiber, Wahlrecht von Geburt an (Fn. 24), S. 1345. 36 So aber z. B. Nopper, Minderjährigenwahlrecht (Fn. 15), S. 148 f.; Knödler, Wahlrecht (Fn. 11), S. 563 f.; Post, A., Erfahrungen mit dem Familienwahlrecht als Bestandteil des Allgemeinen Wahlrechts, ZRP 1996, S. 377 ff. (379). 37 Vgl. nur Schroeder, Familienwahlrecht (Fn. 32), S. 919; Wernsmann, Das demokratische Prinzip (Fn. 23), S. 51. 38 Konsequenz der Meinung, Art. 38 Abs. 2 GG erkenne jedermann von Geburt an mit der Rechts- auch die Wahlrechtsfähigkeit zu, wäre die Verfassungswidrigkeit des geltenden Wahlrechts seit 1949. Denn es gestattet den Minderjährigen (oder ihren gesetzlichen Vertretern) die Ausübung des Wahlrechts nicht. 39 Vgl. die Initiativen der PDS-Fraktion im Deutschen Bundestag BT-Drucks. 12/5127, 12/6607, 13/3519, 14/1126, 14/2150. 40 Das Wählbarkeitsalter könnte auf der Grundlage der in Art. 38 Abs. 2 2. Halbs. GG enthaltenen Ermächtigung durch den einfachen Gesetzgeber herabgesetzt werden, indem er den Eintritt der Volljährigkeit auf einen früheren Zeitpunkt festlegt. 34

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Abs. 3 GG ab. Die Grenzen der Verfassungsänderung sind danach alles andere als eindeutig.41 Die Antwort wird davon abhängen, welchen Sinn die Mindestaltersgrenze für das Wahlrecht hat. Wenn Wahlen kein Spiel sind,42 wenn ihr Ergebnis nicht dem Zufall überlassen bleiben, also z. B. nicht ausgewürfelt werden darf, sondern auf einen öffentlichen, nach Möglichkeit mit rationalen Argumenten zu führenden Diskurs zwischen Wählern und zu Wählenden zurückführbar sein muss, dann setzt das subjektive Wahlrecht auf beiden Seiten die Fähigkeit voraus, an einem solchen Kommunikationsprozess mit einigem Verständnis teilzunehmen.43 Ein solcher Grad an „Verstandesreife“ kann typischerweise bei den über 18-Jährigen vorausgesetzt werden, bei 16- oder 17-Jährigen aber eher nicht.44 Es bedürfte also stichhaltiger Belege für eine regelmäßig schon vor der Vollendung des 18. Lebensjahrs einsetzende hinreichende intellektuelle Urteilsfähigkeit, um eine Herabsetzung des Wahlalters vor Art. 79 Abs. 3 GG zu rechtfertigen.45 7. Ein Familienwahlrecht, bei dem die Sorgeberechtigten über zusätzliche eigene Stimmen verfügen, stößt allenthalben auf berechtigte Bedenken.46 Zu den Problemen, die entstünden, wenn das Wählbarkeitsalter herabgesetzt, das Volljährigkeitsalter aber beibehalten würde, vgl. Mußgnug, Wahlrecht (Fn. 20), S. 169 Fn. 17. 41 Vgl. BVerfGE 30, 1 (24 f.); 109, 279 (310). 42 Dazu Roellecke, G., Würfeln statt Wählen: Demokratie ein Gesellschaftsspiel?, in: Ziemske, B. u. a. (Hrsg.), Staatsphilosophie und Rechtspolitik, Festschrift für M. Kriele zum 65. Geburtstag, 1997, S. 593 ff.; ders., Ravensburger Demokratie (Fn. 30), S. 2774; ferner: Mußgnug, Wahlrecht (Fn. 20), S. 172, 173 f. 43 Vgl. etwa Wernsmann, Das demokratische Prinzip (Fn. 23), S. 46 ff.; Breuer, M., Kinderwahlrecht vor dem Bundesverfassungsgericht, NVwZ 2002, S. 43 ff. (45). – Allgemein: Dreier, in: Dreier, Grundgesetz (Fn. 32), Art. 20 (Demokratie), Rdnrn. 72 ff. 44 Schreiber, in: Berliner Kommentar (Fn. 30), Art. 38 Rdnrn. 128, 130; Hoffmann-Lange/de Rijke, 16-jährige Wähler (Fn. 31), passim; Zivier, E. R., Mehrfaches Wahlrecht für Kinderreiche – Kein Ende der Debatte?, RuP 2004, S. 26 ff. (28). – Nicht überzeugend: Knödler, Wahlrecht (Fn. 11), S. 565. 45 Das Argument, die Herabsetzung des Wahlalters sei geboten, um die Minderjährigen an die Politik heranzuführen (s. o. zu Fn. 20), ist aus der Sicht der Befürworter also kontraproduktiv: es zeigt, dass sie selbst von fehlender Verstandesreife der Minderjährigen ausgehen. Ebenso decouvrierend ist der an § 107 BGB anknüpfende Hinweis, das aktive Wahlrecht sei ein rechtlicher Vorteil, weil es den Minderjährigen zu nichts verpflichte. Das Gegenteil ist richtig: der Wähler ist, da er die nicht Wahlberechtigten repräsentiert, „entscheidungsberechtigter Amtsträger“ (Steffani, Wahlrecht von Geburt an [Fn. 18], S. 566), woraus ihm die Pflicht zu überlegter Entscheidung erwächst; seinen Launen darf er nicht Raum geben. s. a. Mußgnug, Wahlrecht (Fn. 20), S. 178. 46 Morlok, in: Dreier, Grundgesetz (Fn. 32), Art. 38, Rdnr. 116; Roth, in: Umbach/ Clemens, Grundgesetz (Fn. 34), Art. 38, Rdnrn. 43, 63; Badura, in: Bonner Kommentar (Fn. 27), Anhang zu Art. 38, Rdnr. 37; Trute, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz (Fn. 27), Art. 38, Rdnr. 103; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 8. Aufl., 2006,

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Das BVerfG hat immer wieder unterstrichen, dass „die Gleichbewertung aller Aktivbürger bei der Ausübung ihrer staatsbürgerlichen Rechte . . . zu den wesentlichen Grundsätzen der freiheitlich demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes“ gehört;47 aus dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit folge, „dass die Stimme eines jeden Wahlberechtigten den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche Erfolgschance haben muss“.48 Wegen des Zusammenhangs mit dem egalitären demokratischen Prinzip sei der Grundsatz der gleichen Wahl „im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit“ zu verstehen.49 Differenzierungen sind zwar in gewissen Grenzen zulässig,50 sie dürfen aber den Zählwert der Stimmen nicht betreffen.51 Die Zählwertgleichheit steht auch nicht zur Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers. Ein Pluralwahlrecht ist, auch im Rückblick auf das preußische Dreiklassenwahlrecht, der demokratische Sündenfall schlechthin.52 8. Die meisten Befürworter im Schrifttum wie in der Politik hat das sog. Stellvertretermodell gefunden, das „Wahlrecht von Geburt an“. Handelte es sich auch hier um ein – wennschon verkapptes – Pluralwahlrecht,53 was hinsichtlich der tatsächlichen Auswirkungen unbestreitbar ist,54 stünde auch Art. 38, Rdnr. 18; Schreiber, in: Berliner Kommentar (Fußn. 30), Art. 38 Rdnr. 131; ders., Wahlrecht von Geburt an (Fn. 24), S. 1342 f.; Maurer, H., Staatsrecht I, 3. Aufl., 2003, § 13, Rdnr. 6; Degenhart, C., Staatsrecht I, 22. Aufl., 2006, § 2, Rdnrn. 44, 53, 73; Gaa, M., Familienwahlrecht bei den nächsten Bundestagswahlen? ZRP 1997, S. 345 f. (346); Holste, H., Wahlrecht von Geburt an: Demokratie auf Abwegen?, DÖV 2005, S. 110 ff. (112); Knödler, Wahlrecht (Fn. 11), S. 569 f.; Lechleitner, M., Das Wahlsystem des Bundeswahlgesetzes, Jura 2002, S. 602 ff. (603); v. Münch, Kinderwahlrecht (Fn. 15), S. 3165; Pechstein, Wahlrecht für Kinder? (Fn. 4), S. 144 f.; Schroeder, Familienwahlrecht (Fn. 32), S. 917 f.; Wernsmann, Das demokratische Prinzip (Fn. 23), S. 49 ff.; Zivier, E. R., Mehrfaches Wahlrecht für Kinderreiche? Zur Frage eines Wahlrechts von Geburt an, RuP 1999, S. 156 ff. (157); ders., Mehrfaches Wahlrecht (Fn. 44), S. 27. 47 BVerfGE 11, 351 (360) – zuletzt BVerfGE 95, 335 (368); s. a. BVerfGE 98, 1 (13). 48 BVerfGE 95, 335 (353) – st. Rspr. 49 BVerfGE 82, 322 (337). 50 BVerfGE 95, 408 (418); 99, 1 (9). 51 BVerfGE 1, 208 (247); 82, 322 (337). 52 Grundsätzlich dazu: Böckenförde, E.-W., in: Isensee, J./Kirchhof, P. (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band II: Verfassungsstaat, 3. Aufl., 2004, § 24, Rdnrn. 42 f., 52. 53 So Badura, wie Fußn. 46 – in: Bonner Kommentar (Fn. 27), Anhang zu Art. 38, Rdnr. 37. Ebenso Roth, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz (Fn. 34), Art. 38, Rdnr. 43; Schreiber, Wahlrecht von Geburt an (Fn. 24), S. 1343; s. a. Schnorr, S./ Wissing, V., Wahlen: Kleine sollen mitbestimmen, ZRP 2003, S. 382; Zivier, Mehrfaches Wahlrecht (Fn. 46), RuP 1999, S. 157. 54 Wernsmann, Das demokratische Prinzip (Fn. 23), S. 55.

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hier Art. 79 Abs. 3 GG einer Verfassungsänderung im Wege.55 Allerdings wird geltend gemacht, im Unterschied zum Familienwahlrecht, bei dem den Eltern ihre Zusatzstimme(n) als eigene eingeräumt würde(n), handelten die Sorgeberechtigten beim Stellvertretermodell in Wahrnehmung eines fremden Rechts, nämlich des Wahlrechts der noch nicht wahlrechtsmündigen Kinder.56 Der Einwand ist allenfalls formal berechtigt. Materiell ist offenkundig, dass ein Mehrfachstimmrecht für Eltern alle, die keine Kinder haben, zu Staatsbürgern minderen Rechts degradiert.57 Lässt man das (was schwerfällt) einmal hingehen und übersieht zudem, dass die Wahrnehmung des Rechts der Eltern, für ihre Kinder zu handeln, ansonsten stets dem Wächteramt des Staates unterliegt (Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG), was hier wegen des Wahlgeheimnisses ausgeschlossen ist,58 die gesetzliche Vertretungsmacht der Eltern bei der Ausübung des Wahlrechts ihrer Kinder also notwendig unkontrolliert und unkontrollierbar wäre,59 so stellen sich vor diesem fiktionalen Hintergrund weitere verfassungsrechtliche Fragen. 9. Es heißt, das Wahlrecht des gesetzlichen Vertreters durchbreche den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl.60 Dieser Grundsatz „schließt jedes Wahlverfahren aus, bei dem zwischen Wähler und Wahlbewerber nach der Wahlhandlung eine Instanz eingeschaltet ist, die nach ihrem Ermessen den Vertreter auswählt und damit dem einzelnen Wähler die Möglichkeit nimmt, die zukünftigen Mitglieder der Volksvertretung durch die Stimmabgabe selbst zu bestimmen“.61 Ein solcher Sachverhalt liegt nicht vor: es ist der gesetzliche Vertreter, der die Wahlhandlung vornimmt, danach ist eine weitere Instanz nicht eingeschaltet. Nun wird allerdings in diesem Zusammenhang die These vertreten, aus dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl folge das Prinzip der Höchst55

s. nur Schreiber, Wahlrecht von Geburt an (Fn. 24), S. 1346. Dann befremdet es freilich, wenn Post, Erfahrungen (Fn. 36), S. 378 f., betont, das Wahlrecht der Minderjährigen werde in diesem Modell den Eltern zur Ausübung als eigenes Recht übertragen, wie auch sonst das Elternrecht nach Art. 6 Abs. 2 GG ein „eigenes originäres Grundrecht der Eltern“ sei. Nimmt man diesen Standpunkt ein (für den vieles spricht), haben die Eltern ein eigenes, vom Wahlrecht des Kindes abgeleitetes Stimmrecht, welches zu ihrem originären Stimmrecht hinzutritt: sie haben mehrere Stimmen. 57 s. etwa Pechstein, Wahlrecht für Kinder (Fn. 4), S. 145. Zu anderen Gleichheitsproblemen: Wernsmann, Das demokratische Prinzip (Fn. 23), S. 56. 58 Schon deshalb gehen alle Hinweise darauf, praktische Probleme ließen sich unter Heranziehung der §§ 1626 ff. BGB lösen, an der Sache vorbei. Dazu etwa: Holste, Wahlrecht von Geburt an (Fn. 46), S. 113. 59 Wernsmann, Das demokratische Prinzip (Fn. 23), S. 55. 60 Vgl. etwa Degenhart, Staatsrecht I (Fn. 46), § 2 Rdnr. 44; so auch Schreiber, Wahlrecht von Geburt an (Fn. 24), S. 1343. 61 BVerfGE 47, 253 (279 f.); s. a. BVerfGE 95, 335 (350). 56

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persönlichkeit, welches gebiete, dass ausschließlich der Wahlberechtigte selbst seine Stimme abzugeben befugt ist.62 Wäre das Gebot, das Wahlrecht persönlich auszuüben, tatsächlich nichts weiter als ein Ausfluss des Grundsatzes der Unmittelbarkeit, so wäre jedenfalls aus diesem Grunde eine Verfassungsänderung mit dem Ziel, ein Stellvertreterwahlrecht einzuführen, nicht unvereinbar mit Art. 79 Abs. 3 GG.63 Denn von den fünf Wahlrechtsgrundsätzen des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG ist jedenfalls der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl nicht unantastbar.64 Auch aus der Garantie des Wahlgeheimnisses ergibt sich kein stichhaltiges Argument gegen ein Stellvertreterwahlrecht des gesetzlichen Vertreters,65 denn sowohl die Zulassung der Briefwahl als auch die Zulässigkeit der Inanspruchnahme einer Hilfsperson (§§ 33 Abs. 2, 36 BWahlG) lassen das Wahlgeheimnis, um es zurückhaltend auszudrücken, nicht unberührt.66 Gleichwohl: die Höchstpersönlichkeit des Wahlrechts ist unabdingbar. Dass der Wahlberechtigte sein Wahlrecht nur selbst auszuüben berechtigt, dass dieses Recht also unveräußerlich, nicht übertragbar und nicht verzichtbar ist,67 dass sich der Wähler in der Ausübung seines Wahlrechts folgeweise auch nicht vertreten lassen kann, mag auch aus den Wahlrechtsgrund62 Das Gebot der Höchstpersönlichkeit der Wahl wird aus dem Grundsatz der Unmittelbarkeit abgeleitet z. B. von: OVG Rheinland-Pfalz, DÖV 1986, S. 155 f. (156); Morlok, in: Dreier, Grundgesetz (Fn. 32), Art. 38, Rdnr. 75; Schreiber, W., Handbuch des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag, 7. Aufl., 2002, § 14, Rdnr. 9; ders., Wahlrecht von Geburt an (Fn. 24), S. 1343; Zivier, Mehrfaches Wahlrecht (Fn. 46), RuP 1999, S. 157; ders., Mehrfaches Wahlrecht (Fn. 44), RuP 2004, S. 27; Wernsmann, Das demokratische Prinzip (Fn. 23), S. 51 f. 63 So folgerichtig Wernsmann, Das demokratische Prinzip (Fn. 23), S. 54. 64 Ob die anderen Grundsätze antastbar sind, braucht hier nicht entschieden zu werden. Vgl. Hain, K.-E., in: v. Mangoldt, H./Klein, F./Starck, C. (Hrsg.), GG. Bonner Grundgesetz, Band 2, 5. Aufl., 2005, Art. 79, Rdnr. 82; Dreier, H., in: Dreier, Grundgesetz (Fn. 32), Art. 79, Rdnr. 32; Lücke, J., in: Sachs, Grundgesetz (Fn. 35), Art. 79, Rdnr. 40; Bryde, B.-O., in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz (Fn. 27), Art. 79, Rdnr. 41; Maunz/Dürig, Grundgesetz (Fn. 29), Art. 79 Abs. 3, Rdnr. 47; Wernsmann, Das demokratische Prinzip (Fn. 23), S. 54. 65 Fraglich ist schon, ob das Stellvertreterwahlrecht der Eltern den Grundsatz der geheimen Wahl durchbricht, da sie das Wahlrecht ihrer Kinder ja nach Ansicht einiger als eigenes Recht (Art. 6 Abs. 2 GG) wahrnehmen. s. dazu Nopper, Minderjährigenwahlrecht (Fn. 15), S. 150 f. Wenn allerdings Eltern untereinander, Eltern mit ihren wahlberechtigten, aber nicht wahlausübungsberechtigten Kindern oder Eltern, wenn sie sich nicht einigen können, gar mit dem Vormundschaftsgericht beraten sollen, wie das Kinderwahlrecht auszuüben sei, dann ist das Wahlgeheimnis aufgehoben. 66 Damit soll nicht gesagt sein, dass die genannten Vorschriften verfassungsrechtlich unbedenklich sind. Zur Briefwahl: BVerfGE 21, 200 (204 f.); 59, 119 (127); zur Hinzuziehung einer Hilfsperson: BVerfGE 91, 200 (206 f.). s. a. Meyer, H., in: Isensee, J./Kirchhof, P. (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band III, 3. Aufl., 2005, § 46 Rdnr. 21.

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sätzen abzuleiten sein. In erster Linie ist aber das Wahlrecht darum ein höchstpersönliches, nur von seinem Inhaber auszuübendes Recht, weil es ihn und nur ihn mit der Befugnis ausstattet, als selbst- und gerade nicht fremdbestimmtes Individuum an der staatlichen Willensbildung verantwortlich teilzuhaben.68 Der Wahlberechtigte steht zum Staat, genauer: zum Staatsvolk, in einem Verhältnis persönlicher Verantwortlichkeit, der er sich durch Nichtteilnahme an der Wahl nicht entziehen und die er auf andere nicht delegieren kann. Demokratische Legitimation kann nur aus einem freien Kommunikationsprozess erwachsen, an dem der Inhaber des Wahlrechts selbst teilgenommen oder wenigstens teilzuhaben die gleiche, d.i. gleichgewichtige rechtliche Chance gehabt hat. Eine weitere Überlegung stützt dieses Ergebnis. Der Bürger, der bei der Wahl seine Stimme abgibt, handelt nicht als Privatperson, als bourgeois, sondern als citoyen,69 gleichsam als Repräsentant des Staatsvolks. Schon Sieyès hat von der „qualité représentable“ der wahlberechtigten Bürger gesprochen. Carl Schmitt hat bemerkt, die – im Blick auf unzulässige Wahlbeeinflussungen unvermeidliche – Geheimheit der Stimmabgabe habe die „spezifisch demokratische d.h. politische Figur, den citoyen, in einen Privatmann“ verwandelt; die Wahl sei deshalb „ein Verfahren der Einzelabstimmung mit Addition der Einzelstimmen“.70 Diese Beobachtung mag in tatsächlicher Hinsicht zutreffen. Aber das ändert nichts an der normativen Ausgangslage: sie ruft den Bürger bei der Wahl in seine Verantwortung für das „ganze Volk“, ebenso wie dies beim Abgeordneten nach Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG der Fall ist. So wenig sich aber ein Mitglied des Bundestages, wenn es der Abstimmung fernbleibt, durch ein anderes vertreten lassen kann, so wenig kann sich der Wahlberechtigte bei der Ausübung seines Wahlrechts vertreten lassen. Durch die (verfassungs-)gesetzliche Anerkennung einer solchen Vertretungsmacht würde das „Volk“ im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG abgeschafft und durch eine Ansammlung von Privatleuten ersetzt. Das träfe die Demokratie im Kern (Art. 79 Abs. 3 GG). 67

HessVGH, DVBl 1951, S. 148 f. (149); Magiera, S., in: Sachs, Grundgesetz (Fn. 35), Art. 38, Rdnr. 100; Morlok, in: Dreier, Grundgesetz (Fn. 32), Art. 38, Rdnr. 115; Roth, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz (Fn. 34), Art. 38, Rdnr. 26; Badura, in: Bonner Kommentar (Fn. 26), Anhang zu Art. 38, Rdnr. 37; Schreiber, in: Berliner Kommentar (Fn. 30), Art. 38, Rdnrn. 23, 131; Maurer, Staatsrecht I (Fn. 46), § 13 Rdnr. 6; Pechstein, Wahlrecht für Kinder (Fn. 4), S. 145 f.; Schroeder, Familienwahlrecht (Fn. 32), S. 919. 68 Dazu v. a. Pechstein, Wahlrecht für Kinder (Fn. 4), S. 145 f.; s. a. Holste, Wahlrecht von Geburt an (Fn. 46), S. 112. 69 Vgl. Schmitt, C., Verfassungslehre, 3. Aufl., 1957, S. 253. 70 Ebenda, S. 245.

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10. An der Oberfläche bleibt demgegenüber der Hinweis darauf, dass das Gebot der persönlichen Stimmabgabe durch den Wahlberechtigten im Text der Verfassung keinen ausdrücklichen Niederschlag gefunden71 und dass sein historischer Ursprung in dem Zweck der Vermeidung des Stimmenkaufs gelegen habe.72 Primitive Formen des Stimmenkaufs sind heute durch das Wahlgeheimnis ausgeschlossen. Höher entwickelten wie kostenträchtigen Wahlversprechen wird nur der „Verstand der Verständigen“ nicht auf den Leim gehen, was einmal mehr unterstreicht, dass der Wahlberechtigte darüber mindestens vermutungsweise verfügen muss. Ebensowenig verschlägt die These, die Höchstpersönlichkeit des Wahlrechts (§ 14 Abs. 4 BWahlG) sei mit der Briefwahl und der Zulässigkeit der Hinzuziehung einer Hilfsperson schon im geltenden Wahlrecht teilweise preisgegeben.73 Das trifft de iure nicht zu, weil im einen wie im anderen Fall der Wahlberechtigte selbst seinen Willen zum Ausdruck zu bringen gehalten ist.74 De facto ist allerdings einzuräumen, dass hier wie da eine Usurpation des Wahlrechts durch Dritte keine Seltenheit sein dürfte. Das kann aber nicht zur Aufweichung des fundamentalen Verfassungsprinzips der Höchstpersönlichkeit des Wahlrechts führen, es kann vielmehr nur Anlass sein, die vom BVerfG75 vor vielen Jahren schon angemahnte Überprüfungspflicht des Gesetzgebers ernst zu nehmen. Weil dieses Prinzip der Höchstpersönlichkeit nicht – jedenfalls nicht nur – aus dem einen oder anderen Wahlrechtsgrundsatz abzuleiten ist, sondern im staatsbürgerlichen status des zur Teilhabe an der staatlichen Willensbildung aufgerufenen Inhabers des Wahlrechts wurzelt, ist es auch keiner Abwägung zugänglich, etwa mit der Begründung, es gelte kollidierendes Verfassungsrecht, zumal den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl, mit jenem Prinzip zur praktischen Konkordanz zu bringen.76 Denn das Gebot der 71

Nicht ausdrücklich im Grundgesetz niedergelegt ist z. B. auch das Prinzip der „ununterbrochenen Legitimationskette“ (BVerfGE 83, 60 [71 f.]; 93, 37 [66 f.]), das gleichwohl zu den demokratischen Fundamentalsätzen gehört. 72 Hattenhauer, Minderjährigenwahlrecht (Fn. 6), S. 16; zust. Löw, ZRP 2002, S. 449. – Zu kurz greift auch Peschel-Gutzeit, NJW 1997, S. 2861, die meint, der Grundsatz der Höchstpersönlichkeit lasse „sich allenfalls mittelbar aus dem Erfordernis der gleichen Wahl“ ableiten. 73 Vgl. nur BT-Drucks. 15/1544, S. 4. 74 s. nur Schroeder, Familienwahlrecht (Fn. 32), S. 920. 75 BVerfGE 59, 119 (127). – s. schon Pechstein, Wahlrecht für Kinder (Fn. 4), S. 146. 76 Das BVerfG hat anerkannt, dass die Wahlrechtsgrundsätze nicht immer in voller Reinheit verwirklicht werden können; vgl. etwa Roth, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz (Fn. 34), Art. 38, Rdnrn. 19 ff.; Morlok, in: Dreier, Grundgesetz (Fn. 32), Art. 38, Rdnrn. 61 f.; Magiera, in: Sachs, Grundgesetz (Fn. 35), Rdnr. 78 – jew. mit Nachw.

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Höchstpersönlichkeit ist eben kein Derivat der Wahlrechtsgrundsätze, das mit diesen auf einer Ebene stünde, es liegt ihnen vielmehr voraus, weil der dialogische Prozess zwischen Wählern und zu Wählenden wie der zwischen Repräsentierten und Repräsentanten ein personaler Prozess ist, in dem sich keiner von ihnen durch einen Dritten vertreten lassen kann. Durch eine sei es auch nur partielle Preisgabe dieses Gebots wäre der status activus, der den „mündigen“, den dialogfähigen Bürger voraussetzt, aufgeweicht und das demokratische Prinzip im Kern verletzt.77, 78

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So v. a. Pechstein, Wahlrecht für Kinder (Fn. 4), S. 145, 146. Auf zwei Überlegungen sei noch hingewiesen: die Anhänger des Stellvertreterwahlrechts pflegen, um die Berechtigung ihres Anliegens zu unterstreichen, hervorzuheben, dass die Einführung eines „Wahlrechts von Geburt an“ die Zahl der Wahlberechtigten um rund ein Drittel erhöhen würde (s. nur Löw (Fn. 33), FuR 1993, S. 26; ders., ZRP 2002, S. 44: die derzeit nicht wahlberechtigten Kinder, mehr als 15 Millionen, machten etwa 20 v. H. des Staatsvolks aus). Schränkte man in diesem Umfang den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit durch Gewährung eines Pluralwahlrechts an die gesetzlichen Vertreter ein, um dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl verstärkt Rechnung zu tragen, so wäre der erstgenannte offenkundig nicht nur am Rande sondern essentiell im Sinne von Art. 79 Abs. 3 GG berührt. – Zum anderen: Es wird geltend gemacht, in anderen demokratischen Staaten sei die Stellvertretung bei der Ausübung des Wahlrechts gelegentlich zugelassen (s. die Nachweise für Frankreich und Großbritannien bei Reimer, Nachhaltigkeit [Fn. 11], S. 332 f.). Aus solchen Vergleichen können grundsätzlich Rückschlüsse auf den Umfang nach Art. 79 Abs. 3 GG bestehender Unantastbarkeiten gezogen werden (vgl. Dreier, in: Dreier, Grundgesetz [Fn. 32], Art. 79 III, Rdnr. 15 a. E.). Im vorliegenden Fall ist ein solcher Schluss aber umso zweifelhafter, als das dem deutschen Rechtskreis näher stehende österreichische Verfassungsrecht den Grundsatz der persönlichen Stimmabgabe in Art. 26 Abs. 1 B-VG ausdrücklich verankert hat. Im deutschen Landesverfassungsrecht verlangt Art. 14 Abs. 1 S. 1 BayVerf, dass der Landtag (und gem. Art. 12 Abs. 1 auch die Kommunalvertretungen) „von allen wahlberechtigten Staatsbürgern“ – und also nicht von Dritten – gewählt wird; nach Art. 38 Abs. 1 BerlVerf ist das Abgeordnetenhaus „die von den wahlberechtigten Deutschen gewählte Volksvertretung“, und Art. 70 Abs. 1 bestimmt, dass die Bezirksversammlungen „von den Wahlberechtigten des Bezirks“ gewählt werden. Zum britischen „proxy voting“ und zum französischen „droit de vote par procuration“ s. Schreiber, Wahlrecht von Geburt an (Fn. 24), S. 1344. 78

Arbeitskampf im Öffentlichen Dienst Eine Gefahr für Streik- und Gewerkschaftsfreiheit Von Walter Leisner Rupert Scholz ist seit langem einer der führenden Autoren auf dem Gebiet des Arbeitsverfassungsrechts. Vor allem in seinen Kommentierungen zu Art. 9 GG hat er, in einer sonst im Staatsrecht nicht allzu häufigen, klar profilierten Weise für die Freiheit wirtschaftlicher Betätigung Stellung bezogen.1 Deshalb sei ihm, zugleich aus dem gegebenen Anlass der Arbeitskämpfe des Jahres 2006 im Öffentlichen Dienst, dieser Beitrag gewidmet. I. Streikrecht und Gewerkschaftsmacht 1. Der Diskussionsstand Die folgenden Betrachtungen beschränken sich von vorneherein und entschieden auf den Öffentlichen-Dienst-Streik. Sie sehen ihn als ein verfassungsrechtlich nicht nur spezielles, sondern eigenständiges Problem. Ein allzu weit in Politik und Staatsrecht verbreitetes Diskussions- und Argumentationsschema wollen sie verlassen, vielleicht gar umkehren: Die kaum mehr übersehbaren Beiträge, welche Wissenschaft und Rechtsprechung dazu geliefert haben,2 beschäftigen sich in aller Regel nicht mit Streik im Öffentlichen Dienst als einer besonderen Erscheinung. So wird er im Wesentlichen nur in seiner Form des Beamtenstreiks problematisiert;3 damit aber wird die Diskussion in einer anderen, einer beamten- nicht einer arbeitsrechtlichen Dimension geführt. Ihre Ergebnisse mögen auch die Antworten auf Fragen eines Streiks des öffentlichen Tarifpersonals – vor allem faktisch – beeinflussen, sie stellen sich diesen aber nicht als ein eigenständiges grundsätzliches Problem. 1 Maunz/Dürig, GG, Art. 9; die Grundlagen dazu wurden bereits gelegt in Scholz, Rupert, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971; später ders., Koalitionsfreiheit, HbStR VI, 1989, § 15, S. 1115 ff. 2 Für Viele sei nur verwiesen auf die Nachweise und die Schrifttumsauswahl bei Kemper, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 5. Aufl. 2005, Art. 9 Abs. 3 GG. 3 Siehe dazu m. Nachw. Jachmann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck GG, 5. Aufl. 2005, Art. 33, Rn. 44.

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Vor allem ist vielmehr festzustellen, dass dieser Streik der Angestellten und Arbeiter von juristischen Personen des öffentlichen Rechts (i. Folg. Dienststreik) nahezu durchgehend nur in dem größeren Zusammenhang von Behandlungen des allgemeinen Arbeitskampfrechts mehr erwähnt als untersucht wird – meist mit der kurzen Bemerkung, dass hier dasselbe gelte wie für den Ausstand in privaten Betrieben.4 Im Zusammenhang mit der Notwendigkeit der Berücksichtigung von Gemeinwohlbelangen5 hätte man eigentlich eine Vertiefung der Problematik des Dienststreiks erwarten dürfen – auch hier sieht sich die Nachforschung jedoch weithin enttäuscht: Gerade die sehr allgemeine Diskussion um mögliche Gemeinwohlschranken – die bei Arbeitskämpfen als solchen im Ergebnis kaum zu ziehen sind – führt umgekehrt eher zu einer Bestätigung des Befundes, dass man vom Dienststreik als einer besonderen Erscheinung gerade nicht ausgeht. In der Anfangszeit der Diskussion nach 1949 finden sich noch Versuche, die Auswirkungen von Arbeitsniederlegungen „auf die Öffentlichkeit“ näher zu problematisieren,6 und das Bundesverwaltungsgericht wollte immerhin anfänglich Gemeinwohlbelange beachtet sehen.7 Das Bundesverfassungsgericht hat dies nicht aufgenommen,8 die Judikatur des Bundesverwaltungsgerichts ist ihm darin gefolgt.9 2. „Staatsblindheit“ der Streikdiskussion: unter dem Machteinfluss der Koalitionen Diese Abstinenz, welche sich in der bisherigen Diskussion hinsichtlich des Dienststreiks feststellen lässt, mag auf den ersten Blick erstaunen. Haben nicht gerade die Massenstreiks des gesamten öffentlichen Dienstes, in Frankreich vor allem, mehr als sämtliche privaten Arbeitsniederlegungen, das Streikrecht dort entscheidend und ausweitend geprägt, haben sie nicht sogar eine ganz allgemeine „Streikmentalität“ hervorgebracht, damit das politische Gesamtklima, das politische Regime sogar verändert? Läuft nicht allenthalben im Ausland der wirtschaftliche Ausstand gegen Private schon nurmehr im politischen, im geistigen Schlepptau von (auch nur möglichen) Dienststreiks – die Staatsdiener als „Mauerbrecher“ für Belegschaften kleiner(er) Unternehmen? 4

Vgl. etwa Kemper, Art. 9 (Fn. 2), Rn. 261. s. die Nachw. bei Kemper, Art. 9 (Fn. 2), Rn. 225. 6 Vgl. etwa Huber, E. R., Wirtschaftsverwaltungsrecht Bd. 2, 1954, S. 408; Kaiser, J. H., Der politische Streik, 1959, S. 26. 7 BVerwGE 1, 48 (52); 2, 89 (94). 8 BVerwGE 30, 173 (193); 32, 98 (109). 9 BVerwGE 37, 265 (267); 49, 202 (208). 5

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Globalisierung wird unablässig diskutiert – doch wenn schon Grundsatzüberlegungen zur ungeheueren Machtsteigerung von Streikbewegungen angestellt werden, welche Netzwerke lahm legen, alles paralysieren können, ganze Volkswirtschaften – warum wird nicht die Problematik des Streiks im größten aller Netzwerke, im Staat, im Öffentlichen Dienst, mit gebührender Intensität als Sonderphänomen erörtert, sondern hier doch wieder nur die allgemeine, größere Erscheinung des Arbeitskampfgeschehens? Für diese „Staatsblindheit“ der Streikdiskussion – man muss es schon so nennen, gibt es vielfache Motive. Ein hauptsächlicher Grund liegt in der allgemeinen Entwicklung des Arbeitsverfassungs-, insbesondere des Streikrechts. Dieses hat insgesamt in den letzten zwei Generationen sowohl eine ausgebaute judikative Ordnung gefunden als auch, und vor allem, insgesamt doch eine nicht unerhebliche normative Verstärkung erfahren. Anerkannt wurde der Schutz der Streikfreiheit durch Art. 9 Abs. 3 GG vom Bundesarbeitsgericht,10 wie später auch vom Bundesverfassungsgericht.11 Zu einem „Gewerkschaftsgesetz“ oder gar einem „Arbeitskampfgesetz“ ist es nicht gekommen. Bundesarbeitsgericht und Bundesverfassungsgericht haben in einer immer weiter verfeinerten Judikatur Begriff und Grenzen der Arbeitskämpfe bestimmt, vor allem Versuche zur rechtlichen Gewährleistung einer Arbeitskampfparität unternommen.12 Diese mögen nicht voll befriedigen, wichtige Fragen noch zu klären sein. Insgesamt aber wurde den Koalitionen und ihrer Freiheit ein so weites Betätigungsfeld eröffnet, Schranken der Tarifvertrags- und damit auch der Streikfreiheit wurden im Ergebnis so weit zurückgenommen, dass jeder Versuch, hier im öffentlichen Bereich spezielle, notwendig einschränkende Regelungen zu finden, von vorneherein problematisch, ja aussichtslos erschien. Eine herkömmlich vorsichtige Staatsrechtswissenschaft hat dies verstanden und aufgenommen. Konkret war es, weit über Rechtliches hinaus, ganz einfach die wahrhaft gewaltige Gewerkschaftsmacht, welche der hier an sich geforderten Politik Faktensetzungen in Richtung auf eine Einschränkung des Dienststreiks verbot. Koalitionen, welche man in zahllosen Zusammenhängen, in unzähligen Gremien als Politikhelfer einsetzt, ohne deren Unterstützung so manches Gesetz nicht durchsetzbar, Gremienpolitik kaum mehr vorstellbar wäre – wie sollte man sie in Tarifverhandlungen des Öffentlichen Dienstes speziell zügeln oder gar gängeln? Wenn Gewerkschafter auf beiden Seiten der Verhandlungstische bei Tarifgesprächen sitzen, wenn eine Rechtsordnung aus 10

BAGE 1, 291 (300); 33, 140 (150); BAG BB 1980, Beil. 4, S. 2 (3 f.). Offengelassen noch in BVerfGE 38, 386 (392); nunmehr std. Rspr., vgl. E 84, 212 (225); 88, 103 (114); 92, 365 (394). 12 Vgl. etwa die Ausführungen zur Parität, zur Richtigkeit, zur Verhältnismäßigkeit von Tarifabschlüssen und Druckmitteln zu ihrer Erreichung bei Kemper, Art. 9 (Fn. 2), Rn. 247 ff., 258 ff. 11

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politischen Gründen ein solches laufendes Selbstkontrahieren hinnimmt, es mit feinen Rollenunterscheidungen zu überspielen versucht, dann ist ja auch schwerer Arbeitskampf im Öffentlichen Dienst kaum zu erwarten. Und wenn die privaten Arbeitgeber aus Profit-Gründen rascher aufgeben, als es öffentlicher (Haushalts-)Politik lieb sein kann, dann kann diese vor so geballter Koalitionsgewalt nur bereits im Vorfeld nachgeben. In dieser Lage sind Streiks im Öffentlichen Dienst eine Seltenheit geblieben – schon deshalb kaum als solche zum Rechtsproblem geworden. Volle Kassen konnten früher sogar zu allzu großzügigem Abschluss führen. Nun aber ist diese Situation Vergangenheit; erstmals zeigt sich die Arbeitgeberseite, auf leeren Kassen sitzend, als harter Verhandlungspartner, letztlich als kampfbereit. Immer häufiger greift sie auf leistungsbereite Private zurück, um „den Streik zu brechen“. Noch wird Aussperrung nicht diskutiert, aber Schwächung, ja Ausbluten der Gewerkschaften wird in Kauf genommen, wenn nicht angestrebt. 3. Eine neue Fragestellung: Dienststreik als Gefahr für arbeitskampfwillige Gewerkschaften a) In dieser Lage drängt sich der Allgemeinheit und nicht zuletzt dem Staatsrecht, eine neue Fragestellung auf, die sich auf den Streik im Öffentlichen Dienst beschränkt. Bisher war allenfalls allgemein gefragt worden nach „Beeinträchtigung der Bürger durch den Streik“, nach seiner Unvereinbarkeit mit dem Gemeinwohl. Verständlich war es da, dass die Gewerkschaften dies als generelle Kampfansage an ihr traditionelles Hauptinstrument, damit an sich als „Reservemacht“ verstanden, dass sie dem radikale Kritik oder einfach die noch wirksamere Waffe des rechtlichen Ignorierens entgegensetzten. In der Tat mochten Relikte eines antisozialistischen, antigewerkschaftlichen Wilhelminismus in machen traditionalistischen Kreisen des deutschen Staatsrechts lange noch fortwirken, durch Schulbildungen begünstigt. Das undifferenzierte „Gemeinwohl“ als Waffe gegen ihre Kampfbereitschaft – das dürfen und müssen Gewerkschaften auch in Zukunft fürchten. Wer die neue Lage der leeren Kassen dergestalt gegen sie zu instrumentalisieren versucht, „Interessen der Allgemeinheit“ als Brücke sieht, um dann auch wirtschaftliche Streiks gegen rein „Private“ einzugrenzen, der mag ökonomisch dafür gute Gründe haben, wirken diese letzteren doch nur zu oft über die Sphäre des einzelnen „Gegners“ hinaus auf andere, auf die Allgemeinheit. Er muss aber wissen, dass er dann, im Namen des „Gemeinwohls“, einen größeren machtpolitischen Kampf mit den Koalitionen in Kauf nimmt. Dafür sind Vertreter des Staatsrechts schlecht gerüstet. b) Deshalb wird hier ein anderer, bescheidenerer Ansatz gewählt: Gegen die Gewerkschaften lässt sich kein Staat mehr machen. Sie müssen daher

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eingebunden werden in die Diskussion um den Dienststreik und seine Grenzen. Überzeugt müssen sie werden, dass gerade ihnen hier Gefahr droht und ihrem Streikrecht, wenn sie an eben diesem Punkt „überziehen“, Grenzen nicht akzeptieren wollen. Dann wirkt der Dienststreik nicht mehr als „Mauerbrecher“ in anderen Tarifauseinandersetzungen für sie, sondern als Delegitimation des gesamten Arbeitskampfrepertoires gegen sie. Derartiges droht politisch durch das Unverständnis der Bürger „gegen den Streik überhaupt“ – das ist verantwortungsvollen Gewerkschaftern bewusst, hier braucht es nicht problematisiert zu werden. Doch um ein anderes geht es: Den Gewerkschaften müssen die rechtlichen Risiken, bis hin zu Absurditäten, klar werden, die sie in Kauf nehmen, welche sie zusätzlich gefährden werden, wollen sie auch in Zukunft den schrankenlosen Dienststreik. Sie müssen dann damit rechnen, dass sich nicht nur Staatsrechtler, Verfassungsrichter gegen sie wenden, sondern dass ihnen demokratisches Unverständnis aus der Bürgerschaft entgegenschlägt, in wahrem Wortssinn, im Namen des Grundgesetzes. Noch eine andere These ist daher Ausgangspunkt des Folgenden und dies könnte damit über den Dienststreik hinauswirken: Die Gewerkschaften sollten vertieft über eine Schlichtung durch Schiedsspruch nachdenken, jedenfalls im Öffentlichen Dienst, diese nicht sogleich als Schlichtungszwang oder gar Zwangsschlichtung ablehnen. Es könnten sich hier für sie neue Betätigungs- und Legitimationsfelder eröffnen: als Anwälte der Beschäftigten in einem neuen, sehr weiten Sinn. Die deutsche Advokatur ist nicht gestorben im deutschen Rechtswegestaat, sie hat sich vervielfacht, verstärkt. So sollen nun verfassungsrechtliche Gründe dargelegt werden, welche einen Dienststreik als solchen schon problematisch erscheinen lassen, aus der Person des „Gegners“ der Gewerkschaften heraus (i. Folg. II. bis V.), wie mit Blick auf den davon unabhängigen Streikbegriff als solchen (i. Folg. VI., VII.). Am Ende steht ein Lösungsvorschlag zum Ausbau der Schlichtung (i. Folg. VIII.). II. Streik im Öffentlichen Dienst: Arbeitskampf gegen den Gesetzgeber 1. Verbot des politischen Streiks – Verbot des Dienststreiks Seit einem halben Jahrhundert13 geht die h. L. unverändert von der Unzulässigkeit, ja Verfassungswidrigkeit eines Arbeitskampfes aus, der dann ein „politischer“ sei, wenn er sich gegen ein Verhalten von Verfassungsorganen richte, insbesondere des Gesetzgebers. Die Begründung dafür kann nur 13

Grdl. Kaiser, J. H., Der politische Streik, 1959.

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darin gefunden werden, dass die demokratisch, also durch Entscheidung des Volkssouveräns, legitimierten Staatsorgane nicht von einzelnen Gruppen der Gesellschaft unter Druck gesetzt werden dürften. Dann müsste dies aber folgerichtig auch für jeden Streik gegen ein Verhalten der „Staatsgewalt Exekutive“ gelten, ohne das jene Gesetze ja nicht umgesetzt werden können, also wirkungslos bleiben. Jeder derartige Druck auf die Hoheitsverwaltung müsste also „eigentlich ein politischer“ und damit ebenfalls verfassungswidrig sein. Und da zur Erfüllung von Hoheitsaufgaben nur „in der Regel“ Beamte eingesetzt werden müssen,14 dürften dort auch keine Angestellten am Dienststreik teilnehmen. Nachdem überdies der Verwaltung, insbesondere den Kommunen in der Daseinsvorsorge, ein Wahlrecht hinsichtlich der Formen der Aufgabenerfüllung zusteht, dürfte auch im Gesamtbereich der verwaltungsprivatrechtlichen Erfüllung von Staatsaufgaben nicht gestreikt werden. Die gesamte, oft einigermaßen gequält wirkende Diskussion über die „demokratische Legitimation der Exekutive“15 geht überdies doch davon aus, dass die Wirkung der demokratischen Wahl, welche das Parlament „druckfrei“ stellen soll, auch auf die Exekutive insgesamt durchschlägt; dann aber dürfte auch ein Streikdruck auf die Zweite Gewalt als solche nicht zulässig sein. Warum diese Folgerung nicht gezogen wird, bleibt unerfindlich. Schließlich ist die Abgrenzung zwischen Tarifvertragsfreiheit und gesetzgeberischer Regelungsbefugnis nach wie vor umstritten, wie sich bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und neuerdings in der Diskussion um gesetzliche Mindestlöhne zeigt. Das Abgrenzungskriterium der Aufrechterhaltung eines „Kernes der Tarifvertragsfreiheit“16 ist problematisch. Kann man – auf Dauer – von Gewerkschaften erwarten, dass sie auf Arbeitskampf gegen solche Gesetzgebung(sabsicht)en verzichten, im Namen des „Verbotes des politischen Streiks“? Ist das nicht unrealistisch, wie ein Blick über die Grenzen zeigt, etwa nach Frankreich oder Italien? Dieses Streikverbot wird rechtlich in der Praxis immer mehr zur Papierschranke, obwohl es doch auf dem verfassungsrechtlichen Grundprinzip der 14 Zu diesem „Funktionsvorbehalt“ des Art. 33 Abs. 4 GG vgl. Nachw. b. Jachmann, Art. 33 (Fn. 3), Rn. 30 ff. 15 Hier wird herkömmlich die ununterbrochene personelle Legitimationskette verlangt (grdl. BVerfGE 93, 37 (66 f.), die allerdings nicht nur durch die Kanzlerwahl, sondern auch durch (andere) Ernennungen und Bestellungen innerhalb der Exekutive gebildet werden kann, vgl. BVerfGE 47, 253 (275 f.), 77, 1 (40); 83, 60 (72). 16 Vgl. dazu allgemein-verbal BVerfGE 50, 290 (369); 58, 233 (258); doch jedenfalls der Kernbestand der materiellen Tarifvertragsfreiheit lässt sich rechtlich nicht überzeugend definieren, Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9, Rn. 302; ders., HbStR VI, § 151, Rn. 96; Löwisch, in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht Bd. 3, 1993, § 239, Rn. 45.

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Demokratie beruht und daher weithin konsensgetragen ist. Nach ihm darf es einen Dienststreik gegen das Parlament nicht geben. Sollte darüber in Gewerkschaften nicht nachgedacht werden? 2. Dienststreik gegen den Haushaltsgesetzgeber? Dass der Dienststreik kein „politischer“ und damit verboten sei, lässt sich verfassungsrechtlich, blickt man nun nicht auf die Zweite, sondern auf die Erste Gewalt, nur wie folgt begründen: Die Bezahlung des Tarifpersonals erfolge, anders als die Beamtenbesoldung, nicht „auf Grund eines Gesetzes“, sondern privatrechtlich im vertraglichen Gleichordnungsverhältnis, also richte sich der Streikdruck auch nicht gegen das Parlament als Gesetzgeber. Diese Argumentation lässt sich nur halten, wenn man die demokratische Legitimation des parlamentarischen Gesetzgebers auf die Gesetzgebung im materiellen Sinn beschränkt, die sog. rein formelle Gesetzgebung des Haushaltsrechts von jener grundsätzlich und vollständig arbeitsverfassungsrechtlich abschottet. Von der Unterscheidung zwischen materieller und Haushaltsgesetzgebung ist zwar auszugehen,17 höchst problematisch ist es jedoch, unter Berufung auf sie den Dienststreik zu legitimieren. Die demokratische Legitimation des Parlaments durch Wahlen bezieht sich ebenso auf materielle wie formelle Gesetzgebung. Für Bürger wie Gemeinschaft als solche ist es ebenso wichtig, dass über Straf(rahm)en nur vom Gesetzgeber entschieden werden darf, wie auch dass dieser die gesamte Wirtschaftspolitik über öffentliche Haushalte durch souveräne Entscheidung beeinflusst, ja lenkt, dabei nicht unter den Druck privater Interessenverfolgung gesetzt werden darf. Besonders bedeutsam ist dies gerade im Haushaltsrecht, das ja historisch weithin der Ausgangspunkt aller parlamentarischen Rechte war. Nur daraus rechtfertigt sich letztlich die Unterscheidung zwischen Gesetzgebung im materiellen und im formellen Sinn, dass es letzterer gegenüber auch im Rechtsstaat keine Ansprüche des Bürgers geben darf. Hier sollen allein und unbeeinflusst der Gesetzgeber und eine ihm verantwortliche Zweite Gewalt entscheiden. Gerade dies aber wird durch einen Dienststreik beeinflusst, der sich gegen beide richtet. Die Unterscheidung zwischen formeller und materieller Gesetzgebung spricht also, bei näherem Zusehen, gerade gegen die Zulässigkeit eines Dienststreiks. Die öffentlichen Bediensteten in Bund und Ländern können aber nur – unter Streikdruck – dann höher bezahlt werden, bessere Arbeitsbedingungen 17 Zur Unterscheidung Kisker, HbStR IV, § 89, Rn. 25. Allerdings ist bereits erkannt, dass sich diese Unterscheidung auf die normative Bindung, d. h. eben auf die möglichen Ansprüchlichkeiten aus dem Gesetz beschränkt, vgl. Jarass/Pieroth, GG, 6. Aufl. 2002, Art. 110, Rn. 14 f. m. Nachw.

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erhalten, wenn die jeweiligen Parlamente dafür die erforderlichen Mittel bereitstellen, die gesetzgeberischen Haushaltsentscheidungen treffen. Den Kommunen müssen durch ebensolche Entscheidungen die nötigen Mittel bewilligt werden, oder sie haben ihrerseits als Gesetzgeber (Gewerbesteuer) für deren Aufkommen zu sorgen. Warum diese zentralen Entscheidungen der Volksvertreter unter Streikdruck erfolgen dürfen, ist also unbegründbar. Die Unterscheidung zwischen materieller und formeller Gesetzgebung dient doch gerade dem Ziel, das Haushaltsgebaren des Staates von Bürgerforderungen freizustellen – und nun sollen sich gerade diese, und in der härtesten Form des Streiks, gegen den Haushaltsgesetzgeber richten dürfen? Dies lässt sich auch nicht mit dem Argument rechtfertigen, die Verfassung sehe dies eben in Art. 9 Abs. 3 GG vor, durch ihren allgemeinen Schutz der Tarifvertragsfreiheit. Das Verbot des „politischen Streiks“ stützt sich unmittelbar auf Demokratiegebot und Parlamentarismus im Rahmen der Gewaltenteilung. Diese Prinzipien stehen normativ höher als jede Tarifvertragsfreiheit, von der lange Zeit noch nicht einmal angenommen wurde, dass sie den Schutz der Streikfreiheit einschließe. Ein Blick auf Art. 79 Abs. 3 GG zeigt all dies deutlich. Der Dienststreik lässt sich also in der Sicht des Demokratiegebots und der Rechte des parlamentarischen Gesetzgebers nicht rechtfertigen. Rechtliche Konstruktionen können hier leicht zu legitimationsentleerenden Kunstgriffen werden. Auch wer den vorstehenden Überlegungen nicht zustimmt, wird doch zugeben: Dienststreikende bewegen sich verfassungsrechtlich auf schwankendem Boden. Früher oder später werden ihnen demokratiebewusste Bürger im Namen der Staatsform entgegentreten – wenn sie auch nur einen Schritt zu weit gehen. III. Streik gegen den „unendlich reichen Staat“ 1. Grenzenlose Besteuerungsgewalt – leere Kassen? Der Dienststreik richtet sich gegen einen Vertragspartner, der rechtlich gesehen, „unendlich reich“ ist, kann er sich doch grundsätzlich alle Mittel, die er braucht, durch die Abgabengewalt des Steuerstaates18 nach Verfassungsrecht beschaffen – jederzeit. Dem steht auch der Europäische Stabilitätspakt nicht entgegen, das Gemeinschaftsrecht jedenfalls solange nicht, wie die direkten Steuern im Wesentlichen noch mitgliedstaatlicher Entscheidung unterliegen. 18 Zum Steuerstaat vgl. dazu f. viele Isensee, Der Steuerstaat als Staatsform, FS f. H. P. Ipsen, 1977, S. 409 ff.

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Von diesem potentiell „unendlichen Staatsreichtum“ ist die Lehre vom internrechtlich souveränen Staat völker- und verfassungsrechtlich stets ausgegangen. Der gängige Einwand, diese Besteuerungsgewalt finde doch ökonomische und zugleich politische Schranken an den Grenzen der Besteuerungsgrundlagen, ist, jedenfalls einem Dienststreik gegenüber, unbehilflich: So viel, wie Vertragsbedienstete des Öffentlichen Dienstes verlangen können, vermag die Politik dem Staat jedenfalls zu jeder Zeit ohne weiteres zu beschaffen. Faktisch-ökonomische Unmöglichkeit gibt es hier nicht, sie ist, ganz offensichtlich, nur ein Vorwand, der das politische Unvermögen der demokratisch Verantwortlichen verdecken soll. Wer so argumentiert, müsste das doch konsensgetragene Gewaltmonopol des Staates19 ebenfalls aufgeben – nur weil es sich nicht durchhalten lässt gegenüber einer Gewalt, zu der riesige Bürgermassen revolutionär bereit sind. „Leere Kassen“ sind, ganz allgemein, nur faktische Grenzen der Staatsgewalt, die rechtliche Allmacht des Staates heben sie nicht auf, ebenso wenig dessen grundsätzlich unendlichen Reichtum. Jenseits dieser „Theorien-Probleme“: De facto können eben immer genug Mittel gefunden werden, um Forderungen der Staatsbediensteten zu erfüllen; darauf beruht ja die gesamte Gewerkschaftspolitik. Abwegig ist der Einwand, „der Bürger“ werde dies verhindern: Das wären unzulässige Staatseinwände aus den Rechten Dritter, von denen noch nicht ansatzweise bekannt ist, ob sie ausgeübt würden. Wenn dies geschähe, so müssten allenfalls Politiker ihre Stühle räumen, der „Schuldnerstaat“ der Bediensteten bliebe immer solvent. 2. Streik gegen den „stets solventen Staat“? Der Dienststreik richtet sich also gegen einen grundsätzlich und stets voll solventen und risikolos zahlungsfähigen Gegner. Dies aber war nie der Sinn eines Arbeitskampfes, es widerspricht dessen grundlegender Begrifflichkeit. Der Streik ist entstanden als Druckmittel gegen einen Vertragspartner, der hier ebenso Risiken tragen soll wie die Streikenden – bis hin zum Zusammenbruch des Unternehmens bzw. dem Verlust des Arbeitsplatzes. Diese Fernrisiken müssen und sollen in der Regel nicht eintreten, doch ihre Existenz legitimiert in Fernwirkung den ganzen Arbeitskampf in jedenfalls grundsätzlicher Parität, auch wenn dies faktisch nicht gleiche Durchsetzungsstärke bedeutet.20 (Annähernd) vergleichbare „Fühlbarkeit“ muss eben doch gegeben sein. Beim Staat als solchem, als Vertragspartner, fehlt diese Fühlbarkeit vollständig, er wird weiter bestehen, will man nicht von dem 19

Dazu m. Nachw. Leisner, Walter, Demokratie – eine „friedliche Staatsform“? Zu Friedenspflicht und Gewaltmonopol im Inneren, JZ 2005, 809 (812 ff.) 20 Parität bedeutet nicht gleiche Durchsetzungsstärke der Kämpfenden, vgl. dazu Kemper, Art. 9 (Fn. 2), Rn. 250.

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nun wirklich theoretischen Fall des „Staatskonkurses“ oder der „Staatskrise“ ausgehen. Dass sein Führungspersonal vielleicht unter Streikdruck gehen muss, ist kein wirkliches Arbeitgeberrisiko, eben so wenig wie sich ein Streik nur gegen Personen eines Vorstandes richtet. Geht man aber davon aus, dass das Streikrisiko auf Arbeitgeberseite der Bürger trägt, und zwar nicht nur wirtschaftlich, sondern auch rechtlich, so endet man beim Arbeitskampf gegen den Volkssouverän, beim „Streik gegen den Bürger“. Gegen diesen Letzteren aber verwahren sich die Gewerkschaften nachdrücklich und verständlicherweise, ein Kampf gegen den Souverän würde ihren Aktionen offen den Stempel der Verfassungswidrigkeit aufdrücken. Es lässt sich also eine Klippe nicht umschiffen: Dem Dienststreik gegen den unendlich reichen Staat kommt begrifflich der Gegner abhanden; seine Vertreter müssen sich fragen lassen, ob dieses Vorgehen faktisch, wie eben auch rechtlich, überhaupt noch mit dem Begriff des Streiks vereinbar ist. Streik ist nach der Verfassung ein Kampf um Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen (Art. 9 Abs. 3 GG), zwischen den Koalitionen und also auch zwischen deren Mitgliedern. Dazu gehören Gewinnchancen und eben auch Risiken für beide Seiten. Sind sie im Dienstkampf auch nur annähernd ebenso verteilt wie bei anderen Arbeitskämpfen, ist jener also „wirklich ein Streik“, denaturiert er nicht den gesamten Streikbegriff? IV. Streik und „Verteilung des Kuchens“ – Arbeitskampf gegen den „gemeinnützigen Staat“? Streik ist Kampf von Kapital und Arbeit um die Verteilung gemeinsam erwirtschafteten Profits; so ist er entstanden, nur so erscheint er in der Politik, der Allgemeinheit, jedem einzelnen Bürger als legitime Waffe. Wer diese Basis verlässt, zerstört jede Legitimation des Arbeitskampfes, er ist dann nur mehr Vertragsbruch. Wo aber ist der „Profit des Staates“, den der Dienstkampf verteilen möchte? Faktisch gibt es ihn nicht, wenn die Kassen leer sind; rechtlich darf es ihn gar nicht geben, nachdem die öffentlichen Träger ex definitione gemeinnützig sind im Sinne der Abgabenordnung (§§ 51 ff. AO). Ein Streik gegen Gemeinnützige ist begrifflich ein Widerspruch in sich. Sie können ihren Bediensteten nur geben, was sie denen vorenthalten, an welche sie jeden Gewinn abzuführen haben: also der Allgemeinheit, deren (öffentlichen) Interessen (§ 52 Abs. 1 AO). Damit ist der Dienststreik nichts als ein Kampf von privaten Partikularinteressen gegen die der Allgemeinheit. Diese unausweichliche Folgerung ist für die Gewerkschaften des Öffentlichen Dienstes gefährlich: Wiederum macht sie nicht nur deutlich, dass

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sich ihre Aktionen im Grunde eben doch unmittelbar gegen den Bürger richten, gegen die Allgemeinheit, und dass erneut der Streikbegriff hier als solcher ins Zwielicht gerät, weil es eben keinen Profit gibt, damit auch nichts zu verteilen. Darüber hinaus zeigt sich der Dienststreik auch noch als eine Aktion, die sich, zumindest partiell, sogar noch gegen die Streikenden selbst richtet: Sie sind als Bürger von Leistungsausfällen betroffen, müssen als Steuerzahler jedenfalls anteilig ihre Vorteile selbst finanzieren. Gegen diese vor allem politisch unerfreulichen und delegitimierenden Einwände lässt sich rechtlich allenfalls Folgendes einwenden: Im Dienstkampf gehe es ja nur um gerechtfertigte Erhöhung der Staatskosten für Arbeitsleistungen. Kostendeckend arbeiten dürften aber auch Gemeinnützige; daher müssten sie legitime Arbeitskosten zahlen, ihre privaten Bediensteten dürften darum kämpfen. Doch auch dieses Gegenargument schwächt den Einwand der Unzulässigkeit eines Streiks gegen den Staat als die große gemeinnützige non profit-Organisation nicht entscheidend ab. Gewiss darf jeder private Vertragspartner mit dem Staat als Gegenspieler um Vertragsbedingungen rechten, die „Zwangsschlichtung des Richters“ anrufen. Die Streikfreiheit ist aber demgegenüber ein rechtliches aliud: Sie ist private Gewalt, eine Art von Selbstjustiz. Legitim ist sie von jeher – aber auch nur – gegen einen Partner, der ebensolche private, „kapitalistische“ Interessen in seinem egoistischen Profitstreben verfolgt; und gerade dieses Druckmittel soll nun auch gegen den demokratisch geleiteten Staat angewendet werden, der gar kein privater Profiteur ist? Kann dies noch Begründungskraft ziehen aus den rechtlichen und letztlich moralischen Wurzeln des Streikrechts? V. Dienststreik – ein Zwang des Gegners in den „privaten Staat“ 1. Privatisierungen – eine Gefahr für Dienstgewerkschaften Die öffentlichen Arbeitgeber haben den Gewerkschaften vorgehalten, mit ihren Aktionen zwängen sie ihre Arbeitgeber immer nur zu weiteren Privatisierungen, damit zum Abbau von Arbeitsplätzen im Öffentlichen Dienst, für deren Erhalt sie gerade zu streiken vorgäben. Ob dies ein durchschlagendes gesamtwirtschaftliches Argument gegenüber gerade den Dienstgewerkschaften ist, mag hier offen bleiben. Aus gesamtgewerkschaftlicher Sicht könnte ihm entgegengehalten werden, Arbeitsplätze entstünden dann bei privaten Leistungsanbietern, deren Bedienstete von denselben Gewerkschaften vertreten würden. Allerdings würden diese dann nicht mehr auf Gewerkschaftsmitglieder als Arbeitgeber am Verhandlungstisch treffen, sondern auf harte, private Profiteure, und die Großstreiks

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im Öffentlichen Dienst würden sich in Kleinaktionen mit weit geringerem Druckpotential auflösen. Arbeitspolitisch ist dies sicher eine wirksame Drohung gegen die Gewerkschaften: Jedenfalls entfiele, zumindest teilweise, die „Mauerbrecherwirkung“ der Dienststreiks für den gesamten öffentlichen Sektor, es könnten nicht mehr die Ergebnisse von Tarifverhandlungen, wie bisher, „einfach auf Beamte umgelegt“ werden. Die Pilotwirkungen, deren sich die Dienstgewerkschaften berühmen durften, für alle abhängigen Beschäftigten, würden sich wesentlich abschwächen. Ihre Position innerhalb der Gesamtbewegung der Gewerkschaften wäre nicht mehr die gleiche wie bisher. Und Flächentarife im Öffentlichen Dienst würde es nicht mehr geben wie bisher, was wohl nicht ohne Auswirkung bleiben würde auf eine gewerkschaftliche Zentralforderung. All dies sind Gefahren für die Gewerkschaften, nicht notwendig für „das Streikrecht“ als solches. Mit streikbedingten Privatisierungen würde dessen Legitimation insoweit vielleicht gar gewinnen, als dann private Unternehmensbereiche entstünden, welche die Voraussetzungen der Gegnerschaft und des Streikbegriffs eher erfüllen könnten als „der Staat“ als solcher. „Den Streik im Öffentlichen Dienst“ würde es allerdings in bisheriger Form nicht mehr geben. 2. „Privater Staat“ und Gewerkschaftsfreiheit Mit dem „Druck zu Privatisierungen der Staatstätigkeit“ können so die Gewerkschaften Rechtspersönlichkeit(en) und Organisation ihrer Gegenseite verändern. Damit üben sie nicht unerheblichen Einfluss auf die Staatsorganisation aus, auf die grundsätzliche rechtliche Struktur des verfassten Gemeinwesens, insbesondere in dessen zentralem Aufgabenbereich der Daseinsvorsorge. Schon jetzt zwingen ihre Dienstkämpfe die Staatsverwaltung zu einer fortlaufenden „Verbetriebswirtschaftlichung“ ihres Verhaltens und ihrer Argumentationen. Wenn der „Staat als Privater“ auftreten muss gegenüber seinen ökonomisch wichtigsten Vertragspartnern, so kann dies nicht ohne Einfluss bleiben auf die Grundstimmung im Öffentlichen Dienst- und Organisationsrecht. Es leistet dies mit Sicherheit einer gewissen Ökonomisierung des Staates und der öffentlichen Interessen Vorschub, die sich ohnehin im Zuge der Globalisierung und der Vernetzungen, der Joint Ventures und der Public Private Partnership laufend verstärkt. Bemerkenswert ist allerdings, dass es gerade stets gewerkschaftliche und ihnen nahestehende politische Kräfte waren, welche solchen Entwicklungen kritisch gegenüber standen; nicht zu Unrecht fürchteten sie eine Schmälerung von Beschäftigtenrechten, wenn nicht mehr von ihnen politisch zu beeinflussende Arbeitgeber im Öffent-

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lichen Dienst ihre Schutzmaßnahmen begünstigten oder ja vorwegnahmen. Schließlich konnte ja auch nicht gerade die Gewerkschaftsmacht Privatisierungen mit der politischen Kraft einer Sozialdemokratie fördern, welche immer auch soziale Ziele mit politisch-parlamentarischen Mitteln zu erreichen versucht hat. Die Gewerkschaften müssen also auch die politischen Wirkungen eines Dienstkampfes bedenken. VI. Weite, undifferenzierte Tätigkeitsbereiche als Felder des Arbeitskampfes? 1. Streik – wesentliche Verteilung von bestimmbaren Produktivitätszuwächsen Die bisherigen Betrachtungen betrafen die Rechtspersönlichkeit des staatlichen Gegners beim Dienstreik. Zu berücksichtigen sind aber auch die sachlichen Tätigkeitsbereiche, auf die er sich bezieht und die Wirkungen des Arbeitskampfes auf sie. Zum Begriff des Streiks behört, wie bereits dargelegt,21 die Vorstellung von der Verteilung eines „Kuchens“, eines gemeinsamen „Produktivitätserfolges“. Man mag diesen Begriff noch so weit fassen – inhaltlich unterscheidet er sich immer noch von einem Kampf nur um Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, unter denen andere leben, oder gar die Allgemeinheit als solche. Eine Forderung nach Anhebung des Lebensstandards der öffentlich Bediensteten unter Hinweis nur auf Letzteres widerspricht dem Streikbegriff; und hier liegt auch der zutreffende Kern der von Arbeitgebern und politischen Kräften stets vertretenen These, die einzelbetrieblichen Produktivitätsverhältnisse müssten in den Einzelbetrieben jedenfalls berücksichtigt werden.22 Die Gewerkschaften pflegen denn auch ihre Hinweise auf Veränderungen des allgemeinen Lebensstandards stets mit solchen auf Produktivitätszuwächse in der (gesamten) jeweiligen Branche zu verbinden; dies ermöglicht ihnen jenen Vergleich, auf Grund dessen sie dann geltend machen, auch die einzelnen Betriebe könnten „jedenfalls das flächentariflich von ihnen geforderte Minimum“ ihren Bediensteten gewähren.

21

Vgl. oben IV. Dies unterscheidet die Tarifforderungen von denen aus einer Beamtenalimentation, die an die Entwicklung der allgemeinen Lebensverhältnisse anschließt, vgl. BVerfGE 8, 1 (14 ff.); 71, 39 (62 f.); 83, 89 (98), std. Rspr. 22

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2. Arbeitskampf – auf spezifische Produktivitätszuwächse, damit auf gewisse Tätigkeitsbereiche gerichtet Die begriffliche Verbindung von „Streik und Verteilung der Produktivitätszuwächse“ im Unternehmen setzt nun aber eine bestimmte Größe und Form des zu verteilenden Kuchens voraus. Sie lässt sich jedoch überzeugend nur bestimmen, wenn sie auf bestimmte Tätigkeiten bezogen bleibt. Dies verlangt doch eine gewisse Branchenspezifizität der zu bestreikenden Unternehmensaktivität. Die Gewerkschaften tragen dem auch traditionell zumindest durch die Aufteilung in einzelne Industriegewerkschaften Rechnung. Durch deren Fusionen, mehr noch durch die immer weiteren Anwendungsbereiche der Flächentarife hat sich die Spezifizität auf sektorale Tätigkeit bezogener Arbeitskämpfe zwar nicht unerheblich abgeschwächt, dennoch findet sie noch immer vor allem in den Beschränkungen zulässiger Sympathiestreiks ihren Ausdruck.23 Und eine von „Fusionitis“ erfasste Arbeitsgeberseite muss es hinnehmen, dass u. U. großen Konzernen der Arbeitskampf droht, obwohl sie ganz Unterschiedliches produzieren, obwohl „gänzlich verschiedene Kuchen“ zu verteilen sind. Dennoch und noch immer nimmt hier „der Öffentliche Dienst“ als solcher insoweit eine Sonder-, ja eine Extremposition ein, als hier zahlreiche und vollständig heterogene Tätigkeitsfelder, „Produkte“ (und) insbesondere Dienstleistungen bestreikt werden. Da fragt es sich nun doch, ob es noch mit dem Streikbegriff vereinbar ist, dass für Müllmänner und Ärzte, Ingenieure und Sozialarbeiter dieselben Ansprüche durchgesetzt werden sollen, überdies über im Öffentlichen Dienst besonders, meist hierarchisch ausgeprägte, „vertikale“ Unterschiede zwischen den Bedienstetenkategorien hinweg. Deutlich wird darin auch, dass sich eben der Streik gar nicht gegen einen „Gegner“ richtet, sondern gegen eine Allgemeinheit, die erst den eigentlichen Druck auf den Arbeitgeber ausüben soll. Dieser extrem, ja nahezu völlig „unspezifische“ Streik wirft auch rechtlich die Frage auf, ob er nicht schon deshalb eine Sonderbehandlung verdient – wenn man ihn denn noch als Arbeitskampf anerkennen will – weil es hier um einen so gänzlich anderen „Kuchen“ geht als in den übrigen möglichen Bereichen von Arbeitskämpfen. Dass in Schulen durchgesetzt werden soll, was Polizeibediensteten nützt – hat das noch etwas zu tun mit einer ursprünglichen Streikkonzeption, entfernt es sich von ihr nicht so weit, dass doch Spezifizität der Streikbereiche anzumahnen wäre, vielleicht auch besondere Formen der Auseinandersetzung, die stärker auf Produktions- und Dienstleistungsbereiche ausgerichtet sind? Verliert sonst der 23 Vgl. dazu grdl. BAGE 48, 160 (168 ff.); Scholz/Konzen, Die Aussperrung, 1980, S. 243 ff.

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Arbeitskampf nicht eine Sachlichkeit, die ihm allein sein Aktivitätssubstrat sichert? VII. Der Dienststreik – eine Macht zu groß, um eingesetzt zu werden Qui nimis probat, nihil probat – zu scharfe rechtliche Waffen werden stumpf, am Ende aus der Hand geschlagen; allzu großer Macht stellt sich demokratisches Misstrauen in den Weg, im Namen stets zu beschränkender Gewalt, insbesondere der des Staates. Der Dienststreik ist ein Instrument, das, vollständig eingesetzt, alles nicht nur stören, sondern zerstören kann: Bürgerleben, Volkswirtschaft, Staat. Dies bedarf keines Beleges. Der Dienststreik kann nur funktionieren, weil er weithin nicht funktionieren darf. Kleine Zentren können alles lahm legen, Beamteneinsatz kann das nicht (mehr) verhindern, im Zeitalter der Vernetzungen. Dem Verhältnismäßigkeitsgebot lässt sich auch hier eine Schranke nicht entnehmen.24 Mit Notdiensten funktioniert letztlich schon kein Krankenhaus auf Dauer, sicher nicht „der Staat“. Wenn die Gewerkschaften dies nicht nur vorsehen können,25 sondern faktisch-politisch organisieren müssen, so kann ihnen dies zur schweren Gefahr, am Ende zum Verhängnis werden: Sie dürfen Instrumente nicht einsetzen, die ihnen aber eine Rechtsordnung zuerkennt, welche sie ja nicht an Gemeinwohlbelange binden will. Wie sollte sie auch solche Grenzen abstecken: Akute Lebens- oder Gesundheitsgefahren lassen sich nicht sachgerecht bestimmen; ein um wenige Wochen zu spät entdecktes Carcinom kann tödlich sein. Wirtschaftliche Existenzvernichtung ist nicht selten Folge eines gescheiterten Großauftrags, einer verspätet eingegangenen Zahlung. Jedenfalls wenn das öffentliche Leben still steht, kann kein wirtschaftender Mensch mehr „ausweichen“, was ihm gegenüber einem Arbeitskampf gegen Private schon schwer genug, aber immer noch weithin möglich ist. Bedrückend ist es für die Gewerkschaften des Öffentlichen Dienstes, dass sie ihre nahezu grenzenlose Macht nur in homöopathischen Dosen einsetzen dürfen. Was sie könn(t)en, aber nicht dürfen, das muss bei ihnen, wie allenthalben, zu schwerstwiegenden Frustrationen führen – diese inhibierte Macht. Regeln in Ehren – aber wer im Ring immer nur mit Zehntelkraft schlagen darf, wird ihn bald verlassen; und grundsätzlich: eine dergestalt unabsehbar, undefinierbar gefesselte Rechtsmacht ist als solche pervertiert. Das Recht kennt nur definierbare Schranken – die des Dienststreiks sind es 24

So überzeugend Kemper, Art. 9 (Fn. 2), Rn. 254 m. zahl. Nachw., gg. die std. Rspr. des BAG. 25 Die Streikrechtsordnung beschränkt sich darauf, vgl. Otto, H., Münchener Hdb. z. ArbR, 1993, § 278, Rn. 137.

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nicht. Wer sich selbstständig so unabsehbar beschränken muss – was bleibt ihm an Macht? Weit mehr noch: Die „Notdienste“ drohen zum Menetekel zu werden für allen Arbeitskampf, ihn nicht nur im Öffentlichen Dienst entscheidend zu schwächen. Heute beeinträchtigen sie die Durchsetzung bereits auch gegenüber Privaten: Zentrale Rechenanlagen darf man in einem größeren Konzern nicht lahm legen, die eigentlich scharfen Waffen nicht einsetzen. Je mehr im Öffentlichen Dienst gestreikt wird, desto stärker wird sich eine „Notdienst-Mentalität“ im gesamten potentiellen Streikbereich verbreiten. Den Gewerkschaften droht eine vor allem psychologische unabsehbare Schwächung, der offene, harte Arbeitskampf degeneriert zur listigen Stichelei, in gekonntem Strategiewechsel. All dies mag es stets gegeben haben, doch mit großen Dienststreiks drohen hier Dimensionen, welche die Gewerkschaften bedrohen und ihr Streikrecht. VIII. Obligatorische Schlichtung – im Öffentlichen Dienst ein Weg zur Sicherung der Gewerkschaftsfreiheit Gerade im Öffentlichen Dienst sind die Gewerkschaften einem Zustand nahe, in dem sie „vor lauter Kraft bald nicht mehr gehen können“. All diejenigen, welche ihre legitime Aufgabe in Staat und Gesellschaft bejahen – gerade sie – sollten daher darüber nachdenken, wie eines vermieden werden kann: dass sich die Gewerkschaften durch allzu viel Machteinsatz selbst delegitimieren. Die ständigen Maßhalteappelle an ihre Verantwortlichkeit, und deren Beteuerungen auf Gewerkschaftsseite, wirken auf Dauer ermüdend, immer weniger überzeugend. Eine Rechtsordnung, welche Gewerkschaftlichkeit überzeugt bejaht, muss sie vor Selbstzerstörung schützen. Der Dienststreik eröffnet dafür ein überzeugendes Reformfeld. Gerade hier, wo es einen „ganz besonderen Gegner“ zu bekämpfen gilt, wo der eigentliche Druck nicht auf ihn stattfindet, sondern auf den Volkssouverän, verlangt die Staatsform der Demokratie nüchterne Überlegungen, ob dem nicht durch ein besonderes, obligatorisches Schlichtungsverfahren Rechnung zu tragen ist, von dessen Berechtigung und Wirksamkeit auch die öffentlichen Bediensteten überzeugt werden könnten. Hier soll nicht die gesamte Problematik der Zwangsschlichtung aufgerollt werden: Gerade damit sie nicht überall kommt, sollte ein obligatorisches Einigungsverfahren im Dienstbereich als ultimissima ratio eingesetzt werden. Dazu sei hier nur eine grundsätzliche Überlegung beigetragen. Die Bürger der Demokratie gestalten ihr Leben in Freiheit, Diskussion, Meinungsund Interessenkampf – und doch unterwerfen sie sich, gerade in Deutschland, weit mehr noch als anderswo, dem Letzten Wort der Richter,26 in

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überaus wichtigen, geradezu zentralen gesellschaftlichen und rechtlichen Fragen. Für die Sozialpartner gilt dies eher mehr noch als für andere Rechtsgenossen: Sie haben sich einbinden lassen in das enge, vielmaschige Netz judikativer Regelungen des Arbeits-, nicht zuletzt des Streikrechts. Gerade deshalb, und aus dem verdienten Prestige der deutschen Gerichtsbarkeit, ist der soziale Friede befestigt worden. Gewiss muss eine nicht leichte Balance hier gehalten werden, zwischen diesen letzten Worten des Rechts und der demokratischen Dynamik. Dies könnte jedoch auch dadurch geschehen, dass in einem Bereich wie dem Dienstrecht, wo sonst allzu viel Macht zerstörerisch – für und gegen die Gewerkschaften – eingesetzt würde, ein letzter Schieds-Richterspruch über Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen entscheidet, wenn eine freie Tarifeinigung endgültig in Gefahr ist. Fristen- und Verfahrensregelungen könnten diesen Spruch nun wirklich zur allerletzten Notbremse werden lassen. Der Richterbank könnte ein hoher, turnusmäßig wechselnder Richter vorsitzen, zwei neutrale Experten der Volks- und Betriebswirtschaft und jeweils weitere zwei Beisitzer, benannt von den Sozialpartnern, könnten ihr angehören. Ein solches Gremium würde auf Grund der bisherigen Verhandlung(sposition)en der Tarifpartner und eigener Sachkunde entscheiden. Die Gewerkschaften vor allem könnten hier in eine neue Dimension ihrer Kompetenz und Repräsentativität hinein wachsen, als Advokaten der Beschäftigten mit ihren Gründen überzeugen. Und der Bürger würde nicht mehr als „Druckhelfer“ der einen oder anderen Seite instrumentalisiert. Die Besonderheiten des Dienststreiks, wie sie hier geschildert wurden, sind so bedeutsam, dass verantwortliche Gewerkschaften dies hinnehmen könnten – damit es nicht eines Tages, in einem total vernetzten und daher von Selbstzerstörung bedrohten Wirtschaftsrecht, zur ganz harten allgemeinen Zwangsschlichtung generell kommen muss. Die Deutschen sind es gewohnt, sich dem Richterwort zu beugen, damit sind sie gut gefahren. Lösungen haben sie hier hingenommen, die sie von ihrem Parlament vielleicht nie akzeptiert hätten. Eine solche Schlichtung würde sicher Wirkungen auch für andere Bereiche des Arbeits- und Wirtschaftslebens zeitigen – doch wäre dies ein so negativer Effekt, nicht doch ein Element rechtlicher Beruhigung? Wer so viel redet von „sozialer Gerechtigkeit“ sollte sich daran erinnern, dass noch immer die Gerechtigkeit in letzter Instanz Richtern anvertraut ist. Und könnte dann nicht die Volksherrschaft, in ihrem Öffentlichen Dienst wenigstens, überzeugt am Ende sagen, nach langen fruchtlosen Verhandlungen: „Et encore une fois: Justice sociale est faite“? 26

Dazu Leisner, Walter, Der Richter späte Gewalt, 2004.

Eigentum und Staatsgewalt in der staatsrechtlichen Diskussion des 17. und 18. Jahrhunderts Von Christoph Link I. „Die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG nennt und konstituiert unbestrittenermaßen eine der zentralen Grundentscheidungen sozialer Rechtsstaatlichkeit“. Mit diesem Satz hat Rupert Scholz vor 25 Jahren eine tiefdringende, kritische Analyse des damaligen Problemstandes der verfassungsrechtlichen Eigentumsdogmatik eingeleitet.1 Er verweist auf den gesellschaftlichen Wandel des Eigentumsverständnisses,2 mahnt aber zugleich, die Verfassungsgarantie des Privateigentums stehe „– zumindest in den Konsequenzen – generell auf dem Spiel, wenn sich das Bewusstsein für die soziale Pflichtigkeit des Eigentums und damit die Bereitschaft zur Akzeptanz eigentumsbeschränkender Staatsmaßnahmen verflüchtigen sollte“3. Damit benennt Scholz ein zeitloses Problem. Die Diskussion um Schutz und Beschränkung des Eigentums begleitet die Herausbildung des „Modernen Staates“ seit der frühen Neuzeit. Hier werden schon sehr früh zukunftsweisende Konzeptionen und Rechtsfiguren entwickelt und es ist keineswegs so – oder mindestens eine arge Verkürzung der komplexen historischen Wirklichkeit –, dass erst die Französische Revolution „die entscheidende Eigentumszäsur gegenüber einer vom gestuften Feudaleigentum geprägten Vergangenheit“ gebracht habe.4 II. Eigentum und seine Schutzbedürftigkeit im Gemeinwesen haben für das abendländische Staatsdenken seit jeher eine besondere Bedeutung. Beides ist natürlich Teil der Geschichte europäischer Grundrechtsentwicklung, geht aber zugleich weit darüber hinaus. Bekanntlich besteht für John Locke der 1 Identitätsprobleme der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie, NVwZ 1982, S. 337–349 (337). 2 Ebda. S. 349. 3 Ebda. S. 345. 4 So aber Leisner, W., Eigentum, in HStR Bd. 6, 1989, § 149, Rdnr. 28.

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Zweck aller staatlichen Gemeinschaft im Schutz von Leben, Freiheit und Eigentum.5 Denn allein die Sicherung dieser im vorstaatlichen Naturzustand prekären Rechtsgüter bewegt die Menschen zur Staatsgründung6. Eigentum ist also konstituierendes Element der Staatlichkeit und wird ein Jahrhundert später gar mit dem Attribut der Heiligkeit ausgestattet: Droit inviolable et sacré (Art. 17 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte7). 1. Eigentum und Herrschaft a) Indes bildet sich insbesondere auf dem Kontinent eine eigene Eigentumsdogmatik heraus, die Grundlinien der späteren verfassungsrechtlichen Gewährleistungen vorzeichnet. Ausgangspunkt ist die – im Einzelnen unscharfe – Verbindung von Eigentum und Herrschaft im Begriff des „dominium“; sie beschreibt lange eine soziale Realität und gibt ihr die rechtliche Form: Eigentum ist nicht nur Sachherrschaft, sondern Grundeigentum vermittelt auch Personalherrschaft über die ansässigen Bauern, einschließlich der Gerichtsgewalt (Patrimonialgerichtsbarkeit) und ortsobrigkeitlicher Befugnisse.8 Dieser offene, auch beschränkt dingliche Rechte umfassende mittelalterliche Eigentumsbegriff – überlagert von den eigentumsrechtlichen Elementen der Lehnsordnung – bildete also zugleich die gesellschaftliche 5 Locke, J., Two Treatises on Government (1690), Ed. Laslett, P., 1960, II §§ 123–127. – Freilich umfasst Property hier nicht nur das Sacheigentum, sondern auch das geistige Eigentum und – wegen der unlöslichen Verbindung von Eigentum und Arbeit (als dessen Grundlage und Ergebnis) – auch Arbeitskraft und Fähigkeiten, zudem den Inbegriff aller Vermögensrechte – geht also über den zivilrechtlichen Eigentumsbegriff weit hinaus (Rittstieg, H., Eigentum als Verfassungsproblem, 1975, S. 72 ff.; Zippelius, R., Geschichte der Staatsideen, 7. Aufl. 1990, S. 120 und allg. Häberle, P., Vielfalt der Property Rights und der verfassungsrechtliche Eigentumsbegriff, AöR 109 (1984), S. 36 ff./39 ff.). 6 Scheuner, U., Die Garantie des Eigentums in der Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte, jetzt in: ders., in: Listl, J. und Rüfner, W. (Hrsg.), Staatstheorie und Staatsrecht, 1978, S. 775 ff. (780 f.). 7 Abgedr. in Willoweit, D./Seiff, U., Europäische Verfassungsgeschichte, 2003, S. 250 ff. (254), weitere Nachw. zu frühen Verfassungstexten bei Häberle, Vielfalt (Fn. 5), S. 53 f., Anm. 48; dazu auch Dietlein, J., Die Eigentumsfreiheit und das Erbrecht, in: Stern, K. i. V. m. Sachs, M. u. Dietlein, J., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI, 2006, § 113/S. 2114 ff. (2153 f.). 8 Hagemann, H.-R., Art. „Eigentum“, in: Erler, A./Kaufmann, E. (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG), Bd. 1, 1971, Sp. 882 ff. (888); Schulze, H. K., Art. „Dominium (öffentl.-rechtl.)“, ebda. Sp. 754 f.; Ogris, W., Art. „Dominium (privatrechtl)“, ebda. Sp. 755 ff. (757); Schwab, D., Eigentum, in: Brunner, O./Conze, W./Koselleck, R. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, 1979, S. 65 ff. (68 f.); Conrad, H., Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 1, 1962, S. 427 ff.; Rittstieg, Eigentum (Fn. 5), S. 2 ff.; Kimminich, O., Bonner Kommentar zum GG (2003), Art. 14, Rdnr. 4 ff.

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Schichtung ab. Er erfuhr indes durch die Rezeption des Römischen Rechts bald eine Umformung und Präzisierung im Sinne eines abstrakten, auf die volle und unbeschränkte Sachherrschaft gerichteten Rechts und unterschieden von sonstigen dinglichen Berechtigungen. Allerdings ließ sich dieser Eigentumsbegriff des Corpus Juris Civilis nicht ohne Schwierigkeiten mit den gewachsenen spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Eigentumsstrukturen in Einklang bringen. Hier blieb die Sachherrschaft regelmäßig auf mehrere Berechtigte zur unmittelbaren und zur mittelbaren Nutzung verteilt, wobei der unmittelbare Nutzer dem mittelbaren, dem dominus, zu Abgaben oder Dienstleistungen verpflichtet war. Schon die Glossatoren hatten dem durch die begriffliche Zweiteilung in dominium directum und dominium utile Rechnung zu tragen versucht,9 wobei sich für das dominium directum bald die Bezeichnung „Obereigentum“ (dominium superius) einbürgerte, während das dominium utile als bloße Nutzungsberechtigung, als „Unter-“, „Minder“-eigentum nur als ein dem Vollrecht analog zu behandelndes Institut galt. Es erstarkte freilich im ALR zum Miteigentum und zehrte – beginnend in den Städten – das Obereigentum allmählich auf.10 b) Staatsrechtlich erhielt diese Dogmatik des geteilten Eigentums jedoch ihre besondere Bedeutung. Die Verbindung von Eigentum und Herrschaftsrechten legte den Schluss nahe, dass die Territorialgewalt des Landesherrn aus seiner Stellung als „dominus terrae“ hervorgehe oder jedenfalls durch diese mitbegründet werde. Der Patrimonialstaatsgedanke11 hat hier seine Wurzeln. Eine scheinbare Bestätigung erfuhr eine derartige eigentumsrechtliche Konstruktion durch die zunehmende Vererblichkeit von Lehen und Herrschaft wie überhaupt durch die eigentumsähnliche Behandlung der Territorien mit Verpfändung, Realteilung u. a. m. Andererseits erstreckte sich die unmittelbare Verfügungsgewalt des Herrschers nur auf sein Eigengut, das Königsgut. Auf diesem war er „dominus“ im strengen Sinn (daraus entwickelte sich im folgenden der Begriff der Domänen12). Anders stand es um die sonstigen Teile seines Herrschaftsgebiets, die anderweitigen Nutzungsrechten unterlagen. Hier bot der Begriff des Obereigentums, speziell als „dominium eminens“13 bezeichnet, einen Ansatzpunkt, um Eingriffs9

Wieacker, F., Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 84 ff., 234 f. Hagemann, Eigentum (Fn. 8), Sp. 892 f.; Schwab, Eigentum (Fn. 8), S. 89 ff. 11 Willoweit, D., Art. „Patrimonialstaat“, HRG (Fn. 8), Bd. 3, 1984, Sp. 1549 ff.; Rittstieg, Eigentum (Fn. 5), S. 5 ff. („Die Legende vom Patrimonialstaat“) verkennt die Bedeutung des Patrimonialstaatsgedankens in der politische Theorie der Frühen Neuzeit, s. a. unten Fn. 57. 12 Schulze, Dominium (Fn. 8), Sp. 754. – Zu den Kontroversen über das Eigentum an den Domänen Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte (Fn. 8), Bd. 2, 1966, S. 252 ff. 13 Näher dazu Schwab, Eigentum (Fn. 8), S. 97 f. 10

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rechte in die Güter der Untertanen zu legitimieren. Er ermöglichte zugleich, die mit dem „privaten“ Grundeigentum verbundenen Herrschaftsrechte in ein rechtliches Verhältnis zur Summa potestas des Herrschers zu bringen und so Einheit wie Souveränität der Staatsgewalt zu wahren.14 2. Naturrechtliche oder staatliche Begründung des Eigentums? a) Damit stellte sich aber das Problem, die Grenzen hoheitlicher Eigentumseingriffe abzustecken. Thomas Hobbes hatte in Fortführung scholastischer Gedanken15 dem Individualeigentum die Qualität einer vorstaatlichen Rechtsposition abgesprochen. Es gründe sich weder auf Naturrecht16 noch auf positive göttliche Einsetzung.17 Im Naturstand fehle es an einer Güterzuordnung, die dem Einzelnen ein Recht gegen andere verleihe. Erst im Staatsvertrag18 werde dem Herrscher die Befugnis übertragen, über Mein und Dein der (nunmehrigen) Bürger zu entscheiden, diese Eigentumsordnung rechtlich auszugestalten und durch Abwehrrechte und Strafsanktionen zu befestigen. Eigentum ist also ein staatliches Rechtsinstitut, aus dem allein Rechte gegenüber Mitbürgern nach Maßgabe der Gesetze erwachsen, nicht aber solche gegenüber dem Souverän als Gesetzgeber (in moderner Terminologie: gegenüber dem Staat). Zwar soll der Herrscher um des Naturgesetzes willen, das die Staatsgründung zur Sicherung von Frieden und Wohlfahrt des Volkes fordert, von seiner Verfügungsmacht über die Güter der Untertanen nur gemeinwohlbezogen Gebrauch machen19, die staatsbürgerlichen Lasten gleich verteilen – aber dabei handelt es sich um sanktionslose Gebote ohne juristische Relevanz. b) Für die Folgezeit wurde jedoch ganz überwiegend die von Hugo Grotius begründete Lehrtradition bestimmend. Danach ist das Eigentum bereits 14

Schwab, Eigentum (Fn. 8), S. 94 ff. Zu Duns Scotus, Ockham und de Vittoria s. Böckenförde, E.-W., Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter, 2002, S. 282, 305, 327. Anders (Eigentum als naturrechtliches Institut) Thomas von Aquin (Forschner, M., Thomas von Aquin, 2006, S. 138 f.). 16 Zum Folgenden De cive (1642), hier nach d. dt. Ausgabe von Gawlick, G., Vom Menschen – vom Bürger, 2. Aufl. 1966, Vorrede (S. 62); 6.1 (S. 132); 6.15 f. (S. 141 ff.); 8.5 (S. 163); 12.7 (S. 198); 14.7 (S. 221 f.); Leviathan (1651), dt. v. W. Euchner, hg. v. Fetscher, I., 1966, 13 (S. 98); 15 (S. 110 f.); 18 (S. 140); 21 (S. 166); 24 (S. 190 f.); 29 (S. 248, 252). Dazu Rittstieg, Eigentum (Fn. 5), S. 62 ff. 17 De cive (Fn. 16), 17.10 (S. 284 f.). 18 Zu den Besonderheiten der vertraglichen Staatsgründung bei Hobbes s. Link, Ch., Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, 1979, S. 24 ff. m. Nachw. 19 De cive (Fn. 16), 13.8 (S. 208); dazu allg. Link, Herrschaftsordnung (Fn. 18), S. 33 ff. 15

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eine im Naturrecht begründete Einrichtung,20 die im Staat (durch die bürgerlichen Gesetze) nur ihre rechtliche Ausgestaltung erfährt.21 Aber auch diese steht nicht im legislatorischen Belieben, sondern muss sich an den naturrechtlichen Grunddaten orientieren, denn im Regelfall begründet der Herrschaftsvertrag die Bindung der durch diesen konstituierten Staatsgewalt an die zwingenden Vorgaben des Naturrechts.22 Hierin liegen – modern gesprochen – die Wurzeln einer Institutsgarantie des Eigentums, einer Garantie, die als solche herrscherlicher Verfügungsmacht entzogen ist. In seiner konkreten gesetzlichen Ausformung aber gehört das Eigentum zu den (durch staatlichen Rechtsakt) erworbenen Rechten, den iura quaesita23 des Bürgers. Es ist damit nicht eingriffsfest, sondern unterliegt vielfältigem hoheitlichen Zugriff. Soweit es sich um allgemeine Regelungen handelt – wir würden von Inhalts- und Schrankenbestimmungen sprechen –, wirkt die genannte Naturrechtsbindung. Aber die staatsvertraglich begründete Hoheitsgewalt schließt naturgemäß auch eine Ermächtigung zu Individualeingriffen ein. In beiden Fällen aber bedarf es eines Rechtstitels – und der ist hier wie dort das dominium eminens.24 Indes schillert der Begriff bei Grotius. Einer20

Dazu allg. Schwab, Eigentum (Fn. 8), S. 79 ff.; zu Grotius: Wieacker, Privatrechtsgeschichte (Fn. 9), S. 291 f. 21 Grotius, H., De jure belli ac pacis libri tres (1625), hier nach der verbreiteten Ed. v. M. Tydeman mit Kommentierungen von J. F. Gronovius und J. Barbeyrac, 1773 (i. folg. JBP), II 2.2.4 s. (p. 210 s.) – vgl. auch II 3.1 (p. 232 s.); II 3.4.1 (p. 233); II 6.1.1 (p. 304); III 20.9 (p. 980). 22 Dazu näher Hofmann, H., Hugo Grotius, in: Stolleis, M. (Hrsg.), Staatsdenker in der Frühen Neuzeit, 3. Aufl. 1995, S. 52 ff. (68 f.); Link, Ch., Hugo Grotius als Staatsdenker, 1983, S. 20 ff. 23 Rittstieg, Eigentum (Fn. 5), S. 207 ff.; Preu, P., Polizeibegriff und Staatszwecklehre, 1983, S. 47 ff.; Link, Herrschaftsordnung (Fn. 18), S. 161 ff.; zum Begriff Grzeszick, B., Rechte und Ansprüche, 2002, S. 10 f.; Lübbe-Wolff, G., Die wohlerworbenen Rechte als Grenze der Gesetzgebung im neunzehnten Jahrhundert, ZRG Germ. Abt. 103 (1986), S. 104 ff. (108 f.). – Die Auseinandersetzung um die iura quaesita ist sicherlich auch, aber eben nicht nur „Ausdruck des erheblichen Widerstands gegen die Aufhebung feudaler und ständischer Vorrechte“ (Wieland, J., in: H. Dreier, GG-Kommentar, Bd. 1, 1996, Art. 14 Rdnr. 2; ebenso Dietlein – Eigentumsfreiheit (Fn. 7) –, S. 2154; differenzierend Lübbe-Wolff, ebda. S. 113 ff. einerseits, 108 f., 131 ff. andererseits), sondern zugleich der Begrenzung absoluter Staatsmacht und zunehmend auch der Absicherung einer von hoheitlichen Eingriffen freien gesellschaftlichen Rechtssphäre (näher dazu Link, Herrschaftsordnung (Fn. 18) –, S. 161 ff.). Pointiert, aber im Kern zutreffend dagegen Leisner, W., „Der Kampf ums Recht ist die Theorie, der Kampf ums Eigentum die Praxis“ (Eigentum, Schriften zu Eigentumsgrundrecht und Wirtschaftsverfassung, 1996, S. 81); s. a. Böhmer, W., Die rechtsgeschichtlichen Grundlagen der Abgrenzungsproblematik von Sozialbindung und Enteignung, Der Staat 24 (1985), S. 157 ff. (S. 167): Der „stetige Kampf der Landesherren gegen die Rechte der Untertanen“ in den deutschen Territorialstaaten. 24 JBP II 14.7 und 8 (p. 459 s.).

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seits unterscheidet er zwischen „dominium“ und „imperium“, also zwischen Eigentum und Staatsgewalt als Personal- und Territorialherrschaft.25 In diesem Sinn bedeutet dominium eminens eine von proprietarischen Vorstellungen gelöste Oberhoheit und Rechtsgestaltungsbefugnis, in erster Linie – aber keineswegs nur –26 im güterrechtlichen Bereich. Sie wurzelt in der Herrschaftsübertragung durch den ursprünglichen Staatsvertrag.27 Demgegenüber spricht Grotius an anderer Stelle unbefangen von der Staatsgewalt als einem Nießbrauchsrecht am Land, d. h. einem beschränkt dinglichen Recht, das insoweit – jedenfalls teilweise – veräußerlich und verpfändbar ist, während das Territorium als Ganzes dem Volk zur ungeteilten Gemeinschaft gehört.28 Die Staatsgewalt wird hier also in sachenrechtlichen Kategorien umschrieben. Dementsprechend gehören Besteuerungs- und Enteignungsrecht zum herrscherlichen Patrimonium, während Steuererträge und enteignetes Gut aus dem Nießbrauch gezogene Nutzungen darstellen.29 Ungeachtet dieser dogmatisch wenig überzeugenden Konstruktion stellt Grotius eindeutig klar, dass rechtmäßige Eigentumseingriffe nur um des Wohls der Allgemeinheit willen zulässig und dann entschädigungspflichtig sind.30 c) Grotius’ eher ansatzweise, zudem weder systematisch entwickelte noch widerspruchsfreie Theorie des dominium eminens bot der nachfolgenden Naturrechtslehre indes ein begriffliches Rüstzeug, mit dessen Hilfe die zunehmend klärungsbedürftigen Fragen nach Grund und Grenzen der hoheitlichen Dispositionsmacht über Individualrechte im „Modernen Staat“ beantwortet werden konnten. Dafür bot sich das Eigentumsrecht als Exempel besonders an, da es einerseits im Zuge der bürgerlichen Wirtschaftsentwicklung an Bedeutung gewann,31 andererseits aber die „Verdichtung der 25 JBP II 3.4.1 (p. 233 s.); vgl. auch II 14.10 und 11.1 (p. 460 s): Unterscheidung patrimonium und regnum. 26 JBP II 13.20.4 (p. 419): Hoheitliche Aufhebung des Gütererwerbs durch eidliches Leistungsversprechen im Einzelfall aus Gemeinwohlgründen oder als Strafsanktion kraft dominium eminens; an anderer Stelle erstreckt Grotius dies auch auf andere iura quaesita, stützt aber die Strafgewalt nicht auf das dominium eminens (JBP II 14.7 – p. 459 s.). 27 JBP II 21.11.3 (p. 661); III 19.7 (p. 968); III 20.7.1 (p. 979 s.). 28 JBP II. 6.3 ss (p. 305 ss.) – Das gilt freilich nur, wenn der König das Land nicht „in patrimonio“ hat, das hier mit „dominium“ gleichgesetzt wird (II 6.3 – p. 305). 29 JBP II 6.12 (p. 309). 30 JBP II 14.7 und 8 (p. 459 s.); II 21.11.3 (p. 661); III 19.7 (p. 968 s.); III 20.7 (p. 979 s.): Die Entschädigungspflicht ist auch nicht an die Lage der Staatsfinanzen gebunden, allenfalls können die Leistungen aufgeschoben werden (III 2.7.2 – p. 980). Eine Ausnahme gilt nur für Feindgut im Krieg kraft Völkerrechts (III 5.4 – p. 510; III 8.4.1 – p. 853 s.). 31 Schwab, Eigentum (Fn. 8), S. 74 ff.; Rittstieg, Eigentum (Fn. 5), S. 21 ff., 222 ff.; de Wall, H., Die Staatslehre Johann Friedrich Horns, 1992, S. 179 f.; Preu,

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Herrschaftsverhältnisse“ im aufstrebenden Absolutismus mit der Ausweitung der Staatsaufgaben auch den Finanzbedarf erhöhte und daher einen wachsenden Zugriff auf die privaten Ressourcen erforderlich machte. Damit stand nicht nur das Besteuerungsrecht auf dem Prüfstand, sondern – wegen der durch das Eigentum vermittelten Herrschaftsbefugnisse – die Konzentration der Staatsgewalt in der herrscherlichen „Souveränität“ selbst. Die Problematik der iura quaesita und insbesondere des Eigentums betraf deshalb auch die ständischen Rechte32 und damit den Kern des frühneuzeitlichen, später des aufgeklärten Staatsverständnisses. d) Ganz überwiegend grenzt sich die deutsche und niederländische Staatslehre von der Hobbesschen These des erst vom Staat geschaffenen und daher hoheitlich beliebig disponiblen Eigentumsrechts energisch ab. So betont 1672 der einflussreiche Franeker Professor des Jus Publicum Ulrich Huber33 die vorstaatliche, also naturrechtliche Begründung der Eigentümerposition, die als solche durch das staatsvertraglich geschaffene dominium eminens nicht aufgehoben, sondern lediglich begrenzt und inhaltlich näher bestimmt wird. Durch den Akt der Staatsbildung, wird eben nur ein Teil der Sachherrschaft auf den Souverän übertragen, nämlich die um der allgemeinen Rechtssicherheit willen gebotenen Ausgestaltungsbefugnisse und ein Eingriffsrecht zur Wahrung der utilitas rei publicae. Der Staatsvertrag – und das gilt für die gesamte vernunftrechtlich geprägte Lehrtradition bis in das beginnende 19. Jh. – ist also die Grundlage für die Sozialbindung des Eigentums. Sie beruht nicht auf hoheitlicher Fremdbestimmung, sondern auf der (fiktiven) Zustimmung zum Eintritt in den staatsbürgerlichen Verband. Insoweit – so Huber weiter –, aber auch nur insoweit, überwölbt („transcendat“) das dominium eminens die Individualrechte.34 Auch für Samuel Pufendorf35 ist das Eigentum ein dem Staat vorausliegendes Naturrecht; durch den Staatsvertrag erwerbe dieser (soweit darin nichts anderes bestimmt wurde) nur diejenigen Rechte darüber, die sich aus dem Wesen der allgemeinen Hoheitsgewalt ergeben, d. h. im Normalfall die Inhalts- und Schrankenbestimmung sowie das Besteuerungsrecht und die Befugnis zur Erhebung sonstiger Abgaben (Zölle). Daneben tritt im Notfall als potestas Polizeibegriff (Fn. 23), S. 203 ff.; Lübbe-Wolff, Rechte als Grenze der Gesetzgebung (Fn. 23), S. 123 ff. 32 Schwab, Eigentum (Fn. 8), S. 101 f. 33 Über Huber und seinen Einfluss auf die deutsche Staatsrechtslehre s. Stolleis, M., Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1, 1988, S. 291 ff. 34 De jure civitatis libri tres (1674), hier nach d. Ed. 4, 1708, I 3.6.37 ss. (p. 44 ss.). 35 De jure naturae et gentium (1672), hier nach der von N. Hert, J. Barbeyrac und G. Mascov kommentierten 2-bändigen Ausg. 1739 (Neudr. 1967), VIII 5.1 ss. (Bd. 2, p. 414 ss.). – Dazu Denzer, H., Moralphilosophie und Naturrecht bei Samuel Pufendorf, 1972, S. 152 ff.

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extraordinaria das Enteignungsrecht. Beide, potestas ordinaria und extraordinaria, gründen sich auf das dominium eminens. e) Der Katalog der daraus fließenden Rechte wird in der Folgezeit ausgeweitet und präzisiert: Städtegründung und -befestigung, Fortifikation, öffentliches Wegerecht, öffentliches Eigentum an größeren Seen und Flüssen, hoheitliches Aneignungsrecht für herrenloses Land und Anschwemmungen, Unterbindung des Durchzugs von Personen und Waren, Post- und Bergregalien, ja sogar (als Vorläufer des Bahnregals) das ius cursus publicos instituendi – alles das soll im dominium eminens seine Rechtsgrundlage haben.36 Diese eher wahllose Aufzählung zeigt zum einen, dass die Lehre des „Allgemeinen Staatsrechts“ (Jus publicum universale)37 bemüht war, die bunte Vielfalt der herrscherlichen Gerechtsamen systematisierend zu einer einheitlichen und umfassenden Hoheitsgewalt zusammenzufassen.38 Sie zeigt zum anderen aber auch, dass es noch an einer klaren, dogmatisch stringenten Grundlegung des dominium eminens mangelte. 3. Imperium und dominium eminens a) Es ist deshalb mehr als ein terminologischer Streit, wenn bereits am Ende des 17. Jahrhunderts eine Auseinandersetzung um den Begriff des dominium eminens entbrennt. Der Wittenberger Professor Wilhelm Leyser39 bestreitet mit Nachdruck die eigentumsrechtliche Basis derartiger Eingriffsrechte. Vielmehr beruhten sie allein auf der naturrechtlich begründeten Befugnis des Souveräns, im Notstandsfall ohne Rücksicht auf Sonderrechte und Privatinteressen alle zur Bewahrung des Gemeinwesens notwendigen Anstalten zu treffen. Deshalb könne – so Leyser – nicht von einem dominium eminens, sondern nur von einem imperium eminens die Rede sein. Insofern sei die Rechtslage bei Eigentum und sonstigen Vermögensrechten nicht anders als bei allen anderen iura quaesita: Ein Eingriff setze eine iusta causa voraus, die aber nicht schon in einem öffentlichen Nutzen liege, sondern es bedürfe einer anders nicht zu behebenden Staatsnotwendigkeit, deren 36 Boehmer, Just Henning, Introductio in ius publicum universale (1710), hier nach d. 2. Aufl. 1726, Pars specialis I 4.27 (p. 257 s.). 37 Dazu Kuriki, H., Die Rolle des Allgemeinen Staatsrechts in Deutschland von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, AöR 99 (1974), S. 556 ff.; Willoweit, D., Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt, 1975, S. 364 ff.; Link, Herrschaftsordnung (Fn. 18), S. 45 ff.; Stolleis, Geschichte (Fn. 33), S. 291 ff. 38 Zu diesem Prozess eingehend Willoweit, Rechtsgrundlagen (Fn. 37), S. 179 ff., 350, 359 ff.); s. a. Böhmer, Grundlagen (Fn. 23), S. 167 ff. 39 Pro imperio contra dominium eminens, 1671. Zu Wilhelm Leyser (1628–1689), dem Vater des berühmteren Augustin Leyser, s. die spärlichen Angaben bei Landsberg, E., in: Stintzing, R./Landsberg, E., Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, 3 Bde., in 4, 1880–1910 (Neudr. 1957), Bd. III/1, Noten S. 134.

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Voraussetzungen umso enger zu fassen seien, je gravierender sich der Eingriff für den Betroffenen auswirkt.40 Mit der Ablösung des Eigentumseingriffs von Vorstellungen eines herrscherlichen Ober„eigentums“ hatte Leyser zwar einen zukunftsweisenden konstruktiven Ansatz entwickelt,41 in den Konsequenzen versuchte er indes durch die Koppelung an einen Staatsnotstand der Hoheitsgewalt allzu sehr die Hände zu binden; in der Sache liefen sie auf eine Dogmatisierung des älteren Rechtsbewahrstaats hinaus. Für die – das absolutistische Reformpotential stützende und darum politisch wirkungsmächtigere – Gegenposition lag es darum nahe, zur Begründung hoheitlicher Sachgüterherrschaft stärker auf das dominium eminens zurückzugreifen. Zu ihrem Protagonisten wurde – in einer Gelehrtenfehde mit Wilhelm Leyser – der deutsche Jurist und Prokurator der Universität Orléans Johann Friedrich Horn.42 Sein theokratischer Ausgangspunkt43 verdunkelte dabei freilich in der Folgezeit manche durchaus „moderne“ Züge seiner Staatslehre. Für Horn wurzelt das Eigentum zwar in der von Gott zugelassenen Sachherrschaft und damit im Naturrecht. Es begründet indes keine subjektiven Rechte und wird auch nicht als vorstaatliche Berechtigung in den Staatsverband eingebracht.44 Vielmehr erfährt diese Sachherrschaft hier eine tiefgreifende Umgestaltung. Wie alle potestates ordnet sich auch das private dominium im Magnetfeld der Summa potestas neu, wird zum Rechtsinstitut und tritt zugleich unter den Vorbehalt der Verfügbarkeit für Gemeinzwecke.45 Nur durch sein Objekt unterscheidet sich das imperium vom dominium eminens: Während das erste die Herrschaft über Personen umschreibt, so das zweite diejenige über die Sachgüter der Untertanen.46 40

Leyser, Pro imperio (Fn. 39), bes. § 12. Zum Verhältnis imperium-dominium allg. Krüger, H., Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 820 ff. 42 Zuerst in seiner Wittenberger Dissertation „De Dominio supereminente“ von 1658. Auf Leysers Einspruch hin präzisierte Horn dann seine Thesen in seinem Hauptwerk Politicorum Pars Architectonica de Civitate (1664 – hier nach der von A. Eppstein kommentierten Ausg. 1672), worauf Leyser mit Pro imperio (Fn. 39) replizierte. – Zu dieser Kontroverse s. Pfeffinger, J. F., Vitriarii Institutiones Juris Publici Germanici novis notis illustratae, 4 Bde., 1712–1730, III 18, not. ad nr. 1 (Bd. 3, p. 1347): Link, Herrschaftsordnung (Fn. 18), S. 170 ff. – und jetzt eingehend de Wall, Staatslehre (Fn. 31), S. 187 ff. m. w. Nachw. – Zu Horn (1629?–1665?) s. de Wall, ebda. S. 17 ff. 43 de Wall, Staatslehre (Fn. 31), S. 116 ff. 44 Horn, De Civitate (Fn. 42), II 3.3.2 ss. (p. 302 ss.) – näher de Wall, Staatslehre (Fn. 31), S. 181 f. 45 Horn, De Civitate (Fn. 42), II 2.2 (p. 240); II 3.1 (p. 300); dazu u. zum Folgenden eindringlich de Wall, Staatslehre (Fn. 31), S. 183 ff. 46 Horn, De Civitate (Fn. 42), II 3.1. (p. 300); II 4.5 (p. 339 s.). 41

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Dabei steht das dominium eminens in strenger Akzessorietät47 zum imperium, nämlich zum Recht, den Willen der Gewaltunterworfenen zu bestimmen. Erst aus diesem folgt auch die potestas disponendi de rebus subditorum. Beides ist streng zu unterscheiden, lässt sich aber nicht voneinander ablösen.48 Damit wird das dominium eminens zum ausschließlich öffentlich-rechtlichen Rechtstitel, da sich das Wesen dieser potestas nur aus dem Wesen der Staatsgewalt herleiten lässt: Er dient auch in diesem Kompetenzbereich allein dazu, mit hoheitlichen Mitteln das Gemeinwohl zu verwirklichen. – Wie Pufendorf teilt Horn das so umschriebene dominium eminens in eine potestas ordinaria und extraordinaria. Die ordentliche Gewalt hat das Bestimmungsrecht über privaten Eigentumserwerb und -verlust, über die aus dem Eigentum fließenden Rechte und ihre Schranken zum Gegenstand, außerdem die Befugnis, das Eigentum mit Steuern und Abgaben aller Art zu belasten.49 Dagegen verleiht die außerordentliche Gewalt das Recht, den Untertanen Güter zu entziehen. Hier erst kommen Enteignungsgrundsätze zum Tragen: Voraussetzung ist – aber als solche genügt auch – eine utilitas communis, eine ratio civilis, also vernünftige Erfordernisse des Gemeinwohls.50 Damit löst Horn die enge Verklammerung mit dem Staatsnotstand und trägt so den Anforderungen des neuzeitlichen Verwaltungs- und Reformstaats eher Rechnung als seine literarischen Gegner. – Auch in der Entschädigungsfrage ist er weitherziger: Die prinzipielle Einordnung der privaten Rechte in den öffentlichen Herrschaftsverband schließt einen generell den Eingriff kompensierenden Ersatzanspruch aus, dann nämlich, wenn dieser – namentlich bei Massenenteignungen – die Leistungsfähigkeit des Gemeinwesens überfordert. Hier wird der aequitas genügt, wenn gezielte Hilfsmaßnahmen (Steuererleichterungen, günstige Kredite) die größten Härten mildern.51 – Nicht zu Unrecht ist bemerkt worden, dass sich diese Konzeption in ihren Ergebnissen nur wenig von der Hobbesschen unterschied.52 b) Zwar blieb das dominium eminens ganz überwiegend ein Leitbegriff der deutschen Staatsrechtslehre, zumal die Trennung von imperium (als Personalherrschaft) und dominium eminens (als Herrschaft über Sachen und Rechte) ein Dreivierteljahrhundert nach Horn durch die Autorität Christian Wolffs noch einmal eine Bestätigung erfuhr,53 trotzdem verschieben sich 47

de Wall, Staatslehre (Fn. 31), S. 189. Horn, De Civitate (Fn. 42), II 3.1. (p. 301). 49 Horn, De Civitate (Fn. 42), II 2.2 (p. 241); II 4.5 (p. 339 s). 50 Horn, De Civitate (Fn. 42), II 4.18 ss. (p. 370 ss.); Dazu de Wall, Staatslehre (Fn. 31), S. 191 ff. 51 Horn, De Civitate (Fn. 42), II 4.20 (p. 375). 52 de Wall, Staatslehre (Fn. 31), S. 184. 53 Jus naturae methodo scientifica pertractatum, 8 Bde. 1740–1748, VIII 1.111, 113 s., 116 (Bd. 8, S. 76–78); dazu näher Link, Ch., Die Staatstheorie Christian 48

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unter der Herrschaft des Vernunftrechts die Akzente. Die „potestas ordinaria“, die das dominium eminens vermitteln soll, verschmilzt zunehmend mit der allgemeinen Hoheitsgewalt. Das „Obereigentum“ dagegen wird zum Synonym für die plenitudo potestatis im Hinblick auf das Enteignungsrecht.54 c) Für beide Aspekte liegt weiterhin die rechtssystematische Legitimation im (fiktiven) Sozialvertrag. Samuel v. Cocceji, Großkanzler Friedrichs d. Gr.,55 formuliert dies mit besonderer Prägnanz: Grundsätzlich sind die iura quaesita des Menschen (verstanden als Inbegriff von Menschen-, Freiheits- und Vermögensrechten) für Rechtsgenossen wie für die Staatsgewalt unverletzlich und jeder Eingriff löst eine Restitutionspflicht aus. Nur die Einwilligung des Betroffenen kann den Herrscher von diesem Naturrechtsgebot dispensieren. Volenti non fit iniuria. Die im Staat vereinigten Bürger müssen sich aber so ansehen lassen, als hätten sie im Herrschaftsvertrag den Träger der Staatsgewalt im voraus dazu ermächtigt, ihre Individualrechte um des öffentlichen Wohls und Nutzens willen einzuschränken, ja sie ihnen äußerstenfalls zu entziehen. Cocceji macht dabei aber einen bemerkenswerten Vorbehalt zugunsten der elementaren Menschenrechte: sie sind nicht nur Individualrechte, sondern von Gott in der Menschennatur angelegt (iura Deo quaesita), sie unterliegen nicht menschlicher Disposition, können also nicht als auf dem Altar der Staatlichkeit aufgeopfert betrachtet werden und sind deshalb auch für den Herrscher unverfügbar.56 d) Abgesehen von einem solchen Menschenrechtsvorbehalt wird diese Begründung weithin57 zum Allgemeingut des Allgemeinen Staatsrechts. Wolffs, in: Schneiders, W. (Hrsg.), Christian Wolff 1679–1754, 1983, S. 171 ff. (183 ff.). 54 Vgl. etwa Pütter, J. St., Kurzer Begriff des Teutschen Staats-Rechts, 1764, S. 49, 120; ders., Anleitung zum Teutschen Staats-Rechte, deutsch v. L. A. F. Graf v. Hohenthal, 2 Bde. 1791, Bd. 1, S. 151, Bd. 2, S. 57 ff.; Leist, J. Chr., Lehrbuch des Teutschen-Staatsrechts, 1803, S. 264 f. – Zu Pütter s. Link, Ch., Johann Stephan Pütter, in: Stolleis (Hrsg.), Staatsdenker (Fn. 22), S. 310 ff. (324 f.). 55 Über ihn Erler, A., HRG (Fn. 8),Bd. 1, 1971, Sp. 616 ff. 56 Novum systema Justitiae naturalis et Romanae (1740), hier nach d. Ausg. 1750, I 3.49 (p. 24 s.); I 4.63 (p. 36 s.). Cocceji übernimmt hier in weitem Umfang Gedanken seines Vaters Heinrich Cocceji; zur Autorschaft Landsberg, in: Geschichte (Fn. 39), Bd. 3/1, S. 112 ff. (Text), S. 66 (Noten), dazu und zur Eigentumslehre des Vaters demnächst Link, Ch., Menschenwürde und Gerechtigkeit als Staatszweck. Zum Werk Heinrich von Coccejis (1644–1719), in: Hain, K.-E. (Hrsg.), Festschr. f. Christian Starck, 2007. 57 Zu den Ausnahmen, d. h. den Autoren, die das dominium eminens weiterhin auf ein Herrschereigentum am Staatsgebiet gründen, Link, Herrschaftsordnung (Fn. 18), S. 174, Anm. 99; Willoweit, Rechtsgrundlagen (Fn. 37), S. 362 f., Anm. 49. – Zur (kurzfristigen) Renaissance des Patrimonialstaatsgedankens im 19. Jh. (K. L. v. Haller) s. Rittstieg, Eigentum (Fn. 5), S. 6 f.; Stolleis, Geschichte (Fn. 33), Bd. 2, 1992, S. 144 f. – Immerhin war ein Teil der älteren Naturrechts-

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Streitig bleiben allein die Voraussetzungen, an die insbesondere das Enteignungsrecht gebunden sein soll. Während die eher dem Absolutismus zuneigende Theorie mit Horn und Cocceji bereits einen bloßen öffentlichen Nutzen genügen lässt – allerdings unter Wahrung der Institutionsgarantie des Eigentums58 –, mehren sich bald wieder die Stimmen, die den Ausnahmecharakter einer solchen Befugnis betonen und daher auf eine zwingende, anders nicht zu behebende staatliche Notlage abstellen. Diese scheinbar dem herrscherlichem Zugriffsrecht enge Grenzen ziehende Doktrin verlor jedoch dort ihre antiabsolutistische Spitze, wo – wie etwa im einflussreichen Naturrechtskompendium Christian Wolffs – dem Regenten die Definitionsmacht über den zwingenden Notstandsfall zugeschrieben wurde.59 Faktisch verwandelten sich dann derartige Anforderungen von (Natur-)Rechtsschranken in Appelle an die Herrschermoral; immerhin aber – und das sollte man nicht geringschätzen – waren schwerwiegende Eigentumseingriffe so mit einer gewissen Begründungspflicht verbunden. 4. Das „traurigste aller Souveränitätsrechte“ Auch die Staatsrechtslehre in der Spätphase des Alten Reiches übernimmt die an sich problematische Verknüpfung der Enteignungsbefugnis mit dem staatlichen Notrecht. Hier geht es aber nicht mehr primär um eine Normenkollision zwischen den jeweils naturrechtlich begründeten Positionen von Individuum und Summa potestas.60 Für die stärker auf der Basis eines reichs- und territorialstaatsrechtlichen Positivismus61 argumentierenden Publizisten überschreitet die Eigentumsentziehung die Grenzen der mit der allgemeinen „Policey“-gewalt (also der inneren Verwaltungshoheit) verbundenen territorialstaatlichen Landeshoheit62 und kann deshalb, mangels lehre bereit, den Patrimonialstaat als eine – staatsvertraglich oder durch Eroberung begründete – Möglichkeit der Staatsgestaltung zuzugestehen, z. B. Conring, H., De finibus Imperii Germanici (1654), hier nach d. Ed. nov. 1693, II 19.5 – p. 223; Pufendorf (Fn. 35), VIII 5.1 – Bd. 2, p. 414 s.; Schmier, Fr., Jurisprudentia publica unversalis . . ., 1722, I 4.1.1 – p. 587; zu Grotius s. o. Fn. 28. 58 „Salva singulorum proprietate“ (so Boehmer, Introductio (Fn. 36) –, P. spec. I 4.27, Anm. p – p. 258). 59 Wolff, Jus naturae (Fn. 53), VIII 1.116 (Bd. 8, p. 78), vgl. auch VIII 1.89 und 121 (Bd. 8, p. 59, 83 s.), dazu Link, Wolff (Fn. 53), S. 185. 60 So noch Wolff, Jus naturae (Fn. 53), VIII 1.117 (Bd. 8, p. 79): „collisio legum“. 61 Insoweit differenzierend Willoweit, Rechtsgrundlagen (Fn. 37), S. 363 f. 62 Pütter, J. St., Beyträge zum Teutschen Staats- und Fürsten-Rechte, 2. Bde. 1777/79, Bd. 1, S. 352; Daraus ergibt sich dann eine gleitende Skala von Eingriffsvoraussetzungen, die an die entsprechenden Abstufungen des BVerfG zu Art. 12 GG im „Apothekenurteil“ erinnert. Am höchsten sind die Anforderungen im Hinblick auf die Zulässigkeit einer Entziehung von Eigentum (ebda. S. 355 ff.).

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verfassungsrechtlicher Grundlage, nur als eine die positive Rechtsordnung sprengende Befugnis, eben als Staatsnotrecht, legitimiert werden. Auch insofern handelt es sich um einen Normenkollision, nun aber um eine solche zwischen rechtsstaatlicher Verfassungsbindung und einem übergesetzlichen Staatsnotstand.63 Carl Gottlieb Svarez nennt dies das „traurigste aller Souveränitätsrechte“64, das einem strengen Willkürverbot unterliegt.65 Indes bleiben die praktischen Rechtsfolgen der sich verschiebenden Argumentationsebene verhältnismäßig gering, da etwa Johann Stephan Pütter die Notstandsschwelle recht niedrig ansetzt, wenn er sie mit einer Gefahr für die „gemeine Wohlfahrt“ identifiziert,66 was letztlich auf einen streng ausgelegten Gemeinwohlvorbehalt im Sinne des Art. 14 Abs. 3 GG hinausläuft. So soll zwar eine Enteignung zum Zweck des Straßenbaus zulässig sein,67 nicht jedoch zur Anlage eines öffentlichen Spazierwegs.68 Dies alles – so schärft Svarez dem jungen Kronprinzen und späteren König Friedrich Wilhelm III. nachdrücklich ein – unter strenger Wahrung des Übermaßverbots.69 5. Entschädigungsanspruch Ungeachtet dieser theoretischen Diskussion über die Enteignungsvoraussetzungen besteht schon seit Beginn des 18. Jahrhunderts Konsens über Notwendigkeit einer Enteignungsentschädigung.70 Wurde sie zuvor noch 63 Pütter, Begriff (Fn. 54), S. 49: Eingriffsrecht kraft plenitudo potestatis bei „Collision mit der allgemeinen Wohlfahrt“; S. 120: nur im Notfall, die höchste Machtvollkommenheit gründet sich auf die Prinzipien des Allgemeinen Staatsrechts, sie ist der Inbegriff aller außerordentlichen Mittel „zur Erhaltung des Staats in Collisionsfällen“. In „diesem Fall kann der Regent die ihm von der Nation gesetzten Grenzen seiner Macht. . .überschreiten“, „ein in seinem Missbrauch höchst gefährliches Recht“ (Anleitung – Fn. 54 –, Bd. 2, S. 79 f. m. Anm. 1 u. 3); ähnlich Leist, Lehrbuch (Fn. 54), S. 263 ff., der für solche Fälle sogar einen hoheitlichen Eingriff in die ordentliche Gerichtsbarkeit zulassen will (ebda S. 432). 64 Svarez, C. G., Die Kronprinzenvorlesungen 1791/92, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. P. Krause, 1. Abt. Bd. 4/1 und 4/2, 2000, Bd. 4/1 S. 600. 65 Pütter, Begriff (Fn. 54), S. 50. 66 Pütter, Beyträge (Fn. 62), Bd. 1, S. 359: Nicht nur „zur Rettung“ des Staates, sondern auch für einen bedeutsamen öffentlichen Nutzen; ähnlich Svarez, Kronprinzenvorlesungen (Fn. 64), Bd. 4/2, S. 601 f.; Häberlin, K. F., Handbuch des Teutschen Staatsrechts, 2 Bde., 1794/97, Bd. 1, S. 387. 67 Pütter, a. a. O. (Fn. 66). 68 Svarez, Kronprinzenvorlesungen (Fn. 64), Bd. 4/1, S. 116 (ähnlich in der Sache Bd. 4/2, S. 601 f.). 69 Svarez, Kronprinzenvorlesungen (Fn. 64), Bd. 4/1, S. 318; Bd. 4/2, S. 601 f., 628 (Steuern und Abgaben), 629. – Dazu allg. und eindringlich Scholz, Identitätsprobleme (Fn. 1), S. 339, 344, 345 f.

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teilweise nur aus Billigkeitsgründen empfohlen,71 so gilt sie nun als Rechtspflicht. Ihre Grundlage liegt im Sonderopfer, das dem Einzelnen zugunsten der Allgemeinheit zugemutet wird,72 ohne dass es auf Schwere und Tragweite des Eingriffs ankommt. Dahinter steht der Grundsatz der Lastengleichheit73 als tragendes Element eines rational konzipierten Staatswesens – ein Grundsatz, der im konkreten Fall um des Gemeinwohls willen durchbrochen werden muss. Allerdings fordert er keinen vollen Wertersatz, sondern nur insofern, als wirklich ein Gleichheitsverstoß vorliegt. Konkret bedeutet dies, dass sich der Betroffene die Entschädigung um denjenigen Teil kürzen lassen muss, den er anteilig als Bürger des Staates zu tragen hat.74 Entscheidend ist also nicht mehr die Leistungsfähigkeit der öffentlichen Kassen, wohl aber folgt aus dem Gesichtspunkt der Lastengleichheit ein (begrenzter) Ermessensspielraum bei der Bemessung von Ersatzleistungen. Im Übrigen aber erwächst dem Bürger ein notfalls vor den Reichsgerichten einklagbarer75 Rechtsanspruch auf Entschädigung.76 70 So schon Grotius, JBP (Fn. 21) II 14.7; III 20.7.2 (p. 460; 980); Pufendorf, De jure naturae et gentium (Fn. 35) VIII 5.7; VIII 8.3 (Bd. 2, p. 426, 463 s.); Frhr. v. Kreittmayr, W. X. A., Grundriß des Allgemeinen Deutsch- und Bayerischen Staatsrechts, 1769, S. 28; Pütter, Begriff (Fn. 54), S. 49, 120; ders., Anleitung (Fn. 54), Bd. 1, S. 151, Bd. 2, S. 80 f.; ders., Beyträge (Fn. 62), Bd. 1, S. 324, 351 ff.; Leist, Lehrbuch (Fn. 54), S. 264; Svarez, Kronprinzenvorlesungen (Fn. 64), Bd. 4/1, S. 109, 117; Bd. 4/2, S. 629; Häberlin, Handbuch (Fn. 66), Bd. 1, S. 298, 385 ff.; Bd. 2, S. 179; Kant, I., Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (= Metaphysik der Sitten I, 1797), in: Weischedel, W. (Hrsg.), Werke, 2. Aufl. 1966, Bd. 4, S. 353 ff. (440). 71 So Conring, De finibus Imperii Germanici (Fn. 57), II 19.9 (p. 224): „si potest, at magis in praemium quam ex debito“; ähnlich Huber, De jure civitatis libri tres (Fn. 34), I 3.6.44 (p. 94). 72 Wolff, Jus naturae (Fn. 53), VIII 1.119 (Bd. 8 p. 81), hier allerdings Entschädigung noch mit der Einschränkung „quantum fieri potest“! 73 Pütter, Beyträge (Fn. 62), Bd. 1, S. 356; Svarez, Kronprinzenvorlesungen (Fn. 64), S. 182, 249. 74 Der Gedanke erscheint schon bei Grotius, JBP (Fn. 21), III 20.7.2 (p. 980), s. a. Wolff, Jus naturae (Fn. 53), VIII 1.119 (Bd. 8, p. 81). 75 Leist, Lehrbuch (Fn. 54), S. 265, – Zur Aushöhlung dieses Anspruchs durch die größeren Territorialstaaten aber zutreffend Böhmer, Grundlagen (Fn. 23), S. 167 ff.; allg. dazu Rüfner, W., Verwaltungsrechtsschutz in Preußen von 1749–1842, 1962, S. 23 ff.; Erichsen, H.-U., Verfassungs- und verwaltungsgeschichtliche Grundlagen der Lehre vom fehlerhaften belastenden Verwaltungsakt und seiner Aufhebung im Prozeß, 1971, S. 65 f.; Lübbe-Wolff, Rechte als Grenze der Gesetzgebung (Fn. 23), S. 106 f. 76 Er korrespondierte indes einer grundsätzlichen Duldungspflicht auf Seiten des Betroffenen. – Hier liegt der Ursprung des von O. Mayer (Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 1924, Bd. 1, S. 53, Anm. 27) prägnant als „dulde und liquidiere“ umschriebenen Prinzips. Dazu Böhmer, Grundlagen (Fn. 23), S. 174 f. – Zum Verhältnis von Wertund Bestandsgarantie des Eigentums allg. Scholz, Identitätsprobleme (Fn. 1), S. 346 f.

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Ihren gesetzlichen Niederschlag fanden diese Gedanken dann in den berühmten §§ 74 und 75 der Einleitung zum preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794, lange vorbereitet in den Debatten zum „Allgemeinen Staatsrecht“. Die deutsche Vernunftrechtslehre hat damit wesentlichen Anteil an der Grundlegung der modernen öffentlich-rechtlichen Eigentumsordnung. Die „institutionelle Geschichte des Eigentums“ beginnt deshalb nicht „erst in der Nacht des 4. August 1789“77.

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So aber Leisner, Eigentum (Fn. 4), Rdnr. 28.

Grundrechtsschutz gegen Gefahren und Risiken Von Dieter Lorenz Die technischen, wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen seit dem 19. Jahrhundert haben dem modernen Menschen eine zunehmende Sensibilität für die ihn umgebenden Gefahren und die Risiken, denen er ausgesetzt ist, vermittelt. Das hieraus resultierende erhöhte Sicherheitsbedürfnis findet nicht nur in dem vielfachen Bestreben weitgehender materieller Absicherung seinen Ausdruck, sondern richtet seine Erwartungen zentral auch an den Staat, der – als Rechtsstaat – die unmittelbare persönliche Sicherheit des Einzelnen gewährleistet,1 diesen aber auch – als Sozialstaat – durch die Schaffung eines übergreifenden Netzes sozialer Sicherung und sonstige Maßnahmen weitgehend der existenziellen Sorge angesichts der Bedrohungen einer ungewissen Zukunft enthebt. Fragt man in diesem Kontext nach der Rolle der Grundrechte als den verfassungskräftigen Verbürgungen der für den einzelnen grundlegenden Rechtsstellungen gegenüber dem Staat, so richtet sich der Blick von vornherein nicht auf deren umfassende und allgemein staatstheoretische Bedeutung. Die folgende Skizze beschränkt sich vielmehr vom Boden der geltenden Verfassung der Bundesrepublik Deutschland aus auf die Schutzfunktion der Grundrechte, ihre vornehmliche Aufgabe, den Einzelnen vor Verletzungen der durch sie gewährleisteten Rechtsgüter zu bewahren. Damit bleibt insbesondere die sozialstaatliche Komponente ausgespart, wie sie in sogenannten derivativen, nämlich aus den Freiheitsrechten, z. B. dem Recht auf freie Wahl der Ausbildungsstätte (Art. 12 Abs. 1 GG),2 abgeleiteten Ansprüchen auf Teilhabe an staatlichen Leistungen zum Ausdruck kommt, erst recht die Problematik der sozialen Grundrechte, durch die „originäre“ Leistungsansprüche – auf Wohnung, auf Arbeit, auf Gesundheitsvorsorge – begründet werden, die aber aus guten Gründen nicht in das Grundgesetz aufgenommen wurden.3

1 Vgl. dazu Isensee, in: HdBStR, Band V, 2. Aufl. 2000, § 111, Rn. 83; Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, 2002, S. 14 ff. 2 BVerfGE 33, 303. 3 Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, Zur Sache 5/93, S. 148 ff.

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I. Die grundrechtliche Abwehrfunktion 1. Die Abwehr von Gefahren Es kann heute als weithin anerkannt gelten, dass die Schutzwirkung der Grundrechte nicht erst bei Verletzung des geschützten Rechtsguts ausgelöst wird, sondern schon mit dessen Gefährdung einsetzt.4 a) Normative Gefährdung Dies ergibt sich schon aus einem erweiterten, vom Rechtsschutzgedanken bestimmten Eingriffsverständnis, das nicht allein auf die tatsächliche Beeinträchtigung und in diesem Sinn Verletzung der garantierten Freiheit abstellt, sondern bereits in ihrer Vorwegnahme auf der normativen Ebene einer judikativen oder administrativen Anordnung einen – möglicherweise rechtsverletzenden – Eingriff in das Grundrecht sieht.5 So ist bereits die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe eine Freiheitsbeschränkung im Sinne des Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG.6 Gleichermaßen stellt das Verbot (und nicht erst die Auflösung) einer Versammlung oder die Verpflichtung zur Teilnahme am Schulgebet (und nicht erst die erzwungene Anwesenheit des Schülers) einen Eingriff in das betreffende Grundrecht dar. Er kann von dem Betroffenen als gegebenenfalls rechtswidrig unmittelbar abgewehrt werden, bildet also nicht bloß den Anlass für eine vorbeugende Unterlassungsklage, um eine erst drohende effektive Grundrechtsverletzung zu verhindern. b) Tatsächliche Gefährdung Dieses nicht mehr hinterfragte weite Verständnis vorausgesetzt, das auch die Praxis bestimmt, sind für unsere Fragestellung von größerem Interesse die Fälle, in denen die Anordnung selbst noch keine Rechtsverletzung (in dem erwähnten Sinn) mit sich bringt, sondern erst durch das mehr oder weniger wahrscheinliche Hinzutreten weiterer Umstände zu einer Rechtsgutsverletzung führt. So kann die Zwangsräumung gegen einen psychisch ernstlich kranken Mieter erhebliche Gesundheitsschäden bei diesem verursachen,7 die Durch4 Vgl. Sachs, in: Sachs, Kommentar zum GG, 2. Aufl. 1999, Vor Art. 1, Rn. 94; zweifelnd Möstl, Staatliche Garantie (Fn. 1), S. 97. 5 Vgl. dazu Lorenz, Der Rechtsschutz des Bürgers und die Rechtsweggarantie, 1973, S. 133 ff. 6 BVerfGE 14, 174 (186). 7 BVerfGE 52, 214 (220 f.).

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führung der Hauptverhandlung trotz eines zu befürchtenden (weiteren) Schlaganfalls des Beschuldigten sich als lebensbedrohend auswirken.8 In diesen Maßnahmen als solchen liegt noch keine Verletzung von Leben und Gesundheit, da die in ihrer Folge eintretenden Beeinträchtigungen nicht gewiss, sondern nur möglich sind. Diese Unsicherheit ist keine zwangsläufige Begleiterscheinung der zuvor beschriebenen Trennung von normativer Anordnung (z. B. der Vorladung) und tatsächlicher Maßnahme, sondern geht noch über sie hinaus. Denn der Eintritt des vom Grundrecht gegebenenfalls missbilligten tatsächlichen Verletzungserfolgs steht dort infolge seiner Antizipation in der rechtlichen Anordnung mit deren Erlass praktisch bereits fest. Demgegenüber bringt in der zuletzt genannten spezifischen Gefährdungskonstellation erst die Durchführung der Maßnahme Klarheit über das Vorliegen einer Rechtsgutsbeeinträchtigung, ist diese also in der Anordnung noch nicht enthalten. Solche Gefährdungen sind gleichwohl für den Grundrechtsschutz nicht unbeachtlich. Sie liegen zwar „im allgemeinen noch im Vorfeld verfassungsrechtlich relevanter Grundrechtsbeeinträchtigungen“,9 können aber unter bestimmten Voraussetzungen einer Grundrechtsverletzung gleich zu achten sein;10 trotz bloßer Gefährdung des betreffenden Rechtsguts liegt dann ein Eingriff in das Grundrecht vor. Denn der grundrechtliche Garantiegehalt ist auf die Integrität des geschützten Rechtsguts gerichtet und entfaltet deshalb bereits gegenüber dessen bloß potentieller Verletzung seine negatorische Wirkung.11 c) Die Bestimmung der verletzungsgleichen Gefährdung Unter welchen Voraussetzungen die Gefährdung eines Rechtsguts dessen Verletzung gleich zu achten ist und damit einen Grundrechtseingriff bedeutet, hat das Bundesverfassungsgericht bisher nicht abschließend entschieden.12 Eine solche „Grundrechtsverletzung im weiteren Sinn“ liegt jedenfalls vor, wenn ernsthaft der Verlust des Lebens oder ein schwerwiegender Gesundheitsschaden zu befürchten ist.13 Auf der anderen Seite wurden aber auch die damit kaum vergleichbaren Bedrohungen durch Lagerung und Transport von C-Waffen auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland als verletzungsgleiche Gefährdungen angesehen, die den grundrechtlichen 8

BVerfGE 51, 324 (346). BVerfGE 51, 324 (346). 10 BVerfGE 49, 89 (141); 66, 39 (57 f.); 77, 170 (220); Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S. 127 ff. 11 Vgl. Sachs, in: Komm. zum GG, Vor Art. 1 (Fn. 4), Rn. 94. 12 Vgl. zuletzt BVerfGE 77, 170 (220). 13 BVerfGE 51, 324 (346 f.). 9

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Abwehranspruch aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG auslösen könnten.14 Hinsichtlich der Aufstellung von Pershing-II-Raketen war dies noch offen gelassen worden, doch hatte das Bundesverfassungsgericht hier das Vorliegen einer verletzungsgleichen Beeinträchtigung von Leib und Leben mangels tatsächlicher Grundlage verneint, anhand deren die Eintrittswahrscheinlichkeit der geltend gemachten Gefahren verlässlich hätte beurteilt werden können.15 Die für unsere Thematik relevanten Konstellationen weisen also eine erhebliche Spannweite auf. Wo verläuft nun aber die Trennlinie zwischen einer qualifizierten Rechtsgutsgefährdung, die den grundrechtlichen Abwehranspruch auslöst, und einer bloß abstrakt möglichen Beeinträchtigung, die unterhalb der Schwelle grundrechtlicher Beachtlichkeit liegt? Im Polizeirecht, der klassischen Rechtsmaterie der Gefahrenabwehr, wird eine Gefahr angenommen, wenn bei ungehindertem Geschehensablauf mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in naher Zukunft ein Schadenseintritt zu erwarten ist.16 Für dieses wertende Urteil ist das reziproke Verhältnis von Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß leitend: „Je höherrangiger ein Rechtsgut ist und je größer der ihm drohende Schaden, umso geringere Anforderungen sind an die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts zu stellen.“17 Auch die Annahme einer grundrechtsrelevanten Gefährdung verlangt ein methodisch einwandfreies und rational nachvollziehbares Prognoseurteil18 und kann deshalb insoweit strukturell auf diese polizeirechtliche Formel zurückgreifen. Sie dient jedoch nicht, wie der polizeiliche Gefahrbegriff, der Begründung staatlicher Eingriffsbefugnisse gegenüber dem Bürger, sondern der Erweiterung des diesem zukommenden Grundrechtsschutzes und verfolgt damit innerhalb des Erforderlichkeitsprinzips eine gegenteilige Tendenz zu jenem. Dieser grundsätzliche funktionale Unterschied verlangt eine eigenständige Bestimmung. Danach wird die vorliegend behandelte Rechtsgutsgefährdung „durch einen spezifischen Wahrscheinlichkeitsgrad gekennzeichnet“, der zwischen der Unbeachtlichkeit einer nie auszuschließenden abstrakten Möglichkeit einer Beeinträchtigung und der überhöhten Anforderung sicheren Eintritts eines Schadens liegt.19 Diese Entscheidung kann naturgemäß nur aufgrund einer wertenden Beurteilung im Einzelfall getroffen werden, die sich nicht an den Kriterien eines rechtsbeschränkenden polizeilichen Eingriffs, sondern des rechtsbewahrenden Modells vorbeugenden 14 15 16 17 18 19

BVerfGE 77, 170 (220). BVerfGE 66, 39 (59). Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 2. Aufl. 2003, Rn. 69. Schenke, Polizeirecht (Fn. 16), Rn. 77. BVerfGE 51, 324 (348). BVerfGE 51, 324 (349).

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Rechtsschutzes orientiert.20 Leitlinien hierfür sind „Art, Nähe und Ausmaß möglicher Gefahren, die Art und der Rang des verfassungsrechtlich geschützten Rechtsguts“ aber auch die Möglichkeit, etwaige Verletzungen zu beheben.21 Am augenfälligsten und in Rechtsprechung und Literatur überwiegend thematisiert sind Grundrechtsgefährdungen in Bezug auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG). Sie kommen jedoch auch bei anderen Grundrechten vor.22 So kann etwa die mit der Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) zur Sicherung freier Meinungsbildung gewährleistete Programmautonomie der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten durch die Art ihrer – als solcher unbedenklichen –23 staatlichen Finanzierung beeinträchtigt werden.24 Obwohl offensichtlich auch hier Gefährdungskonstellationen vorliegen, rekurriert das Gericht allerdings nicht auf die Frage der Grundrechtsgefährdung, sondern stützt die Annahme einer Grundrechtsbeeinträchtigung auf die „Gefahr einer indirekten Einflussnahme“.25 Auch in einer solchen mittelbaren Einwirkung ist aber nach heutigem Verständnis ein Grundrechtseingriff zu sehen.26 Die abwehrrechtliche Problematik der Grundrechtsgefährdung geht auf diese Weise in der Dogmatik des erweiterten materiellen Eingriffsbegriffs auf.27 2. Die Abwehr von Risiken a) Risiko und Gefahr Mit dem Begriff des Risikos verbindet sich die Vorstellung von der Möglichkeit eines Schadens; so spricht etwa das Bundesverfassungsgericht vom „Risiko eines Schadens“.28 Es weist damit eine unverkennbare Affinität zum Gefahrbegriff auf29 und bezeichnet eine Stufe geringerer Wahrscheinlichkeit,30 die für ein polizeiliches Einschreiten zur Gefahrenabwehr nicht 20

Vgl. Lorenz, in: HdBStR, Bd. VI, 2. Aufl. 2001, § 128, Rn. 30; vgl. auch BVerfGE 53, 30 (52). 21 BVerfGE 51, 324 (347). 22 Isensee, in: HdBStR, Band V, § 111 (Fn. 1), Rn. 93. 23 BVerfGE 73, 118 (158); 87, 181 (199). 24 BVerfGE 90, 60 (90 ff.). 25 BVerfGE 90, 60 (93). 26 Vgl. dazu Lerche, in: HdBStR, Band V, § 121, Rn. 50; Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, 20. Aufl. 2004, Rn. 238 ff. 27 Vgl. dazu auch Murswiek, Staatliche Verantwortung (Fn. 10), S. 134 ff. 28 BVerfGE 66, 39 (58). 29 Vgl. BVerfGE 56, 54 (78). 30 Vgl. Murswiek, Staatliche Verantwortung (Fn. 10), S. 81 ff.

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ausreichen würde. Es sieht sich damit in einer Reihe zwischen der polizeilichen Gefahr und dem nicht mehr ins Kalkül zu ziehenden sogenannten Restrisiko, das unterhalb der Schwelle praktisch beachtlicher Schadensmöglichkeiten liegt,31 und erscheint so als untechnisch und dogmatisch unergiebig.32 Die grundrechtliche Gefährdungskonstellation bezieht kraft ihrer Eigenständigkeit auch die staatliche Auferlegung von bloßen Risiken in diesem Sinn, z. B. durch die Stationierung bedrohlicher Waffensysteme, mit ein, sofern sie über eine bloß konstruierte, theoretisch immer denkbare Möglichkeit hinausgehen und nicht auf rein irrationalen Ängsten beruhen.33 b) Die Eigenständigkeit des Risikobegriffs Indes hat der Begriff des Risikos im Zusammenhang insbesondere mit dem Umwelt- und Technikrecht eine weitere Bedeutung34 erlangt, in der er sich vom Gefahrbegriff grundlegend unterscheidet.35 Er zielt nicht auf die Gefahrenabwehr durch Eliminierung von schadensträchtigen Sachlagen ab, sondern dient auf der Grundlage von deren akzeptierter Existenz der Beherrschung und Minimierung von Schadensmöglichkeiten. Mit ihnen wird eine Ungewissheit in Bezug auf die Beurteilung von Schadensereignissen bezeichnet, deren Eintrittsmöglichkeit mit den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln weder verifiziert noch ausgeschlossen werden kann.36 Risiken dieser Art resultieren vor allem aus technischen und sonstigen Entwicklungen im außerstaatlichen Bereich – Nutzung von Kernenergie, Gentechnik oder elektromagnetischen Wellen, Entstehung neuer Krankheitsbilder und Einsatz von Arzneimitteln usw.37 – und können insoweit dem Staat nicht als Eingriffe zugerechnet werden. Ihnen gegenüber bleiben die Grundrechte in ihrer Abwehrfunktion deshalb wirkungslos. II. Die grundrechtliche Schutzpflicht Verletzungen grundrechtlich geschützter Rechtsgüter drohen jedoch nicht nur vom Staat, sondern mehr noch von dritter Seite. Sie können nicht als 31

BVerfGE 49, 89 (143). Vgl. dazu etwa Stoll, Sicherheit als Aufgabe von Staat und Gesellschaft, 2003, S. 152 ff. 32 Isensee, in: HdBStR, Band V, § 111 (Fn. 1), Rn. 106. 33 Vgl. Isensee, in: HdBStR, Band V, § 111 (Fn. 1), Rn. 146. 34 Vgl. dazu Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 73 ff.; Scherzberg, VerwArch 84 (1993), S. 490 ff. 35 Vgl. Koenig, NVwZ 1994, 938; Möstl, Staatliche Garantie (Fn. 1), S. 256 ff. 36 Vgl. Schmieder, Risikoentscheidungen im Gentechnikrecht, 2004, S. 76 f. 37 Vgl. Di Fabio, Jura 1996, 570.

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solche abgewehrt werden, da ein für jene verantwortlicher Privater durch die Grundrechte nicht verpflichtet wird (Art. 1 Abs. 3 GG). Ihnen muss deshalb der Staat durch entsprechende Schutzmaßnahmen begegnen, durch die eine Schmälerung des substantiellen Grundrechtsgehalts verhindert wird. 1. Grundlage und Inhalt der Schutzpflicht Grundlage ist die staatliche Schutzpflicht.38 Diese kann nicht aus einer staatlichen Verantwortung für eine umfassende Grundrechtsgewährleistung abgeleitet werden, deren Vernachlässigung bei Beeinträchtigungen von dritter Seite quasi als staatlicher Eingriff durch Unterlassung abgewehrt werden könnte.39 Sie ergibt sich vielmehr nach ganz h. M.40 aus der Bedeutung der Grundrechte als objektive Wertentscheidungen, die den Staat nicht nur zur Achtung der Grundrechte, sondern auch zu ihrem Schutz gegen Beeinträchtigungen außerhalb staatlichen Handelns verpflichten. Diese Schutzpflicht ist ausdrücklich nur in Art. 1 Abs. 1 GG für die Menschenwürde vorgesehen, wurde aber auf dieser Grundlage zunächst auf das Leben des Ungeborenen erstreckt41 und ist heute für alle Grundrechte anerkannt.42 In ihrer objektiven Wirkung verlangt die Schutzpflicht vom Staat, die angemessenen und rechtlich zulässigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Integrität des grundrechtlichen Schutzguts zu erhalten.43 Je nach dem Ursprung der Beeinträchtigung kann es sich dabei um Maßnahmen legislativer, administrativer oder judizieller Art gegen private Dritte44 oder auch um sonstige Vorkehrungen handeln, um die Unversehrtheit grundrechtlicher Rechtsgüter bei Naturereignissen45 oder gegenüber auswärtiger öffentlicher Gewalt zu gewährleisten. Der Grundrechtsbezug der Schutzpflichten – und das ist wiederum unstreitig – bewirkt deren Subjektivierung und begründet einen grundrechtlichen Schutzanspruch gegen den Staat. 38 Vgl. dazu Isensee, in: HdBStR, Band V, § 111 (Fn. 1), Rn. 77 ff.; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 2. unv. Aufl. 2005; Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, 1996. 39 So Murswiek, Staatliche Verantwortung (Fn. 10), S. 106 ff.; vgl. demgegenüber Unruh, Zur Dogmatik, S. 46 f. 40 BVerfGE 39, 1 (41); 46, 160 (164); 56, 54 (73). 41 BVerfGE 39, 1 (41). 42 Vgl. z. B. BVerfGE 99,185 (198) für Persönlichkeitsrecht. 43 Vgl. Isensee, in: HdBStR, Band V, § 111 (Fn. 1), Rn. 137 ff. 44 Hierauf beschränkt Isensee, HdBStR, Band V, § 111 (Fn. 1), Rn. 83. 45 Ebenso Dietlein, Schutzpflichten (Fn. 38), S. 103.

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2. Der Schutz gegen Gefahren In einem formalen Sinn ist Anknüpfungspunkt der Schutzpflicht stets die Grundrechtsgefährdung. Anders als bei der Abwehr von Verletzungen bedeutet Schutz gegen eine Beeinträchtigung immer Schutz vor Verletzung, verlangt er ein vorsorgliches Tätigwerden, um eine zu befürchtende Grundrechtsverletzung zu verhindern.46 So enthalten die strafrechtlichen Sanktionsnormen zugleich und in erster Linie Verbote zum Schutz wesentlicher grundrechtlicher Rechtsgüter – Leben, Gesundheit, Freiheit, Eigentum – gegen Verletzungen seitens Dritter. Verwaltungsrechtlich trägt der Staat seiner Schutzpflicht durch Übernahme der Verantwortung für gefährdendes Handeln im Wege eines Erlaubnisvorbehalts Rechnung.47 Die Angewiesenheit des Grundrechtsschutzes auf eine gewährende staatliche Tätigkeit relativiert allerdings seine Effektivität. Denn in dem Dreiecks-Verhältnis zwischen dem für die Gefahr verantwortlichen Störer, dem Grundrechtsträger als Opfer und dem Staat als Freiheitsgaranten48 hat dieser bei Eingriffen gegenüber dem ersteren seinerseits dessen etwaige grundrechtliche Position zu wahren. Dass niemand berechtigt ist, andere an Leib und Leben zu verletzen, versteht sich von selbst (Art. 2 Abs. 1 GG); Strafnormen gegen die Tötung eines Menschen können sich deshalb grundsätzlich auf den Grundrechtsschutz möglicher Opfer konzentrieren. Komplizierter ist die Schutzgewährung dagegen, wenn sich der Urheber einer möglichen Verletzung seinerseits auf Grundrechte berufen kann. Diese Problematik beherrscht die Diskussion um die Tötung ungeborenen menschlichen Lebens. Die für dieses bestehende Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verlangt nach der insoweit unbestrittenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts49 eine strafrechtliche Sanktionierung der Abtreibung, deren lebensvernichtende Bedeutung, ungeachtet der euphemistischen Wortwahl des Gesetzgebers in den §§ 218 f. StGB außer Frage steht. Die unzureichende Effektivität der Strafdrohung verlangt nach ergänzenden Vorkehrungen. Der gebotene Schutz des bedrohten Lebens hat jedoch im Ausgleich mit dem begrenzenden und deshalb gegenläufigen Prinzip der Verhältnismäßigkeit des Schutzeingriffs mit dem sogenannten Beratungskonzept (§§ 218a Abs. 1, 219 StGB)50 zu einer Lösung geführt, die nach Meinung von Kritikern angesichts einer Zahl von jährlich 135.000 statis46

Vgl. Vgl. S. 178 ff. 48 Vgl. 49 Vgl. 50 Vgl. 47

Hermes, Grundrecht (Fn. 38), S. 226 f. dazu Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, dazu Isensee, in: HdBStR, Band V, § 111 (Fn. 1), Rn. 168. BVerfGE 39, 1; 88, 203. dazu BVerfGE 88, 203 (270 ff.).

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tisch erfassten, legalen Abtreibungen dem Verfassungsgebot nicht (mehr) gerecht wird. Ein weiteres Beispiel zusätzlicher – hier wohl eher effektiver – rechtlicher Vorkehrungen zum vorbeugenden Schutz des ebenfalls grundrechtlich geschützten Lebens von Embryonen in vitro (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG)51 bietet das Embryonenschutzgesetz, nach dem nicht mehr Eizellen einer Frau künstlich befruchtet werden dürfen, als dieser in einem Zyklus übertragen werden sollen (§ 1 Abs. 1 Nr. 5 ESchG). Weiterhin könnte der Gefahr selektiver Abtötung von Embryonen je nach dem Geschlecht durch ein Verbot von dessen vorheriger Bestimmung begegnet werden. Alle diese Remedien zur Bannung von Gefahren wurzeln in dem das bedrohte Rechtsgut schützenden Grundrecht. Sie sind angesichts der weitreichenden Eigenverantwortung der zuständigen staatlichen Stellen für den Inhalt und die Wahrnehmung der Schutzpflicht im Einzelfall52 nicht in einer konkreten Modalität gefordert, wohl aber müssen sie der Gefahr angemessen sein, dürfen also nicht hinter den Anforderungen zurückbleiben, die für einen effektiven Grundrechtsschutz unerlässlich sind (Untermaßverbot).53 3. Der Schutz gegen Risiken Risiken im vorher erwähnten Sinn sind mit der Entwicklung in Wissenschaft und Technik als außerstaatlichen Bereichen untrennbar verbunden und werden von der Abwehrfunktion der Grundrechte substantiell nicht erfasst. Formal kann freilich eine Abwehrkonstellation entstehen, wenn der Staat in Wahrnehmung seiner Schutzpflicht die Verantwortung für die Zulassung konkreter Anlagen oder Tätigkeiten in einem präventiven Genehmigungsverfahren übernimmt.54 Mit Gestattung des Vorhabens wird ein betroffener Dritter dessen Auswirkungen preisgegeben. Hieraus resultierende Grundrechtsbeeinträchtigungen gehen damit auf einen staatlichen Eingriff zurück,55 der prozessual nach dem Modell der Eingriffsabwehr zurückgewiesen werden kann. Diese rechtstechnische Konstruktion eines mehrpoligen Rechtsverhältnisses ändert aber nichts an der dieser zugrunde liegenden materiellen Schutzpflicht. Diese umfasst auch „eine auf Grundrechtsgefährdungen bezogene Risikovorsorge“,56 noch bevor das durch das Grundrecht geschützte Rechtsgut erkennbar gefährdet ist. Mit der kraft demokratischer Entscheidung geschaffenen Sachlage, z. B. der friedlichen Nutzung der Kern51 Vgl. Lorenz, ZfL 2001, 38 ff.; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum GG, 5. Aufl. 2005, Art. 1, Rn. 19 m. w. Nachw. pro und contra. 52 Vgl. BVerfGE 46, 160 (164); 56, 54 (80 f.). 53 Vgl. Isensee, in: HdBStR, Band V, § 111 (Fn. 1), Rn. 165 f.; BVerfGE 88, 203 (254). 54 Vgl. dazu eingehend Dietlein, Schutzpflichten (Fn. 38), S. 90 ff. 55 Anders Dietlein, Schutzpflichten (Fn. 38), S. 93 f.

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energie (§ 1 AtomG) oder der Gentechnik (§ 1 GenTG), sind auch die Risiken, die aus jener zwangsläufig erwachsen, hinzunehmen. Sie liegen freilich nicht außerhalb der grundrechtlichen Schutzwirkung und müssen deshalb nach Art und Größe sowie Beherrschbarkeit schon bei jener grundlegenden Zulassungsentscheidung berücksichtigt werden. Ist diese aber, verfassungsrechtlich legitimiert, durch den Gesetzgeber getroffen worden, so gehören die betreffenden Techniken oder Verfahren, ungeachtet der mit ihnen einhergehenden unvermeidbaren Schadensmöglichkeiten, gleichsam zum zivilisatorischen Bestand wie der Kraftfahrzeug- oder der Flugverkehr mit ihren Folgen, etwa der Luftverschmutzung (Ozonbelastung)57 oder Lärmbelastung.58 Der grundrechtliche Schutzanspruch kann sich deshalb nicht mehr auf ihre Unterlassung, sondern nur auf Sicherungsvorkehrungen richten, die auf der Grundlage best verfügbarer Erkenntnis mögliche Verletzungen ausschließen oder minimieren. Sie finden ihre Grenze an den Möglichkeiten menschlicher Erkenntnis; nach Ausschöpfung aller für diese verfügbarer wissenschaftlicher Hilfsmittel verbleibende Unwägbarkeiten müssen als sogenanntes Restrisiko hingenommen werden.59 III. Schutz gegen Grundrechtsgefährdungen als Grundrechtstatbestand Nicht selten sind Grundrechte darauf gerichtet, die Verletzung eines Rechtsguts durch Etablierung eines Schutzbereichs gegen Vorfeld-Gefährdungen zu verhindern. So soll das Grundrecht des Fernmeldegeheimnisses (Art. 10 Abs. 1 GG) angesichts der technischen Zugriffsmöglichkeiten des Übermittlers auf telefonische Kommunikationen der „Gefahr für die Vertraulichkeit der Mitteilung begegnen“,60 die als das eigentlich materiell schutzbedürftige Rechtsgut erscheint. In diesem Sinn ist auch das durch Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 3 WeimRV, im ursprünglichen Kontext der Weimarer Reichsverfassung noch grundrechtlich garantierte religiöse Schweigerecht zu verstehen: Es verweigert dem Staat Informationen über den Glauben seiner Bürger und schützt den Einzelnen damit vor diesbezüglichen hoheitlichen Repressalien. 56 BVerfGE 56, 54 (78), das allerdings den Risikobegriff hier wohl im untechnischen Sinn (s. oben I. 2. a)) gebraucht; vgl. Möstl, Staatliche Garantie (Fn. 1), S. 270 ff. 57 Vgl. BVerfG, NJW 1996, 651. 58 Vgl. BVerfGE 56, 54. 59 BVerfGE 49, 89 (137); Di Fabio, Jura 1996, 570. 60 BVerfGE 85, 386 (396).

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Verallgemeinert begründet das informationelle Selbstbestimmungsrecht in ähnlicher Weise einen spezifischen grundrechtlichen Schutz der menschlichen Persönlichkeit gegen Gefährdungen. Die informationelle Selbstbestimmung ist seit dem Volkszählungsurteil vom 15.12.198361 als Ausdruck des allgemeinen Persönlichkeitsrechts anerkannt.62 Es knüpft an die moderne Entwicklung der Informationsgesellschaft an und will die Persönlichkeit des Einzelnen vor Gefährdungen durch die Verwendung „seiner“, das heißt auf ihn bezogener Informationen seitens Dritter schützen. Mit der Garantie der freien Entfaltung der Persönlichkeit schützt Art. 2 Abs. 1 GG außer der Persönlichkeit als solcher63 die Privatsphäre im Sinn eines umgrenzten Eigenbereichs, der einerseits – außerhalb der Garantie des Art. 13 GG für die Wohnung – räumlich bestimmt ist, andererseits sich gegenständlich, „thematisch“, auf Angelegenheiten bezieht, die innerlich mit der individuellen Persönlichkeit so eng verknüpft sind, dass sie in besonderer Weise Vertraulichkeit in Anspruch nehmen können, wie z. B. Eintragungen in ein Tagebuch, sexuelles Verhalten oder Krankheiten.64 Ein Eindringen in diesen Bereich stellt sich unmittelbar als Verletzung des Persönlichkeitsrechts, des durch das Grundrecht geschützten Rechtsguts, dar und aktiviert ohne weiteres den grundrechtlichen Abwehr- oder Schutzanspruch. Weitergehend werden in das informationelle Selbstbestimmungsrecht aber auch alle sonstigen personenbezogenen Daten (§ 3 Abs. 1 BDSG) einbezogen. Auch wenn das grundrechtliche Schutzgut der Persönlichkeitsentfaltung durch Informationen über für sich belanglose Umstände, wie Name und Adresse, aber auch etwa Reiseziele, Kaufgewohnheiten oder finanzielle Verhältnisse, nicht als verletzt erscheint, wird es doch gefährdet. Denn nicht nur können solche Informationen zur Steuerung individuellen Verhaltens verwendet werden und damit die grundrechtliche Autonomie nachhaltig beschneiden. Eine Gefährdung der Persönlichkeitsentfaltung liegt vor allem auch in der durch die moderne Informationstechnologie ermöglichten Verknüpfung von Daten bis hin zur Erstellung eines Persönlichkeitsbildes. Die daraus resultierende Unsicherheit des Bürgers hinsichtlich der beim Staat oder einem privaten Kommunikationspartner verfügbaren Informationen und der auf dieser Grundlage zu gewärtigenden Konsequenzen hat Rückwirkungen auf sein – selbst grundrechtlich geschütztes – Verhalten, wie die Teilnahme an Versammlungen.65 Diese zu befürchtende Beschneidung der 61 62 63 64 65

BVerfGE 65, 1. Vgl. z. B. Albers, Informationelle Selbstbestimmung, 2005. Vgl. Lorenz, JZ 2005, 1124 ff. Vgl. BVerfGE 101, 361 (382 f.). Vgl. BVerfGE 65, 1 (45).

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Persönlichkeitsentfaltung wird durch das grundrechtliche Verbot der Datenerhebung also bereits im Vorfeld ausgeschlossen. IV. Fazit Insgesamt lässt sich damit eine Tendenz zu einem zunehmend vorgelagerten Schutz des Einzelnen gegenüber Verletzungen seiner Rechte feststellen. Das formelle Instrumentarium eines effektiven und deshalb auch vorbeugenden gerichtlichen Rechtsschutzes findet eine substantiell materiellrechtliche Entsprechung in einem vorverlagerten Grundrechtsschutz. Dieser hat einen Schwerpunkt in der grundrechtlichen Verpflichtung zur Berücksichtigung und Minimierung von Risiken im Gefolge moderner technischer und zivilisatorischer Entwicklungen. Er wirkt sich aber auch in seinen klassischen Anwendungsfeldern beim Schutz gegen und vor Gefahren für die geschützten Rechtsgüter aus.

Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit im Wandel der Zeit Von Reinhard Richardi I. Einführung Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit lässt die politischen Kräfte in Untätigkeit erstarren, das Arbeitsleben zu gestalten. Selbst soweit es um die Befugnisse der Koalitionen geht, verhallen die Worte des BVerfG, es sei Sache des Gesetzgebers, „die Tragweite der Koalitionsfreiheit dadurch zu bestimmen, dass er die Befugnisse der Koalitionen im Einzelnen gestaltet und näher regelt“.1 Dabei hat der Jubilar bereits in seiner Habilitationsschrift „Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem“ (1971) die Grundlagen gelegt, um das Recht der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände im System der grundgesetzlichen Staats- und Gesellschaftsordnung zu bestimmen. Der korporatistischen Ordnung, die das Arbeitsleben rechtstatsächlich beherrscht, hält er entgegen, dass das Grundgesetz keine personal eigenständige oder material eigenwertige Kollektivität kennt.2 Daraus werden die Konsequenzen für die Koalitionsfreiheit gezogen, die sich „ihrem Wortlaut und ihrem Entstehungsgrund entsprechend als ausschließliches Individualgrundrecht“ erweise.3 Grundrechtsdogmatisch ist es daher verfehlt, den kollektivrechtlichen Tatbestand des Koalitionswesens von dem Individualgrundrecht der Koalitionsfreiheit zu lösen und in einer verfassungsrechtlichen Gewährleistung zu verselbständigen.4 Ein Kollektivschutz besteht demnach nicht als Kontrastgrundrecht, sondern nur als Folge der Grundrechtsausübung. Daraus zieht Rupert Scholz die Konsequenz für die verfassungsrechtliche Beurteilung: Die Koalitionsexistenz sei mit der dauernden Ausübung der individualen Einigungsrechte identisch; das Verfahren der Koalitionseinigung leite sich aus der „summierten Ausübung der individualrechtlichen Vertragsfreiheiten“ ab, und das Verfahren des Koalitionskampfes sei „nichts anderes als die summierte Ausübung der individualrechtlichen Wettbewerbsfreiheiten“.5 1

BVerfGE 50, 290 (368). Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, S. 133. 3 Scholz, Koalitionsfreiheit (Fn. 2), S. 135. 4 So bereits Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille bei der Gestaltung des Arbeitsverhältnisses, 1968, S. 69 ff. 5 Scholz, Koalitionsfreiheit (Fn. 2), S. 137. 2

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Im Lichte dieses Leuchtturms erhält man einen klaren Blick für die in vielfältiger Weise problematische Einbeziehung der Verbände in die Gestaltung des Arbeitslebens. II. Von der Duldung zur verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Koalitionsfreiheit 1. Koalitionsfreiheit als Folge der Aufhebung der Koalitionsverbote Mit der Anerkennung der Vertragsfreiheit für das Arbeitsleben in Handel und Gewerbe war zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Weg in die moderne Arbeitsverfassung geebnet, aber erst durch die Beseitigung der Koalitionsverbote durch die Gewerbeordnung 1869 die Voraussetzung dafür geschaffen, Machtdefizit und Imparität, die der Funktionsfähigkeit der Vertragsfreiheit im Arbeitsverhältnis entgegenstanden, durch Assoziierung zu überwinden. Aufgehoben wurden durch § 152 Abs. 1 GewO „alle Verbote und Strafbestimmungen gegen Gewerbetreibende, gewerbliche Gehülfen, Gesellen oder Fabrikarbeiter wegen Verabredungen und Vereinigungen zum Behufe der Erlangung günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen, insbesondere mittelst Einstellung der Arbeit oder Entlassung der Arbeiter“. Zwar stand jedem Teilnehmer, wie es in § 152 Abs. 2 GewO hieß, „der Rücktritt von solchen Vereinigungen und Verabredungen frei, und es [fand] aus letzteren weder Klage noch Einrede statt“; dieser Umstand hinderte aber nicht, wie bereits Philipp Lotmar feststellte, die Anerkennung des Tarifvertrags zur „Begründung eines vollkommenen Rechtsverhältnisses der Koalierten zu Dritten, hier zu dem Mitkontrahenten des Tarifvertrags“.6 Deutlich wird dadurch aber auch, dass für die Tarifautonomie die primäre Ordnungsentscheidung des Rechts die individuelle Vertragsfreiheit ist. Erst sekundär tritt die Koalitionsfreiheit hinzu. Ohne die privatautonome Befugnis jedes einzelnen Arbeitnehmers zur Begründung und Gestaltung des Arbeitsverhältnisses mit dem Arbeitgeber fehlt der Tarifautonomie die Basis. Deshalb gibt es sie auch nicht, wenn ein Dienstverhältnis öffentlich-rechtlich begründet und gestaltet wird. Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit ist ein verfahrensgeprägtes Grundrecht, das bei Bestehen einer Regelungszuständigkeit des einzelnen gewährleistet, durch organisierten Zusammenschluss zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Regelungen durch Vertrag zu treffen. Die Herstellung der Koalitionsfreiheit erschöpfte sich in der Aufhebung der strafbewehrten Koalitionsverbote.7 Sie bezog sich auf die Streikfreiheit, 6

Lotmar, Der Arbeitsvertrag nach dem Privatrecht des Deutschen Reiches, Bd. I, 1902, S. 767. 7 Kollmann, Die Entstehungsgeschichte der deutschen Koalitionsgesetzgebung, 1916.

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um Gleichheit zwischen den Gewerbetreibenden und Arbeitern herzustellen. Das war das leitende Motiv für das Eintreten Bismarcks zugunsten der Koalitionsfreiheit.8 Die Koalitionsfreiheit sei eine Bürgschaft des wirtschaftlichen Friedens; denn weniger im Ausstand als in seiner Möglichkeit liege der Schutz der Arbeiterschaft gegen unbillige Lohnsätze. 2. Koalitionsfreiheit in der Weimarer Reichsverfassung Vom Bezug zum Arbeitskampf löste sich die Weimarer Reichsverfassung, als sie die Koalitionsfreiheit durch Art. 159 für jedermann und, da die Koalitionsfreiheit bisher für die Landwirtschaft nicht bestand, für alle Berufe gewährleistete. Man wählte aber bewusst nicht den Begriff der Koalitionsfreiheit, sondern den Begriff der „Vereinigungsfreiheit zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“, ohne zugleich einen Hinweis auf den Arbeitskampf in die verfassungsrechtliche Garantie aufzunehmen. Auch der Räteartikel der Weimarer Reichsverfassung, Art. 165, sprach in seinem Abs. 1 nur davon, dass die beiderseitigen Organisationen und ihre Vereinbarungen anerkannt werden, ohne den Arbeitskampf zu erwähnen. Dahinter stand – jedenfalls bei Hugo Sinzheimer, der in der Weimarer Nationalversammlung der Berichterstatter für die maßgeblichen Verfassungsartikel war, – die Überzeugung, dass es in einer sozialistischen Gesellschaftsordnung keinen Arbeitkampf gebe; es sollte daher in der Verfassung kein Widerstand gegen die Herbeiführung einer derartigen Ordnung errichtet sein. Entsprechend war es dem Staat daher auch ermöglicht, wenn eine gütliche Einigung zwischen den Tarifvertragsparteien scheiterte, nach der Schlichtungsverordnung vom 30. Oktober 1923 ein Schlichtungsverfahren einzuleiten, und zwar auch gegen den Willen der Beteiligten (Einlassungszwang), und er konnte einen Spruch für verbindlich erklären, wenn die Beteiligten sich ihm nicht freiwillig unterwarfen (Verbindlichkeitserklärung). Dadurch konnte ein Zwangstarif geschaffen werden, der über das in der Tarifvertragsverordnung vom 23. Dezember 1918 vorgesehene Rechtsinstitut der Allgemeinverbindlicherklärung auf die Arbeitgeber und Arbeitnehmer erstreckt werden konnte, die nicht den tarifschließenden Verbänden angehörten. Der Staat schuf deshalb Arbeitsbehörden, die zur Wahrnehmung der Regelungsautonomie durch die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände eine Hilfsfunktion entfalten sollten. Da aber das Arbeitsrecht in der Weimarer Zeit zunehmend von Kollektivierungstendenzen beherrscht wurde, bereitete sich schleichend ein Umbruch in der Arbeitsverfassung vor.9 An die Stelle einer vertragsbezogenen Rechtsbeziehung trat zunächst nur ergänzend, dann 8

Vgl. Kollmann, Koalitionsgesetzgebung (Fn. 7), S. 211 ff.

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aber sie zersetzend und ersetzend eine betriebsbezogene Gestaltung der Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen. Rechtstatsächlich wie auch normativ bewertend waren damit die Tore geöffnet, um einer die Vertragsfreiheit beseitigenden Arbeitsverfassung den Boden zu bereiten. Dem Nationalsozialismus fiel es daher leicht, die Arbeitsverfassung in den Griff zu bekommen. 3. Koalitionsfreiheit als Verfassungsgarantie der sozialen Selbstverwaltung Das Grundgesetz gewährleistet unter Anlehnung an den Wortlaut des Art. 159 WRV in Art. 9 Abs. 3 Satz 1 für jedermann und für alle Berufe das „Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden“. Wie Art. 159 WRV verwendet es nicht den Begriff der Koalitionsfreiheit. Es hat auch nur das Individualgrundrecht positiviert und ihm in Art. 9 Abs. 3 GG einen „fast unscheinbaren Platz“ zugewiesen.10 Es fehlt also eine Aussage, wie sie Art. 165 WRV in seinem Abs. 1 Satz 2 festgelegt hatte: „Die beiderseitigen Organisationen und ihre Vereinbarungen werden anerkannt“. Dennoch hat das BVerfG schon in seinem Urteil vom 18. November 1954 das Tarifvertragssystem in den Grundrechtsschutz einbezogen.11 Der Sachverhalt, der dem Urteil zugrunde lag, ist angesichts der Grundsatzproblematik, um die es geht, denkbar banal. In dem Rechtsstreit einer Hilfsarbeiterin gegen einen Hutfabrikanten hatte das Landesarbeitsgericht Bayern dessen Berufung als unzulässig verworfen, weil nach dem damals geltenden Arbeitsgerichtsgesetz des Freistaats Bayern nur Angestellte tariffähiger Vereinigungen die Prozessvertretung übernehmen konnten, der Berufungskläger sich aber von dem Angestellten einer Vereinigung hatte vertreten lassen, die nach Ansicht des Berufungsgerichts nicht tariffähig war, weil ihr als gemischt-fachlicher Unternehmerverband Unternehmer der verschiedensten Fachrichtungen als Mitglieder angehörten. Obwohl die Vereinigung nach ihrer Satzung berechtigt war, Tarifverträge abzuschließen, hatte das Landesarbeitsgericht die Tariffähigkeit verneint, weil es an einer unerlässlichen Voraussetzung, nämlich am Zusammenschluss auf fachlicher Ebene, fehle. Obwohl das Tarifvertragsgesetz keine Bestimmung enthält, die dieses Ergebnis rechtfertigt, verneinte das BVerfG einen Verstoß gegen Art. 9 Abs. 3 GG und wies deshalb die von dem Arbeitgeber und seiner Vereinigung eingelegten Verfassungsbeschwerden zurück. Es ging also davon aus, dass der Gesetzgeber eine derartige Begren9 Vgl. Picker, Ursprungsidee und Wandlungstendenzen des Tarifvertragswesens – Ein Lehrstück zur Privatautonomie am Beispiel Otto v. Gierkes, in: Gedächtnisschrift für Brigitte Knobbe-Keuk, 1997, S. 879 (895 ff.). 10 So Scholz, Koalitionsfreiheit (Fn. 2), S. XVII. 11 BVerfGE 4, 96 ff.

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zung vornehmen kann; es hat in diesem Zusammenhang aber zugleich verdeutlicht, welche Grenzen dem Gesetzgeber das in Art. 9 Abs. 3 GG verankerte Grundrecht der Koalitionsfreiheit bei einer Regelung des Tarifvertragssystems zieht. Was der Parlamentarische Rat bei der Positivierung der Koalitionsfreiheit offengelassen hatte, schloss das BVerfG in diesem Urteil vom 18. November 1954; es bezog nach dem Vorbild des Art. 165 Abs. 1 Satz 2 WRV das Tarifvertragssystem in den Koalitionsschutz ein. Wenn die in Art. 9 Abs. 3 GG garantierte Koalitionsfreiheit „nicht ihres historisch gewordenen Sinnes beraubt“ werden solle, müsse „im Grundrecht des Art. 9 Abs. 3 GG ein verfassungsrechtlich geschützter Kernbereich auch in der Richtung liegen, daß ein Tarifvertragssystem im Sinne des modernen Arbeitsrechts staatlicherseits überhaupt bereitzustellen ist und daß Partner dieser Tarifverträge notwendig frei gebildete Koalitionen sind“.12 Das Urteil des BVerfG bezog sich zwar unmittelbar nur darauf, welche Vereinigung als tariffähig anzuerkennen ist, ohne die inhaltliche Reichweite der Tarifautonomie ausdrücklich festzulegen. Durch die Entscheidung erfolgte aber gleichwohl eine Weichenstellung: Dem Gesetzgeber wurden Grenzen für die Gestaltung der Arbeitsrechtsordnung auferlegt, die bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung des Mitbestimmungsgesetzes vom 4. Mai 1976 durch das BVerfG im Urteil vom 1. März 1979 in Erscheinung traten: Gewichtsverlagerungen durch die gesetzliche Ordnung der Mitbestimmung sind mit Art. 9 Abs. 3 GG nur insoweit vereinbar, als die Tarifautonomie im Prinzip erhalten und funktionsfähig bleibt.13 Entscheidend für diese Sicht ist die bereits im Urteil vom 18. November 1954 getroffene Feststellung, „daß einer der Zwecke des Tarifvertragssystems eine sinnvolle Ordnung des Arbeitslebens, insbesondere der Lohngestaltung, unter Mitwirkung der Sozialpartner sein soll“.14 In Rechtsprechung und Schrifttum stand daher im Mittelpunkt, die Tarifautonomie als materielle Gesetzgebung zu bewerten.15 Mit dieser Begründung gelangte das BAG sogar zu dem Ergebnis, dass die Grundrechte nach Art. 1 Abs. 3 GG die Tarifverträge als unmittelbar geltendes Recht binden.16 Für diese Beurteilung gaben rechtshistorische Gründe den Ausschlag. Unter der Geltung der Tarifvertragsverordnung vom 23. Dezember 1918 nahm die überwiegend vertretene Lehre und vor allem die Rechtsprechung 12

BVerfGE 4, 96 (106). BVerfGE 50, 290 (370, 373, 377). 14 BVerfGE 4, 96 (107) – Hervorhebung im Original; so auch noch der Hinweis, dass die Koalitionsfreiheit einer „sinnvollen Ordnung des Arbeitslebens“ diene, in: BVerfGE 50, 290 (367). 15 BAGE 1, 258 (262 f.) = AP Nr. 4 zu Art. 3 GG; Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, 6. Aufl., Bd. II/1, 1967, S. 350 f. 16 BAGE 1, 258 (262 f.) = AP Nr. 4 zu Art. 3 GG. 13

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an, dass die tarifliche Regelung der Arbeitsbedingungen in die Einzelarbeitsverträge eingehe, dass sie Bestandteil der Arbeitsverträge werde oder dass sie als vereinbart gelte.17 Diese Betrachtungsweise stieß zwar auf Widerspruch, der ausschließlich rechtsdogmatisch begründet war, um die unmittelbare und zwingende Geltung der Tarifnormen richtig zu erklären.18 Für den Tarifvertrag müsse dasselbe gelten wie beim Gesetzesrecht; die tariflichen Normen seien nicht Bestandteil des Einzelarbeitsvertrags, sondern sie beherrschten seinen Inhalt wie beim Gesetzesrecht. Diese Auffassung hat sich durchgesetzt, als unter der Herrschaft des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit an die Stelle des Tarifvertrags die staatlich erlassenen Tarifordnungen getreten waren.19 Als man nach dem Zweiten Weltkrieg das Tarifvertragsgesetz schuf, wurde seine Notwendigkeit damit begründet, dass ein Tarifvertrag ohne gesetzliche Anordnung einer rechtsverbindlichen Normenwirkung nicht gleichwertig neben den weiter geltenden Tarifordnungen stünde und daher keinerlei Aussicht hätte, an ihre Stelle zu treten.20 Diese Grundvorstellung hat die Rechtsprechung des BVerfG geprägt. Es wird unterstellt, der Staat habe durch das Grundrecht der Koalitionsfreiheit den Tarifvertragsparteien die Befugnis übertragen, „in dem von der staatlichen Rechtssetzung frei gelassenen Raum das Arbeitsleben im einzelnen durch Tarifverträge sinnvoll zu ordnen, insbesondere die Höhe der Arbeitsvergütung für die verschiedenen Berufstätigkeiten festzulegen, und so letztlich die Gemeinschaft sozial zu befrieden“.21 Daraus zieht das BVerfG die Konsequenz: „Nur Koalitionen, die diese Aufgabe sinnvoll erfüllen können, kann der Staat an der Tarifautonomie teilnehmen lassen.“22 Diese Beurteilung widerspricht im Grundansatz der Erkenntnis von Rupert Scholz, dass die Tarifautonomie dem status collectivus angehört, der als Ausübungsform durch das Individualgrundrecht der Koalitionsfreiheit verfassungsrechtlich garantiert ist. Der Schwerpunkt liegt daher nicht in einer verfassungsrechtlich verliehenen Rechtssetzungsbefugnis, sondern in der „summierten Ausübung der individualrechtlichen Vertragsfreiheiten“.23 17 Kaskel, Arbeitsrecht, 3. Aufl., 1928, S. 35 ff.; Jacobi, Grundlehren des Arbeitsrechts, 1927, S. 221 ff.; vgl. auch RGZ 114, 194 (195); st. Rspr. des RAG; so RAG Bensheimer Sammlung, Bd. 11, 35 (38) und 412 (414). 18 Lehmann, Tarifvertrag und Nachwirkung, 1927, S. 21 f.; Nipperdey, in: Hueck/ Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, 3./5. Aufl., 1932, Bd. II S. 240 ff. 19 Vgl. Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey/Dietz, Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit, Kommentar, 4. Aufl., 1943, § 32, Rn. 168. 20 Sitzler, Tarifvertrag oder Tarifordnung?, in: RdA 1948, 8 (10); vgl. auch Richardi, Von der Tarifautonomie zur tariflichen Ersatzgesetzgebung, in: FS Konzen, 2006, S. 791 (796 f.). 21 BVerfGE 18, 18 (28). 22 BVerfGE 18, 18 (28).

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4. Tarifliche Rechtssetzung als Form privatautonomer Rechtsgestaltung Den für die Tarifautonomie entscheidenden Gesichtspunkt hat das BVerfG zunächst nur am Rand genannt: Das Zurücktreten des Staates zugunsten der Tarifparteien gewinne „seinen Sinn ebensosehr aus dem Gesichtspunkt, daß die unmittelbar Betroffenen besser wissen und besser aushandeln können, was ihren beiderseitigen Interessen und dem gemeinsamen Interesse entspricht, als der demokratische Gesetzgeber, wie aus dem Zusammenhang mit dem für die Gestaltung nicht öffentlich-rechtlicher Beziehungen charakteristischen Prinzip der „Privatautonomie“, im Grunde also der Entscheidung des Grundgesetzes zugunsten des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates“.24 Auch wenn die These von der Übertragung der Regelungszuständigkeit des Staats an die Tarifvertragsparteien zur sinnvollen Ordnung des Arbeitslebens nicht verabschiedet wurde, ist für das BVerfG maßgebend letztlich seine Sicht, dass wegen der Verankerung im Grundrecht der Koalitionsfreiheit die Koalitionen durch den Abschluss von Tarifverträgen eine Regelung „in eigener Verantwortung und im wesentlichen ohne staatliche Einflußnahme“ treffen.25 Dieser Grundansatz hat Konsequenzen, die erst zum Teil gezogen werden. Die Tarifvertragsparteien erfüllen keine Aufgaben des Gemeinwohls, sondern nehmen Mitglieder- und Verbandsinteressen wahr. Nichts anderes lehrt auch der Jubilar, wenn er sagt, dass das von den Tarifvertragsparteien zu beachtende Gemeinwohl dem antagonistischen Zusammenwirken der Sozialpartner anvertraut sei; es sei ihnen „zur gemeinsamen Verantwortung aufgegeben“.26 Diese Feststellung darf man nicht dahin interpretieren, dass das Koalitionsverfahren zur Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen eine besondere Form der Wahrnehmung von Gemeinwohlbelangen darstellt; es geht nicht um eine gemeinsame Formulierung des Gemeinwohls durch die Tarifvertragsparteien, sondern um die Koinzidenz des Tarifvertragssystems mit dem Gemeinwohl.27 Das gilt letztlich allgemein für die Privatautonomie als Teil des allgemeinen Prinzips der Selbstbestimmung des Menschen. 23 Scholz, Koalitionsfreiheit (Fn. 2), S. 137; vgl. auch Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, 1996, S. 358 ff. 24 BVerfGE 34, 308 (317). 25 BVerfGE 44, 322 (341); 50, 290 (367); 58, 233 (246); s. auch BVerfGE 92, 365 (394 – unter C I 1c): „grundsätzlich selbstverantwortlich und ohne staatliche Einflußnahme“. 26 Scholz, Koalitionsfreiheit (Fn. 2), S. 221; ebenso bereits vorher Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen des Arbeitskampfes, 1968, S. 30. 27 Ebenso Picker, Die Regelung der „Arbeits- und Wirtschaftsbedingung“ – Vertragsprinzip oder Kampfprinzip, in: ZfA 1986, 204 (243); s. bereits Richardi, Kollektivgewalt (Fn. 4), S. 146.

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Das BAG hält deshalb auch nicht mehr an einer staatsanalogen Geltung der Grundrechte für die Tarifvertragsparteien fest. Es sieht vielmehr als entscheidend an, dass die Tarifnormen auf kollektiv ausgeübter Privatautonomie beruhen.28 Die Tarifvertragsparteien, die im Rahmen des durch das Grundrecht der Koalitionsfreiheit gewährleisteten Bereichs tätig würden, griffen nicht hoheitlich in Grundrechte ein. Die Grundrechte setzten nur mittelbar Grenzen, weil den Staat die Schutzpflicht treffe, Arbeitgeber und Arbeitnehmer vor einer unverhältnismäßigen Beschränkung ihrer Grundrechte durch tarifvertragliche Regelungen zu bewahren.

III. Tariffähigkeit und Tarifeinheit auf dem Prüfstand der Koalitionsfreiheit 1. Kriterium der sozialen Mächtigkeit zur Bestimmung der Tariffähigkeit einer Gewerkschaft Da den Tarifvertragsparteien die im allgemeinen Interesse liegende Aufgabe der Ordnung und Befriedigung des Arbeitslebens zugewiesen wird, verlangt man folgerichtig, dass jedenfalls eine Gewerkschaft über die entsprechende Verbandsmacht verfügen muss. In diesem Zusammenhang spielt eine Rolle, dass den Tarifvertragsparteien Ordnungs- und Schutzaufgaben übertragen sind, deren Regelung von der Einhaltung zwingenden Gesetzesrechts entbindet. Nicht jeder Gewerkschaft soll daher Tariffähigkeit zukommen, sondern nur einem Verband, der durch die Zahl seiner Mitglieder und deren Stellung im Arbeitsleben einen wirkungsvollen Druck und Gegendruck auf seinen sozialen Gegenspieler auszuüben vermag.29 Problematisch ist, dass für diese Festlegung der Richter an die Stelle des Gesetzgebers getreten ist. Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit erfordert nicht, dass jeder Koalition die Tariffähigkeit zukommt; doch wenn eine Gesetzesregelung fehlt, gehört es nicht zu den Aufgaben der Gerichte, „gesetzesvertretend“ die Voraussetzungen für die Tariffähigkeit einer Gewerkschaft festzulegen. In Betracht kann nur kommen, dass man dem mit einer Gewerkschaft geschlossenen Tarifvertrag die Anerkennung versagt, wenn die reale Durchsetzungsfähigkeit so gering ist, dass ein Interessenausgleich nicht mehr der Vertragsgerechtigkeit entspricht.30 28 BAG 88, 118 (124) = AP Nr. 11 zu § 1 TVG Tarifverträge: Luftfahrt; vgl. auch Dieterich, Die Grundrechtsbindung von Tarifverträgen, in: FS Schaub, 1998, S. 117 ff. 29 St. Rspr. des BAG; zuletzt BAG NZA 2006, 1112 ff.; vgl. dazu auch Richardi, Koalitionsfreiheit und Tariffähigkeit, in: FS Wißmann, 2005, S. 159 ff. 30 Vgl. auch Scholz, in: Maunz/Dürig, GG (1999), Art. 9, Rn. 218 a. E.

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Das Kriterium der sozialen Mächtigkeit verhindert nicht, dass Arbeitnehmer des Betriebs verschiedenen Gewerkschaften angehören können. Erreicht wird nur, dass nicht alle Gewerkschaften für den Abschluss eines Tarifvertrags in Betracht kommen. Dabei hat man allerdings zu beachten, dass das Fehlen einer Tariffähigkeit nicht zur Nichtigkeit des Vertrags führt, sondern lediglich dazu, dass der Vertrag nicht als Tarifvertrag qualifiziert werden kann. Er ist aber zwischen den Vertragsparteien gleichwohl wirksam; denn die Festlegung der Tariffähigkeit ist kein Verbotsgesetz im Sinne des § 134 BGB. Die Verneinung der Qualifizierung als Tarifvertrag hat Auswirkungen nur insoweit, als die mit dem Tarifvertrag verbundenen Rechtsfolgen keine Anwendung finden. Es entfällt die unmittelbare und zwingende Wirkung der Tarifnormen, die für die Inhaltsnormen eine beiderseitige Tarifgebundenheit der Arbeitsvertragsparteien voraussetzt (§ 4 Abs. 1 Satz 1 TVG). Das Fehlen einer Tarifgeltung fällt aber nicht erheblich ins Gewicht, weil Tarifverträge regelmäßig auf Grund einer Bezugnahme im Arbeitsvertrag anzuwenden sind. Es handelt sich in diesem Fall um vorformulierte Vertragsbedingungen, die im Sinne des § 305 BGB dem Arbeitsverhältnis zugrunde gelegt werden. Die Qualifizierung als Tarifvertrag spielt hier insoweit nur eine Rolle, als nach § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB die Gesetzesregelung über Allgemeine Geschäftsbedingungen auf Tarifverträge keine Anwendung findet. Da jedoch insoweit Betriebs- und Dienstvereinbarungen den Tarifverträgen gleichgestellt sind, spricht diese Wertung des Gesetzgebers dafür, dass Tarifverträge kleinerer Verbände nicht schlechter gestellt sein dürfen als Betriebs- und Dienstvereinbarungen. 2. Prinzip der Tarifeinheit bei Tarifpluralität Fällt ein Betrieb unter den Geltungsbereich mehrerer Tarifverträge, so kommt es zu einer Tarifkollision, deren Problematik unter dem Stichwort der Tarifkonkurrenz und der Tarifpluralität die Rechtsprechung und Literatur in erheblichem Maß beschäftigt.31 Relativ einfach gestaltet sich die Rechtslage, wenn zwei oder mehrere Tarifverträge denselben Sachverhalt regeln und für das Arbeitsverhältnis bzw. den Betrieb Tarifgeltung haben. Da nur ein Tarifvertrag zur Anwendung kommen kann, wird die Tarifkonkurrenz nach dem Prinzip der Sachnähe, regelmäßig also nach dem Spezialitätsprinzip gelöst. Von der Tarifkonkurrenz zu unterscheiden ist, dass nach der gesetzlichen Regelung der Tarifgebundenheit zwei oder mehrere Tarifverträge, die denselben Sachverhalt regeln, zur Anwendung kommen können. Man spricht hier von Tarifpluralität, die auf verschiedener Ursache 31 Vgl. vor allem Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, 1999; Schliemann, Tarifkollision – Ansätze zur Vermeidung und Auflösung, Sonderbeilage zu NZA Heft 24/2000, 24 ff.

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beruhen kann. Sie kann dadurch eintreten, dass ein Arbeitgeber oder sein Verband mit verschiedenen Gewerkschaften Tarifverträge abgeschlossen hat und Arbeitnehmer im Betrieb gewerkschaftlich verschieden organisiert sind. Im Mittelpunkt der Rechtsprechung stand aber bisher, dass die Tarifpluralität durch die staatliche Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags herbeigeführt wurde.32 Davon zu unterscheiden ist der Fall, dass nach dem Tarifvertragsrecht allein wegen der Verschiedenheit der gewerkschaftlichen Mitgliedschaft der Arbeitnehmer mehrere Tarifverträge nebeneinander zur Anwendung kommen können. Dabei muss man allerdings differenzieren: Für tarifvertragliche Betriebs- und Betriebsverfassungsnormen genügt nach § 3 Abs. 2 TVG die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers. Bei diesen Tarifnormen handelt es sich daher, wenn sie im Betrieb Geltung beanspruchen, nicht bloß um eine Tarifpluralität, sondern um eine Tarifkonkurrenz, bei der nur ein Tarifvertrag zur Anwendung kommen kann. Soweit es sich dagegen um die Tarifnormen handelt, die den Inhalt eines Arbeitsverhältnisses bestimmen, tritt die Tarifgeltung nur ein, wenn auch der Arbeitnehmer als Arbeitsvertragspartei tarifgebunden ist. Es handelt sich daher um einen Fall der Tarifpluralität. Dennoch löst das BAG die von ihm entschiedenen Fälle der Tarifpluralität ebenso wie die Fälle der Tarifkonkurrenz nach dem Grundsatz der Tarifeinheit, obwohl es einräumt, dass dieser Grundsatz im Tarifvertragsgesetz keinen Niederschlag gefunden habe.33 Er folge aber aus den übergeordneten Prinzipien der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit. Die Anwendung mehrerer Tarifverträge, die von verschiedenen Tarifvertragsparteien abgeschlossen würden, in einem Betrieb nebeneinander müsse zu praktischen, kaum lösbaren Schwierigkeiten führen. Das BAG hatte im Grundsatzurteil vom 20. März 199134 über die Tarifpluralität eines Firmentarifvertrags (DAG) und eines allgemein verbindlichen – darüber hinaus einzelvertraglich in Bezug genommenen – Verbandstarifvertrags (DAG/HBV) zu entscheiden. Da es die Tarifpluralität nach den Regeln der Tarifkonkurrenz löste, kam es zu dem Ergebnis, dass nach dem Spezialitätsgrundsatz der Firmentarifvertrag zur Anwendung kommt. Die vorrangige Geltung des speziellen Tarifvertrags für den gesamten Betrieb rechtfertige sich schließlich insbesondere dann, „wenn – wie vorliegend – die weit überwiegende Zahl aller Arbeitnehmer derjenigen Gewerkschaft angehört, die den speziellen Tarifvertrag abgeschlossen hat“.35 Eine andere 32 BAGE kurrenz. 33 BAGE 34 BAGE 35 BAGE

67, 330 ff. und 75, 298 ff. = AP Nr. 20 und 22 zu § 4 TVG Tarifkon67, 330 (337) = AP Nr. 20 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz. 67, 330 ff. = AP Nr. 20 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz. 67, 330 (339).

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rechtliche Beurteilung ergebe sich auch nicht aus der vertraglichen Vereinbarung des Verbandstarifvertrags im Anstellungsvertrag. Nicht nur die beiderseitige Tarifgebundenheit bzw. Allgemeinverbindlicherklärung, sondern auch die vertragliche Vereinbarung der Geltung eines Tarifvertrags könne zum Entstehen einer Tarifkonkurrenz oder einer Tarifpluralität führen. Für deren Lösung sei aber der Ursprung der Tarifgeltung nicht von Bedeutung. Wenn daher nach den Grundsätzen der Tarifkonkurrenz der speziellere Tarifvertrag einen anderen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag, der gemäß § 5 Abs. 4 TVG unmittelbar und zwingend auch für nicht tarifgebundene Arbeitnehmer gelte, verdrängen könne, so müsse dies genauso für einen kraft vertraglicher Bezugnahme geltenden, also nicht gemäß § 4 Abs. 1 TVG zwingend geltenden Tarifvertrag zutreffen. Etwas anderes soll nur gelten, wenn die vertragliche Bezugnahme erst nach und trotz Inkrafttreten des spezielleren Tarifvertrags erfolge. Nur in diesem Sonderfall könnte unter Umständen auf den Willen der Parteien geschlossen werden, im Betrieb nebeneinander zwei Tarifverträge zur Anwendung zu bringen. Die Rechtsprechung des BAG wird, wie Jacobs zutreffend feststellt, „mit einer beeindruckenden, im Arbeitsrecht seltenen Einmütigkeit“ abgelehnt.36 Die Bedenken richten sich schon gegen die Gleichstellung der Tarifpluralität mit der Tarifkonkurrenz; denn nur für die Tarifkonkurrenz lässt sich eine Kollisionsregel nicht dem Gesetz entnehmen, während bei Tarifpluralität eine Abgrenzung der Tarifgeltung bereits weitgehend durch das Erfordernis der beiderseitigen Tarifgebundenheit der Arbeitsvertragsparteien für die Geltung der Inhaltsnormen (§ 4 Abs. 1 Satz 1 TVG) erfolgt. Soweit Tarifnormen auf Grund einer Bezugnahme im Arbeitsvertrag Anwendung finden, stößt man auf die Schwierigkeit, dass die Bezugnahmeklausel sich möglicherweise nicht auf den Tarifvertrag bezieht, der nach dem Prinzip der Tarifeinheit für den Betrieb gelten soll. Das Problem wird auch nicht dadurch gelöst, dass die Rechtsprechung des BAG bisher die Bezugnahmeklausel, wenn der Arbeitgeber tarifgebunden ist, als Gleichstellungsabrede interpretiert hat, also den Arbeitnehmer so gestellt hat, als wäre er tarifgebunden.37 Diese Interpretation als Gleichstellungsabrede stieß außerdem im Schrifttum auf erhebliche Bedenken.38 Es vermag nicht zu überzeugen, arbeitsvertragliche Bezugnahmen auf die sachlich für das Arbeitsverhältnis einschlägigen Tarifverträge je nachdem unterschiedlich zu interpretieren, ob der Arbeitgeber bei der Vertragsabrede tarifgebunden ist oder nicht. Richtig ist lediglich eine primär beim Wortlaut der Bezugnahmeklauseln ansetzende 36

Vgl. die Nachweise von Jacobs, Tarifeinheit (Fn. 31), S. 340 f., Fn. 37. BAGE 99, 120 (123 ff.) = AP Nr. 21 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG AP Nr. 70 zu § 242 BGB Betriebliche Übung. 38 Vgl. umfassend Annuß, Tarifbindung durch arbeitsvertragliche Bezugnahme?, in: ZfA 2005, 405 ff. 37

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Interpretation.39 Das BAG hat sich dieser Einsicht nicht verschlossen und beabsichtigt, wie es im Urteil vom 14. Dezember 2005 ankündigt,40 seine bisherige Rechtsprechung aufzugeben. Damit ist das Prinzip der Tarifeinheit im Betrieb zu Fall gekommen. Für jedes Arbeitsverhältnis gilt der Tarifvertrag, an den die Arbeitsvertragsparteien tarifgebunden sind. Bei fehlender Tarifgebundenheit richtet sich ausschließlich nach dem Arbeitsvertrag, ob ein Tarifvertrag und welcher Tarifvertrag auf das Arbeitsverhältnis Anwendung findet. Soweit das BAG die Verdrängung eines Tarifvertrags mit „übergeordneten Prinzipien der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit“ rechtfertigt, bleibt offen, worin diese zu erblicken sind. Wenn die auf der Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft beruhende Tarifbindung verdrängt wird, liegt darin ein Verstoß gegen die grundrechtlich gewährleistete positive Koalitionsfreiheit.41 IV. Tarifliche Ersatzgesetzgebung und Koalitionsfreiheit 1. Staatliche Mandatierung durch Öffnungsklauseln im Gesetzesrecht Zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Koalitionsverfahrens, hat der Gesetzgeber bei einer Vielzahl zwingender Regelungen zum Schutz des Arbeitnehmers eine Abweichung nicht nur zu dessen Gunsten, sondern auch zu dessen Lasten durch Tarifvertrag gestattet (§ 622 Abs. 4 Satz 1 BGB, § 13 Abs. 1 und 2 BUrlG, § 4 Abs. 4 Satz 1 EFZG, §§ 8 Abs. 4 Satz 3, 12 Abs. 3 Satz 1, 13 Abs. 4 Satz 1, 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG, § 17 Abs. 3 Satz 1 BetrAVG, § 7 ArbZG, § 21a JArbSchG). Mit der Tarifdisponibilität berücksichtigt der Gesetzgeber, dass das Tarifvertragssystem vom Verhandlungsgleichgewicht der Koalitionen ausgeht. Der dadurch bewirkte Interessenausgleich nach dem Prinzip der Vertragsgerechtigkeit entspricht dem Grundprinzip der Privatautonomie. Ein Systembruch trat aber ein, als der Gesetzgeber dazu überging, nicht nur eine Abweichung von der ihm getroffenen Regelung zuzulassen, sondern die Regelung selbst den Tarifvertragsparteien zu übertragen, wobei die gesetzestechnische Gestaltung als Tariföffnungsklausel einen Schleier über die staatliche Mandatierung legt. Da die gesetzlichen Grenzen der Arbeitszeit in vielen Bereichen verfehlt sind, gestattet der Gesetzgeber in § 7 ArbZG, abweichende Regelungen in einem Tarifvertrag oder auf Grund eines Tarifvertrags in einer Betriebs- oder Dienstvereinbarung zu treffen. Er behandelt die Tarifvertragsparteien so, als 39

So zutreffend Annuß, ZfA 2005, 405 (457). NZA 2006, 607 ff. 41 So bereits Hanau, Anm. zu BAG AP Nr. 20 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; vgl. ausführlich Jacobs, Tarifeinheit (Fn. 31), S. 412 ff. 40

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wären sie zum Erlass einer Rechtsverordnung ermächtigt, wie § 7 Abs. 6 ArbZG verdeutlicht, wenn er bestimmt, dass die Bundesregierung durch Rechtsverordnung Ausnahmen im Rahmen der für die Tarifvertragsparteien vorgesehenen Regelung zulassen kann. Wer im Wettbewerb keinen Nachteil erleiden will, kann sich daher nicht auf die im Gesetz getroffene Gestaltung des öffentlich-rechtlichen Arbeitszeitschutzes verlassen, sondern muss eine Tarifvertragsregelung übernehmen, auch wenn er nicht tarifgebunden ist. Damit lässt sich die Regelung aber nicht mehr als kollektiv ausgeübte Privatautonomie interpretieren. Dieser Erklärungsversuch scheitert auch bei weiteren Gesetzesvorhaben aus letzter Zeit. 2. Tarifgeltung auf Grund einer Rechtsverordnung Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz übertrug den Tarifvertragsparteien die Festlegung von Mindestentgelten für Arbeitnehmer, obwohl im Regelfall weder der Arbeitgeber noch der Arbeitnehmer ihnen angehören. Die Erstreckung erfolgt deshalb durch Rückgriff auf die Allgemeinverbindlicherklärung, um Mindestlohntarifverträge auch für Arbeitnehmer verbindlich zu machen, auf deren Arbeitsverhältnis deutsches Recht keine Anwendung findet. Da sich die Arbeitgeberseite dem kondominialen Rechtsetzungsverfahren zwischen Staat und Tarifvertragsparteien verweigerte, hat der Gesetzgeber dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales durch eine Rechtsverordnungsermächtigung die Befugnis eingeräumt, die Geltung der Tarifnormen auf nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu erstrecken (§ 1 Abs. 3a Satz 1 AEntG). Für die Beurteilung ist wesentlich, dass die Allgemeinverbindlicherklärung außerhalb des § 1 Abs. 1 AEntG einen für den Regelfall abgeschlossenen Tarifvertrag auf Außenseiter erstreckt, während die Rechtsverordnungsermächtigung in § 1 Abs. 3a AEntG sich nicht auf einen derartigen Tarifvertrag, sondern auf einen Tarifvertrag über Mindestentgeltsätze bezieht. Es geht also nicht um einen Tarifvertrag im Normalfall, sondern um eine Sonderform staatlicher Mindestentgeltfestsetzung durch Einbeziehung eines Tarifvertrags auf Antrag einer Tarifvertragspartei. Die jeweils auf Grund des § 1 Abs. 3a AEntG ergangenen Verordnungen über zwingende Arbeitsbedingungen im Baugewerbe zeigen dies in aller Deutlichkeit. Mit dem Jubilar ist es schwer nachzuvollziehen, dass das BVerfG die Verfassungsbeschwerde zur Verordnung über zwingende Arbeitsbedingungen im Baugewerbe vom 25. August 1999 (BGBl. I S. 1894) nicht zur Entscheidung annahm.42 Die 42 BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats) vom 18.7.2000 – 1 BvR 948/00, abgedruckt in: NZA 2000, 948 f. = SAE 2000, 265 f. mit abl. Anm. von Scholz (S. 266 ff.).

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Rechtsverordnung in Verbindung mit der Rechtsverordnungsermächtigung sei, wie es in dem von der Redaktion der NZA verfassten Leitsatz heißt, mit dem Grundgesetz vereinbar; durch diese Regelung würden Außenseiter – ähnlich wie bei der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen – weder in ihrem Grundrecht auf positive, noch auf negative Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) verletzt. Die Begründung, die das BVerfG für seine Entscheidung gibt, ist, wie der Jubilar ausführlich begründet hat, nicht ausreichend, um die Verfassungsbeschwerde zu verwerfen.43 Fritz Ossenbühl versuchte zwar, die Vereinbarkeit des Gesetzes mit der Koalitionsfreiheit damit zu begründen, dass von der Rechtsverordnungsermächtigung nicht die Arbeitsverhältnisse anderweitig organisierter Arbeitnehmer und Arbeitgeber erfasst würden.44 Das Gesetz verschone sie von dem „Geltungsanspruch des erstreckten Mindesttarifs“.45 Das gilt jedoch nur, soweit die Tarifverträge unter § 2 der nunmehrigen Fünften Verordnung über zwingende Arbeitsbedingungen im Baugewerbe vom 29. August 2005 (BAnz. S. 13199) fallen. Der Staat sichert sich daher eine Befugnis zur Auswahl. Die Rechtsverordnungsermächtigung in Verbindung mit der auf ihr beruhenden Rechtsverordnung verletzt deshalb nicht nur die negative Koalitionsfreiheit,46 sondern sie beeinträchtigt auch die positive Koalitionsfreiheit. Sie kann nicht mehr dem status collectivus des Individualgrundrechts der Koalitionsfreiheit zugeordnet werden; sie ist eine „Form des verkappten Staatsdiktats im Rahmen der Koalitionszeckgarantie“.47 3. Staatliche Mandatierung der Tarifvertragsparteien bei Leiharbeit Für die gewerbsmäßige Arbeitnehmerüberlassung hat der Gesetzgeber als Grundsatz festgelegt, dass der Leiharbeitnehmer vom Verleiher die „Gewährung der im Betrieb des Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entleihers geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen einschließlich des Arbeitsentgelts“ verlangen kann (§ 10 Abs. 4 AÜG). Die Erstreckung der Arbeits- und Entgeltbedingungen des Entleiherbetriebs auf den Leiharbeitnehmer folgt nicht mehr aus dessen Arbeitsvertrag mit seinem Arbeitgeber und damit aus einer privatautonomen Gestaltung. Sie ergibt sich viel43

Scholz, (Fn. 42), SAE 2000, 266 ff. Ossenbühl (unter Mitarbeit von Cornils), Tarifautonomie und staatliche Gesetzgebung – Verfassungsmäßigkeit von § 1 Abs. 3a des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes, Rechtsgutachten erstattet dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Januar 2000, veröffentlicht in Forschungsbericht 280, hrsg. vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Bonn 2000, S. 64 f. 45 Ossenbühl, Tarifautonomie (Fn. 44), S. 68. 46 So auch Scholz, Tarifautonomie zwischen Allgemeinverbindlicherklärung und Staatsdiktat, in: Staaten und Steuern, FS Vogel, 2000, S. 375 (388 f.). 47 Scholz, Tarifautonomie (Fn. 46), S. 375 (389). 44

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mehr aus einem Gesetzesbefehl, also einem hoheitlich-heteronomen Akt, der ein hoheitliches Vertragsdiktat darstellt. Diese Regelung ist nach dem Vorbild der Tariföffnungsklauseln in anderen Gesetzesvorschriften tarifdispositiv. Sowohl in § 3 Abs. 1 Nr. 3 als auch in § 9 Nr. 2 AÜG ist festgelegt, dass ein Tarifvertrag abweichende Regelungen zulassen kann, wobei wie auch sonst festgelegt ist, dass im Geltungsbereich eines solchen Tarifvertrags nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Anwendung der tariflichen Regelungen vereinbaren können. Die gesetzestechnische Gestaltung legt es nahe, eine Parallele zu den sonstigen Bestimmungen des tarifdispositiven Gesetzesrechts zu ziehen Der Schein trügt jedoch; der Unterschied ist grundlegend. Tarifdispositive Gesetzesbestimmungen legen sonst selbst den Inhalt einer Regelung fest, die durch Tarifvertrag ersetzt werden kann. Bei § 3 Abs. 1 Nr. 3 sowie § 9 Nr. 2 i. V. mit § 10 Abs. 4 AÜG ergibt sich dagegen der Inhalt der „wesentlichen Arbeitsbedingungen einschließlich des Arbeitsentgelts“ nicht aus dem Gesetz, sondern durch dynamische Verweisung auf die im Betrieb des Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entleihers geltende Regelung. Für den Vertragsinhalt ist deshalb nicht mehr maßgebend, was Verleiher und Leiharbeitnehmer nach dem Prinzip der Selbstbestimmung durch Willenserklärung im Vertrag vereinbaren, sondern sie müssen sich einer fremdbestimmten Ordnung beugen, die nur dadurch gerechtfertigt wird, dass sie sich für den Leiharbeitnehmer als vorteilhaft erweist. Dieser Zwangsordnung kann nur entrinnen, wer sich der Herrschaft der Tarifvertragsparteien unterstellt. Nicht wie sonst bei tarifdispositivem Gesetzesrecht wird für eine bestimmte Regelung eine Abweichung auch zu Lasten des Arbeitnehmers zugelassen, sondern es wird generell ermöglicht, dass durch Tarifvertrag dem Leiharbeitnehmer abweichend von der gesetzlichen Regelung schlechtere als die im Betrieb des Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entleihers geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen einschließlich des Arbeitsentgelts gewährt werden. Bezweckt wird durch diesen Eingriff in die Vertragsrechtsstellung, dass nicht er darüber entscheiden kann, sondern für ihn eine Gewerkschaft durch Abschluss eines Tarifvertrags. Das gilt auch, wenn der Arbeitnehmer ihr nicht angehört. In der Realität ist dies sogar der Regeltatbestand; denn in Verleihunternehmen gibt es kaum organisierte Arbeitnehmer. Die Gestaltungsform, durch die der Gesetzgeber die Regelung der Leiharbeit in die Hände der Tarifvertragsparteien gelegt hat, entspricht nicht mehr dem Leitbild kollektiv ausgeübter Privatautonomie. Sie macht die Tarifvertragsparteien zum staatlich eingerichteten Sachwalter für die Herbeiführung des Ausgleichs der verschiedenen Interessen. Die Regelung ist so konzipiert, dass die Stammbelegschaft nicht die Konkurrenz der Leih-

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arbeitnehmer zu fürchten braucht, wenn kein Tarifvertrag zustande kommt. Sie dient nur höchst begrenzt dem Interesse der Leiharbeitnehmer, primär aber dem Interesse der Zeitarbeitsunternehmen, weil ohne eine vom Gesetz abweichende Regelung durch Tarifvertrag ihr Marktangebot kaum eine Chance hat, angenommen zu werden. Wegen der Alternative in der Beibehaltung der Erstreckung der Arbeits- und Entgeltbedingungen des Entleiherbetriebs auf den Leiharbeitnehmer erfüllt daher ein Tarifvertrag, der den Inhalt des Arbeitsverhältnisses zwischen dem Verleiher und dem Leiharbeitnehmer regelt, primär eine staatliche Aufgabe: die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen ohne Rücksicht auf eine Tarifgebundenheit der Arbeitnehmer. Da aber nach dem Gesetz „ein Tarifvertrag“ abweichende Regelungen zulassen kann (§ 3 Abs. 1 Nr. 3 Satz 2 und § 9 Nr. 2 Halbsatz 2 AÜG), ist nicht einmal insoweit gewährleistet, dass dieser Zweck sinnvoll erreicht wird; denn den Tarifvertrag kann jede Gewerkschaft abschließen, die nach dem in ihrer Satzung festgelegten Organisationsbereich tarifzuständig ist, auch wenn sie nur wenig oder überhaupt keine Mitglieder im Verleihunternehmen hat. Unter dem Druck der gesetzlich für den Regelfall festgeschriebenen gleichen Bezahlung von Zeitarbeits- und Stammkräften haben sich zur Ablösung dieses Prinzips der Bundesverband Zeitarbeit (BZA) und die Tarifgemeinschaft Zeitarbeit des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) im Juni 2003 auf einen Manteltarifvertrag geeinigt.48 Am 30. Mai 2006 schlossen sie unter Einbeziehung des Interessenverbands Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (IGZ) einen Mindestlohn-Tarifvertrag, der ab 1. Januar 2007 ein Mindestentgelt von 7,15 e (West) bzw. 6,22 e (Ost) vorsieht.49 Die DGB-Gewerkschaften haben aber bereits Konkurrenz erhalten. Es gibt mit dem Christlichen Gewerkschaftsbund Tarifverträge, die der Arbeitgeberverband Mittelständischer Personaldienstleister (AMP) abgeschlossen hat. Der Mindestlohn beträgt hier vom 1. Januar 2007 an 7,00 e (West) bzw. 5,77 e (Ost).50 Den Weg einer staatlichen Mandatierung der Tarifvertragsparteien hat der Gesetzgeber auch in anderen Bereichen beschritten, auf die in einem anderen Zusammenhang ausführlich eingegangen ist.51 Auch der Jubilar blieb kritisch.52 Der Gesetzgeber hat durch die Zuweisung staatlicher Ordnungsund Schutzaufgaben an die Tarifvertragsparteien deren Regelungsbefugnis 48

Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 134/12.6.2003, S. 14. Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 182/8.8.2006, S. 13. 50 s. FAZ (Fn. 49). 51 Richardi, Von der Tarifautonomie zur tariflichen Ersatzgesetzgebung, in: FS Konzen, 2006, S. 791 ff. 52 Scholz, Vergabe öffentlicher Aufträge nur bei Tarifvertragstreue?, in: RdA 2001, 193 ff. 49

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in der Arbeitsverfassung erweitert; die korporatistische Orientierung hat sie aber von der Quelle entfernt, der sie nach dem Grundgesetz ihre Macht verdanken, nämlich in der von Rupert Scholz aufgedeckten Verankerung im Individualgrundrecht der Koalitionsfreiheit. Die im DGB zusammengeschlossenen Gewerkschaften zahlen dafür einen hohen Preis. Gehörten ihnen am 31. Dezember 1991 11.800.412 Mio. Mitglieder an, so waren es am 31. Dezember 2005 nur noch 6.778.429 Mio. Mitglieder. V. Zusammenfassung Bestand die Koalitionsfreiheit ursprünglich nur in der Aufhebung der Verbote wegen Verabredungen und Vereinigungen zur Erlangung „günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen, insbesondere mittelst Einstellung der Arbeit oder Entlassung der Arbeiter“, so hat ihre verfassungsrechtliche Gewährleistung in Verbindung mit der Vertragsfreiheit die Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie im Arbeitsleben garantiert. Mit der Zuweisung staatlicher Ordnungs- und Schutzaufgaben an die Tarifvertragsparteien wird die freiheitsrechtliche Grundlage preisgegeben. Dem Jubilar kann es nicht gefallen, dass das Tarifvertragswesen seine Grundlage im status collectivus des Individualgrundrechts der Koalitionsfreiheit verliert.

Deutschland als „Sportstaat“ – Gegenseitige Erwartungen von Sport und Verfassung Von Rudolf Streinz I. Einleitung Rupert Scholz, am 23. Mai – für einen Staatsrechtler ein beziehungsreiches Geburtstagsdatum – 1937 in Berlin geboren, war und bleibt Berlin in vielfältiger Form verbunden: Als Wissenschaftler durch Studium und Referendariat, nach Promotion und Habilitation in München als Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht bis zu seinem Wechsel an die LudwigMaximilians-Universität München, durch die politischen Ämter als Mitglied des Abgeordnetenhauses, als Bundestagsabgeordneter für Berlin, als Senator für Justiz und Bundesangelegenheiten, durch seinen Einsatz für Berlin als Hauptstadt im Rahmen der Föderalismusreform,1 schließlich durch ein jahrzehntelanges Engagement für den „Hauptstadtclub“, die „alte Dame“ Hertha, den Hertha BSC Berlin. Seit 1996 ist Rupert Scholz Mitglied des Aufsichtsrates dieses Fußballvereins, von 1999 bis 2006 war er Vorsitzender dieses für einen Proficlub als Wirtschaftsunternehmen wichtigen Gremiums. In dieser Zeit entging Berlin (1996) nur knapp dem Abstieg in die Dritte Liga, um schon ein Jahr später wieder in die Bundesliga aufzusteigen und sich 1999 sogar für die UEFA Champions League zu qualifizieren, wo immerhin nach Siegen gegen den FC Chelsea London und den AC Mailand die Runde der letzten Acht erreicht wurde. Im Gegensatz zu manch anderem Politiker dient Rupert Scholz hier nicht als bloßes Aushängeschild und Besucher der Ehrentribüne. Dies entspräche auch nicht seinem Naturell. Wie als Wissenschaftler, als akademischer Lehrer, der sich z. B. im Rahmen der Hans-Martin-Schleyer-Stiftung um den wissenschaftlichen Nachwuchs verdient macht, und als Politiker war Rupert Scholz auch als Sportfunktionär – man kann dieses Wort ja auch mit einer positiven Konnotation versehen – immer in der vordersten Linie, auch in weniger angenehmen Situatio1 Vgl. Scholz, Rupert, Deutschland – In guter Verfassung?, 2004, S. 32 ff. („Von Bonn nach Berlin Zur Rolle der Hauptstadt.“). Durch das 52. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.8.2006 (BGBl. I, S. 2034) wurde folgender Art. 22 Abs. 1 eingefügt: „Die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland ist Berlin. Die Repräsentation des Gesamtstaates in der Hauptstadt ist Aufgabe des Bundes. Das Nähere wird durch Bundesgesetz geregelt“.

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nen, in denen es darum ging, mit heißem Herzen für die Sache einen kühlen Kopf und Standfestigkeit zu bewahren2. Sport als eines der Betätigungsfelder des Verfassungsrechtlers selbst soll daher Gegenstand einer kurzen Betrachtung zum Verhältnis von Sport und Verfassung, von „Deutschland als Sportstaat“3 sein. II. Sport im Verfassungsrecht 1. Verankerung des Sports im deutschen Verfassungsrecht Auch nach der jüngsten Verfassungsreform4 findet der Sport keine ausdrückliche Erwähnung im Grundgesetz.5 Dies wurde schon vor langem als bemerkenswert empfunden, ist doch der Sport eine „staatsbedeutsame Wirklichkeit“6. Dies zeigt sich nicht nur bei Höhepunkten wie dem „Wunder von Bern“, dessen erstaunliche Langzeitwirkung sicher an zeitbedingten Besonderheiten liegt,7 so dass es wohl als Sonderfall („Fußball-Jahrhundertereignis“8) gesehen werden muss, sondern in der Realität des Spitzensports, 2 Vgl. z. B. das Interview vom 9.3.2004: „Luizao-Trennung war richtig“. Scholz stellte sich hinter den in die Kritik geratenen Manager Dieter Hoeneß, dem Hertha BSC wesentlich seinen Aufstieg verdankte (das muss wohl in der Familie liegen) und erkannte auch den damaligen, mit Erfolg als „Retter“ verpflichteten Trainer Hans Meyer als „Glücksfall für den Klub“, was er ja derzeit auch für „den Club“, den 1. FC Nürnberg ist. 3 In Anlehnung an Steiner, Udo, Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Sport in Deutschland, in: Festschrift für Volker Röhricht, 2005, S. 1225 (1225): „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Sportstaat“ (nicht weniger als sie Kulturstaat ist). 4 (52.) Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.8.2006, BGBl. I, S. 2034. 5 Erwogen wird seine Aufnahme im Rahmen einer (zu Recht skeptisch betrachteten) Erweiterung der Staatszielbestimmungen. 6 Steiner, Udo, Staat, Sport und Verfassung, DÖV 1983, 173 (173). Dies greift die Habilitationsschrift von Nolte, Martin, Staatliche Verantwortung im Bereich Sport, 2004, S. 4 f. auf. 7 Vgl. dazu Streinz, Rudolf, Die verfassungsstaatliche Erwartung an den Sport, in: LandesSportBund NRW (Hrsg.), „Was ist des Sportes Wert?“, 1997, S. 10 (10 f.) m. w. N. Die letzten Minuten der schon „klassischen“ Reportage von Herbert Zimmermann sind wiedergegeben in Michel, Rudi (Hrsg.), Fritz Walter. Legende des deutschen Fußballs, 2. Aufl. 1995, S. 66 ff. Bemerkenswert auch die sachliche und doch gesamtdeutsche Gefühle nicht ganz unterdrückende Reportage von Wolfgang Hempel für Radio DDR, ebd., S. 70 ff.; vgl. demgegenüber den Kommentar von Karl Eduard von Schnitzler („Sudelede“), zitiert bei Seitz, Norbert, Was symbolisiert das „Wunder von Bern“?, Das Parlament, Beilage Aus Politik und Zeitgeschichte B 26/2004, S. 3 (5). Vgl. ferner z. B. Bertram, Jürgen, Die Helden von Bern. Eine deutsche Geschichte, 2004; Heinrich, Arthur, Drei zu Zwei. Bern 1954 und die Selbstfindung der Bundesrepublik, Blätter für deutsche und internationale Politik 2004, S. 869 (869 ff.); Kasza, Peter, Fußball spielt Geschichte. Das Wunder von Bern 1954, 2004; Michel, Rudi, „Deutschland ist Weltmeister!“ (offizielles Erinnerungsbuch des DFB

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in dessen Glanz sich die Politik gerne sonnt und dessen Ausbleiben sie durchaus als staatsbedeutsam ansieht und der einen oft ebenso unter- wie auch überschätzten Beitrag zur Integration in einem Staatswesen leistet, wie auch in der Bedeutung des von Jugendlichen und Erwachsenen betriebenen „reinen“ Amateursports zur Erziehung und zur Selbstentfaltung des Menschen. Gleichwohl trifft das Grundgesetz wichtige allgemeine Aussagen, die auch für den Sport relevant sind, wie die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) für Profisportler sowie die Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG) für Sportvereine und Sportverbände.9 Darauf weisen die Sportberichte der Bundesregierung, deren Einführung10 allein die „Staatsbedeutsamkeit“ dokumentiert, regelmäßig hin.11 Fraglich ist, ob eine ausdrückliche Verankerung unter den Staatszielbestimmungen hier einen „Mehrwert“ bringen würde.12 Die Verankerung des Umweltschutzes und des Tierschutzes in Art. 20a GG führen immerhin zu einer gesteigerten Bedeutung dieser Güter in Abwägungsprozessen der Gesetzgebung, die freilich einen weiten Gestaltungsspielraum behält,13 und Verwaltung.14 Der Initiative von Nordrhein Westfalen folgend, das 1992 die Pflege und Förderung des Sportes durch Land und Gemeinden in seiner Verfassung verankert hat,15 haben mittlerweile bis auf Hamburg alle Länder solche Förderungsziele als Staatszielbestimmungen in ihren Verfassungen verankert.16 Genannt seien hier nur die hauptsächlichen Wirkungsstätten von Rupert zur WM 1954), 2004; Siemes, Christof, Das Wunder von Bern, 2003; Theweleit, Klaus, Tor zur Welt. Fußball als Realitätsmodell, 2004. 8 Seitz, Was symbolisiert das „Wunder von Bern“? (Fn. 7), S. 5. 9 Zur Vereinigungsfreiheit als kollektivem „Ausübungsrecht“ der Inhaltsgrundrechte aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 12 GG vgl. Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar (Loseblatt 2006/1999), Art. 9, Rn. 40. 10 Entsprechend einem Beschluss des Deutschen Bundestags vom 13.5.1971 werden alle zwei Jahre, gemäß dem Auftrag des Deutschen Bundestags vom 19.10.1979 (BT-Drs. 8/3210) seit 1979 alle vier Jahre Sportberichte der Bundesregierung veröffentlicht. 11 Vgl. zuletzt den 10. Sportbericht der Bundesregierung, BT-Drs. 14/9517 vom 20.6.2002, S. 14. 12 Vgl. dazu Nolte, Staatliche Verantwortung (Fn. 6), S. 229 ff. 13 Vgl. dazu Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz-Kommentar, 8. Aufl. 2006, Art. 20a, Rn. 18 m. w. N. 14 Vgl. dazu Jarass (Fn. 13), Art. 20a, Rn. 19 ff. m. w. N. Nach BVerwG, Urt. v. 23.11.2006 (3 C 30.05) hat die Verankerung des Tierschutzes im Grundgesetz die durch Art. 4 GG gebotene Ausnahmegenehmigung für religiös zwingend gebotenes Schächten (vgl. BVerfGE 104, 337) unberührt gelassen. 15 Art. 18 Abs. 3 der Verfassung des Landes Nordhrein-Westfalen, eingefügt durch Gesetz v. 24.11.1992, GVBl., S. 448: „Sport ist durch Land und Gemeinden zu pflegen und zu fördern“.

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Scholz, Bayern17 und Berlin.18 Der praktische Nutzen dieser Bestimmungen wird unterschiedlich eingeschätzt, sie „stehen in dem dringenden Verdacht, symbolische Normen zu sein“19, wenngleich auch die Skeptiker ihnen nicht jegliche Wirkung absprechen.20 2. Verankerung in den Verfassungen anderer Staaten Anders als das Grundgesetz enthalten die Verfassungen anderer Staaten allgemeine bis sehr konkrete Aussagen zum Sport.21 Durchgehend war bzw. ist dies bei den ehemaligen bzw. jetzt noch bestehenden „sozialistischen“ Staaten der Fall. So lautete Art. 35 der Verfassung der ehemaligen DDR: „(1) Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht auf Schutz seiner Gesundheit und seiner Arbeitskraft. (2) Dieses Recht wird durch die planmäßige Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen, die Pflege der Volksgesundheit, eine umfassende Sozialpolitik, die Förderung der Körperkultur, des Schul- und Volkssports und der Touristik gewährleistet“.22 Ähnliche Bestimmungen enthielten z. B. die Verfassungen der (Sozialistischen) Volksrepubliken Albanien, Bulgarien und Polen und enthalten die Verfassungen der Republik Kuba, der (Nord-)Koreanischen Demokratischen Volksrepublik (im Abschnitt „Kultur“ unter Hervorhebung des „Wehrsports“ und der Bedeutung des „Massensports“ für 16 Vgl. dazu Steiner, Udo, Der Sport auf dem Weg ins Verfassungsrecht – Sportförderung als Staatsziel, SpuRt 1994, 2 (3 f.); Tettinger, Peter J., 10 Jahre Sport in der Verfassung des Landes NRW, SpuRt 2003, 45 (45 f.) m. w. N.; Hebeler, Timo, Das Staatsziel Sport – Verfehlte Verfassungsgebung?, SpuRt 2003, 221 (222 f.). Zu den unterschiedlichen Formulierungen vgl. Holzke, Frank, Der Begriff Sport im deutschen und europäischen Recht, 2001, S. 179 und Nolte, Staatliche Verantwortung (Fn. 6), S. 218 ff. 17 Art. 140 Abs. 3 der Verfassung des Freistaates Bayern, geändert durch Gesetz v. 20.2.1998, GVBl., S. 38: „Das kulturelle Leben und der Sport sind von Staat und Gemeinden zu fördern“. 18 Art. 32 der (neuen) Berliner Verfassung v. 23.11.1995, GVBl., S. 779: „Sport ist ein förderungs- und schützenswerter Teil des Lebens. Die Teilnahme am Sport ist den Angehörigen aller Bevölkerungsgruppen zu ermöglichen“. Zu den Besonderheiten letzterer Bestimmung vgl. Nolte, Staatliche Verantwortung (Fn. 6), S. 220. 19 Steiner, Bemerkungen, in: FS Röhricht (Fn. 3), S. 1228. 20 Vgl. Steiner, ebd., unter Hinweis auf Unger/Wellige, Sport und Verfassung. Muß Niedersachsen nun auch Dart fördern?, NdsVBl. 2004, 1 (1 ff.); Hebeler, Staatsziel Sport (Fn. 16), 221 ff. Näher dazu Nolte, Staatliche Verantwortung (Fn. 6), S. 226 ff. 21 Vgl. dazu Häberle, Peter, „Sport“ als Thema neuerer verfassungsstaatlicher Verfassungen, in: Festschrift für Werner Thieme, 1993, S. 25 (25 ff.); Streinz, Verfassungsstaatliche Erwartung (Fn. 7), S. 23 ff. 22 Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 6.4.1968, Neufassung vom 27.9.1974, Gesetzblatt der DDR 1974, Teil I, S. 432.

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die Landesverteidigung) und der Volksrepublik China.23 Soweit die Verfassungen freiheitlich-demokratischer Staaten, d. h. von „Verfassungsstaaten“ in einem materialen Sinn,24 ausdrückliche „Sport-Artikel“ enthalten,25 stellen sie in erster Linie auf die Förderung der Gesundheit und der Jugend ab, wobei sich Parallelen, aber auch bemerkenswerte Unterschiede zeigen.26 Gemäß Art. 68 der Schweizerischen Bundesverfassung von 1999, der inhaltlich den Art. 27 quinquies der früheren Verfassung übernimmt, fördert der Bund den Sport, insbesondere die Ausbildung. Er betreibt eine Sportschule und kann Vorschriften über den Jugendsport erlassen und den Sportunterricht an Schulen für obligatorisch erklären.27 Art. 43 Abs. 3 der Verfassung des Königreichs Spanien beschränkt sich darauf, die Förderung der Leibeserziehung und des Sports neben der Gesundheit und der „geeigneten Nutzung der Freizeit“ festzuhalten. In ihrer generellen Tendenz zur Breite erwähnt die Verfassung Portugals den Sport an drei Stellen (Art. 64 Abs. 2 lit. b: Recht auf Schutz der Gesundheit verwirklicht durch „Förderung der körperlichen und sportlichen Betätigung in den Schulen und des Volkssports“; Art. 70 Abs. 1 lit. d: besonderer Schutz Jugendlicher „bei der körperlichen Ertüchtigung und beim Sport“; Art. 79 Abs. 1: „Jedermann hat das Recht auf Körperkultur und Sport“). Bemerkenswert ist die Verpflichtung des Staates, „in Zusammenarbeit mit den Schulen und den Sportvereinigungen und Sportgemeinschaften die Praktizierung und Verbreitung der Körperkultur und des Sports zu fördern, anzuregen, auszurichten und zu unterstützen, sowie die Gewalt im Sport zu verhindern“. Die hier postulierte Zusammenarbeit liegt nahe und wird auch in Deutschland praktiziert.28 Weniger dürfte an die Bestrebungen deutscher Landesregierungen gedacht sein, 23 Vgl. dazu die Nachweise bei Streinz, Verfassungsstaatliche Erwartung (Fn. 7), S. 23 f. Art. 59 Abs. 1 lit. h der neuen Verfassung der Republik Albanien von 1998 (englische Übersetzung in JÖR N. F. 49 (2001), 450) sieht dagegen die staatliche Förderung privater Initiative und Verantwortung in der Entwicklung des Sports vor. 24 Vgl. dazu Isensee, Josef, Staat und Verfassung, in: Isensee, Josef/Kirchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl., 2004, Bd. II: Verfassungsstaat, § 15, Rn. 166 ff. m. w. N. 25 In anderen Verfassungen kommt das Wort „Sport“ zwar nicht ausdrücklich vor, ist aber mittelbar enthalten z. B. durch die Förderung der „körperlichen Erziehung“ (vgl. Art. 42 Abs. 1 der Verfassung der Republik Irland) oder die „Sicherung eines regelmäßigen Körpertrainings“ (vgl. Art. 70d Abs. 2 der Verfassung der Republik Ungarn). 26 Vgl. dazu Streinz, Verfassungsstaatliche Erwartung (Fn. 7), S. 20 ff. m. w. N. Die hier zitierten aktuellen Verfassungen der (vor dem Beitritt Bulgariens und Rumäniens zum 1.1.2007) 25 Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind abgedruckt in Kimmel, Adolf/Kimmel, Christiane, Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, 6. Aufl. 2005. 27 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18.4.1999, Amtliche Sammlung 1999, S. 2556, in Kraft seit 1.1.2000.

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Staatsaufgaben wie den Sportunterricht an öffentlichen Schulen auf die Sportvereine abzuwälzen. Art. 16 Abs. 2 der Verfassung der Republik Griechenland zählt die „physische Erziehung der Griechen“ zur Bildung als Grundaufgabe des Staates. Problematisch ist die Bestimmung in Art. 16 Abs. 9 UAbs. 1, wonach der Sport „unter dem Schutz und der obersten Aufsicht des Staates“ steht. Während die in UAbs. 2 und 3 geregelte Kontrolle hinsichtlich der zweckentsprechenden Verwendung gegebener staatlicher Subventionen eine Selbstverständlichkeit ist, befremdet die Statuierung einer „obersten Aufsicht des Staates“ über den Sport in einer freiheitlichdemokratischen Verfassung und kann bei einer damit begründeten Einmischung in spezifisch sportliche Belange zu Kontroversen mit den internationalen Sportorganisationen führen, die auf solche Einmischungen allergisch reagieren und durchaus effektive Sanktionsmittel haben. So hat die Androhung des Ausschlusses von internationalen Fußballwettkämpfen nicht nur in Albanien und Nigeria zur sofortigen Rücknahme bzw. Anpassung der beanstandeten staatlichen Maßnahmen geführt, sondern zuletzt auch in Griechenland der durch den Welt-Fußballverband (FIFA) angedrohte Ausschluss des Titelverteidigers von der Qualifikation zur Fußball-Europameisterschaft 2008.29 Die Verfassung der Türkischen Republik bestimmt unter dem Titel „Jugend und Sport“ nicht nur, dass der Staat Maßnahmen zur Entwicklung der körperlichen und geistigen Gesundheit der türkischen Staatsbürger jeden Alters trifft und die Verbreitung des Sports bei den Massen fördert, sondern auch, dass der Staat den „erfolgreichen Sportler“ schützt.30 Die Fürsorge für den besonders erfolgreichen Sportler fällt dabei keineswegs knapp aus31. Gegen die in anderen Staaten gezahlten Siegprämien fallen die Siegprämien der deutschen Sporthilfe eher bescheiden aus. Die Verfassungstexte der „sozialistischen“ Staaten werden als Gegenstück zur Behandlung des Sports im materialen Verfassungsstaat gesehen. Dort sei der Sport „kein Ausdruck grundrechtlicher Freiheit des einzelnen, freiheitlicher Kommunikation und Gemeinschaftsbildung, sondern primär Disziplinierungsmittel übermächtiger Staatlichkeit“.32 Wenngleich dies in den 28 Vgl. den 10. Sportbericht der Bundesregierung (Fn. 11), S. 72 f. („Integration durch Sport“), S. 77 f. („Sport im Bildungswesen“, z. B. mit den Programmen „Jugend trainiert für Olympia“ und „Bewegungsfreundliche Schule“). Vgl. ferner z. B. Aktionen wie „Keine Macht den Drogen“. 29 Es ging um die Unvereinbarkeit des griechischen Sportgesetzes mit den FIFAStatuten. Das Gesetz wurde daraufhin klarstellend angepasst. 30 Art. 59 der Verfassung der Türkischen Republik vom 9.11.1982. 31 Vgl. zur Prämie von damals einer Million DM für den Gewichtheber Nail Suleymanog˘lu für seine für die Türkei in Barcelona (1992) und Atlanta (1996) errungenen Olympiasiege Streinz, Verfassungsstaatliche Erwartung (Fn. 7), S. 22. 32 Häberle, „Sport“ als Thema neuerer verfassungsstaatlicher Verfassungen (Fn. 21), S. 39.

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betreffenden Texten nur teilweise zum Ausdruck kommt, trifft dies generell zu, weil die Verfassungsurkunden „sozialistischer“ Staaten im Sinne des marxistisch-leninistischen Grundrechtsverständnisses gelesen und verstanden werden mussten bzw. müssen33. Entscheidend ist dabei der Instrumentalcharakter der Grundrechte als „staatliche Instrumente, um die sozialistische Einheit von Staat und Bürger bewusst herzustellen“.34 Wenn dies das Gegenstück zu Erwartungen des materialen Verfassungsstaats an den Sport ist, muss gezeigt werden, worin sich dessen Erwartungen gerade hinsichtlich des Leistungssports notwendig unterscheiden. Darüber musste und muss man sich gerade in Deutschland klar werden, als man aus mehreren und auch guten Gründen die Möglichkeit der Übernahme bzw. der Wiederbelebung von erfolgreichen Teilelementen des „Sportwunders“ der ehemaligen DDR erwog und auch praktizierte.35 3. Verankerung in der Verfassung der Europäischen Union Für die Auswirkungen des Rechts der Europäischen Union, d. h. hier der Europäischen Gemeinschaft, auf den Sport36 braucht man nur den Namen „Bosman“ zu nennen. Das Urteil des EuGH,37 das über den Anlassfall hinaus zu durchgreifenden Änderungen für alle Profi-Mannschaftssportarten führte,38 wurde von Rupert Scholz sehr kritisch gewürdigt.39 Zu den Reak33 Vgl. dazu Streinz, Rudolf, Meinungs- und Informationsfreiheit zwischen Ost und West. Möglichkeiten und Grenzen intersystemarer völkerrechtlicher Garantien in einem systemkonstituierenden Bereich, 1981, S. 89 ff. m. w. N.; Brunner, Georg, Das Staatsrecht der Deutschen Demokratischen Republik, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 1. Aufl., Bd. I, Grundlagen von Staat und Verfassung, 1987, § 10, Rn. 10 ff. 34 So das amtliche Lehrbuch Baranowski, Georg u. a., Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie, 2. Aufl. 1975, S. 260. 35 Der sog. „DDR-Bonus“ wirkte sich in manchen Sportarten, insbesondere der Leichtathletik und im Kanu- und Rudersport, bei den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona und 1996 in Atlanta stark aus, ließ 2000 in Sydney und 2004 in Athen aber bereits deutlich nach, ist aber teilweise auch 16 Jahre nach der Wiedervereinigung noch erkennbar. Gleiches gilt für Teilbereiche des Wintersports, wobei die erfolgreiche „gemischte“ Biathlonstaffel von Albertville (1992) ein erfreuliches Beispiel für gelungene Integration ist. Dies hat sich in vielen Bereichen fortgesetzt. 36 Vgl. dazu z. B. Streinz, Rudolf, Die Auswirkungen des EG-Rechts auf den Sport, SpuRt 1998, 1 ff.; 45 ff., 89 ff. 37 EuGH, Urt. v. 15.12.1995, Rs. C-415/93 (Union royale belge des sociétés de football association ASBL u. a./Jean-Marc Bosman), Slg. 1995, I-4921. 38 Vgl. dazu z. B. Streinz, Rudolf, Der Fall Bosman: Bilanz und neue Fragen, ZEuP 2005, 340 (341 ff.) m. w. N. 39 Scholz, Rupert/Aulehner, Josef, Die „3+2“-Regel und die Transferbestimmungen des Fußballsports im Lichte des europäischen Gemeinschaftsrechts, SpuRt 1996, 44 (44 ff.).

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tionen der Politik gehörte u. a. auch, dass dem Amsterdamer Vertrag vom 2. Oktober 1997 in der Schlussakte eine Erklärung zum Sport beigefügt wurde.40 Darin unterstreicht die Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten die gesellschaftliche Bedeutung des Sports, insbesondere die Rolle, die dem Sport bei der Identitätsfindung und der Begegnung der Menschen zukommt. Die Konferenz appelliert daher an die Gremien der Europäischen Union, bei wichtigen, den Sport betreffenden Fragen die Sportverbände anzuhören. In diesem Zusammenhang sollten die Besonderheiten des Amateursports besonders berücksichtigt werden. Damit wird, was eine Erklärung auch gar nicht könnte,41 der Sport nicht vom Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts ausgenommen.42 Jedoch sind seine besonderen Belange bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts auf den Sport betreffende Sachverhalte zu berücksichtigen. Dies hat erhebliche Folgen für die Bestimmung der Schranken-Schranken der Freizügigkeit (Art. 39 bzw. Art. 49 EGV) sowie die Tatbestände des Kartellrechts im notwendigen Ausgleich zwischen den gemeinschaftsrechtlich geschützten Grundfreiheiten und dem geforderten unverfälschten Wettbewerb und der Autonomie der Verbände.43 Der EuGH lässt sich davon zumindest ansatzweise leiten.44 Rein sportlich und nicht wirtschaftlich motivierte Statuten der Sportverbände unterfallen bereits tatbestandlich nicht dem auf wirtschaftliche Tätigkeiten bezogenen EG-Vertrag, wobei sich allerdings Grenzfragen stellen.45 Der Europäische Rat und der Rat der Europäischen Union befassten sich mehrfach mit dem Thema „Europäische Union und Sport“.46 Anlass dazu geben neben der Freizügigkeit Fragen des Kartellrechts, insbesondere auch im Medienbereich,47 der Bekämpfung von Doping, der Bekämpfung des Hooligan-Tourismus in einem Raum ohne Binnengrenzen48 sowie der ge40 Erklärung (Nr. 29) zum Sport, ABl. 1997 Nr. C 340/136; BGBl. 1998 II, S. 438/448. 41 Vgl. zur rechtlichen Qualität von Erklärungen zum EU- und EG-Vertrag Kokott, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV-Kommentar, 2003, Art. 311, Rn. 7. 42 Eine solche Bereichsausnahme forderten Scholz/Aulehner, Die „3+2“-Regel (Fn. 39), S. 47. 43 Vgl. zum Unterschied zwischen genereller Bereichsausnahme und einzelfallbezogener Anwendungsrestriktion durch Berücksichtigung spezifischer Belange des Sports Hannamann, Isolde, Kartellverbot und Verhaltenskoordinationen im Sport, 2001, S. 348 f. 44 Vgl. dazu Streinz, Der Fall Bosman (Fn. 38), S. 345 ff. 45 Vgl. dazu Heermann, Peter W., Verbandsautonomie versus Kartellrecht. Zu Voraussetzungen und Reichweite der Anwendbarkeit der Art. 81, 82 EG auf Statuten von Sportverbänden, causa sport 2006, 345 (345, 356 ff.) m. w. N. Zur Unterscheidung zwischen Ausnahmen und Einschränkungen im Kartellrecht eingehend Hannamann, Kartellverbot (Fn. 43), S. 347 ff. 46 Vgl. dazu den 10. Sportbericht der Bundesregierung (Fn. 11), S. 25 ff. 47 Vgl. dazu Hannamann, Kartellverbot (Fn. 43), S. 393 ff. m. w. N.

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sellschaftlichen Funktion des Sports im europäischen Rahmen.49 Im Vertrag über eine Verfassung für Europa,50 dessen In-Kraft-Treten nach den ablehnenden Referenden in Frankreich und den Niederlanden fraglich ist, werden in Art. III-282 ausdrückliche Bestimmungen über den Sport aufgenommen.51 III. Bedeutung des Sports für das staatlich verfasste Gemeinwesen 1. In den Verfassungstexten von Bund und Ländern angesprochene Erwartungen Das Grundgesetz enthält, wie gezeigt, keine ausdrückliche Aussage zum Sport. Da das Schweigen der Verfassung den Verfassungsrechtler noch nicht zum Schweigen verurteilt,52 ist zu prüfen, ob sich nicht auch aus dem Grundgesetz Erwartungen der Verfassung an den Sport entnehmen lassen. Verfassungserwartungen sind wie Verfassungsvoraussetzungen eine Folge der bewussten Unvollständigkeit einer jeden Verfassung, die auch und vor 48 Gemäß Art. 2 Abs. 2 des Schengen-Durchführungsübereinkommens vom 19.6.1990 (BGBl. 1993 II, S. 1013; aktuelle Fassung in Sartorius II, Nr. 280) kann abweichend von der Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen der Europäischen Union eine Vertragspartei, wenn die öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit es erfordern, nach Konsultation der anderen Vertragsparteien beschließen, „daß für einen begrenzten Zeitraum an den Binnengrenzen den Umständen entsprechende nationale Grenzkontrollen durchgeführt werden“. Vgl. dazu Breucker, Marius, Sicherheit bei der Fußballweltmeisterschaft 2006 – Präventive Maßnahmen der Polizei und des Veranstalters, SpuRt 2005, 134 (136). 49 Vgl. dazu insbesondere die vom Europäischen Rat auf dem „Gipfel“ in Nizza angenommene „Erklärung über die Besonderen Merkmale des Sports und seine gesellschaftliche Funktion in Europa“, Europäischer Rat, Tagung vom 7.–9.12.2000 in Nizza, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Nr. 52 und Anlage IV, Bulletin der EU 12-2000, 8 (16, 30 ff.). Vgl. auch den 10. Sportbericht der Bundesregierung (Fn. 11), S. 26. 50 ABl. 2004 Nr. C 310/1. 51 Art. III-282 Abs. 1 UAbs. 2: „Die Union trägt unter Berücksichtigung der besonderen Merkmale des Sports, seiner auf freiwilligem Engagement basierenden Strukturen und seiner sozialen und pädagogischen Funktion zur Förderung der europäischen Aspekte des Sports bei“. Art. III-282 Abs. 1 UAbs. 3 lit. g: „Die Tätigkeit der Union hat folgende Ziele: . . . g) Entwicklung der europäischen Dimension des Sports durch Förderung der Fairness und der Offenheit von Sportwettkämpfen und der Zusammenarbeit zwischen den für den Sport verantwortlichen Organisationen sowie durch den Schutz der körperlichen und seelischen Unversehrtheit der Sportler, insbesondere junger Sportler“. Vgl. dazu und zur Entstehungsgeschichte Grodde, Meinhard, Die Aufnahme des Sports in die Europäische Verfassung, SpuRt 2005, 222 (224 ff.). 52 Steiner, Udo, Verfassungsfragen des Sports, NJW 1991, 2729 (2730).

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allem, in ihren einzelnen Verfassungsbestimmungen wie in der Verfassung als Ganzer, ein Programm ihrer immerwährenden Vervollständigung ist.53 Für die Demokratie sind z. B. Verfassungsvoraussetzungen Demokraten, die dieser zum Leben verhelfen, und ein Prozess öffentlicher Meinungsbildung mit freier, staatsunabhängiger und privat organisierter Presse. Wenn das BVerfG die sog. „öffentliche Aufgabe“ der Presse für die Willensbildung im demokratischen Staat wörtlich als „verfassungsrechtlich vorausgesetzte Aufgabe“ bezeichnet,54 zeigt dies, dass Verfassungsvoraussetzungen, um wirksam zu werden, mit Verfassungserwartungen verknüpft sein müssen. Ohne Verleger, Redakteure und Journalisten sowie Leser, die die freie Presse nutzen, bleibt dieses Recht wirkungslos. Eine Verfassung ist nicht nur eine Gesamtheit von Geboten und Verboten, sondern auch von Erwartungen. Dies gilt vor allem für die Grundrechte, deren „rechten Gebrauch“ gerade eine Verfassung erwartet, die diesen nicht erzwingt, weil sie ihn als freiheitliche Verfassung nicht erzwingen kann und nicht erzwingen will. Verfassungserwartungen „als unentbehrliches Lebenselement gerade einer freiheitlichen Verfassung“55 leben von der freien Entscheidung der Grundrechtsträger, um die Lücke zwischen dem Gemeinwohlbedarf des Verfassungsstaates und den in einem freiheitlichen Staat notwendig fehlenden bzw. defizitären Mitteln, dieses Gemeinwohl zu erzwingen, zu schließen. Der freiheitlich-offenen Verfassung entspricht eine Bürgergesellschaft, die Freiheit eigenverantwortlich lebt und das Verhältnis von Staat und Gesellschaft ganz im Sinne des Subsidiaritätsprinzips gestaltet. Eine solche Gesellschaft ist prinzipiell autonom, sie realisiert in hohem Maße Eigenverantwortung.56 Genau dies greifen die Sportberichte der Bundesregierung auf, indem sie die „Autonomie des Sports“ hervorheben: „Autonomie des Sports bedeutet Unabhängigkeit und Selbstverwaltung des Sports. Sie gewährt den in Vereinen und Verbänden organisierten Mitbürgerinnen und Mitbürgern einen weiten grundrechtlich abgesicherten Freiheitsraum. Die Stärke des deutschen Sports liegt u. a. auch darin, dass er sich selbst organisiert und seine Angelegenheiten in eigener Verantwortung autonom regelt. Dabei ergeben sich für den Sport als integrierender Bestandteil der Gesellschaft insbesondere da Konsequenzen, wo die Vergabe öffentlicher Mittel an die Einhaltung gesetzlich normierter Rahmenbedingungen geknüpft ist“.57 Damit 53 Krüger, Herbert, Verfassungsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: Festschrift für Ulrich Scheuner, 1973, S. 302. 54 BVerfGE 54, 208 (219). 55 Krüger, Verfassungsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen (Fn. 53), S. 304. 56 Scholz, Deutschland – In guter Verfassung? (Fn. 1), S. 79. 57 10. Sportbericht der Bundesregierung (Fn. 11), S. 15. Vgl. auch z. B. den 8. Sportbericht der Bundesregierung vom 12.4.1995, BT-Drs. 13/1114, S. 12.

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wird die Nutzung der grundrechtlichen Freiheiten erwartet, wobei mit der Vergabe von öffentlichen Mitteln besondere Erwartungen verbunden sind. Die Landesverfassungen lassen in ihren „Sportartikeln“ bereits einige Konkretisierungen erkennen. Wenn der Sport, wie in Art. 36 Abs. 3 der Verfassung von Sachsen-Anhalt, der zu fördernden „kulturellen Betätigung aller Bürger“ zugerechnet wird, bestätigt dies ein weites Kulturverständnis.58 Ausdrückliche Verfassungserwartungen, die mit dem Sport verbunden werden, deutet Art. 35 der Verfassung Brandenburgs an. Danach ist die Sportförderung auf ein ausgewogenes und bedarfsgerechtes Verhältnis von Breitensport und Spitzensport gerichtet und soll die besonderen Bedürfnisse von Schülern, Senioren und Menschen mit Behinderung berücksichtigen. 2. Einfaches Gesetzesrecht und andere Quellen Präzisere Aussagen treffen die Sportfördergesetze der mangels ausdrücklicher Bundeskompetenz59 zuständigen Länder.60 Zusammenfassend lassen sich aus ihnen folgende Gemeinwohlzwecke festhalten: Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit und Leistungsfähigkeit; Vermittlung sozialer Grunderfahrungen und Bindungen; Förderung von Gemeinsinn; Integrationsfunktion; Beitrag zur Erziehung und Bildung; Persönlichkeitsbildung durch Kreativität und Kräftemessen im Wettkampf; sinnvolle Freizeitgestaltung. Der Leistungssport wird in den Sportgesetzen Bremens (§ 1 Abs. 2) und Thüringens ausdrücklich einbezogen (§ 1 Abs. 5), während das Sportförderungsgesetz von Rheinland-Pfalz Maßnahmen, die überwiegend dem Berufssport dienen, ausdrücklich von der öffentlichen Förderung aufgrund dieses Gesetzes ausschließt (§ 3 Abs. 3). Dies hindert aber nicht eine Förderung des Leistungssports, der als Spitzensport heute realistischerweise in 58 Dafür Häberle, „Sport“ als Thema neuerer verfassungsstaatlicher Verfassungen (Fn. 21), S. 40. Die Verbindung des Sports mit Kultur und Kunst, zum Teil mit Wissenschaft, wird in allen neuen Verfassungen der sog. „neuen“ Bundesländer hergestellt, vgl. Art. 11 der Verfassung des Freistaats Sachsen, Art. 16 Abs. 1 der Verfassung Mecklenburg-Vorpommerns, Art. 30 der Verfassung des Freistaats Thüringen. Art. 35 („Sport“) der Verfassung Brandenburgs steht im Abschnitt „Bildung, Wissenschaft, Kunst und Sport“ (Art. 28 ff.). 59 Zu ungeschriebenen Kompetenzen des Bundes (aus der Natur der Sache und kraft Sachzusammenhangs) vgl. den 10. Sportbericht der Bundesregierung (Fn. 11), S. 14 f. 60 Vgl. dazu Streinz, Verfassungsstaatliche Erwartung (Fn. 7), S. 26 ff. m. w. N. Landesgesetze über die öffentliche Förderung des Sports bestehen in RheinlandPfalz (Gesetz vom 9.12.1974, GVBl., S. 597), Bremen (Gesetz vom 5.7.1976, GVBl., S. 173), Berlin (Gesetz vom 24.10.1978, GVBl., S. 2105), Brandenburg (Gesetz vom 10.12.1992, GVBl. I, S. 498), Thüringen (Gesetz vom 8.7.1994, GVBl., S. 808) und Mecklenburg-Vorpommern (Gesetz vom 20.9.2002, GVBl., S. 574).

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den meisten Sportarten nur noch als Berufssport betrieben werden kann, weshalb der von Anfang an fragwürdige, angesichts der „Staatsamateure“ der „sozialistischen Staaten“ wettbewerbsverzerrende und spätestens mit dem Ausschluss des österreichischen Skirennläufers Karl Schranz von den Olympischen Winterspielen von Sapporo lächerlich gewordene „Amateurstatus“ bei den Olympischen Spielen der Sache nach abgeschafft wurde.61 Freilich bedarf die Förderung des Berufssports neben einer gesetzlichen Grundlage einer Rechtfertigung dahingehend, warum und inwieweit dadurch eine dem Gemeinwohl förderliche und damit „öffentliche“ Aufgabe erfüllt wird. Dabei ist zu prüfen, ob es spezifische verfassungsstaatliche Erwartungen gerade auch an den Berufssport gibt. Neben diesen speziellen „Sportgesetzen“ berühren auch allgemeine Gesetze den Sport, z. B. das Vereinsrecht, das Jugendrecht, das Steuerrecht, das Arbeitsrecht und, wie der Fall Bosman beweist, das Europarecht. Zu nennen ist auch das Umweltrecht, da es dem Sport wie der Musik geht, die „oft nicht schön gefunden“ wird „weil sie stets mit Geräusch verbunden“ ist (Wilhelm Busch). Die Verfassungsrelevanz des Sports ist dabei insoweit bedeutsam, als sie das „Gewicht“ mitbestimmt, das dem Sport im erforderlichen Abwägungsvorgang zukommt. Konkrete Erwartungen an den Sport äußern Verlautbarungen, insbesondere die regelmäßigen Sportberichte der Bundesregierung. Unter der Überschrift „Gesellschaftspolitische Bedeutung des Sports“ werden dessen Beiträge zur „Bildung von Sozialkapital“, „zur sozialen Integration“, „zum bürgerlichen Engagement“, „zur Identifikation“, „zur Einübung sozialen Verhaltens“, „zur Anerkennung des Leistungsprinzips“, „zur Gesundheit“ und „zur Entwicklungsbewältigung und Lebenshilfe“ genannt und festgestellt, dass das Staatswesen in der Bundesrepublik Deutschland den Sport und die ihn tragenden Sportorganisationen braucht, „da sie für die Stabilisierung und Wohlfahrt der Gesellschaft gerade angesichts eines beschleunigten sozialen Wandels unverzichtbare Leistungen erbringen“.62 Ferner äußern sich dazu die Programme der politischen Parteien, die sich ein so populäres Thema natürlich nicht nehmen lassen,63 schließlich die Verlautbarungen der Sportverbände.64

61 Durch die olympische Charta 1991 (Regel 45 Ziffer 4) wurden die bereits durch die neu gefasste „Amateur-Regel 26“ liberalisierten Amateurbestimmungen praktisch völlig abgeschafft. Danach ist nämlich jeder Olympiateilnehmer nur noch verpflichtet, nicht zu erlauben, dass mit seiner Person während der Olympischen Spiele Reklame gemacht wird. 62 10. Sportbericht der Bundesregierung (Fn. 11), S. 13 f. 63 Vgl. dazu Nolte, Staatliche Verantwortung (Fn. 6), S. 55 ff. m. w. N. 64 Vgl. dazu Streinz, Verfassungsstaatliche Erwartung (Fn. 7), S. 32 f.

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3. Verfassungsstaatliche Erwartung an den Sport Aus den gewonnenen Befunden lassen sich einige verfassungsstaatliche Erwartungen an den Sport präzisieren. Dabei liefern die Verfassungstexte Ansatzpunkte, die in den Zweckformeln der Sportförderungsgesetze aufgegriffen und zusammengefasst werden und – dort näher ausgeführt – die Programme der Sportverbände und politischen Parteien bestimmen. Auf diesem Befund bauen schließlich auch die Sportberichte der Bundesregierung auf, zuletzt der Zehnte Sportbericht von 2002. Dort werden die einzelnen Elemente der gesellschaftspolitischen Bedeutung des Sports systematisiert und durch Erläuterungen präzisiert. Mit der Erfüllung dieser Punkte entspricht der Sport letztlich Verfassungserwartungen. a) Repräsentation und Integration – Der Beitrag des Sports zur „Staatspflege“ Nach übereinstimmender Auffassung – auch derjenigen, die dies eher kritisch sehen oder sogar bedauern65 – erwartet nicht nur der totalitäre Staat, sondern auch der Verfassungsstaat seine Repräsentation nach außen durch „seine“ Sportler bei sportlichen Großereignissen und verspricht sich dadurch zugleich eine nachhaltige Förderung der staatlichen Integration im Inneren. Seitens der „sozialistischen“ Staaten wurde dies stets deutlich betont. So sagte Walter Ulbricht 1966: „Wir sind der Auffassung, daß ein Spitzensportler für unseren Arbeiter- und Bauernstaat mehr leistet und dessen Ansehen mehr hebt, wenn er sich mit der Hilfe der Förderung durch Partei und Staat auf hohe sportliche Leistungen vorbereiten kann, als wenn er an seinem Arbeitsplatz einer von vielen ist“66. Dieser Ansatz wurde gerade im Gegensatz zur Bundesrepublik Deutschland, der man wenigstens auf diesem Gebiet mit Erfolg entgegentreten konnte, bereits während der Zeit der gesamtdeutschen Mannschaften, als vor den Olympischen Spielen jeweils Ausscheidungskämpfe stattfanden,67 verfolgt und nach der Zulassung einer gesonderten DDR-Olympiamannschaft zu den Spielen in Mexiko 1968 aus65 Vgl. z. B. Digel, Helmut, Sport und nationale Repräsentation. Spitzensport im Dienste der Politik, Der Bürger im Staat 1975, S. 195 ff.; Winkler, Hans-Joachim, Sporterfolge als Mittel der Selbstdarstellung des Staates, in: Helmut Quaritsch (Hrsg.), Die Selbstdarstellung des Staates, 1977, S. 109 (130 f.). 66 Zitiert nach Graf von Krockow, Christian, „Sieg oder Tod“. Über Sport und Politik, in: Sarkowicz, Hans (Hrsg.), Schneller, höher, weiter. Eine Geschichte des Sports, 1996, S. 356 ff. (356). 67 Vgl. zu den Ausscheidungsspielen im Fußball, wo sich die „Staatsamateure“ der DDR und die Amateur-Auswahl des DFB gegenüberstanden, von Lewinski, Kai/ von Lindeiner-Wildau, Fabian, Rechtsfragen der deutschen Fußball-Länderspielbilanz, SpuRt 2006, 147 (147), Fn. 1.

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gebaut, zumal ausgerechnet seit den Olympischen Spielen in München 1972 die DDR auch mit eigener Flagge und Hymne auftreten durfte.68 Der Sport war vielleicht das einzige und letzte, was noch eine gewisse Identifikation des Bürgers69 mit dem SED-Staat bewirkte. Bekannt ist auch die gezielte propagandistische Nutzung der Olympischen Spiele 1936 in München und Garmisch-Partenkirchen durch den NS-Staat.70 Diese systemstabilisierende Wirkung vor allem des Fußballsports wurde auch von den früheren Diktaturen in Argentinien und Brasilien genutzt. Auch für die Staaten der Dritten Welt war und ist sie zur Erreichung des Zieles der Bildung einer Nation im Rahmen der jetzt als Staatsgrenzen fortbestehenden und verteidigten früheren Kolonialgrenzen wesentlich. Zum Telegramm eines afrikanischen Staatspräsidenten anlässlich der Fußballweltmeisterschaft 1974 an seine Mannschaft mit dem Inhalt „Sieg oder Tod“ fügte der darüber berichtende Reporter hinzu, es wäre einem wohler, wenn man ganz sicher sein könnte, dass dies nicht wörtlich gemeint sei.71 Die politisch Verantwortlichen in Verfassungsstaaten drücken sich zwar nicht ganz so dramatisch aus und der Verfassungsstaat bietet auch andere integrationsstiftende Elemente, so dass er wohl nicht so existentiell auf den Sport in seiner nach außen repräsentierenden und nach innen einheitsstiftenden Funktion angewiesen ist. Gleichwohl ist der Sport auch hier zumindest temporär einer der sichtbarsten Identifikationsanlässe.72 Dies hat gerade die 68 Vgl. z. B. Digel, Sport und nationale Repräsentation (Fn. 65), S. 199 f. mit Beispielen und Nachweisen. 69 Dass ein antibürgerlicher Staat auf den Begriff „DDR-Bürger“ so großen Wert legte, ist immerhin bemerkenswert. Eher ein Kuriosum war der 1 : 0-Sieg der DDRMannschaft gegen den späteren Weltmeister Deutschland (West) im Vorrundenspiel am 22.6.1974 durch das Tor von Sparwasser, das als einzige Auseinandersetzung mit dem „Klassenfeind“ in das Bewusstsein der Fußballinteressierten in beiden Teilen Deutschlands nachhaltig eingegangen ist, vgl. Lewinski/Lindeiner-Wildau, Rechtsfragen der deutschen Fußball-Länderspielbilanz (Fn. 67), S. 147 m. w. N. in Fn. 2 und 3 (z. B. Kuper, „Football against the enemy“, 1984; Blees, „90 Minuten Klassenkampf“, 1999; Wittich, „Wo waren Sie als das Sparwassertor fiel?, 1998; Eichler, Lexikon der Fußballmythen, 2000, S. 74: „fußballpolitische Pleite“). Dabei wird meist übersehen, dass die DFB-Auswahl (vorsichtig ausgedrückt) an einem Sieg gar nicht interessiert sein konnte, entging sie durch die Niederlage doch der ungleich schwereren Finalgruppe mit Argentinien, Brasilien und den Niederlanden. 70 Vgl. dazu z. B. Teichler, Hans Joachim, Sport und Nationalismus. Die internationale Diskussion über die Olympischen Spiele 1936, in: Sarkowicz (Hrsg.), Schneller, höher, weiter (Fn. 66), S. 369 ff. m. w. N. 71 Vgl. Graf von Krockow, „Sieg oder Tod“ (Fn. 66), S. 357. 72 Vgl. dazu Streinz, Rudolf, Europäische Integration durch Verfassungsrecht, in: Villa Vigoni Communicazioni/Mitteilungen, VIII, April 2004, S. 20 (32 ff.). Zum Thema Europäische Integration und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht vgl. die Referate auf der Jahrestagung 2002 der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in St. Gallen von Stefan Korioth und Armin von Bogdandy

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letzte Fußballweltmeisterschaft in Deutschland gezeigt. Und die Politik weiß dies und greift das populäre Thema auf. So sprach der französische Staatspräsident Charles de Gaulle nach dem schlechten Abschneiden Frankreichs bei den Olympischen Spielen von Rom 1960 von „nationaler Schande“ und forderte eine „sportliche Aufrüstung“73. Als die deutsche FußballNationalmannschaft in einem Vorbereitungsspiel zur Weltmeisterschaft 2006 mit einer in der Tat beängstigenden Leistung (zumindest für diejenigen, die solchen Vorbereitungsspielen Bedeutung zumessen) gegen Italien mit 1 : 4 unterlag, forderten einige Bundestagsabgeordnete ernsthaft, der Bundestrainer Jürgen Klinsmann solle zum „Rapport“ erscheinen, was von diesem natürlich zu Recht nicht ernst genommen wurde. Staats- und Regierungschefs sonnen sich im Glanz erfolgreicher Sportler, wie z. B. US-Präsident Jimmy Carter nach dem damals sensationellen Sieg der US-Eishockeymannschaft bei den Olympischen Spielen in Lake Placid über „die Sowjetunion“ (es war nur deren Eishockeymannschaft), der dänische Außenminister Uffe Ellemann-Jensen, der nach dem 2 : 0 Sieg Dänemarks über Deutschland im Fußball-EM-Finale 1992 bei der Tagung des Europäischen Rates mit Fan-Schal erschien, oder der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl nach dem 2 : 1 Endspielsieg Deutschlands bei der Fußball-EM 1996 in England, der sogar in die Kabine kam, worauf es dort nach Aussage eines Spielers „eng wurde“. Der Bundeskanzler soll nach der WM-Pleite 1994 (in Deutschland wird ein Ausscheiden im Viertelfinale als solche empfunden) sogar den damaligen Bundestrainer Berti Vogts zum Verbleiben im „Amt“ bewogen haben. Bereits dieser allgemein gebräuchliche Ausdruck für den Fußball-Bundestrainer ist bezeichnend. Fußball ist Chefsache, für Gerhard Schröder wie für Edmund Stoiber und auch für Angela Merkel. Nun könnte man dies als Eitelkeit oder Publicitysucht von Politikern abtun, was es sicherlich auch ist, ohne temporären74 oder gar – wie eingangs für Rupert Scholz gezeigt – dauerhaften Einsatz in verantwortlicher und auch prekärer Funktion abwerten zu wollen. Erfolgreiche sportliche Großereignisse führen jedoch nachweislich zu einem Aufschwung der Popularitätskurve der jeweiligen Regierung,75 unabhängig davon, ob diese zu dem konkreten sportlichen Erfolg überhaupt etwas beigetragen hat. Dahinter steckt aber sicherlich viel mehr. in VVDStRL 62 (2003), S. 117 ff. bzw. S. 156 ff. sowie die Diskussionsbeiträge. Zum Wunder von Bern und zum österreichischen Triumph von Cordoba (3:2 gegen Deutschland, für das es noch um den Einzug in das Spiel um den 3. Platz der Fußball-WM 1978 in Argentinien ging) vgl. Streinz, ebd., S. 202 f. Zum „Sportpatriotismus der Deutschen vgl. z. B. Krüdewagen, Ute, Die Selbstdarstellung des Staates, 2002, S. 177 ff. 73 Vgl. Graf von Krockow, „Sieg oder Tod“ (Fn. 66), S. 357. 74 Zu Recht hebt der 10. Sportbericht der Bundesregierung (Fn. 11), S. 11 den Einsatz von Bundeskanzler Schröder und Bundesinnenminister Schily bei der Bewerbung Deutschlands um die Fußball-WM 2006 hervor.

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Seitens der politisch Verantwortlichen wird unabhängig von Regierung und Opposition oder parteipolitischer Zugehörigkeit gerade auch in amtlichen Verlautbarungen wie den Sportberichten der Bundesregierung die Erwartung an den Sportler, den Staat nach außen zu repräsentieren, deutlich zum Ausdruck gebracht – bei aller Betonung der Freiwilligkeit der Leistungserbringung. Die errungenen Erfolge werden – mehr oder weniger „amtlich“ – bilanziert.76 Mit dieser Repräsentation nach außen ist – historisch nachgewiesen, wie immer sich die Zusammenhänge konkret begründen lassen mögen77 – eine Identifikation nach innen mit entsprechender Integrationswirkung verbunden. Dies lässt sich auf regionaler und lokaler Ebene,78 aber eben auch auf nationaler Ebene beobachten, und wird auch vom Verfassungsstaat deutlich so gesehen.79 Der Sport leistet somit einen wesentlichen Beitrag zu der Integration, die für den Staat existenznotwendig ist, wie immer man zur „Integrationslehre“ Rudolf Smends stehen mag.80 Wenigstens auf diesem Gebiet findet noch das statt, was Herbert Krüger „Staatspflege“ genannt hat,81 wobei auch die Staatssymbole (Flagge, Hymne) zum Einsatz kommen, deren Bedeutung82 gerade vom westdeutschen Staat oft unterschätzt wurde und mit denen er sich bisweilen schwer tat. Erst bei der 75

Vgl. Krüger, Arnd, Sport und Gesellschaft, 1980, S. 32: Aufschwung der Popularitätskurve der Regierung Brandt durch die Olympischen Spiele 1972 von München. Die Beispiele ließen sich fortsetzen. 76 Vgl. Digel, Sport und nationale Repräsentation (Fn. 65), S. 196 ff.; 10. Sportbericht der Bundesregierung (Fn. 11), S. 29; 8. Sportbericht der Bundesregierung (Fn. 57), S. 8; Sportbericht der Bundesregierung vom 26.9.1973, BT-Drs. 7/1040, S. 10: „Der Sport der Bundesrepublik Deutschland hat bei den Spielen der XX. Olympiade in München und Kiel die Erwartungen erfüllt. Im ‚Medaillenspiegel‘ nimmt er die vierte Stelle ein und hat damit im Vergleich zu den Ergebnissen in Mexiko erheblich besser abgeschnitten“. Auch die Erfolge im Behindertensport werden bilanziert, vgl. 10. Sportbericht der Bundesregierung (Fn. 11), S. 47. 77 Vgl. z. B. Langewiesche, Dieter, „. . . für Volk und Vaterland kräftig zu würken . . .“ Zur politischen und gesellschaftlichen Rolle der Turner zwischen 1811 und 1871, in: Grupe, Ommo (Hrsg.), Kulturgut oder Körperkult? Sport und Sportwissenschaft im Wandel, 1990, S. 22 ff.; Bausinger, Hermann, Die schönste Nebensache . . . Etappen der Sportbegeisterung, ebd., S. 3 ff.; Krüger, Sport und Gesellschaft (Fn. 75), S. 31 ff. 78 Vgl. nur die von der Stadt Gelsenkirchen herausgegebene Schrift von Meya, Heinrich, Die Gemeinde und ihr Club. Profifußball in der Diskussion, o. J. Die Beispiele ließen sich fast beliebig fortsetzen. 79 Vgl. z. B. 8. Sportbericht der Bundesregierung (Fn. 57), S. 8; 10. Sportbericht der Bundesregierung (Fn. 11), S. 13 f.: „regionale, nationale und internationale Repräsentation“; Auftreten „unserer (!) Spitzensportlerinnen und -sportler“ als „Ausweis des Ansehens Deutschlands in aller Welt“. 80 Vgl. Smend, Rudolf, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, S. 9 f., S. 32 ff., S. 56 ff. 81 Krüger, Herbert, Von der Staatspflege überhaupt, in: Quaritsch (Hrsg.), Die Selbstdarstellung des Staates (Fn. 65), S. 21 (21 ff.).

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Weltmeisterschaft 2006 wurde das „Flaggezeigen“ überwiegend begrüßt, wenngleich auch hier die in Deutschland wohl unvermeidlichen Bedenkenträger auftraten. Vielleicht ist bezeichnend, dass der Staat diese „Pflege“ nicht selbst vornimmt, sondern die Aktivitäten des „gesellschaftlichen“ Bereichs nutzt. Aus verfassungsstaatlicher Sicht kann dagegen keine Kritik erhoben werden. Immerhin lässt der Staat sich diese „Pflege“ etwas kosten.83 Die Repräsentations- und Integrationsfunktion ist – neben der Vorbildfunktion für den Breitensport – auch die Rechtfertigung dafür, dass der Staat für den Hochleistungssport Geld ausgibt. b) Förderung des demokratischen Gedankens Im Gegensatz zu früheren Verlautbarungen deutscher Sportfunktionäre84 heben die Sportberichte der Bundesregierung den Beitrag zur Demokratie hervor, den die Organisation des Sports durch demokratisch gewählte, unabhängige und zumeist ehrenamtlich geleitete Vereine und Verbände leistet.85 In der Tat kann der Deutsche Sportbund, der auf 88.000 Sportvereine mit ca. 26,8 Millionen Mitgliedern basiert,86 wenn man so will als größte „Bürgerinitiative“ in Deutschland bezeichnet werden. Der Beitrag von Sportvereinen für die Entwicklung der Demokratie in Deutschland war durchaus nicht unerheblich.87 Nachdem die Demokratie heute die allgemeine Staatsform ist, hat sich die Rolle gewandelt. Gesellschaftliche Institutionen, die auf gemeinschaftsfördernder Eigeninitiative und Eigenverantwortlichkeit beruhen, sind für die Stabilität auch des demokratischen Staates unverzichtbar. Von ihnen kann dabei aber auch ohne eine verfassungsrechtliche Festlegung, wie sie in Art. 21 Abs. 1 Satz 2 GG für die politischen Parteien erfolgt und wegen deren besonderer Rolle88 erfolgen muss, und unter Be82 Vgl. dazu eingehend Klein, Eckart, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 4 (Loseblatt, 1982), Art. 22 GG, Rn. 65 ff.; ders., Die Staatssymbole, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts (Fn. 24), § 19 m. w. N. 83 Vgl. zur Förderung des Spitzensports (Hochleistungssports) Steiner, Udo, Sport und Freizeit, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl., Bd. IV: Aufgaben des Staates, 2006, § 87, Rn. 7 ff., 19 f. 84 Vgl. das bei Seitz, Was symbolisiert das „Wunder von Bern“? (Fn. 7), S. 5 wiedergegebene Zitat des damaligen (1954) DFB-Präsidenten Peco Bauwens: „Bei den hohen Idealen, die wir vertreten, hört die Demokratie auf“. 85 Vgl. den 8. Sportbericht der Bundesregierung (Fn. 57), S. 8. 86 10. Sportbericht der Bundesregierung (Fn. 11), S. 14. 87 Vgl. dazu Langewiesche, „. . . für Volk und Vaterland kräftig zu würken . . .“ (Fn. 77), S. 38 ff. m. w. N. 88 Vgl. zur Rolle der Parteien in Deutschland Scholz, Deutschland – In guter Verfassung? (Fn. 1), S. 119 ff. Zu den Unterschieden zwischen staatlichen Strukturen und der besonderen Stellung politischer Parteien und dem auf der Assoziationsbzw. Vereinigungsfreiheit basierenden Verbandswesen und der daraus folgenden Un-

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rücksichtigung unterschiedlicher Strukturprinzipien die Einhaltung eines Mindestmaßes demokratischer Grundsätze auch in ihrer inneren Ordnung erwartet werden. c) Förderung der Gesundheit Der Beitrag des Sports zur Gesundheit gehörte zu den Elementen, die bereits in den Verfassungstexten aufschienen. Die Erhaltung der Volksgesundheit ist eine Staatsaufgabe, da sie unter mehreren Gesichtspunkten dem Gemeinwohl dient. Dazu gehört in Staaten mit allgemeiner Wehrpflicht auch der Aspekt, dass der Sport eine Vorbereitung für den Militärdienst ist. Dies wird zwar in Deutschland im Gegensatz zu totalitären Staaten, aber auch zu anderen Verfassungsstaaten, nicht offen propagiert,89 aber doch nicht ganz aus den Augen verloren. Andere Aspekte sind die Erhaltung der Arbeitskraft, die Vorbeugung gegenüber Zivilisationskrankheiten90 und die Erhaltung der Vitalität bis ins Alter. Diesen Gesichtspunkten kommt angesichts der davonlaufenden Kosten im Gesundheitswesen, die auch altersstrukturbedingt sind, zunehmende Bedeutung zu. Durch die Gesundheitsreform 2000 wurde der Grundstein dafür gelegt, die Möglichkeiten des organisierten Sports für die Gesundheitsprävention zu nutzen.91 Die Betonung der Gesundheitsförderung durch den Sport geht sicher auf den klassischen Anspruch „mens sana in corpore sano“ zurück. Nun wusste man bereits in der Antike und weiß heute jeder, dass nicht jede Leibesübung und nicht jeder Übungsgrad als gesund angesehen werden kann.92 Dass Spitzensport nicht unbedingt gesund ist wird allein dadurch bewiesen, dass ein eigener Zweig der Medizin von ihm nicht schlecht lebt. Anders verhält es sich dagegen grundsätzlich, d. h. abgesehen von unvermeidlich eintretenden Sportunfällen, mit einem vernünftig, d. h. gesundheitsorientiert betriebenen Breitensport. Der Spitzensport liefert dafür medizinische und sportwissenschaftliche Erkenntnisse und regt den Breitensport gerade gegenüber Kindern und Jugendlichen durch seine Vorbildfunktion an, die nicht notwendig zu den gesundheitlich negativen Folgen des Spitzensports führen muss. Dieser Beitrag des Breitensports zur Gesundheit zeigt, dass es sich dabei um eine typische verfassungsstaatliche Erwartung handelt. Ein gesundheitsbewusstes Verhalten der Bevölkerung kann vom Staat zwar gefördert, durch übertragbarkeit des staatlichen Demokratieprinzips Scholz, ebd., S. 90 f., der den Grundsatz der Gewaltenteilung für eher analogiefähig hält. 89 Vgl. Krüger, Sport und Gesellschaft (Fn. 75), S. 30 f. 90 Vgl. 8. Sportbericht der Bundesregierung (Fn. 57), S. 8. 91 Vgl. 10. Sportbericht der Bundesregierung (Fn. 11), S. 12. unter Hinweis auf § 20 SGB V. 92 Vgl. dazu und zum folgenden Krüger, Sport und Gesellschaft (Fn. 75), S. 33 ff.

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positive wie negative Anreize93 in einem bescheidenen Umfang auch gesteuert, letztlich aber nicht erzwungen werden. Der Staat ist insoweit darauf angewiesen, dass die „Gesellschaft“ entsprechende Beiträge leistet. Freilich wird der Staat dadurch nicht völlig aus seiner Verantwortung für das allgemeine Wohl entlassen, er darf sich aus seinen Verpflichtungen durch die Verweisung auf die „Gesellschaft“ nicht wegstehlen, z. B. dadurch, dass er den staatlichen Sportunterricht im Vertrauen auf die Tätigkeit der privaten Verbände unverantwortlich reduziert oder gänzlich einstellt. Denn die Verbände können schon wegen ihrer in einem freiheitlichen Staat systembedingten Freiwilligkeit nicht alle erfassen. Sie werden vor allem diejenigen nicht erreichen, die es im Sinne einer gesundheitlichen „Grundversorgung“ durch Sport besonders angeht. d) Beitrag zu Erziehung und Persönlichkeitsentwicklung – Förderung von Individualität und Gemeinsinn Die Aussagen der Verfassungstexte betreffen mit der „körperlichen Ertüchtigung“ neben der Gesundheit auch die Erziehung der Jugend. Dies ist auch einer der in den Sportförderungsgesetzen herausgestellten Gemeinwohlzwecke. Der aus dem Sozialstaatsprinzip in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 GG (Aufsicht des Staates über das Schulwesen) hergeleitete, aber auch mit staatlichen Handlungspflichten zur Schaffung der tatsächlichen Voraussetzungen für die Ausübung der freien Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) und der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) verbundene staatliche Erziehungsauftrag,94 verstanden als die Verpflichtung des Staates, ein leistungsfähiges öffentliches Schulsystem vorzuhalten,95 tritt nicht nur hinter den elterlichen Erziehungsauftrag – gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG sind Pflege und Erziehung der Kinder „das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst 96 ihnen obliegenden Pflicht“ – sondern auch in Konkurrenz zu anderen „Erziehern“97. Zu diesen gehören mehr oder weniger berufene, 93

So werden Zuschläge für sog. „Risikosportarten“ (z. B. Fallschirmgleiten) erwogen, wobei sofort der Streit beginnt, welche Sportarten eigentlich besondere Risiken bergen. 94 Vgl. dazu die Referate von Michael Bothe, Armin Dittmann, Wolfgang Mantl und Ivo Hangartner auf der Jahrestagung 1994 der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Halle/Saale, VVDStRL 54 (1995), S. 7 ff. (17 ff.); S. 47 ff. (48 ff.); S. 75 ff. (81 ff.); S. 95 ff. (96 ff.) m. w. N. 95 Vgl. z. B. Bothe (Fn. 94), S. 17 f. 96 Hervorhebung vom Verf. Nicht nachgeordnet, sondern gleichgeordnet ist der staatliche Erziehungsauftrag in der Schule dem elterlichen Erziehungsrecht lediglich „in seinem Bereich“. Dort haben Eltern und Schule eine gemeinsame Erziehungsaufgabe, welche die Bildung der einen Persönlichkeit zum Ziel hat. So BVerfGE 34, 165 (183) – Förderstufe.

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aber auch unberufene, dazwischen vielleicht ungerufene, von den Adressaten der Erziehung, den Kindern und Jugendlichen, aber stark akzeptierte, wie Idole aus der Musikszene und eben auch Spitzensportler. Der bekannte österreichische Fußballstar Hans Krankl erklärte in einem Interview, Idole wie er hätten einen Erziehungsauftrag.98 Zu den berufenen Erziehern gehören sicher diejenigen sportvermittelnden Einrichtungen, insbesondere Sportvereine, die mit und über den Sport einen unersetzlichen Beitrag zur Einübung sozialen Verhaltens und damit auch zur Persönlichkeitsentwicklung leisten. Beim Mannschaftssport liegt es auf der Hand, es gilt aber auch für Einzelsportarten. Denn auch sie setzen die Anerkennung von Regeln ebenso voraus wie die Anerkennung der Existenz eines Gegners, den man „leben lassen“ muss, um den Sport als Wettkampf noch betreiben zu können. Dies gilt gegenüber allen Einwänden gegen die These, Sport trage durch die Erziehung zur Fairness zur positiven Persönlichkeitsentwicklung bei.99 Denn selbst wenn eine bestimmte Art des Foulspiels (z. B. „taktisches Foul“ im Basketball) bei Mannschaftssportarten trainiert werden mag, wird es jedenfalls dann als absolut unerträglich erkannt und akzeptiert, wenn es die Grundlagen einer Sportart zerstören würde. Es auf der darunter liegenden Ebene zu bekämpfen, um die unberechtigte Vorteilserlangung aus Foulspiel zu verhindern, ist Sache des jeweiligen Sportreglements.100 Auf die Einzelheiten dieser diffizilen Problematik kann hier nicht eingegangen werden.101 Differenziert zu sehen sind auch die Einwände gegen die verbindende, vor allem völkerverbindende Wirkung des Sports. Sport ist schon wegen der im Wettkampf notwendig angelegten Gegnerschaft nicht konfliktfrei, weder für die Aktiven noch für die Zuschauer, die Fans, die zu übertriebenen Fanatikern bis hin zu noch Schlimmerem (Rowdies, Hooligans) werden können, wobei berücksichtigt werden muss, dass ein nicht unerheblicher 97 Von „anderen Erziehungsträgern in der Aufgabe, das Kind bei der Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der Gemeinschaft zu unterstützen und zu fördern“, über die durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG hervorgehobenen Eltern hinaus spricht BVerfGE 34, 165 (182) sogar für den Bereich der Schule selbst. 98 Der Standard vom 24. April 1969, S. 18. Zitiert von Mantl (Fn. 94), S. 76. 99 Vgl. als Beispiele solcher Einwände z. B. Krüger, Sport und Gesellschaft (Fn. 75), S. 43; Ule, Carl Hermann, Diskussionsbeitrag, in: Quaritsch (Hrsg.), Die Selbstdarstellung des Staates (Fn. 65), S. 134. 100 Beispiele aus dem Fußballsport: „Rote Karte“ für „Notbremse“, bei Foulspiel im Strafraum zusätzlich Strafstoß; „Gelbe Karte“ bei „taktischen Fouls“. 101 Vgl. dazu Pfister, Bernhard, Autonomie des Sports, sport-typisches Verhalten und staatliches Recht, in: Festschrift für Werner Lorenz, 1991, S. 172 ff. (189 ff.) m. w. N. Zu weiteren Aspekten vgl. Lenk, Hans, Gegen die Doppelmoral. Fünfzehn Thesen für eine neue Fairneßkultur, in: Sarkowicz (Hrsg.), Schneller, höher, weiter (Fn. 66), S. 432 ff.

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Teil von Letzteren Sportveranstaltungen nur als Bühne für Aktivitäten missbrauchen, die mit dem Sport selbst schlechterdings nichts zu tun haben. Sportveranstaltungen werden insoweit wie andere Massenveranstaltungen lediglich „heimgesucht“, nicht besucht. Freilich ist nicht nur diese Erscheinung, die den Sport trifft, sondern auch übertriebener Fanatismus, der den Sport betrifft, durchaus nicht unbedenklich, wenngleich man verbale Übertreibungen von echten Sportfans102 nicht überbewerten sollte, wenn sie sich innerhalb ihrer meist sehr geringen Halbwertszeit auflösen und keine allgemein und dauerhaft verrohende Wirkung haben.103 Insoweit ist auch die These, Sport trage zur Völkerverständigung bei, zumindest interpretationsbedürftig. Gerade hierfür gilt aber, dass der Sport die Einübung von Mechanismen zur kontrollierten Konfliktlösung fördert. e) Selbstentfaltung des Menschen Gegenüber dem erwachsenen Menschen hat der freiheitliche Staat keinen Erziehungsauftrag, nicht einmal eine Erziehungsberechtigung, sondern vielmehr die aus dem Wesensgehalt des Grundrechts der persönlichen Freiheit hergeleitete Pflicht, Erziehung zu unterlassen.104 Gleichwohl „erwartet“ auch der freiheitlich-demokratische Staat gewisse Eigenschaften des Menschen, weil sie Voraussetzungen für seine Existenz sind. Daher hat auch der freiheitlich-demokratische Staat ein Menschenbild.105 Das BVerfG spricht vom „Menschenbild des Grundgesetzes“.106 Dieses Menschenbild hat die „mit der Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung begabte ‚Persönlichkeit‘ “107 im Auge, allerdings nicht als isoliertes souveränes Individuum, sondern als gemeinschaftsbezogene und gemeinschaftsgebundene Person, „ohne dabei deren Eigenwert anzutasten“108. Wie im Zusammen102 Eine Sammlung von Kostproben – zugegeben eher harmloser – Aussprüche bietet Kroppach, Dieter, „Was pfeift der Arsch denn da?!“. Der Fußball-Zitatenschatz, 1995. 103 Vgl. zum darüber qualitativ hinausgehenden Problem „fanadäquater“ Ausschreitungen Schild, Wolfgang, Strafrechtliche Fragen der Ausschreitungen von Zuschauern, in: ders. (Hrsg.), Rechtliche Aspekte bei Sportgroßveranstaltungen, 1994, S. 63 ff. (72 ff.). 104 Vgl. BVerfGE 22, 180 (219) und Leitsatz 5. 105 Vgl. dazu Häberle, Peter, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, Berlin 1988. 106 BVerfGE 4, 7 (17). Vgl. dazu Benda, Ernst, Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht, in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, Studienausgabe, Teil 1, 1995, § 6, Rn. 5. 107 BVerfGE 5, 85 (204) – KPD-Verbot. 108 BVerfGE 4, 7 (15 f.) – Investitionshilfegesetz; 12, 45 (51) – Kriegsdienstverweigerung; 65, 1 (44) – Volkszählung. Vgl. zum Freiheitsbegriff des Grundgesetzes auch Scholz, Deutschland – In guter Verfassung? (Fn. 1), S. 69 ff.

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hang mit der Erziehung näher ausgeführt, trägt aber gerade eine Betätigung im Sport zur Selbstentfaltung des Menschen als gemeinschaftsbezogener und gemeinschaftsgebundener Persönlichkeit bei.109 f) Beitrag zur Kultur Gerade in den neueren Verfassungstexten wird der Sport regelmäßig im Zusammenhang mit der Kultur genannt. Dieser Zusammenhang hat durchaus seine Berechtigung.110 Dabei sind zwei Aspekte zu beachten: Zum einen Sport als Ausdruck von Kultur selbst, deutlich gemacht in den der „Kunst“ zugerechneten Sportarten Tanzen und Eiskunstlauf,111 aber keineswegs darauf beschränkt,112 zum anderen Sport als „anerkannte“ kulturelle Betätigung im Hinblick auf öffentliche, d. h. finanzielle Förderung vergleichbare Veranstaltung.113 IV. Leistungen der Bundesrepublik Deutschland für den Sport Der Sport, an den der Verfassungsstaat erhebliche Erwartungen richtet, darf umgekehrt erwarten, dass dieser Staat die Grundvoraussetzungen ermöglicht und gegebenenfalls schafft, damit der Sport diesen Erwartungen zu genügen vermag. Dies rechtfertigt die Sportförderung als Staatsaufgabe auf allen Ebenen. 1. Gesetzliche Grundlagen Die Sportförderung als Staatsziel enthalten die Landesverfassungen. Dieses Staatsziel umfasst den Sport in allen seinen Erscheinungsformen, als 109 Darauf stellt mit konkreten Ansatzpunkten auch der 8. Sportbericht der Bundesregierung (Fn. 57), S. 9, ab. Ebenso der 10. Sportbericht der Bundesregierung (Fn. 11), S. 14 (Leistungsprinzip, Entwicklungsbewältigung und Lebenshilfe). 110 Vgl. insbesondere Häberle, „Sport“ als Thema neuerer verfassungsstaatlicher Verfassungen (Fn. 21), S. 40 f. und Steiner, Udo, Kulturpflege, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatrechts, 1. Aufl., Bd. III: Das Handeln des Staates, 1988, § 86, Rn. 26. 111 Vgl. Thom, Volker, Sportförderung und Sportförderungsrecht als Staatsaufgabe, 1992, S. 117 ff. 112 Vgl. den Ansatz von Grupe, Ommo, Sportkultur zwischen Bildungsgut und Körperkult, in: ders. (Hrsg.), Kultur und Körperkult? (Fn. 77), S. 87 (87 ff.). 113 Vgl. dazu Steiner, Kulturpflege (Fn. 110), Rn. 27 m. w. N.; ders., Kommunen und Leistungssport – Mäzenatentum oder Daseinsvorsorge?, Deutsche Verwaltungsrundschau 1987, S. 171 (171 ff.).; ders., Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Sport in Deutschland (Fn. 3), S. 1235 („Gleichwertigkeit von Sport- und Kulturförderung“); Tettinger, Peter J., Rechtsprobleme der Subventionierung des Sports, in: ders. (Hrsg.), Subventionierung des Sports, 1987, S. 33 ff.

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Breitensport (wettkampfgebundener wie „reiner“ Freizeitsport), Betriebssport, Schul- und Hochschulsport, Behindertensport unter Einschluss des Spitzensports,114 der heute auch den Behindertensport erfasst hat und der realistisch nur als Berufssport (zumindest in „Teilzeit“) betrieben werden kann. Konkrete rechtliche Grundlagen liefern die Sportfördergesetze der Länder. Angesichts der Bedeutung des Sports als „zentraler Inhalt unserer Alltagskultur“, der „alle gesellschaftlichen Schichten, Geschlechter und Altersgruppen“ erfasst und so „als eine verbindende Klammer für Menschen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppierungen“115 wirkt, darüber hinaus einen „Wirtschaftsfaktor von hohem Rang“ darstellt und als Werte vermittelndes Element116 die Entwicklung der Persönlichkeit fördert, ist verständlich, dass eine „umfassende Sportförderung wichtiges Politikziel der Bundesregierung“ ist.117 Die Kompetenz des Bundes für seine Sportförderung wird mangels ausdrücklicher Zuständigkeitszuweisung in einer „aus dem Verfassungswillen abzuleitende ungeschriebene Finanzierungszuständigkeit aus der Natur der Sache und kraft Sachzusammenhangs“ für die Bereiche der gesamtstaatlichen Repräsentation (z. B. Olympische Spiele, Paralympics, Deaflympics, Welt- und Europameisterschaften), Auslandsbeziehungen, Förderung von Maßnahmen nicht staatlicher zentraler Organisationen, die für das Bundesgebiet als Ganzes von Bedeutung sind und durch ein Land allein nicht wirksam unterstützt werden können (Deutscher Sportbund – DSB und Nationales Olympisches Komitee – NOK,118 Bundessportfachverbände) und ressortzugehörige Funktionen (betreffende Forschungsvorhaben) gesehen. Darüber hinaus kann der Bund den Sport in seinem eigenen Dienstbereich, insbesondere bei Bundeswehr und Bundespolizei (vormals Bundesgrenzschutz) fördern. Schließlich kann er Fragen des Sports im Rahmen seiner weit gefächerten Gesetzgebungskompetenz berücksichtigen, z. B. im Steuerrecht119 und Sozialwesen, in der Raumordnung und im Städtebau, aber auch im Jugendschutz-, Naturschutz- und Umweltrecht.120 Im Übrigen ist nach der allgemeinen Kompetenzverteilungsregel der Art. 30/70 GG die Sportförderung Sache der Länder, einschließlich der insoweit diesen zugerechneten Gemeinden. Konkrete verfas114

Steiner, Der Sport auf dem Weg ins Verfassungsrecht (Fn. 16), SpuRt 1994, 4. Quasi als „sozialer Kitt“. 116 Zur Bedeutung von Werten für die „gute Verfassung“ eines Staates vgl. Scholz, Deutschland – In guter Verfassung? (Fn. 1), S. 68 f. 117 10. Sportbericht der Bundesregierung (Fn. 11), S. 10. 118 Die beiden Verbände sind seit 2006 fusioniert. 119 Gemäß § 52 Abs. 2 Satz 2 AO ist die Förderung des Sports, wobei auch Schach als Sport „gilt“, als steuerbegünstigte Förderung der Allgemeinheit anzuerkennen, wenn die allgemeinen Voraussetzungen des Gemeinnützigkeitrechts erfüllt sind. Vgl. dazu den 10. Sportbericht der Bundesregierung (Fn. 11), S. 22. 120 10. Sportbericht der Bundesregierung (Fn. 11), S. 14 f. 115

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sungsrechtliche Förderansprüche bestehen nicht,121 die Einräumung solcher Ansprüche durch einfaches Gesetzesrecht liegt weitgehend im politischen Ermessen der jeweiligen Entscheidungsträger.122 Dies ist grundsätzlich auch gut so. Das Entdecken und Zementieren von immer neuen Grundrechten (und Ansprüchen aus der Verfassung) ist kein förderungswürdiger „juristischer Leistungssport“.123 Die direktive Kraft der Verfassung darf nicht gering geachtet, aber auch nicht überschätzt werden.124 Wenn sich der Staat aus der wichtigen Förderung des allgemeinen Kinder- und Jugendsports unverantwortlich zurückzieht, hilft kein „spezielles Grundrecht von Kindern und Jugendlichen auf Entwicklungsperspektiven, kein verfassungsmäßiges Recht auf staatliche Vorsorge für eine kindgemäße sportliche Bewegung“125. Gefordert sind politische Reaktionen. 2. Bestandsaufnahme der Sportförderung Über das Ausmaß der Sportförderung geben die jeweiligen Sportberichte der Bundesregierung Auskunft. Nach dem Zehnten Sportbericht aus dem Jahr 2002 ist die öffentliche Hand der mit Abstand größte Förderer des Sports und betrug die staatliche Förderung des Sports im Jahr 2000 insgesamt ca. 12 Milliarden DM (ca. 6,2 Mrd. e). Dabei sind die Steuermindereinnahmen als indirekte Zuwendung aufgrund der für gemeinnützige Sportvereine bestehenden Ausnahmeregelungen noch nicht enthalten, wohl aber die laufenden Ausgaben von 10,6 Milliarden DM (ca. 5,44 Mrd. e) zur Bereitstellung der öffentlichen Infrastruktur, hauptsächlich für den Schulund Dienstsport in öffentlichen Einrichtungen. Den Sportvereinen und -verbänden wurden Zuschüsse in Höhe von mehr als 1,4 Milliarden DM (ca. 0,72 Mrd. e) gewährt, um der gesellschaftspolitischen Bedeutung des Sports für das Gemeinwesen als „Hilfe zur Selbsthilfe“ Rechnung zu tragen. Unter Einbeziehung der Investitionsausgaben der Gebietskörperschaften für Sportzwecke beliefen sich die sportbezogenen Ausgaben des Staates auf 14,8 Mil121 Vgl. Tettinger, Peter J., Sport als Verfassungsthema, in: ders. (Hrsg.), Sport im Schnittfeld von europäischem Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht, 2001, S. 9 (9). 122 Vgl. Steiner, Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Sport in Deutschland (Fn. 3), S. 1227 f. 123 Begriff von Adam, Konrad, FAZ vom 12.7.1995, zitiert in Scholz, Deutschland – In guter Verfassung? (Fn. 1), S. 72. 124 Vgl. Scholz, Deutschland – In guter Verfassung? (Fn. 1), S. 75: „Die Verfassung setzt der Gesetzgebung Grenzen, beläßt ihr auf der anderen Seite aber den notwendigen politischen Gestaltungsspielraum, dessen diese in Eigenverantwortung bedarf“. 125 Steiner, Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Sport in Deutschland (Fn. 3), S. 1228 m. w. N.

Deutschland als „Sportstaat“

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liarden DM (ca. 7,6 Mrd. e), wobei entsprechend der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes der Hauptteil von Ländern und Gemeinden getragen wurde.126 Hinsichtlich des Spitzensports kommt in den Sportarten, die sich nicht wie der Berufsfußball oder Tennis selbst tragen können, der Förderung im Rahmen von Bundeswehr und Bundespolizei erhebliche Bedeutung zu. Ohne diese wäre Deutschland in diesen Sportarten bei Olympischen Spielen, Welt- und Europameisterschaften nicht konkurrenzfähig. Die Bilanz der Medaillengewinner spricht Bände.127 Ihre Würdigung zeigt auch, dass „Dabei sein ist Alles“ zwar ein schönes Motto sein mag, eine Förderung aus Steuermitteln aber nicht rechtfertigt. „Repräsentativ“ sind nur Medaillen, natürlich mit „sauberem Auftreten“ und ohne Doping128 gewonnen. Nur „Sieger“ geben auch die Vorbilder für den Breitensport. Neben dem Bund gibt es auch – in geringerem Umfang – entsprechende Förderprogramme der Länder (insbesondere Landespolizei) und der Kommunen.129 V. Fazit Der Sport leistet einen erheblichen Beitrag dazu, dass „Deutschland in guter Verfassung“ ist. Auch der freiheitlich-demokratische Verfassungsstaat hat spezifische Erwartungen an den Sport und lässt sich im Gegenzug den Sport „etwas kosten“. Wegen der positiven Effekte des Sports ist diese Förderung, auf die kein konkreter verfassungsrechtlicher Anspruch besteht, legitim. Dies bezieht wegen der Repräsentations- und Vorbildfunktion auch den Spitzensport ein. Eine vernünftige Sportpolitik sichert die Rahmenbedingungen, die es dem Sport ermöglichen, seiner gesamtgesellschaftlich herausragenden Funktion gerecht zu werden. Will man im internationalen Wettbewerb bestehen, muss auch der Spitzensport entsprechend gefördert werden. Eine andere Frage ist, wie viel man dafür bei notwendiger Haushaltskonsolidierung auszugeben verantworten möchte.130 Generell muss im126

10. Sportbericht der Bundesregierung (Fn. 11), S. 21. Detaillierte Aufstellung ebd., S. 22 und (sehr detailliert) in der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abg. Klaus Riegert, Peter Letzgus, Dr. Kaus Rose u. a. und der Fraktion der CDU/CSU, BT-Drs. 14/7114, vom 24.4.2002, BT-Drs. 14/8865 „Zur umfassenden und nachhaltigen Förderung der Entwicklung des Sports in Deutschland“, S. 47 ff. Zur Sportförderung im Rahmen der Deutschen Einheit vgl. den Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2003 vom 17.9.2003, BT-Drs. 15/1550, S. 87 f. („Goldener Plan Ost“). 127 Vgl. 10. Sportbericht der Bundesregierung (Fn. 11), S. 37 ff. 128 Zur Dopingbekämpfung vgl. 10. Sportbericht der Bundesregierung (Fn. 11), S. 62 ff. Vgl. auch Steiner, Sport und Freizeit (Fn. 83), Rn. 13 ff. m. w. N. 129 Zu den Gemeinden als „vierte Kraft“ der Sportförderung vgl. Steiner, Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Sport in Deutschland (Fn. 3), S. 1233 f.

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mer im Auge behalten werden, dass der Verfassungsstatus des deutschen Sports vor allem ein Status der Freiheit und nicht ein Status der Ansprüche auf Staatsförderung ist.131 Die Sportberichte der Bundesregierung heben daher zu Recht als Grundsätze staatlicher Sportpolitik die Autonomie des Sports, die Subsidiarität der staatlichen Sportförderung und die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den freien Trägern hervor.132 Der Staat kann und soll das Engagement der Bürger in diesem Bereich, das er erwartet und worauf er angewiesen ist, fördern, kommen muss es aus deren freier Entscheidung. Bleibt zu hoffen, dass sich genügend fähige Bürger zu diesem Engagement im Sport bereit finden, dem Vorbild von Rupert Scholz folgend, dem noch viel Erfolg und Freude auch in diesem Amt gewünscht sei.133

130 Vgl. die Beschlussempfehlung des Sportausschusses (5. Ausschuss) des Deutschen Bundestags vom 7.8.2003, BT-Drs. 15/952. Zur Sportförderung im internationalen Vergleich vgl. BT-Drs. 14/8865, S. 46. 131 Steiner, Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Sport in Deutschland (Fn. 3), S. 1236. 132 Vgl. 10. Sportbericht der Bundesregierung (Fn. 11), S. 15. 133 Wenn es nicht gerade gegen den FC Bayern München geht, drücke ich auch seinem Verein Hertha BSC Berlin die Daumen.

Ein dritter Weg? Anmerkungen zur bundesverfassungsgerichtlichen Modifizierung der Rechtsquellenlehre Von Arnd Uhle* In seiner wissenschaftlichen wie auch in seiner politischen Tätigkeit hat sich Rupert Scholz vielfältig mit den innerstaatlichen Rechtsquellen auseinander gesetzt. Neben der Verfassung und dem Gesetz hat er namentlich der Rechtsverordnung in den verschiedenen Funktionen, die er bekleidet hat – als Wissenschaftler, als akademischer Lehrer, als Regierungsmitglied, als Parlamentarier – und unter verschiedenen Aspekten wiederholt seine Aufmerksamkeit gewidmet.1 Dass die Verordnungsgebung, die vor diesem Hintergrund auf vielfältige Weise in den Fokus seiner Befassung gerückt ist, nach wie vor aktuelle Fragen aufwirft, beweist der Umstand, dass das Bundesverfassungsgericht im September 2005 zwei bedeutsame Entscheidungen zu diesem Themenkreis vorgelegt und hierbei die geläufige Rechtsquellenlehre nicht unerheblich modifiziert hat. I. Einleitung Die innerstaatliche Rechtsordnung kennt im Bereich der organisierten Rechtsetzung nach herkömmlichem Verständnis vier geschriebene Rechts(erkenntnis)quellen: die Verfassung, das förmliche Gesetz, die Rechtsverordnung und die Satzung.2 Diese vier Rechtsquellen sind grundsätzlich eindeu* Das Manuskript des nachfolgenden Beitrags wurde am 1. August 2006 abgeschlossen. 1 Aus der wissenschaftlichen Befassung von Rupert Scholz mit der Rechtsverordnung sei hier stellvertretend das Gutachten hervorgehoben, das er für den Deutschen Juristentag 1980 am Beispiel des Schulrechts zur parlamentarischen Einflussnahme auf die Verordnungsgebung erstellt hat und das unter dem Titel „Schulrecht zwischen Parlament und Verwaltung. Möglichkeiten und Grenzen schulischer Gestaltung durch parlamentarisches Gesetz, durch Rechtsverordnung und durch Formen „gemischter“ Rechtsetzung“, in: Schule und Rechtsstaat, Band II: Gutachten für die Kommission Schulrecht des Deutschen Juristentages, 1980, S. 73 ff., veröffentlicht ist; s. ferner auch sein Beitrag „Die Zustimmung des Bundesrats zu Rechtsverordnungen des Bundes“, in: DÖV 1990, S. 455 ff.

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tig voneinander zu unterscheiden. Recht entsteht aus ihnen dadurch, dass es von dem jeweiligen Urheber in einem eigenen Verfahren erlassen wird. Für das Verhältnis von Gesetz und Rechtsverordnung hat das Bundesverfassungsgericht diese klare Unterscheidung in zwei Entscheidungen vom 13. und vom 27. September 2005 modifiziert und faktisch einen zwischen diesen beiden Rechtsquellen stehenden Mischtyp kreiert, der sich dadurch auszeichnet, dass er das Rechtserzeugungsverfahren des Gesetzes mit dem Rechtserzeugungserfolg der Rechtsverordnung verbindet.3 Dieser Mischtyp wird vom Bundesverfassungsgericht dahingehend charakterisiert, dass es sich hier um „im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren geschaffenes Verordnungsrecht“ handle.4 In der Sache hat das Gericht damit zwischen Gesetz und Rechtsverordnung einen dritten Weg der Rechtsetzung beschritten und eine neue Rechtsquelle hervorgebracht, die aufgrund ihres legislativen Ursprungs sowie ihrer Zusammensetzung aus Elementen des Gesetzes und der Verordnung mit einiger Berechtigung verkürzend als „Legislativverordnung“ bezeichnet werden kann. Die nachfolgenden Ausführungen beleuchten zunächst den staatspraktischen Hintergrund, der zu den beiden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts geführt hat (hierzu sub II.), analysieren sodann die gerichtliche Begründung für die Einführung der „Legislativverordnung“ in die Rechtsquellenlehre (hierzu sub III.), hinterfragen hernach die Konsistenz der bundesverfassungsgerichtlichen Argumentation kritisch (hierzu sub IV.) und erörtern zudem die Konsequenzen für die Staatspraxis (hierzu sub V.), bevor sie durch einige Anmerkungen abgeschlossen werden (hierzu sub VI.). II. Die bundesverfassungsgerichtliche Modifizierung der Rechtsquellenlehre und ihr staatspraktischer Hintergrund Den Anlass für die bundesverfassungsgerichtliche Modifizierung der Rechtsquellenlehre bildet die in der jüngeren Vergangenheit gewachsene Tendenz der Legislative, zugleich mit der Reformierung und Fortentwick2 Zur rechtstheoretischen Unterscheidung zwischen Rechtserzeugungsquellen, Rechtswertungsquellen und Rechtserkenntnisquellen vgl. Kirchhof, Paul, Rechtsquellen und Grundgesetz, in: Starck, Christian (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, 1976, Band II, S. 50 ff. (53 f.); Ossenbühl, Fritz, Gesetz und Recht – Die Rechtsquellen im demokratischen Rechtsstaat, in: Isensee, Josef/Kirchhof, Paul (Hrsg.), HStR, Band III, 2. Aufl. 1996, § 61, Rn. 1 ff. 3 BVerfGE 114, 196 (234 ff.); 114, 303 (311 ff.). 4 BVerfGE 114, 196 (233, 238); vgl. auch 114, 303 (311: „§ 12a NW BVO ist als im parlamentarischen Verfahren geschaffenes Verordnungsrecht zu qualifizieren“.).

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lung des geltenden Gesetzesrechts auch – gleichsam uno actu – die zugehörigen Rechtsverordnungen an die veränderte gesetzliche Rahmenlage anzupassen. Für diese Vorgehensweise sprechen aus Sicht des Gesetzgebers vor allem zwei Gründe. So hat die derzeitige Staatspraxis seiner Ansicht nach zunächst in zeitlicher Hinsicht den Vorteil, dass zugleich mit dem Inkrafttreten geänderter gesetzlicher Bestimmungen auch die bereits an das neue Gesetzesrecht angepassten Verordnungsbestimmungen Geltung erlangen können; in sachlicher Hinsicht verspricht sich die Legislative zudem von dem unmittelbaren Zugriff auf das Verordnungsrecht auch einen Steuerungsvorteil, da die verordnungsrangige Umsetzung der gesetzlichen Änderungsintention nicht von einem Tätigwerden des exekutiven Verordnungsgebers abhängig ist, sondern in der Hand des Gesetzgebers verbleibt. Umgesetzt werden diese legislativen Zielvorstellungen durch eine zweiaktige Verfahrensweise, die sich dadurch auszeichnet, dass der Gesetzgeber in einem ersten Schritt geltende Rechtsverordnungen durch Gesetz ändert und die gesetzlich so geänderten Normen hernach in einem zweiten Schritt wieder dem Zugriff des Verordnungsgebers zuführt.5 Verfahrenstechnisch wird dabei dergestalt vorgegangen, dass der Gesetzgeber zunächst durch förmliches Gesetz verschiedenste Änderungen einer geltenden Rechtsverordnung anordnet, die auf der Grundlage des Vorrangs des Gesetzes entgegenstehendes (altes) Verordnungsrecht gleichsam „überspielen“; hernach werden dann diese Änderungen durch sog. „Entsteinerungsklauseln“ einem gesetzlichen Verordnungsvorbehalt unterstellt, der ausdrücklich bestimmt, dass insofern, als durch das betreffende Gesetz „. . . Verordnungen geändert werden, [. . .] die Befugnis der zuständigen Stellen, diese Verordnung künftig zu ändern oder aufzuheben, unberührt [bleibt]“6. So betrachtet, folgt auf die „Verordnungsänderung durch Gesetz“ die Ermächtigung der Exekutive zur „Gesetzesänderung durch Rechtsverordnung“7. 5 Zu den verschiedenen Aspekten dieser Verfahrensweise Uhle, Arnd, Parlament und Rechtsverordnung, 1999, S. 92 ff., 169 ff., S. 289 ff. und 415 ff.; aus der Kommentarliteratur Bauer, Hartmut, in: Dreier, Horst (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 2. Aufl. 2006, Art. 80, Rdnr. 47 f. 6 Vgl. die exemplarische Wiedergabe einer derartigen Entsteinerungsklausel in DRiZ 1994, S. 235; vgl. zu anderen bislang in der Staatspraxis Verwendung findenden Formulierungen auch Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Handbuch der Rechtsförmlichkeit, 2. Auflage 1999, Rn. 706. 7 Hierzu eingehend Uhle, Arnd, Verordnungsänderung durch Gesetz und Gesetzesänderung durch Verordnung?, in: DÖV 2001, S. 241 ff.; sehr anschaulich Bauer, Hartmut, Parlamentsverordnungen, in: Bauer, Hartmut/Czybulka, Detlev/Kahl, Wolfgang/Vosskuhle, Andreas (Hrsg.), Wirtschaft im offenen Verfassungsstaat, Festschrift für Reiner Schmidt, 2006, S. 237 ff. (240 ff.).

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Diese Vorgehensweise hat in der jüngeren Vergangenheit gleichermaßen das Schrifttum wie auch die Rechtsprechung beschäftigt. Im Schrifttum hat sie eine Diskussion darüber in Gang gesetzt, welche Rechtsqualität die modifizierten Verordnungsbestimmungen nach ihrer gesetzlichen Änderung aufweisen – in concreto: ob ihnen Gesetzes- oder Verordnungsrang zukommt8 – und ob eine derartige Rechtsetzungstechnik verfassungsrechtlich uneingeschränkt statthaft ist.9 In der Rechtsprechung hat sie in Anknüpfung an die umstrittene Bestimmung der Rechtsnatur der gesetzlich geänderten Verordnungsbestimmungen die Frage aufgeworfen, ob die Kontroll- und Verwerfungskompetenz für derartige, gesetzlich geänderte Verordnungsbestimmungen bei der Fachgerichtsbarkeit oder bei der Verfassungsgerichtsbarkeit liegt: Während der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in einem Beschluss vom 29. August 2000 davon ausgegangen ist, dass eine gesetzlich modifizierte landesrechtliche Verordnung nicht mit der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle angegriffen werden könne, weil hinsichtlich der gesetzlich geänderten bzw. eingefügten Passagen die betroffene Rechtsverordnung den 8

Für Gesetzesrang die weit überwiegende Auffassung: Jekewitz, Jürgen, Deutscher Bundestag und Rechtsverordnungen, in: NVwZ 1994, S. 956 ff. (957); Studenroth, Stefan, Einflußnahme des Bundestages auf Erlaß, Inhalt und Bestand von Rechtsverordnungen, in: DÖV 1995, S. 525 ff.; Isensee, Josef, Kassenarztmonopol und nichtärztlicher Leistungserbringer, 1995, S. 72; Axer, Peter, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, 2000, S. 30 f.; Uhle, Parlament und Rechtsverordnung (Fn. 5), S. 169 ff.; ders., Verordnungsänderung durch Gesetz und Gesetzesänderung durch Verordnung? (Fn. 7), S. 241 ff. (241 f.); Seiler, Christian, Parlamentarische Einflussnahmen auf den Erlass von Rechtsverordnungen im Lichte der Formenstrenge, in: ZG 2001, S. 50 ff. (54); aus der Kommentarliteratur so auch Brenner, Michael, in: von Mangoldt, Hermann/Klein, Friedrich/Starck, Christian (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl. 2005, Art. 80, Rdnr. 25 ff., v. a. 26; Bauer, in: Dreier, Horst (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar (Fn. 5), Art. 80, Rdnr. 47; hierfür auch Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Handbuch der Rechtsförmlichkeit, 2. Aufl. 1999, Rdnr. 322 f., 704 ff.; a. A.: Sendler, Horst, Verordnungsänderung durch Gesetz und „Entsteinerungsklausel“, in: NJW 2001, S. 2859 ff.; ders., Zur verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle, in: DVBl. 2005, S. 423 ff. (423 f.); Külpmann, Christoph, Änderungen von Rechtsverordnungen durch den Gesetzgeber, in: NJW 2002, S. 3436 ff. (3439, 3441); Schneider, Hans, Gesetzgebung, 3. Aufl. 2002, Rdnr. 663. 9 Erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Statthaftigkeit der Verordnungsänderung durch Gesetz bei Kirchhof, Paul, in: ders. (Hrsg.), EStG-KompaktKommentar, 6. Aufl. 2006, § 51, Rdnr. 14 f. (deutlicher noch die 5. Aufl. 2005, § 51, Rdnr. 14 f.); zuvor bereits ders., Besteuerung nach Gesetz, in: Drenseck, Walter/Seer, Roman (Hrsg.), Festschrift für Heinrich Wilhelm Kruse, 2001, S. 17 ff. (30 ff., v. a. 32); Seiler, Parlamentarische Einflussnahmen (Fn. 8), S. 50 ff. (54 ff., 57 ff.); Bedenken gegen die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Ermächtigung zur Gesetzesänderung durch Verordnung auch bei Klein, Eckart, Gesetzgebung ohne Parlament?, 2004, S. 17 f.; Uhle, Parlament und Rechtsverordnung (Fn. 5), S. 404 ff. und S. 415 ff. (v. a. 420 ff.); ders., Verordnungsänderung durch Gesetz und Gesetzesänderung durch Verordnung? (Fn. 7), S. 241 ff. (243 ff.).

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Rang eines Gesetzes aufweise,10 hat sich das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 16. Januar 2003 gegen eine solche Sichtweise ausgesprochen und sich auf den Standpunkt gestellt, dass eine Rechtsverordnung auch hinsichtlich ihrer gesetzlich modifizierten Vorschriften der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle unterfallen könne; begründet hat es dies mit dem Argument, dass derartigen Regelungen angesichts der „Entsteinerungsklauseln“ lediglich „ein minderer Rang“ zukomme und dass nach dem Willen des Gesetzgebers daher die verordnungsändernden Gesetzesbestimmungen materiell lediglich den Rang einer Rechtsverordnung haben sollten.11 III. Die Schaffung einer neuen Rechtsquelle: Die „Legislativverordnung“ in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 13. und 27. September 2005 Vor dem Hintergrund dieser ebenso intensiv wie kontrovers geführten Debatte kann es nicht verwundern, dass die bisherige Staatspraxis der gesetzlichen Verordnungsänderung auch den Weg zum Bundesverfassungsgericht gefunden hat. Dieses hat sich gleich zweifach mit ihr befasst: im Rahmen eines abstrakten Normenkontrollverfahrens einerseits12 und im Rahmen eines konkreten Normenkontrollverfahrens andererseits.13 Auch das Bundesverfassungsgericht freilich hat sowohl bei seinem Beschluss vom 13. September 2005 (hierzu sub 1.) als auch bei seiner Entscheidung vom 27. September 2005 (hierzu sub 2.) keine vollständige Einigkeit über die zur Entscheidung gestellten Rechtsfragen finden können, weshalb zwei Richter des zuständigen Zweiten Senats dem ersten Beschluss eine abweichende Meinung beigefügt haben und auch die zweite Entscheidung lediglich mit sechs zu zwei Stimmen ergangen ist (hierzu sub 3.). 10

BayVGH, NJW 2001, S. 2905 f. BVerwGE 117, 313 (318 ff.); zu der Entscheidung des BVerwG s. Ossenbühl, Fritz, Anmerkung, in: JZ 2003, S. 1066 f.; Kreiner, Sebastian, Parlamentsgesetzlich geändertes Verordnungsrecht und gerichtliche Normenkontrolle, in: BayVBl. 2005, S. 106 ff.; Uhle, Arnd, Verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle von Gesetzesrecht?, in: DVBl. 2004, S. 1272 ff. 12 BVerfGE 114, 196; hierzu Bauer, Parlamentsverordnungen (Fn. 7), S. 237 ff. (v. a. 245 ff.); ders., in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar (Fn. 5), Art. 80, Rdnr. 49 ff.; Lenz, Christofer, Die Umgehung des Bundesrates bei der Verordnungsänderung durch Parlamentsgesetz, in: NVwZ 2006, S. 296 ff. (297 ff.); s. ferner auch Brosius-Gersdorf, Frauke, Der Gesetzgeber als Verordnungsgeber, demnächst in: ZG 2007; vgl. auch Möllers, Christoph, Ist das so kleidsam? – Formfrage in Karlsruhe: Wenn der Bundestag sich als Bundesregierung kostümiert, in: FAZ Nr. 56 vom 7. März 2006, S. 38. 13 BVerfGE 114, 303. 11

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1. Der Beschluss vom 13. September 2005: Geburtsstunde der „Legislativverordnung“ Die Mehrheit des Zweiten Senats hat in dem Beschluss vom 13. September 2005 zunächst prinzipiell ein Bedürfnis des parlamentarischen Gesetzgebers anerkannt, bei der Änderung komplexer Rechtsmaterien nicht nur die gesetzlichen Bestimmungen zu modifizieren, sondern durch Parlamentsgesetz auch ändernd in das begleitend erlassene Verordnungsrecht einzugreifen.14 Als Beleg für ein solches Bedürfnis dient dem Gericht eine seit über fünfzig Jahren geübte Staatspraxis,15 die in der jüngeren Vergangenheit noch an Bedeutung gewonnen und zwischenzeitlich dazu geführt habe, dass im Zuge einer umfassenden Änderungsgesetzgebung Rechtsverordnungen von zentraler Bedeutung unter Umständen häufiger durch Parlamentsgesetz als durch Rechtsverordnung geändert würden.16 Diese Praxis zeige, dass ein Bedürfnis für den parlamentarischen Gesetzgeber bestehe, „bei der Änderung komplexer Regelungsgefüge, in denen förmliches Gesetzesrecht und auf ihm beruhendes Verordnungsrecht ineinander verschränkt sind, auch das Verordnungsrecht anzupassen“; die Veränderung eines Regelungsprogramms und erst recht die grundlegende Reform eines ganzen Rechtsgebietes könne in vielen detailliert normierten Bereichen sinnvoll nur bewerkstelligt werden, wenn sowohl förmliche Gesetze als auch auf ihnen beruhende Verordnungen in einem einheitlichen Vorgang geändert und aufeinander abgestimmt würden.17 Zudem gehöre es zur Gestaltungsfreiheit des Parlaments, seine Änderungsvorhaben umfassend selbst zu verwirklichen. Würde es hierbei „darauf beschränkt, nur förmliche Gesetze zu ändern, so müsste das Änderungsvorhaben entweder zerteilt werden, um den Gesetzesänderungen die von der Exekutive zu erledigenden Verordnungsänderungen nachfolgen zu lassen oder aber der parlamentarische Gesetzgeber müsste die bislang durch Verordnung geregelten Gegenstände wieder in förmliches Gesetzesrecht übernehmen“. Gegen die erste Alternative spreche die Gefahr erheblicher Verzögerungen wie auch die Schwierigkeit, dass ein differenziert ausgestaltetes Reformvorhaben unter Umständen nur vom Parlament selbst festgelegt werden könne, gegen die zweite Alternative der Umstand, dass in diesem Falle künftige Änderungen des neuen Rechts durch die Exekutive ausgeschlossen seien und damit ein nicht unerheblicher Flexibilitätsverlust herbeigeführt werde.18 14

BVerfGE 114, 196 (234 f.). Zu dieser Staatspraxis näher Uhle, Parlament und Rechtsverordnung (Fn. 5), S. 92 f. 16 BVerfGE 114, 196 (234 f.). 17 BVerfGE 114, 196 (234 f.). 15

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Hinsichtlich des Ranges der gesetzlich geänderten oder eingefügten Verordnungsbestimmungen führt das Bundesverfassungsgericht aus, das Rechtsstaatsprinzip und das hieraus folgende Prinzip der Rechtssicherheit erlaubten nur eine Lösung, die den geänderten Verordnungen einen einheitlichen Rang als Rechtsverordnung zuweise.19 Auch wenn die grundgesetzliche Unterscheidung zwischen der Rechtsetzung durch Gesetz und der Rechtsetzung durch Rechtsverordnung den Gesetzgeber nicht prinzipiell daran hinderten, den Inhalt einer geltenden Verordnung „unmittelbar kraft Gesetzes zu ändern“, dürften jedoch hierbei die Grenzen zwischen beiden Rechtsquellen „nicht in einer Weise überschritten oder verwischt werden, die der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen beiden Regelungsformen und der rechtsstaatlichen Klarheit in Bezug auf Geltungsvoraussetzungen, Rang, Rechtsschutzmöglichkeiten und Verwerfungskompetenzen, die für beide Normtypen unterschiedlich geregelt sind, [zuwiderlaufen würde]“; insbesondere dürfe durch die parlamentarische Verordnungsänderung „keine missverständliche, irreführende Norm entstehen, deren Bezeichnung (Verordnung) und Kennzeichnung als Normsetzung aufgrund einer Ermächtigung [. . .] zu ihrem tatsächlichen Rang (förmliches Gesetz) und den davon abhängigen Rechtsfolgen im Widerspruch [stehe]“20. Vielmehr müssten in Anbetracht von Normenklarheit und Normenwahrheit auch nach zahlreichen gesetzlichen Änderungen die Überschrift und die Einleitung eines Regelungswerkes als Rechtsverordnung „noch halten, was sie versprechen“; die andernfalls drohende Unklarheit über den Rang der im Verordnungstext enthaltenen Bestimmungen käme unausweichlich mit dem Postulat der Rechtsmittelklarheit in Konflikt, das vermittels des Grundsatzes der Rechtssicherheit an der Verfassungsgarantie des Rechtsstaatsprinzips partizipiere und erweise sich namentlich im Hinblick auf die grundlegende Verschiedenheit der Kontroll- und Verwerfungskompetenzen von förmlichen Gesetzen und Verordnungen als nicht sachgerecht.21 Diese Schwierigkeiten – so das Bundesverfassungsgericht – seien nur durch eine Lösung zu vermeiden, die auch einer gesetzlich modifizierten Verordnung einen einheitlichen Verordnungsrang zuweise: Ändere das Parlament bestehende Verordnungen oder füge es in diese neue Regelungen ein, so sei daher „das dadurch entstandene Normgebilde aus Gründen der Normenklarheit insgesamt als Verordnung zu qualifizieren“22. Freilich seien bei derartigen legislativen Verordnungsänderungen jene Anforderungen einzuhalten, die sich aus dem Grundsatz der Formenstrenge 18 19 20 21 22

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(235). (235 ff., 238). (236). (237). (238).

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der Rechtsetzung sowie dem Prinzip der Rechtssicherheit ableiteten; daher unterliege die verfassungsrechtliche Statthaftigkeit gesetzlicher Verordnungsänderungen namentlich drei Voraussetzungen. So sei die Durchbrechung des Grundsatzes, das dem parlamentarischen Gesetzgeber bei der Rechtsetzung keine freie Formenwahl zustehe, nur dann hinnehmbar, wenn es sich um die Änderung einer Verordnung handle, die mit der Änderung eines Sachbereichs durch den Gesetzgeber verbunden sei; isolierte Verordnungsänderungen, die unabhängig von sonstigen gesetzgeberischen Maßnahmen erfolgten, seien daher unzulässig.23 Sodann bleibe auch der verordnungsändernde Gesetzgeber für das Zustandekommen der ändernden Gesetze an das Verfahren nach Art. 76 ff. GG gebunden; der Umstand, dass die Verordnung auch in ihrer durch Gesetz geänderten Fassung insgesamt als Recht mit Verordnungsrang zu qualifizieren sei, ändere nichts daran, dass für das Zustandekommen des ändernden Gesetzes die grundgesetzlichen Regeln über die Gesetzgebung anzuwenden seien. Eine Verordnungsänderung in einem anderen Verfahren – namentlich durch schlichten Parlamentsbeschluss – komme daher nicht in Betracht.24 Schließlich sei der parlamentarische Gesetzgeber „. . . bei der Änderung einer Verordnung an die Grenzen der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage (Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG) gebunden“. Dies sei zwingende Folge des Ziels, rechtsstaatswidrige Mischgebilde aus förmlichem Gesetzes- und Verordnungsrecht zu vermeiden und durch die einheitliche Einordnung des Normengefüges als Verordnung die Rechtsmittelklarheit und die Effizienz des Rechtsschutzes sicherzustellen.25 Aus der Feststellung, dass eine unter Beachtung dieser Zulässigkeitsvoraussetzungen gesetzlich geänderte Rechtsverordnung ein Regelungswerk mit einheitlichem Verordnungsrang darstelle, resultierten – so das Bundesverfassungsgericht weiterhin – vor allem drei Konsequenzen. So sei zunächst Folge dieser Qualifizierung, dass auch gesetzlich geänderte Verordnungen zur Überprüfung durch jedes damit befasste Gericht stünden, „gegebenenfalls auch im Verfahren nach § 47 VwGO“; Art. 100 Abs. 1 GG hingegen sei nicht anwendbar, weshalb eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht unzulässig sei.26 Sodann sei die Zustimmungsbedürftigkeit verordnungsändernder Gesetze „am Maßstab der für förmliche Gesetze geltenden Normen zu beurteilen, nicht nach Art. 80 Abs. 2 GG“: Die von Art. 80 Abs. 2 GG bezweckte Fortsetzung des Schutzes der grundsätzlichen Verwaltungszuständigkeit der Länder könne im Verfahren der förmlichen Gesetzgebung unabhängig von Art. 80 Abs. 2 GG anhand der Einzelheiten des 23 24 25 26

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(238). (238 f.). (239 f.). (239 f.).

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jeweiligen Regelungsvorhabens am Maßstab des Art. 84 Abs. 1 GG geprüft werden; daher sei die Mitwirkungsbefugnis des Bundesrates nur dann gerechtfertigt, „wenn die im Gesetzgebungsverfahren bewirkte Verordnungsänderung einen der zustimmungsauslösenden Tatbestände des Art. 84 Abs. 1 GG erfülle“27. Schließlich, so das Bundesverfassungsgericht, stünden die im Gesetzgebungsverfahren eingefügten oder geänderten Bestimmungen einer Verordnung der abermaligen Änderung durch die Exekutive offen. Diese sei bei derartigen Änderungen ausschließlich an die Ermächtigungsgrundlage gebunden. Das folge daraus, dass es sich bei dem zu ändernden Recht im Ergebnis um Recht im Range einer Rechtsverordnung handle, weshalb es weder einer Herabstufung der durch die Änderung eingefügten Verordnungsbestandteile noch einer spezifischen Ermächtigung der Exekutive bedürfe, die entsprechenden Passagen zu ändern; den in der Staatspraxis bislang Verwendung findenden sog. „Entsteinerungsklauseln“ komme daher „nur klarstellende Bedeutung“ zu.28 2. Die Entscheidung vom 27. September 2005: Bestätigung der „Legislativverordnung“ In der Konsequenz seines Beschlusses vom 13. September 2005 hat das Bundesverfassungsgericht in einer weiteren Entscheidung eine Richtervorlage, die eine gesetzlich geänderte Rechtsverordnung zum Gegenstand hatte, für unzulässig erklärt. Das vorlegende Verwaltungsgericht könne – wie in der Entscheidung vom 13. September 2005 dargelegt – über die Vereinbarkeit dieser Verordnung mit höherrangigem Recht selbst entscheiden; das gelte auch hinsichtlich der gesetzlich geänderten Passagen der betreffenden Rechtsverordnung, hinsichtlich deren Rechtsqualität das Bundesverfassungsgericht Auszüge aus seinem Beschluss vom 13. September 2005 wiederholt.29 Die verwaltungsgerichtliche Auffassung, dass in einem derartigen Fall das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts zu beachten sei, weil es bei der Überprüfung einer gesetzlich geänderten Verordnung Aktualisierung erfahre, treffe vor dem Hintergrund des genannten Beschlusses nicht zu, weil die Art. 100 Abs. 1 GG zugrunde liegende Intention, die Autorität des (nach-)konstitutionellen Gesetzgebers zu wahren, „dann nicht zum Tragen [komme], wenn sich der Gesetzgeber auf die Ebene der Verordnung begibt“. Das werde besonders deutlich im Falle der Verwendung einer „Entsteinerungsklausel“, mit der der Gesetzgeber zu erkennen gebe, 27 28 29

BVerfGE 114, 196 (240). BVerfGE 114, 196 (240). BVerfGE 114, 303 (311 ff.).

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dass er die getroffene Regelung in den Verantwortungsbereich der Exekutive entlasse.30 Auch vom Standpunkt des Gesetzgebers aus seien „deshalb keine Gründe ersichtlich, den von ihm eingefügten Verordnungsteil nicht wie eine Rechtsverordnung zu behandeln“31.

3. Die abweichende Meinung zum Beschluss vom 13. September 2005 – Die gerichtsinterne Kritik an der Rechtsquelle der „Legislativverordnung“ Die abweichende Meinung, die zwei Richter des Zweiten Senats – Richterin Osterloh und Richter Gerhardt – dem Grundsatzbeschluss vom 13. September 2005 beigefügt haben, hält die Auffassung der Senatsmehrheit, dass verordnungsändernde Gesetze Recht setzen, das als „im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren geschaffenes Verordnungsrecht“ zu beurteilen sei, für verfehlt.32 Diese Kritik gründet auf dem Grundsatz, dass „die vom Gesetzgeber erlassenen Normen Gesetze sind und es ihm verwehrt ist, Verordnungen zu erlassen“; zudem wird darauf hingewiesen, dass sich der Rang einer Vorschrift und ihre Qualifikation als Gesetz „in strikt formeller Betrachtungsweise nach ihrem Urheber [bestimme]“. Daher liege ein Gesetz auch dann vor, wenn der Gesetzgeber eine Rechtsverordnung ändere; in diesem Falle richte sich die Tätigkeit des Gesetzgebers, der auch in einer solchen Konstellation kraft seiner originären Rechtsetzungsmacht handle, ausschließlich nach den Bestimmungen über das Gesetzgebungsverfahren, nicht indessen nach den Vorschriften über den Erlass von Rechtsverordnungen. Weder werde das Gesetz eine „logische Sekunde“ nach seinem In-Kraft-Treten zur Rechtsverordnung noch erlaube das Grundgesetz dem Gesetzgeber, seinem Rechtsetzungsakt einen anderen Rang als den des Gesetzes zuzuweisen. Zwar bewirke die fragliche Rechtsetzungstechnik, dass sich unter Umständen in einer Rechtsverordnung auch Bestimmungen mit Gesetzesrang fänden, für die Rechtsanwendung indessen sei dies unschädlich.33 Denn Zweifelsfragen seien aufgrund der Verkündung der jeweiligen Vorschriften klärungsfähig; der Rechtsanwender stehe hier daher vor Aufgaben, die er auch sonst zu lösen habe: „Aus der mehr als 50 Jahre andauernden Praxis ist kein Fall belegt, in dem diese Aufgabe nicht bewältigt worden wäre“34. 30 31 32 33 34

BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE

114, 114, 114, 114, 114,

303 303 250 250 250

(313). (314). (250 ff.). (251). (252).

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Vor diesem Hintergrund fehle der Argumentation der Senatsmehrheit, derentwegen sie von dem herkömmlichen Konzept der Rechtsquellen abweiche, die Überzeugungskraft; dies gelte u. a. auch deshalb, weil sie den rechtsstaatlichen Grundsatz der Normenklarheit überspanne.35 Zudem führe die der Entscheidung der Senatsmehrheit zugrunde liegende Prämisse, dass eine Norm nicht verschiedenen Verwerfungskompetenzen unterliegen könne, nicht weiter, da Gegenstand einer inzidenten Normenkontrolle „nicht die normtechnische Einheit, also der gesamte Verordnungstext, sondern die konkret erhebliche Regelung [sei]“, deren Rang ermittelt werden könne.36 Die Intention der Senatsmehrheit, eine einheitliche Verwerfungskompetenz in Bezug auf Rechtsverordnungen zu erreichen, könne zudem in einer Vielzahl von Fällen bereits deshalb nicht erreicht werden, weil das Gesetzesrecht vielfach mit den verordnungsrangigen Bestimmungen sachlich derart eng verknüpft sei, dass eine isolierte Verwerfung des Verordnungsrechts ohnehin nicht in Betracht komme.37 Schließlich sei zu beachten, dass die Senatsmehrheit an die Stelle des von ihr als rechtsstaatswidrig verworfenen „quantitativen Mischgebildes“ – d. h. an die Stelle des Nebeneinanders von Gesetzes- und Verordnungsrecht in einem Textkörper – ein „qualitatives Mischgebilde“ setze, „nämlich einen im Gesetzgebungsverfahren unter zusätzlicher Beachtung des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG zustande gekommenen Rechtssatz, der in seinen Wirkungen als Rechtsverordnung behandelt [werde]“38. Dabei seien auch die von der Senatsmehrheit bestimmten Voraussetzungen für die grundgesetzliche Zulässigkeit eines solchen, qualitativen Mischgebildes nicht überzeugend. Dies gelte sowohl für das Erfordernis, dass die Statthaftigkeit gesetzgeberischer Verordnungsänderungen an die gleichzeitige gesetzliche Modifizierung eines Sachbereichs gebunden werde als auch für die Bindung des verordnungsändernden Gesetzgebers an Inhalt, Zweck und Ausmaß der gesetzlichen Verordnungsermächtigung. Namentlich in letztgenannter Hinsicht sei entgegen der Senatsmehrheit zu unterstreichen, dass sich der Gesetzgeber bei einem Tätigwerden auf Verordnungsebene nicht seiner originären Gestaltungsfreiheit begebe, die „selbstverständlich“ fortbestehe. Im Übrigen sei inkonsequent, dass der Senat den Gesetzgeber nicht auch weiteren Anforderungen des Art. 80 GG – namentlich dem Zitiergebot des Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG – unterworfen habe.39

35 36 37 38 39

BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE

114, 114, 114, 114, 114,

250 250 250 250 250

(252 f.). (254). (255). (256). (256–267).

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IV. Die bundesverfassungsgerichtliche Begründung der „Legislativverordnung“ auf dem Prüfstand Unterzieht man die vorstehend nachgezeichneten Entscheidungen, mit denen das Bundesverfassungsgericht der Sache nach durch eine Kombination des Verfahrens der Gesetzgebung mit dem Erfolg der Verordnungsgebung die zwischen Gesetz und Rechtsverordnung stehende Rechtsquelle der „Legislativverordnung“ geschaffen hat, einer kritischen Analyse, dann ist zunächst festzuhalten, dass das Gericht mit ihnen die prima facie unübersichtliche Lage zu bewältigen sucht, die in der Folge der eingangs40 skizzierten „Verordnungsänderung durch Gesetz“ sowie der nachfolgend ermöglichten „Gesetzesänderung durch Verordnung“ auftritt. Vor dem Hintergrund, dass diese Verfahrensweise in der jüngeren Vergangenheit auch in der Staatspraxis zunehmend zu Unsicherheiten über die Gestalt und Zulässigkeit der gesetzlichen Verordnungsänderung geführt hat,41 ist es prinzipiell zu begrüßen, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung ein besonderes Augenmerk auf die Gewährleistung von Rechtssicherheit und Normenklarheit sowie auf eine konsequente Ausgestaltung des Rechtsschutzes legt. Freilich entscheidet es sich hierbei für eine Lösung, die dem Ziel einer einheitlichen gerichtlichen Kontroll- und Verwerfungskompetenz den Vorrang vor einer dogmatisch konsistenten Auflösung des Normengefüges einräumt.42 Zweifelhaft erscheint der bundesverfassungsgerichtliche Lösungsversuch vor diesem Hintergrund vor allem in vierfacher Hinsicht. So erstaunt zunächst, dass das Bundesverfassungsgericht die von ihm kreierte Rechtsquelle eines „im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren geschaffenen Verordnungsrechts“ nicht auf ihre Vereinbarkeit mit jenen Vorgaben überprüft, die das Grundgesetz für die Rechtsetzung durch Gesetz bzw. durch Rechtsverordnung enthält (hierzu sub 1.). Sodann ist festzustellen, dass das Bundesverfassungsgericht zwar ein Bedürfnis für die Durchbrechung der herkömmlichen Rechtsquellenlehre und die Schaffung einer bislang unbekannten Rechtsquelle postuliert, dass es ihm indessen in den beiden skizzierten Entscheidungen nicht überzeugend gelingt, ein solches Bedürfnis nachzuweisen (hierzu sub 2.). Zudem mangelt es der bundesverfassungs40

Hierzu vorstehend sub II. Vgl. insofern neben den gegenläufigen Entscheidungen des BayVGH vom 29. August 2000 (NJW 2001, S. 2905 f.) und des BVerwG vom 16. Januar 2003 (BVerwGE 117, 313) stellvertretend den Aussetzungsbeschluss, den das VG Gelsenkirchen im Jahr 2002 fasste und unter ausdrücklicher Ablehnung der Judikatur des BVerwG aufrechterhielt und der schließlich zu BVerfGE 114, 303 führte. 42 Zu Recht konstatiert Bauer, Parlamentsverordnungen (Fn. 7), S. 237 ff. (248 ff.) eine folgenschwere Verengung des bundesverfassungsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs auf rechtsstaatliche Postulate, die dazu führe, dass einschlägige Verfassungsnormen unbeachtet blieben. 41

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gerichtlich vertretenen Lösung in mehrfacher Hinsicht an innerer Konsistenz (hierzu sub 3.) und wirft im Hinblick auf die Rechtsquellenlehre vielfältige Fragen auf (hierzu sub 4.). Dies sei im Folgenden näher erörtert. 1. Zur Vereinbarkeit der „Legislativverordnung“ mit dem grundgesetzlichen Verständnis von Gesetz und Rechtsverordnung Problematisch erscheint zunächst die Vereinbarkeit der Figur der „Legislativverordnung“ mit jenen Vorgaben der Verfassung, die diese hinsichtlich der beiden von ihr unterschiedenen Rechtsquellen „Gesetz“ und „Rechtsverordnung“ enthält. Hiernach sind Rechtsnormen, die vom parlamentarischen Gesetzgeber im Gesetzgebungsverfahren nach Art. 76 ff. GG beschlossen werden, nach Urheber wie Rechtserzeugungsverfahren zwingend Bestimmungen mit Gesetzesrang; ein Wahlrecht des Gesetzgebers, das sich auf den Rechtsetzungserfolg, d. h. auf die Rechtsqualität seiner Regelungswerke beziehen würde, ist dem Grundgesetz fremd.43 Entschließt sich die Legislative vor diesem Hintergrund zum Normerlass, so bringt sie unausweichlich Recht im Rang eines Gesetzes hervor; zu der Hervorbringung von Recht anderen Ranges ist sie nicht befähigt. Daher ist sie unter der Geltung des Grundgesetzes namentlich nicht in der Lage, Recht im Rang einer Rechtsverordnung hervorzubringen.44 Dies belegen zunächst Art. 76 bis 78 GG, die unzweideutig klarstellen, dass nur „Gesetzesvorlagen“ überhaupt in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht werden können,45 dass ferner nur Bundesgesetze vom Deutschen Bundestag beschlossen werden46 und dass zudem im Gesetzgebungsverfahren ausschließlich ein „vom Bundestage beschlossenes Gesetz“, nicht aber eine „vom Bundestag beschlossene Rechtsverordnung“ zustande kommen kann.47 Sodann ist es unter der Geltung des Art. 80 GG für das Wesen von Verordnungsrecht konstitutiv, dass es sich hierbei um von der Exekutive gesetztes Recht handelt.48 Art. 80 Abs. 1 GG unterstreicht dies dadurch, dass 43 Bauer, Parlamentsverordnungen (Fn. 7), S. 237 ff. (250 f.); Uhle, Verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle von Gesetzesrecht? (Fn. 11), S. 1272 ff. (1275). 44 All. A.; stellvertretend sei hier nur auf Maunz, Theodor, in: ders./Dürig, Günter, Kommentar zum Grundgesetz, Stand: 47. Lfg. (Juni 2006), Art. 80, Rn. 23 hingewiesen; ebenso bislang auch das Bundesverfassungsgericht, s. nur BVerfGE 22, 330 (346); vgl. auch BVerfGE 24, 184 (199). 45 Vgl. den Wortlaut des Art. 76 Abs. 1 GG (Hervorhebung vom Verf.). 46 Vgl. den Wortlaut des Art. 77 Abs. 1 Satz 1 GG (Hervorhebung vom Verf.). 47 Vgl. den Wortlaut des Art. 78 GG (Hervorhebung vom Verf.). Vgl. zu Art. 76 ff. GG auch Bauer, Parlamentsverordnungen (Fn. 7), S. 237 ff. (250). 48 Vgl. Uhle, Parlament und Rechtsverordnung (Fn. 5), S. 153 und 404; Ossenbühl, Fritz, Rechtsverordnung, in: Isensee, Josef/Kirchhof, Paul (Hrsg.), HStR,

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als potentielle Verordnungsgeber, die gesetzgeberisch zum Verordnungserlass ermächtigt werden können, a priori nur Organe der Exekutive in Betracht kommen, weshalb in Satz 1 als mögliche Erstdelegatare ausschließlich die Bundesregierung, ein Bundesminister oder die Landesregierung benannt werden, nicht aber der parlamentarische Gesetzgeber49 – ein Umstand, der sich bereits daraus erklärt, dass der Gesetzgeber nach der Rechtsquellenkonzeption des Grundgesetzes über die originäre Rechtsetzungskompetenz verfügt und daher, anders als die Exekutive, nicht erst zur Rechtsetzung ermächtigt werden muss. Aus einer Gesamtbetrachtung der Art. 76 bis 78 GG und des Art. 80 GG folgt demgemäß unzweideutig, dass der parlamentarische Gesetzgeber im Gesetzgebungsverfahren ausschließlich Gesetzesrecht setzen kann und dass im Verfahren der Verordnungsgebung ausschließlich die Exekutive, nicht aber das Parlament befähigt ist, auf der Grundlage einer spezifischen parlamentsgesetzlichen Ermächtigung Recht zu setzen.50 Die grundgesetzliche Unterscheidung zwischen Gesetz und Rechtsverordnung steht daher nicht zur Disposition.51 Hieraus ergibt sich, dass weder Gesetz- noch Verordnungsgeber über ein Recht zur freien Formenwahl verfügen. Das Bundesverfassungsgericht erkennt dies zwar in seinen beiden vorstehend skizzierten Entscheidungen zunächst ausdrücklich an, gestattet hernach gleichwohl die exzeptionelle „Durchbrechung dieses Grundsatzes“ jedenfalls dann, wenn es sich um die Anpassung von Verordnungsrecht „im Rahmen einer Änderung eines Sachbereichs durch den Gesetzgeber handelt“52. Damit beBand III, 1988, § 64, Rn. 1: „Das Verordnungsrecht ist nach deutschem Staatsrecht grundsätzlich eine von der Legislative der Exekutive verliehene Rechtsetzungsmacht“; aus der Kommentarliteratur stellvertretend Lücke, Jörg, in: Sachs, Michael (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Aufl. 2003, Art. 80, Rn. 4: „Abs. 1 S. 1 verlangt für den Erlass von RVOen, dass bestimmte Organe der Exekutive ermächtigt werden“ (Hervorhebungen vom Verf.). 49 Ebenso Bauer, Parlamentsverordnungen (Fn. 7), S. 237 ff. (250); BrosiusGersdorf, Der Gesetzgeber als Verordnungsgeber (Fn. 12), sub IV. 4. Zwar kann gem. Art. 80 Abs. 1 Satz 4 GG die gesetzliche Ermächtigung zum Verordnungserlass „weiter übertragen werden“, doch bedarf es zu einer solchen Übertragung einer entsprechenden (ermächtigungs-)gesetzlichen Bestimmung wie auch einer Rechtsverordnung, die die Subdelegation anordnet; möglicher Übertragungsadressat kann zudem aufgrund des Charakters der Rechtsverordnung als von der Exekutive gesetztem Recht ausschließlich ein Organ der Exekutive sein; vgl. hierzu die vorstehenden Nachweise (Fn. 46). 50 Bauer, Parlamentsverordnungen (Fn. 7), S. 237 ff. (250 f.); Uhle, Parlament und Rechtsverordnung (Fn. 5), S. 404. 51 So prinzipiell auch BVerfGE 114, 196 (235, freilich mit der bezeichnenden Formulierung, die Unterscheidung zwischen Gesetz und Verordnung stehe nicht „zur beliebigen Disposition“). 52 BVerfGE 114, 196 (238).

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jaht es der Sache nach implizit letztlich doch jene gesetzgeberische Freiheit der Formenwahl, die es zuvor grundsätzlich negiert.53 Vor diesem Hintergrund ist festzustellen, dass das bundesverfassungsgerichtliche Postulat der „Legislativverordnung“ – und damit der gerichtlich beschrittene dritte Weg zwischen Gesetz- und Rechtsverordnung – in Konflikt mit den grundgesetzlichen Vorgaben für die Gesetz- und Verordnungsgebung sowie mit dem verfassungsrechtlichen Rechtsquellenverständnis gerät. Denn das Grundgesetz kennt nur das parlamentarische Gesetz und die exekutivische Rechtsverordnung: tertium non datur. Ein Mischtyp, der das Verfahren der Gesetzgebung mit dem Rechtserfolg der Verordnungsgebung kombiniert, ist dem Grundgesetz in prinzipieller Weise fremd.54 Folglich enthält es keinerlei Bestimmung zu einem „crossing over“ der von ihm sorgsam unterschiedenen Formen der Rechtsetzung durch Gesetz einerseits und durch Rechtsverordnung andererseits. Ein Erlass von Rechtsverordnungen durch den Gesetzgeber ist vor diesem Hintergrund im Schrifttum nicht zu Unrecht als „absurde Vorstellung“ bezeichnet worden,55 die bislang auch das Bundesverfassungsgericht als verfassungsrechtlich unstatthaft erachtete.56 2. Zur Erforderlichkeit der Ergänzung der herkömmlichen Rechtsquellen um die „Legislativverordnung“ Das Bundesverfassungsgericht sucht die Durchbrechung des grundgesetzlichen Verbots der freien gesetzgeberischen Formenwahl und die von ihm durch Einführung der „Legislativverordnung“ zugleich vorgenommene Modifizierung der Rechtsquellenlehre dadurch zu legitimieren, dass es postuliert, ihre Erforderlichkeit ergebe sich vor dem Hintergrund des Rechtsstaatsprinzips und des hieraus folgenden Prinzips der Rechtssicherheit letztlich aus dem Gebot der Normenklarheit57; aber auch im Hinblick auf das „Postulat der Rechtsmittelklarheit“ – d. h. im Hinblick darauf, dass keine Unklarheit über den gegen die Bestimmungen eröffneten Rechtsschutz entstehen dürfe, der sich bei förmlichen Gesetzen und Rechtsverordnungen grundlegend unterscheide – gebe es für sie ein Bedürfnis, weil andernfalls nach einer gesetzlichen Verordnungsänderung gegen Regelungen „in ein und derselben Norm“ teils im Wege der verfassungsgerichtlichen Überprü53

BVerfGE 114, 196 (238). Brosius-Gersdorf, Der Gesetzgeber als Verordnungsgeber (Fn. 12), sub IV. 2. 55 Ossenbühl, Anmerkung (Fn. 11), S. 1066; Bauer, Parlamentsverordnungen (Fn. 7), S. 237 ff. (238). 56 BVerfGE 22, 330 (346); vgl. auch BVerfGE 24, 184 (199). 57 BVerfGE 114, 196 (238). 54

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fung (namentlich im Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG) und teils im verwaltungsgerichtlichen Wege (namentlich im Rahmen des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO) vorzugehen sei.58 Bedenken gegen eine solche Argumentation ergeben sich zum einen unter dem Aspekt, dass damit der Grundsatz der Normenklarheit überdehnt wird (hierzu sub a) und dass zum anderen das Ziel eines einheitlichen Rechtsschutzes in einer Weise verabsolutiert wird, die der grundgesetzlichen Konzeption einer sich aus Gesetz und Rechtsverordnung ergebenden Rechtsordnung und der hieran anknüpfenden Differenzierung des Rechtsschutzes nicht gerecht wird (hierzu sub b). a) Die Überdehnung des Grundsatzes der Normenklarheit als Ausgangspunkt der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsquellenmodifizierung Dem argumentativen Ausgangspunkt des Bundesverfassungsgerichts ist zunächst entgegenzuhalten, dass er nicht nur den rechtsstaatlichen Grundsatz der Normenklarheit über seinen in der bisherigen Judikatur des Bundesverfassungsgerichts anerkannten Umfang hinaus, d. h. quantitativ, auch auf die Kennzeichnung einer Norm als Gesetzes- oder Verordnungsbestimmung – d. h. auf die Offenlegung des Ranges einer Vorschrift – ausdehnt,59 sondern auch einer qualitativen Veränderung unterzieht; denn das Bundesverfassungsgericht leitet in seinen beiden vorstehend skizzierten Entscheidungen aus dem Grundsatz der Normenklarheit nicht nur ab, dass der Rang einer Vorschrift überhaupt ermittelbar sein muss, sondern fordert auch, dass diese Rangbestimmung ohne erheblichen Aufwand zu leisten sein muss: Nur so lässt sich die Einlassung des Gerichts verstehen, dass es mit rechtsstaatlichen Grundsätzen im Allgemeinen und dem Grundsatz der Normenklarheit im Besonderen nicht vereinbar sei, wenn der Rechtscharakter einer Norm nicht bereits aus der Überschrift und der Einleitung eines Regelungswerkes erkennbar sei, sondern erst unter „Rückgriff auf die Gesetzgebungsmaterialien oder auf die verkündeten Fassungen von Änderungsnormen“ ermittelt werden müsse.60 Eine solche, bundesverfassungsgerichtlich mehr postulierte als verfassungsrechtlich überzeugend begründete qualitative Modifizierung des Maßstabes der Normenklarheit indessen ist grundgesetzlich nicht geboten: Normqualifikationsklarheit bedeutet nicht Normqualifikationsbequemlichkeit. 58

BVerfGE 114, 196 (237). Bauer, Parlamentsverordnungen (Fn. 7), S. 237 ff. (252). Zur bisherigen bundesverfassungsgerichtlichen Beschränkung des Grundsatzes der Normenklarheit auf die hinreichende Bestimmtheit und Widerspruchsfreiheit einer Norm vgl. BVerfGE 21, 73 (79); 45, 400 (420); 83, 130 (145); 108, 52 (74 f.). 60 BVerfGE 114, 196 (236). 59

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Daher wird der Grundsatz der Normenklarheit überdehnt, wenn aus ihm ein Gebot abgeleitet wird, das das Bundesverfassungsgericht in die Anforderung einkleidet, dass „Überschrift und Einleitung eines Regelungswerkes [. . .] auch nach zahlreichen Änderungen noch halten [müssen], was sie versprechen“61. Eine solche Überdehnung wiederum ist weder einlösbar, weil sie im Hinblick auf die Komplexität moderner Rechtsordnungen nicht konsequent durchzuhalten ist, noch ist sie erforderlich. Das zeigt sich nicht zuletzt gerade anhand der Konstellation einer gesetzlichen Verordnungsänderung, die den skizzierten bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen zugrunde liegt: Denn auch in dieser Konstellation kann die Rechtsqualität der fraglichen Bestimmungen aufgrund des für parlamentarische Gesetze wie auch für exekutive Rechtsverordnungen bestehenden Publizitätsgebotes des Art. 82 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG ohne unzumutbaren Aufwand und mit der erforderlichen Rechtssicherheit ermittelt werden, selbst wenn sich dies im Einzelfall – namentlich im Falle wiederholt gesetzlich geänderter Rechtsverordnungen – durchaus mühevoll gestalten kann.62 Auch wenn in verfassungspolitischer Hinsicht insofern an der Verordnungsänderung durch Gesetz Kritik angebracht sein mag,63 wird daher in verfassungsrechtlicher Hinsicht doch nicht jene Hürde übersprungen, die zur Annahme eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Normenklarheit erforderlich ist;64 das gilt umso mehr, als gerade vor dem Hintergrund des Erfordernisses einer gesetzlichen Ermächtigung zum Verordnungserlass das Ineinandergreifen von gesetzesund verordnungsrangigen Bestimmungen Ausfluss der grundgesetzlichen Vorgaben über die Rechtsetzung durch Rechtsverordnung ist und folglich hier die Anwendung des Grundsatzes der Normenklarheit von vornherein mit besonderem Bedacht zu erfolgen hat.65 Vor diesem Hintergrund gelangt das Bundesverfassungsgericht zu der Qualifikation einer gesetzlich modifizierten Verordnung als einem Regelungswerk mit einheitlichem Verordnungsrang und damit zu der Erweiterung der bestehenden Rechtsquellen 61

BVerfGE 114, 196 (237). Uhle, Verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle von Gesetzesrecht? (Fn. 11), S. 1272 ff. (1277). 63 Vgl. diesbezüglich etwa Kirchhof, Besteuerung nach Gesetz (Fn. 9), S. 17 ff. (30 ff., hier v. a. 32); Seiler, Parlamentarische Einflussnahmen (Fn. 8), S. 50 ff. (54 ff., 57 ff.); Bauer, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar (Fn. 5), Art. 80, Rdnr. 47. 64 Uhle, Verordnungsänderung durch Gesetz und Gesetzesänderung durch Verordnung? (Fn. 7), S. 241 ff. (243); ders., Parlament und Rechtsverordnung (Fn. 5), S. 413 ff. (v. a. 414 f.) und S. 467 ff. Zu den hohen Hürden für die Annahme eines Verstoßes gegen das Prinzip der Rechtsklarheit Herzog, Roman, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz (Fn. 44), Art. 20 sub VII, Rn. 63. 65 Vgl. Uhle, Verordnungsänderung durch Gesetz und Gesetzesänderung durch Verordnung? (Fn. 7), S. 241 ff. (243 f.). 62

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um die „Legislativverordnung“ a priori nur auf der Grundlage einer qualitativen Überdehnung des Grundsatzes der Normenklarheit, für die es weder einen verfassungsrechtlichen Grund noch ein praktisches Bedürfnis gibt. Dass die verabsolutierende Überdehnung des Grundsatzes der Normenklarheit, die für das Bundesverfassungsgericht den Anlass für die Schaffung der „Legislativverordnung“ und damit für das Beschreiten eines dritten Weges zwischen Gesetz- und Rechtsverordnung darstellt, nicht konsequent durchzuhalten ist, wird im Übrigen anhand der beiden skizzierten Entscheidungen selbst deutlich, da diese es letztlich nicht vermögen, den aus der Normenklarheit abgeleiteten Anspruch selbst einzuhalten.66 So stellt das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf die gesetzlich modifizierten Verordnungen – wie ausgeführt – zunächst ausdrücklich fest, dass sich hier der Umstand, dass zur Normenklarheit auch Normenwahrheit gehöre, dahingehend auswirke, dass Überschrift und Einleitung eines Regelungswerkes auch nach zahlreichen Änderungen noch halten müssten, was sie versprechen. Gleichwohl hält es hernach den von ihm postulierten Erlass von Verordnungsrecht im Gesetzesmantel auch im Hinblick auf die Anforderungen, die seiner Ansicht nach aus dem Grundsatz der Normenklarheit resultieren sollen, für statthaft, obwohl hier Überschrift und Einleitung des betreffenden Gesetzes die Gesetzesqualität der nachfolgenden Bestimmungen anzeigen und damit die bundesverfassungsgerichtlich aus der Normenklarheit abgeleiteten Anforderungen selbst deutlich verfehlen.67 Damit resultiert aus der konstatierten Überdehnung der sich aus der Normenklarheit ergebenden Anforderungen bereits in jenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in denen der neue Maßstab der Normenklarheit erstmals postuliert und angewandt wird, ein nicht unerhebliches Maß an Selbstwidersprüchlichkeit. b) Die dem Grundgesetz nicht entsprechende Verabsolutierung des Ziels eines einheitlichen Rechtsschutzes Trifft vor diesem Hintergrund bereits der Ansatz, aus dem nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts die Erforderlichkeit eines dritten Weges zwischen Gesetz und Verordnung resultiert, nicht zu, so gilt ein ähnlicher Befund für den Versuch, die Rechtsquelle der „Legislativverordnung“ aus dem Postulat einer einheitlichen gerichtlichen Kontroll- und Verwerfungskompetenz abzuleiten. Das Bundesverfassungsgericht argumentiert insofern, dass es im Falle einer Negierung des einheitlichen Verordnungsranges gesetzlich geänderter 66

So zu Recht Bauer, Parlamentsverordnungen (Fn. 7), S. 237 ff. (252). Vgl. insofern auch die berechtigte Kritik der abweichenden Meinung in BVerfGE 114, 250 (253). 67

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Rechtsverordnungen nicht nur unmöglich werde, die das Normengefüge bildenden Bestimmungen der parlamentarischen bzw. der exekutiven Rechtsetzung zuzuordnen, sondern dass hieraus auch eine Unklarheit über den vom Bürger zu suchenden Rechtsschutz folge, was wiederum mit dem Postulat der Rechtsmittelklarheit unvereinbar sei; denn solange einer gesetzlich geänderten Rechtsverordnung nicht ein einheitlicher Verordnungsrang zuerkannt werde, könne es für den rechtsschutzsuchenden Bürger dazu kommen, „dass gegen Regelungen in ein und derselben Norm der Rechtsschutz gegen bestimmte Regelungen einfach und schnell eröffnet [sei], gegen andere hingegen von der Aussetzung und Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG [abhänge]“68. Auch deshalb sei es erforderlich, gesetzlich geänderten Rechtsverordnungen einen einheitlichen Verordnungsrang zuzumessen.69 Hiergegen ist zunächst einzuwenden, dass – wie oben gezeigt70 – auch im Falle der Verordnungsänderung durch Gesetz entgegen den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts die Bestimmung des Rangs der einzelnen Normen aufgrund des für Gesetze wie auch für Rechtsverordnungen geltenden Publizitätsgebotes des Art. 82 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG ohne weiteres ermittelbar bleibt, so dass a priori keine dem Postulat der Rechtsklarheit und der Rechtssicherheit zuwiderlaufende Unklarheit entsteht. In der Folge kommt es aufgrund der Ermittelbarkeit des Ranges einer Vorschrift, gegen die ein Bürger Rechtsschutz begehrt, auch nicht zu einer unzumutbaren Beeinträchtigung der Sicherheit über den einzuschlagenden Rechtsweg. Daher lässt sich nicht argumentieren, dass erst durch die hier erörterte Verfahrensweise ein rechtsstaatswidriges mixtum compositum verschiedenrangiger Rechtsnormen entstehe, dem hernach eine rechtsmittelklarheitswidrige Unübersichtlichkeit beim Rechtsschutz folge. Dies gilt um so mehr, als dem Bürger eine rangabhängige Differenzierung des Rechtsschutzes gegen eine Vorschrift – verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz gegen eine gesetzesrangige Vorschrift gem. Art. 100 Abs. 1 GG, verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz gegen eine verordnungsrangige Bestimmung gem. § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO – auch sonst zugemutet wird: Es stellt unter der Geltung des Grundgesetzes geradezu ein Charakteristikum der Verordnungsgebung dar, dass die Regelungen der Rechtsverordnung die Normen eines Gesetzes im Rahmen der gem. Art. 80 Abs. 1 Satz 1 GG erforderlichen Ermächtigung nicht nur konkretisieren und ergänzen, sondern auch, dass sich das hieraus folgende Normengefüge aus Bestimmungen mit Gesetzes- und Verord68

BVerfGE 114, 196 (237). BVerfGE 114, 196 (238). Hiergegen mit Nachdruck Bauer, Parlamentsverordnungen (Fn. 7), S. 237 ff. (252 f.). 70 Hierzu vorstehend sub a). 69

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nungsrang zusammensetzt und deshalb zur Aktualisierung unterschiedlicher gerichtlicher Kontroll- und Verwerfungskompetenzen führt.71 In der Konstellation der Verordnungsänderung durch Gesetz mag dieses Nebeneinander verschiedener Rechtsschutzwege und -formen zwar besonders deutlich werden, konstruktiv liegt hier indessen kein Ausnahmefall vor, der die Existenz der Rechtsquelle eines „im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren geschaffenen Verordnungsrechts“ und damit einen dritten Weg zwischen Gesetz und Verordnung stützen könnte. Das wird nicht zuletzt auch daran deutlich, dass das Bundesverfassungsgericht im Fall der gesetzlich geänderten Rechtsverordnung mit der Figur der „Legislativverordnung“ ausnahmsweise eine Einheitlichkeit des Rechtsschutzes hervorzubringen sucht, die es im Übrigen angesichts der Bildung der unterverfassungsrechtlichen Gesamtrechtsordnung aus Normen mit Gesetzes- und mit Verordnungsrang ohnehin nicht herzustellen vermag, freilich insofern auch gar nicht erst herzustellen versucht. Die gesetzliche Änderung einer Verordnung bringt vor diesem Hintergrund bei Lichte betrachtet keine Aufspaltung des Rechtsweges hervor, die dem Grundgesetz fremd wäre, sondern greift lediglich die grundgesetzliche Unterscheidung auf, derzufolge für nachkonstitutionelle Gesetze ein Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts besteht, das für untergesetzliche Regelungswerke nicht vorgesehen ist. Bereits vor diesem Hintergrund erscheint die bundesverfassungsgerichtliche Sorge, „dass gegen Regelungen in ein und derselben Norm“ der Rechtsschutz gegen bestimmte Regelungen inzident vor den Verwaltungsgerichten und gegen andere Bestimmungen im Wege der Aussetzung und Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG vor dem Bundesverfassungsgericht zu suchen sei, deutlich überzeichnet. Dies gilt umso mehr, als Gegenstand der Suche des Bürgers nach Rechtsschutz – wie die abweichende Meinung zu Recht hervorhebt – nicht die „normtechnische Einheit, also der gesamte Verordnungstext, sondern die konkret erhebliche Regelung [ist]“; deren rechtliche Qualität indessen lässt sich ihrer in Art. 82 Abs. 1 GG vorgesehenen Publikation entnehmen.72

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Vgl. auch Brosius-Gersdorf, Der Gesetzgeber als Verordnungsgeber (Fn. 12), sub V. 2. 72 BVerfGE 114, 250 (254) mit dem Hinweis, dass im Falle des Rechtsschutzes gegen eine Norm mit Verordnungsrang ausnahmsweise dann, wenn diese entweder sachlich untrennbar mit gesetzesrangigen Bestimmungen verbunden ist oder wenn gegen sie ein Angriffspunkt vorgetragen wird, der sich zugleich gegen Normen mit Gesetzesrang richtet, eine einheitliche Überprüfung gem. Art. 100 Abs. 1 GG geboten sein kann.

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3. Zur Konsistenz der bundesverfassungsgerichtlichen Vermischung von Gesetzgebungsverfahren und Rechtsverordnungserfolg in der Rechtsquelle der „Legislativverordnung“ Erscheint angesichts der vorstehenden Ausführungen das Konstrukt eines „im Gesetzgebungsverfahren geschaffenen Verordnungsrechts“ als unvereinbar mit den grundgesetzlichen Vorgaben für die Gesetzgebung wie auch für die Verordnungsgebung und stellt auch der Fall der gesetzlichen Verordnungsänderung keinen Grund dar, die herkömmliche Rechtsquellenlehre zu modifizieren, so spricht schließlich gegen die bundesverfassungsgerichtliche Argumentationsfigur noch ein weiterer Umstand: der Umstand, dass mit dem Mischtyp der „Legislativverordnung“ eine Rechtsquelle kreiert wird, deren gerichtlich benannte Anforderungen in sich nicht konsistent und überdies nicht schlüssig begründet sind.73 So erscheint zunächst bereits zweifelhaft, ob die bundesverfassungsgerichtliche Beschränkung des gesetzgeberischen Verordnungsrechts auf die gleichzeitige Änderung gesetzlicher Regelungswerke74 sachlich gerechtfertigt ist und zudem eine effektive Begrenzung der gesetzlichen Verordnungsänderung zu leisten vermag. Die Ableitung dieser Beschränkung ist zwar vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Staatspraxis verständlich, bleibt aber in ihrer dogmatischen Herleitung, die das Gericht dem Grundsatz der Formenstrenge zu entnehmen versucht, seltsam blass; denn auch wenn das Gericht diese Begrenzung zulässiger gesetzlicher Verordnungsänderungen postuliert, weil es nach Grenzen für die Ausnahmen der von ihm zunächst ermöglichten Durchbrechung des Verbots der freien Formenwahl sucht, bleibt in dogmatischer Hinsicht doch offen, warum eine dieser Grenzen gerade in dem Kriterium des Zusammenhangs mit gesetzlichen Änderungen eines Sachbereichs liegen soll. Darüber hinaus bleibt diese Grenze auch insofern ohne rechtliche Kontur, als sich das Bundesverfassungsgericht nicht dazu äußert, wann eine Verordnungsänderung dem Sachbereich einer Gesetzesänderung nicht mehr zuzurechnen sein soll. Weit mehr als dieser Umstand ist freilich die freihändig anmutende Kombination von Elementen der Gesetzgebung mit jenen der Verordnungsgebung zu kritisieren, die das Bundesverfassungsgericht bei der Schaffung der „Legislativverordnung“ ausschließlich anhand praktischer Bedürfnisse vornimmt, nicht indessen mit dogmatischen Begründungen unterfängt. So vermag zunächst die bundesverfassungsgerichtliche Forderung, dass bei der Schaffung von Verordnungsrecht durch das Parlament das Gesetzgebungs73

Zum Folgenden eingehend auch Bauer, Parlamentsverordnungen (Fn. 7), S. 237 ff. (256 ff.); s. hierzu auch Brosius-Gersdorf, Der Gesetzgeber als Verordnungsgeber (Fn. 12), sub IV. 3. 74 Vgl. BVerfGE 114, 196 (238).

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verfahren nach Art. 76 ff. GG eingehalten werden müsse, nicht zu überzeugen. Wenn das Parlament – wie das Gericht postuliert – Verordnungsrecht setzen können soll, dann mutet es merkwürdig an, dass dies gerade im Gesetzgebungsverfahren geschehen soll; die Kombination des Verfahrens einer Art der Rechtserzeugung mit dem Erfolg einer anderen Art der Rechtserzeugung erscheint vor diesem Hintergrund als eine zwar an die gegenwärtige Staatspraxis angelehnte, inhaltlich aber eher zufällig anmutende Konstruktion. Zudem gerät die bundesverfassungsgerichtliche Forderung, das Verfahren nach Art. 76 ff. GG sei einzuhalten, in einen sachlich nicht auflösbaren Gegensatz zu der gleichzeitig erhobenen Forderung, dass sich das Parlament in seiner Funktion als Verordnungsgeber bei der gesetzlichen Verordnungsänderung an jene Grenzen der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage zu halten habe, die es zuvor in seiner Funktion als Gesetzgeber bei der Erteilung der Ermächtigung gem. Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG hinsichtlich Inhalt, Zweck und Ausmaß einer Ermächtigung zu statuieren verpflichtet ist. Ungeachtet dieser Widersprüchlichkeit vermag zudem die Begründung des Gerichts, warum der Gesetzgeber bei der Änderung einer Verordnung „an die Grenzen der Ermächtigungsgrundlage gebunden [sein soll]“ nicht zu überzeugen; das Bundesverfassungsgericht verweist insofern lediglich auf das von ihm bejahte Erfordernis, nicht nur einen einheitlichen Rechtsschutz gegen gesetzlich veränderte Verordnungen zu ermöglichen, sondern den angerufenen Gerichten auch einen einheitlichen Prüfungsmaßstab für ihre Kontrolltätigkeit an die Hand zu geben.75 Diese Bindung des Parlaments an die zuvor von ihm selbst erteilte gesetzliche Ermächtigung gerät in Konflikt mit dem allgemein anerkannten Umstand, dass die originäre Rechtsetzungskompetenz des Gesetzgebers auch nach der Verordnungsgebung fortbesteht,76 denn mit diesem Fortbestand der originären gesetzgeberischen Regelungsmacht ist eine Bindung des Gesetzgebers an Inhalt, Zweck und Ausmaß der gesetzlichen Verordnungsermächtigung gem. Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG kaum plausibel zu vereinbaren.77 Das gilt um so mehr, als ihm die jederzeitige Modifizierung der Grenzen einer Verordnungser75

Vgl. BVerfGE 114, 196 (239). Allg. A.; vgl. stellvertretend aus dem Schrifttum Uhle, Parlament und Rechtsverordnung (Fn. 5), S. 289 f. m. w. N.; aus der Kommentarliteratur Brenner, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz (Fn. 8), Art. 80, Rn. 25; Bryde, Brun-Otto, in: Philipp Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Band 3, 4./5. Auflage 2003, Art. 80, Rn. 5; vgl. auch Nierhaus, Michael, in: Dolzer, Rudolf/ Vogel, Klaus/Graßhof, Karin (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Stand: 125. Lfg. (Oktober 2006), Art. 80, Rn. 171 und 185; vgl. auch Maunz, Theodor, in: ders./Dürig, Kommentar zum Grundgesetz (Fn. 44), Art. 80, Rn. 23. 77 Zu Recht auch insofern Bauer, Parlamentsverordnungen (Fn. 7), S. 237 ff. (256). 76

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mächtigung möglich ist, ggf. sogar – auch wenn sich das Bundesverfassungsgericht dazu nicht ausdrücklich äußert – in einem Gesetz, durch das hernach Verordnungsänderungen verfügt werden. Mit der Anwendung des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG auf den Fall der gesetzlichen Verordnungsänderung verträgt sich ferner nicht, dass das Bundesverfassungsgericht darauf verzichtet, auch andere Bestimmungen, die für die Verordnungsgebung Geltung beanspruchen, auf die parlamentarische Verordnungsänderung anzuwenden. Dies gilt namentlich etwa für die Bestimmung des Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG78 und die Vorschrift des Art. 80 Abs. 2 GG.79 Warum das Bundesverfassungsgericht vor diesem Hintergrund bei der Konstruktion einer dritten, zwischen Gesetz und Rechtsverordnung stehenden Rechtsquelle auf der einen Seite Bestimmungen des Art. 80 GG zur Anwendung gebracht wissen möchte, auf der anderen Seite indessen wiederum hierauf verzichtet, bleibt offen – ein Beleg dafür, dass es dem bundesverfassungsgerichtlich postulierten Mischtyp der „Legislativverordnung“ an einem dogmatisch stringenten Bauplan fehlt: Die inhaltliche Ausgestaltung der neuen Rechtsquelle schwankt – ohne dass dies dogmatisch nachvollziehbar wäre – zwischen Elementen des Gesetz- und des Rechtsverordnungsgebungsverfahrens hin und her; sachliche Begründungen für die Einbeziehung einzelner Voraussetzungen und die Ausblendung anderer Anforderungen bleibt das Bundesverfassungsgericht schuldig. Stattdessen werden mehr oder weniger zufällig jene Elemente der Gesetz- und der Verordnungsgebung miteinander kombiniert, die vor dem Hintergrund der gesetzlichen Verordnungsänderung praktikabel erscheinen.80 4. Die „Legislativverordnung“ und ihre Auswirkungen auf die Rechtsquellenlehre Schließlich stellt sich die Frage, ob das Bundesverfassungsgericht mit der Hervorbringung der Rechtsquelle der „Legislativverordnung“ nicht unbeabsichtigt den Weg für andere Formen der Rechtserzeugung gebahnt und damit die Rechtsquellenlehre weit über die konkret entschiedene Fallkonstellation hinaus beschädigt hat. So erscheint zunächst offen, ob mit der Begründung des Bundesverfassungsgerichts – ohne dass dies gerichtlich intendiert gewesen sein müsste – nicht auch der parlamentarische Neuerlass vollständiger Rechtsverordnun78

Hierzu Bauer, Parlamentsverordnungen (Fn. 7), S. 237 ff. (257). Vgl. insofern auch das Minderheitsvotum, BVerfGE 114, 250 (Rn. 267). Kritik unter dem Aspekt der bundesverfassungsgerichtlich verneinten Anwendung des Art. 80 Abs. 2 GG vor allem bei Lenz, Die Umgehung des Bundesrates bei der Verordnungsänderung durch Parlamentsgesetz (Fn. 12), S. 296 ff. 80 Wie hier Bauer, Parlamentsverordnungen (Fn. 7), S. 237 ff. (258). 79

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gen in einem Gesetz ermöglicht worden ist. Das Gericht selbst hat sich zur vollständigen Ersetzung einer Verordnung durch den Gesetzgeber nicht geäußert. Indessen ist nicht a piori ausgeschlossen, sein Argument – dem Parlament stehe das Recht zu, ein komplexes Änderungsvorhaben durchzuführen, weshalb es gleichzeitig mit den einschlägigen Gesetzesänderungen auch das Verordnungsrecht modifizieren dürfe – auch auf die Konstellation des Verordnungsneuerlasses zu übertragen. Hierfür könnte etwa die Überlegung sprechen, dass der Verordnungsneuerlass gleichsam den größtmöglichen denkbaren Fall der bundesverfassungsgerichtlich gebilligten gesetzlichen Verordnungsänderung darstellt. Eine solche Argumentation könnte um so mehr Plausibilität für sich beanspruchen, als das Bundesverfassungsgericht die Einführung der „Legislativverordnung“ in die Rechtsquellenlehre und ihre prinzipielle Zulässigkeit wesentlich damit begründet hat, dass die Delegation der Verordnungsanpassung auf den eigentlich zuständigen Verordnungsgeber im Falle der gleichzeitigen gesetzgeberischen Reform eines Lebenssachbereiches für den Gesetzgeber nicht zumutbar sei, weil sie das Risiko von Verzögerungen beinhalte und ihn im Übrigen darauf beschränke, ein differenziert ausgestaltetes und finanziell abgestimmtes Reformvorhaben ins Werk zu setzen – eine Argumentation, die für den parlamentarischen Verordnungsneuerlass, sofern dieser mit einer Reform des gesetzlichen Rahmenrechts verbunden wird, „erst recht“ gelten könnte. Wenn das Bundesverfassungsgericht indessen den gesetzlichen Neuerlass vollständiger Rechtsverordnungen für statthaft erachten sollte, mit welcher Begründung könnte dann dem Parlament noch der Ersterlass einer Rechtsverordnung verwehrt werden? Wäre es in dieser Situation noch überzeugend, den Gesetzgeber auf den exekutiven Verordnungsersterlass zu verweisen und ihn damit zu trösten, dass er in der logischen Sekunde nach diesem Ersterlass die betreffende Verordnung nach seinem Willen umgestalten könne? Wäre mit der parlamentarischen Kompetenz für einen solchen Verordnungserlass schließlich nicht das Tor zur parlamentarischen (Voll-)Verordnungsgebung aufgestoßen? – Auch wenn das Bundesverfassungsgericht mit seinen vorstehend behandelten Entscheidungen wohl kaum Fragen wie diese hat aufwerfen wollen, so stellen sie sich in der Konsequenz der gerichtlichen Sichtweise gleichwohl. Daher wirft die bundesverfassungsgerichtliche Konstruktion der „Legislativverordnung“ letztlich gerade in ihren Auswirkungen auf die Rechtsquellenlehre weit mehr Fragen auf als sie beantwortet. V. Staatspraktische Konsequenzen Die Einführung der „Legislativverordnung“ führt indessen nicht nur zur Aktualisierung dogmatisch-theoretischer Fragen hinsichtlich ihrer Vereinbar-

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keit mit den grundgesetzlichen Vorgaben für die Rechtsetzung, hinsichtlich ihrer Begründung und konsistenten Ausgestaltung sowie schließlich hinsichtlich ihrer Rückwirkungen auf die Rechtsquellenlehre; es erhebt sich auch die Fragestellung, welche Schlussfolgerungen die Staatspraxis bei der zukünftigen Rechtsetzung aus den bundesverfassungsgerichtlichen Vorgaben ziehen wird. Für sie dürfte angesichts der aus § 31 BVerfGG resultierenden Bindung an die vorstehend analysierten Entscheidungen nahe liegen, ungeachtet der offenkundigen argumentativen Schwächen der bundesverfassungsgerichtlichen Begründung an dem Instrument der „Verordnungsänderung durch Gesetz“ zwar auch zukünftig grundsätzlich festzuhalten, es indessen verfahrenstechnisch an den Inhalt der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen vom 13. und 27. September 2005 anzupassen. Eine in diesem Sinne „modifizierende Bestätigung der Staatspraxis“ haben zwischenzeitlich für die Bundesebene die Bundesministerien des Innern und der Justiz empfohlen.81 Sie haben unter dem Datum vom 21. März 2006 in einem gemeinsamen Rundschreiben, das u. a. an alle Bundesministerien und das Bundeskanzleramt gerichtet worden ist, im Interesse einer einheitlichen Umsetzung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fünf konkrete Konsequenzen aus den beiden oben erörterten Entscheidungen gezogen, die zukünftig bei der Änderung von Verordnungen durch den Gesetzgeber bereits bei der Ausarbeitung entsprechender Gesetzentwürfe beachtet werden sollen. So sollen zunächst bei zukünftigen Artikelgesetzen, die Rechtsverordnungen ändern, keine Bestimmungen mehr vorgesehen werden, die die Rückkehr zum einheitlichen Verordnungsrang anordnen: Diese sog. „Entsteinerungsklauseln“ – gegen die im jüngeren Schrifttum angesichts ihrer zahlreichen Verwendung zunehmend Bedenken unter dem Aspekt eines Verstoßes gegen den Vorrang des Gesetzes erhoben worden sind82 – sollen in der Staatspraxis des Bundes fortan keine Verwendung mehr finden.83 Sie seien, so das Rundschreiben, zwar nach bisheriger Auffassung als zwingend er81 Rundschreiben des Bundesministeriums des Innern (Az.: V I 1 – 110 600/0) und des Bundesministeriums der Justiz (Az.: IV A 3-1030-46 43/2006) vom 21. März 2006. 82 Uhle, Parlament und Rechtsverordnung (Fn. 5), S. 415 ff.; ders., Verordnungsänderung durch Gesetz und Gesetzesänderung durch Verordnung? (Fn. 7), S. 241 ff. (243 ff.); ders., Verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle von Gesetzesrecht? (Fn. 11), S. 1272 ff. (1277 f.). 83 Nr. 1 des Rundschreibens vom 21. März 2006 (Fn. 81), S. 2 f., mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass die Empfehlungen in dem vom Bundesministerium der Justiz herausgegebenen Handbuch der Rechtsförmlichkeit (Fn. 6), die in Rn. 322, Rn. 323 Satz 2 bis 4, Rn. 704 bis 708 und schließlich in Rn. 840 enthalten sind, nicht mehr anzuwenden sind.

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forderlich betrachtet worden, weil angesichts der bislang angenommenen Gesetzesqualität der gesetzgeberischen Verordnungsänderungen ohne eine solche Bestimmung der Verordnungsgeber sein Verordnungsrecht zukünftig mehr nicht in vollem Umfang hätte ausüben können; doch nach den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts komme den vom Gesetzgeber vorgenommenen Änderungen im Verordnungsrecht ohnehin von vornherein Verordnungsrang zu. Daher sei eine Rückkehr zum einheitlichen Verordnungsrang fortan nicht mehr erforderlich. Damit wird zukünftig, anders als bislang,84 auf die „Verordnungsänderung durch Gesetz“ keine Ermächtigung der Exekutive zur „Gesetzesänderung durch Rechtsverordnung“ mehr folgen. Die zweite Empfehlung des Rundschreibens setzt sich mit dem Ausmaß gesetzlich vorgenommener Verordnungsänderungen auseinander. Empfohlen wird diesbezüglich, derartige Änderungen „auf das unmittelbar durch die Änderungen im Gesetzesrecht veranlasste Ausmaß“ – und damit auf sog. Folgeänderungen – zu beschränken.85 In der Konsequenz der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung sei die Änderung einer Verordnung durch Gesetz „unabhängig vom Anliegen des Gesetzgebungsvorhabens ausdrücklich nicht mehr zulässig“. Auch wenn sich das Bundesverfassungsgericht nicht näher dazu geäußert habe, wann eine Verordnungsänderung als unabhängig vom Gesetzgebungsanliegen anzusehen sei bzw. dem Sachbereich der Gesetzesänderungen nicht mehr zugerechnet werden könne, sei die bundesverfassungsgerichtlich vorgenommene Grenzziehung doch zu beachten. Die dritte Empfehlung des Rundschreibens weist auf die Konsequenz der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung hin, dass eine Rechtsverordnung durch den Gesetzgeber nur im Rahmen einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage geändert werden darf.86 Zwar habe das Bundesverfassungsgericht offen gelassen, welche Folgen eine über die Ermächtigungsgrundlage hinausgehende gesetzliche Verordnungsänderung habe, doch da nicht auszuschließen sei, dass derartig „überschießende“ Änderungen künftig als nichtig betrachtet würden, seien die Grenzen der Ermächtigungsgrundlage einzuhalten. Allerdings erscheine es durchaus vertretbar, dass der Gesetzgeber in einem Änderungsgesetz Modifizierungen von Verordnungsrecht im Rahmen solcher Ermächtigungsgrundlagen vornehme, die er erst in dem betreffenden Gesetz ändere oder schaffe. Zwar habe sich das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen nicht unmittelbar zur Statthaftigkeit einer solchen, den Änderungsspielraum des Gesetzgebers wesentlich erweiternden Vorgehensweise geäußert, hierfür spräche aber, dass der Gesetz84 85 86

Hierzu oben näher sub II. Nr. 2 des Rundschreibens vom 21. März 2006 (Fn. 81), S. 3. Nr. 3 des Rundschreibens vom 21. März 2006 (Fn. 81), S. 3 f.

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geber seine Legitimation anders als der Verordnungsgeber nicht erst aus einem einfachen Gesetz, sondern unmittelbar aus dem Grundgesetz beziehe, „so dass es für ihn nicht darauf ankomm[e], dass die Ermächtigungsnorm zum Zeitpunkt der Verordnungsänderung bereits in Kraft [getreten sei]“. Zudem komme dem bundesverfassungsgerichtlich anerkannten praktischen Bedürfnis, sowohl das förmliche Gesetz als auch darauf beruhende Verordnungen in einem einheitlichen Vorgang zu ändern, gerade dann besonderes Gewicht zu, wenn bestehendes Verordnungsrecht im Rahmen komplexer Änderungsvorhaben aufgrund neuer bzw. geänderter Ermächtigungsnormen anzupassen sei. Die vierte Empfehlung des gemeinsamen Rundschreibens des Bundesministeriums des Innern und der Justiz vom 21. März 2006 greift die oben87 bereits in anderem Kontext aufgeworfene Frage auf, ob „der Erlass ganzer Rechtverordnungen in einem Gesetz“ Bestandteil der Staatspraxis werden soll. Die diesbezügliche Empfehlung geht zunächst dahin, dass ein solcher vollständiger Neuerlass bis auf weiteres unterbleiben „soll“. Auch wenn sich das Bundesverfassungsgericht zum vollständigen Neuerlass einer Verordnung durch den Gesetzgeber nicht geäußert habe, bestehe doch das Risiko, dass die bundesverfassungsgerichtlich für die Änderung von Verordnungen gestellten Anforderungen nicht ohne weiteres auf den Neuerlass übertragbar oder dass weitere Anforderungen zu stellen sein könnten88. Gegen die grundgesetzliche Statthaftigkeit eines Verordnungsneuerlasses durch den Gesetzgeber spreche, dass das Bundesverfassungsgericht in den beiden Entscheidungen aus dem Herbst 2005 lediglich ein Bedürfnis zur Anpassung eines bestehenden Normengefüges anerkannt und mit der Begründung, dass Mischgebilde aus Gesetzes- und Verordnungsrecht rechtsstaatlich nicht hinnehmbar seien, die Voraussetzungen für die Durchbrechung des Grundsatzes der Formenstrenge ausschließlich im Falle gesetzlicher Verordnungsänderungen geschaffen habe. Jenseits dessen sei in praktischer Hinsicht darauf hinzuweisen, dass der Gesetzgeber vor allem deshalb seine Rechtsetzungsbefugnisse auf die Exekutive delegiere, weil er davon ausgehe, dass die zu treffenden Regelungen durch den Verordnungsgeber sachnäher getroffen würden. Daher solle mit der Entscheidung des Gesetzgebers über eine Ermächtigungsnorm auch weiterhin die Konsequenz verbunden bleiben, dass der ermächtigte Verordnungsgeber den Regelungsauftrag regelmäßig und als erster Regelungsbefugter ausführe. Schließlich geht die letzte Empfehlung des Rundschreibens dahin, dass die bisherige rechtsförmliche Gestaltung des Artikels eines Änderungsgesetzes, durch das eine Verordnung geändert werde, beibehalten werden solle.89 87 88

Sub IV. 4. Nr. 4 des Rundschreibens vom 21. März 2006 (Fn. 81), S. 4.

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Insbesondere – so das Rundschreiben – folge aus der bundesverfassungsgerichtlichen Bindung des verordnungsändernden Gesetzgebers an die Ermächtigungsgrundlage nicht, dass einer Verordnungsänderung in einem Gesetz eine Eingangsformel voranzustellen sei, die die Ermächtigungsnorm angebe. Zwar habe sich das Bundesverfassungsgericht zu der Frage, ob der verordnungsändernde Gesetzgeber die maßgeblichen Ermächtigungsgrundlagen wie ein Verordnungsgeber angeben müsse, nicht geäußert, doch die diese Angabe vorschreibende Bestimmung des Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG sei ausschließlich an den Verordnungsgeber adressiert und diene dessen funktionaler und inhaltlicher Legitimation – ein Zweck, der bei der gesetzgeberischen Änderung von Verordnungsrecht leer laufe, da der Gesetzgeber anders als der Verordnungsgeber in den Grenzen des Grundgesetzes ohnehin über eine originäre Rechtsetzungskompetenz verfüge, die er nicht nachweisen müsse. VI. Schlussbemerkungen Mit den vorstehend skizzierten Modifizierungen wird die bisherige Staatspraxis der gesetzlichen Verordnungsänderung langfristig zu einer dritten Form der Rechtsetzung zwischen Gesetz und Rechtsverordnung heranwachsen, auch wenn es im Vorfeld der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen erste Anzeichen für ein Überdenken dieser Form der Rechtsanpassung gegeben hatte.90 Obgleich die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 13. und vom 27. September 2005 inhaltlich nicht überzeugen können, werden sie daher in der Staatspraxis dazu führen, dass der nunmehr eröffnete dritte Weg der Rechtsetzung fortan häufig beschritten werden wird und dass die neue Rechtsquelle des „im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren geschaffenen Verordnungsrechts“ zukünftig wohl noch stärker „sprudeln“ wird als bislang: Die „Legislativverordnung“ wird sich, wenn die Anzeichen nicht täuschen, staatspraktisch etablieren. Das ist bedauerlich, denn die bundesverfassungsgerichtliche Prüfung der gesetzlichen Verordnungsänderung hätte die Chance geboten, sich für die 89

Nr. 5 des Rundschreibens vom 21. März 2006 (Fn. 81), S. 4 f. Das Bundesministerium der Justiz etwa hat die hier beleuchtete Staatspraxis der „Verordnungsänderung durch Gesetz“ und der nachfolgend ermöglichten „Gesetzesänderung durch Verordnung“ in der zweiten Auflage des von ihm herausgegebenen Handbuchs der Rechtsförmlichkeit (Fn. 6), das gem. § 42 Abs. 4 GGO für die Erstellung von Gesetzesvorlagen der Bundesregierung maßgeblich ist, deutlich kritischer bewertet als in der Vorauflage. So weist es in Rn. 323 ausdrücklich darauf hin, dass zwar eine bestehende Rechtsverordnung durch Gesetz geändert werden könne, wenn dies im Einzelfall erforderlich sei, rät aber dazu, Verordnungen zukünftig zur Vermeidung des dabei entstehenden Nebeneinanders von Gesetzes- und Verordnungsrecht möglichst im Verordnungswege zu ändern. 90

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rasche und zuverlässige Anpassung des Verordnungsrechts an eine Änderung des zugehörigen Gesetzesrechts auf eine verfahrenspraktische Alternative zu besinnen, die der Intention der bisherigen Staatspraxis wie auch den bundesverfassungsgerichtlichen Vorgaben vollauf genügt.91 Denn dem Gesetzgeber steht es nach allgemeiner und zutreffender Ansicht frei, den Verordnungsgeber (ermächtigungs-)gesetzlich nicht nur zur Anpassung des untergesetzlichen Verordnungsrechts an gesetzgeberisch geänderte Gesetzeswerke zu ermächtigen, sondern ihn hierzu auch anzuweisen, d. h. zu verpflichten – ggf. mit einer gesetzlichen Terminbestimmung für das Inkrafttreten der Verordnungsanpassungen; eine solche Verpflichtung zur Anpassung des Verordnungsrechts kann gesetzgeberisch mit ebenso detaillierten wie verbindlichen Auflagen für die sachliche Ausgestaltung der Verordnungsmodifizierung verbunden werden. Derartig konkretisierte, inhaltliche gesetzgeberische Anweisungen an den Verordnungsgeber kann der Gesetzgeber überdies mit einem einheitlichen Inkrafttreten sowohl des reformierten Gesetzes als auch des angepassten Verordnungsrechts verbinden, so dass sichergestellt werden kann, dass die Änderungen einer Rechtsverordnung gleichzeitig mit der Reform des zugehörigen Gesetzes in Kraft treten. Erreicht werden kann dies durch einen Rückgriff auf ein der Staatspraxis seit langem bekanntes und von ihr detailliert ausgeformtes Instrument, das auch sonst immer dann zum Einsatz kommt, wenn für die Anwendbarkeit eines Gesetzes der vorherige bzw. gleichzeitige Erlass von Rechtsverordnungen erforderlich ist; denn auch in derartigen Fällen kann es sich als notwendig erweisen, die Rechtsverordnungen frühzeitig vorzubereiten und gleichzeitig mit dem ermächtigenden Gesetz in Kraft treten zu lassen.92 Da Rechtsverordnungen indessen erst ausgefertigt und verkündet werden dürfen, wenn eine Ermächtigungsnorm in Kraft getreten ist, lässt der Gesetzgeber im Falle einer solchen, für die Verordnungsgebung erwünschten bzw. benötigten „Vorlaufzeit“ die gesetzliche Norm, die zum Verordnungserlass ermächtigt bzw. anweist, sofort – d. h. am Tage nach der Verkündung des Gesetzes –, die übrigen Bestimmungen des gesetzlichen Änderungswerkes indessen erst zu einem anderen (späteren) Zeitpunkt in Kraft treten, zu dem dann auch bereits zeitgleich das zugehörige Verordnungsrecht Geltung erlangt; der Gesetzgeber erreicht dies durch die Aufnahme einer Bestimmung in das Änderungsgesetz, die ein sog. gespaltenes Inkrafttreten anordnet.93 91 Hierzu bereits Uhle, Verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle von Gesetzesrecht? (Fn. 11), S. 1272 ff. (1278 f.). Vgl. nunmehr auch Brosius-Gersdorf, Der Gesetzgeber als Verordnungsgeber (Fn. 12), sub V. 3. 92 Zu den Einzelheiten dieser Vorgehensweise s. das vom Bundesministerium der Justiz herausgegebene Handbuch der Rechtsförmlichkeit (Fn. 6), Rn. 459.

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Dieses sog. gespaltene Inkrafttreten, bei dem für Teile desselben Gesetzes in dessen Schlussvorschrift verschiedene Inkrafttretenszeitpunkte bestimmt werden können, kann auch in der Konstellation, in der mit der Reform des Gesetzesrechts zugleich das zugehörige Verordnungsrecht an die neue Gesetzeslage angepasst werden soll, problemlos zur Anwendung gebracht werden. Hierdurch kann sichergestellt werden, dass Gesetzes- und Verordnungsänderung gleichzeitig in Kraft treten. Durch eine frühzeitige Einbeziehung des jeweiligen Verordnungsgebers in das zur Gesetzesänderung führende Gesetzgebungsverfahren – die für die Bundesregierung bzw. den jeweiligen Bundesminister ohnehin bereits aufgrund der Vorschriften der GGO über die Beteiligung im Gesetzgebungsverfahren vorgeschrieben ist94 – kann dabei ermöglicht werden, dass die erforderlichen Modifizierungen einer Verordnung parallel zum Gesetzgebungsverfahren vorbereitet und nach dem Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens unverzüglich fertig gestellt werden. Sie können dann regelmäßig bereits am Tage nach dem Inkrafttreten der gesetzlichen Ermächtigungs- bzw. Anweisungsnorm oder zu einem späteren Zeitpunkt gemeinsam mit den Bestimmungen der eigentlichen Gesetzesreform zeitlich Geltung erlangen, so dass Verzögerungen vermieden werden.95 Für eine solche Verfahrensweise spricht, dass mit ihr zum einen dem Anliegen der Staatspraxis Rechnung getragen werden kann, Reformen des Gesetzesrechts mit einer raschen, verlässlichen sowie sachlich der gesetzgeberischen Intention entsprechenden Anpassung des Verordnungsrechts zu verbinden; zum anderen fügt sich diese Vorgehensweise bruchlos den Vor93

Zum sog. gespaltenen Inkrafttreten allgemein Bundesministerium der Justiz (Fn. 6), Rdnr. 452 ff. Die Schlussbestimmungen derartiger Gesetze formulieren unter der Überschrift „Inkrafttreten“ regelmäßig: „Vorschriften dieses Gesetzes, die zum Erlass von Rechtsverordnungen ermächtigen, treten am Tage nach der Verkündung in Kraft. Im übrigen tritt dieses Gesetz am . . . in Kraft“. Vgl. hierzu Bundesministerium der Justiz (Hrsg.) Handbuch der Rechtsförmlichkeit, 1. Auflage 1991, Rn. 289. 94 Vgl. §§ 42 ff. (Gesetzesvorlagen der Bundesregierung), § 56 (Gesetzesvorlagen des Deutschen Bundestages), § 57 (Gesetzesvorlagen des Bundesrates) GGO vom 30. August 2000, GMBl., S. 525. 95 Die Befürchtung derartiger Verzögerungen ist für das Bundesverfassungsgericht einer der Gründe, ein praktisches Bedürfnis für gesetzliche Verordnungsänderungen anzuerkennen und auf dieser Grundlage die Rechtsquelle der „Legislativverordnung“ zu installieren; vgl. BVerfGE 114, 196 (235) im Anschluss an entsprechende Ausführungen bei Sendler, Verordnungsänderung durch Gesetz und „Entsteinerungsklausel“ (Fn. 8), S. 423 ff. (425). Sendler allerdings war die hier erörterte verfahrenstechnische Alternative offenkundig unbekannt, denn seine Bedenken, die „Verpflichtung der Exekutive zur Anpassung des Verordnungsrechts an das umgestaltete Gesetzesrecht könnte keine Regelung aus einem Guss schaffen und erst geraume Zeit nach dem Artikelgesetz in Kraft treten“ (a. a. O., S. 425), sind bei Kenntnis des hier skizzierten Instruments des sog. „gespaltenen Inkrafttretens“ eines Artikelgesetzes nicht aufrechtzuerhalten.

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gaben des Grundgesetzes für die Rechtsetzung durch Gesetz und Verordnung ein und macht den Rekurs auf neue Rechtsquellen überflüssig: Denn bei einer derartigen Vorgehensweise programmiert die Legislative, wie von Art. 80 Abs. 1 GG intendiert, die verordnungsgeberische Rechtsetzung durch Gesetz, überlässt indessen den eigentlichen Verordnungserlass, wie verfassungsrechtlich vorgesehen, der Exekutive und macht so die Figur der „Legislativverordnung“ obsolet. Zudem spricht für die hier skizzierte Vorgehensweise, dass der Gesetzgeber mit ihr vermeidet, sich nicht selbst jener Vorteile der Verordnungsgebung zu berauben, die – vor allem im Hinblick auf die mit der Rechtsverordnung verbundene Entlastung des Gesetzgebers sowie die Sachnähe des Verordnungsgebers – für ihn das Motiv der ursprünglichen Delegation von Rechtsetzungsmacht auf die Exekutive dargestellt haben. Auch wird bei einer derartigen Verfahrenstechnik das Vertrauen in den Verordnungsgeber, das die Legislative bei der ursprünglichen Delegation der Rechtsetzungsmacht auf die Exekutive bewiesen hat, in systemkonformer Weise erneut bestätigt und nicht – wie bei der Staatspraxis der gesetzlichen Verordnungsänderung – durch ein gesetzgeberisches Misstrauen gegenüber der Exekutive ersetzt, das sich in der gesetzlichen Ersatzvornahme der Verordnungsanpassung manifestiert. Schließlich wird mit der skizzierten Vorgehensweise auch der Rückgriff auf einen vermeintlich dritten Weg der Rechtsetzung und die hiermit verbundene, dogmatisch nicht überzeugende Konstruktion der „Legislativverordnung“ als einer neuen Rechtsquelle, zu deren Hervorbringung sich das Bundesverfassungsgericht veranlasst gesehen hat, entbehrlich: Die Staatspraxis kann dann nicht nur – wie bereits durch die Empfehlungen der Bundesregierung vom 21. März 2006 geschehen – ohne jeglichen Verlust an Steuerungsfähigkeit von der Praxis der Ermächtigung zur „Gesetzesänderung durch Verordnung“, sondern auch von der zuvor erfolgenden „Verordnungsänderung durch Gesetz“ Abschied nehmen. Auch wenn das Bundesverfassungsgericht mit seinen vorstehend beleuchteten Entscheidungen bedauerlicherweise die Gelegenheit versäumt hat, einer derartigen Rückbesinnung auf die verfassungsrechtlich vorgesehenen Formen der Rechtsetzung durch Gesetz und Rechtsverordnung den Weg zu ebnen, so steht doch einer gleichwohl erfolgenden Rückbesinnung der Staatspraxis nichts entgegen: sie bleibt auch nach der bundesverfassungsgerichtlichen Judikatur zur „Legislativverordnung“ ohne weiteres möglich – und, wie die offenkundigen dogmatischen Schwächen einer solchen gemischten Rechtsquelle belegen, auch wünschenswert.

Kinderrechte Ein Beispiel für die globale Herausforderung des Rechts Von Hans F. Zacher 1989, vor achtzehn Jahren also, haben die Vereinten Nationen ein „Übereinkommen über die Rechte des Kindes“ verabschiedet und zum Beitritt aufgelegt.1 Seit 1992 gilt es auch für die Bundesrepublik.2 Die Reaktionen in unserem Lande gingen weit auseinander. Die einen hielten das Dokument für irrelevant. Die anderen sahen darin einen wesentlichen Fortschritt sowohl des Rechts als auch der Lebenssituation der Kinder. Und manche von ihnen machten dieses Urteil vor allem daran fest, dass endlich auch ein „Recht des Kindes auf Spiel und altersgemäße aktive Erholung“ festgeschrieben ist (Art. 31 des Übereinkommens3). Mit Streifzügen durch die Kinderspielplätze suchten die Medien, ihren Beitrag zur Verwirklichung der „Kinderrechte“ zu leisten. Doch Ironie beiseite: Jedenfalls gibt es eine Weltrechtsordnung für die Kinder.4 140 von 192 möglichen Unterzeichnerstaaten haben sie bisher ratifiziert.5 1 Dorsch, Gabriele, Die Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes, Berlin 1994; Verschraegen, Bea, Die Kinderrechtekonvention, 1996; Lorz, Ralph Alexander, Der Schutz von Kindern durch die UN-Kinderkonvention, Aus Politik und Zeitgeschichte B 17–18, 2000, S. 30. 2 Stöcker, Hans A., Die UNO-Kinderkonvention und das deutsche Familienrecht, Zeitschrift für das gesamte Familienrecht 1992, S. 245; Ullmann, Christian, Erwiderung zu dem Beitrag von Stöcker, ebenda, S. 892; Stöcker, Hans A., ebenda, S. 895; Meng, Werner, Anwendung völkerrechtlicher Konventionen und Kinderrechte im Deutschen Recht, in: Koeppel, Peter (Hrsg.), Kindschaftsrecht und Völkerrecht. 1996, S. 5; Klein, Eckart, Die völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands und ihre Bedeutung für die drei Staatsgewalten, in: ebenda S. 31; Die Defizite im deutschen Kindschaftsrecht, gemessen an der UN-Kinderrechtskonvention, in: ebenda S. 103; Singhammer, Johannes, Die kindschaftsrechtlichen Normen und das nationale Recht de lege lata et ferenda, in: ebenda S. 143. 3 Artikel ohne Angabe einer Quelle sind im Folgenden Artikel des Übereinkommens über die Rechte des Kindes. 4 Alston, Philip, Children, International Protection, in: Bernhard, Rudolf, Encyclopedia of Public International Law, Volume 1 1992, p. 573. 5 Stand vom 1. November 2006: Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights, Convention on the Rights of the Child. http://www. ohchr.org/english/countries/ratfications/11.htm.

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I. Das grundsätzliche Problem: Kinderrechte, eine universale Lebensordnung? Mit den „Kinderrechten“ hat die Entwicklung der Menschenrechte eine wichtige Schwelle überschritten. Menschenrechte sind selektiv.6 Sie sind punktuelle Ordnungen, die zentrale Werte in Normen zur Geltung bringen. Deren Ausstrahlung kann die gesamte Rechtsordnung eines Landes durchziehen und prägen. Sie sind das Ergebnis historischer Erfahrungen der Menschen mit ihrem Gemeinwesen und ihrer Gesellschaft. Wenn die Menschen wiederholt und wiederholt Konflikte erfahren haben, in denen der Staat oder andere, vielleicht auch nur faktische Gewaltträger die Menschenwürde verletzt haben, können Menschenrechte entstehen. Menschenrechte sind die Schwielen der menschlichen Würde. Sie schützen dort, wo die Erfahrung der Reibung die Notwendigkeit des Schutzes anzeigt. Aber sie sind nicht die Haut, nicht die Muskeln, nicht die Knochen des Leibes, der da geschützt wird. Je mehr Menschenrechte sich der Allgemeinheit der rechtlichen Ordnung nähern, desto mehr verlieren sie die Fähigkeit, das Besondere – die Werte, denen sie Ausdruck geben, und den Schutz, den sie gewähren sollen, – darzustellen. Diesem Ausnahme-Regel-Verhältnis, das zwischen den Menschenrechten und der Allgemeinheit der Rechtsordnung besteht, steht eine andere Komplementarität gegenüber, die dem Sein des Rechts wesentlich ist: das Gegenüber zwischen dem positiven Recht und den Selbstverständlichkeiten einer Gesellschaft, ihren Vorverständnissen, ihren Gewohnheiten, ihrer öffentlichen Meinung und sonstigen verhaltensleitenden Gegebenheiten,7 schließlich den tatsächlichen Verhältnissen, die mächtiger sein können als alle Normen. Recht wird immer durch Normen und normähnliche Medien der Verhaltenssteuerung ergänzt, die sämtlich nicht positives Recht sind. Und Recht ist immer darauf angewiesen, dass das Verhalten der Menschen auch durch andere Normen und normähnliche Medien der Verhaltenssteuerung gesteuert wird als durch die des positiven Rechts. Recht, dessen Adressaten durch nichts gesteuert wären als eben durch das positive Recht, wäre überfordert und erstickte in Beliebigkeit und Irritation. Nicht weniger wären auch die Adressaten überfordert, deren Verhalten nur von positivem Recht gesteuert würde. Auf welche Weise das positive Recht in diesem Sinne ergänzt wird, ist immer nur begrenzt bekannt, bewusst und kalkulier6

Zacher, Hans F., Grundrechte als Sache der Welt und als Sache der Kirche, in: Böckenförde, Ernst-Wolfgang/Spaemann, Robert (Hrsg.), Menschenrechte und Menschenwürde, 1987, S. 375. 7 Magen, Stefan, Zur Interaktion von Recht und sozialen Normen bei der dezentralen Bereitstellung von Gemeinschaftsgütern, Preprints of the Max-Planck-Institute for Research on Collective Goods 2006/7, 2006.

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bar. Aber wie das positive Recht gestaltet wird, hängt wesentlich davon ab, welche Verhaltensnormen bei der Rechtsetzung bewusst oder unbewusst in Rechnung gestellt werden. Und welche Wirkungen das positive Recht tatsächlich hat, hängt davon ab, auf welche Weise es durch andere Verhaltensnormen ergänzt wird. Die Grenzen, innerhalb derer einerseits das positive Recht gilt und andererseits andere Verhaltensnormen gelten, können, müssen aber nicht übereinstimmen. Die Grundannahme des Nationalstaates ist, dass sie übereinstimmen. Jedoch gibt es viele Gründe dafür, dass sie sich unterscheiden: sowohl indem die nichtrechtlichen Normen und normähnlichen Medien sich auf einen Teil des Staatsgebiets beschränken, als auch dafür, dass sie die Grenzen des Staatsgebiets überschreiten. Ethnische, religiöse und historische Gründe sind die wichtigsten Gründe dafür. So entstehen minoritäre Rechtsräume innerhalb von Nationalstaaten ebenso wie subkontinentale, kontinentale oder sonst wie überstaatliche Rechtsräume, die den mehr oder minder einheitlichen Hintergrund für mehrere nationale Rechte bilden. Damit wird sichtbar, vor welchen Schwierigkeiten universale Menschenrechte stehen. Sie können immer nur im partikularen Kontext wirken.8 Und ihre Geltung steht zu den unterschiedlichen Rechtsräumen in einem unterschiedlichen Verhältnis. Aus dem einen Rechtsraum sind sie herausgewachsen. Sie stehen zur allgemeinen Rechtsordnung in einem stimmigen Ausnahme-Regel-Verhältnis. Und ihre Gestaltung entspricht dem nicht-rechtlichen Umfeld: sei es, indem es dessen Ansätze verstärkt, sei es, indem es den Gegensatz dazu artikuliert. Einem anderen Rechtsraum stehen sie fremd gegenüber. Indem sie seine Regeln verfehlen, verfehlen sie vielleicht auch die spezifische Wirkung der Ausnahme. Vielleicht auch betonen sie Gefährdungen der Menschenwürde, die im partikularen normativen Umfeld auf andere Weise entschärft sind; und vielleicht vernachlässigen sie Gefährdungen der Menschenwürde, die das partikulare Umfeld in besonderer Weise ermöglicht, erleichtert oder anregt. Diese Probleme sind im Zusammenhang mit den Kinderrechten in besonderer Weise relevant.9 Die Werte, die Kinderrechte meinen, werden weithin durch Lebensvollzüge verwirklicht, die das Recht nur aus der Distanz, nur marginal steuern kann. Auch durch Lebensvollzüge, denen es wesentlich ist, dass sie im Kern dem Recht unzugänglich sind. Sie sind individueller Natur. Anders aber als das positive Recht können nicht-rechtliche Normen 8 Pontifical Academy of Social Sciences, Democracy in Debate: The Contribution of the Pontifical Academy of Social Sciences, in: Zacher, Hans F. (ed.), Democracy in Debate, 2005, p. 238 (pp. 300–305). 9 Jayme, Erik, Kulturelle Identität und Kindeswohl im internationalen Kindschaftsrecht, Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts, 1996, S. 237.

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und andere nicht-rechtliche Medien der Verhaltenssteuerung viel weiter in diese Lebensvollzüge eindringen. Das positive Recht ist ihnen in besonderer Weise ausgeliefert. Letztlich aber sind es die Einzelnen und ihre privaten Gemeinschaften, welche der Verwirklichung der Kinderrechte Gestalt geben, die sie erfüllen oder sich ihnen verweigern.

II. Die spezifischen Herausforderungen, wirksame Kinderrechte zu gestalten Einige Zugänge zu dieser Problematik seien hier skizziert. 1. Die Distanz zwischen dem „Kind“ und dem „Recht“ Die Distanz zwischen dem Spezifischen des Kindes und dem Recht lässt sich auf drei Ebenen denken. Erstens einmal auf der Ebene der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit des Kind-Seins hängt so entscheidend von menschlichem Verhalten ab: von Zuwendung, Verständnis, Güte, Geduld, Heiterkeit, Ernst, Strenge. Von der angeborenen Befindlichkeit des Kindes. Von den Eigenschaften und Schicksalen derer, die es versorgen, die seine Welt ausmachen. Von den Umständen. Wieviel davon kann das Recht steuern, verändern oder bewahren? Zweitens lässt sich die Distanz zwischen dem Spezifischen des Kindes und dem Recht auf der Ebene des Rechts denken. Kind sein heißt grundsätzlich, seine Rechte nicht selbst wahrnehmen zu können. Gewiss: es gibt Ausnahmen, Abstufungen. Aber im Allgemeinen werden Kinderrechte von anderen als dem Kind wahrgenommen, vielleicht zusammen mit dem Kind, vielleicht vom Kind zusammen mit jenen anderen. Aber wann vom Kind allein? Drittens entwickelt sich das „Kind“ über die „Kindheit“ hin: von einem Stadium, in dem es unfähig ist, Rechte selbst willentlich auszuüben, über die lange Strecke hin, in denen es sich in die Ausübung seiner Rechte mehr und mehr einbringen kann, bis zu jenem Stadium hin, in dem ihm die Ausübung seiner Rechte überlassen werden kann oder jedenfalls überlassen wird; von einem Stadium, in dem von einer Verantwortung des Kindes für seine Handlungen und Entscheidungen nicht die Rede sein kann, über die lange Strecke hin, in der die Verantwortlichkeit des Kindes wächst und die Konsequenzen dieser Verantwortung sich wandeln, bis zu jenem Stadium, in dem die Verantwortung und ihre Konsequenzen vollständig in die allgemeinen Regeln für die Verantwortung Erwachsener einmünden. Eine wichtige Dimension ist dabei die Einübung von Pflichten, ihrer Wahrneh-

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mung und Anerkennung, ihrer freiwilligen Übernahme, ihrer Erfüllung, aber auch ihrer Verweigerung. Diese Entwicklung lässt sich auch anhand der Inhalte verfolgen, die das Recht zur Geltung bringt. Da ist am Anfang das schlichte Recht zu sein: das Recht auf Leben. Aber auch hier schon der Unterschied zwischen dem, was dieses Recht auf Leben vor der Geburt, und dem, was es nach der Geburt bedeutet. Am Ende der Kindheit soll dann der junge Erwachsene stehen, der fähig ist, alle Rechte, die dem Menschen zukommen, selbstbestimmt auszuüben. Von Anfang an wird das Recht auf Sein durch das Recht auf Gleichheit begleitet: das Recht, nicht benachteiligt, nicht diskriminiert zu werden. Von der Geburt an können einem Kind auch Vermögensrechte zustehen, die von Eltern oder Vormündern an seiner statt wahrgenommen werden. Andere Rechte dagegen wachsen mit dem jungen Leben mit. Sie wandeln sich mit dem Älter-Werden des Kindes. Da ist auf der einen Seite das Recht, gepflegt, betreut, behütet, mit Gütern versorgt, aber auch vor Schaden bewahrt zu werden. Von früh an umschließt das auch das Recht auf Erziehung und Bildung, dessen Erfüllung sich im Laufe der Zeit immer weiter differenziert, sich – wie vor allem in Gestalt des Schulbesuchs – in seinen spezifischen Ausprägungen auch verselbständigt. Da sind auf der anderen Seite die Freiheiten. Sie beginnen mit den naiven Freiheiten, die Umwelt zu erfahren, zu spielen. Aber hinter ihnen wachsen auch jene Freiheiten, die auch den Erwachsenen zustehen. Zunächst durchdringen die Freiheiten und das Recht auf Erziehung und Bildung einander. Mehr und mehr lösen sie sich aus diesem Verbund. Sie werden unabhängig voneinander. Mit all dem geht das Wachstum der Pflichten und der Verantwortung einher. Das Erlernen der Freiheit ist ohne das Erlernen von Pflichten und Verantwortung sinnlos. 2. Die Komplexität der Verhältnisse, in denen sich die Entwicklung des Kindes und seiner Rechte vollzieht Die Entwicklung des Kindes und seiner Rechte vollzieht sich in einem Umfeld von Menschen: von der Individualität von Mutter und Vater bis zur Anonymität der Gesellschaft und der Institutionen. Erstens: Als das natürliche Gegenüber des Kindes gelten seine Eltern. Sie sind die natürlichen Träger des Prozesses des Seins und der Entwicklung ihres Kindes oder ihrer Kinder. Das aber ist ebenso wahr, wie es viel zu einfach gesagt ist. Dass eine Frau und ein Mann gemeinsam Eltern eines oder mehrerer Kinder sind, geht nicht von Natur aus damit einher, dass sie dieses Verhältnis gleich erfahren und einmütig verwirklichen. Das gilt vor der Geburt mit der größten Evidenz. Aber es gilt nach der Geburt nicht we-

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niger. Trotz der Gemeinsamkeit der Beziehung zu einem oder mehreren Kindern sind die beiden Eltern je eigene Personen mit eigenen Rechten und Interessen, aber auch je eigenen Wertvorstellungen und je eigenen Bedingungen, das Kind und die Beziehung zu ihm zu erfahren. Die Möglichkeit einer patriarchalischen (oder auch matriarchalischen) Ordnung der Elternschaft räumt das nicht aus. Im Gegenteil: Sie betont nur, dass Vater und Mutter zweierlei sind. Dass Eltern Personen eigenen Rechts sind, gilt auch im Verhältnis zu den Kindern. Eltern können den Prozess des Seins und der Entwicklung ihres Kindes nur tragen, wenn und soweit sie ihre eigene Persönlichkeit entfalten. Im Kontext der Rechte heißt das: weil und soweit sie Subjekte eigener Rechte sind und indem sie diese Rechte verwirklichen. Aber sie sind mitnichten nur noch Eltern. Sie leben auch – schlimmstenfalls nur – ihr Leben. Manche leben nur ihr Leben. Und ihre Rechte konstituieren ihre Spielräume. Neben der Komplementarität zwischen dem Eltern-Sein und dem Selbst-Sein stehen Eltern-Sein und Selbst-Sein auch in einem Verhältnis der Konkurrenz, der Rivalität. Das gilt umso mehr, als Elternrecht und Elternpflicht nicht voneinander gelöst werden können. Das Kind-Sein hängt somit auf die vielfältigste Weise von den Rechten der Eltern und ihrem Gebrauch sowie von den Pflichten der Eltern und ihrer Erfüllung ab. Mutter und Kind, Vater und Kind, Eltern und Kind sind der Kern dessen, was eine Familie ausmacht. Sie ist das menschgerechte Nest des Aufwachsens und des Heranwachsens. In diesem Raum soll das junge Leben gedeihen. Der Begriff der Familie benennt jedoch eine Vielfalt von Konstellationen: die Eltern mit ihren gemeinsamen Kindern, einen Elternteil mit seinen Kindern, Eltern mit gemeinsamen und/oder nicht-gemeinsamen Kindern. Er greift auch über die zwei Generationen hinaus: auf Großeltern usw., auf Enkel usw., auf Verwandte in der Seitenlinie und auf Verschwägerte. In allen diesen Zusammenhängen kann ein Potential liegen, in dem sich Kinderrechte verwirklichen – kann sich etwas bilden, was die Kernfamilie ergänzt oder ersetzt. So etwa wenn Großeltern eintreten, um die Sorge für die verwaisten Kinder verstorbener Eltern zu übernehmen. Zweitens: Eltern und Kinder sind miteinander nicht allein. Menschen leben in Gesellschaften und Gemeinwesen. Und so vollziehen sich auch das Aufwachsen eines Kindes und die Sorge seiner Eltern für das Sein und die Entwicklung ihres Kindes im Gesamtzusammenhang von Gesellschaft und Gemeinwesen. Und so soll es auch sein. Der Sinn einer Kindheit besteht nicht darin, den Menschen nach dem alleinigen Maß seiner Eltern zu formen. Der Sinn einer Kindheit ist es, den Menschen zu befähigen, zusammen mit anderen Menschen ein selbstbestimmtes Leben im Kontext der Ge-

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sellschaft und des Gemeinwesens zu führen. Damit eröffnet sich ein weites Feld vielfältiger Komplexität. Gesellschaft und Gemeinwesen ergänzen das Eltern-Kind-Verhältnis in Einzelfällen dort, wo es konkrete Defizite aufweist. Wichtige Beispiele sind Hilfen für die Eltern oder die Kinder, damit sie ihre Rolle optimal ausfüllen, Hilfen für überforderte Eltern, Schutz der Kinder gegen Verwahrlosung und Missbrauch, Unterbringung von Kindern in Pflegefamilien und Heimen, Vormundschaft über Kinder nach dem Tod ihrer Eltern. Gesellschaft und Gemeinwesen ergänzen das Eltern-Kind-Verhältnis aber auch allgemein dort, wo allgemein vermutet werden muss oder wird, dass die Kompetenz und/oder die Leistungsfähigkeit der Eltern nicht ausreichen, den jungen Menschen zu befähigen, zusammen mit anderen ein selbstbestimmtes Leben im Kontext von Gesellschaft und Gemeinwesen zu führen. Das zentrale Beispiel ist das Schulwesen. Andere Beispiele bilden Institutionen der Kinder- und Jugendbetreuung oder auch Jugendverbände. Hier eröffnen sich vielfältige Konstellationen zwischen Harmonie und Konflikt. Angebote dieser Art sind in der Regel durch gewisse Wertorientierungen geprägt. Diese können den Wertorientierungen der Eltern entsprechen. Sie können den Wertorientierungen, insbesondere den Wertnachfragen, der Jugendlichen entsprechen. Das ist vor allem relevant für Jugendliche, die zu einer gewissen Grundrechtsmündigkeit gelangt sind. Die Träger können aber auch versuchen, neutral zu sein und einen Konflikt mit den von den Eltern „mitgebrachten“ oder von den Jugendlichen „selbst gewählten“ Wertorientierungen zu vermeiden. Sie können diese Orientierungen auch bekämpfen, sie unterdrücken. Immer wieder war und ist es auch der Staat, der dazu zwingt. In allen diesen Fällen bedarf es der Maßstäbe, anhand derer das Zulässige vom Unzulässigen unterschieden wird. Werteorientierungen haben im Allgemeinen einen grundrechtlichen Hintergrund. Sie verdienen entsprechend Anerkennung und Rücksicht. Aber auch eine übersteigerte Bekräftigung kann zum Problem werden, wenn sie das Verständnis für Anderssein und Vielfalt erstickt. Noch weitaus vielfältiger ist die Problematik der sonstigen „Miterzieher“10, welche die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen jenseits der institutionellen Angebote begleiten. Die Vielfalt dieser Einflüsse ist immens. Da sind die Massenmedien: sei es, dass sie einen entsprechenden öffentlichen Auftrag wahrnehmen; sei es, dass sie von – gewinnorientierten oder nicht gewinnorientierten – gesellschaftlichen Trägern betrieben werden. Da sind alle die Akteure, Gruppen und Institutionen, die darauf aus10 Zur Problematik der Miterzieher Zacher, Hans F., Elternrecht, in: Isensee, Josef/Kirchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 2. Aufl. 2001, S. 265, Rn. 5–9, 89–95.

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gehen, jeweils andere für ein bestimmtes Lebensmuster, für ein bestimmtes Verhalten, für bestimmte Meinungen, für bestimmte Überzeugungen usw. zu gewinnen. Und da ist das weite und unübersehbare Meer der Einflüsse, die davon ausgehen, dass andere sind, wie sie sind, und tun, was sie tun: dass sie ihre kommerziellen Angebote vorlegen, sich künstlerisch betätigen, ihre Religion ausüben, ihre Freizeit verbringen, einkaufen, konsumieren, sich vergnügen. Diese Einflüsse üben Kinder auf Kinder, Jugendliche auf Jugendliche, Erwachsene auf Jugendliche aus. Diese Einflüsse gehen von Massen auf Einzelne oder von Einzelnen auf Einzelne aus. Diese Fülle der Einflüsse hat ihre Gründe. Sie entspricht den Freiheiten, aus denen die Gesellschaft lebt. Dass Kinder und Jugendliche diese „Miterzieher“ erleben, gehört wesentlich zu ihrem Hineinwachsen in Gesellschaft und Gemeinwesen. Aber zweifellos gibt es Einflüsse, vor denen die Kinder und Jugendlichen bewahrt werden sollen. Wie können die Grenzen gezogen werden? Einmal mehr: Nichts davon ist einfach. 3. Die maximale Variabilität und Labilität der Verhältnisse a) Das Problem Die Komplexität der Zusammenhänge potenziert sich, indem so gut wie alle der aufgezeigten Konstellationen ein hohes Maß an Instabilität aufweisen. Das wichtigste und zugleich gefährdetste Element sind die Beziehungen zwischen den Eltern. Sie können von vorneherein der Klärung oder jedenfalls der Verfestigung entbehren. Sie können in Konflikt übergehen. Sie können sich lösen. Arbeitslosigkeit oder Krankheit können das Zusammenwirken überfordern. Der Tod kann es beenden. Apriorische Defizite oder Verwerfungen der kindlichen Entwicklung können eine Familie grundlegend verändern. Belastungen in der weiteren Familie können die Fähigkeit der Eltern, für die Kinder zu sorgen, beeinträchtigen. Auch die Zahl der Kinder verändert das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern. Konzentriert sich diese Variabilität und Labilität der Verhältnisse auch auf die individuelle Familie, so tragen doch auch Veränderungen in Gesellschaft und Gemeinwesen dazu bei. Wirtschaftliche Not kann die Wirklichkeit des kindlichen Lebens ebenso verändern wie wirtschaftlicher Überfluss. Allgemeine Einstellungen zu Elternschaft und Familie, zu Sexualität und Ehe, zu Konsum und Vorsorge können sich in überschaubarer Zeit nachhaltig verändern. Neue Verhaltensmuster können das Eltern-Kind-Verhältnis ebenso ins Positive wenden wie schwer belasten. Verantwortliche Offenheit und gelassene Rücksicht der „Miterzieher“ kann das Eltern-Kind-Verhältnis harmonisch und fruchtbar ergänzen. Ihre heftige Dynamik kann die Kinder und die Familien schütteln wie ein Sturm.

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b) Exkurs: Einheit oder Vielfalt des „Kindeswohls“? Diese Anfälligkeit der familiären Verhältnisse geht mit einer bedeutsamen Polarität des normativen Konzepts einher. Heute ist allgemein, weithin auch international anerkannt, dass das Kindeswohl der zentrale Wert jeglicher Ordnung der kindlichen Verhältnisse ist. Das wird gemeinhin so verstanden, als ob es ein gleichermaßen umfassendes und in sich geschlossenes normatives Konzept des Kindeswohls gäbe. In Wahrheit handelt es sich um ein dreipoliges Konzept des Kindeswohls: um das Konzept der familiären Verwirklichung des Kindeswohls; um das Konzept der öffentlichen, insbesondere der staatlichen Gewährleistung des Kindeswohls; und um das Konzept der allgemeinen gesellschaftlichen Bedingungen des Kindeswohls.11 • Das Konzept der familiären Verwirklichung des Kindeswohls erwächst aus der doppelten Annahme, dass das Aufwachsen eines Kindes eines intimen privaten Umfeldes bedarf und dass dieses Umfeld in erster Linie eine Sache der leiblichen Eltern ist.12 • Das Konzept der öffentlichen, insbesondere der staatlichen Gewährleistung des Kindeswohls beruht darauf, dass Eltern und Familie allein nicht imstande sind, das Kindeswohl angemessen zu verwirklichen. Einerseits, weil Kompetenz und Leistungsfähigkeit der Eltern, in der Regel auch die Kompetenz der weiteren Familie ganz allgemein nicht ausreichen, das Kindeswohl angemessen wahrzunehmen. Das wichtigste Beispiel ist die Ergänzung der elterlichen Erziehung durch eine öffentliche schulische Erziehung. Andererseits, weil Eltern in einzelnen Fällen fehlen oder versagen können. Etwa wenn Eltern krank oder verstorben oder ihrer besonderen Persönlichkeit wegen unfähig sind, das Kindeswohl zu verwirklichen, sodass karitative Institutionen eintreten oder staatliche Stellen die Substitution durch die Einsetzung von Vormündern, die Unterbringung bei Pflegeeltern oder in Heimen regeln müssen. • In jeder Gesellschaft, die über eine elementare Ursprünglichkeit hinaus entwickelt ist, sind die Lebensvollzüge jedoch über diese Ansätze hinaus differenziert. Das Kindeswohl ergibt sich dann immer auch aus dem komplexen Universum der gesellschaftlichen Verhältnisse. Sie können sich in unspezifischen Gegebenheiten manifestieren – wie etwa in den allgemeinen zivilisatorischen (wirtschaftlichen, infrastrukturellen, sanitären usw.) Umständen. Sie können jedoch auch gezielt auf die Entwicklung der Kinder Einfluss nehmen – wie Religion, Kunst, Sport oder humanitäres En11

Zacher, Elternrecht (Fn. 10) Rn. 1–9, 89–95. Für das deutsche Recht s. Gernhuber, Joachim/Coester-Waltjen, Dagmar, Familienrecht, 6. Aufl. 2006, S. 664, Rn. 30. 12

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gagement auf der einen Seite, kriminelle oder sexuelle Verstrickung auf der anderen Seite. Entgegen der herrschenden Selbstverständlichkeit, die Norm des Kindeswohls sei umfassend und einheitlich, geht nun aber mit jedem dieser Ansätze die Möglichkeit einer anderen normativen Perspektive einher. Darin, wie weit diese Möglichkeiten entfaltet werden, unterscheidet sich die freiheitliche Gesellschaft von einer geschlossenen Gesellschaft, erst recht von dem Staatsvolk eines totalitären Staates. • Die familiäre Verwirklichung des Kindeswohls leitet sich von dem Primat der individuellen Bindung zwischen Eltern und Kindern und ihres privaten Lebensraumes her. Dieser Einbettung entspricht die Autonomie der Familie – und das heißt in einer freiheitlichen Gesellschaft grundsätzlich: der Autonomie der Eltern. Der von ihnen beherrschte Raum der Privatheit erscheint als eine wesentliche Voraussetzung des Kindeswohls. Damit aber wird auch das Kindeswohl selbst Gegenstand der Autonomie. Die Eltern definieren primär selbst das Kindeswohl. Der freiheitliche Staat wird sie dabei ergänzen und begrenzen – nicht mehr. Eine (religiös, politisch oder kraft sonstiger, meist vorfindlicher Gemeinsamkeiten) geschlossene Gesellschaft wird demgegenüber den Eltern ein allgemein verbindliches Bild des Kindeswohls vorgeben. Ein totalitärer Staat wird darin sehr weit gehen. • Die öffentliche, insbesondere staatliche Gewährleistung des Kindeswohls variiert entsprechend dieser Typologie. Im freiheitlichen Gemeinwesen wird sie als dialektisches Gegenüber zur Autonomie der Eltern und der Familie verstanden. Unter der Voraussetzung einer geschlossenen Gesellschaft wird deren Leitbild auch die Autonomie der Eltern prägen. Im totalitären Staat wird die öffentliche Gewährleistung die Autonomie der Eltern minimalisieren. • Nicht minder dramatisch stellt sich das Gefälle hinsichtlich des allgemeinen gesellschaftlichen Umfeldes dar, in dem sich das Kindeswohl konkretisiert. In der freiheitlichen Gesellschaft verwirklicht sich das Kindeswohl inmitten der vielfältigsten Bedingungen und Einflüsse: Bedingungen und Einflüsse, die nicht nur auf die Kinder einwirken, sondern auch auf die Eltern; Bedingungen und Einflüsse, die auch auf die öffentlichen Träger und vor allem die staatlichen Akteure einwirken, die das Kindeswohl im Namen einer Allgemeinheit definieren und garantieren. Diese Vielfalt reduziert sich dort, wo Kinder in einer geschlossenen Gesellschaft aufwachsen. Im totalitären Staat schließlich wird die Reduktion radikal. Diese Vielschichtigkeit des „Kindeswohls“ ist von vielfältiger Relevanz.

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Erstens: Wo immer ein Kinderschicksal sich in einem Umfeld vollzieht, das durch die Gleichzeitigkeit von geschlossenen und freiheitlichen Gesellschaften oder durch die Gleichzeitigkeit mehrerer geschlossener Gesellschaften gekennzeichnet ist, kann es zum Konflikt kommen. Nicht weniger kann es zum Konflikt kommen, wenn ein Kinderschicksal sich in einem totalitären Staat vollzieht, während Eltern und Kind einer gesellschaftlich geschlossenen Minderheit angehören, deren Leitbild von denen des totalitären Staates abweicht. Ebenso kann es schließlich zum Konflikt kommen, wenn ein Kinderschicksal sich in einer Familie vollzieht, deren Leitbild vom Umfeld einer gesellschaftlich geschlossenen Mehrheit oder eines totalitären Staates abweicht. Zweitens: Die vorgenannten Konstellationen waren dadurch gekennzeichnet, dass die kategoriale Situation sowohl des Kindes als auch der Gesellschaft und des Staates grundsätzlich unverändert bleibt. Reibungen, Spannungen und Konflikte ergeben sich dagegen dann, wenn das Kind (allein oder mit seiner Familie, insbesondere seinen Eltern) von einem Umfeld in ein anderes wechselt: aus einem totalitären Staat oder einem sonst wie geschlossenen Milieu in eine freiheitliche Gesellschaft; aus einer freiheitlichen Gesellschaft in einen totalitären Staat oder eine sonst wie geschlossene Gesellschaft; aus einem totalitären Staat in einen anderen, aus einer geschlossenen Gesellschaft in eine andere. Reibungen, Spannungen und Konflikte sind aber auch dort möglich, wo die Kinder und ihre Familien von einer konkreten freiheitlichen Gesellschaft in eine andere konkrete freiheitliche Gesellschaft wechseln. Mag sich hier wie dort die Wirklichkeit des Kindeswohls aus einem Zusammenspiel von elterlicher Autonomie, staatlicher Gewährleistung und offener Gesellschaft der „Miterzieher“ ergeben, so kann das hier wie dort sehr Unterschiedliches bedeuten. Drittens: Darüber hinaus hat sich in den zeitgenössischen Gesellschaften eine weitere Tendenz der „Veröffentlichung“ des Kindeswohls ergeben – allgemein, ganz besonders aber in freiheitlichen Gesellschaften. Im Zuge der Individualisierung und der Bindungsfeindlichkeit moderner Gesellschaften haben Elternschaft, Ehe und Familie an innerer Geschlossenheit und Stabilität verloren. Immer öfter ist der Staat (oder sind ergänzend andere öffentliche Institutionen) berufen, Funktionen der Eltern zu substituieren (oder auch durch gesellschaftliche Kräfte substituieren zu lassen): gemeinsame Entscheidungen zu vermitteln oder zu ersetzen, Leistungen defizitärer Elternteile zu erwirken oder zu ersetzen usw. Die Selbstverständlichkeit, mit der heute Behörden und Richter von einem objektiven, allgemeinen Bild des Kindeswohles ausgehen, ist eine Folge dieser Entwicklung. Dass es zunächst darum gehen muss, den Raum der Elternschaft und der Familie als die „Wiege“ des Kindeswohls zu respektieren, zu entfalten, auch zu fördern, wird dahinter leicht verdrängt.

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c) Zurück zum Duktus: Variabilität und Labilität auch in der Praxis des „Kindeswohls“ Verständnis und Praxis des „Kindeswohls“ müssen der Vielfalt der Lebenssituationen Rechnung tragen. Dass das Recht auf die Vielfalt der Herausforderungen mit einer einzigen Formel antwortet, ist in erster Linie ein Indiz für das Ausmaß der Komplexität, die sich einer differenzierenden Benennung entzieht, nicht dagegen ein Indiz für die Einfachheit der Antworten. In der Tat hat das positive Recht ja auch die Möglichkeit, einzelne Probleme durch spezifische Regelungen anzugehen. Und die nationalen Rechtsordnungen machen davon mit unterschiedlichster Intensität Gebrauch. Wo solche spezifischen Regelungen aber fehlen, bleibt der Auftrag der Rechtsanwender, die Lücke vom Gesamtzusammenhang der Rechtsordnung her zu schließen. Und die Formel vom „Kindeswohl“ ist ein zentraler Satz dieses Auftrags. Dass dieser Satz das „Kind“ in den Vordergrund stellt, darf aber die Bedeutung nicht verdecken, welche die Eltern und die Familie für das Kindeswohl haben. Der Bogen der Probleme bleibt also weit gespannt: von der kraftvollen Verortung, die das Kindeswohl in einer stabilen, leistungsfähigen Elternschaft und Familie finden kann und soll, bis zu der Vielfalt der Gefährdungen und Defizite, die sich ergeben, wenn der Kosmos von Ehe und Familie unvollständig wird, wenn die Rollen der Beteiligten (vor allem der Eltern) nicht erfüllt werden, wenn ihr Zusammenwirken durch Veränderungen kompliziert wird, wenn Elternschaft und Familie durch Konflikte an Wirksamkeit einbüßen, wenn sonst wie die Funktionen von Elternschaft, Kindschaft und Familie ausfallen oder irritiert werden. 4. Die hochgradige Einzigartigkeit, zu der sich die Komplexität in ethnischen oder religiösen Gemeinschaften, in gesellschaftlichen Schichten, in lokalen, regionalen oder nationalen Einheiten zu konkreten tatsächlichen und normativen Verhältnissen reduzieren kann So unübersehbar groß und wesentlich die Komplexität der Sache, die mit Kinderrechten gemeint ist, a priori ist, so verbreitet ist, dass gemeinsame Traditionen, religiöse Gebote, Ideologien und soziale Normen gerade im Bereich von Elternschaft, Kindschaft und Familie zu zwingenden Verhaltensmustern führen. So indem traditionelle, religiöse, ethnische, ständische, regionale oder lokale Massen sozialer Normen individuelle Freiheiten und Verantwortlichkeiten erdrücken. So, indem Verhaltensregeln und Erziehungsprogramme invariabel von außen kontrolliert werden. So, indem die Großfamilie die Autonomie der Eltern-Kind-Gemeinschaft überwölbt und Patriarchen, Matriarchinnen oder Familienräte die Optionen der Eltern und der Kinder an ihrer Stelle wahrnehmen. So etwa, wenn die schulischen und be-

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ruflichen Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder durch die Stellung der Eltern, durch die Geschwisterfolge usw. nicht nur tatsächlich, sondern normativ begrenzt sind. Religiöse Gemeinschaften sehen darin göttliche Gebote. Ethnische Mehrheiten oder Minderheiten behaupten und entfalten nicht selten auf diese Weise ihre Identität. Soziale Schichten sehen darin ihre „Ehre“. Lokale, regionale oder auch nationale Einheiten folgen ihren Überlieferungen und bewahren so ihre Eigenart. Aber auch freiheitliche Gesellschaften haben Raum für Neubildungen ähnlicher Art. Inmitten ihrer gestaltlosen Offenheit vermitteln Moden den Anschein einer Orientierung, die für viele zum Zwang, wenigstens aber zur Rechtfertigung werden kann. Bürgerliche Milieus konnten sich in dieser Weise verdichten. Gegenwärtig mag die Tendenz, dass Kinder in einer Lebensgemeinschaft ihrer Eltern aufwachsen, ohne dass diese in die Ordnung einer Ehe eintreten, mehr und mehr normähnlichen Charakter erlangen. Diese Normen mögen als eine „De-Komplikation“ erscheinen. Sie scheinen das Leben ihrer Adressaten zu vereinfachen. Zumeist freilich fehlt diesen Normen die Kultur der Auseinandersetzung, der Klärung und der angemessenen Differenzierung. Da es an Mechanismen der Auseinandersetzung fehlt, tritt an die Stelle der Unterscheidung zwischen „richtig“ und „falsch“ weitgehend der soziale Zwang. Vorurteile können zu den entscheidenden Kriterien werden. Und Meinungsmacher, Parteigänger oder urteilsblinde Mehrheiten können zu Entscheidern werden. Erst recht von einem weiteren – etwa einem nationalen – Zusammenhang her betrachtet weicht der Eindruck der „De-Komplikation“ der Einsicht der Komplikation. Die weitere rechtliche Ordnung tritt in Konflikt mit einer – in der Regel – imperfekten sozialnormativen Ordnung. Und den Raum, den die Rechtsordnung der Freiheit und der Verantwortung des Einzelnen gewährt, füllt die Unterwerfung unter eine soziale Norm. An die Stelle der – vielleicht nur vermeintlichen – Sicherheit der Betroffenen, das partikular „Rechte“ zu tun, tritt die Unsicherheit darüber, was die allgemeinere Rechtsordnung anerkennt oder missbilligt. Dass alle diese Unvollkommenheiten die Schwächeren in der Regel mehr belasten als die Stärkeren – im Zweifel also die Mütter mehr als die Väter und die Kinder mehr als die Erwachsenen –, ist offensichtlich.

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5. Die Verwerfungen, die sich ergeben, wenn Kinder, Eltern oder Familien gemeinsam oder getrennt Grenzen überschreiten a) Allgemeines Die Herausforderungen, die sich aus all dem an das Recht – die allgemeine normative Ordnung und ihre konkretisierende Praxis – ergeben, steigern sich ein weiteres Mal, wenn Kinder Grenzen überschreiten: mit ihren Eltern, mit ihren Familien oder getrennt von ihnen. Das kann jegliche Grenze sein, die den Geltungsbereich einer Ordnung von dem Geltungsbereich einer anderen Ordnung trennt: also rechtliche, ethnische, religiöse, sozialständische, regionale und lokale Grenzen, Grenzen der Herkunft oder einer Rasse. Wo immer ein Kind – allein oder mit seinen Eltern oder seiner weiteren Familie – die Grenze zwischen einer Ordnung und einer anderen Ordnung überschreitet, wird es zum Schwächeren. Vielleicht weil schon die Frage des Einschlusses zweifelhaft ist. Vielleicht, weil es an Normen fehlt, die klären, wie viel von der mitgebrachten Ordnung noch maßgeblich sein kann. Vielleicht, weil der Umgang mit der Ordnung, in die das Kind, die Eltern oder die Familie eintreten, nicht vertraut ist. Mit der größten Wahrscheinlichkeit auch, weil es sich in der Situation der Vereinzelung oder der Minderheit befindet. b) Die transnationale Wanderung Mit besonderer Entschiedenheit gerät die Grenzüberschreitung zur Gefahr und zum Nachteil, wenn die Grenze, die überschritten wurde, nationaler und damit auch positivrechtlicher Natur ist. Eine Zeit der globalen Wanderung kennt die vielfältigsten Gründe dafür: Freizügigkeit, Ausschau nach einem besseren Leben, Suche nach Arbeit, Nahrung oder Unterkunft, aber auch Katastrophen, Vertreibung, Unterdrückung, Flucht und Rettung des nackten Lebens. Und Kinder haben gerade in diesem Kontext die vielfältigsten Schicksale. Sie werden mitgenommen: von den Eltern, von Verwandten, von anderen. Und sie werden zurückgelassen. Sie werden allein auf den Weg gebracht. Und sie machen sich allein auf den Weg. Sie werden entführt, werden verkauft. Ihre Eltern werden getötet, eingekerkert, versklavt. Aber selbst wenn sie unter friedlichen Umständen in ein anderes Land kommen, erleiden sie die vielfältigsten Verwerfungen. Ist doch nur zu oft schon die Frage des Zugangs und des Einschlusses prekär. Kommt zur Überschreitung der rechtlichen Grenze doch nur zu oft auch die Überschreitung ethnischer, religiöser, sozialer, sprachlicher, zivilisatorischer, kultureller usw. Grenzen. Ist doch in aller Regel auch der Nachteil der Vereinzelung oder der Minderheit gegeben.

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III. Die Versuche, eine grundrechtliche Antwort zu geben Die Versuche, auf diese Fragen grundrechtliche Antworten zu geben, beginnen spät. Und sie setzen nicht bei den Kindern an, sondern bei den Eltern, den Müttern, den Familien, den Institutionen der Erziehung usw. Das Kind als spezifisches Subjekt von Grund- und Menschenrechten ist eine sehr späte Erscheinung. Und immer wird die besondere Schwierigkeit deutlich, der extremen Vielfalt der Lebenslagen, ihrer Entwicklung und ihrer Bewertung durch zentrale Aussagen gerecht zu werden. Umso bedeutsamer ist, dass sich gerade die internationale Gemeinschaft der Rechte der Kinder angenommen hat. IV. Die Versuche, eine universale Antwort zu geben 1. Die Vorläufer Die Bemühungen, der Sorge für die Kinder einen universalen Ausdruck zu geben, begannen13 1920 mit einer Erklärung der Rechte des Kindes, die vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz beschlossen wurde. Sie artikulierte ein eindrucksvolles elementares humanitäres Programm. 1923 nahm die Versammlung des Völkerbundes eine entsprechende Erklärung an: die (erste) Genfer Erklärung. 1942 veröffentlichte die Internationale Liga für eine neue Erziehung einen ähnlichen Text: die „Londoner Erklärung“. Ihr neuer Akzent lag darin, nicht mehr von den Pflichten der Gesellschaft gegenüber den Kindern, sondern von den Rechten der Kinder zu sprechen. 1948 rief die Internationale Union für den Schutz der Kinder die Inhalte der frühen Dokumente mit einer neuen (der zweiten) Genfer Erklärung in Erinnerung. Im gleichen Jahr verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Sie berührt die Thematik freilich nur sehr selektiv. Sie spricht von der Unterstützung für Mutter und Kind (Art. 25 Nr. 2 Satz 1), von der Gleichheit ehelicher und nichtehelicher Kinder (Art. 25 Nr. 2 Satz 2), vom Recht auf Bildung (Art. 26 Nr. 1) und vom vorrangigen Recht der Eltern, die Art der Bildung ihrer Kinder zu bestimmen. Dem folgte 1959 eine weitere – rechtlich nicht verbindliche –, nun aber spezifische Deklaration der Generalversammlung: die Erklärung der Rechte des Kindes. Zehn Grundsätze werden artikuliert: die Absage an Diskriminierungen (1); das Recht auf Entwicklung in Frei13 Zu den nachfolgend zitierten Dokumenten s. Detrick, Sharon (ed.), The United Nations Convention on the Rights of the Child. A Guide to the „Travaux Preparatoares“, 1992, pp. 541 e. s.

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heit und Würde sowie die Maßgeblichkeit des Kindeswohls (2); das Recht auf Identität (3); das Recht auf soziale Sicherheit, Ernährung, Wohnung, Erholung und ärztliche Betreuung (4); besondere Leistungen an behinderte Kinder (5); die Anerkennung der Notwendigkeit von Liebe und Verständnis, insbesondere der Zuwendung der Eltern (6); das Recht auf schulische Bildung, Spiel und Erholung (7); vorrangige Hilfe in Notlagen (8); Schutz vor Vernachlässigung, Grausamkeit und Ausbeutung (9); Erziehung zu Toleranz, Frieden und Dienst am Mitmenschen (10). 1966 folgen zentrale rechtlich verbindliche Dokumente. Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966 spricht von der Familie als der „natürlichen Kernzelle der Gesellschaft“, die Anspruch auf Schutz durch Staat und Gesellschaft hat (Art. 23 Abs. 1), vom „Recht von Mann und Frau, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen“ (Art. 23 Abs. 2), und vom Schutz der Kinder bei Auflösung einer Ehe (Art. 23 Abs. 3), vom Recht des Kindes auf seine individuelle Identität (Art. 24 Abs. 2) und von dem Schutz der Kinder vor Diskriminierungen (Art. 24 Abs. 1). Der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom gleichen Jahr bekräftigt diese Aussagen und ergänzt sie (Art. 10): so hinsichtlich des besonderen Wertes der Familie und ihrer Verantwortung für die Betreuung und Erziehung der Kinder (Art. 20 Nr. 1), des Schutzes der Mütter (Art. 10 Nr. 2) und des Schutzes der Kinder selbst (Art. 10 Nr. 3). 2. Das Übereinkommen über die Rechte des Kindes 1989 endlich folgt das Übereinkommen über die Rechte des Kindes. a) Kindeswohl – Elternrecht – Auftrag des Staates – Miterzieher Das Übereinkommen nennt als seinen zentralen Wert das Wohl des Kindes (Art. 3 Abs. 1, 18 Abs. 1 Satz 3, 40 Abs. 4). • Wichtigster Träger seiner Verwirklichung ist die Familie (Präambel Abs. 5, 6, Art. 5). Und hier wiederum sind die wichtigsten Akteure die Eltern (Art. 5, 14 Abs. 2), möglichst „beide Elternteile gemeinsam“ (Art. 18 Abs. 1). Die Trennung eines Kindes von seinen Eltern erfordert daher ebenso besondere Aufmerksamkeit wie die Trennung der Eltern voneinander (Art. 9). Die Eltern können durch Vormünder oder andere für das Kind gesetzlich verantwortliche Personen ergänzt oder ersetzt werden (Art. 5, 10, 14 Abs. 2, 21). Doch zieht das Übereinkommen den Kreis noch weiter: „gegebenenfalls, soweit nach Ortsbrauch vorgesehen,“ die „Mitglieder der weiteren Familie oder der Gemeinschaft“ (Art. 5).

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• Der andere Träger des Systems ist der Staat (Art. 4). Er unterstützt die Familie (Art. 18 Abs. 2), kontrolliert sie aber auch (Art. 19). Die Staaten sollten ihrerseits nicht nur in ihrer nationalen Vereinzelung handeln, sondern vor allem auch als internationale Gemeinschaft (Präambel Abs. 13, Art. 4 Satz 2, 22, 23 Abs. 4, 24 Abs. 4, 27 Abs. 4, 28 Abs. 3). • Unter den gesellschaftlichen Kräften, die zur Entwicklung der Kinder – förderlich, schädlich oder absichtslos – beitragen, hebt das Übereinkommen nur die Massenmedien und die Kinderbücher hervor (Art. 17). b) Die Kinderrechte Die Rechte auf Sein und Teilhabe Was nun sind die „Rechte“, die das Übereinkommen garantiert? Das elementare Recht ist das Recht auf Leben (Art. 6). Eindeutig bezieht sich dieses Recht auf das schon geborene Kind: „ein angeborenes Recht auf Leben“ (Art. 6 Abs. 1). Vor der Geburt hat das Kind einen „angemessenen rechtlichen Schutz“ (Präambel Abs. 12). Auch dieser Satz findet sich nur in der Präambel. Für die rechtliche und gesellschaftliche Relevanz des „Rechts auf Leben“ kommt dem Recht auf Identität eine entscheidende Bedeutung zu (Art. 7, 8). Für die reale Verwirklichung des Rechts auf Leben ist andererseits das Recht auf „angemessenen Lebensstandard“ (Art. 27) wesentlich. Es wird flankiert entfaltet durch das Recht auf „das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit . . . sowie auf Inanspruchnahme von Einrichtungen zur Behandlung von Krankheiten und zur Wiederherstellung der Gesundheit“ (Art. 24). Andere Dimensionen erschließen die Rechte auf Bildung und auf Teilhabe am kulturellen Leben (Art. 28, 31). Der Kreis dieser Teilhaberechte schließt mit dem Recht auf soziale Sicherheit (Art. 26). Freiheitsrechte Die Aussagen zu den Freiheitsrechten sind eigentümlich kompliziert. Einerseits geht es darum, die Freiheitsrechte auch den Kindern zu erschließen – sie auch den Kindern zu garantieren, sie aber auch an das allmähliche Wachstum ihrer Selbstbestimmung anzupassen. Das Übereinkommen versucht, dem durch spezifische Ausprägungen der körperlich-räumlichen Bewegungsfreiheit (Art. 27), der Versammlungs- und Vereinsfreiheit (Art. 15), der Rechte auf Ehre und Privatheit, des Post- und Fernmeldegeheimnisses, des Rechtes auf die Unverletzlichkeit der Wohnung usw. (Art. 16) zu entsprechen. Beispielhaft seien die Bestimmungen über die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 14) genannt. Auf der einen Seite betont

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das Übereinkommen das Recht und die Pflicht der Eltern (und gegebenenfalls auch des Vormunds), „das Kind bei der Ausübung dieses Rechtes in einer seiner Entwicklung entsprechenden Weise zu leiten“ (Abs. 2). Auf der anderen Seite ist vorgesehen, dass das Recht, die Religion oder die Weltanschauung zu bekunden, „nur den gesetzlich vorgeschriebenen Einschränkungen unterworfen werden“ darf, „die zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, Ordnung, Gesundheit und Sittlichkeit und der Grundrechte und -freiheiten anderer erforderlich sind“ (Art. 3). Schutzrechte Eine dem Zusammenhang gemäß besonders bedeutsame Kategorie von Rechten stellen die Schutzrechte dar. Den Kern beschreibt der Schutz vor „körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshandlung, vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung, vor schlechter Behandlung oder Ausbeutung“ (Art. 19 Abs. 1, 36). Besonders betont wird der Schutz gegen sexuelle Ausbeutung und sexuellen Missbrauch (Art. 34). Kindern, die Opfer von Gewalt, Ausbeutung, Misshandlung oder Vernachlässigung waren, sind Genesung und Wiedereingliederung unter Bedingungen zu vermitteln, „die der Gesundheit, der Selbstachtung und der Würde des Kindes förderlich“ sind (Art. 39). Sehr viel differenzierter finden sich entsprechende Schutznormen für den Fall, dass Kinder strafrechtlich verfolgt oder auf sonstige Weise einer Freiheitsentziehung ausgesetzt sind (Art. 37, 40). Die Begrenzung der Kinderarbeit ist weitgehend dem nationalen Recht anvertraut (Art. 32). Vergleichsweise blass ist demgegenüber der Schutz der Kinder bei bewaffneten Konflikten (Art. 38). Kinder, die das 15. Lebensjahr nicht vollendet haben, dürfen nicht an Kampfhandlungen beteiligt werden (Art. 38 Abs. 2 und 3). Diskriminierungsverbote Die allgemeinen Verbote, Menschen wegen ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe usw. zu diskriminieren, werden zum Schutz der Kinder eingeschärft (Art. 2). Kinder sollen aber auch nicht wegen des Status, der Tätigkeiten, der Meinungsäußerungen, oder der Weltanschauung ihrer Eltern, Vormünder und sonstigen Familienangehörigen diskriminiert werden (Art. 2 Abs. 2). Für Kinder, die einer ethnischen, religiösen, sprachlichen oder zivilisatorischen Minderheit angehören, sind die Diskriminierungsverbote durch das Recht ergänzt, die jeweils eigene Kultur auch gemeinschaftlich zu pflegen, die eigene Religion gemeinschaftlich zu bekennen und miteinander die eigene Sprache zu gebrauchen (Art. 30).

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Schutz bei transnationaler Wanderung und Trennung Wie oben schon bemerkt, betont das Übereinkommen die Rolle der internationalen Zusammenarbeit der Staaten (Präambel Abs. 13, Art. 4 Satz 2, 22, 23 Abs. 4, 24 Abs. 4, 27 Abs. 4, 28 Abs. 3). Das Übereinkommen sieht aber auch die Brennpunkte transnationaler Komplikation: die Familienzusammenführung (Art. 10 Abs. 1); die Besuchsrechte, wenn Eltern in verschiedenen Staaten leben (Art. 10 Abs. 2); die Verwirklichung von Unterhaltsansprüchen über Landesgrenzen hinweg (Art. 27 Abs. 4); die Gefahr, dass Kinder rechtswidrig ins Ausland verbracht werden (Art. 11); und das Flüchtlingsschicksal von Kindern (Art. 22). c) Das System der Berichte, der Beratung und der Empfehlungen Das Übereinkommen ist nicht darauf angelegt, unmittelbar als innerstaatliches Recht zu gelten. Die Staaten sind vielmehr völkerrechtlich verpflichtet, die „Rechte“ durch die innerstaatliche Praxis, insbesondere im innerstaatlichen Recht zu verwirklichen. Sanktioniert ist das Übereinkommen durch ein Berichtssystem (Art. 43–45). Dessen Mittelpunkt ist ein Ausschuss von zehn Sachverständigen.14 Aufgrund von Berichten der Mitgliedstaaten und von Stellungnahmen der zuständigen Institutionen der Vereinten Nationen kann der Ausschuss den Mitgliedstaaten und der Generalversammlung der Vereinten Nationen „Vorschläge und allgemeine Empfehlungen“ vorlegen. 3. Die universalen Ergänzungen Wie oben betont ist die rechtliche Ordnung von Grund- und Menschenrechten auf eine dialektische Struktur verwiesen. Menschenrechte müssen das Wesentliche ihres Themas auf heraushebende und herausgehobene Weise zur Geltung bringen, während die rechtliche Verwirklichung der so manifestierten Prinzipien in der Vielfalt der Lebenszusammenhänge dem „einfachen Recht“ und seiner Praxis anvertraut ist. Die Dimension, in der Grund- und Menschenrechte gestaltet werden, ist die Vertikale; die Dimension, in der die Lebenszusammenhänge als solche rechtlich gestaltet werden, ist die Horizontale. Die Geschichte der Grund- und Menschenrechte hat dieser Dialektik im nationalen Recht unterschiedlich Ausdruck gegeben. 14 Beispielhaft für das Wirken des Ausschusses aus dem Jahre 2006: UNOG (The United Nations Office at Geneva) http://www.unog.ch, dort unter dem Menüpunkt „News & Media“ und dem Untermenüpunkt „Press Releases & Meeting Summaries“.

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Mehr und mehr aber ging sie in der Entfaltung der Normenhierarchie auf – insbesondere in der Unterscheidung zwischen Verfassungs- und Gesetzesrecht. Das Völkerrecht kennt eine entsprechend ausgeprägte Hierarchie nicht. Die Unterscheidung zwischen Grund- und Menschenrechten einerseits und „flächigen“ Regelungen andererseits drückt sich daher vor allem in den Inhalten aus. In diesem Sinne haben auch die Kinderrechte in weiteren Instrumenten des Völkerrechts Ausdruck gefunden.15 Schon formell an das Überreinkommen über die Rechte des Kindes schließen sich die Fakultativprotokolle betreffend die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten16 und über den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornographie17 an. Zahlreiche andere Abkommen ergänzen das Übereinkommen eher der Sache nach. Andere Abkommen betreffen den Schutz der Kinder gegen das organisierte Verbrechen18 und die Zusammenarbeit der Staaten bei der transnationalen Durchführung von Adoptionen.19 Die älteste Tradition hat das Haager Kinderschutzübereinkommen von 1996.20 Es greift ein, wo immer die elterliche Sorge geregelt oder ersetzt werden muss. Das Prinzip, dass nicht nur die Behörden des Aufenthaltsstaates zuständig sind, sondern auch ihr Recht anzuwenden ist, dient der Lückenlosigkeit und Wirksamkeit des Schutzes, bedingt freilich auch Friktionen mit dem „mitgebrachten“ Recht, den „mitgebrachten“ nicht-rechtlichen Normen oder auch dem familiären Hintergrund, der sich noch im „Heimatstaat“ oder in einem anderen Land vollzieht. Einem anderen Regime unterliegt die Begrenzung der Kinder15

Marauhn, Thilo (Hrsg.), Internationaler Kinderschutz, 2005. Vom 25. Mai 2000. Zum Inkrafttreten und zum Stand der Unterzeichnungen und Ratifizierungen s. Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights, Optional Protocol to the Convention on the Rights of the Child on the involvement of children in armed conflict. http://www.ohchr.org/english/countries/ratfi cations/11_b.htm. 17 Vom 25. Mai 2000. Zum Inkrafttreten und zum Stand der Unterzeichnungen und Ratifizierungen s. Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights, Optional Protocol to the Convention on the Rights of the Child on the sale of children, child prostitution and child pornography. http://www.ohchr.org/english/ countries/ratfications/11_c.htm. 18 Protokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels in Ergänzung des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität. Vereinte Nationen, Generalversammlung, 55. Tagung, 15. November 2000, S. 63. 19 von Hoffmann, Bernd/Thorn, Karsten, Internationales Familienrecht, 2005, S. 392 ff. 20 Zuerst Haager Übereinkommen über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen von 1961. Zum aktuellen Rechtsstand s. von Hoffmann/Thorn, Internationales Familienrecht (Fn. 19) S. 368 ff. 16

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arbeit. Sie ist Aufgabe der internationalen Arbeitsorganisation. Das entsprechende Übereinkommen21 kam daher nach deren Recht zustande. Mit dem Wachstum der transnationalen Wanderung wurde schließlich der soziale Schutz der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien sowie das internationale Recht22 speziell auch für die Kinder immer wichtiger.23 4. Die Re-Partikularisierung Das ganze Recht ist immer eingebettet in Partikularität. Das gilt – vielleicht auf minimale Weise – selbst für das internationale Recht, das sich nur an die Staaten (und deren gemeinsame internationale Institutionen) zu richten scheint. Wie sich die Staaten zu diesem internationalen Recht verhalten, ist immer auch durch deren innere Normen bedingt – ihre rechtliche Ordnung und ihre nicht-rechtlichen Normen. Doch sehr viel bedeutsamer sind die inneren Verhältnisse der Staaten dann, wenn das internationale Recht sich direkt auf die inneren Zustände der verpflichteten Staaten – insbesondere auf deren innere Normen und ihre Praxis – richtet. Widersprechen sich das internationale Recht und die inneren Normen und die sonstigen inneren Verhältnisse eines Staates und das internationale Recht, so bieten sich verschiedene Möglichkeiten: • Der Staat bleibt der Verpflichtung aus dem internationalen Recht fern. Das heißt in der Regel: Er tritt dem Übereinkommen nicht bei. • Der Staat legt den Widerspruch, wenn dieser entsprechend begrenzt ist, offen, indem er dem Übereinkommen unter Vorbehalt beitritt. • Der Staat passt sein internes Recht an. Dann bleibt immer noch die Gefahr, dass die nicht-rechtlichen inneren Normen und sonstigen Verhältnisse Spannungen und Reibungen mit dem internationalen Recht auslösen: dass die Durchsetzung des internationalen Rechts vor großen, vielleicht unüberwindlichen Schwierigkeiten steht; dass es umgangen wird; dass ihm der Gehorsam versagt wird; dass es zu Irritationen kommt. 21 Übereinkommen 182: Übereinkommen über das Verbot und unverzügliche Maßnahmen zur Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit vom 1. Juni 1999. Zum Inkrafttreten und zum Stand der Ratifizierungen s. Internationale Arbeitsorganisation: Übereinkommen 182. http://www.ilo.org/ilolex/german/docs/ge. 192.htm 22 Renner, Günter, Ausländerrecht in Deutschland, 1998, S. 48–58, 432–438, 43 f., 430, 530, 533, 546, 468–475, 501–504, 572–589, 680–686; Davy, Ulrike, Überregionales und regionales Völkerrecht, in: Davy, Ulrike (Hrsg.), Die Integration von Einwanderern, 2001, S. 37, 54 ff.; dieselbe, Gemeinschaftsrecht, in: ebenda, S. 95, 104 ff., 117 ff.; Davy, Ulrike/Çinar, Dilek, Deutschland, in: ebenda, S. 277, 287 f. 23 Ergänzend zu allem Vorigen s. Henrich, Dieter (Hrsg.), Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, 6. Aufl., 1983 ff. (Stand 2005), Bd. I.

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• Der Staat und die internationale Gemeinschaft lassen es bei dem Widerspruch und nehmen die Ungewissheiten, die sich daraus ergeben, in Kauf. a) Die kontinentale Ebene und andere Staatenfamilien Teilen mehrere Staaten gegenüber den Inhalten universal konzipierten internationalen Rechts ein gleiches Verhältnis, so können sie dies in gemeinsamen Rechtsinstrumenten, Erklärungen oder sonst wie übereinstimmenden Verhaltensweisen zur Geltung bringen. Sie können damit zum Ausdruck bringen: • Dass sie die universal konzipierte Ordnung ablehnen und gemeinsam eine alternative Ordnung für richtig halten. • Dass sie die universal konzipierte Ordnung grundsätzlich bejahen, in einzelnen Punkten aber andere Standpunkte einnehmen. Das kann sich in zusätzlichen Normen, in Bekräftigungen und Vertiefungen, aber auch in Verneinung darstellen. • Dass sie die universal konzipierte Ordnung grundsätzlich in Frage stellen, jedoch akzeptieren, soweit sie mit dem Ausgangspunkt, aus dem sich die Ablehnung ergibt, vereinbar sind. Entsprechende Instrumente liegen aus Afrika, Amerika, Europa und aus der islamischen Staatengemeinschaft vor. Sie unterscheiden sich nicht nur in der Tendenz. Sie unterscheiden sich ganz wesentlich auch im Zeitpunkt ihres Zustandekommens. Zum Teil sind sie vor dem Übereinkommen von 1989 entstanden. Soweit sie dem Übereinkommen von 1989 widersprechen, erhebt sich daher die Frage, ob sie auch nach der Verabschiedung (1989) und dem Inkrafttreten (1990) des Übereinkommens noch gelten sollen und können. Am frühesten hat der Europarat begonnen, sich mit der Thematik zu befassen.24 Die Tendenzen dieser Politik stimmen mit denen der UN-Konvention überein. Sowohl die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 1950 (Art. 8) als auch die Europäische Sozialcharta von 1961 (Art. 16) garantieren und schützen die Familie. 1952 fügt das Erste Zusatzprotokoll zur Menschenrechtskonvention (Art. 2 Satz 2) den Schutz des Elternrechts hinzu. Und die Europäische Sozialcharta (Art. 17) spricht vom „Recht der Mütter und der Kinder auf sozialen und wirtschaftlichen Schutz“ und befasst sich eingehend mit den Familien der Wanderarbeitnehmer und ihrer Zusammenführung (Art. 19, insbes. Nr. 6). Sehr viel später nimmt die Charta der Grundrechte der Europäischen Union von 24

Koeppel (Hrsg.), Kindschaftsrecht und Völkerrecht (Fn. 2).

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2000 (jetzt Teil II des Europäischen Verfassungsentwurfs von 2004) die Sache der Kinder wieder auf. Konzentriert werden wesentliche Rechte, die in dem UN-Übereinkommen enthalten sind, bekräftigt (Art. 24 der Europäischen Charta der Grundrechte; Art. II-84 des Entwurfs des Europäischen Verfassungsvertrages).25 Das Amerikanische Menschenrechtsübereinkommen (1969) geht über die mittlerweile entwickelten Ansätze durch den entschiedenen Schutz auch des ungeborenen Lebens hinaus (Art. 4 Satz 1). 1979 kommt es in Afrika zur Monrovia-Erklärung über die Rechte und die Wohlfahrt des afrikanischen Kindes.26 1990 wird sie durch die Afrikanische Charta der Rechte und der Wohlfahrt des Kindes weiterentwickelt.27 Sie steht prinzipiell in der Tradition, aus der auch das UN-Übereinkommen erwuchs. Ein besonderer Akzent liegt darin, dass sie auch die Verantwortung und die Pflichten des Kindes betont (Art. 31). Das Kind muss für den Zusammenhalt der Familie wirken, die Eltern und die Ältesten respektieren und ihnen helfen. Wesentlich anders sind die islamischen Dokumente. Die Allgemeine islamische Erklärung der Menschenrechte (1981)28 betont, dass alle Menschenrechte unter der Sharia29 stehen. Sie könnten daher nicht absolut, sondern immer nur relativ sein. Damit wird der Charakter der Menschenrechte eigenartig geprägt. Denn die Sharia ist ein ungewisses Paket von Recht. Und so ist ja auch ungewiss, was der Vorbehalt der Sharia für die Rechte der Kinder bedeutet. Welchen Schranken etwa unterliegt die Erziehung und Bildung von Mädchen?30 Die Inhalte der Rechte sind denen ausgeliefert, die für sich in Anspruch nehmen, zu wissen, was die Sharia sagt. Die 1990 von der Islamischen Konferenz beschlossene Kairo-Erklärung über Menschenrechte im Islam31 steht auf demselben Boden (Art. 23b, 24, 25). Sie sieht 25 Unter dem Aspekt der „Miterzieher“ ist die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes vom 9. Juli 1997 zur Richtlinie „Fernsehen ohne Grenzen“ (Konsumentenombudsmannen vs. De Agostini (Svenska) Förlag C 34/95) und Konsumentenombudsmannen vs. FV-Shop i Sverige AB C 35/95 und C 36/95) bemerkenswert. Sie räumt den speziellen Vorschriften der Richtlinie hinsichtlich der Begrenzungen der Werbung gegenüber Minderjährigen Vorrang vor den nationalen Vorschriften zum Schutz Minderjähriger gegenüber der Werbung ein. 26 http://www.africa-union.org/root/au/Documents/Decisions/hog/pHoGAssembly 1979.pdf, dort S. 7–9. 27 http://ww1.umn.edu/humanrts/africa/afchild.htm. 28 http://www.alhewar.com/ISLAMDECL.html. 29 Tilman Nagel, Das islamische Recht. Eine Einführung, 2001. 30 Schirrmacher, Christine, Frauen unter der Sharia, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 48, 2004, 10. 31 http://www.religlaw.org/interdocs/docs/cairohrislam1990. htm.

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in der Familie eine der Grundlagen der Gesellschaft (Art. 5). Aber das Recht der Eltern, über die Erziehung der Kinder zu entscheiden, steht unter dem Vorbehalt, dass die Eltern das Interesse und die Zukunft der Kinder in Übereinstimmung mit den Werten und den Prinzipien der Sharia bedenken (Art. 7b).32 Der Vorbehalt der Sharia bedeutet, dass die islamischen Staaten die Kinderrechte, wie sie in dem UN-Übereinkommen niedergelegt sind, grundsätzlich in Frage stellen. Die UN-Übereinkunft ist für die islamischen Staaten sekundär. b) Die nationale Re-Partikularisierung Die größere, ja definitive Verantwortung dafür, ob die universale Ordnung der Kinderrechte greift, liegt bei den einzelnen Staaten. Sie entscheiden darüber, ob sie dem Übereinkommen beitreten und die Kinderrechte somit (zwar nicht unmittelbar zu inländischem Recht werden lassen wohl aber) als Pflicht des Staates anerkennen. Sie entscheiden, ob sie den Beitritt und dessen Wirkungen durch einen Vorbehalt beschränken. Vor allem aber: Sie entscheiden darüber, wie die Kinderrechte durch die Politik, durch das Recht und durch die administrative Praxis verwirklicht werden sollen und werden können. Damit stellen die Staaten auch weitgehend die Weichen, ob und wie die Gesellschaft die Kinderrechte verwirklicht. Nicht-Beitritte Die Verweigerung des Beitritts33 ergibt keine signifikante Gruppe. Sie hat offenbar die unterschiedlichsten Gründe. Einen unechten Fall des Nichtbeitritts stellen die USA dar.34 Sie haben das Übereinkommen zwar unterzeichnet, jedoch bisher nicht ratifiziert. Das mag an dem komplizierten Verfahren liegen, das die Vereinigten Staaten einhalten müssen, wenn sie einen völkerrechtlichen Vertrag ratifizieren wollen. Jedoch können auch sachliche Widerstände vermutet werden: auf der einen Seite in einer stärkeren Betonung der Elternrechte gegenüber einer behördlichen Wahrnehmung des Kindeswohls; auf der anderen Seite in einer geringeren Bereitschaft, Kindern eigene Freiheitsrechte zuzugestehen.

32 Siehe auch Arabische Charta der Menschenrechte von 1994 (Präambel). http:// www.law.wits.ac.za/humanrts/instree/arabhrcharter.html. 33 Zum Stand der Unterzeichnungen und Ratifizierungen s. oben Fn. 5. Die nichtbeigetretenen Staaten lassen sich nur im Wege der Substraktion der beigetretenen Staaten von der Summe aller UN-Mitglieder ermitteln. 34 Lorz, Der Schutz von Kindern (Fn. 1), S. 37.

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Vorbehalte Anders steht es hinsichtlich der Re-Partikularisierung durch Vorbehalte.35 Hier treten die islamischen Staaten in der auffallendsten Weise hervor. Variantenreich unterstellen sie die Geltung des Übereinkommens dem Vorbehalt des Islam, der Religion, der Tradition des Landes, der Sharia, der Verfassung oder des geltenden Rechts des Landes. Mit besonderem Nachdruck wenden sich einige der islamischen Staaten gegen die Gewährleistung der Religionsfreiheit und insbesondere der Religionsfreiheit des Kindes – teils über einen der Allgemeinvorbehalte hinaus, teils als einen Spezialvorbehalt neben anderen Spezialvorbehalten. Eine Reihe westlicher Staaten hat gegen diese Vorbehalte förmlich protestiert. Sie sehen durch die Vorbehalte der islamischen Staaten den Sinn des Beitritts dieser Staaten verfälscht. Das Übereinkommen vernachlässigt, wie schon erwähnt, das Problem der „Miterzieher“. Nur die Massenmedien werden erwähnt (Art. 17). Die islamischen Staaten mögen sich insofern damit beruhigen, dass ihre umfassenden Vorbehalte ganz allgemein auch Einschränkungen gegenüber anderen Miterziehern erlauben. Algerien, das einen so allgemeinen Vorbehalt nur andeutet, betont demgegenüber, dass strafrechtliche Vorschriften, welche die Moral Minderjähriger schützen, durch die Konvention nicht berührt werden. Unter den westlichen Staaten kennt Polen Vorbehalte, die denen der islamischen Staaten verwandt sind. Durch ihre engere Fassung demonstrieren sie jedoch auch die Eigenart der islamischen Vorbehalte. So stellt Polen die Gewährleistungen der Freiheitsrechte der Kinder unter den Vorbehalt der „polnischen Gewohnheiten und Traditionen über die Stellung des Kindes in der Familie“. Und die Dienste hinsichtlich Familienplanung und Aufklärung der Eltern“ (Art. 24 Abs. 2 Buchst. F) des Übereinkommens sollten in Einklang mit den Grundsätzen der Moral stehen. Vorbehalte zu anderen Themen sind breit und mehr oder minder unspezifisch gestreut. Viele Staaten protestieren dagegen, dass das Übereinkommen die Grenze, von der an Kinder zu den Streitkräften eingezogen werden können, bei der Vollendung des 15. Lebensjahres zieht (Art. 38 Abs. 3). Heftigen Zweifeln begegnet die Regelung, welche die Adoption gefunden hat (Art. 21). Zahlreiche Vorbehalte finden sich auch hinsichtlich der Anforde35 Zum Folgenden s. Lorz, Der Schutz von Kindern (Fn. 1) S. 35–37. Eine umfassende Übersicht s. http://www. ohchr.org/english/countries/ratification/11.htm. – Allgemeiner zur Problematik der Vorbehalte gegenüber Dokumenten über universale Menschenrechte: Deutsches Institut für Menschenrechte/Ziemele, Ineta (Hrsg.), Reservations to human rights treaties and the vienna convention regime: conflict, harmony or reconciliation, 2004.

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rungen des Übereinkommens an den Strafprozess (Art. 40) und den Strafvollzug (Art. 37) gegen Kinder. Die intensivsten Widerstände schließlich zeigen sich gegenüber den Vorschriften des Übereinkommens, die Kinder im Falle der Wanderung (des Aufenthalts in einem Staat, dem sie nicht angehören und/oder in dem sie von ihren Eltern getrennt sind, oder der Zuflucht in einen solchen Staat) schützen (Art. 9, 10, 22). In diesem Zusammenhang ebenso wie gegenüber dem Recht eines Kindes, unmittelbar nach der Geburt auch eine Staatsangehörigkeit zu erlangen (Art. 7), geht es den Unterzeichnerstaaten vor allem darum, die Relevanz ihres nationalen Staatsangehörigkeits- und Flüchtlingsrechts zu sichern.

Repartikularisierung durch das nationale Recht, die nationale Rechtspraxis und die nationale Gesellschaft Schließlich werden die Kinderrechte, die in dem Übereinkommen zugesagt sind, niemals anders wirksam als im Rahmen der nationalen Rechtsordnung und der nationalen Rechtspraxis. Und sie werden Wirklichkeit nur auf die Weise, wie die nationalen Gesellschaften die Verhältnisse der Kinder, der Eltern und der Familien verstehen, gestalten können und gestalten – Gesellschaften dabei verstanden ebenso als die Summe aller jeweils beteiligten Individuen, wie als die Summe der Mitglieder ethnischer, religiöser, regionaler, sprachlicher, traditioneller, sozialer usw. Gruppen, wie als die Summe der gesellschaftlichen Kräfte, die sich der Belange der Kinder sowie der sonstigen Verhältnisse annehmen, von denen die Belange der Kinder abhängen und beeinflusst werden, oder endlich als die Summe der Faktoren, welche die öffentliche Meinung bilden. Die apriorische Partikularität der Verwirklichung universaler Werte wird hier einmal mehr deutlich.

V. Die Aufgabe Welches Recht der Kinder in den verschiedenen Ländern der Welt durch das Übereinkommen hergestellt wurde, lässt sich aus dem Übereinkommen selbst und aus den Vorbehalten, welche die Beitritte der Staaten begleiteten, nur sehr unvollkommen erschließen. Erst recht ist die Wirklichkeit des Kinderlebens in allen den Ländern, die das Übereinkommen unterzeichnet haben, durch die Brille des Übereinkommens nur unscharf zu sehen. Beides, das Recht und die Wirklichkeit, aber müsste wahrgenommen werden, um wahrnehmen zu können, wie sich der Wortlaut des Übereinkommens und die Ziele, die mit ihm verfolgt wurden, von den Wirkungen unterscheiden, die daraus hervorgegangen sind.

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Das Übereinkommen hat selbst freilich ein zentrales Instrument bereitgestellt, um die gebotenen Beobachtungen zu machen und die gebotenen Feststellungen treffen zu können: das Berichts-, Beratungs- und Empfehlungssystem, dessen Mitte der Ausschuss für die Rechte des Kindes ist (Art. 43–45). Darüber hinaus fällt der Rechtsvergleichung36 sowie den vergleichenden Sozialwissenschaften eine wesentliche Aufgabe zu. Für eine Auskunft darüber, wie sich die Vielfalt der Rechtsordnungen und der Rechtswirklichkeiten zum Übereinkommen verhält, muss gleichwohl das Berichts-, Beratungs- und Empfehlungssystem des Übereinkommens die wesentliche Quelle sein. Im Berichts-, Beratungs- und Empfehlungssystem sind einerseits die Schwierigkeiten zu erörtern, die es in einzelnen Rechtsordnungen und Rechtswirklichkeiten bereitet, den Rechten des Übereinkommens Rechnung zu tragen – sie richtig zu verstehen und anzuwenden.37 Diese Fragen gehen von einer grundsätzlichen Akzeptanz des Übereinkommens aus. Die Probleme liegen, die grundsätzliche Akzeptanz vorausgesetzt, in Besonderheiten der nationalen Situation: sei es ihrer Normenwelt, sei es ihrer tatsächlichen Verhältnisse. Auch Fragen dieser Art können in das Allgemeinere, Grundsätzliche hineinreichen, wenn sie sich etwa für mehrere Länder gleich oder ähnlich stellen. Andererseits aber stellen sich Fragen, denen von vorneherein grundsätzliche Bedeutung zukommt. Das dramatische Beispiel dafür ist die Haltung vieler islamischer Länder, welche die Geltung des Übereinkommens unter den Vorbehalt ihrer sehr besonderen, zugleich aber unbestimmten Rechtsordnung stellen. Dieser Vorbehalt stellt den Sinn einer universalen Ordnung in Frage. In Wahrheit sind, nimmt man die Vielzahl islamischer Vorbehalte zusammen, zweierlei Rechtsordnungen entstanden: diejenige der islamischen Länder, in denen das vorrangige islamische Recht ungewiss bleibt, allenfalls partikular eine gewisse Klarheit erlangt, die Rechte des Übereinkommens jedenfalls aber nur subsidiär zur Geltung kommen; und die Rechtsordnung des Übereinkommens. Welch zentrale Bedeutung dieses Beispiel für die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer universalen Rechtsordnung für die globale Welt hat, ist evident. Und doch ist auch dieser Gegensatz zwischen der nicht-islamischen und der islamischen Welt nur ein Bei36

Dopffel, Peter (Hrsg.), Kindschaftsrecht im Wandel. Zwölf Länderberichte mit einer rechtsvergleichenden Stimme, 1994; Glendon, Mary Ann, Introduction: Family Law in a Time of Turbulence, in: International Encyclopedia of Comparative Law. Volume IV; Glendon, Mary Ann (ed.), Persons and Family, 2006, p. 3. 37 Ein interessantes Beispiel für die Auswertung der Ausschussarbeit findet sich in: Deutsches Institut für Menschenrechte (Hrsg.), Die Menschenrechte von Kindern und Jugendlichen stärken. Dokumentation eines Fachgesprächs über die Umsetzung der Kinderrechtekonvention in Deutschland, 2006.

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spiel für die Schwierigkeiten, vor denen das Vorhaben steht, die Wirkungen des Übereinkommens mit seinen Absichten zu vergleichen und beides zu bewerten. Noch nie vorher ist versucht worden, einem vergleichbar wertorientierten, von normativen Gewohnheiten getragenen und in Gefühlswelten eingebetteten Lebensbereich eine universale Ordnung zu geben wie der Kindheit und damit auch der Elternschaft und der Familie. Bedenkt man die Distanz des Verhältnisses zwischen Recht und Kindheit und die Komplexität der Beziehungen zwischen Recht und Kindheit, so kann das Übereinkommen nur als ein Experiment begriffen werden. Die Aufgabe, das Gelingen und das Misslingen zu vermessen, und die Vision einer Optimierung zu entwerfen, bleibt. Das Berichts-, Beratungs- und Empfehlungssystem des Übereinkommens muss gerade dieses Ziel verfolgen. Und die Rechtsvergleichung ebenso wie die vergleichenden Sozialwissenschaften sollten das System dabei begleiten und ergänzen. Es kann schließlich auch nicht nur darum gehen, das rechtliche Instrumentarium zu verbessern. Die Wirklichkeit, in der Kinder aufwachsen, hängt von Verhältnissen ab, die Recht allein nicht herstellen, steuern und bewahren kann. Und die Menschen, die das Leben der Kinder gestalten, brauchen, um Richtiges und Gutes zu tun, Informationen und Vernünftigkeit, Kenntnisse und Fertigkeiten, Normen und Wertvorstellungen, zu deren Vermittlung Recht nicht genügt, zu deren Vermittlung Recht vielleicht nur wenig oder nichts beitragen kann. Universale Menschenrechte werden mit universalem Recht allein nicht verwirklicht werden. Aber wie dann? Mit dieser Frage erweisen sich die Kinderrechte als ein Auftrag, der Recht einschließt, aber doch ein sehr viel weiteres, sehr viel vielfältigeres, reicheres Ensemble der Motivation, der Steuerung und der Ordnung menschlichen Verhaltens meint. In diesem Sinne erweisen sich die Kinderrechte vor allem als ein Lernstück für die universale Implementation der Menschenrechte.

IV. Staats-, Verwaltungs- und Justizmodernisierung

Vom schönen, schlanken, fernen Staat Von Konrad Adam Wann ich zum ersten Mal den Spuren, die Rupert Scholz im Verfassungsleben Deutschlands hinterlassen hat, begegnet bin, weiß ich nicht mehr. Sehr wohl erinnere ich mich dagegen an den Versuch, ihn in seiner Eigenschaft als Sanierer des überbordenden Gesetzesstaates zu sprechen. Versierter Verfassungsjurist der er war und ist, war Scholz Mitte der neunziger Jahre zum Vorsitzenden einer Kommission bestimmt worden, die den Auftrag hatte, das Gesetzes(un)wesen zu überprüfen, sein Wachstum zu drosseln, vielleicht sogar umzukehren und aus immer mehr allmählich immer weniger zu machen. Das hatte mich neugierig werden lassen, und so rief ich in seiner Bonner Dienststelle an, um mich nach dem neuesten Stand der Dinge zu erkundigen. Dabei geriet ich an eine Dame, die sich am Telefon zwar nicht mit ihrem eigenen, dafür aber mit dem Kurznamen der Kommission meldete. Ich hörte tatsächlich: „Hier schlanker Staat!“ – und war entzückt: wenn ich den schlanken Staat am Telefon hatte, dann musste das Wunder ja schon eingetreten, zumindest aber doch ganz nahe sein. Dann konnte es nicht mehr lange dauern, bis wir, die Bürger, von der Furcht frei wären, in einer Springflut von Vorschriften zu ertrinken. Dann hätten die Wucherungen und Blähungen und Metastasen ein Ende, der Staat hätte kehrtgemacht und würde irgendwann zu seinem gesunden Umfang zurückfinden. Ich hatte mich zu früh gefreut. Das Papier, das mir auf meine Anfrage hin zugeschickt wurde, war ein echtes Kommissions-Papier. Es enthielt eine ganze Reihe von freundlichen Anregungen und brauchbaren Vorschlägen, sagte aber wenig oder nichts über die Wege, auf denen, und über die Mittel, mit denen diese Anstöße weitergegeben und umgesetzt werden sollten. Es blieb wie meistens beim Appell. Ich las etwas über den alten Plan, Gesetze nur auf Zeit oder auf Probe zu erlassen, über die Möglichkeit, nach dem Vorbild des als technology assessment bekannt gewordenen Versuchsballons die Nebenfolgenabschätzung auch für Gesetzesvorhaben einzuführen, und manches mehr von diese Art und Güte: schöne Worte ohne festen Biss. Wo die Mitglieder der achtzehnköpfigen Kommission, zusammengesetzt nach dem in solchen Fällen obligatorischen Gruppenproporz, nicht weiterkamen, beschworen sie das Prinzip Hoffnung. So etwa, wenn sie den

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damals kurz bevorstehenden Umzug zahlreicher Bundesbehörden von Bonn nach Berlin als Chance beschrieben, die Verwaltung zu straffen. Zu straffen, wie gesagt, nicht etwa aufzublähen, wie seither hundertfach geschehen. „Reduzierung der Staatstätigkeit tut Not“ hieß eine der Kapitelüberschriften. Wer wollte das bestreiten? Rupert Scholz ganz gewiss nicht; bis heute wird er ja nicht müde, den schlanken, den sehnigen, den kräftigen und gesunden Staatskörper als Wunschbild zu proklamieren. Nur draus geworden ist bis heute nichts, und je mehr Zeit ins Land geht, desto mehr verliert sich die Zuversicht, dass die Abmagerungskur doch noch anschlagen könnte. Die Botschaft wird gehört, allein es fehlt der Glaube. Der bricht sich regelmäßig an der großen Zahl und dem noch größeren Gewicht der Interessenten und ihrer Anführer, der Verbandsvertreter, die alle Ministerien eingeschlossen haben, belagern und beschießen. Noch jede Bundesregierung ist mit dem Vorsatz angetreten, Vorschriften zu entrümpeln, die Bürokratie zu verschlanken, die Verwaltung bürgernah und bürgerfreundlich zu gestalten und wie die eingeschliffenen Formeln sonst noch lauten mögen. Normenkontrollräte sind versprochen und eingerichtet, mit Arbeit versehen, zum Leerlauf verurteilt und wieder aufgelöst worden. Ihre Ergebnislosigkeit war gewollt – meist von denselben Leuten, die sie ins Leben gerufen hatten. Sie suchten das Alibi, nicht den Erfolg. Die Bilanz ist so ernüchternd, dass man geneigt sein könnte, das Vorhaben ein für alle Male aufzugeben und es sich achselzuckend in Max Webers stahlhartem Gehäuse der Hörigkeit bequem zu machen. Dem soll hier aber nicht das Wort geredet werden. Im Gegenteil soll das Ziel des schlanken, aber starken Staat verteidigt werden, auch wenn, nein: gerade weil die Zeiten ihm so wenig günstig sind. Benjamin Constant hatte es noch leicht, als er angesichts eines rastlos durch Europa tobenden und das Unterste zu Oberst kehrenden Napoleon die Sehnsucht nach der guten alten Zeit und ihren faulen Königen, den rois fainéantes, beschwor. Als Kind seiner Zeit suchte er den Grund des Übels und die Lösung des Problems zunächst einmal in der Person des Kaisers. Der Blick auf ihn und seine Entourage verstellte ihm die Aussicht auf die Institutionen, die Ämter und die Behörden, die Anstalten und die Kommissionen, die Parteien und Verbände, die sich im bürgerlichen Zeitalter, das damals gerade anbrach, zu den beherrschenden Kräften des Staates aufschwingen und alles andere unter sich begraben sollten. Sie vor allem haben den Kreis der legitimen Staatsaufgaben immer weiter zogen, denn das Mengen- und Größenwachstum des Verwaltungsapparates lag in ihrem Interesse – nicht unbedingt in demjenigen der Bürger. Wie dieses Wachstum aussieht und was es bewirkt, lässt sich am besten im Weltreich des Sozialen erkennen. In ziemlich kurzer Zeit ist „das So-

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ziale“ zu einem jener unbestimmten Rechtsbegriffe aufgeblasen worden, die alles Mögliche veranlassen oder verhindern können, weil jeder eine Vorstellung davon zu haben glaubt, was sie bedeuten – und jeder eine andere. Friedrich von Hayek hat das Soziale denn auch zu jenen Wieselwörtern gezählt, die hohl sind wie ein Ei, dem ein Wiesel den Inhalt ausgesogen hat. Eben das, seine Vagheit, macht das Soziale allerdings für Wähler und Gewählte attraktiv. Wörter wie Gerechtigkeit und Sicherheit, die nach hergebrachter Lehre den Staatszweck am bündigsten umschreiben, sind in seinen Sog geraten und können sich nur in seiner Gesellschaft, als soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit, im öffentlichen Sprachgebrauch behaupten. Der Bedeutungswandel, den sie in dieser Kumpanei erleiden, wird mehr oder weniger billigend in Kauf genommen; dass die „sozial“ genannte Gerechtigkeit zur Gleichheit tendiert und die „soziale“ Sicherheit weder Polizei noch Militär, sondern Heerscharen von Sozialarbeitern im Auge hat, die Wohltaten unters Volk streuen, kommt manchen Bürgern und allen Parteien ja durchaus zupass. Die einen wollen abhängig sein, die anderen abhängig machen, denn Abhängige lassen sich leichter dirigieren als Unabhängige. Die Hand, die einen füttert, beißt man nicht. Trotz alledem enthält das von Adolph Wagner formulierte und nach ihm benannte Gesetz der wachsenden Staatstätigkeit aber nur die halbe Wahrheit. Denn den Angriffen und Ausgriffen des Staates stehen ja zweifellos Absatzbewegungen und Teilrückzüge gegenüber. Er räumt das Feld nicht nur bei Post und Bahn, die den staatlichen Monopolschutz nicht mehr nötig haben, sondern auch dort, wo es sich nach überkommender Lehrmeinung um typische Staatsaufgaben handelt. Neben dem Strafvollzug, dem Verkehrswegebau und Teilen der Kommunalverwaltung fällt mittlerweile auch die Garantie der inneren und äußeren Sicherheit in diese Kategorie: private Wachdienste machen der Polizei erfolgreich Konkurrenz und unterstützen das Militär beim Gebäude- und Personenschutz. Auch die Finanzverwaltung, Kern aller genuinen Staatsaufgaben, scheint gegen Privatisierungstendenzen nicht mehr immun zu sein. Ohne die erzwungene – und preiswerte! – Zuarbeit der buchführenden Unternehmen und der einkommensteuerpflichtigen Privatpersonen käme der Fiskus schon heute nicht mehr zurecht. Den Steuerpächter hat es schon im alten Rom gegeben; warum nicht eines schönen Tages auch bei uns? Man könnte diesen Wandel rundheraus begrüßen, wenn man sich sicher sein dürfte, dass der Staat dort, wo er sich auf den Rückzug macht, auch definitiv verschwindet. Das tut er aber nicht; er bleibt präsent, und wie! Nicht mehr als geschäftsführender Unternehmer allerdings, sondern als Aufsichtsrat, als Kontrolleur, als vorgeordnete Instanz. Begriffe wie Deregulierung oder Privatisierung wecken falsche Erwartungen, sie werden missver-

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standen, wenn sie mit Entstaatlichung kurzerhand gleichgesetzt werden. Das Gegenteil ist ja nur allzu oft der Fall: zwar tritt der Staat in alter Form ab, in anderer Gestalt und neuer Funktion aber gleich wieder auf. Mit seinen Regulierungsbehörden, Netzagenturen, Monopolkommissionen, Kartellämtern, Genehmigungsstellen und wie die obrigkeitlichen Kontrollinstanzen sonst noch heißen bleibt er mit gleicher, vielleicht sogar gesteigerter Macht und garantiert mehr Personal im Spiel. Das Wagner’sche Gesetz des unaufhaltsamen Mengen- und Kompetenzwachstums gilt nach wie vor: wie zum Beweis dafür, dass der Athener Solon der einzige Staatsmann war, der die Macht, die ihm übertragen worden war, freiwillig wieder abgegeben hat. Private und öffentliche Bürokratien lösen einander nicht ab, sie ergänzen, überlagern und verbünden sich und machen dem Bürger gemeinsam das Leben schwer. Sie beschwören seine Selbständigkeit und seine Eigenverantwortung, dulden sie aber nicht, weil dieser Bürger als sein eigener Herr die vielen anderen Herren, die Heerscharen der Berater, Betreuer und Bediener, überflüssig, also arbeitslos machen würde: was die Feindschaft der Bürokraten zwar verständlich, aber nicht besser macht. Sie wollen den Bürger an der Hand nehmen, am liebsten an beiden Händen, denn je weniger frei er sich bewegen kann, desto mehr ist er auf fremde, auf ihre Hilfe angewiesen. Dass er für sich selbst einstehen kann und will, ist ihnen unvorstellbar. Wenn sie ihm auf den Leib rücken, sprechen sie von Bürgernähe, wenn sie ihm in den Weg treten, betrachten sie sich als bürgerfreundlich, wenn sie ihn bevormunden, nennen sie das aktivieren. Privatheit als ein von staatlicher Einmischung und öffentlicher Neugier freier Raum ist ihnen suspekt, darin sind sich diejenigen Kräfte, die in Deutschland „gesellschaftlich relevant“ heißen, im Grundsatz einig. Zurzeit proben sie den Angriff auf die letzte Zitadelle des bürgerlichen Eigensinns, die Familie, und deren innersten Kern, die Kindererziehung. Die darf nicht in der Hand der Eltern liegen, sondern bei irgendwelchen Trägern: am besten beim Staat, ersatzweise bei Vereinen oder Verbänden, Anstalten oder Firmen oder wem auch immer. Nur nicht bei den Eltern! Familienfreundlich und bürgernah, kinder-, hunde-, frauen- oder behindertengerecht lauten die Schlagwörter, ohne die der öffentliche Dialog nicht mehr auskommt. Sie begegnen an jeder Straßenecke; aber stimmen sie auch? Erinnert ihre Ausgestaltung nicht an Kant, der eine Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk errichtet wäre, den größten denkbaren Despotismus genannt hat? Und läuft das, was die eine der beiden Großparteien unter dem Etikett der Wir-Gesellschaft, die andere unter dem Signum des aktivierenden Staates betreibt, nicht auf eine Lösung hinaus, für die früher Begriffe wie Volksheim oder Volksgemeinschaft in Umlauf waren? Auf einen Staat, in dem das Volk einen Anspruch darauf

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hat, von seiner Führung gehegt und gepflegt zu werden, wie Robert Ley sich ausdrückte? Die Freiheit der Bürger, meinte noch Hobbes, lebe vom Schweigen der Gesetze; vom Schweigen der Ämter, der Dienststellen und der Behörden wäre aus heutiger Sicht hinzuzufügen. Sie alle haben allerdings das Schweigen durch die Redseligkeit ersetzt. Sie wollen dem Bürger nichts zumuten, und weil sie ihm nichts zumuten, traut er sich selbst auch nichts mehr zu. Der fürsorgliche, auf das Prinzip des Wohlwollens gegründete Staat bringt hervor, was er zu bekämpfen vorgibt, den trägen, den wehleidigen, den inaktiven Bürger. Der Bürger duldet den Verlust an Freiheit in der Erwartung, dass er durch das Soziale, durch Wohlstandsgewinne wieder aufgewogen wird. Das ist jedoch eine Illusion; die allerdings von denen, die an diesem imaginären Tauschhandel verdienen, kräftig genährt wird. Die staatliche Bevormundung hat viele Verlierer, aber nur wenige Gewinner – zu denen mit letzter Sicherheit immer nur die Vormünder selbst gehören. Denn darauf, auf das wachsende Bedürfnis nach Betreuung und Bedienung, gründet ja ihre Macht; Not ist nötig, heißt es schon bei Nietzsche. Wenn die Gesetze und die Vorschriften, die Vorschriften und die Regeln, die Regeln und die Ausnahmen, die Ausnahmen und die Sondertatbestände, die Sondertatbestände und die Härtefallregelungen schneller kommen als gehen, blicken die Bürger nicht mehr durch. Dann sind sie auf die Helfer angewiesen, sind ängstlich, folgsam, harmlos und zufrieden: so, wie die Obrigkeit sie liebt. Was bleibt ihnen anderes übrig? Wer versteht eine Renteninformation, die ihn über seinen Kontostand, einen Rentenbescheid, der ihn über seine Ansprüche, eine Rentenformel, die ihn über Sinn und Zweck des Ganzen unterrichten soll? Das Gewirr aus Brutto-Standardrente und Renten-Nettoquote, aus Zuschlagsfaktor, Belastungsfaktor und Rentenartfaktor ist so undurchdringlich, dass Änderungen und Abweichungen, die es ja immer nur zu Lasten der Versicherten gibt, gar nicht mehr auffallen. Was brächte es auch, das alles zu verstehen, wenn es geändert, angepasst und novelliert wird, sobald man es endlich verstanden zu haben glaubt? Wer durchschaut die Geheimnisse der Riesterrente? Mein alter Hausarzt, kein ausgemachter Dummkopf, gestand mir neulich, sich eine volle Stunde lang in die Unterlagen vertieft zu haben; und immer noch nicht Bescheid zu wissen. Wer weiß Bescheid? Wer darf das hoffen? In einem Land, in dem an die 150 sozial genannte Transferleistungen von mehr als 40 verschieden Bewilligungsstellen berechnet, angewiesen, ausbezahlt, überprüft und am Ende dann wieder zurückgefordert werden, wahrscheinlich niemand; nicht einmal diejenigen, die das von sich behaupten. Auch eine fürsorgliche, aufs Wohlwollen gegen die Beherrschten gegründete Despotie bleibt eine Despotie, auch sie begrenzt und behindert die

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Freiheit, die zu bewahren und zu beschützen sie vorgibt. Ein ziemlich sicheres Indiz dafür, dass der Staat diese Wirkung kennt, sie allerdings so gut es geht zu verheimlichen sucht, sind die Euphemismen, mit denen er seine Gesetzgebungstätigkeit verziert. Eine Vorschrift, die ihm mehr Geld in die Kassen spülen soll, heißt nicht mehr Steueränderungs- oder gar -erhöhungsgesetz, sondern „Gesetz zur Förderung der Steuerehrlichkeit“; eine Regelung, mit der er eine bisher bestehende Vergünstigung beim Hausbau kassiert, nennt sich „Gesetz zur finanziellen Unterstützung der Innovationsoffensive durch Abschaffung der Eigenheimzulage“. Der Staat hat offenbar ein schlechtes Gewissen, und das zu Recht. Er scheut das Bekenntnis zu dem, was er vorhat, und verbirgt seine Absichten hinter einem Schwall von schönen Wörtern. Wer nichts versteht, muss alles glauben. Er wird zum Opfer der Experten, der eigentlichen Machthaber im modernen Staatsapparat; inzwischen sind sie mächtiger als die drei klassischen Gewalten zusammen. Der Staat, hatte Rousseau gesagt, werde nicht durch Gesetze zusammengehalten, sondern durch die gesetzgebende Gewalt. Er meinte: durch den Respekt vor der gesetzgebenden Gewalt, durch das Ansehen, das sie genießt, das Vertrauen, auf das sie bauen kann. Aus heutiger Sicht wäre das zu korrigieren, denn heute liegt die Staatsgewalt nur noch pro forma bei der Legislative; tatsächlich liegt sie in der Hand der Spezialisten. Sie sind die eigentlichen Urheber der tausend Gesetze und ihrer Surrogate, der Verordnungen und der Erlasse, der Richtlinien und der Anleitungen, nicht zu vergessen der Gutachten und Expertisen. Mögen die Abgeordneten auch sonst in ihren Entscheidungen frei sein, ans Votum der Experten sind sie allemal gebunden. Vor 50 Jahren hatte Gerhard Leibholz sich selbst und anderen die Frage vorgelegt, warum man an Stelle gewählter Politiker nicht die auf Objektivität verpflichteten Fachleute mit der Regierung betraue. Seine Antwort bestand in einem Hinweis darauf, dass das Politische eine Welt für sich bilde, nicht reduzierbar auf den Sachverstand der Spezialisten. Die Politik habe das Große und Ganze im Blick und das Gemeinwohl im Auge, und das verlange mehr als bloßen Fachverstand. Gilt das auch heute noch? Ist der Experte, der unter Berufung auf sein überlegenes Wissen Gehör verlangt und Gehorsam findet, nicht überall zur herrschenden Figur geworden, auch im politischen Betrieb? Sind es nicht die Fachleute, die überall die Richtung vorgeben, von der auch das Parlament nur um den Preis des Reputations- und Vertrauensverlustes abweichen kann? Muss sich die gesetzgebende Gewalt nicht ihrerseits vor einer anderen, höheren Gewalt legitimieren, der Wissenschaft? Und wer legitimiert, wenn das so ist, die Wissenschaft zu ihrem Machtgebrauch? Ist die verbreitete Klage über das Demokratiedefizit, die ja nicht nur auf europäischer

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Ebene zu hören ist, nicht allein schon deshalb heuchlerisch, irreführend und jedenfalls aussichtslos, weil der Experte seine Legitimation eben nicht aus der Zustimmung der Machtunterworfenen ableitet, sondern aus dem Anspruch auf Wahrheit? Das alte Dogma „Quod omnes tangit, ab omnibus comprobetur“ wäre dann hinfällig, denn der Fachmann ist nicht auf Mehrheit aus, sondern auf Wahrheit – oder auf das, was er so nennt. Die Identität von Regierenden und Regierten, die Idealvorstellung aller strenggläubigen Demokraten, war wohl schon immer eine Fiktion, und wahrscheinlich nicht einmal eine schöne. Aber erst jetzt, im Zeitalter der Expertenherrschaft, wird ihr fiktiver Charakter offenbar. Volk und Regierung fallen auseinander: auf der einen Seite sammeln sich die Fachleute für dies und das, für die Bekämpfung des Hungers, der Armut, der Krankheit, der Dürre, des Energiemangels oder des politischen Gegners – auch der Parteimensch ist ja ein Experte! –, auf der anderen die Bürger, die stillhalten und stillhalten müssen, weil sie das Spiel nicht mehr durchschauen. Wo die Experten das Sagen haben, verwandelt sich der Bürger zum Privatier, zum Idioten, wie man ihn in Athen, oder zum bourgeois, wie man ihn im revolutionären Frankreich abschätzig genannt hat. „Ihr macht in der Politik, was ihr wollt“, sagen die Wähler zu den Gewählten, und fügen hinzu: „Wir machen auch, was wir wollen.“ Ja, wenn man sie nur ließe!

Zielvereinbarungen im öffentlichen Recht Von Josef Aulehner* Zielvereinbarungen haben im Recht Hochkonjunktur. Ihnen kommt zunächst jedenfalls in Teilen des Privatrechts eine herausragende Bedeutung zu. Besonders stark verbreitet sind Zielvereinbarungen im Individualarbeitsrecht. Sie ergänzen hier das Direktionsrecht des Arbeitgebers und regeln insbesondere Tantiemen und Boni.1 Auch im öffentlichen Recht finden Zielvereinbarungen in der Praxis weit verbreitete Anwendung. I. Gesetzliche Verweise auf Zielvereinbarungen Die Gesetze rezipieren diese Entwicklung zunehmend und sehen den Abschluss von Zielvereinbarungen ausdrücklich vor. § 5 Behindertengleichstellungsgesetz schreibt Zielvereinbarungen zur Herstellung der Barrierefreiheit zwischen Behindertenverbänden einerseits und Unternehmensverbänden bzw. Unternehmen andererseits vor.2 Gemäß § 48 SGB II soll das Bundes* Meiner Kollegin, Frau Assessorin Nina Littich, bin ich zu herzlichem Dank verpflichtet. 1 Hümmerich, Zielvereinbarungen in der Praxis, NJW 2006, 2294 ff.; Däubler, Zielvereinbarungen als Mitbestimmungsproblem, NZA 2005, 793 ff.; Riesenhuber/ v. Steinau-Steinrück, Zielvereinbarungen, NZA 2005, 785 ff.; Berwanger, Noch einmal: Zielvereinbarungen auf dem Prüfstand, BB 2004, 551 ff.; Brors, Die individualrechtliche Zulässigkeit von Zielvereinbarungen, RdA 2004, 273 ff.; Deich, Die rechtliche Beurteilung von Zielvereinbarungen im Arbeitsverhältnis, 2004, S. 55 ff.; Schmiedl, Variable Vergütung trotz fehlender Zielvereinbarung?, BB 2004, 329 ff.; Behrens/Rinsdorf, Beweislast für die Zielerreichung bei Vergütungsansprüchen aus Zielvereinbarungen, NZA 2003, 364 ff.; Berwanger, Zielvereinbarungen und ihre rechtlichen Grundlagen, BB 2003, 1499 ff.; Bauer/Diller/Göpfert, Zielvereinbarungen auf dem arbeitsrechtlichen Prüfstand, BB 2002, 882 ff.; Köppen, Rechtliche Wirkungen arbeitsrechtlicher Zielvereinbarungen, DB 2002, 374 ff.; Lindemann/ Simon, Flexible Bonusregelungen im Arbeitsvertrag, BB 2002, 1807 ff.; Mauer, Zielbonusvereinbarungen als Vergütungsgrundlage im Arbeitsverhältnis, NZA 2002, 540 ff.; Schang, Die Mitbestimmung des Betriebsrats bei neuen Formen der Leistungsvergütung, 2002, S. 99 ff.; Geffken, Zielvereinbarungen – Eine Herausforderung für Personalwesen und Arbeitsrecht, NZA 2000, 1033 ff. 2 Zum Behindertengleichstellungsgesetz Stähler, Rechte behinderter Menschen – Änderungen und Neuregelungen durch das Behindertengleichstellungsgesetz, NZA 2002, 777 ff.

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ministerium für Wirtschaft und Arbeit mit der Bundesagentur Vereinbarungen zur Erreichung der Ziele nach dem SGB II schließen. Die Vereinbarungen können erforderliche Zustimmungen des Bundesministeriums ersetzen oder/und die Selbstbewirtschaftung von Haushaltsmitteln zulassen. Weite Verbreitung haben Zielvereinbarungen auch im Landesrecht – namentlich im Hochschulrecht – gefunden. Nach Art. 15 Abs. 1 Bayerisches Hochschulgesetz (BayHSchG) schließt das Bayerische Staatsministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst mit den Hochschulen Zielvereinbarungen, deren Gegenstand insbesondere die mehrjährige Entwicklung und Profilbildung der Hochschule unter Berücksichtigung der übergreifenden Interessen des Landes sein sollen. In der Zielvereinbarung werden insbesondere messbare und überprüfbare Ziele, das Verfahren zur Feststellung des Standes der Umsetzung der Zielvereinbarung und die Folgen bei Nichterreichen von vereinbarten Zielen festgelegt. Der Inhalt der Zielvereinbarung ist bei der Fortschreibung des Entwicklungsplans der Hochschule zu berücksichtigen. Nach Art. 15 Abs. 2 BayHSchG soll die Hochschulleitung im Rahmen ihrer Zuständigkeiten und auf der Grundlage der Entwicklungspläne Zielvereinbarungen mit den Fakultäten und zentralen Einrichtungen (wissenschaftlichen und künstlerischen Einrichtungen und Betriebseinheiten) abschließen. Zielvereinbarungen können auch zwischen dem Dekan oder der Dekanin und wissenschaftlichen und künstlerischen Einrichtungen und Betriebseinheiten geschlossen werden, die der Fakultät zugeordnet sind. Vergleichbare Regelungen finden sich im Hochschulrecht anderer Bundesländer.3 Der eingangs angeführte Befund einer rasanten Ausbreitung der Zielvereinbarungen erscheint damit bestätigt. II. Steuerung durch Zielvereinbarungen Diese Hochkonjunktur der Zielvereinbarungen ist Ausfluss des Wandels der Verwaltung.4 In der Verwaltung werden Globalbudgets durch eine de3 Kilian, Das neue Hochschulgesetz des Landes Sachsen-Anhalt, LKV 2005, 195 (199). Allgemein zu Zielvereinbarungen im Universitätsbereich siehe die Beiträge in Deutscher Hochschulverband (Hrsg.), Steuerung der Hochschulen durch Zielvereinbarungen, 2004; Hufeld, Staatlicher Schutz der Universitas litterarum, DÖV 2002, 309 (316 ff.) und speziell als Instrument der Gleichstellungspolitik Die Frauenbeauftragten der Berliner Universitäten (Hrsg.), Zielvereinbarungen als Instrument erfolgreicher Gleichstellungspolitik, 2002, S. 8 ff. 4 Siehe zur Steuerung durch Zielvereinbarungen Tondorf/Bahnmüller/Klages, Steuerung durch Zielvereinbarungen, 2002, S. 15 ff.

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zentrale Ressourcenverantwortung, Zentralisierung durch Dezentralisierung, Hierarchie durch Autonomie und Inputsteuerung durch Outputsteuerung ersetzt. Dieser Wandel wird unter dem Stichwort „Neues Steuerungsmodell“ zusammengefasst. Verwaltung mutiert vom Bürokratiemodell zum Dienstleistungsunternehmen. Das Bürokratiemodell von Max Weber fußt auf der abstrakten Regelbindung und dem Glauben an die Legitimität dieser Regeln. Im Einzelnen zeichnet es sich durch Rechtsbindung, Unparteilichkeit, Professionalität, Gleichbehandlung und Kontrollierbarkeit des Verwaltungshandelns aus. Charakteristische Elemente des Neuen Steuerungsmodells5 sind demgegenüber Verantwortungstrennung und Verantwortungsdezentralisierung, insbesondere dezentrale Ressourcenverantwortung, Controlling, produktorientierte Outputsteuerung, Qualitätsmanagement und – das Thema hier – Zielvereinbarungen. Im Einzelnen bedeuten Verantwortungstrennung und -dezentralisierung eine Entlastung von Detailsteuerung durch Globalsteuerung, die Beschränkung auf die Bestimmung, was, nicht wie etwas erbracht werden soll, „Steuerung auf Abstand“6, die Einheit von Fach- und Ressourcenverantwortung und das Management über Zielvereinbarungen. Controlling7 meint nicht nur retrospektive Kontrolle, sondern prospektive Steuerung und Überwachung der Budgetverwendung sowie der Erfüllung von Zielvereinbarungen. Dementsprechend unterscheidet man Budget-Controlling und Ziel-Controlling. Darüber hinaus sind mit dem Controlling ein Führungsunterstützungssystem sowie ein Entscheidungsvorbereitungs- und Informationsmanagementsystem verbunden. Hier sind strategisches Controlling als Weiterentwicklung des Handlungsrahmens der Verwaltung und operatives Controlling als Controlling in vorgegebenem Ziel-, Ressourcen- und Handlungsrahmen zu unterscheiden. Produktorientierte Outputsteuerung ist charakterisiert durch produktbezogene Budgetierung,8 durch die Zuordnung von Inputs und Outputs und durch einen Produktkatalog. 5 Vgl. Dahm, Das Neue Steuerungsmodell auf Bundes- und Länderebene sowie die Neuordnung der öffentlichen Finanzkontrolle in der Bundesrepublik Deutschland, 2004, S. 30 ff., 128 ff. 6 Vgl. z. B. Bals/Hack/Reichard (Hrsg.), Verwaltungsreform: Warum und wie, 2. Aufl. 2002, S. 188. 7 Pitschas, Struktur- und Funktionswandel der Aufsicht im Neuen Verwaltungsmanagement, DÖV 1998, 907 ff.; Lüder, Verwaltungscontrolling, DÖV 1993, 265 ff. 8 Vgl. z. B. Bals/Hack/Reichard (Hrsg.), Verwaltungsreform: Warum und wie, 2. Aufl. 2002, S. 47 ff.

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Qualitätsmanagement9 setzt eine Qualitätsstrategie und Instrumente der Qualitätssicherung voraus: Eine Qualitätsstrategie erfordert dabei Vorstellungen zur Qualitätsentwicklung, die Festlegung der Qualitätsverantwortung und Methoden der Qualitätssicherung. Instrumente der Qualitätssicherung sind Meinungsumfragen, Qualitätskostenermittlung, Leistungsvergleiche, Zertifizierung und ein Verbesserungsvorschlagswesen. Zielvereinbarungen nehmen im Neuen Steuerungsmodell deshalb eine zentrale Rolle ein, weil sie einerseits die weitgehende Autonomie der Beteiligten respektieren und andererseits trotzdem eine Koordination des Repräsentationsorgans mit der Verwaltungsspitze, der Verwaltungsspitze mit dem Verwaltungsunterbau und schließlich der Behördenleiterin oder des Behördenleiters mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ermöglichen. Führung durch Zielvereinbarungen erfolgt danach wie folgt:10 In politischen Zielvereinbarungen zwischen der Legislative und der obersten Verwaltungsführung werden Ziele zwischen der Exekutive und der Legislative vereinbart. Hier ist terminologische Vorsicht geboten, weil Legislative auf den Staat zielt. Zielvereinbarungen werden aber auch in Körperschaften – Gemeinden, Universitäten etc. – geschlossen. In Körperschaften betreffen die hier politisch genannten Zielvereinbarungen das Verhältnis zwischen dem Repräsentationsorgan – Gemeinderat, Senat – und der Verwaltungsspitze – Bürgermeisterin/Bürgermeister, Kanzlerin/Kanzler. Mit Verwaltungs-Zielvereinbarungen werden die Ziele weiter diversifiziert. Dabei ist zwischen horizontalen und vertikalen Verwaltungs-Zielvereinbarungen zu unterscheiden. Vertikale Verwaltungs-Zielvereinbarungen werden zwischen der Verwaltungsspitze und ihr nachgeordneten Stellen getroffen. Horizontale Verwaltungs-Zielvereinbarungen werden zwischen gleichgeordneten Stellen vereinbart. Während politische und Verwaltungs-Zielvereinbarungen Oberziele oder Produkt- bzw. Projektziele festlegen, regeln Personal-Zielvereinbarungen die berufliche Entwicklung. Aus dem Blickwinkel der Systemtheorie kommt Zielvereinbarungen folgende Bedeutung zu: Der Mensch hat keinen unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit. Um Zukunft gestalten zu können, bedarf es der kommunikativen Konstitution der Wirklichkeit und der Strukturbildung. Soziale Strukturen in diesem Sinn bilden die Erwartungen. Erwartungen limitieren die Möglichkeiten zukünftiger Ereignisse und stellen die Anschlussfähigkeit bestimmter, nicht beliebiger Ereignisse sicher, ohne auszuschließen, dass etwas 9

Zum Qualitätsmanagement in der öffentlichen Verwaltung vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Qualitätsmanagement in der Verwaltung, 2004, S. 9 ff., 20 ff., 36 ff., 125 ff.; Dunkhorst, Handbuch Qualitätsmanagement in der öffentlichen Verwaltung, 1999, S. 17 ff. 10 Anschaulich Chmel, Das Neue Berliner Verwaltungsmanagement, 1999, S. 296 ff.; Winter, Das Kontraktmanagement, 1998, S. 195 ff.

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Anderes, Unerwartetes geschieht.11 Zielvereinbarungen stellen kommunikativ generierte Erwartungen dar. Sie strukturieren Zukunft und machen sie damit gestaltbar. Zielvereinbarungen beinhalten eine prozedurale Vorstellung: Die Steuerung durch Zielvereinbarungen endet nicht mit der Vereinbarung. Zielvereinbarungen enthalten einen regelmäßigen Kommunikationszwang, der Erfolgskontrollen und Nachsteuerungen einschließt. III. Begriff der Zielvereinbarungen Zielvereinbarungen sind verbindliche Absprachen, zwischen zwei Ebenen oder auf derselben Ebene, für einen festgelegten Zeitraum, über die zu erbringenden Leistungen, deren Qualität und Menge, das hierzu erforderliche Budget bzw. die zur Verfügung stehenden Ressourcen sowie Art und Inhalt des Informationsaustausches.12 Zielvereinbarungen als Teil des Neuen Steuerungsmodells haben ihren Ursprung ebenso wie das Neue Steuerungsmodell im Verständnis der Verwaltung als Dienstleistungsunternehmen. Sie knüpfen dementsprechend an die Führung von Unternehmen an.13 Zielvereinbarungen sind dem Management by Objectives,14 dem Führen mit Zielen, der Goal-Setting-Theorie, derzufolge Ziele die Regulatoren menschlichen Handelns sind und den Balanced Scorecards, denen zufolge Unternehmensvisionen in Finanzen, Kunden, Prozesse, Lernen und Innovation aufgeteilt werden,15 nachempfunden.16 Zielvereinbarungen erfüllen folgende Funktionen: Steuerungsfunktion, Koordinationsfunktion, Führungsfunktion, Soll-Ist-Vergleich, Motivationsfunktion, Konsensfunktion und Personalentwicklungsfunktion. Zielvereinbarungen sollten eine Bestandsaufnahme beinhalten, den Bedarf an Neugestaltung benennen und Ziele enthalten. Dabei werden Leistungs-, 11

Zur kommunikativen Konstitution der Wirklichkeit aus dem Blickwinkel der Systemtheorie von Niklas Luhmann ausführlich Aulehner, Polizeiliche Gefahrenund Informationsvorsorge, 1998, S. 171 ff. 12 Zu den definitorischen Grundlagen vgl. Krause, Zielvereinbarungen und leistungsorientierte Vergütung, 2002, S. 5 ff. 13 Siehe dazu Koreimann, Führung durch Zielvereinbarung, 2003, S. 22 ff., 80 ff. 14 Vgl. z. B. Krause, Zielvereinbarungen und leistungsorientierte Vergütung, 2002, S. 15 ff., 17 ff., 35 ff. 15 Kiunke, Strategische Unternehmensplanung und Balanced Scorecard, 2005, S. 133 ff.; Krause, Zielvereinbarungen und leistungsorientierte Vergütung, 2002, S. 107 ff.; Kunz, Partnerschaftliche Zielvereinbarungen unter Berücksichtigung der Balanced Scorecard, BC 2000, 136 ff. 16 Vgl. z. B. Deich, Die rechtliche Beurteilung von Zielvereinbarungen im Arbeitsverhältnis, 2004, S. 11 ff.

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Finanz-, Qualitäts- und personenbezogene Ziele unterschieden. Zum Inhalt von Zielvereinbarungen gehört weiterhin die Festlegung eines Zielerreichungsgrads und eines Zielmaßstabs. Messkriterien für den Zielmaßstab sind dabei Menge, Zeit, Qualität, Wirkung und Kosten. Darüber hinaus können Kennzahlen als Messkriterien für den Zielmaßstab verwendet werden. Schließlich müssen Zielvereinbarungen einen Zeitraum festlegen. IV. Die Umsetzung von Zielvereinbarungen Im Folgenden soll versucht werden, das Konglomerat von Rechtsakten, das sich hinter den Zielvereinbarungen verbirgt, aufzufächern: Rechtskonstruktiv folgen die Zielvereinbarungen ganz überwiegend dem Abstraktionsprinzip: Sie differenzieren zwischen Verpflichtung und Verfügung. In einem Verpflichtungsteil werden die Ziele und die hierfür zur Verfügung gestellten Mittel vereinbart. In einem Verfügungsteil werden die Mittel zugewiesen und erforderliche Kompetenzen im Wege einer Delegation übertragen. 1. Delegation Die zur Umsetzung von Zielvereinbarungen erforderliche Übertragung von Kompetenzen kann grundsätzlich durch Boten- bzw. Gehilfenschaft, Amts- bzw. Vollzugshilfe, Organleihe und Mandat oder Delegation erfolgen.17 Eine bloße Boten- und Gehilfenschaft scheidet dabei von vorneherein aus. Danach könnte der Zuständigkeitsempfänger keine eigenen Entscheidungen treffen. Der Zuständigkeitsempfänger würde nur Entscheidungen des Zuständigkeitsgebers übermitteln. Dies ist mit dem Grundgedanken des Neuen Steuerungsmodells unvereinbar. Die Amts- bzw. Vollzugshilfe scheidet aus, weil hierbei die ersuchte Behörde die erforderliche Zuständigkeit und Befugnis bereits haben müsste. Denkbar wären eine Organleihe und ein Mandat. Bei Organleihe und Mandat übt der Zuständigkeitsempfänger aber keine eigene Zuständigkeit, sondern eine fremde aus.18 Dies ist mit dem Grundgedanken des Neuen Steuerungsmodells ebenfalls nicht bzw. nur schwer vereinbar. Nahe liegt indessen die Annahme einer Delegation.19 Hier ist zwischen echter und unechter Delegation zu unterscheiden. Eine echte Delegation 17 Vgl. dazu Pitschas/Aulehner, Polizeiliche Gefahrenabwehr durch kommunale Parküberwachung?, BayVBl. 1990, 417 (421 ff.). 18 Siehe zur Organleihe Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2004, § 21 Rdnrn. 54 ff. 19 Vgl. dazu m. w. N. Sensburg, Der kommunale Verwaltungskontrakt, 2004, S. 156 ff.

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setzt den Verlust der Kompetenz beim Zuständigkeitsgeber und das Entstehen der Kompetenz beim Zuständigkeitsnehmer voraus. Die Kompetenzübertragung muss dabei nicht endgültig sein. Sie kann zeitlich befristet oder widerrufbar erfolgen. Auch ein Kontrollrecht des Zuständigkeitsgebers bezüglich der delegierten Kompetenz ist möglich. Innerhalb der unechten Delegation ist insbesondere an die konservierende Delegation zu denken. Bei der konservierenden Delegation wird die Kompetenz zwar übertragen, der Zuständigkeitsgeber behält sich aber die weitere Ausübung vor. Um dem Neuen Steuerungsmodell gerecht zu werden, muss eine echte Delegation erfolgen. Der Zuständigkeitsempfänger erhält ein Budget, mit welchem er die Ziele erfüllen soll. Dies schließt Eingriffe des Zuständigkeitsgebers grundsätzlich aus. Sie wären mit der Autonomie und dem Budgetrecht des Zuständigkeitsempfängers unvereinbar. Eine zeitliche Befristung oder Rückholbarkeit der delegierten Kompetenzen steht nicht entgegen. Hier liegt bis zum Fristablauf bzw. bis zur expliziten Rückholung der delegierten Kompetenz eine echte Delegation vor. Die Rechtsnatur der Delegation ist streitig. Teilweise wird angenommen, eine Delegation müsse durch Gesetz, Rechtsverordnung oder Satzung erfolgen oder in der Delegation ein einseitiger Rechtsakt gesehen. Unabhängig davon stellt die Delegation als Verfügungsteil einer Zielvereinbarung keine Formanforderungen an die ihr zugrunde liegende Zielvereinbarung. Die Delegation kann daher sowohl auf der Grundlage eines öffentlich-rechtlichen Vertrages als auch im Rahmen eines bloßen Agreements erfolgen. 2. Ressourcenzuweisung Ein vergleichbares Ergebnis zeigt der Blick auf die Zurverfügungstellung von Haushaltsmitteln. Mittelzuweisungen erfolgen durch den Haushaltsplan, der durch das Haushaltsgesetz festgestellt wird. Haushaltsplan und Haushaltsgesetz unterscheiden sich grundlegend von Zielvereinbarungen: Haushaltsplan und Haushaltsgesetz weisen Mittel inputorientiert zu. Zielvereinbarungen sind outputorientiert. Haushaltsplan und Haushaltsgesetz unterliegen dem Bepackungsverbot. Es dürfen nur Regelungen für die zeitliche Dauer des Haushaltsgesetzes aufgenommen werden. Inhaltlich darf sich das Haushaltsgesetz nur auf die öffentlichen Einnahmen und Ausgaben beziehen. Die Rechtsqualität der Zielvereinbarungen ist für die Übertragung von Kompetenzen und Haushaltsmitteln nicht entscheidend. Entscheidend ist aber die zeitliche Abfolge der zu erreichenden Ziele und der hierfür über-

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tragenen Kompetenzen und Haushaltsmittel: Werden Kompetenzen und Haushaltsmittel vor der Zielerreichung übertragen, ist nur ein „Rechtsgrund zum Behaltendürfen“ erforderlich. Ist die zeitliche Abfolge umgekehrt, ist ein subjektives öffentliches Recht auf Übertragung der Kompetenzen und Haushaltsmittel nötig. V. Zielvereinbarungen und Handlungsformen der Verwaltung Bevor die Rechtsnatur von Zielvereinbarungen bestimmt werden kann, benötigt man einen groben Überblick über das Spektrum der Handlungsformen der Verwaltung.20 1. Die Handlungsformen der Verwaltung im Überblick Nach der unterschiedlichen dogmatischen Strukturdichte lassen sich die Rechtsformen des Verwaltungshandelns, die rechtlich weniger strukturierten Handlungsformen und die rechtlich nicht strukturierten Handlungsformen der Verwaltung unterscheiden:21 Rechtsformen des Verwaltungshandelns sind der Verwaltungsakt, der öffentlich-rechtliche Vertrag, die Satzung und die Rechtsverordnung. Rechtlich weniger strukturiert sind die Verwaltungsvorschriften, die Pläne und die Subventionen. Rechtlich nicht strukturierte Handlungsformen sind die Realakte und das informale Regierungs- und Verwaltungshandeln. Innerhalb des informalen Regierungs- und Verwaltungshandelns kann zwischen normvollziehenden Verfahrenshandlungen und Absprachen, normvertretenden Absprachen und Absprachen mit normvollziehenden und normvertretenden Elementen unterschieden werden.22 Innerhalb der normvollziehenden Verfahrenshandlungen und Absprachen kann zwischen Vorverhandlungen, der Vorabzusendung von Bescheidsentwürfen und Absprachen differenziert werden. Innerhalb der Absprachen kann wiederum zwischen einfachen Absprachen, Vergleichsabsprachen und Austauschabsprachen getrennt werden. Normvertretende Absprachen sind insbesondere Selbstbeschränkungsabkommen.23 20 Näher zu Handlungsformen und Verwaltungstypen siehe Aulehner, Polizeiliche Gefahren- und Informationsvorsorge, 1998, S. 517 ff. 21 Siehe hierzu Schuppert, Verwaltungswissenschaft, 2000, S. 141 f., 236 ff. Vgl. zu einer Systematik der Handlungsformen Schmidt-Preuß, Verwaltung und Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung, VVDStRL 56 (1997), 160 (225 f.). 22 Zur Typologie, den Anliegen, den Wesensmerkmalen, den rechtlichen Anforderungen und Rechtswirkungen von Konsensvereinbarungen vgl. Huber, P. M., Konsensvereinbarung und Gesetzgebung, ZG 2002, 245 ff.

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2. Zielvereinbarungen und die Rechtsformen des Verwaltungshandelns Im Folgenden wird zunächst versucht, die Zielvereinbarungen den Rechtsformen des Verwaltungshandelns zuzuordnen: a) Zielvereinbarungen als Verwaltungsakte? Zielvereinbarungen sind keine Verwaltungsakte.24 Zielvereinbarungen sollen konsensual ausgehandelt und nicht einseitig oktroyiert werden. Werden Ziele einseitig vorgegeben, handelt es sich um Zielvorgaben, nicht um Zielvereinbarungen. Beispielhaft hierfür können die Zielfestlegungen nach § 25 Abs. 1 KrW-/AbfG sein.25 Zielvereinbarungen sollen zwar durch gleichgewichtige Partner getroffen werden. Sie sollen auch Ergebnis eines kommunikativen Prozesses und eines Konsenses sein. Ob dies tatsächlich immer der Fall ist, darf jedoch bezweifelt werden. Zielvereinbarungen suggerieren möglicherweise nur, dass auch die Ziele, insbesondere die strategischen Oberziele, frei vereinbar sind. Tatsächlich unterliegen die Ziele rechtlichen Grenzen und werden überdies durch das Repräsentationsorgan weitgehend autoritär festgelegt. Zwar stehen das Repräsentationsorgan und die Verwaltungsspitze typischerweise nicht in einem klassischen Über-/Unterordnungsverhältnis, sondern nehmen jeweils unterschiedliche Aufgaben wahr. Möglicherweise beschränkt sich der Einfluss der Verwaltungsspitze im Rahmen politischer Zielvereinbarungen aber doch auf den Hinweis einer fehlenden bzw. problematischen Umsetzbarkeit der Ziele. Auch darf bezweifelt werden, ob für die Beamtin oder den Beamten am unteren Ende der Hierarchie und deren Vorgesetzte überhaupt noch ein hinreichender Entscheidungsspielraum für den Abschluss einer Zielvereinbarung verbleibt. Die in mehreren Ebenen von Zielvereinbarungen diversifizierten Oberziele lassen möglicherweise auf der untersten Ebene so wenig Entscheidungsraum, dass faktisch allenfalls als Zielvereinbarungen kaschierte Weisungen erfolgen. 23 Oebbecke, Die staatliche Mitwirkung an gesetzesabwendenden Vereinbarungen, DVBl. 1986, 793 (793); v. Zezschwitz, Wirtschaftsrechtliche Lenkungstechniken – Selbstbeschränkungsabkommen, Gentlemen’s Agreement, Moral Suasion, Zwangskartell, JA 1978, 497 (501). 24 Zur Erfüllung der Merkmale von Verwaltungsakten durch Zielvereinbarungen Hill, Zur Rechtsdogmatik von Zielvereinbarungen in Verwaltungen, NVwZ 2002, 1059 (1061 f.). 25 Vgl. Shirvani, Das Kooperationsprinzip im deutschen und europäischen Umweltrecht, 2005, S. 194 f. Allgemein zu Zielfestlegungen nach dem AbfG Scholz/ Aulehner, Umweltstrategien im Verpackungsrecht, 1998, S. 23, 28, 29.

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b) Zielvereinbarungen als öffentlich-rechtliche Verträge? Näher liegt gleichwohl die Möglichkeit, Zielvereinbarungen als öffentlich-rechtliche Verträge zu qualifizieren.26 Der öffentlich-rechtliche Vertrag ist die rechtlich verfasste Variante kooperativer Prozesse. § 54 S. 1 VwVfG spricht von einem Vertrag, durch den ein Rechtsverhältnis auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts begründet, geändert oder aufgehoben wird. In der Zusammenschau mit § 1 Abs. 1 und § 9 ergibt sich aber, dass die §§ 54 ff. VwVfG nur die öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit der Behörden im Rahmen von Verwaltungsverfahren unmittelbar erfassen. So heterogen sich die Zielvereinbarungen im öffentlichen Recht einerseits darstellen, so klar erscheint andererseits, dass jedenfalls ein Partner der Zielvereinbarung den Behördenbegriff im Sinne des § 1 Abs. 1 VwVfG erfüllt. Nach dem weiten und umfassenden Behördenbegriff erfüllt nämlich jede mit Aufgaben der öffentlichen Verwaltung betraute Stelle den Behördenbegriff. Dies gilt entsprechend für das Vorliegen eines Verwaltungsrechtsverhältnisses. Rechtsverhältnis ist die durch Verwaltungsrechtsnormen gestaltete Beziehung zwischen zwei Rechtssubjekten oder zwischen einem Rechtssubjekt und einem Rechtsobjekt. Dass es sich um ein Rechtsverhältnis auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts handelt, erscheint für die politischen und die VerwaltungsZielvereinbarungen ebenfalls unproblematisch. Zweifelhaft ist, ob Zielvereinbarungen Einzelfälle regeln. Die Forderung eines Einzelfalls als Vertragsgegenstand liegt jedenfalls bei subordinationsrechtlichen öffentlich-rechtlichen Verträgen, welche Verwaltungsakte ersetzen, nahe. Sie entspricht darüber hinaus aber auch der Grundkonzeption des VwVfG und kann daher auch in koordinationsrechtlichen Konstellationen gefordert werden. Fraglich ist, ob die Zielvereinbarungen Einzelfälle regeln: Dagegen spricht zwar, dass Zielvereinbarungen Leistungsziele, Finanzziele, Qualitätsziele und personenbezogene Ziele festlegen. Dafür spricht aber, dass Zielvereinbarungen sich nicht hierauf beschränken, sondern darüber hinaus eine Bestandsaufnahme enthalten, den Zielerreichungsgrad, den Zielmaßstab und den Geltungszeitraum festlegen. Hier erweist sich die Unschärfe des Begriffs der Zielvereinbarung als problematisch. Zum einen weisen die schon erwähnten politischen und Verwaltungs-Zielvereinbarungen naturgemäß eine zunehmende Detailliertheit auf. Zum anderen gilt dies entsprechend für Rahmen-Zielvereinbarungen einerseits und deren Umsetzung andererseits. Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass Zielvereinbarungen jedenfalls Einzelfallregelungen darstellen können.

26 Zum Entwicklungsstand der Verwaltungsvertragsrechtsdogmatik Kaminski, Die Kündigung von Verwaltungsverträgen, 2005, S. 29 ff.

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aa) Die Zielvereinbarungspartner als Rechtssubjekte Problematisch ist, ob eine oder beide Parteien einer Zielvereinbarung Rechtssubjekte und Träger subjektiver Rechte sind. Ein Organ ist Rechtssubjekt, wenn es eine objektive Rechtsnorm gibt, die eine bestimmte Verhaltenspflicht statuiert, und diese Rechtsnorm im Interesse des berechtigten Organs steht. Auf dieser Grundlage wird eine jedenfalls teilweise Rechtssubjektivität bejaht, weil sich in den unterschiedlichen Organen eine Interessendifferenzierung widerspiegelt, die Rechtsordnung einem im übrigen nicht rechtsfähigen Gebilde für die Erfüllung bestimmter Aufgaben eine begrenzte Rechtsfähigkeit zuweisen kann und zwischen den Organen auszubalancierende und auszutarierende Interessen bestehen. Mithin ist auch die geforderte Rechtssubjektivität grundsätzlich zu bejahen. Dabei steht jedoch zu befürchten, dass auch hier die theoretische Vorstellung von den Zielvereinbarungen und deren Realität divergieren. Insbesondere erscheint fraglich, ob Zielvereinbarungen wirklich nur in solchen Verhältnissen erfolgen, in denen eine direkte Weisung nicht möglich wäre. Dies würde bedeuten, dass Personal-Zielvereinbarungen nur in Frage kommen, wenn sich die oder der Vorgesetzte von der Beamtin oder dem Beamten eine überobligationsmäßige Leistung im Wege der Zielvereinbarung versprechen lässt. Für die politischen und Verwaltungs-Zielvereinbarungen würde dies bedeuten, dass diese nur möglich wären, soweit keine Rechtsund Fachaufsicht und ein hieraus resultierendes Weisungsrecht bestehen. Die Richtigkeit dieser Prämisse darf mit einem Blick auf die Praxis bezweifelt werden. Hier finden sich Personal-Zielvereinbarungen, denen zufolge Beamtinnen und Beamte die ihnen ohnedies obliegenden Dienstpflichten überhaupt oder besonders gut erfüllen und hierfür eine Gegenleistung erhalten. Darüber hinaus finden sich entsprechende politische und VerwaltungsZielvereinbarungen. Daher können Zielvereinbarungen sowohl Leistungen und Gegenleistungen verlangen, zu denen die Partner verpflichtet sind, als auch solche, zu denen sie nicht verpflichtet sind. Zielvereinbarungen können auch Leistungen vorsehen, die im Wege einer Weisung erreichbar wären. bb) Der Rechtsbindungswille der Zielvereinbarungspartner Im Folgenden ist mit der Frage, ob die Partner einer Zielvereinbarung mit Rechtsbindungswillen handeln, auf die zentrale Problematik der Zielvereinbarungen einzugehen. Für die Auslegung von Willenserklärungen von Behörden sind der Wortlaut sowie die systematische, die teleologische und die historische Aus-

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legung entscheidend. Die Auslegung erfolgt nach dem Empfängerhorizont und gesetzeskonform.27 Gegen einen Rechtsbindungswillen sprechen insbesondere folgende Umstände.28 Soweit eine Zielvereinbarung im Rahmen des Neuen Steuerungsmodells erfolgt, ist ein Rechtsbindungswille grundsätzlich zu verneinen. Das Neue Steuerungsmodell will eine neue Vertrauenskultur etablieren. Die Verwaltung will Ziele erreichen, welche mit den klassischen Handlungsformen nicht erreichbar sind. Willenserklärungen dienen zum einen der Selbstbestimmung und der Verwirklichung des Rechtsfolgewillens und haben zum anderen eine Aussagefunktion. Im Hinblick auf ihre Aussagefunktion sind sie darauf gerichtet, von anderen zur Kenntnis genommen zu werden. Sie sind insoweit ein Akt zwischenmenschlicher sozialer Kommunikation. Die Bindungswirkung der Zielvereinbarungen beschränkt sich auf die zwischenmenschliche soziale Kommunikation. Öffnungsklauseln – z. B. „einer neuen politischen Schwerpunktsetzung wird durch eine Änderungsvereinbarung Rechnung getragen“ – zeigen, dass der konsensuale Prozess fortgesetzt und nicht einseitig vermeintliche Rechte aus der Zielvereinbarung durchgesetzt werden sollen. Selbst wenn man einen Rechtsbindungswillen bejahen wollte, könnten die Einklagbarkeit und Vollstreckbarkeit der gegenseitigen Rechte und Pflichten immer noch ausdrücklich oder konkludent ausgeschlossen sein. Demzufolge stellen Zielvereinbarungen grundsätzlich keine öffentlich-rechtlichen Verträge dar.29 3. Zielvereinbarungen und informales Verwaltungshandeln Zielvereinbarungen können dem rechtsförmlichen oder dem informalen Verwaltungshandeln unterfallen. Entscheidend ist der Rechtsbindungswille der Partner. Die Zielvereinbarungen sind mithin allenfalls teilweise dem rechtsförmlichen Verwaltungshandeln zuzuordnen. Der Blick ist daher im Folgenden auf das informale Verwaltungshandeln zu richten. Die Zuordnung der Zielvereinbarungen zum informalen Verwaltungshandeln ist Erfolg versprechend. Informales Verwaltungshandeln ist nämlich einerseits dem förmlichen Verwaltungshandeln ähnlich. Andererseits bleibt das informale Verwaltungshandeln zum formalen auf Distanz. Informale 27 Allgemein zu den Auslegungsmethoden Scholz/Aulehner, Berufsbeamtentum nach der deutschen Wiedervereinigung, Archiv PT 1993, 5 (15 ff.). 28 Eine Bindungswirkung verneint Trute, Die Rechtsqualität von Zielvereinbarungen und Leistungsverträgen im Hochschulbereich, WissR 33 (2000), 134 (146). 29 Ebenso im Ergebnis Bull, in: Ipsen (Hrsg.), Verwaltungsreform. Herausforderung für Staat und Kommunen, 1996, S. 69 ff., 75.

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Absprachen orientieren sich ebenso wie formale am Tauschprinzip: Einer Leistung steht eine Gegenleistung gegenüber. Beispielsweise werden freiwillig Sanierungsmaßnahmen vorgenommen. Im Gegenzug erfolgen keine diesbezüglichen behördlichen Anordnungen. Informales Verwaltungshandeln unterliegt ebenso wie formales Verwaltungshandeln dem Vorbehalt des Gesetzes. Inwieweit informales oder formales Verwaltungshandeln dem Vorbehalt des Gesetzes unterliegt, ist nach der Wesentlichkeitstheorie zu beurteilen. Formales Verwaltungshandeln kann zu Grundrechtseingriffen führen. Informales Verwaltungshandeln und Verwaltungshandeln im Vorfeld und im Rahmen von Zielvereinbarungen kann faktische Zwänge bewirken. Formales und informales Verwaltungshandeln unterliegen dem Vorrang des Gesetzes. Hieraus ergeben sich verfahrensrechtliche und materiellrechtliche Vorgaben. Im Rahmen der verfahrensrechtlichen Vorgaben ist zum einen der Grundrechtsschutz durch Verfahren zu beachten. Zum anderen ist der Grundrechtsschutz Drittbetroffener in Rechnung zu stellen. Im Rahmen der materiellrechtlichen Vorgaben bleibt es bei der Letztverantwortung der Behörde. a) Rechtliche Umsetzung des unterschiedlichen Rechtsbindungswillens Der Rechtsbindungswille der Partner einer Zielvereinbarung kann nicht nur bejaht oder verneint werden. Es sind vielmehr unterschiedliche Intensitäten möglich und rechtlich abbildbar. Rechtskonstruktiv ist dies über die Ausgestaltung des Agreementsbegriffs und die Intensität des bestehenden Treueverhältnisses möglich. aa) Der Begriff des Agreements Zielvereinbarungen können insbesondere Agreements darstellen.30 Agreements können rechtlich unbewehrte, öffentlich-rechtliche Verträge, vertragsähnliche Vereinbarungen ohne Einklagbarkeit oder soziologische Konstrukte sein. Teilweise werden Agreements als öffentlich-rechtliche Verträge im Sinne der §§ 54 ff. VwVfG verstanden. Hierzu wird der Rechtsbindungswille der Partner eines Agreements bejaht. Verneint wird nur eine Sanktionierung von Verstößen. Andere verstehen Agreements umgekehrt als vertragsähnliche Vereinbarungen, auf welche die Normen des öffentlichrechtlichen Vertrags analog angewandt werden. Eine weitere Ansicht weist Agreements nur eine soziale Bindungswirkung zu. Sie sieht in Agreements bloße wechselseitige Empfehlungen, über deren Befolgung sich die Betei30 Ausführlich zur Qualifizierung von Zielvereinbarungen als Agreements Sensburg, Der kommunale Verwaltungskontrakt, 2004, S. 151 ff.

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ligten einig seien. Es handele sich um Absichtsbekundungen. Diese lösten eine faktische Bindung aus. Die Beteiligten sähen sich in der Regel veranlasst, sich im weiteren Verfahren entsprechend den Absichtserklärungen zu verhalten. Der jeweiligen Intensität des Rechtsbindungswillens kann darüber hinaus durch die unterschiedliche Ausgestaltung des Treueverhältnisses Rechnung getragen werden. bb) Das Treueverhältnis Nach dem Neuen Steuerungsmodell ist das Verhältnis der Partner einer Zielvereinbarung weder auf Separation noch auf Konfrontation gerichtet. Das Verhältnis der Partner zueinander zielt vielmehr auf gegenseitige Abstimmung, Koordination, Information, Rücksichtnahme und Mitwirkung. Das Treueverhältnis ist akzessorisch zu vorgegebenen Rechtsbeziehungen. Gegenüber besonderen Regelungen ist es nachrangig.31 Aus dem Treueverhältnis ergeben sich insbesondere eine Kompetenzüberschreitungsschranke und eine Handlungsverpflichtung. Das Treueverhältnis wirkt kompetenzbeschränkend. Bestehende Kompetenzen sollen nicht überschritten werden. Sie sollen im Hinblick auf die übrigen Beteiligten und Betroffenen ausgeübt werden. Im Zusammenhang mit einer Zielvereinbarung übertragene Kompetenzen sollen nicht im Widerspruch zur Zielvereinbarung zurückgeholt werden. Das Treueverhältnis kann darüber hinaus eine Pflicht zur Gleichbehandlung sowie ein Verbot, sich widersprüchlich zu verhalten, begründen. Im Zusammenhang mit einer Zielvereinbarung kann es insbesondere eine Pflicht zur Zusammenarbeit und Rücksichtnahme begründen. Agreementsbegriff und Treueverhältnis sind mithin zwei Möglichkeiten, mit denen man dem unterschiedlichen Rechtsbindungswillen gerecht werden kann. b) Zielvereinbarungen und Rechtsverhältnis Darüber hinaus begründen Zielvereinbarungen jedenfalls ein Rechtsverhältnis.32 31

Zum Treueverhältnis vgl. Lorz, Interorganrespekt im Verfassungsrecht, 2001, S. 33 ff.; Brohm, Gemeindliche Selbstverwaltung und staatliche Raumplanung, DÖV 1989, 429 (438). 32 Zur zentralen Bedeutung des Begriffs des Rechtsverhältnisses Kellner, Haftungsprobleme bei informellem Verwaltungshandeln, 2004, S. 49 ff.; Aulehner, Polizeiliche Gefahren- und Informationsvorsorge, 1998, S. 522 ff.; Miller, Rechts-

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Das allgemeine Verwaltungsrecht hat seine vordem bestehende duale Ordnung gesprengt. Informales, kooperatives und konsensuales Verwaltungshandeln nivellieren die ehemaligen Gegensätze von öffentlichem und privatem Recht, Innen- und Außenrecht sowie der Gesetzgebung und des Gesetzesvollzugs. Das Recht muss der Mehrpoligkeit Rechnung tragen, zeitlich bereits früher einsetzen, die Festlegung der Ziele und Zwecke bestimmen, die Folgen einer Verwaltungsmaßnahme kontrollieren und insbesondere die materiellen, nicht nur die formellen Kriterien bestimmen, mit deren Hilfe ein Ausgleich der divergierenden rechtlichen Vorgaben gefunden werden kann. Die Bedeutung des „Rechtsverhältnisses“ für die Verwaltungsrechtsdogmatik wird äußerst kontrovers eingeschätzt. Das Rechtsverhältnis beschreibt aber jedenfalls die rechtliche Qualität des Verhältnisses von Bürgerinnen und Bürgern zur Verwaltung sowie zwischen Verwaltungseinheiten. Die insbesondere im Hinblick auf die Konturlosigkeit des Verwaltungsrechtsverhältnisses vorgetragene Kritik vermag nicht zu überzeugen. Der Verwaltungsakt bleibt zwar ebenso wie der öffentlich-rechtliche Vertrag ein „unverrückbarer, archimedischer Punkt des Rechtsschutzsystems“.33 Trotzdem fußt auch das durch den Verwaltungsakt gebildete besondere Verwaltungsrechtsverhältnis auf einem allgemeinen Rechtsverhältnis. Das allgemeine Rechtsverhältnis erweist sich als Bindeglied zwischen dem durch das Grundgesetz determinierten Verfassungsrechtsverhältnis und dessen Konkretisierung im Einzelfall durch Verwaltungsakt oder öffentlich-rechtlichen Vertrag. Darüber hinaus setzt eine an konkreten Rechtsverhältnissen ausgerichtete Dogmatik des öffentlichen Rechts den Gedanken eines allgemeinen Rechtsverhältnisses voraus. Fälschlicherweise wurden Verwaltungsakte und öffentlich-rechtliche Verträge einerseits und die Verwaltungsrechtsverhältnisse andererseits in eine Frontstellung gebracht. Richtigerweise ergänzen sich beide. Das Verwaltungsrechtsverhältnis stellt sich als „dogmatische Grundfigur“ des Verwaltungsrechts dar. Es kann die klassischen exekutiven Handlungsformen, aber auch neuere Entwicklungen, namentlich das informale Verwaltungshandeln, aufnehmen. Andererseits ist das Verwaltungsrechtsverhältnis dogmatisch bislang noch nicht so weit fortentwickelt, dass ihm konkrete Problemlösungen entnommen werden könnten.

probleme modernen Verwaltungshandelns – Das Organisationsrecht als Hindernis auf dem Weg zu einer neuen Verwaltung?, LKV 1998, 421 (424 f.); Schulte, Schlichtes Verwaltungshandeln, 1995, S. 203 ff. 33 Öhlinger, Rechtsverhältnisse in der Leistungsverwaltung, VVDStRL 45 (1987), 182 (190).

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VI. Zusammenfassung in Thesen 1. Zielvereinbarungen sind faktisch weit verbreitet und werden zunehmend durch Gesetze in allen Rechtsgebieten rezipiert. Ursächlich hierfür ist der unter dem Stichwort „Neues Steuerungsmodell“ zusammengefasste Wandel der Verwaltung. 2. Die Zielvereinbarung gibt es nicht. Der Begriff „Zielvereinbarung“ ist ein Sammelbegriff, dem unterschiedliche Konstrukte unterfallen. 3. Es ist zwischen politischen, Verwaltungs- und Personal-Zielvereinbarungen zu differenzieren. Innerhalb der Verwaltungs-Zielvereinbarungen ist zwischen vertikalen und horizontalen zu trennen. 4. Zielvereinbarungen sind verbindliche Absprachen, zwischen zwei Ebenen oder auf derselben Ebene, für einen festgelegten Zeitraum, über die zu erbringenden Leistungen, deren Qualität und Menge, das hierzu erforderliche Budget bzw. die zur Verfügung stehenden Ressourcen sowie Art und Inhalt des Informationsaustausches. 5. In Zielvereinbarungen werden die zu erreichenden Ziele und die hierfür zur Verfügung gestellten Mittel vereinbart. Hiervon sind die Übertragung von Kompetenzen und die Zurverfügungstellung von Haushaltsmitteln zu trennen. 6. Die zeitliche Abfolge der zu erreichenden Ziele und der hierfür übertragenen Kompetenzen und Haushaltsmittel ist entscheidend: Werden Kompetenzen und Haushaltsmittel vor der Zielerreichung übertragen, ist nur ein „Rechtsgrund zum Behaltendürfen“ erforderlich. Ist die zeitliche Abfolge umgekehrt, ist ein subjektives öffentliches Recht auf Übertragung der Kompetenzen und Zurverfügungstellung der Haushaltsmittel nötig. 7. Zielvereinbarungen können sowohl Leistungen und Gegenleistungen vorsehen, zu denen die Partner verpflichtet sind, als auch solche, zu denen sie nicht verpflichtet sind. Zielvereinbarungen können auch Leistungen vorsehen, die im Wege einer Weisung erreichbar wären. 8. Zielvereinbarungen können dem rechtsförmlichen oder dem informalen Verwaltungshandeln unterfallen. Entscheidend ist der Rechtsbindungswille der Partner. 9. Der Rechtsbindungswille der Partner einer Zielvereinbarung kann nicht nur bejaht oder verneint werden. Es sind vielmehr unterschiedliche Intensitäten möglich und rechtlich abbildbar. Rechtskonstruktiv ist dies über die Ausgestaltung des Agreementsbegriffs und die Intensität des bestehenden Treueverhältnisses möglich. 10. Zielvereinbarungen begründen ein Rechtsverhältnis.

Das Verwaltungsrecht vor den Herausforderungen der Zukunft Von Michael Brenner I. Einleitung Das Verwaltungsrecht des – an Jahren ja noch jungen – 21. Jahrhunderts befindet sich im Umbruch. Dieser Umbruch ist jedoch nur zum Teil der immer schmerzhafter zutage tretenden Erkenntnis geschuldet, dass der Staat sowohl den ihm seit jeher zugewiesenen als auch den von ihm in wirtschafts- und sozialgestaltender Intention fortwährend mit Lust akquirierten Aufgaben finanziell schon bald nicht mehr gewachsen sein könnte.1 Zu einem gewichtigen Teil sind es zwischenzeitlich auch von verwaltungswissenschaftlicher Seite vorgebrachte Forderungen nach einer mehr oder weniger umfassenden Reform des Verwaltungsrechts, die sich – beflügelt von neueren Entwicklungen wie der mit atemberaubender Geschwindigkeit voranschreitenden Informations- und Kommunikationstechnologie,2 ständig steigenden Risiken3 und der immer stärker ins Bewusstsein rückenden Globalisierung4 – als Manifestation dieses Umbruchs interpretieren lassen. Dass es freilich das der Verwaltung eigene Recht ist, das sich die Frage nach seiner Zukunftsfähigkeit gefallen lassen muss, mag erstaunen, schien doch bislang gerade in bewegten Zeiten dieses Rechtsgebiet – umrankt von bewährten verwaltungsrechtlichen Rechtsinstituten und Rechtsbegriffen und in dogmatischer Abgeklärtheit ruhend – in besonderer Weise dazu berufen, dem Verwaltungsstaat Wege aus der Krise aufzuzeigen. Indes geben seine nach wie vor bestehende Ausrichtung an der Eingriffsverwaltung, die Reserviertheit gegenüber nicht-imperativen Handlungsformen, seine Konzen1

s. hierzu pointiert Scholz, R., Deutschland – In guter Verfassung?, 2004, S. 191 ff., 203 ff. Ausführlich zur Problematik auch Leisner, A., Die Leistungsfähigkeit des Staates, 1998. 2 Vgl. hierzu mit Blick auf die Verwaltung Ernst, T., Modernisierung der Wirtschaftsverwaltung durch elektronische Kommunikation, 2005. 3 Zur Behandlung des Risikos im Recht näher Brenner, M./Nehrig, A., Das Risiko im öffentlichen Recht, DÖV 2003, S. 1024. 4 Vgl. Ruffert, M., Die Globalisierung als Herausforderung an das Öffentliche Recht, 2004.

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tration auf bipolare Interessenbeziehungen und eine die Prozesshaftigkeit des Verwaltungsverfahrens weitgehend ausblendende Ausrichtung am Entscheidungsergebnis5 doch hinreichend Anlass, unter gleichermaßen kritischer wie vorausschauender Hilfestellung der Verwaltungswissenschaft über so manche Neujustierung des Verwaltungsrechts nachzudenken.6 Daher werden im folgenden die Konturen und Perspektiven eines in unruhiges Fahrwasser geratenen Verwaltungsrechts auf seinem Weg in die Zukunft auszuleuchten sein, eines Verwaltungsrechts freilich, das sich jenseits aller dem Zeitgeist der Modernisierung dargebrachten Huldigungen und manchen systematischen Irrungen und dogmatischen Wirrungen zum Trotz auch in Zukunft stets seiner ihm vorrangig obliegenden Aufgabe zu versichern haben wird, die in den Worten des vorausschauenden Fritz Fleiner darin besteht, „die verwickelten und vielgestaltigen Beziehungen zwischen dem verwaltenden Staat (. . .) und dem Bürger auf einfache juristische Grundformen zurückzuführen“7. II. Die Anforderungen an ein modernes Verwaltungsrecht Das Anforderungsprofil an ein modernes, für die Herausforderungen der Zukunft gerüstetes Verwaltungsrecht ist ambitioniert, ausgreifend und vielschichtig.8 So soll ein solches Verwaltungsrecht unbürokratisch sein,9 Entscheidungsprozesse transparent machen10 und schnelle Entscheidungen ermöglichen,11 es soll gleichermaßen bürger- und investitionsfreundlich, flexi5 Vgl. Ehlers, D., Verwaltungsrecht, in: Erichsen, H.-U./Ehlers, D. (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 13. Aufl., 2006, § 3, Rdnr. 93. 6 Vgl. auch die Warnung bei Schoch, F., Die Europäisierung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, JZ 1995, S. 109, S. 119: „Wenn eine an Überdifferenziertheit leidende, hochgezüchtete Rechtsdogmatik (z. B. bei den Handlungsformen der Verwaltung, dem Ermessen und der Ermessensfehlerlehre, den diffizilen Unterscheidungen zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht, dem Subsystem des vorläufigen Rechtsschutzes) anderen nicht mehr vermittelbar ist, ist die Zeit reif für eine Selbstkritik“. 7 Fleiner, F., Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts, 8. Aufl., 1928, S. 44 f. In diese Richtung auch Ehlers, Verwaltungsrecht (Fn. 5), § 3, Rdnr. 94. 8 Hierzu auch Ruffert, M., Die Europäisierung der Verwaltungsrechtslehre, DV 2003, S. 293, sowie Schmidt-Aßmann, E., Die Europäisierung des Verwaltungsverfahrensrechts, in: Festgabe 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, 2003, S. 487 ff. 9 Hierzu Manssen, G., Verwaltungsrecht als Standortnachteil?, 2006. 10 Hierzu auch Pünder, H., „Open Government leads to Better Government“ – Überlegungen zur angemessenen Gestaltung von Verwaltungsverfahren, NuR 2005, S. 71. 11 Näher zur Thematik Hill, H., eGovernment – Mode oder Chance zur nachhaltigen Modernisierung der Verwaltung?, BayVBl. 2003, S. 737; Schliesky, U., Auswirkungen des E-Government auf Verfahrensrecht und kommunale Verwaltungs-

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bel und innovationsfördernd sein, es soll auf Konsens ausgerichtet sein12 und Akzeptanz erzeugen,13 die Stabilität und Revisibilität von Verwaltungshandlungen gleichermaßen gewährleisten und schließlich den Anforderungen der Risiko- und zunehmend der Informationsgesellschaft14 ebenso gerecht werden wie den hoch- und ständig höher gesteckten Erwartungen eines sich dem ökologischen Prinzip15 verpflichteten Gemeinwesens. Schließlich soll eine modernes Verwaltungsrecht stetig die Vorgaben des europäischen Verwaltungsrechts in sich aufnehmen16 und mit diesem zusammen ein Modell der vertikalen Schichtung, der gegenseitigen Beeinflussung und Verzahnung,17 ein politisch-administratives Mehrebenensystem18 oder ein durch eine gegenseitige Auffangverantwortung gekennzeichnetes Netzwerk bilden, das als Konstrukt „vielfältig verknüpfter Ebenen, Aufgaben, Verantwortungen und Kompetenzen, Institutionen, Entscheidungsverfahren, Legitimationsbedingungen und kultureller Voraussetzungen“19 vorzustellen ist. III. Entwicklungslinien des Verwaltungsrechts Dieses hochgesteckte Bukett von Erwartungen macht freilich zugleich deutlich, dass es bei aller Berechtigung von Reformforderungen gleichermaßen utopisch wie sachlich unangemessen wäre, den Umbruch, in dem sich das Verwaltungsrecht gegenwärtig befindet, zum Anlass für seine Neuordstrukturen, NVwZ 2003, S. 1322; Heckmann, D., E-Government im Verwaltungsalltag, K & R 2003, S. 425. 12 Ausführlich hierzu die von Ziekow, J. herausgegebene Dokumentation des Workshops „Public Private Partnership – Projekte, Probleme, Perspektiven“, Speyerer Forschungsberichte 229, 2003. s. auch v. Danwitz, T., Systemgedanken eines Rechts der Verwaltungskooperation, in: Schmidt-Aßmann, E./Hoffmann-Riem, W. (Hrsg.), Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts, 1999, S. 171. 13 Zum rechtlichen Rahmen für Verhandlungslösungen frühzeitig Hoffmann-Riem, W., Konfliktmittler in Verwaltungsverhandlungen, 1989. 14 Ehlers, Verwaltungsrecht (Fn. 5), § 1, Rdnr. 59 ff. s. auch Ernst, Modernisierung (Fn. 2), sowie Hill, H., Verwaltungskommunikation und Verwaltungsverfahren unter europäischem Einfluß, DVBl. 2002, S. 1316. 15 Hierzu Hoppe, W./Beckmann, M./Kauch, P., Umweltrecht, 2. Aufl., 2000, S. 32 ff.; Schmidt, R./Kahl, W., Umweltrecht, 7. Aufl., 2006, S. 8 ff. 16 Vgl. Ehlers, Verwaltungsrecht (Fn. 5), § 3, Rdnr. 52; Ruffert, M., Rechtsquellen und Rechtsschichten des Verwaltungsrechts, in: Hoffmann-Riem, W./SchmidtAßmann, E./Voßkuhle, A. (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2006, § 17, Rdnr. 121 ff. 17 Streinz, R., Europarecht, 7. Aufl., 2005, S. 74. 18 Benz, A., Verwaltungskooperation im Mehrebenensystem der Europäischen Union – Das Beispiel der regionalen Strukturpolitik, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Strukturen (Fn. 12), S. 45 ff. 19 Pitschas, R., Europäische Integration als Netzwerkkoordination komplexer Staatsaufgaben, in: Staatswissenschaft und Staatspraxis, 1994, S. 503, 509.

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nung oder gar für eine Neuorientierung der Verwaltungsrechtsdogmatik nehmen zu wollen, zumal die dogmatische Durchdringung und Ziseliertheit des deutschen Verwaltungsrechts nicht nur im europäischen Vergleich einzigartig sein dürfte. Die Herausforderung wird daher in erster Linie darin bestehen, so manche dogmatische Überzüchtung zurückzuführen,20 vor allem aber Überkommenes und Bewährtes mit Neuem zu verbinden, um auf diese Weise das Verwaltungsrecht fit für die Zukunft zu machen. Und dass diese Verbindung von Alt und Neu, von altehrwürdiger Dogmatik einerseits und den Anforderungen der verwaltungsrechtlichen Moderne des 21. Jahrhunderts andererseits auf einem guten Wege ist, offenbaren gleichermaßen exemplarisch wie eindrucksvoll drei, die jüngere Verwaltungsrechtsentwicklung kennzeichnende Leitlinien. Otto Mayer freilich würde sich im Grabe umdrehen, müsste er angesichts eines die Schlagzahl ständig erhöhenden Reformgesetzgebers doch erkennen, dass zwischenzeitlich nicht nur das Verfassungs-, sondern auch das Verwaltungsrecht vergeht. 1. Die Steigerung von Effizienz Als erste dieser drei Leitlinien lässt sich die nahezu flächendeckend um sich greifende Ökonomisierung21 bzw. – allgemeiner – die Ausrichtung des Verwaltungsrechts am Maßstab der Effizienz charakterisieren.22 Angesichts drohender Lähmung und zunehmender Abwanderung investiver Tätigkeit sah und sieht sich der Gesetzgeber immer drängender mit der Notwendigkeit konfrontiert, das Verwaltungsrecht zur Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland moderner, d. h. nachfrageorientierter und schneller23 auszugestalten. Im Zusammenhang mit der Beschleunigung von Genehmigungs- und Planungsverfahren wurden daher eine Reihe von Verfahrenserleichterungen insbesondere bei Genehmigungs- und Massenverfahren verwirklicht,24 neue Verfahrenstypen wie die Plangenehmigung25 eingeführt 20 Vgl. auch Schoch, Europäisierung (Fn. 6), S. 109, S. 119, der als Beispiele für eine solche hochgezüchtete Rechtsdogmatik die Handlungsformen der Verwaltung, das Ermessen und die Ermessensfehlerlehre, die diffizilen Unterscheidungen zwischen dem öffentlichen und dem Privatrecht und das Subsystem des vorläufigen Rechtsschutzes anführt. 21 Hierzu etwa Voßkuhle, A., „Ökonomisierung“ des Verwaltungsverfahrens, DV 34 (2001), S. 347. 22 Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Tagungsband der 44. Assistententagung Öffentliches Recht: Recht und Ökonomie, 2004. 23 BT-Drucks. 13/445, S. 1, 6; BT-Drucks. 13/3993, S. 1; BT-Drucks. 13/3995, S. 1; BT-Drucks. 13/3996, S. 1. Vgl. auch Bundesministerium für Wirtschaft (Hrsg.), Investitionsförderung durch flexible Genehmigungsverfahren, 1994. 24 Vgl. § 71b VwVfG, 71c VwVfG, 71d VwVfG (Sternverfahren) und § 71e VwVfG (Antragskonferenz), sowie im Hinblick auf Massenverfahren §§ 17 Abs. 4

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und schärfere Präklusionsvorschriften26 ebenso realisiert wie Heilungs-27 und Unbeachtlichkeitsbestimmungen28. Exemplarisch darf auf das Verkehrswegebeschleunigungsgesetz, das Planungsvereinfachungsgesetz und das Genehmigungsverfahrensbeschleunigungsgesetz verwiesen werden. Und dass im Gefolge dieser Entwicklung das Kriterium der Effizienz auch durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts29 rezipiert wurde, erstaunt ebensowenig wie die mittlerweile ebenfalls erhobene Forderung nach einer effizienzbewussten Ermessenslehre.30 2. Die Gewährleistungsverantwortung des Staates Als eine zweite Schneise im Wald der Modernisierungen lässt sich das Bestreben charakterisieren, sowohl aus der Perspektive einer umfassenden verwaltungswissenschaftlichen Aufgabenkritik heraus als auch unter dem Diktat zunehmend knapper öffentlicher Kassen die Selbstregulierung der Gesellschaft wieder stärker in den Vordergrund zu rücken.31 Diese Entwicklung, die ihren Ausgang mit der Privatisierung von Bahn und Post nahm und über die bauordnungsrechtliche Inpflichtnahme des Bauherrn32 und die umweltrechtliche Eigenüberwachung33 bis hin zur Verpflichtung zum Aufbau eines Risikomanagement-, -controlling und -informationssystems als Voraussetzung für die Erteilung der Erlaubnis für das Betreiben von Bankgeschäften reicht,34 dauert mit unverminderter Wucht an, wie etwa der vor wenigen Jahren noch als schwer vorstellbar geltende, gleichwohl im Jahr 2005 verwirklichte Zusammenschluss der Universitätskliniken Marburg und Gießen und deren Veräußerung zum 1. Januar 2006 an einen privaten Betreiber zeigt.35 S. 2, 67 Abs. 1 S. 4, 69 Abs. 2 S. 2 und Abs. 3 S. 2, 73 Abs. 5 S. 2 Nr. 4 und Abs. 6 S. 4, 74 Abs. 5 S. 1 und 41 Abs. 3 S. 1 VwVfG. 25 § 74 Abs. 6 VwVfG. 26 § 71d Abs. 2, 73 Abs. 3a, Abs. 4 S. 3, Abs. 6 VwVfG. 27 § 45 Abs. 2 VwVfG, 75 Abs. 1a S. 2 VwVfG, § 215a BauGB, §§ 87 Abs. 1 S. 2 Nr. 7, 114 S. 2 VwGO. 28 §§ 46, 75 Abs. 1a S. 1 VwVfG. 29 BVerwGE 105, 55/58. 30 Schmidt-Aßmann, E., Aufgaben- und Funktionswandel der Verwaltungsgerichtsbarkeit, VBlBW 2000, S. 45/49. 31 Hierzu auch Scholz, Deutschland – In guter Verfassung? (Fn. 1), S. 203 ff. 32 Exemplarisch hierzu etwa Brenner, M., Die Neuregelung des Bauordnungsrechts in Thüringen, LKV 1996, S. 305. 33 Umwelt-Audit-Gesetz (UAG) v. 7.12.1995 (BGBl. I, S. 1591). 34 Vgl. §§ 25a, 33 Abs. 1 S. 1 Nr. 7 KWG. 35 FAZ Nr. 2 v. 4.1.2005, S. 14: „Hessen setzt Maßstäbe in der Privatisierung von Universitätskliniken“.

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Die Beispiele zeigen, dass diese Entwicklung eine weitgefächerte ist; sie erschöpft sich insbesondere nicht in den Varianten der umfassenden (materiellen) Aufgaben- und der (formellen) Organisationsprivatisierung, sondern umschließt einen ganzen Kanon von Optionen, die so klangvolle Namen wie „Verantwortungsteilung“, „Regulierte Selbstregulierung“ oder „Public Private Partnership“36 tragen. Indes laufen all diese Konstellationen – angefeuert durch die Privatisierungsgeneigtheit des Gemeinschaftsrechts37 und ein sich zunehmend relativierendes Begriffsverständnis der durch Beamte wahrzunehmenden hoheitlichen Aufgaben38 – darauf hinaus, dass sie den Staat aus seiner vorrangigen Leistungs- und Versorgungsverantwortung entlassen und ihm den Rückzug auf eine weniger aufwendige und vielfach auch billigere Gewährleistungs- bzw. Auffangverantwortung ermöglichen. 3. Die Europäisierung Schließlich wäre jede Aufzählung verwaltungsrechtlicher Modernisierungsambitionen unvollständig ohne den Blick in den Kosmos der mittlerweile fast flächendeckenden Durchdringung des mitgliedstaatlichen Rechts mit den Vorgaben des Europarechts.39 Dieser Prozess, der sich zwischenzeitlich als ein solcher der osmotischen Rechtsangleichung zwischen dem Gemeinschaftsrecht und den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen ausgebildet hat, hat dem deutschen Verwaltungsrecht in materieller Hinsicht eine Reihe neuer Impulse vermittelt, die von der Ausgestaltung eines offenen Netzzugangs im Telekommunikations-, Energie- und Verkehrssektor über die Neuausrichtung des Vergaberechts40 bis hin zur Einführung von Emissionszertifikaten41 reicht. Dem Gemeinschaftsrecht eignet daher, auch wenn es gelegentlich als Kodifikationsbrecher tätig wird42, in erheblichem Maße 36 s. hierzu den Tagungsband von Ziekow (Hrsg.), Public Private Partnership (Fn. 12). 37 Hierzu Böhmann, K., Privatisierungsdruck des Europarechts, 2000. 38 s. zu dieser Problematik die ausführliche Untersuchung von Strauß, T., Funktionsvorbehalt und Berufsbeamtentum, 2000, S. 55 ff. 39 Grundlegend hierzu Ehlers, D., Europäisches Recht und Verwaltungsrecht, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht (Fn. 5), § 4. s. auch Ruffert, Rechtsquellen (Fn. 16), Rdnr. 121 ff. Zur Methode der Vergemeinschaftung Chang, K.-W., Die Vergemeinschaftung des deutschen Wirtschaftsverwaltungsrechts, 2005, S. 59 ff. 40 Brenner, M., Die Umsetzung der Richtlinien über öffentliche Aufträge in Deutschland, EuR, Beiheft 1/1996, S. 23. 41 Hierzu Voßkuhle, A., Rechtsfragen der Einführung von Emissionszertifikaten, in: Energierecht zwischen Umweltschutz und Wettbewerb, 17. Trierer Kolloquium zum Umwelt- und Technikrecht, 2002, S. 159. 42 Klassisch der Fall der gemeinschaftsrechtlichen Überlagerung der Fristbestimmung des § 48 Abs. 4 VwVfG. s. im Übrigen Kahl, W., Das Verwaltungsverfah-

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eine Innovationsfunktion,43 die durch „Spill-over-Effekte“ zusätzlich tief in das mitgliedstaatliche Recht hineingetrieben wird und dieses gewissermaßen mit europäischem Gedankengut durchtränkt.44 Deutlich wird dies etwa an dem in die parlamentarischen Beratungen eingespeisten Informationsfreiheitsgesetz.45 Aber auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht hat das Gemeinschaftsrecht als Impulsgeber des europäischen Verbundstaates gewirkt, wie etwa an der als unselbständiger Verfahrensbestandteil ausgestalteten, aus der angelsächsischen Erfahrungswelt stammenden Umweltverträglichkeitsprüfung und am bauplanungsrechtlichen Monitoring46 deutlich wird. Erstaunlich ist dies indes nicht, macht es doch die Betonung der verfahrensrechtlichen Steuerungsoption auch dem auf eine Steuerung durch materielle Vorgaben ausgerichteten deutschen Recht leicht, mittels einer Verabredung auf Verfahrensregeln und dem Vertrauen auf die Sachgesetzlichkeiten des Integrationsprozesses weiter auf Europa zuzugehen47. Letztlich kommt der auf diese Weise auf den Weg gebrachten Verfahrensrechtssteuerung48 damit eine – von Wolfgang Hoffmann-Riem so genannte – Brückenfunktion49 zu, mit deren Hilfe dem mitgliedstaatlichen Recht auf ebenso effiziente wie unspektakuläre Weise eine Reihe von Modernisierungsimpulsen vermittelt werden kann, die von Vorkehrungen zur Ermöglichung von Transparenz und der Einbeziehung der Öffentlichkeit über Anhörungs- und Informationsrechte bis hin zu Begründungspflichten reichen. In der Konsequenz einer solchen, am Gedanken der Verfahrensrichtigkeit ausgerichteten Prozeduralisierung, die der Maxime folgt, nicht erreichbare materielle Richtigkeit durch Verfahrensrichtigkeit auszugleichen,50 liegt es rensgesetz zwischen Kodifikationsidee und Sonderrechtsentwicklungen, in: Hoffmann-Riem, W./Schmidt-Aßmann, E., Verwaltungsverfahren und Verwaltungsverfahrensgesetz, 2002, S. 67/112. 43 Näher Brenner, M., Innovationssteuerung im Europarecht, in: Hoffmann-Riem, W./Schneider, J.-P. (Hrsg.), Rechtswissenschaftliche Innovationsforschung, 1998, S. 351. 44 Vgl. Ladeur, K.-H., Supra- und transnationale Tendenzen in der Europäisierung des Verwaltungsrechts, EuR 1995, S. 227 ff. 45 Hierzu Ibler, M., Zerstören die neuen Informationszugangsgesetze die Dogmatik des deutschen Verwaltungsrechts?, in: FS für W. Brohm, 2002, S. 405. 46 Hierzu jüngst Sailer, A., Bauplanungsrecht und Monitoring, 2006. 47 Vgl. Hoffmann-Riem, W., Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts – Perspektiven der Systembildung, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Strukturen (Fn. 12), S. 317/347. 48 Schmidt-Aßmann, E., Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Strukturen (Fn. 12), S. 9/22. 49 Hoffmann-Riem, Strukturen (Fn. 47), S. 317/354. 50 So Schmidt-Aßmann, Aufgaben und Funktionswandel (Fn. 30), S. 45/49.

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zum einen, dass in Zukunft vermehrt Final- und Aufgabenprogramme Verwendung finden werden; zum anderen aber wird sich zumal bei Entscheidungsfindungsprozessen in multipolaren und multidimensionalen und damit komplexen Interessenkonstellationen zunehmend ein weiter Spielraum der Konkretisierung auftun, ein Entscheidungskorridor rechtlich zulässiger Optionen, „der vom Konzept einer optimierenden Entscheidung geleitet, auf Interessenoptimierung und im Idealfall auf die Schaffung einer Win-WinSituation ausgerichtet ist, die die Akzeptanz der Entscheidung in besonderem Maße erhöht“51. Dabei wird freilich zu beachten sein, dass der Aspekt der Akzeptanzsicherung weder auf Kosten der Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit des Verwaltungsrechts gehen noch zu einer Relativierung der Vorgaben des materiellen Rechts führen darf. IV. Folgerungen für die Bedeutung des Verwaltungsrechts Welche Folgerungen ergeben sich angesichts dieser „Frischzellenkuren“ für das Verwaltungsrecht und seine Bedeutung? Ist das Verwaltungsrecht mit ihrer Hilfe für die Herausforderungen der Zukunft gewappnet? Oder gibt es weiteren Nachholbedarf an Modernisierung? 1. Selbstregulation als Bedeutungsverlust des Verwaltungsrechts Wendet man im Lichte dieser Fragen den Blick zunächst auf die Renaissance der Selbstregulation der Gesellschaft, so könnten deren Schokoladenseiten – Stärkung der Privatinitiative, Verwirklichung wirtschaftlicher Freiheit, Umsetzung des Subsidiaritätsgedankens, vielfach bessere Ergebnisse und vor allem Entlastung des Staates – leicht den Blick dafür trüben, dass die mit der Chiffre der Gewährleistungs- bzw. Auffangverantwortung umschriebenen Neujustierungen jenseits der bislang auch verwaltungswissenschaftlich noch nicht hinreichend geklärten Frage nach der zukünftigen Abgrenzung der Verantwortungsbereiche von Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Individuum52 auch die Gefahr einer Schwächung des Verwaltungsstaates in sich tragen. So läuft der verantwortungsverschlankte Staat nicht nur Gefahr, privaten Machträgern kein hinreichendes Gegengewicht mehr entgegenstellen zu können; er muss auch damit rechnen, dass sämtliches Lukrative in die Hände von Privaten gerät und er nurmehr als Lückenbüßer „zur Abfederung von dysfunktionalen Folgen der privaten Selbstregulierung“ benötigt wird – mit 51

Hoffmann-Riem, Strukturen (Fn. 47), S. 317/371. So der Hinweis von Schmidt-Aßmann, E., Allgemeines Verwaltungsrecht in europäischer Perspektive, ZÖR 55 (2000), S. 159/161. 52

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allen Folgen für die materielle Legitimation des Staates.53 Sollte es indes so weit kommen, so wäre der anspruchsvolle Begriff der Gewährleistungsverantwortung in der Tat zur hohlen Beruhigungsvokabel verkümmert.54 Vor allem aber zieht die Verlagerung bislang staatlicherseits wahrgenommener Aufgaben in die gesellschaftliche Sphäre hinein neben einem Bedeutungsverlust der Grundrechte55 einen weitreichenden Geltungsverlust des Verwaltungsrechts nach sich: Je stärker der Staat den Verwaltungsvollzug mittels Selbstregulation in die Hände Privater legt – sei es in Form von Unterlagenprüfverfahren, der kontrollierten Eigenüberwachung etwa im Arznei- und Lebensmittelrecht oder der Fremdüberwachung durch Dritte, wie im Wasserrecht –, desto unwissender wird er56 und desto mehr begibt er sich seiner verwaltungsrechtlichen Gestaltungsmacht. Und je flächendeckender das bislang mittels öffentlicher Einrichtungen dargebrachte Leistungsangebot von Privaten offeriert wird, desto stärker tritt das Privatrecht in den Vordergrund und obliegt die Rechtsdurchsetzung Privaten bzw. in letzter Konsequenz den Zivilgerichten. Auch wenn diese Entwicklung den Zivilrechtler freuen wird: für das Verwaltungsrecht bedeutet sie den Verlust eines Teils jener Steuerungsressourcen, die bislang eine effiziente Durchsetzung staatlicher Zwecke erlaubten. 2. Das Verwaltungsrecht als fragmentiertes Sonderrecht Aber auch eine zweite Erkenntnis stimmt den Verwaltungsrechtler im Hinblick auf die Zukunft seines Fachgebiets wenig optimistisch, ist doch das Verwaltungsrecht zunehmend im Begriff, fragmentiertes Sonderrecht zu werden. Es ist der zwischenzeitlich fast flächendeckend zutage tretende Trend, zur Wahrung tatsächlicher oder auch nur vermeintlicher bereichsspezifischer Besonderheiten vermehrt nicht aufeinander abgestimmte Sonderregelungen zu treffen, die die vor die Klammer gezogenen, übergreifenden Regelungen marginalisieren57, das Verwaltungsrecht segmentieren und das Verwaltungsverfahrensrecht zersplittern58 und auf diese Weise den sektora53

Hoffmann-Riem, Strukturen (Fn. 47), S. 317/381. In diese Richtung die Warnung von Di Fabio, Udo, Verwaltung und Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung, VVDStRL 56, 1997, S. 235/263. 55 Di Fabio, Verwaltung und Verwaltungsrecht (Fn. 54), S. 235/253. 56 Di Fabio, Verwaltung und Verwaltungsrecht (Fn. 54), S. 235/251 ff. 57 Schmidt-Aßmann, E., Grundlagen und Aufgaben der verwaltungsrechtlichen Systembildung, in: Ehlers/Krebs (Hrsg.), Grundfragen des Verwaltungsrechts und des Kommunalrechts, 2000, S. 1/8 ff. 58 Vgl. Kahl, Verwaltungsverfahrensgesetz (Fn. 42), S. 67/72. Im Übrigen haben auch die Beschleunigungsgesetze das Gewicht des Verwaltungsverfahrensrechts 54

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len Verwaltungsstaat heraufbeschwören. Diese – bereits als „Unkultur eines hyperaktiven Deregulierungsgesetzgebers“59 apostrophierte – horizontale Dekodifikation des Verwaltungsrechts läutet, wird sie nicht gestoppt, den Abschied von einem übergeordneten verwaltungsrechtlichen Systemanspruch ein und gibt die Einheit des Verwaltungsrechts ebenso preis wie seine – im europäischen Rechtsraum bislang stets als Markenzeichen deutscher Rechtskultur geltende – dogmatische Stringenz. Ein sich dem Systemanspruch des Verwaltungsrechts verpflichtet fühlender Gesetzgeber wird daher gut daran tun, solcher Verwaltungsrechtszersplitterung entgegenzutreten, die Verselbständigung von auseinanderdriftendem Verwaltungssonderrecht einzudämmen und ein ausgewogenes Verhältnis zwischen vor die Klammer gezogenen, übergeordneten Regeln des Verwaltungs-(Verfahrens-)Rechts einerseits und nach wie vor notwendigen, die Begriffe, Regeln und Prinzipien eines eigenständigen Rechtsgebiets zu einer in sich stimmigen Gesamtregelung zusammenziehenden Bereichskodifikationen andererseits zu finden. Was also ist zu tun? Ein erster, wieder zusammenführender und weiteres Auseinanderdriften verhindernder Schritt könnte in einer Stärkung des VwVfG bestehen, und zwar durch dessen Erweiterung auf solche Bereiche, die vom Geltungsbereich des Gesetzes bislang nicht umschlossen sind. Hält man sich vor Augen, dass das VwVfG nur solche Verwaltungsverfahren regelt, die zum Erlass eines Verwaltungsakts oder zum Abschluss eines Verwaltungsvertrages führen (§ 9 VwVfG), und damit alle sonstigen, in der Verwaltungspraxis immer wichtiger werdenden Handlungsformen ausblendet – den gesamten Komplex des informellen,60 kooperativen und konsensorientierten Verwaltungshandelns mithin, Realakte zudem und auch die exekutive Normsetzung –, so liegt es angesichts dieser breiten Einbuße an äußerlicher und sachlicher Einheitlichkeit des Verwaltungsverfahrensrechts nahe, diese Handlungsformen, die von der Verwaltungswissenschaft ja längst aufgearbeitet und systematisiert worden sind, dem VwVfG zu implementieren und damit der Verwaltung einen flexiblen Mix hierarchischer wie nichthierarchischer Handlungsformen an die Hand zu geben, um so deren Bedürfnissen wie auch denen der jeweils beteiligten Akteure besser gerecht werden zu können. Hier besteht wirklicher Modernisierungsbedarf für das Verwaltungsrecht. Aber auch im Hinblick auf das privatrechtliche Handeln der Verwaltung – mithin die Kategorien des Fiskalhandelns, der erwerbswirtschaftlichen Betäreduziert, vgl. hierzu Schmidt-Aßmann, Aufgaben- und Funktionswandel (Fn. 30), S. 45/51. 59 Kahl, Verwaltungsverfahrensgesetz (Fn. 42), S. 67/73. 60 Hierzu jüngst BVerfGE 105, 252.

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tigung, des Verwaltungsprivatrechts und auch der Vermögensverwaltung – läge eine Verankerung mindestens der Grundlinien einer solchen Betätigung im Gesetz nahe. Könnte sich der Gesetzgeber hierzu entschließen, so wäre nicht nur der Gefahr einer weiteren Zersplitterung des Verwaltungsrechts ein zumindest vorläufiger Riegel vorgeschoben. Gleichzeitig würden damit der Systemgedanke befördert und das Verwaltungsrecht als Ordnungsidee gestärkt werden – und könnte vor allem allfälligen Forderungen, sich ständig neu emanzipierenden Rechtsmaterien auch stets ein eigenes Gesetz zuzuweisen, mit gutem Grund eine Abfuhr erteilt werden. Wir brauchen weder ein gesondertes Informations-61 noch ein eigenständiges Kooperationsrecht, wenn es uns gelingt, die verwaltungsrechtliche Ordnungsidee und das Systemdenken des Verwaltungsrechts wieder zu stärken, um auf diese Weise verwaltungsrechtlichen Wertungswidersprüchen ebenso entgegenzuwirken wie auseinanderlaufenden Rechtsentwicklungen einzelner Fachgebiete.62 Dass dies im Übrigen keine utopische Forderung ist, zeigt sowohl § 3a VwVfG, der seit kurzem einige Grundlinien elektronischer Kommunikation regelt, als auch der Blick auf das Zivilrecht, hat doch der Gesetzgeber die umfassende Reform des Schuldrechts im Jahre 2002 zum Anlass genommen, neben Änderungen beim Verjährungs-, Leistungsstörungs-, Kauf- und Werkvertragsrecht auch zahlreiche, bislang in Nebengesetzen enthaltene Materien insbesondere des vertragsrechtlichen Verbraucherschutzes in das BGB zu integrieren.63 3. Die Europäisierung Schließlich wird es zukünftig darum gehen, die Perspektiven des Verwaltungsrechts in Europa oder – noch ambitionierter – des Europäischen Verwaltungsrechts auszumessen – was mehr ist als die bloße Summe der europäisierten nationalen Verwaltungsrechtsordnungen. Dessen prozesshafte 61 A. A. etwa Pitschas, R., Allgemeines Verwaltungsrecht als Teil der öffentlichen Informationsordnung, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, S. 227/242, mit der Erwartung, dass mit der ständig zunehmenden Bedeutung der elektronischen Datenverarbeitung die Notwendigkeit wachsen wird, eine eigenständige öffentlichen Informationsordnung, mithin ein Informationsverwaltungsrecht zu etablieren, das die Gesamtheit jener öffentlich-rechtlichen Normen umschließt, „die sich auf den staatlichen Umgang mit Information und Kommunikation beziehen und die das Informationsverhalten der Behörden untereinander sowie gegenüber Bürgern regeln“. 62 Schmidt-Aßmann, E., Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 1998, S. 2. 63 So der treffende Hinweis bei Kahl, Verwaltungsverfahrensgesetz (Fn. 42), S. 67/127 f.

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Herausbildung zu begleiten und damit Europa auch ohne eine – gleichermaßen utopische wie unerwünschte – Totalharmonisierung des Verwaltungsrechts als zu verwaltenden einheitlichen Rechtsraum64 zu begreifen, wird angesichts der in der Europäischen Union nach wie vor anzutreffenden mehrschichtigen Verwaltungsrechtsordnung – mit dem mitgliedstaatlichen Verwaltungsrecht, dem Eigenverwaltungsrecht der Union, dem Gemeinschaftsverwaltungsrecht und dem etwas diffuseren Verwaltungskooperationsrecht – in der Tat die wichtigste Zukunftsaufgabe verwaltungsrechtlicher Systembildung sein.65 Dies gilt insbesondere dann, wenn man – noch weiter ausgreifend – der wissenschaftlichen Analyse ein „Modell ganzheitlicher Vernetzung nationaler, transnationaler und supranationaler Rechtsund Verwaltungsregimes“ zugrunde legt.66 Sieht man es mit Eberhard Schmidt-Aßmann als die Aufgabe der akademischen Verwaltungsrechtswissenschaft an, das Verwaltungsrecht nicht als einen festen Dogmenbestand, sondern als Ordnungsidee zu begreifen, „die längerfristige Entwicklungen beobachten, Grundlinien der Orientierung vorzeichnen und unterschiedliche Lösungsmodelle auf ihre funktionale Vergleichbarkeit untersuchen will“67, so wird es zukünftig vor allem dieser Disziplin – der ja ein gewisse Vorreiterrolle zukommt – obliegen, nach den Fluchtlinien eines europäischen Orientierungs- und Reflexionsrahmens zu suchen, der nicht zur unitarisierenden Uniformierung zwingt, aber doch pragmatische Kompatibilität zwischen mitgliedstaatlichem und Gemeinschaftsrecht hin auf dem Weg zum Verwaltungsrecht eines europäischen Verbundstaates zu verwirklichen vermag.68 Sich dabei der Hilfe sowohl von Verfahren der Annäherung als auch von Vermittlungsbegriffen zu bedienen,69 erscheint deswegen sinnvoll, weil auf diese Weise nicht nur rechtsvergleichende Erkenntnisse aus dem europäischen Umfeld in das Blickfeld genommen, sondern auch Anstöße anderer Wissenschaften, insbesondere der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Steuerungsdiskussion rezipiert werden können. Vor allem aber wird es auf diese Weise möglich werden, sich der größeren europäischen Zusammenhänge und der genuin europäischen Entwicklungslinien ebenso wie der Adäquanz der in ihnen zutage tretenden Zuordnungen zu vergewissern und 64

Hierzu Schmidt-Aßmann, Strukturen (Fn. 48), S. 9/12 ff. Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee (Fn. 62), S. 307. 66 Hoffmann-Riem, Strukturen (Fn. 47), S. 317/329. 67 Schmidt-Aßmann, Allgemeines Verwaltungsrecht in europäischer Perspektive (Fn. 52), S. 159/164. 68 Vgl. auch Hoffmann-Riem, Strukturen (Fn. 47), S. 317/373 f. 69 s. in diesem Zusammenhang auch Sommermann, K.-P., Konvergenzen im Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungsprozeßrecht europäischer Staaten, DÖV 2002, S. 133. 65

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so zumindest à la longue den Systemanspruch auch auf europäischer Ebene zu verwirklichen. Und letztlich kann auch nur ein diesem Anspruch gerecht werdendes dereinstiges europäisches Verwaltungsrecht den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen vermittelt und mit diesen synchronisiert werden. V. Fazit Nicht nur der Staat der Moderne, sondern auch dessen Verwaltungsrecht ist im Umbruch begriffen – auch wenn dieses freilich noch lange nicht notleidend geworden ist. Ungeachtet dessen wird es zukünftig insbesondere mit Blick auf das Europarecht stärker als in der jüngeren Vergangenheit mit Gunnar Folke Schuppert darauf ankommen, ein systematisch entwickeltes Verwaltungsrecht mit denjenigen Rechtsnormen, Rechtsinstituten und Verfahren bereitzustellen, derer die Verwaltung zur Erfüllung ihrer Aufgaben bedarf.70 Nur ein diesen Vorgaben gerecht werdendes Verwaltungsrecht wird sich in der Lage zeigen, auf die großen Herausforderungen der heutigen Verwaltungssituation zu reagieren – und damit die Chancen und die Gefahren des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts zu lenken, die im Zuge von Privatisierungen sich ergebenden Verschiebungen im staatlichgesellschaftlichen Verantwortungsgefüge zu kanalisieren und auf Verknappungen der finanziellen Rahmenbedingungen ebenso wie auf die Europäisierung und Internationalisierung der Rechts-, Wirtschafts- und Sozialvorgänge angemessene Antworten zu finden.71 Begreift man vor dem Hintergrund dieser Herausforderungen den gegenwärtigen Umbruch als Chance für das Verwaltungsrecht, das Verhältnis von Tradition und Moderne neu zu justieren, so wird sich dieser Prozess jenseits der genannten Reformerfordernisse von zwei grundlegenden Direktiven leiten lassen müssen. Erstens: Ein modernes, an den Erfordernissen der Zukunft ausgerichtetes Verwaltungsrecht wird sich in zunehmendem Maße von einem flexibilisierten Verwaltungsverständnis tragen lassen müssen, das mit der überkommenen Vorstellung, dass Verwaltungen ausschließlich hierarchisch aufgebaute monolithische Gebilde seien, aufräumt72. Über kurz oder lang wird sich daher die Erkenntnis durchsetzen müssen und auch durchsetzen, dass Verwaltungen nicht nur schlanker werden, sondern auch flexibler, effizienter, vielgesichtiger, polyzentrischer – kurzum moderner. 70 Verwaltungswissenschaft als Steuerungswissenschaft, in: Hoffmann-Riem, W./ Schmidt-Aßmann, E./Schuppert, G. F., Reform, 1992; ders., Regierung und Verwaltung, 1994, S. 1502 f. 71 Vgl. Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee (Fn. 62), S. 2. 72 So der Hinweis von Schmidt-Aßmann, Strukturen (Fn. 48), S. 9/22.

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Dabei mag eine Facette eines solchen flexibilisierten und effizienzorientierten Verwaltungsverständnisses das namentlich auf kommunaler Ebene zunehmend zum Tragen gebrachte, dem Konzept des „New Public Management“ entlehnte sog. neue Steuerungsmodell73 darstellen, das unter Verwendung unternehmensähnlicher Führungs- und Organisationsstrukturen und mit Hilfe von Budgetierung und Leistungsvereinbarungen versucht, die Leistungen der Verwaltung als Produkte und die Beziehung der Verwaltung zum Bürger als Kundenbeziehung zu begreifen74. Gleichwohl wird man ungeachtet aller Effizienzpotentiale, die das Modell mit durchaus beachtlichem Erfolg in der Praxis auszuschöpfen vermag, auch zukünftig die Verwaltung jedenfalls in ihrer Gesamtheit nicht als Dienstleistungsunternehmen begreifen können. Davon abgesehen, dass sich nur ausgewählte Bereiche administrativer Tätigkeit dazu eignen, die Verwaltung als Dienstleistungsunternehmen zu erfassen, stehen solchen Überlegungen der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, das Gleichbehandlungsgebot, die rechtsstaatliche Bindung des Ermessens und schließlich die parlamentarische Verantwortung des betreffenden Ministers entgegen75. Zweitens: Auch wenn der moderne Staat im Wandel begriffen ist und ein zeitgemäßes Verwaltungsrecht zweifelsohne mehr Flexibilität benötigt, so ist der Staat in dem Ziel, trotz der zunehmenden Komplexität gesellschaftlicher Probleme, trotz der Unsicherheit vielfach risikobehafteter Entwicklungen, trotz zunehmender Ressourcenknappheit und angesichts immer heterogener werdenden Interessen öffentliche Aufgaben zu erfüllen, doch nach wie vor auch klassischer Verwaltungsstaat, der auf das Instrumentarium des überkommenen Ordnungsrechts nicht verzichten kann. Das Ordnungsrecht klassischer Prägung hat noch lange nicht ausgedient. Und es ist keineswegs zu antiquiert, um auch neuen Herausforderungen angemessen begegnen zu können76. Gelingt es uns unter Berücksichtigung dieser Vorgaben, den gegenwärtigen Umbruch des Verwaltungsrechts zum Anlass für manche behutsame 73 Hierzu etwa Ziekow, J., Der Einfluß des neuen Steuerungsmodells auf das Verwaltungsverfahren und seine gesetzliche Regelung, in: Hoffmann-Riem/SchmidtAßmann (Hrsg.), Verwaltungsverfahren und Verwaltungsverfahrensgesetz (Fn. 42), S. 349. 74 Nicht zuletzt wird damit auch der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit einfordernden verfassungsrechtlichen Vorgabe des Art. 114 Abs. 2 GG Rechnung getragen. 75 Badura, P., Verwaltungsrecht im Umbruch, in: Kitagawa, Z./Murakami, J./ Nörr, K. W./Oppermann, T./Shiono, H. (Hrsg.), Das Recht vor der Herausforderung eines neuen Jahrhunderts: Erwartungen in Japan und Deutschland, S. 147/154. Diese Gefahr sieht etwa auch Schmidt-Aßmann, Aufgaben- und Funktionswandel (Fn. 30), S. 45/48. 76 Di Fabio, Verwaltung und Verwaltungsrecht (Fn. 54), S. 235/238.

Das Verwaltungsrecht vor den Herausforderungen der Zukunft

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Neujustierung zu nehmen und damit nicht nur die Beziehungen zwischen dem verwaltenden Staat und dem Bürger im Fleiner’schen Sinn auf klare juristische Grundformen zurückzuführen, sondern gleichzeitig Altes mit Neuem und Tradition mit Moderne zu verbinden, so wäre das Verwaltungsrecht für die Herausforderungen der Zukunft gerüstet. Und selbst wenn bei diesem Ausgleich die Tradition die Oberhand behalten würde, so sollte uns dies nicht entmutigen, ist doch in den Worten des Komponisten Gustav Mahler die Tradition die Bewahrung des Feuers und nicht die Anbetung der Asche.

Effizientere Rechtsprechung durch Zusammenlegung der öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten? Von Sibylle von Heimburg Der Jubilar hat sich im Rahmen seiner vielfältigen rechtspolitischen Tätigkeit immer wieder für Entbürokratisierung und die „Verschlankung“ des Staates eingesetzt. Als Vorsitzender des Sachverständigenrates „Schlanker Staat“ hat er bereits eine Zusammenfassung der öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten (Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit) zur Steigerung der Effektivität der Rechtspflege angeregt.1 Der Sachverständigenrat hat unter dem Thema Justizentlastung vorgeschlagen, die auf Tradition beruhende, verfassungsrechtlich festgeschriebene Aufgliederung der Gerichtsbarkeit in fünf Zweige dahingehend zu überprüfen, ob eine Verringerung auf eine öffentlich-rechtliche und eine ordentliche Gerichtsbarkeit möglich und sinnvoll ist.2 Das Thema ist nicht ganz neu: Schon der 42. Deutsche Juristentag (DJT) hat sich 1957 in seiner Zweiten Abteilung mit der Frage befasst „Empfiehlt es sich, die verschiedenen Zweige der Rechtsprechung ganz oder teilweise zusammenzufassen?“ Wie beim DJT üblich gab es, nach einem ausführlichen und die Empfehlung aussprechenden Gutachten von Baur3, ein die Vereinigung aller Gerichtsbarkeiten bejahendes4 und ein dieses – allerdings differenziert – ablehnendes Referat.5 Ule wandte sich dabei gegen die Vereinheitlichung des Gerichtsverfassungs- und des gerichtlichen Verfahrensrechts sämtlicher Gerichtsbarkeiten, forderte aber, die Angleichung der Verfassung und des Verfahrens der allgemeinen Verwaltungsgerichte, der Finanzgerichte und der Sozialgerichte soweit zu treiben, wie es mit den Unterschieden dieser Gerichtsbarkeiten nur vereinbar sei6. Die ausführliche 1 Vgl. z. B. Scholz, R., in: Theorie und Praxis des Sozialstaats, Festschrift für Hans F. Zacher, 1998, S. 987 ff.; ders., PersV 1997, S. 200; ders., ET 1997, S. 300 (303); Scholz, R./Hofmann, H., PersV 1998, S. 326 (330, 334). 2 Vgl. Sachverständigenrat „Schlanker Staat“ (Hrsg.), Abschlussbericht, 2. Aufl. 1998, Band 1 S. 188. 3 Baur, Verhandlungen des 42. DJT, Band I, 1957. 4 Arndt, Verhandlungen des 42. DJT, Band II, 1959, E 43 ff. 5 Ule, Verhandlungen des 42. DJT, Band II, 1959, E 3 ff. 6 Ule, Verhandlungen des 42. DJT (Fn. 5), E 42.

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und sehr kontroverse Diskussion endete mit dem Beschluss, dass davon abgesehen werde, über die Frage zu beschließen, ob und inwieweit alle Zweige der Gerichtsbarkeit vereinigt werden sollten.7 Erneut gestreift wurde die Frage Anfang der 80er Jahre: In seinem für den 54. DJT 1982 erstellten Gutachten zu den Anforderungen, denen eine einheitliche Verwaltungsprozessordnung genügen müsse, hat Kopp8 trotz aller Probleme, die sich nach seiner Auffassung dem Versuch eines einheitlichen Prozessrechts entgegenstellen, gefordert, den Gedanken einer Vereinheitlichung der Gerichtsbarkeit „selbst als Fernziel“ nicht gänzlich aufzugeben.9 Das Thema konnte sich aber nicht wirklich durchsetzen. Der Entwurf einer VwPO10, mit dem das Verfahren der Verwaltungs-, der Finanz- und der Sozialgerichtsbarkeit vereinheitlicht werden sollte, fiel bekanntlich der Diskontinuität zum Opfer. Es fehlte aber wohl auch der politische Wille, wirklich zu nur einem Regelwerk zu kommen.11 Jedenfalls gab es seitdem keinen ernsthaften neuen Versuch einer einheitlichen Verwaltungsprozessordnung. An Aktualität gewann das Thema einer Reduzierung der Gerichtsbarkeiten, als die Justizministerinnen und Justizminister auf ihrer Herbsttagung 2003 Fragen einer strukturellen Neuordnung der Gerichtsbarkeiten erörterten und eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe einsetzten, die in einem ersten Schritt bis zur nächsten Justizministerkonferenz Vorschläge zur Errichtung einer einheitlichen öffentlich-rechtlichen Fachgerichtsbarkeit erarbeiten sollte.12 Die Arbeitsgruppe legte ihren Abschlussbericht zur 75. Justizministerkonferenz (JuMiKo) im Juni 2004 vor.13 In der Zwischenzeit hatte sich die Ausgangslage für die Diskussion – man muss fast sagen: dramatisch – verschärft. Im Zuge des parlamentarischen Verfahrens zum Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen („Hartz IV“), dessen Entwurf vorsah, dass Rechtsstreitigkeiten über das Arbeitslosengeld II von den Verwaltungsgerichten zu entscheiden seien,14 kam es am 16. Dezember 2003 zu einer Nachtsitzung des Vermittlungsausschusses, die u. a. mit der Beschlussempfehlung endete, dass das Arbeitslosengeld II als „Sozialgesetzbuch II – Grundsicherung für Arbeitssuchende“ in den Zustän7

Verhandlungen des 42. DJT, Band II, 1959, E 156. Verhandlungen des 54. DJT, Band I, 1982, Abteilung Verwaltungsprozess. 9 Kopp, a. a. O. (Fn. 8), B 127. 10 BT-Drs. 9/1851 v. 14.7.1982 und BT-Drs. 10/3437 v. 31.5.1985, ber. in BT-Drs. 10/3477. 11 So auch Redeker, NJW 2004, S. 496 (498); Schmieszek, NVwZ 1991, S. 522. 12 Vgl. Top C. II. 3. der JuMiKo am 6. November 2003 in Berlin. 13 http://www.bdvr.de/aaa_Dateien/sgg/JUMIKO_01AB.PDF. 14 Art. 23 des Entwurfs BT-Drs. 15/1516. 8

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digkeitsbereich der Sozialgerichtsbarkeit fällt.15 In derselben Ausschusssitzung – dem Vernehmen nach soll es halb vier Uhr morgens gewesen sein16 – wurde nicht nur die auf einen Gesetzentwurf der Bundesregierung zurückgehende17 Eingliederung des bisher im BSHG geregelten Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch (SGB XII), sondern gleichzeitig auch eine – weder in dem ursprünglichen Entwurf noch in der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung18 enthaltene – Änderung des Sozialgerichtsgesetzes empfohlen, mit dem die Zuständigkeit der Sozialgerichte „in Angelegenheiten der Sozialhilfe“ begründet wurde.19 Der Bundestag hat die Gesetze in der vom Vermittlungsausschuss vorgeschlagenen Fassung in seiner Sitzung vom 19. Dezember 2003 ohne Aussprache mit großer Mehrheit angenommen. Eine Begründung für diese die gesamte Fachwelt überraschende Entscheidung findet sich nirgends. Man kann deshalb nur spekulieren:20 Dem Vernehmen nach wurde die Zuständigkeit für das Arbeitslosengeld II in letzter Minute auf die Sozialgerichte übertragen, um sechs Abweichler der Regierungskoalition doch noch ins Boot zu holen. Angeblich präferierten sie die Sozialgerichtsbarkeit, weil diese „sozialer“ entscheide als die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Auf den Einwand, dass man das Arbeitslosengeld II nicht von der übrigen Sozialhilfe trennen und deshalb bei der Verwaltungsgerichtsbarkeit belassen solle, wurde der Spieß umgedreht und die gesamte Sozialhilfe einschließlich Arbeitslosengeld II auf die Sozialgerichtsbarkeit übertragen.21 Das von allen systematischen Bedenken22 abgesehen gravierende Problem dieser Lösung ist ein personalpolitisches: Während die Belastung der Verwaltungsgerichte mit dem Rückgang der asylrechtlichen Streitigkeiten deutlich abgenommen hat und eher Kapazitäten für zusätzliche Aufgaben bestehen, war die Belastung der Sozialgerichte schon vor diesem gesetz15 Jetzt Art. 1 und Art. 22 des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24. Dezember 2003 – BGBl I, S. 2954. 16 Vgl. Hien, DVBl 2004, S. 464 (465). 17 BT-Drs. 15/1636 vom 1. Oktober 2003. 18 BT-Drs. 15/1734 vom 15. Oktober 2003. 19 Jetzt Art. 1 und Art. 38 des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch vom 27. Dezember 2003, BGBl I, S. 3022. 20 Hien, DVBl 2004, S. 464 (465), spricht vom Vermittlungsausschuss als „Bermuda-Dreieck“, in dem diesmal kein Schiff, sondern eine nachvollziehbare und rationale Begründung spurlos verschwunden ist. 21 Vgl. Hien, DVBl 2004, S. 464 (466); s. a. Ramsauer, NordÖR 2004, S. 147 f. 22 Vgl. dazu z. B. Geiger, NJW 2004, S. 1850 f.; Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe sind aus Steuermitteln finanzierte Leistungen, für die im Regelfall die Verwaltungsgerichte zuständig sind, nicht aus Versicherungsbeiträgen finanzierte Leistungen, über die die Sozialgerichte zu befinden haben.

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geberischen Geniestreich erheblich angestiegen, was zu gravierenden Verlängerungen der Verfahrensdauer führte. Dazu kam nun noch ein ganzes Aufgabengebiet, das bisher zwischen 10% und 15% der Eingänge in der ersten Instanz der – im Vergleich zur Sozialgerichtsbarkeit deutlich größeren – Verwaltungsgerichtsbarkeit ausgemacht hatte. Das sich daraus ergebende Dilemma hat man in der Sitzung des Vermittlungsausschusses sogar erkannt. Die Bundesregierung gab eine Notiz zu Protokoll, derzufolge sie zum Ausgleich der Auslastungsunterschiede zwischen der Verwaltungs- und der Sozialgerichtsbarkeit bis zum 30. Juni 2004 einen Gesetzentwurf23 mit folgenden Eckpunkten vorlegen werde: Den Ländern wird gestattet, die Sozialgerichtsbarkeit durch besondere Spruchkörper der Verwaltungsgerichte und der Oberverwaltungsgerichte auszuüben. Für die so gebildeten besonderen Spruchkörper der Verwaltungsgerichte gelten die gerichtsverfassungsrechtlichen und verfahrensrechtlichen Vorschriften des Sozialgerichtsgesetzes. Von dieser – tatsächlich geschaffenen24 – eher widersinnigen25 Möglichkeit hat nur das Land Bremen Gebrauch gemacht. Der kleine Exkurs zum Arbeitslosengeld II sei verziehen; er war erforderlich, um zu verdeutlichen, was die Diskussion über die Zusammenlegung der öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten aktualisiert und dringend gemacht hat. In Zeiten immer knapper werdender Haushaltsmittel, die eine Ausweitung der Personalkosten verbieten, geht es vordringlich um eine effizientere Steuerung des Personaleinsatzes.26 Diese findet soweit es hauptamtlich und planmäßig angestellte Richterinnen und Richter betrifft ihre Grenze allerdings in der durch Art. 97 GG garantierten richterlichen Unabhängigkeit, die eine Versetzung von Richtern gegen ihren Willen in einen anderen Gerichtszweig ausschließt (Art. 97 Abs. 2 GG). Das wäre kein Problem, wenn die zu bearbeitenden Fälle von einem einheitlichen Gericht zu entscheiden wären und die Verteilung der Richter auf die jeweiligen Spruchkörper nach Bedarf durch das Präsidium des Gerichts erfolgte. Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Errichtung einer einheitlichen öffentlich-rechtlichen Fachgerichtsbarkeit“ kam deshalb in ihrem Abschlussbericht zu der Empfehlung, den Ländern zu ermöglichen, die notwendige Feinsteuerung des richterlichen Personaleinsatzes durch die Zusammenlegung von öffentlich-rechtlichen Fachgerichtsbarkeiten zu erreichen.27 Die Be23

Vgl. BT-Drs. 15/3169, S. 8. Vgl. Art. 1 des Siebten Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes (7. SGÄndG) vom 9. Dezember 2004, BGBl I, S. 3302. 25 Vgl. im Einzelnen dazu Geiger (Fn. 22), S. 1851 f. 26 Die Arbeitsgruppe der JuMiKo sieht die Notwendigkeit, bundesweit über 200 „richterliche Arbeitskraftanteile“ von der Verwaltungs- auf die Sozialgerichtsbarkeit zu übertragen, vgl. Abschlussbericht (Fn. 13), S. 6. 24

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schränkung auf die Länder ergibt sich aus Art. 95 Abs. 1 GG, der dem Bund ausdrücklich die Errichtung des Bundesgerichtshofs, des Bundesverwaltungsgerichts, des Bundesfinanzhofs, des Bundesarbeitsgerichts und des Bundessozialgerichts als oberste Gerichtshöfe für die Gebiete der ordentlichen, der Verwaltungs-, der Finanz-, der Arbeits- und der Sozialgerichtsbarkeit vorschreibt. Ob damit auch auf Landesebene ein Unterbau der obersten Bundesgerichte verfassungsrechtlich vorgegeben ist, ist in der Literatur umstritten.28 Eine verfassungsgerichtliche Entscheidung dazu existiert nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat lediglich klargestellt, dass ein Rechtsmittelzug von Verfassungs wegen nicht geboten ist.29 Es hat bisher keine Aussage dazu getroffen, ob in einem Bundesland auf die Errichtung von Gerichten in einem der in Art. 95 Abs. 1 GG genannten Gerichtszweige überhaupt verzichtet werden kann. Die Finanzgerichtsbarkeit ist darüber hinaus nach Art. 108 Abs. 6 GG durch Bundesgesetz einheitlich zu regeln. Dies steht der von der Arbeitsgruppe empfohlenen Möglichkeit, auf Landesebene öffentlich-rechtliche Fachgerichtsbarkeiten zusammenzulegen, entgegen. Sie empfiehlt deshalb zur verfassungsrechtlichen Absicherung eine Änderung von Art. 95 Abs. 1 GG dahingehend, dass ausdrücklich auch die Zusammenlegung der drei öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten auf Länderebene möglich ist, und die Streichung von Art. 108 Abs. 6 GG. Von der Empfehlung einer – zwar wünschenswerten – bundeseinheitlichen Umsetzung wurde abgesehen, weil die Ausgangslage in den einzelnen Bundesländern zu unterschiedlich ist.30 Dem soll mit einer Länderöffnungsklausel, die nicht nur die Zusammenlegung als solche, sondern auch den Zeitpunkt einer Zusammenlegung den Ländern freistellt, entgegengekommen werden.31 Um eine zu weitgehende Rechtszersplitterung zu vermeiden, sollten die Länder nach Auffassung der Arbeitsgruppe nur dergestalt abweichen können, dass sie alle drei öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten zusammenlegen. Optionsmodelle, die die 27

Abschlussbericht (Fn. 13), S. 10. Bejahend z. B.: Maurer, Staatsrecht I, 3. Aufl. 2003, § 19 Rn. 22; Meyer, in: von Münch/Kunig, GG, 5. Aufl. 2003, Art. 95, Rn. 4; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, 2000, Art. 95, Rn. 20; Degenhardt, in: Isensee/Kirchhoff, Handbuch des Staatsrechts, Band III, 2. Aufl. 1996, § 75, Rn. 5 f.; Geiger (Fn. 22), S. 1850 f., 1852; Stüer/Hermanns, DÖV 2001, S. 505 (508 f.); verneinend z. B.: Herzog, in: Maunz/ Dürig, GG, Stand 1973, Art. 95, Rn. 42; Vosskuhle, in: von Mangold/Klein/Starck, GG, 4. Aufl. 2001, Art. 95, Rn. 29; Achterberg, in: Bonner Kommentar, Stand 1985, Art. 95, Rn. 130; Stern, Staatsrecht II, 1980, S. 388; Meyer-Teschendorf/Hofmann, ZRP 1998, S. 132 (134); Scheuner, DÖV 1953, S. 517 (521); Wittreck, DVBl. 2005, S. 211 (216 f.); Pitschas, SGb 1999, S. 385 (392). 29 Vgl. BVerfGE 28, 21 (36); 42, 243 (248); 54, 277 (291); 107, 395 (402). 30 Vgl. Abschlussbericht (Fn. 13), S. 31. 31 Vgl. Abschlussbericht (Fn. 13), S. 19. 28

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Zusammenlegung auch von nur zwei der drei öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten zulassen, seien dagegen abzulehnen.32 Der letzten Forderung sind die Justizminister nicht gefolgt. Auf ihrer 75. Konferenz im Juni 2004 nahmen sie den Abschlussbericht der Arbeitsgruppe zur Kenntnis und sprachen sich für die Schaffung einer bundesrechtlichen Länderöffnungsklausel aus, die es den Ländern ermöglichen soll, Fachgerichtsbarkeiten (auch teilweise) zusammenzulegen.33 Umgesetzt wurde dieser Beschluss durch einen Gesetzesantrag der Länder BadenWürttemberg und Sachsen34 vom 2. Juli 2004 mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Öffnung des Bundesrechts für die Zusammenführung von Gerichten der Verwaltungs-, Sozial- und Finanzgerichtsbarkeit in den Ländern (Zusammenführungsgesetz). Bei der Zusammenführung der Gerichte handele es sich um den einzigen erfolgversprechenden Weg, die dringend erforderliche nachhaltige und systemgerechte Flexibilisierung des Einsatzes des richterlichen Personals zu bewirken.35 Am 24. September 2004 beschloss der Bundesrat, den Gesetzentwurf gemäß Art. 76 Abs. 1 GG beim Deutschen Bundestag einzubringen, wo er als BT-Drs. 15/4109 der Auflösung des Bundestages und damit der Diskontinuität zum Opfer fiel. Als BR-Drs. 47/06 wurde er erneut eingebracht und ist nunmehr als BT-Drs. 16/1040 im parlamentarischen Verfahren. Parallel dazu wurde der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 92 und 108) eingebracht (BR-Drs. 543/04, BT-Drs. 15/4108, neu BR-Drs. 46/06, BT-Drs. 16/1034), mit dem, um „verfassungsrechtliche Zweifel auszuräumen und eine verfassungsrechtlich gesicherte Grundlage für die Umsetzung der Beschlüsse der Justizministerinnen und Justizminister der Länder zu schaffen“, Art. 92 GG in einem neuen Abs. 2 um eine Länderöffnungsklausel ergänzt und Art. 108 Abs. 6 GG aufgehoben werden sollen. Ziel des Zusammenführungsgesetzes soll es ausweislich der amtlichen Begründung sein, durch geeignete gesetzgeberische Maßnahmen zumindest auf der Ebene der Länder Rahmenbedingungen zu schaffen, die einen flexiblen, an aktuelle Bedarfssituationen angepassten Einsatz des richterlichen Personals im Bereich der öffentlich-rechtlichen Fachgerichtsbarkeit ermöglichen. Eine Zusammenführung von obersten Gerichtshöfen des Bundes ist im Gesetzentwurf ebenso wenig vorgesehen wie eine Zusammenführung der bestehenden drei Prozessordnungen für die Gerichte der Verwaltungs-, Sozial- und Finanzgerichtsbarkeit. § 1 Abs. 1 Satz 2 des Zusammenfüh32 33 34 35

Vgl. Abschlussbericht (Fn. 13), S. 19. Beschluss zu Top I 1, Nrn. 1 und 2. BR-Drs. 544/04. BR-Drs. 544/04, S. 2.

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rungsgesetzes sieht ausdrücklich vor, dass die Länder sich auch darauf beschränken können, durch Gesetz ihre Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit mit ihren Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit zusammenzuführen. Die Änderung des Art. 92 GG soll klarstellen, dass Art. 95 Abs. 1 GG die Länder nicht dazu zwingt, am bisherigen fünfgliedrigen Gerichtsaufbau festzuhalten. Außerdem werde verdeutlicht, dass eine einheitliche Ausübung der ordentlichen Gerichtsbarkeit und der Arbeitsgerichtsbarkeit ebenso wenig in Betracht komme, wie die Zusammenführung von Gerichten dieser Gerichtsbarkeiten mit Gerichten der Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit.36 Die amtliche Begründung insbesondere des Zusammenführungsgesetzes lässt keinen Zweifel daran, dass es nicht um eine Strukturreform geht, sondern der einzige Zweck dieser grundlegenden, sogar die Hürde einer Änderung des Grundgesetzes einschließenden Neuregelung darin besteht, eine Verschiebung der Richter zwischen den allgemeinen Verwaltungsgerichten und den Sozialgerichten zu ermöglichen. (Von den Richtern der Finanzgerichte wird in diesem Zusammenhang schon gar nicht mehr gesprochen; sie sehen für eine Zusammenlegung auch weder Anlass noch Grund.37) Daran sieht man sich nach der bisherigen Rechtslage durch die richterliche Unabhängigkeit gehindert, die zwar nicht als bloßes „Richterprivileg“ verstanden werden dürfe, sondern zur Sicherstellung des gesetzlichen Richters einer verfassungsrechtlichen (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips diene, zudem in der Tradition einer seit über 150 Jahren nahezu unveränderten Verfassungslage stehe38 – im konkreten Fall aber doch sehr hinderlich sein kann. Sie muss also mit legalen Mitteln umgangen werden, wenn dies auch etwas aufwendig ist.39 Man wird es der Verfasserin als einer Richterin nicht verübeln, wenn sie sich dafür nicht spontan begeistern kann. Aber die Tatsache, dass die derzeitigen Gesetzesvorhaben kein besonders sinnvoller Ansatz sind, ein gewachsenes und inzwischen über Jahrzehnte bewährtes System der öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten zu ändern, schließt es nicht aus, dass es überzeugende Sachgesichtspunkte gibt, die Zahl der Gerichtsbarkeiten zu reduzieren.40

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BT-Drs. 16/1034, B. Lösung, S. 1. Vgl. Haunhorst/Hermes/Kempe/Seibel, DRiZ 2005, S. 17. 38 Amtliche Begründung BT-Drs. 16/1040, S. 11. 39 So Wittreck, DVBl. 2005, 211 (219). 40 Hien, DVBl. 2004, S. 467 und Ramsauer, NordÖR 2004, S. 147 (149) fordern insoweit eine „argumentative Bringschuld“ der Befürworter; s. a. Schäfer, Betrifft Justiz 2004, S. 222 (223); Pitschas, SGb 1999, S. 385 (386). 37

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Der Sachverständigenrat „Schlanker Staat“ hat angeregt, unter dem Gesichtspunkt der Steigerung der Effektivität zu prüfen, ob die Zahl der Gerichtszweige verringert werden kann.41 Wenn dies zu einer effektiveren Rechtsprechung führt, ist das natürlich ein sehr wesentliches Sachkriterium. Allein durch die Zusammenlegung reduziert sich allerdings weder die Zahl der zu bearbeitenden Fälle noch die Zahl der zu ihrer Bearbeitung erforderlichen Richter. Auch die gern zitierte Vermeidung von Verweisungsbeschlüssen zwischen den öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten42 bei einer einheitlichen Fachgerichtsbarkeit führt zu keiner nennenswerten Effektivitätssteigerung, denn derartige Beschlüsse kommen in der Praxis so gut wie gar nicht vor: In aller Regel sind Streitgegenstand Bescheide, die mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen sind, in denen das zuständige Gericht benannt ist. Die vom Sachverständigenrat ebenfalls angeregte Vereinheitlichung der Verfahrensordnungen für die öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten43 könnte sicherlich zu einer Vereinfachung und mehr Transparenz im Rechtsschutz führen. Ohne einheitliches Prozessrecht wäre in einem nur organisatorisch einheitlichen Gerichtszweig die Bildung spezialisierter Spruchkörper entsprechend den derzeitigen Zuständigkeiten erforderlich, die nicht nur unterschiedliche Materien entscheiden, sondern auch verschieden besetzt sind. Ein Wechsel in einen Fachspruchkörper, der früher einer anderen Gerichtsbarkeit angehörte, wäre dann zwar theoretisch denkbar, praktisch aber ohne große Reibungsverluste kaum realisierbar. Innerhalb der einheitlichen Gerichtsbarkeit würden die alten Gerichtszweige als interne Gliederung fortleben. Leider steht die Schaffung eines einheitlichen Prozessrechts allerdings, soweit ersichtlich, zurzeit nicht zur Diskussion. Das einheitliche Prozessrecht könnte im Übrigen auch unabhängig von der Zusammenlegung der öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten geschaffen werden. Unterschiedliche Entwicklungen der Verfahrenseingänge könnten bei einer einheitlichen Gerichtsbarkeit leichter ausgeglichen werden.44 Die letzten Jahre haben mehrfach deutliche Schwankungen in der Belastung der Sozialund der Verwaltungsgerichtsbarkeit erkennen lassen (die Finanzgerichtsbarkeit wird in derartige Vergleiche in der Regel nicht einbezogen): Während die Eingangszahlen bei den Verwaltungsgerichten insbesondere wegen der 41 Abschlussbericht (Fn. 2), S. 188; dabei hat er interessanterweise für den Anfang die Zusammenlegung der ordentlichen Gerichte mit den Arbeitsgerichten in Betracht gezogen. 42 Vgl. z. B. Heister-Neumann, ZRP 2005, S. 12 (13); Hermanns, Einheit der Verwaltungsgerichtsbarkeit, 2002, S. 110. 43 Abschlussbericht (Fn. 2), S. 188. 44 Bertrams, NJW Editorial H. 6/2006, hält dies für einen hinreichenden Grund für die Zusammenlegung.

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großen Zahl asylrechtlicher Streitigkeiten Mitte der 90er Jahre Spitzenwerte erreichten, bewegten sich die Eingänge in der Sozialgerichtsbarkeit auf relativ niedrigem Niveau. In den letzten Jahren nahmen die Eingänge in der Verwaltungsgerichtsbarkeit kontinuierlich ab, während sie bei den Sozialgerichten ebenso kontinuierlich anstiegen. Diese Entwicklung wird durch die oben beschriebene Zuständigkeitsregelung für die Sozialhilfe- und Arbeitslosengeld II-Streitigkeiten massiv verstärkt. Auch in der Vergangenheit haben die Justizverwaltungen aber – vielleicht mit unterschiedlichem Erfolg – auf temporär ungleiche Geschäftsbelastungen reagiert und durch freiwillige Umsetzungen, Stellenverlagerungen im Rahmen der normalen Personalfluktuation, Übertragung eines weiteren Richteramtes nach § 27 Abs. 2 DRiG oder befristete Abordnungen Lösungen gefunden.45 Im Übrigen sollte eine Verschiebung des richterlichen Personals von einer Gerichtsbarkeit auf eine andere nur dann in Betracht gezogen werden, wenn erstere von der Belastung her tatsächlich freie Kapazitäten hat.46 Bleibt das Argument der zu erwartenden Synergieeffekte mit entsprechenden Kosteneinsparungen. Die Möglichkeit, durch die Zusammenlegung zentraler Einrichtungen wie Bibliothek, IT-Betreuung, Poststelle, Wachtmeisterei oder die intensivere Nutzung der Sitzungssäle Einsparungen zu erzielen, setzt voraus, dass die bisher selbständigen Gerichte auch wirklich unter einem Dach zusammengeführt werden.47 Das wird nur in den wenigsten Fällen ohne erhebliche bauliche Investitionen möglich sein, sodass sich allenfalls nur sehr langfristig Einspareffekte ergeben würden. Wo eine solche räumliche Zusammenführung möglich ist, setzt die gemeinsame Nutzung zentraler Dienste allerdings nicht unbedingt eine einheitliche Gerichtsbar45 Vgl. Hien, DVBl. 2005, S. 348 (349); Neumann, DRiZ 2006, S. 1 (2); s. a. Schliemann, DRiZ 2006, S. 5. Dass es auch im Fall der abrupt verstärkten Belastung der Sozialgerichte durch das Arbeitslosengeld II und die Sozialhilfestreitigkeiten geklappt hat, zeigt die Umsetzung dieser Regelungen seit dem 1. Januar 2005: So wurde z. B. in Sachsen die Zahl der Richter bei den Sozialgerichten ohne Schaffung neuer Stellen von 55 auf 70 erhöht. Justizminister Mackenroth dankte den Richtern für ihre Flexibilität und Bereitschaft zur Mehrarbeit, vgl. Leipziger Volkszeitung vom 23. August 2006, S. 4. 46 Das bestreitet der DAV im Hinblick auf die Erledigungszeiten bei den Verwaltungsgerichten, vgl. VI. 1. der Stellungnahme des Deutschen AnwaltVereins durch den DAV-Ausschuss Justizreform zu den Plänen der Justizministerkonferenz für eine „Große Justizreform“ vom Mai 2005 (Stellungnahme 29/2005); s. a. Bertrams, DVBl. 2006, S. 997 (998). 47 Das sah auch der Jubilar in der parlamentarischen Debatte in einem Zwischenruf zu den – die Notwendigkeit einer räumlichen Zusammenführung verneinenden – Äußerungen der damaligen Justizministerin Däubler-Gmelin als „wirkliche Reform“, vgl. Stenographische Berichte des Bundestags, 14. Wahlperiode, 115. Sitzung, S. 10996 (C).

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keit voraus, wie sich an den vor allem in den neuen Bundesländern in den letzten Jahren vermehrt entstandenen „Justizzentren“ zeigt. In vielen Fällen wird einer räumlichen Zusammenlegung außer den Investitionskosten auch entgegenstehen, dass bisher die allgemeinen und die besonderen Verwaltungsgerichte häufig in verschiedenen Städten ihren Sitz haben, sodass bisherige Gerichtsstandorte schließen müssten und andere in ihrer Bedeutung aufgewertet würden. Um die damit verbundenen Widerstände zu vermeiden48 und gleichzeitig die in der Regel nicht vorhandenen Haushaltsmittel für Neu- und Umbauten zu sparen, würden wohl in vielen Fällen die bisher selbständigen Gerichte als Außenstellen oder Filialen bestehen bleiben, was wiederum den Synergieeffekt gegen Null gehen lässt und zunächst nur zu Kosten für neue Schilder an den Gerichtsgebäuden führt.49 Auch die Einsparung von Präsidenten-, Vizepräsidenten- und Verwaltungsleiterposten wird nicht wesentlich zur Sanierung der Justizhaushalte beitragen: Präsidenten und Vizepräsidenten sind alle gleichzeitig Vorsitzende eines Spruchkörpers. Als solche würden sie auch weiterhin gebraucht. Gespart werden könnte deshalb nur die Differenz zwischen der Vorsitzenden- und der (Vize-)Präsidentenbesoldung. Diese Einsparung würde aber leicht aufgebraucht durch zusätzliche Reise- und Telefonkosten, die wegen der notwendigen Zusammenarbeit allein der Gremien wie Personalrat, Richterrat, Präsidium, Schwerbehindertenvertretung, Gleichstellungsbeauftragte, Vorsitzendenbesprechung, Personalversammlung etc. anfallen.50 Inwieweit sich die durch die Zusammenlegung vergrößerten Gerichte als Vorteil erweisen würden, lässt sich nicht einheitlich beantworten. Die Gerichtsgröße an den einzelnen Gerichtsstandorten variiert im Ländervergleich erheblich. Motivation und Einsatzbereitschaft sind aber auch von der Organisationsgröße abhängig. Während sich in kleineren Bundesländern durch die Zusammenfassung leistungsfähigere Gerichtseinheiten ergeben können, würden in den großen Ländern derart komplexe und große Einheiten entstehen, dass dadurch neue organisatorische Probleme aufgeworfen würden. Zu große Einheiten sind wegen der Entfernung der Arbeitseinheiten zur Gerichtsleitung schwer zu führen, die Mitarbeiterzufriedenheit sinkt und effizienzfördernde informelle Mechanismen funktionieren nicht mehr.51 Es ist 48 Vgl. dazu auch Hien, DVBl 2004, S. 464 (467); Wittreck, DVBl. 2005, 211 (220); Ramsauer, NordÖR 2004, S. 147 (150). 49 Vgl. Ramsauer, NordÖR 2004, S. 147, (149); Berlit, Betrifft Justiz 2004, S. 226 (232), verweist darauf, dass die Zusammenlegung von Gerichtsbarkeiten kein geeignetes Mittel zur Lösung von Problemen ist, die aus einer Zersplitterung der Gerichtsstandorte entstehen. 50 Vgl. Hien, DVBl 2004, S. 464 (467); Redeker, NJW 2004, S. 496. 51 Vgl. Berlit, Betrifft Justiz 2004, S. 226 (230).

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wohl kein Zufall, dass sich auch in der „freien Wirtschaft“ die mit einer Reihe von Firmenzusammenschlüssen in den letzten Jahren erhofften Synergieeffekte nicht wirklich eingestellt haben. Die Begründung zum Entwurf des Zusammenführungsgesetzes weist auch darauf hin, dass das deutsche Modell mit seinen fünf Gerichtsbarkeiten im Hinblick auf das europäische Umfeld durch seinen Ausnahmecharakter geprägt sei. Die Reduzierung der Zahl der deutschen Gerichtsbarkeiten wird deshalb auch als Schritt zur Angleichung der gerichtlichen Strukturen in einem zusammenwachsenden Europa gesehen.52 Mit Ausnahme von Finnland, das neben einer Verwaltungs- und einer ordentlichen Gerichtsbarkeit noch so genannte besondere Gerichte (Gericht für Markt- und Wettbewerbsangelegenheiten, Arbeitsgericht und Sozialversicherungsgericht) kennt, gegen deren Entscheidungen regelmäßig keine Rechtsmittel möglich sind, sodass sie einer eigenständigen Gerichtsbarkeit zumindest angenähert sind,53 und Italien, in dem es neben der ordentlichen Gerichtsbarkeit Sondergerichtsbarkeiten mit den Fachrichtern Verwaltungsrichter, Richter am Rechnungshof, Militärrichter und Richter am Verfassungsgerichtshof gibt,54 gibt es wohl kein weiteres Land in Europa, das über fünf verschiedene Gerichtsbarkeiten verfügt. Allein eine Reduzierung der Zahl der Gerichtsbarkeiten hätte aber noch nichts mit einer Harmonisierung oder Angleichung der gerichtlichen Strukturen in Europa zu tun. Denn diese unterscheiden sich in so grundsätzlicher und vielfältiger Art, dass die Frage, ob es in Deutschland drei, vier oder fünf Gerichtsbarkeiten gibt, sehr belanglos erscheint. Nicht nur der grundsätzliche Unterschied zwischen den kontinentalen und dem angelsächsischen Rechtssystem trennt dabei mehr als die Zahl der Gerichtsbarkeiten, auch auf dem Kontinent bestehen erhebliche Unterschiede; so haben z. B. fünf Mitgliedstaaten der Europäischen Union keine eigenständige Form des Verwaltungsrechtsschutzes.55 Im Übrigen verfügen etliche der anderen europäischen Länder – vor allem auf der unteren Ebene – über spezielle Gerichte.56 Streitigkeiten aus dem Bereich des Sozialrechts werden nur teilweise in der Verwaltungsgerichtsbarkeit 52 Vgl. BT-Drs. 16/1040, S. 12; s. dazu auch Pitschas, SGb 1999, S. 385 (386 f.); ders., in: Die Reform der Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1999, S. 59 (86). 53 Vgl. Europarat (Hrsg.), Judicial Organisation in Europe, 2000, S. 113 ff.; http:// europa.eu.int/comm/justice_home/ejn/org_justice/org_justice_fin_de.htm. 54 Judicial Organisation in Europe, S. 197 ff. 55 Dänemark, Großbritannien, Irland, Malta und Zypern, vgl. Association des Conseils d’Etat et des Juridictions administratives suprémes de l’Union européenne a. i. s. b. l., Bulletin d’information no. 15, April 2006, S. 18. 56 Vgl. z. B. in Österreich die speziellen Gerichte für Handelssachen und Arbeitsund Sozialrechtssachen (jeweils nur für Wien), vgl. Fink, ZZP 1989, S. 80 ff.; in Portugal See-, Schieds- und Friedensgerichte; in Schweden das Arbeitsgericht.

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mitbehandelt; obwohl z. B. Frankreich eine Verwaltungsgerichtsbarkeit hat, werden sozialversicherungsrechtliche Streitigkeiten in erster Instanz von gesonderten Sozialgerichten entschieden, Berufung und Revision gehen aber zu speziellen Spruchkörpern des Cour d’Appell bzw. Cour de Cassation, d. h. zur ordentlichen Gerichtsbarkeit.57 Der Rechtsschutz ist in Deutschland – nicht zuletzt aufgrund der verfassungsrechtlichen Garantie des Art. 19 Abs. 4 GG und hoher Anforderungen an den gesetzlichen Richter – so ausgeprägt wie nirgendwo sonst in Europa, was sich auch an der im Verhältnis zur Bevölkerung höchsten Richterzahl ausdrückt.58 Die Variationen des Rechtsschutzes, der in der Bundesrepublik durch die öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten erbracht wird, sind in Europa so vielfältig, dass keine einheitliche Zielvorstellung erkennbar ist. Es ist deshalb nicht sachgerecht, das deutsche Justizsystem mit historisch anders gewachsenen Rechtskulturen zu vergleichen. Für eine Angleichung ist dabei erheblich mehr erforderlich als eine Reduktion der Zahl der Gerichtsbarkeiten. Im Übrigen gilt das bundesdeutsche Rechtsschutzsystem trotz seiner ausgeprägten Differenzierungen im europäischen Vergleich als effizient und leicht zugänglich.59 Andererseits darf durchaus bezweifelt werden, ob, wenn heute ausgehend vom Punkt Null die Gerichtsbarkeit in Deutschland neu organisiert werden müsste, dies wiederum in der Form von drei öffentlich-rechtlichen Fachgerichtsbarkeiten geschähe. Auch für die Mütter und Väter des Grundgesetzes war dies keineswegs von Beginn an selbstverständlich. Vielmehr sah die ursprüngliche Fassung des Art. 129 des Herrenchiemseer Entwurfs, aus dem später Art. 95 GG wurde, neben der obersten Verfassungsgerichtsbarkeit die oberste Verwaltungsgerichtsbarkeit, die oberste Dienststrafgerichtsbarkeit bei Dienstvergehen gegen den Bund, die oberste ordentliche Gerichtsbarkeit einschließlich der Arbeitsgerichtsbarkeit sowie die oberste Gerichtsbarkeit bei Meinungsverschiedenheiten über die Zuständigkeit zwischen Gerichten und Verwaltungsbehörden vor.60 Der Allgemeine Redaktionsausschuss des Parlamentarischen Rates schlug für Art. 129 eine Fassung vor, nach der „für das Gebiet der ordentlichen, der Arbeits-, der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit obere Bundesgerichte errichtet werden“ können.61 In der Beratung des Ausschusses für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege vom 6. Dezember 1948 war die Schaffung eines Bundes57

Vgl. Kötter, ZIAS 1991, S. 237 ff. Vgl. die Zahlen bei Franke, ZRP 1997, S. 333 (335). 59 Vgl. Berlit, Betrifft Justiz 2004, S. 226 (235); s. a. Zypries, NJW-Editorial H. 34/2006. 60 Vgl. Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948, S. 57. 61 Stand 5. Dezember 1948; PR. 12.48 – 343 –. 58

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verwaltungsgerichts streitig, weil man die Gefahr eines Einbruchs in die Justizhoheit der Länder sah,62 über eine Sozialgerichtsbarkeit wurde aber nicht diskutiert. In seiner 10. Sitzung am 11. Januar 1949 erzielte man Einigkeit darüber, dass vier obere Bundesgerichte zu errichten seien und über diesen ein oberstes Gericht.63 In dem Schreiben des Ausschusses vom 12. Januar 1949 an den Vorsitzenden des Hauptausschusses wird für Art. 129 Abs. 1 Satz 1 eine Neufassung beantragt, in der es erstmals heißt: „Für das Gebiet der ordentlichen, der Verwaltungs-, der Finanz-, der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit sind obere Bundesgerichte zu errichten.“64 Mit Schreiben vom 8. Januar 194965 hatte die FDP-Fraktion bereits folgende Fassung beantragt: „Für das Gebiet der ordentlichen, der Verwaltungs-, Arbeits-, Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit sind Bundesgerichte zu errichten.“ In der 37. Sitzung des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates vom 13. Januar 1949 wurde zwar die Errichtung eines Bundesverwaltungsgerichts, die Frage, ob die Gerichte obligatorisch zu errichten seien und die in Satz 2 des Art. 129 Abs. 1 vorgesehene Möglichkeit, die oberen Bundesgerichte miteinander zu verbinden, streitig diskutiert, nicht aber die Selbständigkeit einer Sozialgerichtsbarkeit.66 Aus der Rechtstradition scheint die aus der Tätigkeit des Reichsversicherungsamtes hervorgegangene selbständige Sozialgerichtsbarkeit – anderes gilt für die Finanzgerichtsbarkeit67 – also nicht als absolut zwingend. Im Hinblick auf die gerichtszweigunabhängige Verpflichtung aller Richterinnen und Richter auf den sozialen Rechtsstaat lässt sich auch keine exklusive Verantwortung oder Kompetenz der Sozialgerichtsbarkeit für die Verwirklichung des sozialen Rechtsstaats oder den Schutz sozial Schwacher begründen.68 Schließlich macht auch die von systematischen Grundlagen und Überlegungen freie großzügige Verschiebung der Rechtsstreitigkeiten aus dem Gebiet der Sozialhilfe von der Verwaltungs- zur Sozialgerichtsbarkeit durch das Gesetz zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch69 deutlich, dass für die derzeitige Differenzierung der Gerichtsbarkeiten vielleicht keine zwingenden Gründe mehr gesehen werden. Entscheidende Frage muss aber sein, welchen Beitrag Organisationsreformen leisten 62

Vgl. Dr. Laforet (CSU), Parlamentarischer Rat, Drs.-Nr. 586. Kurzprotokoll, Parlamentarischer Rat, Drs.-Nr. 602. 64 Drs.-Nr. 492. 65 Drs.-Nr. 470. 66 Vgl. Kurzprotokoll S. 11 f., Drs.-Nr. 537. 67 Vgl. dazu Franke, ZRP 1997, S. 333 f. 68 Vgl. Berlit, Betrifft Justiz 2004, S. 226 (235); a. A. Roller, DRiZ 2004, S. 53 (55); ders., VSSR 2004, S. 131 (135); Pitschas, SGb 1999, S. 385 (386). 69 s. o. Fn. 19. 63

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können, um den effektiven und zeitnahen Rechtsschutz für die Bürgerinnen und Bürger zu verbessern. Die Reformen dürfen nicht Selbstzweck sein. Pitschas70 sieht die Notwendigkeit einer Vereinheitlichung der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit mit der Sozialgerichtsbarkeit im schleichenden Zweckverfall der Eigenständigkeit deutscher Sozialgerichtsbarkeit. Der ehemalige Schutzzweck der Sozialrechtsprechung müsse sich dem funktionalen Wandel des Sozialstaates zu einem „subsidiären Sozialstaat“, in dem die soziale Mitverantwortung des Einzelnen und die ergänzende gesellschaftliche Vor- und Fürsorge an die Stelle staatlicher Wohlstandszuständigkeit treten, anpassen. Deshalb unterliege auch die Sozialrechtsprechung einem Wandel ihres organisatorischen Aufbaus, des Verfahrens und des personellen Zuschnitts, um den künftigen Herausforderungen des effizienten Staates gewachsen zu sein. Daraus ergibt sich zwar nicht, warum die Sozialgerichtsbarkeit in ihrer selbständigen Ausprägung nicht in der Lage sein sollte, den erforderlichen Wandel zu vollziehen. Auch Belege dafür, dass die durch die Vereinheitlichung aller drei verwaltungsrechtlichen Rechtswege erreichbare konzentrierte Gerichtsorganisation einen wesentlichen Beitrag zur Entlastung der permanent notleidenden öffentlichen Haushalte darstelle,71 bleibt er schuldig. Aber die Rechtsentwicklung im materiellen Recht, die, wie sich am Beispiel des Arbeitslosengeldes II und des Sozialhilferechts besonders deutlich zeigt, die Abgrenzung der Materien, über die die Verwaltungsgerichte einerseits und die Sozialgerichte andererseits zu entscheiden haben, verschwimmen lässt, kann auf Dauer die Trennung der Gerichtsbarkeiten in Frage stellen. Das klassische Unterscheidungsmerkmal der beitrags- oder steuerfinanzierten Leistungsgewährung hat seine Abgrenzungsfunktion bereits eingebüßt: Zahlreiche Leistungen der Sozialversicherung lassen sich ohne einen Zuschuss aus dem Steueraufkommen nicht mehr finanzieren.72 Auch die Verwaltungsgerichtsbarkeit und die Finanzgerichtsbarkeit verbinden heute schon Gemeinsamkeiten: so entscheiden die allgemeinen Verwaltungsgerichte über Grund- und Gewerbesteuer sowie alle sonstigen kommunalen Abgaben, deren Verfahren sich ganz überwiegend nach der Abgabenordnung richtet. Das materielle Recht ist auch der Ansatz für eine echte Effizienzsteigerung. Dieses muss verschlankt und handwerklich verbessert werden.73 Zahlreiche materiell-rechtliche Vorschriften scheinen geradezu darauf angelegt 70

SGb 1999, S. 385 (386 f.). Pitschas, SGb 1999, S. 385 (393). 72 Vgl. Flint, DRiZ 2004, S. 217 (219); Kruschinsky, Recht und Politik 2004, S. 73 (77). 73 So schon Scholz, R./Hofmann, H., PersV 1998, S. 326 (328). 71

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zu sein, zu Rechtsstreitigkeiten zu führen. Die Auslegung unklarer Rechtsnormen wird dann vom Normgeber großzügig der Rechtsprechung als Aufgabe übertragen. Eine Verbesserung der materiellen Rechtsetzung wäre deshalb eine der effektivsten Möglichkeiten zur Entlastung der Justiz und damit zur Beschleunigung des Rechtsschutzes. Eine sinnvolle Zusammenlegung der öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten, die zu einer Vereinfachung und Beschleunigung des Rechtsschutzes und zu mehr Transparenz für den Bürger führen soll, setzt als Grundbedingung eine einheitliche Verfahrensordnung voraus. Nur dies erleichtert den Wechsel der Richter in einen anderen Sachbereich und reduziert die damit zwangsläufig verbundenen Erfahrungsverluste. Wie bereits festgestellt74, wäre sogar eine Vereinheitlichung der Verfahrensordnungen ohne Zusammenführung der öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten sinnvoll, eine Zusammenführung der Gerichtsbarkeiten ohne Vereinheitlichung der Verfahrensordnungen aber kontraproduktiv, weil der zweite Schritt vor dem ersten gegangen würde.75 Weitere Voraussetzung wäre ein einheitliches oberstes Bundesgericht als Revisionsinstanz, d. h. eine Änderung des Art. 95 Abs. 1 GG.76 Wenn man für eine einheitliche Gerichtsbarkeit bereit ist, das Grundgesetz in Art. 92 und Art. 108 zu ändern, macht es wenig Sinn, gleichsam aus Respekt vor dem Grundgesetz die Regelung des Art. 95 Abs. 1 GG zu belassen und damit eine unverständliche Aufspaltung der Gerichtsbarkeiten in der Revisionsinstanz hinzunehmen. Sieht man als Grund der Zusammenlegung die Angleichung des materiellen Rechts, ist eine Aufspaltung auf der Ebene der Bundesgerichte nicht mehr erforderlich. Sie würde nur die Gefahr divergierender Rechtsprechung bergen. Das Argument der erforderlichen Spezialisierung der Richter, um einer entsprechenden Spezialisierung der beteiligten Behörden und Anwälte gewachsen zu sein, gilt für die Bundesgerichte nicht stärker als für die Instanzgerichte. Natürlich ist eine solche Spezialisierung notwendig.77 Sie erfolgt aber regelmäßig durch die Tätigkeit innerhalb des jeweiligen Spruchkörpers. Deshalb ist mit jedem Wechsel des Spruchkörpers der Verlust erarbeiteter Erfahrung und die Notwendigkeit der Einarbeitung in neue Ma74

s. o. S. 8. So auch DAV-Stellungnahme, a. a. O. (Fn. 46), VI. 2.; s. a. Ramsauer, NordÖR 2004, S. 147 (150); Roller, DRiZ 2004, S. 53 (56); ders., DRiZ 2004, S. 253 (254); zunächst auch noch Bertrams, NWVBl. 1999, S. 245 (252). 76 So auch Ramsauer, NordÖR 2004, S. 147 (148). 77 A. A. wohl die von Eylmann, Kirchner, Knieper, Kramer und Mayen 2004 für das Niedersächsische Justizministerium erstellte Studie, derzufolge der Überspezialisierung der Richter entgegengewirkt werden solle; zitiert nach Weber-Gellert, DRiZ 2006, S. 22. 75

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terien gegeben. Das spricht zwar gegen einen häufigen Wechsel, schließt ihn aber nicht aus. Denn die Schwerpunkte der zu bearbeitenden Fälle ändern sich, was eine entsprechende Anpassung erfordert. Ob diese durch den freiwilligen Wechsel von Richtern in eine andere Gerichtsbarkeit oder innerhalb eines Gerichts durch das Präsidium, das über die Geschäftsverteilung die Richter den jeweiligen Kammern und Senaten zuweist, erfolgt, ist für den damit verbundenen Erfahrungsverlust und die Notwendigkeit der Einarbeitung unerheblich. Eine letzte Bitte an den Gesetzgeber: Sollte er sich zu einer Zusammenlegung der öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten entschließen, so tue er dies bitte nicht unter dem Begriff der „Fachgerichtsbarkeit“ mit „Fachgerichten“, „Oberfachgerichten“ und vielleicht noch einem „Bundesfachgericht“. In der Bevölkerung kann sich niemand darunter etwas vorstellen, weil der Begriff keinen nachvollziehbaren Inhalt hat.78 Auch in anderen Ländern heißen die Gerichte, die sich mit der entsprechenden Materie befassen, nach dieser Materie: administrative court, tribunal administratif, tribunal administrativo – kurz: Verwaltungsgerichte!

78 Vgl. Hien, DVBl. 2005, S. 348 (350), der eher auf die Assoziation zum „Fachidioten“ verweist.

Richterliche Unabhängigkeit in Zeiten struktureller Veränderungen der Justiz Von Wolfgang Hoffmann-Riem I. Wer – wie der Jubilar – seit langem Verantwortung in der Praxis – bei ihm vor allem in der Politik – trägt, aber dennoch die Nähe zu der am Beginn der Berufskarriere stehenden Profession, der des Wissenschaftlers, nicht verloren hat, kann die Chance nutzen, das Geschehen stets aus zwei Perspektiven zu besehen. Der Jubilar hat dies, wie nicht zuletzt sein imponierendes Schriftenverzeichnis zeigt, in vielen Bereichen getan. Dass auch die Justiz auf seine besondere Aufmerksamkeit traf, mag vielen nicht besonders aufgefallen sein. Der Justiz – und zwar auch der Justizpraxis – aber galt ein großes Interesse des Jubilars, wie sich auch daran zeigte, dass er lange Zeit nicht nur Vorsitzender des Rechtsausschusses des Bundestags war, sondern auch als Obmann im Richterwahlausschuss des Bundes sowie bei der Erarbeitung von Vorschlägen für die Wahl von Bundesverfassungsrichtern die maßgebende und intensiv steuernde Kraft bei der Besetzung von Richterstellen auf Seiten der CDU war.1 Der Einfluss der Politik auf die Wahl von Bundesrichtern unter Einschluss von Verfassungsrichtern bedeutet Verantwortungsübernahme für einen wichtigen „Steuerungsfaktor“2 staatlichen Handelns, nämlich das Per1 Allgemein zur Praxis der Richterbestellung bei Gerichten des Bundes s. Scholz, Die Wahl der Bundesrichter, in: SchmidtAßmann u.a (Hrsg.), Festgabe 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, 2003, S. 151 ff.; Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt, 2006, S. 326 ff. 2 Der Begriff Steuerungsfaktor soll analytisch darauf verweisen, dass es Faktoren gibt, die durch die Setzung von Rahmenbedingungen u. ä. auf Handeln einwirken, es mehr oder minder intensiv determinieren. Mit dem Begriff ist nicht die Aussage verbunden, dass solche Steuerungsfaktoren zu einer Art Fernlenkung konkreter Einzelentscheidungen führen oder führen müssten. Zur Rechtswissenschaft als Steuerungswissenschaft vgl. statt vieler Schuppert, Verwaltungsrechtswissenschaft als Steuerungswissenschaft, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Schuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, S. 65 ff.; Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2006, S. 1, 20 ff.

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sonal. Dieser Steuerungsfaktor ist eingebaut in andere, so die des Verfahrens und der Organisation, aber auch den der Finanzen.3 Für diese Steuerungsfaktoren trägt die Politik ebenfalls Verantwortung. Sie sind bei rechtsgebundenem Handeln staatlicher Organe, etwa dem der Gerichte, mit dem Steuerungsfaktor Recht, also insbesondere der den Parlamenten übertragenen Gesetzgebung, verknüpft. Zwischen den verschiedenen Steuerungsfaktoren können Spannungen bestehen. Diese werden im Hinblick auf die unterschiedlichen Staatsgewalten unterschiedlich aufgelöst. So markiert der Grundsatz der Gewaltenteilung4 (bewegliche) Grenzen der Abwehr von wechselseitiger Einwirkungsmacht. Bezogen auf die Gerichte bewirkt der verfassungsrechtliche Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit besondere Stoppregeln gegenüber Einwirkungsmöglichkeiten, allerdings nur hinsichtlich des Einsatzes anderer Steuerungsfaktoren als dem des Rechts. Um die Wirkungskraft solcher Stoppregeln oder Grenzmarkierungen wechselseitiger Einwirkungen kreist ein erheblicher Teil der Diskussion um richterliche Unabhängigkeit. Die Finanzkrise öffentlicher Haushalte – verbunden mit erheblichen Beschränkungen der personellen und sächlichen Ressourcen der Gerichte – und die Bemühungen vor allem der letzten 15 Jahre um eine grundlegende Reform der Gerichtsverwaltung5 haben Veränderungen der Rahmenbedingungen des richterlichen Verhaltens bewirkt, die sich auch vor dem Grundsatz richterlicher Unabhängigkeit rechtfertigen müssen. Wer die Diskussion um solche Veränderungen mitverfolgt6 und die unübersehbaren Anzeichen auch lobbyistischer Interessenverfolgung von 3 Zur Bedeutsamkeit dieser Steuerungsfaktoren für die Rechtsanwendung s. schon Hoffmann-Riem, Rechtswissenschaft als Rechtsanwendungswissenschaft, in: ders., Sozialwissenschaften im Studium des Rechts, 1977, S. 1 ff. Aus der aktuellen Literatur s. etwa die Beiträge von Schuppert, Verwaltungsorganisation und Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsfaktoren, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/ Voßkuhle (Fn. 2), S. 995 ff. sowie die Beiträge von Voßkuhle, Personal sowie Korioth, Finanzen, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen (Fn. 2), Bd. III (in Vorbereitung). 4 Zu ihm s. statt vieler Peters, Die Gewaltentrennung in moderner Sicht, 1954; Achterberg, Probleme der Funktionenordnung, 1970; Zimmer, Funktion – Kompetenz – Legitimation: Gewaltenteilung in der Ordnung des Grundgesetzes, 1997; aus der neueren Literatur Möllers, Gewaltengliederung, Legitimation und Dogmatik im nationalen und internationalen Rechtsvergleich, 2005 m. w. Hinw. 5 Ich verweise hier pauschal auf die seit Jahren in der Deutschen Richterzeitung geführte Diskussion sowie auf zwei Habilitationsschriften mit ausführlichen Literaturhinweisen: Wittreck, Die Verwaltung der Dritten Gewalt, 2006; Tschentscher, Demokratische Legitimation (Fn. 1). 6 Ich habe dies seit meiner Tätigkeit als Justizsenator in Hamburg getan, s. dazu aus meinen Veröffentlichungen u. a. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Reform der Justizverwaltung als Beitrag zum modernen Rechtsstaat; 1998; ders., Modernisierung von

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Richtern nicht überbewertet, erkennt leicht, wie sehr die Veränderungen das Selbstverständnis der Richter über das Verhältnis von Recht und richterlicher Gestaltungsmacht berühren und verändern, aber auch, dass rechtstheoretische und gesellschaftspolitische Grundfragen über die Rolle des Rechts in der Rechtsanwendung und sein Verhältnis zu anderen Steuerungsfaktoren richterlicher Arbeit betroffen sind. Die folgenden Überlegungen7 sind daher bemüht, die aktuelle Diskussion um den Schutz, aber auch die Grenzen richterlicher Unabhängigkeit aus Anlass der laufenden Reformen der Justizverwaltung und der Justiz in den Kontext allgemeiner Fragen, wie der über die Bindungskraft des Rechts8 und den Einsatz „weicher“ Entscheidungsfaktoren9 in der richterlichen Arbeit, zu ordnen. Ziel des Beitrags ist es aber vorrangig, auszuloten, welche Orientierungen das Gebot richterlicher Unabhängigkeit in der Diskussion um strukturelle Änderungen in der Justiz liefert und wo die Berufung auf dieses Prinzip deplaziert ist. II. „Wahrheit ist Recht – Recht ist Wahrheit“ – dieser unter anderem an der Stirnwand des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Hamburg in Stein gemeißelte Leitspruch war zur Zeit des Wilhelminismus, als der gerichtliche Prunkbau errichtet wurde, Ausdruck eines Machtanspruchs, nicht etwa Zusammenfassung rechtstheoretischer Einsichten. Wenn das vom Gericht gesprochene Recht stets Wahrheit ist, dann bedarf es keiner weiteren Legitimation als die Berufung auf die Anwendung von Rechtsnormen. Dem Bürger bleibt nur das Gehorchen. Dass aber die Gleichung von Recht und Wahrheit zur hohlen Formel werden kann, ist in demselben Gebäude augenfällig geworden, als in ihm während der Nazi-Diktatur eilfertige und willfährige Richter mit dazu beitrugen, Recht im Namen des Unrechtstaats zu Recht und Justiz. Eine Herausforderung des Gewährleistungsstaats, 2001; ders., „Mehr Selbständigkeit für die Dritte Gewalt?“, DRiZ 2003, S. 284 ff. 7 Es handelt sich um eine aus Anlass dieses Festschriftenbeitrags erheblich erweiterte Fassung des Einleitungs-Kurzreferats, das ich auf dem 66. Deutschen Juristentag in Stuttgart (2006) in der Abteilung Justiz („Gute Rechtsprechung – Ressourcengarantie und Leistungsverpflichtung“) gehalten habe. 8 Vgl. dazu Haverkate, Gewissheitsverluste im juristischen Denken: Zur politischen Funktion der juristischen Methode, 1987; Gröschner, Dialogik und Jurisprudenz: Die Philosophie des Dialogs als Philosophie der Rechtspraxis, 1982; Alexy, Theorie der juristischen Argumentation: Die Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begründung, 3. Aufl. 1996; Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz: Über die Philosophie des Charles Sanders Pierce und über das Verhältnis von Logik, Wertung und Kreativität im Recht, 1999. 9 Dazu vgl. u. im Text III., VII. und VIII.

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sprechen.10 Parallel zu solchen historischen Erfahrungen sind aber in jüngerer Zeit auch die theoretischen Einsichten über Recht – etwa die der Sprachund Rechtstheorie, aber auch der Kognitionsforschung11 – ausgebaut worden. Heute kann nur der Ignorant – oder der Zyniker – unbeschwert mit Recht und Wahrheit als wechselseitig austauschbaren Polen einer Gleichung spielen. Das Verhältnis beider ist viel komplizierter. Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners – so heißt ein Buch über Gespräche mit dem Physiker und Kybernetiker Heinz von Foerster.12 So weit werden selbst Juristen mit Vorlieben für Pointen vermutlich nicht gehen. Aber dass Recht und Rechtsanwendung nicht mehr an der Idee der „einzig richtigen“ und in diesem Sinne „absolut wahren“ Entscheidung ausgerichtet sein können, ist heute weitgehend akzeptiert.13 Normen muss im Wege der Auslegung und Konkretisierung ein Sinn gegeben und bei der Rechtsanwendung muss der Sachverhalt aufbereitet und dieser muss auf die Norm bezogen werden. Die Entscheidungsfindung läuft dabei als (manchmal sogar relativ kreativer) Prozess der Auswahl zwischen verschiedenen Entscheidungsalternativen ab und es gibt keine methodologische Garantie für die Entwicklung nur einer einzigen als richtig nachweisbaren Entscheidung.14 Auch die juristische Methodenlehre bietet diese Garantie nicht. Sie enthält weitgehend15 nur Regeln über die argumentative Darstellung des gefundenen Ergebnisses als lege artis und engt damit den Korridor möglicher „richtiger“ Ergebnisse ein, ausnahmsweise auch so, dass nur ein einziges Ergebnis als richtig darstellbar ist. Vielfach bleibt aber nur der Weg, die letztver10 Dazu s. Bästlein (Red.), „Für Führer, Volk und Vaterland“ – Hamburger Justiz im Nationalsozialismus, 1992; Grabitz, Justiz in der Freien und Hansestadt Hamburg 1933–1945, 1993. 11 Scherzberg, Beweiserhebung als Kognition. Erkenntnistheoretische und methodologische Überlegungen zur Freiheit der Beweiswürdigung, ZZP 117 (2004), S. 163, 174 f. m. w. Hinw.; Fromm, Judiz und Rechtsfindung, DRiZ 1996, S. 484, 488 f. 12 von Foerster/Pörksen, Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners, Gespräche für Skeptiker. Bernhard Pörksen im Gespräch mit Heinz von Foerster, 2001. 13 Zur relativen Richtigkeit siehe Neumann, Juristische Methodenlehre und Theorie der juristischen Argumentation, in: Rechtstheorie Bd. 32 (2001), S. 255 ff.; Pawlowski, Einführung in die juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2000, 2. Teil, S. 53 ff.; s. aber auch Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 61, die davon ausgehen, dass „im Rahmen eines, wenn auch nur in Umrissen gegebenen Systems von Wertungsmaßstäben Aussagen über den Inhalt, Reichweite und Bedeutsamkeit“ mit dem Anspruch auf „‚Richtigkeit‘ innerhalb dieses Systems“ gemacht werden können, die aber auch (etwa S. 55, 114 ff.) einen dezisionistischen Anteil der Rechtsanwendung anerkennen. 14 So die Formulierungen von Scherzberg, Beweiserhebung als Kognition (Fn. 11), S. 163, 170 m. w. Hinw. 15 Es gibt allerdings auch darüber hinausgehende Ansätze, s. z. B. Schwintowski, Juristische Methodenlehre, 2005.

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bindliche Entscheidung wegen der Letztverbindlichkeit als einzig richtige zu definieren oder besser: zu fingieren. Dem Prozess der Darstellung ist jedoch der der Herstellung einer Entscheidung vorgeordnet.16 Im Herstellungsprozess entscheidet sich, was als Tatsachengrundlage der Entscheidung gelten soll, auf welche Weise die einen Konflikt prägenden Interessen berücksichtigt werden, welche Folgen der Entscheidung in den Blick genommen werden und vor allem, wie der meist vorhandene Optionenraum genutzt wird, das heißt, was letztlich zur Wahl einer einzigen Option als verbindlich und ihrer anschließenden Darstellung als „dem Recht gemäß“ führt. Im Ablauf des Entscheidungsprozesses wird normativ erhebliche Wirklichkeit jeweils neu hergestellt. Vorgaben wie die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege oder das Postulat richterlicher Unabhängigkeit sind besonders wichtig für diese Herstellungsebene. In der eingangs erwähnten Perversion des Rechts im Nationalsozialismus war die Unabhängigkeit auch insoweit abgeschafft – mit fatalen Folgen für die Funktionsfähigkeit der Rechtsordnung. III. Heute gängig ist die Formel, Gesetzesbindung und richterliche Unabhängigkeit bedingten sich gegenseitig.17 Oder anders und in der Sprache des Art. 97 GG formuliert: Richterliche Unabhängigkeit soll sichern, dass die Richter nur dem Gesetz unterworfen sind. Die Unabhängigkeitsgarantie soll gewährleisten, dass die spruchrichterliche Entscheidungsbildung von Interventionen Dritter – z. B. des Königs oder eines Justizministers oder des Vorstandsvorsitzenden einer Bank oder auch des Gerichtspräsidenten – frei gehalten wird, seien diese Interventionen direkt – etwa Weisungen – oder mittelbar – etwa versprochene Karrierevorteile. So verstanden ist richterliche Unabhängigkeit das Verbot fremd bestimmter Rechtsanwendung, insbesondere das der fremd verursachten Rechtsbeugung. Ein Blick auf die aktuellen Auseinandersetzungen in den Gerichten aber zeigt, dass sich der Gehalt des Gebots der Unabhängigkeit von einer solchen Rechtfertigung längst gelöst hat. Wie anders könnte sonst – wie es gelegentlich geschieht – die richterliche Unabhängigkeit in Stellung gebracht werden gegen Qualitätssicherungssysteme als solche, gegen veränderte Formen der Haushaltsbewirtschaftung oder gegen Dienstzeitenregeln?18 16

Die Unterscheidung von Herstellung und Darstellung hat Luhmann populär gemacht, s. Luhmann Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung, 2. unveränderte Aufl. 1997, S. 51 f. und 66 f. 17 Zu ihr s. etwa Classen, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 5. Aufl. 2005, Rn. 6 mit Fn. 26 zu Art. 97; ferner Tschentscher, Demokratische Legitimation (Fn. 1), S. 148 ff.

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In der Tat steht im Zentrum der Unabhängigkeitsgarantie heute nicht mehr die Abwehr von konkreten Interventionen von Machtträgern in die spruchrichterliche Arbeit. Sie zu unterlassen hat schon Friedrich der Große gelobt, auch wenn ihm die Einhaltung des Versprechens schwer fiel.19 In modernen Demokratien kommen solche Interventionen praktisch nicht vor und wenn, dann gibt es effektive Möglichkeiten der Gegenwehr, etwa durch öffentliche Skandalisierung. Heute wird das Unabhängigkeitspostulat weiter verstanden, nämlich auch als Verbot subtiler Einwirkungen, die sich als Fremdbestimmung von Entscheidungsinhalten auswirken, auch wenn diese nur mittelbar geschieht, sich aber auf die Ausfüllung von Spielräumen spruchrichterlichen Verhaltens auswirkt.20 Im Laufe der Zeit ist die Unabhängigkeitsforderung auch gegen die Richter selbst gewandt worden, etwa gegen ihre eigene Voreingenommenheit als Gebot persönlicher (innerer) Unparteilichkeit.21 Damit aber führt sie scheinbar in ein Paradox: Denn ohne Vorverständnisse ist richterliche Entscheidung nicht möglich.22 In Gestalt des Judizes – manche nennen es auch Rechtsgefühl23, andere sprechen von Intuition24 – hat die Vorerfahrung für Juristen auch einen positiven Klang. Kognitionspsychologen betonen sogar die Emotion als unabdingbare Voraussetzung für menschliche und damit auch richterliche Entscheidungsfähigkeit.25 Das verweist auf die Erheblichkeit „weicher“ Entscheidungsfaktoren. Die Subjektabhängigkeit von Erkenntnis und Entscheidung ist zu respektieren, kann aber nicht Rechtfertigung dafür sein, dass richterliches Handeln 18

Zu verweisen ist auf die Reformdiskussion etwa der vergangenen 15 Jahre (s. o. Fn. 5). Besonders eindrücklich als Beispiel einer Vorgehensweise grundsätzlicher Abwehr von Veränderungen: Bertram/Daum/Graf v. Schlieffen/Wagner, Das Neue Steuerungsmodell im Verwaltungsgericht Hamburg – Möglichkeiten und grenzen, Manuskript September 1998. 19 Dies illustriert die Geschichte vom Müller von Sanssouci s. Heinrich, Geschichte Preußens: Staat und Dynastie, 1981, S. 232 f.; Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 5. Aufl. 2005, Rn. 131 ff. 20 Vgl. statt vieler Schilken, Die Sicherung der Unabhängigkeit der Dritten Gewalt, JZ 2006, S. 860, 863. 21 Vgl. dazu Heyde, Rechtsprechung, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, S. 1579, 1617 f.; Kissel, Gerichtsverfassungsgesetz, Kommentar, 4. Aufl. 2005, Rn. 1 ff. zu § 1 m. w. Hinw. 22 Siehe dazu schon Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung: Rationalitätsgrundlagen richterlicher Entscheidungspraxis, 1970, S. 147. 23 Zum Rechtsgefühl s. Meier, Zur Diskussion über das Rechtsgefühl, 1986; Hartwieg/Hesse, Die Entscheidung im Zivilprozess, 1981, S. 25 ff. Zum Judiz vgl. etwa Joachim, Judiz – Brauchen Juristen Rechts(Gefühl)?, ZvglRWiss 1993, S. 343 ff.; Fromm, Judiz (Fn. 11), S. 484 ff. 24 Siehe Meier, Rechtsgefühl (Fn. 23), S. 116. 25 Vgl. Goleman, Emotionale Intelligenz, 1996, S. 53 ff.

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als persönliche Selbstverwirklichung verstanden wird.26 Auch dort, wo das geschriebene Recht Entscheidungsspielräume belässt – und das ist häufiger und intensiver der Fall als immer noch die meisten Lehrbücher und rechtswissenschaftlichen Aufsätze unterstellen –, kann dies in einem Rechtsstaat nicht als Ermächtigung zu individuellem Belieben verstanden werden. An den Richter ist vielmehr die normative Erwartung gerichtet, die Subjektabhängigkeit seines Handelns auf seine spezielle Rolle als Treuhänder des Rechts, als neutraler Walter des Verfahrens und als fairer Entscheider eines Konflikts auszurichten. Unabhängigkeit ist kein Selbstzweck, sondern ein funktionales Privileg,27 das auch in die Legitimationsstrukturen einer Gesellschaft geordnet ist.28 Diese Einsicht erlaubt eine Antwort auf die Frage, was es bedeutet, dass Art. 97 Abs. 1 GG zunächst die richterliche Unabhängigkeit postuliert und dann hinzufügt, der Richter sei nur dem Gesetz unterworfen. Die Gesetzesunterwerfung ist in einem Rechtsstaat unabdingbar, reicht aber nur soweit, wie die Gesetze bindungsfähige Programme enthalten. Soweit dies – wie regelhaft – nur begrenzt der Fall ist, gibt das Gesetz selbst keine Orientierung für den Umgang mit den verbleibenden Spielräumen. Orientierungen folgen aus dem Unabhängigkeitspostulat insoweit, als es in negativer Hinsicht inhaltliche Fremdinterventionen ausschließt.29 Darüber hinaus bedeutet richterliche Unabhängigkeit – wie eben ausgeführt – nicht eine Ermächtigung oder gar Garantie, die Spielräume nach individuellem Belieben zu füllen. Sonst bestände das Risiko, dass solche staatlichen Organe, die die Garantie effektiven Rechtsschutzes umzusetzen haben, ihre Pflichten nicht erfüllen könnten: Die objektiv-rechtlichen Pflichten von Gesetzgeber, Exekutive und Gerichtsbarkeit zur Sicherung effektiven Rechtschutzes wären nicht einlösbar, wenn es allein am individuellen Richter läge, ob und wie er seine Aufgabe im Spielraumbereich richterlichen Handelns ausfüllt. Bestätigt wird diese Sicht dadurch, dass die Unabhängigkeitsgarantie weder ein Grundrecht noch ein grundrechtsgleiches Recht einräumt,30 sondern als objektiv-rechtliche Vorgabe formuliert ist.31 26 Dagegen etwa Classen, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG (Fn. 17), Rn. 7 mit Nachw. in Fn. 25. 27 Siehe auch Wassermann, AK-GG, 3. Aufl. 2001, Bd. 3 Rn. 17 zu Art. 97; Voss, Kostencontrolling und richterliche Unabhängigkeit oder Neues Steuerungsmodell contra unabhängige Rechtsprechung?, DRiZ 1998, S. 379, 380; Berlit, Modernisierung der Justiz, richterliche Unabhängigkeit und RichterInnenbild, KJ 1999, S. 58, 60; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz Kommentar, 8. Aufl. 2006, Rn. 1 zu Art. 97. 28 Allgemein dazu Voßkuhle/Sydow, Die demokratische Legitimation des Richters, JZ 2002, S. 673 ff. 29 Zu diesem Verständnis s. statt vieler Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. 3, 2000, Rn. 14, 15, 19, 25 und passim zu Art. 97.

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Wenn der Richter als Organ der Rechtspflege handeln soll, heißt dies zugleich, dass er rückgebunden an die Strukturen entscheiden soll, in die gerichtliches Handeln eingebunden ist. Institutionelle Strukturen bestehen in der formellen und informellen Gerichtsorganisation und den formellen und informellen Gerichtsverfahren. Allgemeine, wenn auch nicht verbindliche, Vorgaben finden sich auch in der „Welt der Präjudizien“, nämlich in anderen Gerichtsentscheidungen als Orientierungshilfen.32 Hinzu treten als Rahmenbedingungen die bereitgestellten personellen und sachlichen Ressourcen, aber auch Vorgaben für die Qualifikation und Rekrutierung sowie Weiterqualifikation von Richtern. Maßgebend werden auch professionelle, möglichst berufsethisch fundierte Orientierungen des richterlichen Personals und entsprechende Entscheidungskulturen. Auch dies sind „weiche“ Entscheidungsfaktoren. Zu erwähnen sind ferner Maßnahmen formeller und informeller Kontrolle33 – etwa die Möglichkeiten des Rechtsmittels, der kollegialen Kritik, aber auch öffentlicher Kontrolle.34 Derartige Strukturen schaffen Grenzen und geben Orientierungen. Sie treten zur Maßgeblichkeit des gesetzlichen – also des geschriebenen – Programms hinzu. Die Steuerungskraft solcher Strukturvorgaben bietet eine Erklärung dafür, dass die tägliche Entscheidungspraxis der vielen Gerichte ungeachtet der erheblichen rechtlichen Spielräume durch eine erstaunliche Homogenität der Vorgehensweisen und Ergebnisse gekennzeichnet ist. Die Strukturen sind maßgebende Garanten für die Vermeidung individueller Willkür und für die grundsätzliche Akzeptanz der getroffenen Entscheidungen, und zwar eine weitgehende Akzeptanz auch bei den Parteien des Prozesses, selbst wenn sie mit dem konkreten Ergebnis nicht zufrieden sind.

30 Siehe statt vieler Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG (Fn. 29), Rn. 16. Die Einräumung einer Klagemöglichkeit in § 26 Abs. 3 DRiG ändert daran nichts. 31 Vgl. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG (Fn. 29), Rn. 17. 32 Präjudizien gewinnen infolge der durch JURIS und andere Datenbanken leichten Zugänglichkeit eine zunehmend größere Orientierungskraft. 33 Disziplinierend und rationalisierend – aber eben nicht allein determinierend – wirken dabei auch die Anforderungen an die Notwendigkeit der Darstellung der Richtigkeit des Entscheidungsergebnisses, gewissermaßen der Zwang zur methodisch angeleiteten Eigenkontrolle der Entscheidungsfindung – vgl. Scherzberg, Beweiserhebung als Kognition (Fn. 11), S. 171 –, die zugleich Fremdkontrolle ermöglicht. 34 Zu der Maßgeblichkeit der Kontrolle durch die Öffentlichkeit s. Wittreck, Verwaltung der Dritten Gewalt (Fn. 5), S. 163 ff.; von Coelln, Zur Medienöffentlichkeit der dritten Gewalt, 2005. Siehe auch Gostomcyk, Die Öffentlichkeitsverantwortung der Gerichte in der Mediengesellschaft, 2006.

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IV. Die Verfassungsmäßigkeit der Strukturen richtet sich nicht danach, ob die Betroffenen die Rahmensetzungen als erwünscht oder unerwünscht ansehen, sondern danach, ob sie grundsätzlich geeignet sind, die Funktionsfähigkeit der Justiz zu sichern, d. h. auch, ob sie den verschiedenen von justitiellem Handeln betroffenen Interessen gerecht werden, vorrangig also denen der Rechtsuchenden. Strukturen sind häufig ambivalent in ihren Wirkungen und können insbesondere auch zu unerwünschten Nebenwirkungen führen. Die gegebenenfalls leistungssteigernde Karriereorientierung kann z. B. opportunistisches Anpassungsverhalten stimulieren. Das lässt sich nicht völlig ausschließen, aber vielfach durch andere Strukturvorgaben konterkarieren. Einzukalkulieren ist auch der für alles Handeln geltende Vorbehalt des Möglichen, so des praktisch Leistbaren, aber auch des finanziell Machbaren. Das Parlament als Gesetzgeber benennt den Maßstab für Gerechtigkeit durch Recht; als Haushaltsgeber aber ist es auch verantwortlich für die Gerechtigkeit durch Verteilung von Ressourcen auf verschiedenen Aufgabenträger. Die für eine bestimmte Aufgabe verfügbaren Ressourcen sind das Produkt eines Verteilungskampfes, in dem das Interesse an einer funktionsfähigen Justiz – die nicht nur essentiell für den Rechtsstaat ist, sondern z. B. auch als wichtiger Standortfaktor bewertet wird35 – mit Interessen anderer Träger von Gemeinwohlaufgaben konkurriert. Die Qualität richterlicher Arbeit bemisst sich nicht nur danach, was Richter selbst als Qualität definieren. Wichtig ist auch, ob ein gutes Ergebnis mit dem geringstmöglichen Verbrauch von Ressourcen erzielt wird, weil dies dazu beiträgt, dass andere Gemeinwohlaufgaben ebenfalls angemessen erfüllt werden können. Nicht zufällig sind viele in Staat und Gesellschaft ausgetragenen Konflikte Ressourcenkonflikte. Angesichts konkurrierender anderer wichtiger Gemeinwohlziele und entsprechender konkurrierender Ressourcenbegehrlichkeiten können die Gerichte von den über die verfügbaren Infrastrukturen entscheidenden Gewalten – Legislative und Exekutive – nur Optimierungen verlangen, also Bemühungen um die Herstellung praktischer Konkordanz im Ausgleich unterschiedlicher Interessen. Dabei fällt dem Parlament als Gesetzgeber und als Haushaltsgeber die grundsätzliche Verteilungsentscheidung zu: Wenn das Parlament als Haushaltsgeber die bereitgestellten Ressourcen so begrenzt, dass die Gerichte selbst bei größtmöglicher Bemühung um Effizienz sich zwar an das Gesetz halten, aber nicht durch die volle Aktivierung der „weichen“ Bestimmungsfaktoren richterlichen Verhaltens das leisten können, was sie 35 Siehe dazu Schuppert, Staatliche Ressourcenverantwortung für eine funktionsfähige Justiz, DRiZ 2006, 82 ff.

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persönlich als Optimum der Rechtsverwirklichung ansehen, liegt dem eine demokratisch legitimierte Entscheidung des Parlaments zugrunde, die grundsätzlich zu respektieren ist.36 Die Grenze des Verfassungsmäßigen ist erst überschritten, wenn dadurch verfassungsrechtliche Garantien oder Schutzpflichten verletzt werden, etwa die Funktionsfähigkeit der Justiz – deren Anforderungen aber selbst der Konkretisierung bedürfen. Die normativen Vorgaben sind regelhaft auch unterschiedlicher Auslegung zugänglich. V. In dem gewaltengegliederten Rechtsstaat des Grundgesetzes ist keine der drei Staatsgewalten autark, jede ist mit der anderen verknüpft und damit abhängig. Kennzeichnend ist ein System von Zuordnungs- und Verkehrsregeln, das Vernetzungen kennt und die Eigenständigkeit sowie die wechselseitige Abhängigkeit mit dem Ziel ausbalanciert, dass die je unterschiedlichen Aufgaben funktionsspezifisch optimal erfüllt werden können.37 Auch die Infrastrukturen gerichtlicher Arbeit werden nicht oder nur zu einem geringen Teil durch die Gerichte selbst festgelegt. Es wäre auch nicht rechtsstaats- und demokratieverträglich, den Gerichten allein die Verantwortung für Strukturen anzuvertrauen, die ihrerseits die Garantie dafür schaffen sollen, dass Richter nicht im eigenen Interesse, sondern als Treuhänder der Rechtsordnung handeln. Die Gerichtsbarkeit darf nicht – wie Lamprecht es in anderem Kontext formuliert hat – zur autistischen Gewalt werden.38 Die Gerichte müssen ihre Einbindung in die Verantwortungsstrukturen moderner Demokratien akzeptieren und tun dies auch. Gegen die Einbindung in fremd verantwortete Infrastrukturen kann die verfassungsgarantierte Unabhängigkeit der Richter nicht in Stellung gebracht werden. Es mag rechtspolitisch klug sein, auch für diese Fragen die gerichtliche Selbstverwaltung auszubauen und als Mittel zur Sicherung der Funktionsfähigkeit zu nutzen – ich bin sehr dafür und habe dies vielfach öffentlich dokumentiert39 –; eine Folgerung aus dem Verfassungsprinzip 36 Vgl. auch Schulze-Fielitz/Schütz, in: dies. (Hrsg.), Justiz und Justizverwaltung zwischen Ökonomisierungsdruck und Unabhängigkeit, Die Verwaltung, Beiheft 5, 2002, S. 9, 19; Schäfer, Kein Geld für die Justiz – was ist uns der Rechtsfrieden wert?, DRiZ 1995, S. 461, 463 f.; Wittreck, Verwaltung der Dritten Gewalt (Fn. 5), S. 467. 37 Ob und wie weit die aktuelle Zuordnung der Gewalten im Hinblick auf die Gerichtsbarkeit gelungen ist, hat der 64. Deutsche Juristentag im Jahre 2002 unter dem Thema „Mehr Selbständigkeit für die Dritte Gewalt?“ diskutiert. Siehe dort auch mein Referat „Mehr Selbständigkeit für die Dritte Gewalt?“, Bd. II/1, S. Q 11 ff., Vortrag auf dem 64. DJT 2002 Berlin; Kurzfassung, in: DRiZ 2003, S. 284 ff. 38 Lamprecht, Die autistische Gewalt, Betrifft Justiz 2004, 372 ff. sowie DRiZ 1992, 237 ff.

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richterlicher Unabhängigkeit aber ist dies nicht. Das Gebot richterlicher Unabhängigkeit ist beispielsweise nicht der passende Maßstab, wenn befürchtet wird, die Qualität spruchrichterlicher Arbeit sei durch Ressourcenknappheit, durch Ökonomisierung, durch Qualitätsmessung oder Benchmarking sowie durch Automatisierung gefährdet. Beurteilungsmaßstab für die Rechtmäßigkeit solcher Rahmenbedingungen ist allein das Gebot, die Funktionsfähigkeit der Justiz zu sichern. Legislative und Exekutive sind berechtigt und auch dafür verantwortlich, im Rahmen ihrer Entscheidungskompetenzen auf die das richterliche Handeln prägenden Strukturen einzuwirken und sie gegebenenfalls zu verändern. Reformen wie die Einführung des Neuen Steuerungsmodells, die Veränderung des Rechtsmittelrechts oder die Zusammenlegung von Gerichtsbarkeiten40 oder von Gerichtsbezirken41 oder die Abschaffung einzelner Gerichte42 brechen sich nicht am Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit. Das heißt nicht, dass die jeweiligen Einzelausgestaltungen nicht auf verfassungsrechtliche Grenzen stoßen können: Beispielsweise kann dem Art. 97 GG, der Norm über die grundsätzliche Nichtversetzbarkeit der Richter, eine – allerdings änderbare – Grenze für Reformen ebenso entnommen werden wie Art. 19 Abs. 4 GG, der Garantie der Effektivität des Rechtsschutzes. Solche Normen, insbesondere das Gebot der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Gerichte, programmieren die Art der im Diskurs über mögliche Reformen „zugelassenen“ Argumente weit besser als das Prinzip der Unabhängigkeit. Auf keinen Fall kann das Unabhängigkeitsprinzip zur Abwehr aller möglichen Veränderungen genutzt werden, etwa weil sie lästig sind – wie etwa Anforderungen an die persönliche Erreichbarkeit – oder der persönlich optimalen Arbeitsweise zuwider wirken – wie Anforderungen an Zeit und Ort der Arbeitserledigung.43 Es greift nicht einmal, wenn sie ökonomisch sinnwidrig sind – wie Fehlentscheidungen bei der Realisierung des an sich sinnvollen Neuen Steuerungsmodells.44 39

Siehe etwa mein Buch „Modernisierung von Recht und Justiz“, 2001 sowie „Gewaltenteilung – mehr Eigenverantwortung für die Justiz?“, Vortrag auf dem Deutscher Richtertag 1999, Karlsruhe, abgedruckt in: DRiZ 2000, S. 18 ff. Kritisch demgegenüber Wittreck, Verwaltung der Dritten Gewalt (Fn. 5). 40 Dazu vgl. Huber/Storr, Gerichtsorganisation und richterliche Unabhängigkeit in Zeiten des Umbruchs, Zeitschrift für Gesetzgebung 2006, S. 105, 106. 41 Dazu s. jüngst BVerfG, Beschluss vom 14. Juli 2006 – 2 BvR 1058/05. 42 Dazu vgl. Huber/Storr, Gerichtsorganisation (Fn. 40), S. 112 ff. 43 Im Ergebnis abzulehnen und in der Begründung schwer nachvollziehbar BGHZ 113, 36, 40 f.; BVerwGE 78, 211, 213 f.; BVerfG, NVwZ 2006, S. 1074, 1075. Zur Kritik in der Literatur s. statt vieler Schilken, Sicherung der Unabhängigkeit (Fn. 20), JZ 2006, S. 866 f. m. w. Hinw. in Fn. 86. 44 Keine solche Fehlentwicklung ist aber die Nutzung des Neuen Steuerungsmodells als solches, wenn es auf gerichtsspezifische Besonderheiten eingerichtet

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VI. Die Berufung auf ein Prinzip wie das der richterlichen Unabhängigkeit darf insbesondere nicht zu seiner Denaturierung als Allzweckwaffe zur Verhinderung von Strukturveränderungen führen. Dies wäre auch noch aus einem weiteren Grunde prekär: Über die richtige Anwendung eines Verfassungsgrundsatzes entscheiden letztlich die Gerichte selbst. Jedes deutsche Gericht ist zugleich Verfassungsgericht, wenn auch nicht stets ein über Verfassungsrecht letztverbindlich entscheidendes. Fragen der eigenen Rahmenbedingungen richterlichen Handelns oder Grundsatzfragen der Strukturschaffung und der Strukturreform als Verfassungsrechtsfragen zu definieren, heißt damit zugleich, in eigener Sache entscheiden zu müssen45; letztlich entscheiden dann diejenigen oder doch bestimmte Funktionsträger unter ihnen, die das Ergebnis unmittelbar angeht. Richter sind im Kampf um und häufig im Kampf gegen Veränderungen der Rahmenbedingungen ihres Handelns Interessenvertreter, auch wenn sie im Einzelfall gute gemeinwohlbezogene Argumente für sich haben – so wie Lehrer oder Ärzte, wenn diese im Namen einer guten Ausbildung oder einer hochwertigen Gesundheitsversorgung für die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen werben. Lehrer und Ärzte dürfen (ebenso wie Richter) selbständig definieren, welche Bedingungen sie für ein funktionsfähiges Schuloder Gesundheitswesen und damit für gute Arbeit benötigen; sie haben aber nicht die Rechtsmacht zu entscheiden, welche dieser Bedingungen verfassungsrechtlich geboten sind. Soweit Richter gegen die zum Teil unerträglichen Sparauflagen, für angemessene Arbeitsbedingungen, für hinreichende personelle und sachliche Ressourcen, oder gegen eine zu starke Ökonomisierung46 kämpfen, fällt es meist ebenfalls nicht schwer, gute – gemeinwohlorientierte – Argumente ins Feld zu führen. Diese sollten in politischen Auseinandersetzungen auch vorgebracht werden, und zwar möglichst als empirisch fundierte und differenzierend ausgearbeitete. Die Richter sollten sich aber vor möglichen Einwänden gegen ihre eigene Sichtweise nicht dadurch immunisieren, dass sie die auf ihre eigenen Arbeitsbedingungen bezogenen Argumente unter Berufung auf ein so häufig argumentativ missbrauchtes Prinzip wie das der richterlichen Unabhängigkeit verfassungsrechtlich überhöhen. Ihre Argumente wird. Dazu vgl. etwa die Beiträge in Hoffmann-Riem (Hrsg.), Reform der Gerichtsverwaltung, 1998. Zum Diskussionsstand s. die Hinweise in Schütz, Der ökonomisierte Richter. Gewaltenteilung und richterliche Unabhängigkeit als Grenzen Neuer Steuerungsmodelle in den Gerichten, 2005. 45 Zu einer solchen Problematik s. Schulze-Fielitz, Dreier, GG (Fn. 29), Rn. 33 zu Art. 97 m. w. Hinw. in Fn. 142. 46 Dazu s. Schütz, Der ökonomisierte Richter (Fn. 44) m. w. Hinw.

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sollten in der Sache so gut sein, dass sie auch ohne ein solches Argumentationsdoping überzeugen. VII. Die Qualität der Justiz bemisst sich an den Ergebnissen ihrer Tätigkeit, aber auch an dem dafür gewählten Weg. Diese Qualität entscheidet sich in erster Linie auf der Ebene der Herstellung von Entscheidungen. Andere Wissenschaften als die Rechtswissenschaft wenden ihre Aufmerksamkeit gegenwärtig verstärkt dem Modus, dem „Wie“ des Entscheidens zu, auch deshalb, weil das „Wie“ das „Was“ beeinflusst. Prototyp solcher Betrachtungsweisen ist die so genannte Governance-Forschung.47 In ihren Blick geraten die Rahmenbedingungen, die Handlungs und Verkehrsformen sowie die vielfältigen Abhängigkeiten verschiedener Lösungsoptionen von anderen, bedingt durch die große Komplexität vieler der zu bewältigenden Probleme und das hohe Maß an Ungewissheit hinsichtlich der diagnostischen und prognostischen Erfassung von Realität. Die Governance-Perspektive zielt auf die Erfassung der vielen Facetten eines Problems und identifiziert die darauf bezogenen – häufig komplexen – Regelungsstrukturen. Einbezogen wird das Zusammenspiel von rechtsnormativen Programmen, verfügbaren Organisationen, maßgebenden Verfahren und insbesondere entscheidungsbezogenen „Spielregeln“ und Handlungsanreizen. Derartige Faktoren sind zur Determinierung richterlichen Verhaltens rechtsstaatlich und demokratisch besser legitimiert als die individuellen Vorlieben des je individuellen Richters. Anders formuliert: Gesetzesbindung bedeutet neben der Beachtung des gesetzlichen Entscheidungsprogramms selbst auch die Anerkennung der rechtlich legitimierten Strukturen, in die richterliches Handeln eingebunden ist. VIII. Die – in vielen Bereichen überbordende – Verrechtlichung praktisch aller Lebensfelder hat die Tauglichkeit der Rechtsnormen zur Determinierung 47 Dazu s. etwa Pierre/Peters, Governance, Politics and the State, 2000; Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung. Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien, 2005; Magiera/Sommermann (Hrsg.), Verwaltung und Governance im Mehrebenensystem der Europäischen Union, Vorträge und Diskussionsbeiträge auf dem 2. Speyerer Europa-Forum vom 26. bis 28. März 2001 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, 2002; Ruffert, Die Globalisierung als Herausforderung an das Öffentliche Recht, 2004; Mayntz, Governance-Theorie – als fortentwickelte Steuerungstheorie, in: Schuppert, Governance-Forschung (Fn. 47), S. 11 ff.; Trute/Denkhaus/Kühlers, Governance in der Verwaltungsrechtswissenschaft, Die Verwaltung, Bd. 37 (2004), S. 451 ff.

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des Rechtsanwendungsverhaltens keineswegs erhöht. Insbesondere kleinteilige Regelungsverästelungen, in ihrer Rationalität schwer nachvollziehbare Sonderregelungen und Unübersichtlichkeiten schaffen neue Optionsräume, die zu denen hinzutreten, die mit der unausweichlichen Ausfüllungsbedürftigkeit gesetzlicher Begriffe und Konzepte ohnehin verbunden sind. Die Wirkkraft der nicht im gesetzlichen Entscheidungsprogramm abschließend abgebildeten – der „weichen“ – Steuerungsfaktoren nimmt daher gegenwärtig eher zu als dass sie sich verringert. Soweit die Ausdifferenzierung der Rechtsordnung mit der gewachsenen Komplexität gesellschaftlicher Probleme und der Vielfalt der Erwartungen an problemangemessene (also auch differenzierende) Lösungen sowie mit der Einbettung der nationalen Rechtsordnung in den europäischen und globalen Verbund zusammenhängt, wird sich an der Lage auf absehbare Zeit nichts Grundsätzliches ändern.48 Vom Richter werden dabei zunehmend „Qualitäten“ verlangt, die weit über die Fähigkeit zur Darstellung der Entscheidung als lege artis hinausgehen, wie Lebenserfahrung, Beweglichkeit, Aufbau von Vertrauen, die Förderung einvernehmlicher Konfliktlösungen, Entscheidungsschnelligkeit, schonender Ressourcenverbrauch, gegebenenfalls auch Empathie im Umgang mit den Beteiligten und dem sonstigen Personal des Gerichts. Hinzu tritt jedenfalls in Bereichen, in denen die Europäisierung und Globalisierung sich auf den Zuschnitt der Probleme oder auf das anwendbare Recht auswirken, das Erfordernis, sich in ungewohnte Konstellationen hineindenken zu können. „Gute Rechtsprechung“ – um einen Parallelbegriff zu dem schon eingebürgerten der „guten Verwaltung“49 zu gebrauchen – ist mehr als die Vermeidung von Rechtsfehlern bei der Streitentscheidung. Die Funktionsfähigkeit der Justiz ist so zu sichern, dass eine so verstandene „gute“ 48 Dies schließt die Bemühung um eine Verbesserung der Gesetzgebung nicht aus. Es muss allerdings berücksichtigt werden, dass viele der in öffentlichen Diskussion angegriffenen Praktiken des Gesetzgebers eine Reihe von Bestimmungsgründen haben, die nicht allein dadurch bewältigt werden, dass gefordert wird, die Normen zu entschlacken o. ä. Die Diskussionen auf dem 65. Deutschen Juristentag im Jahr 2004 haben eine Reihe von Anregungen gegeben, sind aber m. E. keineswegs hinreichend tief auf die Notwendigkeit konzeptioneller Neuorientierungen eingegangen. Erforderlich sind konzeptionelle Neuorientierungen, die im Rahmen des verfassungsrechtlich Möglichen auch dazu führen, das Verhältnis zwischen Gesetzgebung und Exekutive teilweise neu zu definieren, dies nicht zuletzt unter dem Einfluss der europäischen Zusammenführung unterschiedlicher Rechtsordnungen. Vgl. dazu meine Erwägungen zum „Gesetz und zum Gesetzesvorbehalt“, in: AöR 130 (2005), S. 5 ff. sowie zur „Eigenständigkeit der Verwaltung“, in: Hoffmann-Riem/SchmidtAßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I (Fn. 2), S. 623 ff. 49 So Art. 41 der Europäischen Grundrechtscharta sowie dazu Pfeffer, Das Recht auf eine gute Verwaltung, 2006. Vgl. auch meinen Beitrag „Gutes Recht in einer guten Gesellschaft“, in: Allmendinger (Hrsg.), Verhandlungen des 30. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, 2001, S. 87 ff.

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Rechtsprechung möglich ist. Diese Forderung hat allerdings nicht in erster Linie mit richterlicher Unabhängigkeit zu tun. Gesteigerte Bedeutung erlangen „weiche“ Steuerungsfaktoren darüber hinaus dort, wo die Problembewältigung sich vom traditionellen Bild hoheitlicher Streitentscheidung löst. Ein viel diskutierter – wenn auch noch relativ wenig praktizierter – Prototyp ist die Mediation,50 die eine Konfliktbewältigung zwar im Schatten der Möglichkeit gerichtlicher Entscheidung, aber im Lichte der breiter fundierten Hoffnung auf eine angemessene, die vielen Facetten des Problems aufgreifende Lösung anstrebt und dabei die sonst üblichen Einengungen auf den Streitgegenstand, auf die Frage nach dem Recht-Haben oder auf die in der Norm ausschließlich vorgesehenen Rechtsfolge vermeidet. Nicht Subsumtionsrichtigkeit, sondern die Tauglichkeit zur Konfliktbewältigung wird hier zum zentralen Qualitätsmaßstab – wie auch schon traditionell bei gerichtlichen Vergleichen oder Schiedsverfahren oder bei der einverständlichen Feststellung des Sachverhalts, wie sie etwa für den Verwaltungsgerichtsprozess typisch ist. IX. Die zunehmende Europäisierung schafft den Konfliktpartnern im Übrigen neue Möglichkeiten des forum shopping.51 Die Justiz befindet sich in der Rolle als Wettbewerber auf einem immer stärker ausdifferenzierten „Justizleistungsmarkt“52. Zugleich erhält das staatliche Recht Konkurrenz durch privat geschaffene Parallelordnungen,53 die zum Teil sogar eigene Konfliktlösungsinstanzen vorsehen – wie etwa Konfliktlösungsforen im Internet.54 Dieser Wettbewerb mit den Anbietern paralleler Möglichkeiten der Konfliktbewältigung wird die deutsche Justiz nicht unberührt lassen. Sie wird es 50 Dazu s. von Bargen, Mediation im Verwaltungsprozess. Eine neue Form konsensualer Konfliktlösung vor Gericht, DVBl 2004, S. 468 ff. m. w. Hinw. Zur Mediation im Verwaltungsverfahren s. Rüssel, Mediation in komplexen Verwaltungsverfahren, 2004; Stumpf, Alternative Streitbeilegung im Verwaltungsrecht, 2006. 51 Gemeint ist die Möglichkeit der Wahl zwischen unterschiedlichen Gerichten und Gerichtsständen, soweit sie in den Rechtsordnungen ermöglicht wird. 52 Vgl. Ritter, Justiz – verspätete Gewalt in der Wettbewerbsgesellschaft, NJW 2001, S. 3440 ff.; Hoffmann-Riem, Mehr Selbständigkeit für die Dritte Gewalt?, DRiZ 2003, S. 284. 53 Etwa das so genannte Weltrecht ohne Staat, vgl. dazu Teubner, Globale Bukowina, Rechtshistorisches Journal 1996, S. 255 ff.; ders., Global law without a state, 1997; Anderheiden/Huster/Kirste (Hrsg.), Globalisierung als Problem von Gerechtigkeit und Steuerungsfähigkeit des Rechts, 2001; Vollmöller, Die Globalisierung des Wirtschaftsrechts, 2001. Vgl. auch Ruffert, Die Globalisierung als Herausforderung an das öffentliche Recht, 2004. 54 Dazu vgl. Krug/Keim/Rector, Unterschiedliche Möglichkeiten der Streitbeilegung im Internet, MMR Beilage 2001, Nr. 9, S. 13 ff.

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als Herausforderung begreifen müssen, wenn Konfliktparteien einen anderen als den Weg zu den deutschen Gerichten vorziehen, und als Auszeichnung, wenn Parteien gerade wegen der Leistungsfähigkeit der deutschen Justiz in Deutschland prozessieren wollen. Auch das kommt vor. Ein Rechtsstaat muss eine leistungsfähige staatliche Justiz auch dort sichern, wo es für die Konfliktparteien Ausweichmöglichkeiten zu anderen Lösungswegen gibt. Damit aber stellt sich erneut die Frage, wie die Leistungsfähigkeit der staatlichen Justiz gesichert werden kann. X. Wenn die eingerichteten Rahmenbedingungen richterlichen Entscheidens es erschweren oder gar unmöglich machen sollten, die richterliche Aufgabe gesetzesgemäß zu erfüllen – etwa die zügige strafgerichtliche Entscheidung über die Taten eines in U-Haft sitzenden Beschuldigten55 –, ist die Pflicht zur Sicherung funktionsfähiger Strukturen verletzt, die auch mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes verkoppelt ist. Das Prinzip richterlicher Unabhängigkeit – verstanden als das Fehlen der die spruchrichterlichen Entscheidungsinhalte determinierenden Vorgaben56 – ist demgegenüber grundsätzlich nicht einschlägig. Die richterliche Unabhängigkeit wird erst berührt, wenn die Rahmenbedingungen die Inhalte des Entscheidens so determinieren, dass sie zu funktionalen Äquivalenten für finale Maßnahmen inhaltlicher Determinierung durch Dritte werden, etwa indem sie auf konkrete Inhalte richterlicher Entscheidungen ohne Ausweichmöglichkeit Einfluss gewinnen. Dies dürfte in der Praxis nur ausnahmsweise der Fall sein. Viele Maßnahmen – so auch Weisungen im Bereich der Dienstaufsicht oder dienstliche Beurteilungen57 – mögen auf die Art der Aufgabenerfüllung einwirken; sie verletzen die richterliche Unabhängigkeit aber nicht, wenn mit ihnen nicht auch zugleich konkrete spruchrichterliche Inhalte gesteuert werden. So kollidieren Anwesenheitspflichten im Gericht, die Zuteilung von Bereitschaftsdiensten oder die Erfassung richterlicher „Produkte“58 zu Zwe55 Dazu vgl. die aktuelle Kontroverse zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Bundesgerichtshof aus Anlass von Entscheidungen der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts, etwa vom 29. November 2005 (2 BvR 1737/05), vom 5. Dezember 2005 (NJW 2006, S. 672) sowie vom 29. Dezember 2005 (2 BvR 2057/05). Zu solchen Entscheidungen vgl. statt vieler Schmidt, Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen, NStZ 2006, S. 313 ff. 56 Siehe den Hinweis o. Fn. 29, ergänzt um den Hinweis auf die Rn. 29, 32. 57 Zur Frage, ob die Erprobung eines Richters beim Oberlandesgericht gegen die richterliche Unabhängigkeit verstößt, s. BVerfG, Beschluss vom 22. Juni 2006 – 2 BvR 957/05. 58 Zur Diskussion um die richterlichen Entscheidungen als Produkte s. Eifert, Das neue Steuerungsmodell – Modell für die Modernisierung der Gerichtsverwal-

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cken der Budgetierung oder generell: Leistungs-, Mitwirkungs- und Mobilitätserwartungen oder Möglichkeiten der Leistungsmessung und des Leistungsvergleichs59 mit dem Unabhängigkeitspostulat nicht,60 es sei denn, sie wirken als funktionale Äquivalente für inhaltsbezogene Vorgaben für die Rechtsfindung i. e. S., etwa indem sie ein Potential für die Sanktionierung konkreter Inhalte richterlichen Entscheidens enthalten. Anzufügen ist allerdings, dass die Grenzziehung schwer ist und dass es viele, auch subtile Möglichkeiten der Einflussnahme gibt – das übrigens auch ohne die aktuell durchgeführten oder diskutierten Reformen. M. E. liegt es im Interesse der Funktionsfähigkeit der Justiz – auch im Interesse einer hohen Motivation der Richter –, das spruchrichterliche Verhalten weiträumig gegen Einflussnahmen abzusperren. Es ist im Übrigen eine Regel organisatorischer Klugheit, das den Richtern typische Autonomiestreben zu unterstützen und ihnen soviel Raum zur individuellen Arbeitsgestaltung zu belassen wie irgend möglich. So würde ich nicht Anwesenheit im Gericht verlangen, soweit Erreichbarkeit61 genügt – wobei dies zu beurteilen nicht allein dem jeweiligen Richter anvertraut ist. Die Messlatte richterlicher Unabhängigkeit passt für solche Vorgaben aber in keinerlei Hinsicht. XI. Ungeachtet der Strukturverantwortung von Legislative und Exekutive bleibt der Judikative Spielraum zur eigen bestimmten (autonomen) Gestaltung der Rahmenbedingungen richterlichen Handelns. In den letzten Jahrzehnten ist in Gerichten viel geschehen, das die Eigenverantwortung stärkt oder stärken kann. Ich erspare mir die Bestandsaufnahme.62 Viele Richter tung?, Die Verwaltung, Bd. 30 (1997), S. 75; Piorreck, Die Rechtsprechung ist eine Staatsgewalt und kein Produkt der Justizverwaltung, Betrifft Justiz 2003, S. 64 ff.; Wittreck, Verwaltung der Dritten Gewalt (Fn. 5), S. 475 mit Hinw. in Fn. 1279; Voßkuhle, Das „Produkt“ der Justiz, in: Schulze-Fielitz/Schütz, Justiz und Justizverwaltung (Fn. 36), S. 35 ff. 59 Zur Qualitätsdiskussion vgl. etwa von Bargen, Gute Rechtsprechung – ein Plädoyer für eine engagierte Qualitätsdiskussion in den Gerichten, NJW 2006, S. 2531. Dabei weist von Bargen zu Recht darauf hin, dass eine Qualitätsdiskussion und -kontrolle nicht auf die Ermittlung und den Vergleich von Messzahlen begrenzt werden darf. 60 Vgl. statt vieler Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG (Fn. 29), Rn. 17, 29, 32 und passim. 61 Erreichbarkeit aber genügt vielfach nicht, so nicht, soweit die Qualität gerichtlicher Arbeit von Teamarbeit oder von der Nutzung der sächlichen Infrastruktur abhängt, aber eventuell auch, soweit die persönliche Anwesenheit der Richter für die Motivation des so genannten nichtrichterlichen Personals bedeutsam ist. 62 Dazu s. Böttcher, Reform der Justizstrukturen – technokratisch-fiskalisch oder substantiell?, NK 2004, S. 28 ff. sowie die Hinw. o. Fn. 5.

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haben konstruktiv an den Veränderungen mitgearbeitet63 – andere aber haben erhebliche Veränderungsresistenz bewiesen.64 Reformen in und um die Justiz sind allem Anschein nach schwerer als in vielen anderen Bereichen. Das Scheitern der großen Justizreform65 zeigt dies erneut. Zum relativen Reformstau trägt weiterhin der verbreitete Kult des wechselseitigen Misstrauens bei, die Strategie des gegenseitigen Zuschiebens von BuhmannPositionen, begleitet durch Sinfonien des Jammerns. Die Melodie vertrauensvoller Kooperation auch mit der Exekutive oder der Schlager „Jetzt packen wir es an“ ist zwar manchmal zu hören, wird aber immer noch viel zu wenig angestimmt. Nichts spricht dafür, dass die Bereitschaft zur stetigen Überprüfung und gegebenenfalls Infragestellung gewohnter Strukturen in den Gerichten größer wäre, wenn sie darüber allein zu entscheiden hätten.66 Ohne Anstöße von außen wären vermutlich keine der in den letzten zehn Jahren auf den Weg gebrachten strukturellen Änderungen erfolgt, selbst die nicht, die zur Steigerung der Eigenständigkeit der Gerichtsverwaltung67 geführt haben – etwa zum Rückbau ministerialer Einwirkung auf das operative Tagesgeschäft der Justizverwaltung. Zwar ist es eine Hypothek dieser Reformen, dass ihr Vater meist die Finanznot war und dass an ihrer Wiege, im Kindergarten und in der Grundschule – um die ersten Stadien der bisher erst in den Anfangsjahren befindlichen gerichtsbezogenen Reformen der Justiz metaphorisch zu umschreiben – stets jemand stand, der Ressourcen kürzen wollte und kürzte. Aber auch anderswo gelingen Reformen nicht ohne gravierende Anstöße, meist Krisen. Die Gerichte sind aufgefordert, die Krisenlage bei der Ressourcenverfügbarkeit, die ja nicht nur sie trifft, so konstruktiv wie möglich zu nutzen. Bei genauem Hinsehen ergeben sich meist immer noch Spielräume für Veränderungen, die selbst dann Sinn machen würden, wenn mehr Geld verfügbar wäre. Ein Reformnutzen entfällt nicht stets schon deshalb, weil zugleich gespart werden kann. 63 Sonst wären die in fast allen Bundesländern mehr oder minder intensiv durchgeführten Reformen auch gar nicht möglich gewesen. 64 Berlit, Richterliche Unabhängigkeit und Organisation effektiven Rechtsschutzes im „ökonomisierten“ Staat, in: Schulze-Fielitz/Schütz (Hrsg.), Justiz und Justizverwaltung (Fn. 36), S. 145, spricht von Modernisierungsverhinderung und Veränderungsabwehr. 65 Zu diesem Vorhaben s. Heister-Neumann, Große Justizreform – Der Weg zu einer zukunftsfähigen Justiz, ZRP 2005, 12 ff.; Dury, Die „Große Justizreform“ beruht auf großen Irrtümern, ZRP 2005, S. 262 ff.; Bertrams, Die Erneuerung und Sicherung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, DVBl 2006, S. 997 ff. 66 Schulze-Fielitz/Schütz, Justiz und Justizverwaltung zwischen Ökonomisierungsdruck und Unabhängigkeit, in: dies., Justiz und Justizverwaltung (Fn. 36), S. 10, 18, sprechen von der „strukturellen Selbstgerechtigkeit der Richterschaft“. 67 Kritisch dazu Wittreck, Verwaltung der Dritten Gewalt (Fn. 5).

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Zu den relativ kostenneutralen Veränderungen gehört der Ausbau der Autonomie der Gerichte über den Bereich hinaus, in dem sie ohnehin verfassungsrechtlich garantiert ist, nämlich den Bereich spruchrichterlicher Erkenntnis und Optionenwahl. Weiter ausbaufähig ist die Autonomie insbesondere im Bereich der Gerichtsverwaltung. Möglich sind noch immer weitere Modernisierungen der Arbeitsabläufe. Da auch die Rahmenbedingungen des richterlichen Handelns auf den Herstellungsprozess richterlicher Entscheidung einwirken, kommt dabei nur eine Autonomie in Betracht, die zugleich die Verantwortung der Richterschaft selbst für die Funktionsfähigkeit der Justiz insgesamt sichern hilft. Die Richter selbst müssen für ihre eigenen Entscheidungen, die die Rahmenbedingungen ihrer Arbeit betreffen, aber Voraussetzungen schaffen, die es verhindern, dass Autonomie in Anomie68 umschlägt.69 Gemeint ist das Risiko einer gestörten Beziehung zwischen der Rechtfertigung eines Privilegs und den konkreten Zielen und der Art seiner Nutzung. Das Privileg der Unabhängigkeit muss sich durch ihre leistungssteigernde Kraft in der Praxis rechtfertigen, die zudem durch größere Transparenz und Vergleichbarkeit des jeweils konkret Geleisteten auch Gegenstand informierter öffentlicher Diskurse sein sollte. Ob Leistungssteigerung durch weiteren Ausbau der Autonomie im Rahmen einer Ethik professioneller, am Gemeinwohl orientierter Verantwortung in den Gerichten gelingt, bemisst sich nicht an dem Pathos der darüber geführten Diskussionen, sondern an der täglichen Praxis. Je überzeugender die Art des Umgangs der Richter mit ihrer Autonomie ist, desto näher liegt es, sie auszubauen. Insoweit haben die Gerichte eine Bringschuld. Die Politik kann und muss den Gerichten aber behilflich sein. Insofern kehrt der Beitrag zu den Eingangsbemerkungen zurück: Ich bin sicher, es wird weiterhin ein Anliegen des Jubilars sein, ihnen dabei zu helfen.

68 Dieses von Durkheim stammende Konzept der Anomie wurde von Merton, Social Theory and Social Structure, 1945, weiterentwickelt und wird auch in der modernen Soziologie angewandt, s. statt vieler Heitmeyer, Was treibt die Gesellschaft auseinander?, 1997, S. 9 ff. 69 Zu diesem Risiko s. Hoffmann-Riem, Modernisierung (Fn. 6), S. 289 ff.

Vertrag und Gesetz Verschränkungen gegensätzlicher Handlungsformen Von Fritz Ossenbühl Vertrag und Gesetz als fundamentale Elemente der Rechtsordnung sind in vielfältiger Form miteinander verknüpft und aufeinander bezogen. Dieser Befund ist auf allen Ebenen und in allen Bereichen der Rechtsordnung zu beobachten, sowohl im Völkerrecht und Europarecht wie auch im Staatsund Verfassungsrecht und im Verwaltungsrecht. Neben dem Zivilrecht, in dem der Vertrag seinen Ursprung und seine Heimat findet, gibt es vertragliche Beziehungen sogar im Strafrecht. Diese Ubiquität des Vertrages in der Rechtsordnung weckt Neugier, die sich auf die unterschiedlichen Beziehungen zwischen Vertrag und Gesetz richtet. Es liegt schon auf den ersten Blick auf der Hand, dass dieses Verhältnis so gegensätzlich sein kann wie die beiden Handlungsformen selbst. Verträge können Gesetzen erst die Grundlage geben oder deren Geltungsbereich erstrecken, also insgesamt die Gesetzgebung vorwegnehmen, verhindern, präjudizieren, unterlaufen oder verändern. Verträge können des Weiteren Gesetze inhaltlich bestimmen, so dass das Gesetz lediglich als Umsetzung eines Vertrages und der Gesetzgeber in der Rolle eines Notars erscheint. Daneben sind noch andere Versionen und Varianten denkbar und nachweisbar. Die nachfolgenden Ausführungen sollen den Querschnitt eines Problems darstellen in der Annahme, dass ein solcher Befund schon für sich die Sicht auf ein durchgehendes Phänomen unserer Rechtsordnung schärft und vielleicht sogar bisher nicht bewusste Einsichten und Erkenntnisse verdeutlicht oder befestigt.*

* Bedauerlicherweise sind mir die Veröffentlichungen von zwei Symposien von Behrends, Okko/Starck, Christian (Hrsg.), Gesetz und Vertrag I, 2004; Gesetz und Vertrag II, 2005 erst nach Korrektur der Druckfahnen zu Gesicht gekommen. Die dortigen Ausführungen gehen im Schwerpunkt der engeren Fragestellung nach dem „Vertrag als Form der Rechtsetzung“ nach. Da es sich um Neuland handelt, sind die Beurteilungen in einigen Punkten erwartungsgemäß unterschiedlich. Leider konnte darauf nicht mehr eingegangen werden.

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I. Strukturelle Unterschiede Zwischen Gesetz und Vertrag lassen sich eine Reihe grundlegender Unterschiede darstellen, z. B. hinsichtlich Geltungsgrundlage, Beteiligte, Zustandekommen, Interpretation usw. Von diesen Unterschieden interessiert für den hier beabsichtigten Befund in erster Linie das Zustandekommen von Vertrag und Gesetz sowie deren Grundlage, also das „Sich-Vertragen“ und das „Gesetzgeben“. Das Zustandekommen kennzeichnet den Vertrag als eine einverständlich getroffene Regelung.1 Einverständnis besteht, wenn alle Vertragsbeteiligten der Regelung zugestimmt haben. Der Vertrag beruht also auf einem Konsens der an der Regelung Beteiligten. Seine Grundlage ist die Autonomie der Vertragsbeteiligten. Autonomie bedeutet Selbstbestimmung des Vertragsbeteiligten, sein Recht und seine Freiheit, seine Angelegenheiten nach eigenen Vorstellungen und eigenem Willen zu regeln. Gesetze sind demgegenüber einseitige Regelungen, die durch eine Hoheitsgewalt legitimiert werden, der die Gesetzesadressaten unterworfen sind. Gesetze beruhen nicht auf Konsens, sondern auf einseitiger, durch den jeweiligen hoheitlichen Gesetzgeber geäußerter Willensbekundung, die im demokratischen Verfassungsstaat durch Mehrheitsbeschluss gebildet wird. Einseitige Anordnungen als hoheitliche Befehle einerseits und einverständliche Regelungen andererseits sind Gegensätze, die sich gegenseitig ausschließen. Vertrag und Gesetz sind nicht austauschbar. Verschränkungen und Verknüpfungen von Vertrag und Gesetz führen nicht zur Vermischung oder Auswechselbarkeit beider Handlungsformen, wohl aber zu mannigfachen Kombinationsformen, die zur gegenseitigen Stützung, aber auch zur gegenseitigen Gefährdung führen können. II. Vertragscharakter der Gesetzgebung In das gestellte Thema der Verknüpfung von Vertrag und Gesetz ist nicht auch jenes Phänomen der parlamentarischen Gesetzgebung im demokratischen Verfassungsstaat eingeschlossen, welches unter dem Schlagwort vom „Vertragscharakter der Gesetzgebung“ apostrophiert wird. Gemeint sind damit Prozesse in der politischen Realität, die allgemein bekannt und seit langem umschrieben in Erinnerung bringen, dass Gesetze im demokratischen Verfassungsstaat ihren Inhalt nicht durch „einsame“ und „einseitige“ Beschlüsse des Parlaments erhalten, sondern dass den Gesetzesberatungen im 1 Flume, Werner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Zweiter Band Das Rechtsgeschäft, 3. Auflage, 1979, S. 609.

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Parlament meist umfangreiche und komplexe Abstimmungsprozesse vorausliegen, die noch vor Einbringung des Gesetzesentwurfs stattfinden, aber auch die Gesetzesberatungen begleiten.2 Kurt Eichenberger hat diesen Befund prägnant mit den Worten umschrieben: „Das überlieferte Leitbild zersetzt sich, wonach Gesetzgebung die hoheitlich einseitige Anordnung durch eine interessendistanzierte, exklusiv gemeinwohlorientierte Autorität von wahldemokratischer Abstützung sei. In den konsensualen Aushandlungen mit sozial wirksamen Organisationen und im aufmerksamen Hinhören auf wie auch immer geäußerte Stimmen aus der Öffentlichkeit realisiert sich seit Jahrzehnten und immer stärker eine spezifische Vertrags- und eine diffuse Verhandlungsdemokratie, und zwar auch im parlamentarischen Regierungssystem. Aus ihren mühevollen informellen Konkordanzverfahren erwächst allmählich Gesetzesinhalt.“3 Bei solchen Wirklichkeitsbefunden geht es nicht um die bewusste Verknüpfung zweier gegensätzlicher Handlungsformen, die das Verfassungsrecht normativ voneinander trennt, sondern um politische Strategien erfolgreicher Gesetzgebung, die vor allem auch auf Akzeptanz und Befolgungsbereitschaft der Gesetzesadressaten achten muss. Dass dies in gewisser Weise ein Signal für die Einbuße an Legitimations- und Integrationskraft demokratisch-parlamentarischer Gesetzgebung darstellt, sei hinzugefügt.4 Nicht zu unserem Thema gehört des Weiteren die Umsetzung des politischen Inhalts von Koalitionsverträgen in parlamentsbeschlossene Gesetze. Koalitionsverträge legen legitimerweise die politische Richtung fest, in die die beabsichtigte Koalitionsregierung ihren Weg nehmen soll, Dass diese Wegweisungen unter Umständen sehr konkret sein können, ändert nichts an der mangelnden Normativität dieser Verträge. Nicht zum Thema gehören schließlich im Gesetzgebungsverfahren stattfindende Vermittlungsprozesse, insbesondere im Kontext eines Vermittlungsverfahrens zwischen Bundestag und Bundesrat. In jüngerer Zeit ist immer wieder bemerkt worden, dass bei kritischen Gesetzen der eigentliche Gesetzgebungsprozess in der camera obscura des Vermittlungsausschusses stattfinde und dort unter Ausschluss der Öffentlichkeit in einem do-ut-desAushandeln zwischen den gegensätzlichen Positionen geschehe. Der Bundesrat ist im Gesetzgebungsverfahren kein Vertragspartner des Bundestages, sondern ein eigenständiges, oftmals als „Zweite Kammer“ apostrophiertes Gesetzgebungsorgan.5 Beide Organe schließen bei Meinungsverschiedenhei2

Vgl. etwa von Beyme, Klaus, Der Gesetzgeber, 1997, S. 73 ff. Eichenberger, Kurt, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), S. 7 ff. (29). 4 Vgl. Müller, Georg, Elemente einer Rechtssetzungslehre, 2. Auflage, 2006, S. 16. 3

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ten keinen Vertrag, sondern suchen einen Kompromiss. „Vermittlung“, die zu diesem Kompromiss führen soll, ist kein Vertragsschluss, sondern Bildung eines gemeinsamen Gesetzgebungswillens.6 Bundestag und Bundesrat handeln nicht auf der Grundlage je für sich gesonderter autonomer Rechtspositionen, sondern stehen gemeinsam im Dienst der Findung und Verwirklichung des Gemeinwohls. „Vermittlung“ erfordert zwar, wenn sie erfolgreich sein will, eine Einigung, die strukturell dem Vertragsschluss ähnelt, aber es geht nicht um eine Vereinbarung, sondern um die Findung eines einheitlichen Gesetzeswillens in einem System geteilter Legislative; es fehlt also für einen Vertrag an autonomen Vertragspartnern. III. Verfassung und Vertrag Spezifische Verknüpfungen können auch zwischen Vertrag und Verfassung als dem obersten Gesetz eines Gemeinwesens bestehen. Vertrag und Gesetz sind schon an der Wiege des modernen Staates staatstheoretisch in existentieller Weise miteinander verbunden. Für die rechtstheoretische und legitimatorische Begründung des modernen Staates haben die Vertragstheorien7 lange Zeit eine fundamentale Bedeutung gehabt. Der Gesellschaftsvertrag (contract social) als (vorgestellter) Vertrag eines Jeden mit einem Jeden war jene gedankliche Figur, die aus einer vormals im Naturzustand lebenden Menge von Menschen die politische Einheit eines Volkes und damit die personelle Grundlage des modernen Staates hervorbrachte. Nach Hobbes ist mit der durch den Gesellschaftsvertrag begründeten souveränen Macht des Staates die Gesetzgebung verbunden,8 der Gesellschaftsvertrag also die Grundlage und Rechtfertigung der Gesetze. Und das Gesetz wiederum verschafft dem (bürgerlichen) Vertrag erst die rechtlichen Sanktionen in Gestalt von Bindungswirkungen und Durchsetzungskraft.9 5 Zum verfassungsrechtlichen Standort des Bundesrates: Klein, Hans H., Der Bundesrat der Bundesrepublik Deutschland – die „Zweite Kammer“?, in: derselbe, Das Parlament im Verfassungsstaat, 2006, S. 348; derselbe, Der Bundesrat im Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, ebenda S. 386 ff. = ZG 2002, S. 297 ff. 6 Hasselsweiler, Ekkehart, Der Vermittlungsausschuss, 1981, S. 35. 7 Vgl. Jellinek, Georg, Allgemeine Staatslehre, unveränderter Neudruck der 5. Auflage, 1928, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, 1959, S. 201 ff.; Del Vecchio, Giorgio, Über die verschiedenen Bedeutungen der Lehre vom Gesellschaftsvertrag, in: derselbe, Grundlagen und Grundfragen des Rechts, 1963, S. 266 ff.; Koller, Neue Theorien des Sozialkontrakts, 1987; Deinhammer, Robert, Gesellschaftsvertrag?, in: Rechtstheorie 2005, S. 402 ff. 8 Hobbes, Thomas, Leviathan, hrsg. von Ernesto Grassi, Rowohlts Klassiker der Literatur und Wissenschaft, 1965, S. 142. 9 Vgl. Radbruch, Gustav, Rechtsphilosophie, 1956, S. 243 ff. (244).

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Aus heutiger Sicht ist der Gesellschaftsvertrag allerdings keine akzeptable These mehr, um die Entstehung des modernen Verfassungsstaates historisch zu erklären, jedoch kann er als gedankliches Konstrukt auch heute noch für die Legitimation der staatlichen Ordnung die Richtung weisen.10 Ob der Gesellschaftsvertrag als selbständige Stufe der Verfassung vorangeht, etwa in der Weise, dass der Gesellschaftsvertrag zuerst eine anarchische Menschenmenge zu einer politischen Einheit als „Staatsvolk“ formt, das dann seinerseits von der ihm zukommenden verfassungsgebenden Gewalt Gebraucht macht,11 ist nicht weniger bloße gedankliche Konstruktion wie der Gesellschaftsvertrag selbst. In der historischen Wirklichkeit sind Verfassungen durchweg das Ergebnis eines politischen Konsenses der in einem Staat sich formierenden maßgeblichen politischen Kräfte.12 Dies gilt namentlich in pluralistisch strukturierten Gemeinwesen. Solche Abstimmungs- und Konsensprozesse berechtigen aber nicht dazu, die Verfassung als einen Vertrag zwischen den jeweiligen politischen Kräften zu qualifizieren. Der Entstehungsprozess einer Verfassung unterscheidet sich – jedenfalls in seiner Grundstruktur – nicht von der Entstehung von Gesetzen, denen in der Demokratie zwar auch ein gewisser „Vertragscharakter“ attestiert wird, die aber trotz vertragsähnlicher Abstimmungsprozesse einseitige hoheitliche Anordnungen bleiben. So ist auch die Verfassung ein Rechtsetzungsakt der einheitlichen gesetzgebenden Gewalt des Volkes. Die als vertragsähnlich angesehenen Abstimmungsverhältnisse sind – vergleichbar den inneren Abwägungen, die jeder Mensch bei einer Entscheidung vornimmt – Elemente des demokratischen Entscheidungsprozesses ein und desselben Rechtssubjekts. Denkbar ist aber auch, dass eine Verfassung als Vertrag zwischen rivalisierenden politischen Mächten zustande kommt, wie beispielsweise zwischen Monarch und Volk als den beiden maßgeblich politischen Kräften im deutschen Frühkonstitutionalismus.13 Nicht in diesen Zusammenhang gehört der Vertrag über eine Europäische Verfassung. Bei diesem Regelwerk handelt es sich nicht um eine Staatsverfassung im herkömmlichen Verständnis, sondern um ein völkervertragliches Organisationsstatut.14 10

Isensee, Josef, Das Volk als Grund der Verfassung, 1995, S. 87 f. Vgl. Schmitt, Carl, Verfassungslehre, 5. Auflage, 1928, S. 61. 12 Isensee, Volk (Fn. 10), S. 88 ff. 13 Vgl. Huber, Ernst Rudolf, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band I, 2. Auflage, 1960, S. 318 ff. 14 Vgl. Hillgruber, Christian, Der Nationalstaat in der überstaatlichen Verflechtung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band II, 3. Auflage, 2004, § 32, Rn. 110 ff.; Badura, Peter, Verfassung und Verfassungsrecht in Europa, AöR 131 (2006), S. 423 ff. (428 ff.). 11

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Eine exotisch anmutende Kombination von Vertrag und Gesetz, die aus jüngerer Zeit stammt und im Zusammenhang „verfassungsrelevanter Verträge“ genannt werden kann, ist die Vereinbarung zur Beilegung der Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht über die Verfassungsmäßigkeit von Vorschriften des Brandenburgischen Schulgesetzes und das infolge der Vereinbarung ergangene Gesetz zur Änderung des Brandenburgischen Schulgesetzes vom 10. Juli 2002 (GVBl I, S. 55).15 Die Vereinbarung hatte die Funktion eines Prozessvergleichs, weil sie durch legislative Nachbesserung ein vor dem Bundesverfassungsgericht schwebendes Normenkontrollverfahren gegenstandslos machen sollte, was auch gelungen ist. Immerhin sei die besondere Problematik vergegenwärtigt, weil sie zeigt, dass eine als solche bezeichnete „einvernehmliche Verständigung“ in Wirklichkeit keine „Vereinbarung“ zu sein braucht. Die Einführung des Unterrichtsfachs „Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde“ (LER) durch das Gesetz über die Schulen im Land Brandenburg vom 12. April 1996 (GVBl I, S. 102) hat zu einem Verfassungsstreit vor dem Bundesverfassungsgericht geführt. Gegen die Einführung des Unterrichtsfachs LER wandten sich die CDU/CSU-Fraktion des Bundestages mit einem Normenkontrollantrag und betroffene Schüler und Eltern mit Verfassungsbeschwerden. Das Bundesverfassungsgericht unterbreitete durch Beschluss vom 11. Dezember 200116 den Text einer „einvernehmlichen Verständigung“, um eine „Vereinbarung“ unter den Beteiligten herbeizuführen, deren Ziel es sein sollte, durch eine Änderung des angegriffenen Schulgesetzes die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass durch Erklärungen der Antragsteller und Beschwerdeführer die Verfahren beendet werden können. Mit Ausnahme einiger Beschwerdeführer haben die Beteiligten dem vom Bundesverfassungsgericht vorgeschlagenen Verfahren zugestimmt. Nach Erlass des der Vereinbarung entsprechenden neuen Schulgesetzes hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass eine Sachentscheidung nicht mehr in Betracht kommt.17 Die der Vereinbarung zustimmenden Beteiligten hatten ihre Anträge zurückgenommen, die Beschwerden der anderen Beteiligten wurden verworfen, weil sie sich nunmehr gegen eine Regelung richteten, die nicht mehr in Geltung war. Die rechtlich problematischen Fragen können hier nicht weiter verfolgt werden.18 Festzustellen ist für die hier interessierende Thematik, dass das, 15 Vgl. Badura, Peter, in: Maunz/Dürig, Art. 7 Abs. 2, 3, Rn. 80 (Stand Juni 2006); Schmidt, Thorsten Ingo, LER – Der Vergleich vor dem BVerfG, NVwZ 2002, S. 925; Hillgruber, Christian, Dispositives Verfassungsrecht, zwingendes Völkerrecht: Verkehrte juristische Welt?, JöR 54, 2006, S. 57, 75 ff. 16 BVerfGE 104, 305. 17 BVerfGE 106, 210 (212). 18 Vgl. Schmidt, LER (Fn. 15) und Hillgruber, Verfassungsrecht (Fn. 15).

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was als „Vereinbarung“ bezeichnet worden ist, ein Falschetikett darstellt, denn diese sogenannte „Vereinbarung“ hat zwar die Zustimmung der Mehrheit der Verfahrensbeteiligten, aber nicht aller gefunden. IV. Verträge als Grundlage und Ermächtigung zur Gesetzgebung Fundamentale Bedeutung hat die Kombination von Vertrag und Gesetz im Völkerrecht. Dabei geht es zum einen um die Umsetzung völkerrechtlicher Verträge in innerstaatliches Recht im Verfahren und in der Form der Gesetzgebung. Neben solchen punktuellen Vertragskontakten zwischen verschiedenen Staaten spielt die Kombination von Vertrag und Gesetz breitflächig im Zuge der zunehmenden Internationalisierung der Staats- und Verwaltungsbeziehungen zwischen den Staaten eine wichtige praktische Rolle. In diesem Zusammenhang sind der völkerrechtliche Vertrag und das parlamentarische Gesetz „die zentralen Bauformen eines Rechts der internationalen Verwaltungsbeziehungen“.19 Beide, völkerrechtlicher Vertrag einerseits und parlamentarisches Gesetz andererseits, ergänzen sich bei der Verwirklichung der internationalen Zusammenarbeit gegenseitig. Die Gesetzgebungshoheiten der Staaten bleiben unangetastet. Eine Vermischung von Vertrag und Gesetz tritt nicht ein. Eine andere Lage ergibt sich dann, wenn die Gesetzgebungshoheit selbst zum Gegenstand eines völkerrechtlichen Vertrages gemacht und in einem bestimmten Umfange auf einen anderen Staat oder Hoheitsverbund übertragen wird. Bei solchen Konstellationen ergeben sich wiederum andere Probleme der Verschränkung zwischen Gesetz und Vertrag. Die erste Frage geht dahin, ob eine solche vertragliche Verpflichtung eingegangen werden darf. Die zweite Frage betrifft die Vertragsbindung, genauer: ob ein vertragswidrig erlassenes Gesetz gültig ist oder nicht und falls es gültig ist, welche Konsequenzen sich aus einer Vertragsverletzung ergeben. Prototypen für die Übertragung von Gesetzgebungshoheit sind die Gemeinschaftsverträge. Das Recht der Gründungs- und Änderungsverträge der Europäischen Gemeinschaften und der Europäischen Union ist zwischenstaatliches Völkervertragsrecht.20 Die Mitgliedstaaten haben durch völkerrechtliche Verträge einen Teil ihrer Hoheitsmacht ausgegliedert und auf „zwischenstaatliche Einrichtungen“ der europäischen Ebene verlagert. Dadurch ist keine „Souveränitätsteilung“ zwischen Nationalstaat und Europa 19

Schmidt-Aßmann, Eberhard, Die Herausforderung der Verwaltungsrechtswissenschaft durch die Internationalisierung der Verwaltungsbeziehungen, in: Der Staat 2006, S. 315 ff. (328). 20 Vgl. dazu und zum Folgenden Hillgruber, Nationalstaat (Fn. 1) Rn. 78 ff.

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eingetreten. Vielmehr besitzen die Gemeinschaften Hoheitsmacht nur nach Maßgabe (enumerativ) übertragener Hoheitsrechte (Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung). Die Mitgliedstaaten behalten die Befugnis, die Verträge zu ändern oder aufzuheben. Insoweit bleiben sie „Herren der Verträge“.21 Die Europäische Union ist ein „Staatenverbund“22 ohne eigene Verfassungsautonomie. De jure scheint dies ein klares Bild der Abgrenzung zu ergeben. Dieses Bild verschiebt sich allerdings in dem Maße, in dem zunehmend weitere Hoheitsbefugnisse der Mitgliedstaaten auf Europa verlagert werden. Vor allem aber sind die Abgrenzungen der übertragenen Hoheitsmacht unscharf und deshalb interpretativ ausdehnungsfähig. Extensive Interpretationen der übertragenen Hoheitsmacht erhalten durch ein ausgebautes europäisches Gerichtssystem erhebliche Schubkraft. Dadurch entwickelt die europäische Integration über den Weg der Rechtsvereinheitlichung eine Eigendynamik, die die Notwendigkeit integrationsfördernder Vertragsänderungen in den Hintergrund treten lässt.23 Die Konvergenz zwischen dem normativen Integrationskonzept, welches die Nationalstaaten als die „Herren der Verträge“ sieht, und dem realen Integrationsbefund wird auf diese Weise zunehmend und unmerklich aufgelöst. Die Reklamation des Bundesverfassungsgerichts, „ausbrechende Hoheitsakte“, das heißt Kompetenzüberschreitungen der europäischen Organe, gehörten zu seiner Kontrollkompetenz,24 teilt das Schicksal dieser Grenzziehung, die schon an sich so vage ist, dass bewusste Grenzüberschreitungen kaum vorkommen. Wenn überhaupt, ist nicht mit einem „Ausbrechen“ oder „Einbrechen“, sondern mit einem „Einschleichen“ zu rechnen; und das ist definitionsgemäß ein nur selten bemerkter und schwer zu identifizierender Vorgang. Völkerrechtliche Verträge, die nicht mit der Übertragung von Hoheitsrechten, sondern (lediglich) mit Inhaltsbestimmungen der (staatsinternen) Gesetzgebung verbunden sind, bedürfen als Staatsverträge, „die sich auf Gegenstände der Gesetzgebung beziehen“, jeweils für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften in der Form eines Bundesgesetzes. Damit ist sichergestellt, dass keine völkerrechtlichen Verträge geschlossen werden können, die die Gesetzgebung betreffen, aber nicht die Zustimmung des deutschen Gesetzgebers gefunden haben. Dass der Gesetzgeber sich freilich in einer Ratifikationslage befindet, ist wiederum eine andere Frage. Besondere Probleme ergeben sich dann, wenn der Gesetzgeber die vertraglich eingegangenen legislativen Verpflichtungen nicht erfüllt. Diese Fra21

BVerfGE 89, 155 (190). BVerfGE 89, 155 (181). 23 Vgl. Hirsch, Der Einfluss des Europarechts auf das Zivil- und Strafrecht, Eröffnungsvortrag auf dem 66. Deutschen Juristentag 2006 in Stuttgart. 24 BVerfGE 89, 155 (188). 22

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gen sind insbesondere für Staatskirchenverträge25 und Verträge zwischen den deutschen Ländern26 erörtert worden. Als herrschende Meinung hat sich die Auffassung herausgebildet, dass solche Verträge Bindungswirkung auslösen, aber gleichwohl vertragswidrig erlassene Gesetze Gültigkeit haben. Ungeklärt ist die Frage, welche Konsequenzen sich aus der dadurch bedingten Vertragsverletzung ergeben.

V. Verträge zur Fortgeltung und Erstreckung von Gesetzen Die Fortgeltung und Erstreckung von Gesetzen beruht vor allem auf völkerrechtlichen Verträgen, die ihrerseits die Gebietshoheit verändern. Der Träger der territorialen Souveränität (Gebietshoheit) hat grundsätzlich die ausschließliche Befugnis, in seinem Gebiet Hoheitsakte zu setzen.27 Werden Hoheitsgebiete ausgegliedert oder abgetrennt, etwa durch Beitritt zu einem anderen Staat, durch Gebietsabtretung, Grenzregulierungsverträge28 usw., so muss die Frage geregelt werden, welche Gesetze in dem betreffenden Gebiet gelten sollen. Diese Frage wird im Allgemeinen in den Verträgen geregelt, die die Gebietsveränderung zum Gegenstand haben.29 Als völkerrechtlicher Vertrag, der sich auf Gegenstände der Gesetzgebung bezieht, bedarf ein solcher Vertrag nach Art. 59 Abs. 2 GG der Zustimmung der gesetzgebenden Körperschaften in der Form eines Bundesgesetzes. Damit ist die Harmonisierung von Vertragsregelung und Gesetzgebungspflichten gewährleistet. Mit dem Wirksamwerden der vertraglichen Gebietsveränderung tritt auch das neue Rechtsregime in der vertraglich verabredeten Weise in Kraft. So ist beispielsweise in § 8 des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag) festgelegt, dass mit dem Wirksamwerden des Beitritts im Beitrittsgebiet Bundesrecht in Kraft tritt, soweit keine territoriale Beschränkung auf bestimmte Gebietsteile der Bundesrepublik vorgesehen und im Einigungsvertrag, insbesondere dessen Anlage I, nichts anderes bestimmt ist. 25 Ehlers, Dirk, Die Bindungswirkungen von Staatskirchenverträgen, in: Festschrift für Hartmut Maurer, 2001, S. 333 ff.; Florian Becker, Kooperative und konsensuale Strukturen in der Normsetzung, 2005, S. 184 ff. 26 Püttner, Günter, Gesetzgebungshoheit versus Vertragstreue, in: Festschrift für Helmut Quaritsch, 2000, S. 285 ff. 27 Graf Vitzthum, Wolfgang, in: derselbe (Hrsg.), Völkerrecht, 1997, S. 410, Rn. 16. 28 Ipsen, Knut, Völkerrecht, 4. Auflage, 1999, S. 266, Rn. 51. 29 Vgl. für die parallele Problematik bei Gebietsreformen im kommunalen Bereich: Hassel, Volker, Rechtsfolgen kommunaler Gebietsreform, 1975, S. 118 ff.

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Das Rechtsregime in einem Hoheitsgebiet kann sich allerdings aufgrund eines Vertrages auch ändern, wenn das Hoheitsgebiet in seinem Bestand unverändert bleibt. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn ein Staat der Europäischen Union beitritt. Zu den in Art. 49 EUV vorgesehenen „Aufnahmebedingungen“ gehört – unter dem Vorbehalt von Übergangsregelungen – die mit dem Beitritt wirksam werdende Übernahme des „acquis communautaire“, das heißt des gesamten bisher geschriebenen und ungeschriebenen Gemeinschaftsrechts (einschließlich des Sekundärrechts), und zwar in seiner Auslegung und Fortbildung durch den EuGH.30 VI. Verträge koordinieren und harmonisieren das Gesetz Der Vertrag als Instrument zur Harmonisierung und Koordination der Gesetzgebung gehört in das Thema der so genannten „Dritten Ebene“ im Bundesstaat. Gemeint ist mit der Dritten Ebene jene im Grundgesetztext nicht vorgesehene Verfassungswirklichkeit, die sich in vielfältigen Formen in der Zusammenarbeit der Bundesländer miteinander manifestiert, und zwar in allen Bereichen der Ausübung von Staatsgewalt, besonders freilich in der Exekutive, aber auch in der Gesetzgebung.31 Es ist selbstverständlich, dass die Länder in ihrem Zuständigkeitsbereich der Gesetzgebung Erfahrungen und know how austauschen. Wo vom Regelungsgegenstand her gesehen länderspezifische Regelungen sich nicht aufdrängen und auch nicht durch politische Konzepte der jeweiligen politischen Führung verlangt werden, liegt es nahe, auch im Interesse der Bürger, möglichst einheitliche Gesetze zu schaffen. Auf diese Weise können „Musterentwürfe“ für Gesetze entstehen, die den jeweiligen Landesgesetzgebern nicht nur eine wesentliche Hilfe für die Gesetzgebungsarbeit bieten, sondern auch den Sinn haben, möglichst gleichinhaltliche Landesgesetze auf einem bestimmten Sachgebiet hervorzubringen. Solche „Musterentwürfe“, die von den Ländern gemeinsam erarbeitet werden, haben jedoch keinen vertraglichen Hintergrund. Der klassische Fall einer Harmonisierung von Landesrecht (Bundesrecht eingeschlossen) bildet das Verwaltungsverfahrensgesetz. Verfahrensgesetze können nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes Bund und Länder grundsätzlich nur je für sich in ihrem Bereich erlassen. Nachdem der Bund einen gemeinsam erarbeiteten Musterentwurf eines Verwaltungsverfahrensgesetzes für die Bundesverwaltung in 30

Cremer, Hans-Joachim, in: Calliess/Ruffert, Kommentar zum EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Auflage, 2002, Art. 49 EU-Vertrag, Rn. 4. 31 Vgl. Ossenbühl, Fritz, Landesbericht Bundesrepublik Deutschland, in: derselbe (Hrsg.), Föderalismus und Regionalismus in Europa, 1990, S. 117 ff. (140 ff.); Rudolf, Walter, Kooperation im Bundesstaat, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 1990, § 105, Rn. 29 ff.

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Kraft gesetzt hatte, beschlossen die Innenminister der Länder, darauf hinzuwirken, dass in den Ländern Verwaltungsverfahrensgesetze gleichen Inhalts erlassen werden.32 Diese Absprache hatte nicht die Qualität eines Vertrages. Zu einem die Harmonisierung der Ländergesetze herbeiführenden Staatsvertrag kommt es nur dann, wenn die Regelungsmaterie es gebietet, dass alle Länder eine einheitliche Regelung treffen. Beispiele aus jüngerer Zeit sind etwa der 8. Rundfunkänderungsstaatsvertrag33 und der Lotteriestaatsvertrag.34 In diesen Fällen wird zunächst zwischen den Regierungen der Länder beschlossen, dass ein bestimmter Gesetzentwurf in allen Ländern gleichinhaltlich gelten soll. Diese Abrede wird in Form eines Staatsvertrages umgesetzt. Dies bedeutet, dass der Entwurf in allen Ländern nach den jeweils in den Länderverfassungen vorgesehenen Ratifikationsverfahren, also im Regelfall im förmlichen Gesetzgebungsverfahren, in geltendes Landesrecht umgesetzt wird. Vertragsschluss und Gesetzgebung erfolgen damit gewissermaßen uno actu. Die Ländergesetze treten mit dem Wirksamwerden des Staatsvertrages in Kraft. VII. Verträge erübrigen und verdrängen Gesetze (Normersetzende Absprachen) Verträge können auch geeignet sein und die Funktion haben, Gesetze entbehrlich zu machen. Sie treten an die Stelle eines Gesetzes und übernehmen dessen Regelungsaufgabe. „Vertrag statt Gesetz“, unter diesem Motto werden insbesondere im Umweltschutz zunehmend Selbstverpflichtungen der Wirtschaft sowie normersetzende oder normvertretende Absprachen diskutiert.35 Selbstverpflichtungen der Wirtschaft haben inzwischen eine jahrzehntelange Tradition.36 Ein viel zitiertes Beispiel ist die Vereinbarung der Bundesregierung mit dem Verband forschender Arzneimittelhersteller, in der sich der Verband forschender Arzneimittelhersteller bereiterklärt, der gesetzlichen Krankenversicherung 400 Mio. DM zur Konsolidierung ihrer 32 Vgl. zur Entstehungsgeschichte des VwVerfG: Stelkens/Sachs, in: Stelkens/ Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, Kommentar, 6. Auflage, 2001, Einleitung, Rn. 36 ff. (60). 33 GVBl NW 2005, S. 192. 34 GVBl NW 2004, S. 315. 35 Vgl. Dempfle, Ulrich, Normvertretende Absprachen, 1994; Kloepfer, Michael, Umweltrecht, 3. Auflage, 2004, § 5, Rn. 504 ff. 36 Vgl. Dempfle, Absprachen (Fn. 35); Knebel, Jürgen/Wicke, Lutz/Michael, Gerhard, Selbstverpflichtungen und normersetzende Umweltverträge als Instrumente des Umweltschutzes, 1999, S. 291 ff.; Di Fabio, Udo, Selbstverpflichtungen der Wirtschaft – Grenzgänger zwischen Freiheit und Zwang, JZ 1997, S. 969 ff.; Michael, Lothar, Rechtsetzende Gewalt im kooperierenden Verfassungsstaat, 2002, S. 47 ff.; Ferber, Angela, Gesellschaftliche Selbstregulierungssysteme im Umweltrecht, 2001.

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Finanzen zur Verfügung zu stellen, die Bundesregierung ihrerseits zusagt, für zwei Jahre auf gesetzliche Preisregulierungen für bestimmte verschreibungspflichtige Arzneimittel zu verzichten.37 Aus jüngerer Zeit ist auf die Zusage der Wirtschaft, eine ausreichende Anzahl von Ausbildungsplätzen bereitzustellen, hinzuweisen. Solche Selbstverpflichtungen sollen dazu dienen, staatliche Interventionen in die Wirtschaft durch entsprechende Gesetze abzuwenden. Selbstverpflichtungen der Wirtschaft sind also keine auf Freiwilligkeit beruhenden altruistischen Aktionen. Vielmehr steht hinter ihnen das Drohpotential staatlichen Eingreifens durch Gesetz,38 demgegenüber die Selbstverpflichtung aus Sicht der Unternehmen als das kleinere Übel erscheint. Im Umweltrecht kommt hinzu, dass normersetzende Absprachen wegen der Komplexität der Regelungszusammenhänge und aus anderen Gründen besser geeignet erscheinen als staatliche Regelungen, um ein bestimmtes Ziel oder einen erwünschten Zustand zu erreichen. Aus diesem Grunde hat die Sachverständigenkommission für ein Umweltgesetzbuch in ihrem Entwurf eine detaillierte Regelung für normersetzende Absprachen als neues Handlungsinstrument vorgesehen.39 Die Thematik normersetzender resp. normvertretender Absprachen ist aus der Sicht des hier gestellten Themas allerdings nur am Rande von Bedeutung. Denn um das Thema „Vertrag und Gesetz“ geht es bei diesem Problembereich letztlich nicht. Bezeichnenderweise taucht auch der Begriff des Vertrages in der einschlägigen Diskussion nicht auf. Vielmehr ist die Rede von Selbstverpflichtungen und Absprachen,40 also von einseitigen Aktionen, die keinen Vertragspartner kennen, oder von Verständigungen, die dem gentlemen’s agreement näher stehen als einer verbindlichen Abmachung. Ob die in der Praxis vorkommenden normersetzenden Absprachen von einem Bindungswillen der Partner getragen sind, ob ein solcher Bindungswille, wenn er vorhanden sein sollte, auf der Seite der Wirtschaft und Gesellschaft überhaupt repräsentativ wäre, sofern einzelne Verbände solche Absprachen treffen, lässt sich nur im konkreten Einzelfall feststellen. Nach den vorliegenden Einschätzungen dürfte davon auszugehen sein, dass im Regelfall ein Bindungswille im rechtlichen Sinne nicht angenommen werden kann.41 Aus diesem Grunde können auch die normersetzenden Abspra37

Vgl. Kirchhof, Paul, Das Parlament als Mitte der Demokratie, in: Festschrift für Peter Badura, 2004, S. 237 ff. (257) m. w. N.; Becker, Strukturen (Fn. 25), S. 248 ff. 38 Eifert, Martin, Hoheitlich regulierte gesellschaftliche Selbstregulierung, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Vosskuhle, Grundlagen des Allgemeinen Verwaltungsrechts, Band I, 2006, § 19, Rn. 74. 39 Umweltgesetzbuch (UGB-KomE), 1998, S. 120. 40 Vgl. Huber, Peter M., Konsensvereinbarungen und Grundgesetz, in: 11. Atomrechtssymposium, 2002, S. 329 (331 f.).

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chen jedenfalls nicht generell als „Verträge“ eingeordnet werden. Die sich stellenden verfassungsrechtlichen Probleme dieser Absprachen werden dadurch freilich nicht vermindert.42 VIII. Verträge präjudizieren Gesetze (Gesetzesvorbereitende Absprachen) Im Gegensatz zu den normvertretenden Absprachen sind die normvorbereitenden Absprachen nicht darauf gerichtet, eine staatliche Regelung durch Gesetz oder Rechtsverordnung zu vermeiden, sondern eine staatliche Regelung, die wegen des zu regelnden Gegenstandes unvermeidbar ist, inhaltlich vorherzubestimmen. Prototyp einer solchen gesetzesvorbereitenden Absprache stellt die Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Energieversorgungsunternehmen vom 14. Juni 2000 über den Ausstieg der friedlichen Nutzung der Kernenergie (sog. Atomkonsens) dar.43 Diese Vereinbarung enthält sehr detaillierte Regelungen und insbesondere zeitlich genau fixierte Restlaufzeiten für die bestehenden Kernkraftwerke. Wie die Entstehungsgeschichte ausweist,44 wollte der Bundesgesetzgeber die Vereinbarung in der geschlossenen Form unverändert in einer Gesetzesnovelle umsetzen. Dies ist durch das Änderungsgesetz zum Atomgesetz vom 25. Juli 2002 (BGBl I, S. 2674) geschehen. Über die Frage, ob der Atomkonsens als Vertrag eingeordnet werden kann, insbesondere ob die getroffenen Vereinbarungen mit Bindungswillen geschlossen worden sind und dementsprechend auch Bindungswirkungen auslösen, bestand von Anfang an kein Streit.45 In einem veröffentlichten 41 Vgl. Dempfle, Absprachen (Fn. 35), S. 49; Kloepfer, Umweltrecht (Fn. 35); Huber, Konsensvereinbarungen (Fn. 40), S. 335; a. A. Becker, Strukturen (Fn. 25), S. 239. 42 Vgl. die Nachweise in Fn. 36. 43 Abgedruckt bei Ossenbühl, Fritz, Deutscher Atomrechtstag 2000, S. 205 ff.; ferner bei Posser/Schmans/Müller-Dehn, Atomgesetz, Kommentar zur Novelle 2002, 2003, S. 285 ff. Dort ist als Datum der Vereinbarung der 11. Juni 2000 genannt (gemeint ist aber 2001, wie das Datum auf S. 293 zeigt). Die unterschiedlichen Daten (14. Juni 2000/11. Juni 2001) sind darauf zurückzuführen, dass das erste Datum die Festlegung der Textfassung betrifft, die dann so bekannntgegeben wurde. Das zweite Datum ist der Tag, an dem der Text von den Verhandlungspartnern unterschrieben worden ist. – Zur Entstehungsgeschichte und den Hintergründen ausführlich: Becker, Strukturen (Fn. 25), S. 230 ff.; Reicherzer, Max, Authentische Gesetzgebung, 2006, S. 36 ff. 44 BT-Drucks. 14/689, S. 13; Reicherzer, Authentische Gesetzgebung (Fn. 43), S. 431. 45 Vgl. Langenfeld, Christine, Die rechtlichen Rahmenbedingungen für einen Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie, DÖV 2000, S. 929 (936);

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Glossar zum Atomausstieg46 hat die Bundesregierung die Vereinbarung in einer Selbsteinschätzung als „gentlemen’s agreement“ apostrophiert. Dieser Einordnung wird allgemein zugestimmt.47 Sie beruht nicht nur auf einer Interpretation des Inhalts der Vereinbarung, sondern auch auf der Zulässigkeit solcher Verträge unter mehreren verfassungsrechtlichen Aspekten. Ob man den gegebenen Begründungen im Einzelnen und in allen Punkten zustimmen mag, ist eine andere Frage. Das Ergebnis dürfte nicht anzuzweifeln sein. Vertragliche Bindungen des Gesetzgebers in der hier in Betracht stehenden Form scheiden verfassungsrechtlich aus. Die Bundesregierung als Vereinbarungspartnerin hatte sich denn auch „nur“ dazu verpflichtet, aufgrund der „Eckpunkte“ der Vereinbarung einen „Entwurf zur Novelle des Atomgesetzes“ zu erarbeiten. Aber auch dies kann nicht Gegenstand eines bindenden Vertrages mit Wirtschaftsunternehmen sein. Es bleibt also dabei, dass vorbereitende Gesetzesabsprachen ebenfalls kein Kapitel des Themas „Vertrag und Gesetz“ darstellen. Immerhin sei auf einen Punkt hingewiesen, der für die Praxis nicht unbedeutend sein kann. Wenn der parlamentarische Gesetzgeber, und sei es auch durch pauschale Übernahme der Begründung des Gesetzentwurfs durch die Bundesregierung, eindeutig zum Ausdruck bringt, dass er gewillt ist, eine gesetzesvorbereitende Absprache in der geschlossenen Fassung unverändert umzusetzen, dann wird diese Bezugnahme auf die Absprache Teil des gesetzgeberischen Willens. Dies hat zur Folge, dass in Zweifelsfragen bei der Auslegung der Gesetzesnovelle im Wege der genetischen Auslegungsmethode auf die gesetzesvorbereitende Absprache zurückgegriffen werden darf. Insoweit können sich, wie sich gerade auch bei der gegenwärtigen Anwendung der Atomgesetznovelle von 2002 zeigt, Vorschriften in einem völlig anderen Licht darstellen, als es der bloße Gesetzestext auf den ersten Blick vermuten lässt. Ein gewisser Rest an Bindungswirkung der Vereinbarung wird damit in die Gesetzesbindung einbezogen.

Schorkopf, Frank, Die „vereinbarte“ Novellierung des Atomgesetzes, NVwZ 2000, S. 1111 f.; Huber, Konsensvereinbarungen (Fn. 40), S. 335; Degenhart, Christoph, Bundes- und länderfreundliches Verhalten im Atomrecht, in: 11. Deutsches Atomrechtssymposium, 2002, S. 377. 46 Abgedruckt bei Ossenbühl, Deutscher Atomrechtstag 2000 (Fn. 43), S. 215 ff. (216). 47 Vgl. die Nachweise in Fn. 45.

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IX. Gesetzgebung durch und mit Vertrag Eigenartige Verschränkungen zwischen Gesetz und Vertrag ergeben sich im Bereich autonomer Rechtsetzung. Dies gilt namentlich für die Tarifverträge und die Normsetzungsstrukturen im Bereich der Sozialversicherung. 1. Tarifvertragsgesetz und Tarifverträge „Mit der grundrechtlichen Garantie der Tarifautonomie wird ein Freiraum gewährleistet, in dem Arbeitgeber und Arbeitnehmer ihre Interessengegensätze in eigener Verantwortung austragen können. Diese Freiheit findet ihren Grund in der historischen Erfahrung, dass auf diese Weise eher Ergebnisse erzielt werden, die den Interessen der widerstreitenden Gruppen und dem Gemeinwohl gerecht werden, als bei einer staatlichen Schlichtung“48. – Der Staat lässt in einem begrenzten Lebensbereich gesellschaftlichen Gruppen den Vortritt, gemeinsame Angelegenheiten durch Vereinbarung zu regeln. Diese Regelungen macht sich der Staat durch Anerkennung sozusagen zu Eigen und hebt sie in den Rang und die Bedeutung staatlicher Normen.49 Das staatliche Anerkennungsgesetz verwandelt vereinbarte gesellschaftliche Regelungen in staatliches Recht. Dies geschieht regelungstechnisch gewissermaßen im Wege einer dynamischen Verweisung.50 Der Staat gibt damit allerdings nicht pauschal ein bestimmtes Regelungsfeld aus der Hand, vielmehr kann er die Tarifautonomie aus verfassungsrechtlich begründeten Interessen des Gemeinwohls modifizieren oder Tarifverträge korrigieren oder außer Kraft setzen.51 2. Normsetzung durch vertragliche Vereinbarung in der Sozialversicherung In der Sozialversicherung haben sich im Laufe der Zeit hochkomplexe Regelungsstrukturen entwickelt, die seit einigen Jahren in besonderem Maße der verfassungsrechtlichen Kritik ausgesetzt sind.52 Dabei geht es vor 48

BVerfGE 88, 103 (114 f.). Zur rechtlichen Deutung der Tarifautonomie; insbesondere ihrer rechtlichen Grundlagen, gibt es unterschiedliche Auffassungen; vgl. dazu Becker, Strukturen (Fn. 25), S. 401 ff. 50 So Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 9, Rn. 301 (Stand: Februar 1999). 51 Vgl. BVerfGE 94, 268 (284); 103, 293 (306 f.). 52 Vgl. Axer, Peter, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, 2000; Hänlein, Andreas, Rechtsquellen im Sozialversicherungsrecht, 2001; Becker, Strukturen (Fn. 25), S. 598 ff. 49

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allem darum, ob die vorgesehenen kooperativen und konsensualen Normsetzungsverfahren dem verfassungsrechtlichen Demokratiegebot genügen. Verfassungsrechtliche Einwände aus dem Demokratiegebot werden vor allem darauf gestützt, dass die Normunterworfenen im Normsetzungsprozess nicht in hinlänglicher Weise oder zum Teil überhaupt nicht repräsentiert sind, sodass insoweit eine Fremdbestimmung der Normunterworfenen stattfindet.53 Das Bundessozialgericht hat in seiner Entscheidung vom 9. Dezember 2004 die Normstrukturen der Sozialversicherung als „Regelungskonzept der Normsetzung durch vertragliche Vereinbarung“ verteidigt und mit dem Grundgesetz, namentlich dem Demokratiegebot, für vereinbar erklärt.54 Dabei hat das Bundessozialgericht insbesondere Anlehnung an die Wasserverbandsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts55 gesucht und für die „funktionale Selbstverwaltung“, zu der auch der Bereich der Sozialversicherung gehört, eine Modifizierung der Anforderungen demokratischer Legitimation reklamiert. Allerdings wird die Wasserverbandsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Bundessozialgericht missverstanden. Denn entgegen dem Hinweis des Bundessozialgerichts56 ist in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von einer „Rechtsetzung mit Außenwirkung“, die durch Gesetz zugewiesen sei, mit keinem Wort die Rede. Die Satzungsautonomie ist überhaupt nicht Gegenstand der Wasserverbandsentscheidung. Vielmehr geht es dort allein um die Legitimation der Aufgabenübertragung. Die schlüssige Begründung zur Vereinbarkeit der Normsetzungsstrukturen der Sozialversicherung mit dem Demokratiegebot steht deshalb nach wie vor aus.57 X. Gesetzesvollzug durch Vertrag Bei den bisher vorgestellten Konstellationen geht es um Verschränkungen von Gesetz und Vertrag im Entstehungsstadium des Gesetzes. Im Vordergrund des Interesses steht in dieser Phase die Frage, ob und inwieweit Verträge die Gesetzgebung nach Grund und Inhalt beeinflussen, genauer gesagt inwieweit Verträge Gesetzgebungshoheit begründen und den Gesetzgebungsprozess beeinflussen sowie den Gesetzesinhalt präjudizieren können. Ein anderer Aspekt bietet sich beim Gesetzesvollzug durch Vertrag. Gesetzesvollzug und Vertrag sind nach dem klassischen Leitbild des Gesetzes 53

Vgl. Ossenbühl, Fritz, Richtlinien im Vertragsrecht, NZW 1997, S. 497 ff. BSG, MedR 2005, S. 538 (547 ff.). 55 BVerfGE 107, 59 (94 f.). 56 BSG, MedR 2005, S. 538 (547). 57 Vgl. Möstl, Normative Handlungsformen, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 13. Auflage, 2006, S. 588. 54

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Widersprüche. Im Gesetzesvollzug setzt sich die das Gesetz charakterisierende einseitige hoheitliche Anordnung für den Einzelfall fort. Der Gesetzesvollzug wird ebenso wie der Erlass des Gesetzes selbst durch einseitigen Hoheitsakt bewirkt. Das Gesetz enthält der Idee nach eine abschließende Regelung, deren Anwendung im Einzelfall keiner weiteren Maßstäbe bedarf und auch dem Gesetzanwender keine Entscheidungsfreiheiten vermittelt. Der Gesetzesvollzugsakt wird verstanden als ein Akt der Erkenntnis, durch den die im Gesetz für den Einzelfall vorgedachte und vorgegebene Entscheidung ermittelt wird. In diesem Leitbild des Gesetzes hat der Vertrag keinen Platz. Es war auch dieses Leitbild des Gesetzes und die Vorstellung einer strikten Anwendungstheorie, die im Verwaltungsrecht den öffentlich-rechtlichen Vertrag erst spät, nämlich erst in den 60er Jahren zur Geltung kommen ließen. Die alten Einwände des „Ausverkaufs von Hoheitsrechten“, der „Kungelei“, des gesetzlich sonst nicht erreichbaren „Deals“, der „Verletzung des Gleichheitssatzes“, des „Handels mit der Gerechtigkeit“ bleiben als Gefahrbeschreibungen präsent, haben aber die Etablierung des Vertrages als Handlungsform der Verwaltung nicht verhindern können. Heute ist der Vertrag neben dem Verwaltungsakt als Form des Gesetzesvollzugs auf zahlreichen Rechtsgebieten des Verwaltungsrechts verbreitet und hat sich namentlich im Umweltrecht und im Sozialrecht neue Gebiete für seine Anwendung erschlossen.58 Zu erwarten war, dass sich der Verwaltungsvertrag insbesondere dort als Vollzugsakt eignete, wo es darum ging, komplexe und atypische Sachverhalte, die in hohem Maße auf Akzeptanz angewiesen sind, zu bewältigen. Hier insbesondere zeigte sich, dass mit der Veränderung der Staatsaufgaben, die der heutige Industrie- und Sozialstaat zu erfüllen hat, die klassische Vollzugsform des Verwaltungsaktes als einseitige hoheitliche Anordnung der Ergänzung durch konsensuale Mechanismen bedurfte. Diese Einsicht wurde zunächst im Umweltrecht deutlich erkennbar. Inzwischen hat der Vertrag aber auch in der Massenverwaltung des Sozialrechts ein weites Anwendungsfeld gefunden, wie die Eingliederungsvereinbarung nach § 15 SGB II als Steuerungsmittel für Arbeitssuchende zeigt.59 Als Anwendungsfeld für den Vertrag als Vollzugsakt war zunächst außer für atypische Sachverhalte vor allem der Bereich der Leistungsverwaltung ins Auge gefasst worden. An die klassischen Gebiete des Eingriffsrechts war jedenfalls im Normalfall nicht an den Vertrag gedacht. Deshalb ist für jene Rechtsbereiche, in denen der Einzelne durch gesetzliche Regelungen in besonders einschneidender Weise getroffen wird und in denen deshalb 58

Vgl. Schlette, Volker, Die Verwaltung als Vertragspartner, 2000, S. 263 ff. Vgl. Kretschmer, Kai-Holmger, „Sozialhilfe“ durch Vertrag, DÖV 2006, S. 823 ff. 59

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Entscheidungsspielräume der Exekutive prinzipiell ausscheiden, der Vertrag als Handlungsform heftig umstritten. Dies gilt namentlich für das Steuerrecht und das Strafrecht. Hier hat das Leitbild des Gesetzes als abschließende Regelung und Erkenntnisgrundlage in Verbindung mit einer strikten Gesetzesanwendungstheorie seine eigentliche Heimat. Gleichwohl haben sich im Steuerrecht konsensuale Formen in der Praxis der Steuerverwaltung etablieren können, die seit etwa 20 Jahren auch im Ansatz durch den Bundesfinanzhof als „tatsächliche Verständigung“, also beschränkt auf die Sachverhaltsseite der Rechtsanwendung, anerkannt worden sind.60 Im Schrifttum wird hierin bereits der Schritt zum „echten“ öffentlich-rechtlichen Vertrag mit rechtlicher Bindungswirkung gesehen und eine Fortentwicklung befürwortet.61 Andere hingegen treten dem entschieden entgegen;62 das steuerliche Ermittlungs- und Festsetzungsverfahren wird als ein Bereich reklamiert, der konsensualen Mechanismen verschlossen sei und in dem die Gefälligkeitsdemokratie ein Ende finde. Noch umstrittener sind in der Praxis verbreitete Absprachen im Strafprozess. Ebenso wie im Steuerrecht haben sich solche Absprachen ohne Grundlage in der Strafprozessordnung aus Bedürfnissen der Praxis heraus entwickelt.63 Da im Strafprozess in besonders einschneidender Weise in die Persönlichkeitssphäre des Einzelnen eingegriffen wird, wird die Gefahr, um bestimmter praktischer Vorteile willen fundamentale rechtsstaatliche Grundsätze zu missachten, als besonders groß eingeschätzt. Der Bundesgerichtshof hat solche Absprachen grundsätzlich akzeptiert, aber verfassungsrechtlich geforderte Mindestbedingungen genannt, die bei solchen Absprachen eingehalten werden müssen.64 Ob solche „Mindestbedingungen“ eine ausreichende Sicherung darstellen, wird bezweifelt. Vor allem sind Absprachen im Strafprozess geeignet, das Vertrauen der Bevölkerung in die Gleichheit und Gerechtigkeit der Strafrechtspflege zu beeinträchtigen, weil deren Berechtigung nicht immer nachvollzogen werden kann. Der mit einer solchen Absprache beendete so genannte Mannesmann-Prozess ist hierfür beispielhaft.

60 Vgl. Tipke, Klaus, Die Steuerrechtsordnung, Band I, 1993, S. 168; Seer, Roman, Verständigungen in Steuerverfahren, 1996, S. 71 ff. 61 Tipke/Lang, Steuerrecht, 17. Auflage, 2002, § 4, Rn. 165. 62 Müller-Franken, Sebastian, Maßvolles Verwalten, 2004, S. 234 f. 63 Beulke, Werner/Swoboda, Sabine, Zur Verletzung des Fair-trial-Grundsatzes bei Absprachen im Strafprozess, JZ 2005, S. 67 ff. 64 BGHSt 43, 195 = NJW 1998, S. 86; zuletzt BGH GSSt, NJW 2005, S. 1440 (1441 ff.).

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XI. Folgerungen und Ausblick Vertrag und Gesetz haben als Handlungsformen unterschiedliche rechtliche Fundamente. Der Vertragswille beruht auf der Selbstbestimmung der einzelnen Vertragspartner. Das Gesetz als Kollektivwille bedarf der (demokratischen) Legitimation. Der Gesetzgeber spricht im Gegensatz zum Vertragspartner nicht für sich, sondern für jene, die ihn legitimiert haben. Wegen dieser unterschiedlichen Grundlagen sind Vertragswille und Gesetzeswille nicht kompatibel. Vertrag und Gesetz sind deshalb nur dort miteinander vereinbar, wo Vertragswille und Gesetzeswille inhaltlich konvergieren oder aufeinander bezogen sind und sich ergänzen. Vertrag und Gesetz sind unterschiedliche Formen und Verfahren für das Zustandekommen von Regelungen. Verträge ergehen im Konsens. Gesetze werden als einseitige hoheitliche Regelungen unter Umständen auch gegen Widerstände durch„gesetzt“. In komplexen Lebensbereichen ist der Vollzug von Gesetzen auf Akzeptanz angewiesen (Vollzugsdefizit!). Dies gilt in erhöhtem Maße in Mehrebenensystemen. Das Gesetz als Instrument wechselnder Politik muss weitgehend auf die Akzeptanz der Bürger achten. Deshalb muss der Gesetzeswille die Akzeptanz in sich aufnehmen. Der strenge Gegensatz zwischen den Handlungsformen von Gesetz und Vertrag wird dadurch in gewissem Sinne relativiert. Demokratische Legitimation wird durch Akzeptanz ergänzt. Betroffen sind damit die Fundamente des demokratischen Verfassungsstaates. Die Pragmatik staatlicher Aufgabenbewältigung und Friedensordnung rüttelt permanent an den Festen der Dogmatik. Aber die Dogmatik ist kein Selbstzweck, sondern die formale Ausprägung grundlegender Prinzipien, die sich in jahrhundertelanger Erfahrung im Verfassungsstaat versammelt haben. Eine vorbehaltlose pragmatische Hinnahme wachsender Vermischung und Verwischung der Handlungsformen gefährdet deren rechtsstaatliches Fundament. Die Egalisierung und Kompatibilität von Vertrag und Gesetz bedeutet letztlich eine Systemveränderung mit unabsehbaren Folgewirkungen. Ihre Verwischung ist kein Zeichen gesunder Fortentwicklung, sondern eher Alarmsignal für die Verfassungsordnung.

Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsgerichtsbarkeit Von Eberhard Schmidt-Aßmann I. Verwaltungsrechtliche Dogmatik als Gegenstand persönlicher Begegnungen Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsgerichtsbarkeit sind Schlüsselbegriffe, wenn es im Staats- und Verwaltungsrecht um die Grenzziehung zwischen der Zweiten und der Dritten Gewalt geht.1 Für Rupert Scholz und mich sind sie zugleich aber auch Erinnerungsbegriffe an unseren gemeinsamen Auftritt bei der Staatsrechtslehrertagung 1975 in Augsburg.2 Der Vorstand der Vereinigung (Hans-Peter Ipsen, Klaus Vogel, Fritz Ossenbühl) hatte den künftigen Referenten das Thema bereits am Ende der Bielefelder Tagung mitgeteilt. Wir hatten zur Vorbereitung also ein ganzes Jahr Zeit. Persönlich waren wir uns zu diesem Zeitpunkt praktisch noch nicht begegnet.3 Schon ein erstes kurzes Gespräch über unser gemeinsames Thema zeigte jedoch, dass wir über die Probleme, die Grundanlage der Referate und über die Forschungsrichtung recht ähnliche Vorstellungen hatten. Rupert Scholz kam während des Wintersemesters 1974/1975 zu einem Besuch nach Bochum, bei dem wir die Grundlinien der Schwerpunktsetzung genauer besprachen. Als der Vorstand die Referenten für das Frühjahr 1975 zu der üblichen Vorbesprechung am künftigen Tagungsort nach Augsburg einlud, hatten wir im Wege der Selbstkoordination schon eine plausible Aufteilung der von uns für wichtig gehaltenen Problemfelder gefunden. Damit war auch ein ähnlicher methodischer Zugang gewählt und für die Lösung der Probleme bei allen Unterschieden im Einzelnen dieselbe Richtung gewiesen. Was sich mir nach 30 Jahren in der Erinnerung als eine gemeinsame Herangehensweise darstellt, lässt sich mit allen Vorbehalten folgendermaßen rekonstruieren: 1 Zur differenzierenden Erfassung dieses Verhältnisses vgl. aus jüngerer Zeit Möllers, Gewaltengliederung, 2005, S. 157 ff. 2 Scholz und Schmidt-Aßmann, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: VVDStRL Band 34 (1976), S. 145 ff. und 221 ff. 3 Scholz: Habilitation in München, 1971 Ruf an die Freie Universität; SchmidtAßmann: Habilitation in Göttingen, 1972 Ruf an die Ruhr-Universität.

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– Weder verfassungsrechtlich geboten noch verwaltungspolitisch sinnvoll erschien es uns, die seinerzeit von großen Teilen der Fachöffentlichkeit befürwortete Juridifizierung des Verwaltungshandelns noch weiter voranzutreiben. Das Verwaltungsrecht stand damals – in der Literatur stärker als in der Judikatur – noch ganz im Zeichen der Rechtsschutzorientierung auf der Grundlage des vielbemühten Art. 19 Abs. 4 GG: 25 Jahre lang hatte man in diese Verfassungsvorschrift viel hinein- und noch mehr aus ihr herausgelesen. Das Aufspüren wirklicher oder vermeintlicher Rechtsschutzdefizite war eine gern geübte Beschäftigung in Fachzeitschriften. Verwaltungstätigkeit war danach Gesetzesanwendung und diese wiederum reine Subsumtion; sie konnte nur zu einer richtigen Entscheidung führen, die im Streitfall durch die Gerichte zu treffen war. Das Verwaltungsermessen war bis auf eine Randposition zurückgedrängt. Zwischen Gesetzgebung und Justiz blieb der Exekutive nach den damaligen Vorstellungen kaum eigener Raum. – Unsere Überlegungen gingen demgegenüber dahin, statt des Rechtsschutzes zunächst einmal die Verwaltungsaufgaben und das Verwaltungshandeln selbst in das Blickfeld zu rücken und dabei die Eigenständigkeit der Verwaltung herauszustellen. Die Gesetzgebung und Judikatur z. B. zum Städtebaurecht und zu dem sich entwickelnden Umweltrecht schienen uns sehr viel differenziertere Verwaltungsstrukturen offenzulegen, als sie von den Modellvorstellungen der herrschenden Lehre erfasst wurden. Ein darauf abgestimmtes Konzept gerichtlicher Kontrolle musste entwickelt werden. Dafür gab es reiches Anschauungsmaterial z. B. in den Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts vom 12.12.1969 und 5.7.1974, in denen der 4. Senat eine durchdachte Dogmatik der planerischen Abwägung entwickelt hatte.4 Richterpersönlichkeiten vom Format eines Horst Sendler, Felix Weyreuther und Wolfgang Zeidler entfalteten unserer Ansicht nach eine sehr viel treffendere Rollenverteilung zwischen Verwaltung und Justiz, als es eine am Rechtsschutzmaximum ausgerichtete akademische Lehre bisher verstanden hatte.5 Weyreuthers Schrift „Verwaltungskontrolle durch Verbände?“ (1974) etwa war weit mehr als eine Auseinandersetzung mit Details der umweltrechtlichen Verbandsklage. Sie war eine aus der Erfahrung des Richters geschriebene Positionsbestimmung der Verwaltungsgerichtsbarkeit angesichts einer sehr komplexen, mit gesetzlichen Gestaltungsermächtigungen ausgestatteten Verwaltung. 4

BVerwGE 34, 301 ff. und 45, 309 ff. Zu Zeidlers und Weyreuthers Wirken am Bundesverwaltungsgericht s. Redeker, Richterpersönlichkeiten – Erinnerungen eines Anwalts, in: Schmidt-Aßmann/Sellner/Hirsch/Kemper/Lehmann-Grube (Hrsg.), Festgabe 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, 2003, S. 127 (145 ff.). 5

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Für unsere stärker an der Verwaltungsrealität ausgerichteten Überlegungen bot der Begriff der Verwaltungsverantwortung in unserem Thema einen sicheren Ankerpunkt. Verantwortung sollte in diesem Zusammenhang in seiner heuristischen Bedeutung entfaltet werden.6 Im Referat von Scholz liest sich das so:7 „Als Verwaltungsverantwortung sind diejenigen Verantwortlichkeiten und Verfahren, Zuständigkeiten und spezifischen Handlungsspielräume zu verstehen, die das System ‚öffentliche Verwaltung‘ rechtlich und politisch verfassen. Die Empirie des Systems ist an der realen politischen und sozioökonomischen Entwicklung orientiert. Sie definiert die Verwaltung nicht abstrakt, vermittelt aber konkrete Erkenntnisse von den typischen und legitimen Strukturen verwaltungsmäßiger Kompetenz und verwaltungsförmigen Entscheidungen“. Die damit umschriebene Zwischenstellung des Begriffs zwischen Empirie und normativem Auftrag leitet zu einer Reihe von Kriterien, in denen die administrative und die judikative Tätigkeit am Recht zu unterscheiden sind – mit Folgen der Rückgewinnung eines einheitlichen Begriffs des Verwaltungsermessens.8 Auch für meine Überlegungen spielte die heuristische Funktion der Verwaltungsverantwortung eine zentrale Rolle. Dabei wollte ich mich nach der zwischen uns besprochenen Verteilung der Schwerpunkte vor allem um die komplexen Verwaltungsentscheidungen, vor allem solche des Planungs- und Umweltrechts, kümmern. Ich vergegenwärtigte mir die Interessenstrukturen und die verfahrensrechtlichen Schritte, in denen solche Entscheidungen getroffen werden und gab eine aufgabenbezogene Typologie der Verwaltungsverantwortung, die mir im weiteren Verlauf des Referats dazu diente, das Zusammenspiel von Entscheidung und Kontrolle genauer aufzuschlüsseln. Gemeinsam gingen wir von unterschiedlichen Konkretisierungsbefugnissen der Exekutive und der Judikative gegenüber dem Gesetz aus. Diese Erkenntnis musste notwendig dazu führen, die Eigenständigkeit der Zweiten Gewalt zu betonen. Die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG spielte in beiden Referaten zwar eine Rolle. Sie war aber nicht der alles dominierende Leitstern, sondern ihrerseits von mancherlei Rahmenbedingungen des einfachen Rechts abhängig. Zudem machten die komplexen Verwaltungsentscheidungen und die ihnen zugeordneten mehrpoligen Verwaltungsrechtsverhältnisse nur zu deutlich, dass das Schlagwort von der „Rechtsschutzeffektivität“ keineswegs notwendig ein Maximum an Kontrollaufwand und Kontrollintensität bedeuten konnte; denn in Verhältnissen, an denen mehrere Personen mit gegensätzlichen Interessen beteiligt sind, bedeutet Maximie6 Vgl. dazu nur Röhl, Verwaltungsverantwortung als dogmatischer Begriff?, in: Die Verwaltung/Beiheft Nr. 2, 1999, S. 33 ff. 7 Scholz, Verwaltungsverantwortung (Fn. 2), S. 149. 8 Dazu unten III.

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rung zugunsten des einen stets eine Verkürzung zu Lasten des anderen Grundrechtsträgers. Als mich Rupert Scholz einige Jahre später fragte, ob ich Kommentierungsarbeiten im „Maunz/Dürig“ übernehmen wolle, fiel mein Augenmerk nicht zufällig auf Art. 19 Abs. 4 GG. Die Diskussion unserer Referate am zweiten Tag der Augsburger Tagung hob hervor, dass es beiden Vortragenden darum gegangen sei, die Eigenständigkeit der Verwaltung herauszuarbeiten und in Fragen des Verwaltungsrechtsschutzes eine gegenüber der bisherigen Lehre veränderte Perspektive anzunehmen. Im Übrigen erfuhren wir auch in Detailfragen Zustimmung zu dem Versuch, zu einem Konzept eines „adäquaten“ (Scholz) oder „ausgewogenen“ (Schmidt-Aßmann) Rechtsschutzes zu gelangen, einzelne kritische Bemerkungen natürlich vorbehalten. Jedenfalls waren wir am Abend mit uns selbst, unseren Ergebnissen und ihrer Aufnahme im Kreise der Staatsrechtslehrer recht zufrieden. Nicht zufrieden allerdings war ein junger Kollege aus Hamburg, der auf der Tagung schon die Feder gespitzt hatte: Wolfgang Hoffmann-Riem. Seinen Tagungsbericht für das Archiv des öffentlichen Rechts, der im Frühling 1976 erschien, leitete er folgendermaßen ein:9 „Der Bericht will weniger beschreiben als analysieren. Ihm geht es nicht um bloße Berichterstattung, sondern um eine kritische und damit notwendig subjektive Würdigung der Tagung.“ Ein solcher Vorspruch ließ natürlich schon einiges an Kritik erwarten. Die folgte dann auch auf dem Fuße: In den Ausführungen von Scholz leuchtete dem Rezensenten die Unterscheidung zwischen „metajuristischen“ und „politischen“ Richtigkeitsmaßstäben nicht ein; die Debatte sei auf begrifflicher Ebene geblieben, ohne dass die Chance bestanden hätte, nach bestimmten Faktoren des Metajuristischen zu suchen.10 Meinen konkreten rechtspolitischen Vorschlägen erging es nicht besser: ihnen wurde zwar „eine hohe Plausibilität in dem gewählten Ableitungszusammenhang“ zugebilligt, eine tiefergreifende Begründung jedoch vermisst.11 HoffmannRiem schloss mit der Feststellung12, der Rang der Rechtswissenschaft als Wissenschaft zeige sich auch daran, wie weit Fragen nach der Gesetzesbindung, der Verwaltungsverantwortung und der gerichtlichen Entscheidungskompetenz unter Aufarbeitung der politischen, ökonomischen und sozialen Interessenkonflikte beantwortet würden. Dem waren wir – wie der Kritiker deutlich zu erkennen gab – nicht ganz gerecht geworden. 9 Hoffmann-Riem, Bericht über die Jahrestagung 1975 der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, in: AöR Bd. 101 (1976), S. 89 (90). 10 Hoffmann-Riem, Bericht (Fn. 9), S. 96. 11 Hoffmann-Riem, Bericht (Fn. 9), S. 98. 12 A. a. O. S. 100.

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Die Referenten von 1975 haben dem Kritiker das nicht nachgetragen; sie haben in den Folgejahren sogar einiges von ihm angenommen: Der damalige Mitberichterstatter hat gemeinsam mit dem Kritiker seit 1990 immerhin zehn Tagungen zur „Reform des Verwaltungsrechts“ durchgeführt, bei denen immer wieder auch das Thema der „anderen normativen Orientierungen“ der Verwaltung eine Rolle spielte, für die besondere Kontrollmechanismen gefunden werden müssen.13 Der Berichterstatter von Augsburg hat den dafür besonders wichtigen Methodenband dieses Gemeinschaftsunternehmens14 im Archiv des öffentlichen Rechts detailliert und zustimmend rezensiert.15 Bei so viel Gemeinsamkeiten zwischen allen dreien in den Grundlagen bedarf es fast schon keines Hinweises mehr, dass auch die Eigenständigkeit der Verwaltung heute als konsentiert gelten kann.16 II. Verantwortungsteilung nach Maßgabe des einschlägigen Rechts Persönliche Begegnungen sind bei der Dogmenbildung freilich nicht alles – im Gegenteil: Hier regieren natürlich zunächst einmal die harten Vorgaben des Verfassungsrechts und des Europarechts, regelmäßig gestützt nicht allein auf eine Vorschrift, (auch nicht allein auf Art. 19 Abs. 4 GG), sondern nach Maßgabe der systematischen Interpretation auf ein ganzes Beziehungsgefüge von Vorschriften. „Denn die Verfassung ist ein Sinngefüge, bei dem einzelne Gewährleistungen, und mithin auch Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG, so auszulegen sind, dass auch anderen Verfassungsnormen und -grundsätzen nicht Abbruch getan wird.“17 1. Gesicherte Basis „Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit unterstehen dem Gesetz“.18 In den Rahmen der grundgesetzlichen Gewaltenteilung eingestellt, ist die Grenzziehung zwischen den Verantwortungssphären der Verwaltung und der Verwaltungsgerichtsbarkeit eine solche des Rechts, vor allem des parlamen13 Dokumentiert in der Schriftenreihe zur Reform des Verwaltungsrechts, hrsg. v. Hoffmann-Riem und Schmidt-Aßmann. 14 Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004. 15 Scholz, in: AöR Bd. 129 (2004), S. 639 ff. 16 Scholz, Verwaltungsverantwortung (Fn. 2), S. 163 ff.; Schmidt-Aßmann, Verwaltungsverantwortung (Fn. 2), S. 229 ff.; ders., Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, S. 198 ff.; Hoffmann-Riem, in: Hoffmann-Riem/ Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts (GVwR), Bd. 1, 2006, § 10, Rn. 70 ff. 17 BVerfGE 60, 253 (267). 18 Scholz, Verwaltungsverantwortung (Fn. 2), S. 161.

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tarischen Gesetzgebers. Nicht mehr und nicht weniger ist auch in Art. 19 Abs. 4 GG festgelegt. Den Gerichten wird kein Auftrag zu einer Totalkontrolle erteilt, sondern Rechtsschutzgewährung nach Maßgabe des einschlägigen Rechts.19 Die Exekutive kann sich dieser Kontrolle nicht entziehen. Sie ist freilich auch nicht gehalten, ihre Handlungen so zu treffen, dass diese so schnell und soweit wie irgend möglich „klägerfreundlich“ vor die Gerichte gebracht werden können. Die Gerichte dürfen ihren Rechtsschutzauftrag aus eigener Macht weder verkürzen noch erweitern. Wo das einschlägige Recht Entscheidungskriterien nicht hergibt, sind sie nicht befugt, Kontrollmaßstäbe zu erfinden. Auch das Verhältnismäßigkeitsprinzip ermächtigt nicht dazu, im Gewande einer überdehnten Rechtmäßigkeitsprüfung eine Zweckmäßigkeitskontrolle zu betreiben. Zutreffend heißt es in einer jüngeren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts20: „Gerichtliche Kontrolle endet also dort, wo das materielle Recht der Exekutive in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise Entscheidungen abverlangt, ohne dafür hinreichend bestimmte Entscheidungsprogramme vorzugeben.“ Hält ein Gericht eine gesetzliche Regelung für so unbestimmt, dass dadurch Verfassungsrecht verletzt wird, so hat es nach Art. 100 Abs. 1 GG vorzugehen. Solche Fälle sind aber eher selten; regelmäßig verlangt ist eine hinreichende, keine maximale Gesetzesbestimmtheit. Daher gilt: „Die gerichtliche Kontrolle der zweck- und rechtskonkretisierenden Verwaltungsentscheidungen ist soweit beschränkt, wie deren Gegenstand (auch) außerrechtlich beschaffen ist.“21 2. Unnötige Turbulenzen Die aufgezeigte Grundlinie wird allerdings gelegentlich durch Entscheidungen aus Karlsruhe verunsichert. Zwei Fälle sollen hier besprochen werden, weil sie typisch für eine ganz bestimmte verfassungsgerichtliche Entscheidungssituation sind: die Situation von Verfassungsbeschwerden, die zu Perspektivenverzerrungen führen kann. Der Beschwerdeführer und seine Grundrechte rücken hier gelegentlich so stark in das Zentrum des Verfahrens, dass alle anderen Belange – es mögen grundrechtlich gesicherte Interessen Dritter, institutionell gefestigte Interessen des Staates oder allgemeine Gemeinwohlbelange sein – ganz in den Hintergrund treten. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar schon früh davor gewarnt, durch Anknüpfung an einzelne Grundrechte ein „grundrechtsspezifisches Sonderverfahrens19 Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 19 Abs. 4, Rn. 180 ff.; Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz, Art. 19 IV, Rn. 125 ff.; Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 505 ff.; Krebs, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 19, Rn. 65. 20 BVerfGE 103, 142 (156 f.). 21 Scholz, Verwaltungsverantwortung (Fn. 2), S. 174.

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recht“ zu schaffen,22 das die Verlässlichkeit der prozessrechtlichen Dogmatik auflöst und insbesondere mehrpoligen Interessenlagen nicht gerecht wird. Es hat sich in den hier zu behandelnden Entscheidungen über diese Erkenntnis einer distanzschaffenden und ordnenden Kraft der allgemeinen Anknüpfung jedoch hinweggesetzt. (a) Ein erstes Beispiel bildet das sog. Indizierungsrecht. Für dieses damals noch auf das Gesetz gegen jugendgefährdende Schriften gestützte Recht hatte das Bundesverwaltungsgericht in einem vielbeachteten Urteil vom 16.12.1971 der Bundesprüfstelle eine Beurteilungsermächtigung bei ihrer Entscheidung darüber zugesprochen, ob ein Druckwerk auf die Liste gefährdender Schriften zu setzen sei.23 Am gesetzlichen Tatbestandsmerkmal der „Eignung“ zur Jugendgefährdung anknüpfend stellte der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts unter seinem Präsidenten Zeidler fest, bei solchen Indizierungsentscheidungen gehe es nicht lediglich um die Feststellung von Tatsachen und deren Subsumtion, sondern auch um ein vorausschauendes und zugleich richtungsweisendes Urteil mit erheblichem Einschlag wertender Elemente. Das Bundesverwaltungsgericht verwarf die Vorstellung, die Anwendung solcher Gesetzestatbestände könne nur zu einer richtigen Lösung führen, als Fiktion. Es folgte einem Vorschlag Konrad Redekers, hier von einer „Bandbreite der Entscheidungsmöglichkeiten“ auszugehen, die das Recht in gleicher Weise als vertretbar ansehe.24 Diese Auslegung wurde mit der Existenz eines eigenständigen pluralistisch besetzten Entscheidungsgremiums untermauert: Wenn das Gesetz ein solches Gremium vorsehe, sei es widersprüchlich, wenn die Verwaltungsgerichte befugt wären, aufgrund eigener Ermittlungen mit Hilfe von Sachverständigen ihre Entscheidung an die Stelle der Entscheidung der Prüfstelle zu setzen.25 Ganz anders der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts in seiner Entscheidung vom 27.11.199026: In das Zentrum wird nicht das Gesetz, sondern die Kunstfreiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 GG gerückt. Sie ist die alles beherrschende Norm. Bei einer solchen Perspektive bedarf es schon erheblichen argumentativen Aufwandes, um dem Gesetzgeber den Erlass von Indizierungsvorschriften aus Gründen des Jugendschutzes überhaupt zu gestatten, obwohl letztere verfassungsrechtlich kaum minderen Schutz verdienen. In seiner ganz auf die Verkürzung der Kunstfreiheit ausgerichteten Sicht folgert das Gericht sodann einen „verfassungsrechtlichen Prüfungsauf22

BVerfGE 60, 253 (297). BVerwGE 39, 197 (203 ff.). 24 Redeker, Fragen der Kontrolldichte verwaltungsrechtlicher Rechtsprechung, in: DÖV 1971, S. 757, (762). 25 BVerwGE 39, 197 (204). 26 BVerfGE 83, 130 (138 ff.). 23

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trag“, der sich „bis in die Einzelheiten der behördlichen und fachgerichtlichen Rechtsanwendung“ erstrecken soll.27 Auf die Normstrukturen des ermächtigenden Gesetzes wird dabei sowenig wie auf Kompetenzen und Verfahren bei der Rechtsanwendung Rücksicht genommen. Die aus Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG abzuleitenden Prüfungsanforderungen binden nicht nur die Bundesprüfstelle, sondern auch die Gerichte. Zu letzteren heißt es weiter, sie dürften „den Umfang ihrer Prüfung, ob die Indizierung mit der Kunstfreiheit vereinbar ist, nicht dadurch schmälern, dass sie der Bundesprüfstelle insoweit einen nur eingeschränkten nachprüfbaren Beurteilungsspielraum einräumen“.28 Hier ist schon die Begriffswahl signifikant. Das Thema wird als ein solches eines „Beurteilungsspielraums“ ausgeflaggt. Kritisch muss dem entgegengehalten werden, dass es „Spielräume“ bei der Gesetzesanwendung nicht gibt. Folglich dürfen die Gerichte der Verwaltung einen solchen auch nicht einräumen. Das hat mit dem besonderen Schutz der Kunstfreiheit nichts zu tun, sondern gilt allgemein. Die entscheidende Frage wäre nicht die eines Spielraums, sondern einer „Ermächtigung“ gewesen. Inwieweit eine solche hätte erteilt werden dürfen und ggf. erteilt worden ist, wird vom Bundesverfassungsgericht aber nicht untersucht. Der anschließende Hinweis des Gerichts, seine Ausführungen besagten nicht, dass der Bundesprüfstelle gar kein Beurteilungsspielraum verbleiben könnte, lässt ratlos, weil die zugrunde liegende Konstruktion verfehlt ist, den Schutz des Art. 5 Abs. 3 GG unter Ausschluss aller Zwischenstufen mit einer gerichtlichen Endentscheidung kurzzuschließen, die praktisch nur eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts selbst sein kann. (b) Nur wenige Monate später wendet sich derselbe Senat in zwei Entscheidungen vom 17.04.1991 der gerichtlichen Kontrolle von staatlichen Prüfungsentscheidungen zu.29 Ihnen gegenüber wird Art. 12 Abs. 1 GG in Stellung gebracht. Im Lichte dieser Bestimmung soll es zwar nicht unmöglich sein, der Behörde einen „begrenzten Entscheidungsspielraum“ zuzubilligen, der sich aus dem Grundsatz der Chancengleichheit rechtfertigen soll, denn „mit diesem Grundsatz wäre es unvereinbar, wenn einzelne Kandidaten, indem sie einen Verwaltungsgerichtsprozess anstrengten, die Chance einer vom Vergleichsrahmen unabhängigen Bewertung erhielten“.30 Dieser „Spielraum“ wird aber eng bemessen: Unterschiedliche Auffassungen zwischen Prüfer und Prüfling über Fachfragen sollen die Verwaltungsgerichte im Streitfall ggf. unter Heranziehung von Gutachtern selbst entscheiden. Erkannt wird nur ein „prüfungsrechtlicher Bewertungsspielraum“, dem ein 27 28 29 30

BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE

83, 83, 84, 84,

130 (145). 130 (148). 34 ff. und 59 ff. 34 (52).

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„angemessener Antwortspielraum“ des Prüflings gegenübergestellt wird. Zur Konkurrenz beider Spielräume heißt es: „Eine vertretbare und mit gewichtigen Argumenten folgerichtig begründete Lösung darf nicht als falsch bewertet werden“.31 Um diese Einsicht als allgemeinen Bewertungsgrundsatz gegenüber einer abweichenden verwaltungsgerichtlichen Praxis durchzusetzen, hätte es des großen Begründungsaufwands nicht bedurft. Die Rechtfertigung einer Beurteilungsermächtigung aus dem Gedanken der Chancengleichheit im Prüfungswesen passt im Grunde nur für Standardprüfungen, wird aber ihrerseits brüchig, wenn es um singuläre Prüfungen, z. B. um die Bewertung von Dissertationen und Habilitationsschriften geht. Die Legitimation einer Beurteilungsermächtigung folgt nicht aus dem Umweg über Art. 3 Abs. 1 GG, sondern aus der Entscheidung des Gesetzgebers, kompetente Gremien und geeignete Verfahren vorzusehen, in denen die ordnungsgemäße Bewertung der vom Prüfling getroffenen Fachaussagen sichergestellt wird. 3. Letztlich doch nur ein Intermezzo In der Fachwelt riefen die Entscheidungen zunächst erhebliche Unsicherheiten hervor. Wer sich Rechtsschutz auch sonst nur als Kontrollmaximum vorstellen kann, erhoffte einen „grundlegenden Perspektivenwechsel“.32 Horst Sendler sprach demgegenüber von einem „Scherbenhaufen verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung“.33 Zu solchem Pessimismus gibt es jedoch keine Veranlassung mehr. Heute sind Kontrollbegrenzungen in der Praxis – nach vorsichtigen, aber noch undeutlichen Selbstkorrekturen in der Entscheidung desselben Senats vom 16.12.199234 – im Prüfungsrecht, im Beamtenrecht und in zahlreichen anderen Rechtsgebieten erneut oder wieder anerkannt.35 Eine Kammerentscheidung des 2. Senats vom 29.05.2002 bestätigt, dass für die Begriffe der „Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung“ in Art. 33 Abs. 2 GG schon von Verfassungs wegen eine nur begrenzte verwaltungsgerichtliche Kontrollbefugnis bestehe, und verweist auf die das beamtenrechtliche Bewertungswesen prägenden Verwaltungsverfahren, die einen ausreichenden Grundrechtsschutz im Verfahren sicherstellten.36 31

BVerfGE 84, 34 (55). Geis, Die Anerkennung des „besonderen pädagogischen Interesses“ nach Art. 7 Abs. 5 GG, DÖV 1993, S. 22 (24). Kritisch, weil eine noch weitergehende Kontrolle fordernd Ibler, Rechtspflegender Rechtsschutz im Verwaltungsrecht, 1999, S. 372 ff. 33 Sendler, Die neue Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Anforderungen an die verwaltungsgerichtliche Kontrolle, DVBl. 1994, S. 1089 (1100). 34 BVerfGE 88, 40 (56 ff.). 35 Vgl. BVerwGE 99, 74 (77 f.): Prüfungsrecht; BVerwGE 106, 263 (266 ff.) und 111, 22 (23): rahmenrechtliche Beurteilung. Weitere Nachweise bei Kopp/Ramsauer, Verwaltungsverfahrensgesetz, 9. Aufl. 2005, § 40, Rn. 71 ff. und 92 ff. 32

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Die verfassungsrechtlichen Entscheidungen der Jahre 1990/1991 erscheinen so als ein Intermezzo, auf das das Wilhelm-Busch-Zitat passt: „Als der Dampf sich nun erhob, sieht man Lämpel, der – gottlob – lebend auf dem Rücken liegt, doch er hat was abgekriegt.“ Was hat die Beurteilungsermächtigung abgekriegt? Negativ wirkt nach wie vor die Ängstlichkeit mancher fachgerichtlicher Entscheidung nach, Beurteilungsermächtigungen anzuerkennen.37 Unbefriedigend ist ferner ein gerade in den kleineren Lehrbüchern zum Verwaltungsrecht anzutreffender Hang, Beurteilungsermächtigungen als etwas verfassungsrechtlich Bedenkliches hinzustellen und sie auf enge Ausnahmen zu beschränken38 – ein Unternehmen, das umso besser gelingt, je weniger man Gegenauffassungen und die Vielfalt unterschiedlicher Gesetzestatbestände, die die Verwaltung programmieren, zur Kenntnis nimmt. Dieses Defizit ist jüngst allerdings durch Matthias Jestaedts Beitrag zu dem von Erichsen und Ehlers herausgegebenen Lehrbuch ausgeglichen worden.39 Die Neuausrichtung des Lehrstoffes gelingt hier, weil der Autor die kategoriale Unterscheidung zwischen Beurteilungsermächtigung und Ermessen, die bisher die herrschende Lehre bestimmte, überwindet, zwischen beiden Rechtsfiguren nur graduell-quantitative Unterschiede feststellt und ein einheitliches Grundmodell administrativer Entscheidungsfreiräume entwickelt. In dem zur gleichen Zeit erschienenen ersten Band der „Grundlagen des Verwaltungsrechts“ entfaltet Wolfgang Hoffmann-Riem ein ähnliches Konzept von einer administrativen Letztentscheidungsmacht, die nach Maßgabe des zugrundeliegenden materiellen Gesetzesrechts zu bestimmen ist.40 III. „Prinzipiell einheitliches Verwaltungsermessen“ Damit haben Einsichten nunmehr Eingang auch in die Handbücher und Lehrbücher gefunden, die Rupert Scholz schon 1975 auf der Augsburger Staatsrechtslehrertagung formuliert hatte41: „In der Konsequenz führt dies 36

BVerfG – K – NVwZ 2002, 1368 f. Besonders ausgeprägt in BVerwGE 94, 307 ff. zur sog. sensorischen Beurteilung von Weinen bei Zuerkennung einer amtlichen Prüfungsnummer. Zutreffende Kritik dazu bei Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht Bd. 1, 11. Aufl. 1999, § 31, Rn. 16. 38 Vgl. etwa Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Aufl. 2006, § 7, Rn. 31; Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 2006, Rn. 358 ff.; Hufen, Verwaltungsprozeßrecht, 6. Aufl. 2005, § 25, Rn. 45 ff.; knapp, aber differenzierend Peine, Allgemeines Verwaltungsrecht; 8. Aufl. 2006, Rn. 225 ff. 39 In: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 13. Aufl. 2006, § 10, Rn. 27 ff. 40 In: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, GVwR, Band 1 (Fn. 16), § 10, Rn. 70 ff.; auch Poscher, dort § 9, Rn. 56 ff.; Möllers, Gewaltengliederung (Fn. 1), S. 163 ff. 37

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zur Anerkennung eines prinzipiell einheitlichen Verwaltungsermessens, das typologisch – unter Aufgabe der Lehre vom Beurteilungsspielraum – in Tatbestands-, Rechtsfolge- und Gestaltungsermessen zu gliedern ist“. Viel zu lange hat die überkommene Lehre mit dogmatischen Zäsuren gearbeitet, die die Probleme verschleiern. Inzwischen hat auch der Blick auf das EGRecht und die Rechtsordnungen der Nachbarstaaten den Bedarf nach einer Konzeptänderung erhöht.42 Die Grenzziehung zwischen „Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsgerichtsbarkeit“ lässt sich nicht allein aus der Kontrollperspektive gewinnen. Vielmehr muss es zunächst darum gehen, die unterschiedlichen Bauformen der gesetzlichen Tatbestände zu erfassen, die die Verwaltung steuern sollen.43 Die Exekutive ist eine durchgängig gesetzesdirigierte Gewalt, für die eine adäquate Gesetzesanwendungslehre zu entwickeln ist. Erst daran können sich Überlegungen zu einem adäquaten Kontrollmodell anschließen. Die beiden Eckpfeiler der Verantwortungsteilung zwischen Verwaltung und Justiz sind die normative Ermächtigungslehre (1) und das Modell der Abwägungskontrolle (2). 1. Die normative Ermächtigungslehre Mit der normativen Ermächtigungslehre wird die These von der zentralen Funktion des parlamentarischen Gesetzes im Gefüge der grundgesetzlichen Gewaltenteilung fortgeführt.44 Normenstrukturelle und kompetenzrechtliche Gesichtspunkte werden in einer Auslegungslehre zusammengeführt. Freischwebende Konstruktionen grundrechtlicher oder anderer Provenienz sollen von ihr auf den Boden des konkreten Normmaterials zurückgeholt werden. Das war in der Zeit eines gerichtsschutzdominierten verwaltungsrechtlichen Denkens nicht einfach. Die entscheidenden Konturen erhielt die Lehre 1982 in der „Sasbach“-Entscheidung.45 In dieser Entscheidung stellte der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts klar, dass Art. 19 Abs. 4 GG eine vollständige gerichtliche Verwaltungskontrolle dort nicht fordere, wo „normativ er41 Scholz, Verwaltungsverantwortung (Fn. 2), S. 167. Ähnlich Schmidt-Aßmann, Verwaltungsverantwortung (Fn. 2), S. 252 f. 42 Ausführlich Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, 2001, S. 147 ff. 43 Vgl. dazu Scholz, Verwaltungsverantwortung (Fn. 2), S. 175 ff. 44 Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG (Fn. 19), Art. 19 Abs. 4, Rn. 185 ff.; Wahl, Risikobewertung der Exekutive und richterliche Kontrolldichte, in: NVwZ 1991, S. 409 ff.; Schoch, Der unbestimmte Gesetzesbegriff im Verwaltungsrecht, Jura 2004, S. 612 (616). 45 BVerfGE 61, 82 (111); vgl. auch schon die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 26.03.1981 (BVerwGE 62, 86, 98), in der unter Bezugnahme auf Kellner, DÖV 1969, 309, von einer „normativen Handlungsermächtigung“ gesprochen wird.

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öffnete Gestaltungs-, Ermessens- und Beurteilungsspielräume“ bestehen. Diesen Gedanken aufgreifend und den Charakter der normativen Ermächtigungsgrundlage als Auslegungslehre herausstellend, formuliert das Bundesverwaltungsgericht folgendermaßen46: „Diese Ermächtigung und Einräumung eines gerichtlich nur beschränkt kontrollierbaren Entscheidungsspielraums muss ihrer Art und ihrem Umfange nach den jeweiligen Rechtsvorschriften zumindest konkludent entnommen werden können, denn im Rahmen der rechtsstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes ist es die Aufgabe des Gesetzgebers, unter Beachtung der Grundrechte die Rechtspositionen zuzuweisen und auszugestalten, deren gerichtlichen Schutz Art. 19 Abs. 4 GG voraussetzt und gewährleistet“. Der darin liegende Rückverweis auf das zugrunde liegende Sachrecht, das im Regelfall einfaches Gesetzesrecht ist, wird allerdings von zwei Seiten angegriffen47: – Einige Kritiker stehen Letztentscheidungskompetenzen der Exekutive zwar durchaus positiv gegenüber, sie wollen solche aber nicht aus dem Text der einschlägigen Normen sondern aus funktionellen Gesichtspunkten, z. B. einer für den besonderen Fachbereich bestehenden besonderen Kompetenz der Verwaltung, ableiten.48 Ihnen ist zu entgegnen, dass eine Ermächtigung notwendig eine normative Grundlage haben muss. Das Normenmaterial, das zur Auslegung heranzuziehen ist, beschränkt sich regelmäßig nicht auf den Text einer einzigen Vorschrift, sondern umgreift Verfahrens-, Zuständigkeits- und Organisationsregeln, in die das materielle Recht eingebunden ist. Die systematische Auslegung dieses Regelungsgefüges gibt auch funktionellen Erwägungen Raum, indem sie nach dem in diesen Vorschriften typischerweise zugrunde gelegten spezifischen Konkretisierungsprofil der Verwaltung fragt. Gerade an dieser Stelle wird ein heuristischer Begriff wie der der „Verwaltungsverantwortung“ wirksam. Dogmatischen Gehalt gewinnen die dadurch vermittelten Kriterien aber erst, wenn sie sich auch im Normprogramm nachweisen lassen.49 – Ein anderer Teil der Kritiker bezweifelt die Auslegungsmöglichkeiten, weil er die normative Ermächtigungslehre und damit die Anerkennung administrativer Letztentscheidungsbefugnisse als solche ablehnt, mindes46

BVerwGE 100, 221 (225 f.). Dazu mit zutreffender Gegenkritik Jestaedt, in: Allgemeines Verwaltungsrecht (Fn. 39), § 10, Rn. 35. 48 So z. B. Ossenbühl, Gedanken zur Kontrolldichte in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, in: Festschrift für Redeker, 1993, S. 55 ff.; Pache, Tatbestandliche Abwägung (Fn. 42), S. 74 ff. 49 Vgl. dazu die Auslegungshilfen bei Hoffmann-Riem, in: GVwR Bd. 1 (Fn. 16), § 10, Rn. 91 f.; Jestaedt, in: Allgemeines Verwaltungsrecht (Fn. 39), § 10, Rn. 51 ff. 47

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tens aber auf seltene Ausnahmefälle beschränken möchte. Im Hintergrund dieser Bedenken steht Art. 19 Abs. 4 GG. Übersehen wird bei dieser Kritik, dass die Rechtsschutzgarantie in hohem Maße eine normgeprägte Garantie ist. Das gilt nicht nur für die Kontrollmaßstäbe, sondern auch für das subjektive Recht und für die Fragen der Wirksamkeit des Rechtsschutzes. In allen diesen Punkten füllt erst das einfache Recht die Tatbestandsmerkmale des Art. 19 Abs. 4 GG aus. Die normative Ermächtigungslehre steht hier strukturell in Parallele zur Schutznormlehre. Beide Lehren sind tatbestandsimmanente Interpretationslehren des Art. 19 Abs. 4 GG.50 Beide belassen es in Übereinstimmung mit den allgemeinen Methodenlehren nicht beim Wortlaut und bei den Vorstellungen des historischen Gesetzgebers zu einer einzelnen Vorschrift, sondern ziehen das gesamte normative Umfeld zur Auslegung heran. Richtet man den Blick auf das jeweils einschlägige gesetzliche Steuerungsprogramm, das die jeweilige Verwaltungsentscheidung programmiert, so relativiert sich auch die Aussage, kontrollreduzierte Räume seien im Verwaltungsrecht die Ausnahme. Feststellungen zum Ausnahmecharakter passen allein für jenen Ausschnitt, in dem die Fälle des „klassischen Beurteilungsspielraums“ liegen. Das sind die Gebiete des Prüfungs-, Berufszulassungs- und Beamtenrechts. Weitet man die Betrachtung und bezieht das Planungs-, Infrastruktur- und Wirtschaftsrecht ein, so verschieben sich die Relationen erheblich. Die Einschätzungsprärogativen werden häufiger, je deutlicher die Begriffsumsetzung von der Vollzugsebene auf die Regierungsebene verlagert ist. Vollends brüchig wird die These vom Ausnahmecharakter administrativer Letztentscheidungsbefugnisse angesichts derjenigen Tatbestände, die ein Rechtsfolgenermessen, ein Planungsermessen oder ein Finalprogramm festlegen. Hier sind ausdrücklich zuerkannte, konkludente und in der Struktur des Normprogramms angelegte Letztentscheidungsermächtigungen sogar eher der Regelfall, ohne dass der Gesetzgeber der Pflicht unterläge, solche Ermächtigungen besonders zu rechtfertigen. Steuerungswissenschaftlich geht es darum, eine geeignete Programmstruktur zu finden und gesetzestechnisch auf den Begriff zu bringen. Der Gesetzgeber verfügt eben über „unterschiedliche Arten der Zuteilung von Letztentscheidungsmacht“.51 Er darf in den durch das Bestimmtheitsgebot gezogenen Grenzen auf die Fixierung rechtlicher Maßstäbe auch ganz verzichten und der Exekutive dadurch Freiräume schaffen, die freilich niemals zu einer „gesetzesfreien“ im Sinne einer rechtsfreien Verwaltung führen dürfen. Unterschiedliche Formulierungstechniken sind bis zu einem gewissen Grade 50 Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG (Fn. 19), Art. 19 Abs. 4, Rn. 127 ff. und 187 f. 51 So Hoffmann-Riem, in: GVwR, Bd. 1 (Fn. 16), § 10, Rn. 89.

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austauschbar. Unbestimmte Gesetzesbegriffe, die eine Letztentscheidungskompetenz umgreifen, können sich folglich auf der Tatbestands- ebenso wie auf der Rechtsfolgenseite befinden. Vom „Ausnahme“-Charakter von Letztentscheidungsbefugnissen kann man also nur sprechen, wenn man wichtige Teile der Verwaltungsrechtsordnung ausblendet. Ähnlich unzutreffend ist der Hinweis, solche Ermächtigungen seien ausgeschlossen oder nur in engen Grenzen dort zulässig, wo Grundrechte berührt würden. Dass diese Aussage nicht einmal für das Eingriffsrecht gilt, zeigt bereits die polizeirechtliche Generalklausel, die traditionell eine Ermessensklausel ist. Das Grundrechtsargument hat in diesem Zusammenhang zwar eine landläufige Plausibilität. Es suggeriert aber eine Differenzierungsmöglichkeit, die nicht existiert. In welchen verwaltungsgerichtlichen Verfahren sind Grundrechte nicht berührt? Wenn man mit der herrschenden Lehre Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht interpretiert, in Abwehrrechten zugleich Schutzrechte sieht und aus den Gleichheitsrechten ein engmaschiges Maßstabsgeflecht macht, ist kaum ein Prozess denkbar, in dem nicht auch mindestens eines dieser Grundrechte berührt sein kann. Als allgemeine Formel genutzt ist die Bezugnahme auf Grundrechte wenig aussagekräftig. Für die Frage nach einer administrativen Letztentscheidungsbefugnis, und damit für die Nutzbarkeit im Rahmen der normativen Ermächtigungslehre, eignet sich nur eine präzise Inbezugnahme besonderer grundrechtlicher Schutzinteressen, die ihrerseits im Zusammenhang mit den ihnen im einfachen Recht zugewiesenen Schutzmechanismen zu bewerten sind. 2. Modell der Abwägungskontrolle Wenn das Verwaltungsermessen künftig wieder als einheitliches Institut eigenständiger administrativer Rechtskonkretisierung verstanden werden soll, dann ist es geboten, auch für die gerichtliche Ermessenskontrolle ein einheitliches Muster zu entwickeln, das den spezifischen Kontrollrastern, die zu den einzelnen Typen der Letztentscheidungsermächtigungen entwickelt worden sind, einen umgreifenden Rahmen bieten kann. Die Vielfalt der bisher genutzten Raster für die Kontrolle des Rechtsfolgenermessens, der Prognosen, des Planungsermessens oder der Beurteilungsermächtigung (i. e. S.) ist eher zufällig gewachsen. In der Tat lassen sich die in der Judikatur zu § 40 VwVfG und § 114 VwGO als Ermessensfehler bezeichneten Mängel im Hinblick auf die neuere umfassende Ermessenslehre als Fehler der Maßstabsergänzung rekonstruieren.52 Eine systematische Rechtswissenschaft muss darauf dringen, dass die in den einzelnen Kontrollrastern ange52 So Hoffmann-Riem, GVwR (Fn. 16), § 10, Rn. 88; ähnlich Wolff/Bachof/ Stober, Verwaltungsrecht (Fn. 37), § 31, Rn. 63 f.

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legten Wertungsschwellen auf ihre Stimmigkeit im Vergleich mit anderen Begriffen untersucht und gegebenenfalls angeglichen werden. Eine bessere Strukturierung der von den Gerichten ihrer begrenzten Kontrolle zugrundezulegenden Prüfungskriterien spielte schon 1975 in Augsburg eine Rolle. Auf Rupert Scholz geht ein zweistufiges Modell zurück, das zwischen der Kontrolle der konkreten Maßstabsbildung und der maßstabsimmanenten Kontrolle der konkreten Verwaltungsentscheidung unterscheiden wollte.53 Mein Vorschlag, der sich auf die Kontrolle komplexer Verwaltungsentscheidungen bezog, rückte die vom Bundesverwaltungsgericht entwickelte Abwägungsdogmatik in den Mittelpunkt.54 Die gesetzlichen Abwägungsdirektiven sollten nach Maßgabe der von Kellner entwickelten Faktorenlehre überprüft werden, während für das Ermessen selbst an die Unterscheidung von Abwägungsvorgang und Abwägungsergebnis angeknüpft wurde. In jüngerer Zeit hat Michael Gerhardt ein Grundmuster für die Fälle begrenzter gerichtlicher Kontrolle aus der planerischen Abwägungsdogmatik entwickelt,55 in dessen Rahmen die bekannten Kontrollraster als Spielarten zu behandeln sind.56 Er bezeichnet es allgemein als Abwägungsmodell und stellt es für alle Ermessensentscheidungen dem für gebundene Entscheidungen geltenden Modell nachvollziehender Verwaltungskontrolle gegenüber. Das Abwägungskontrollmodell nimmt die Handlungsperspektive der neueren Ermessenslehre auf und orientiert sich daher vorrangig prozedural. Als solche ist es zweistufig aufgebaut: – Zunächst werden die rechtlichen Voraussetzungen der Ermessensermächtigung überprüft. An welche Tatbestandsmerkmale ist sie gebunden? Ist von ihr Gebrauch gemacht? Sind Verfahrensvorschriften und sonstiges zwingendes Recht beachtet? Liegt ein Missbrauch der Ermächtigung vor? Diese Punkte sind vom Gericht vollständig zu kontrollieren. – Auf der zweiten Stufe ist die Kontrolle an den Begriffen der Abwägungsdirektiven, des Abwägungsmaterials und der Abwägung ausgerichtet. Die Abwägungsdirektiven sind Konkretisierungsermächtigungen, die die Verwaltung im Blick auf das Gesamtergebnis bei der Stoffauswahl leiten und nur begrenzter Kontrolle offenstehen. Die Tatsachen des Abwägungsmaterials sind gerichtlich sorgfältig unter Beachtung im materiellen 53

Scholz, Verwaltungsverantwortung (Fn. 2), S. 175 f. Schmidt-Aßmann, Verwaltungsverantwortung (Fn. 2), S. 254 ff. Eine Fortentwicklung ist das zwischen § 114 VwGO und den in der Rechtsprechung herausgebildeten Kontrollfragen bei Beurteilungsermächtigungen vermittelnde Modell bei Schmidt-Aßmann/Groß, Zur verwaltungsgerichtlichen Kontrolldichte nach der Privatgrundschul-Entscheidung des BVerfG, NVwZ 1993, S. 617 (624). 55 In: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, Vorbemerkung zu § 113, Rn. 19 ff. und § 114, Rn. 4 ff. 56 So zutreffend Jestaedt, in: Allgemeines Verwaltungsrecht (Fn. 39), § 10, Rn. 43. 54

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Recht begründeter spezifischer Ermittlungsaufträge der Behörde aufzuklären. Wo das zu Erkenntnisgrenzen führt, ist im Dialog mit den Parteien möglichst weit vorzustoßen. Gegebenenfalls sind Sachverständige heranzuziehen. Umgekehrt kann besonders sachverständigen Aussagen der Verwaltung praktisch die Bedeutung eines Sachverständigengutachtens zuwachsen, das nur mit hohem Argumentationsaufwand erschüttert werden kann.57 – Die Kontrolle der Abwägung selbst bezieht sich vorrangig auf den Abwägungsvorgang und die darin sichtbaren Faktoren der Begründung. Wie in anderen Rechtsordnungen auch, sollte das Durcharbeiten der Begründung der Hauptpunkt der Abwägungskontrolle sein.58 Das ist keineswegs nur ein rein formaler Vorgang. Das Abwägungsergebnis kann demgegenüber – je nach der Dichte der Direktiven – nur darauf überprüft werden, ob Belange in einer zu ihrer objektiven Gewichtigkeit außer Verhältnis stehenden Weise behandelt sind. Mit der objektiven Gewichtigkeit ist dann – freilich erst in der letzten Prüfungsphase – ein Evidenzkriterium eingeführt. Beruht die Verwaltungsentscheidung auf sachgerechten Erwägungen, ist sie vom Gericht als rechtmäßig anzuerkennen. Fehlt es daran, so ist sie aufzuheben. Das Gericht kann nicht selbst nachbessern. Dieses Grundmodell der Abwägungskontrolle ist ein dogmatisches Konstrukt, das der „Kontrolle der Kontrolle“ dienen soll. Damit verfolgt es ein für den Rechtstaat zentral wichtiges Ziel, auf das Rupert Scholz in seinem akademischen und in seinem praktischen Wirken immer wieder hingewiesen hat und dem er sich dauerhaft verpflichtet weiß: dem Ziel, die Konsistenz der Rechtsordnung zu gewährleisten.

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So BVerwGE 91, 211 (216). Ähnlich Ramsauer, in: FG 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, S. 699 (718 ff.): Technik nachvollziehender Kontrolle. 58

Der Freiheit verpflichtet Von Jörg Schönbohm I. Erinnerungen an die gemeinsame Zeit Im September 1988 bestellte der Verteidigungsminister Rupert Scholz den damaligen Divisionskommandeur Jörg Schönbohm zu einem Vorstellungstermin. Es wurden nur Andeutungen gemacht und es gab keine Hinweise auf den Zweck des Gesprächs. Ich kannte den Minister, der seit Mai im Amt war, nicht persönlich und war daher gespannt. Ich wusste nur, dass Rupert Scholz demselben Geburtsjahrgang wie ich angehört und Berliner ist – das stimmte mich hoffnungsfroh. Unser Gespräch verlief in einer offenen, mit leichter Ironie unterlegten Atmsphäre, die durch den gemeinsamen Verzehr von Zigarillos der Marke Petit Nobel angereichert wurde. Scholz wollte mich kennenlernen und überlegte offenbar, mich zum Leiter seines Planungsstabes zu machen – so hatte ich seine Andeutungen verstanden. Er wollte wohl prüfen, ob die Chemie stimmte. Wenige Tage später bekam ich mündlich den Auftrag des Staatssekretärs, mich am 1. Oktober 1988 als Leiter des Planungsstabes im Verteidigungsministerium zu melden. So wurde ich nach einem einstündigen Gespräch über Nacht zu einem der engsten Mitarbeiter des Ministers. So war er, der Minister Rupert Scholz: entscheidungsschnell, aufgeschlossen und einen Vertrauensvorschuss gewährend. Er arbeitete sich mit einem enormen Fleiß, am Wesentlichen orientiert, in sein neues Aufgabengebiet ein und suchte den intensiven Gedankenaustausch mit Journalisten und Wissenschaftlern. Für mich war es immer eine Freude, an diesen von Witz, Ironie und Intellektualität geprägten Diskussionen teilzuhaben. Rupert Scholz konnte sich sehr schnell von einem Thema einem völlig anderen zuwenden. Wie viele Stunden haben wir nachts im Ministerium oder auf gemeinsamen Dienstreisen zusammengesessen, um uns mit den Grundlagen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu befassen. Für den Minister war es dabei immer von zentraler Bedeutung, dass die Deutsche Einheit weiterhin das Ziel unserer Politik sei. Dass er dabei immer wieder seine Vaterstadt Berlin, die geteilte Hauptstadt der Deutschen, erwähnte, versteht sich von selbst. Seine Jugend in Berlin und die tägliche Erfahrung der Spaltung

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Deutschlands haben ihn tief geprägt. Für Scholz stand zudem fest, dass wir unsere Interessen gegenüber der Sowjetunion nur mit dem atlantischen Bündnis durchsetzen könnten. Besser als viele andere Deutsche wusste er seit den Tagen der Berlin-Blockade die über Jahrzehnte verlässliche amerikanische Unterstützung für die Freiheit Berlins und der Bundesrepublik zu schätzen. So wies er einmal einen unserer Presseleute im Beisein mehrer anderer Mitarbeiter sinngemäß zurecht: „Wie kommen Sie denn auf die Idee, hier von den 15 NATO-Nationen zu sprechen? Sind Sie verrückt geworden? So lange Deutschland geteilt ist, gibt es keine 15 NATO-Nationen! Merken Sie sich ein für allemal, dass es im Moment 15 NATO-Mitgliedsstaaten gibt. Und wenn die Deutsche Einheit kommen sollte, dann erst können wir von den NATO-Nationen sprechen!“ Bei diesem Thema konnte er sehr emotional werden. Ein Höhepunkt seiner Amtszeit als Minister war der Besuch in Moskau als erster bundesdeutscher Verteidigungsminister überhaupt im Rahmen des Kanzlerbesuches im Oktober 1988. Ich erinnere mich noch gut an das Abschlussgespräch zwischen dem Bundeskanzler und Präsident Gorbatschow. Es nahmen auch die Außen- und Verteidigungsminister teil, ich begleitete Minister Scholz. In dieser Runde sagte Scholz zu Kanzler Kohl: „Herr Bundeskanzler, mein sowjetischer Kollege kann Panzer bestellen. Er weiß nicht, was sie kosten, aber er bekommt sie. Wenn ich Panzer bestelle, bekomme ich die nicht, weil Sie wissen, was die kosten.“ Gorbatschow nahm die Bemerkung auf und antwortete: „Ja, so ist es. Wir wissen nicht, was es kostet. Ja, das müssen wir uns erarbeiten!“ Das muss Gorbatschow tatsächlich umgesetzt haben, denn es dauerte anschließend nur noch zwei Jahre, bis die Sowjets einsahen, dass sie pleite waren. Auch als Minister blieb Rupert Scholz ein Freigeist im Politikbetrieb. Ich fragte ihn eines Abends, ob er denn nicht nach Bonn umziehen wolle. Da schaute er mich nachdenklich an und sagte: „Was soll ich denn machen, wenn ich nicht mehr Minister bin? Verteidigungsminister ist ein Job mit täglicher Kündigungsfrist. Ich behalte auch meinen Lehrstuhl in München.“ Scholz hat das dann auch so durchgehalten, um sich seine geistige und materielle Unabhängigkeit von der Politik zu bewahren. Wie richtig seine Entscheidung war, zeigte seine kurzfristige Entlassung bei der Kabinettsumbildung im Frühjahr 1989. Wir waren in Israel gewesen und auf dem Rückflug erhielt er die Weisung, sich nach der Landung sofort beim Bundeskanzler zu melden. Ich fuhr ins Büro und hörte in den Nachrichten von seiner Entlassung, die für mich überraschend kam. Scholz und ich saßen an diesem Abend und in dieser Nacht lange zusammen, um den Ab- und Übergang zu seinem Nachfolger Stoltenberg zu ordnen.

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In diesen schweren Stunden habe ich seine beherrschte Art und Selbstdisziplin besonders schätzen gelernt. Er war natürlich menschlich enttäuscht und fühlte sich vielleicht auch hintergangen – aber er bewahrte Contenance und war für seine Mitarbeiter in diesen Stunden des Abschieds ein Vorbild. Der Fall der Mauer nur wenige Monate später und die Deutsche Einheit waren für ihn und für uns alle das bewegendste Erlebnis. Er hatte das Glück, im Bundestag daran mitzuwirken, seine Erfahrungen, Kenntnisse und Begeisterung für seine Heimatstadt und sein Vaterland einzubringen. So habe ich Rupert Scholz erlebt und begleitet auf dem Weg des Verteidigungsministers, zurück zum Professor und in den Bundestag als Abgeordneter, an der Deutschen Einheit mitwirkend und schließlich in die Berliner Politik. Wir sind darüber Freunde geworden und als ich 1996 in die Berliner Politik ging, war er mir ein wichtiger und verlässlicher Ratgeber. Ich freue mich, dass Rupert seinen Festtag in geistiger und körperlicher Frische feiern kann. Er hat ein vielfältiges und forderndes Berufsleben gemeistert. Und ist dabei der geblieben, der er immer war: ein Berliner Jung, der an seiner Stadt hängt, ein Deutscher, der sein Vaterland liebt und ein Freund, der beständig und zuverlässig ist. Die wissenschaftliche, aber auch in die politische Arbeit von Rupert Scholz war geprägt vom Glauben an die Würde der Person. Staatlicher Allmacht hat er stets misstraut, der Einzelne soll fähig bleiben zu Freiheit und Verantwortung. Dieses Ziel verfolgen auch die Anstrengungen zur Modernisierung der staatlichen Verwaltung, die auf allen Ebenen unserer bundesstaatlichen Ordnung unternommen werden. Dabei treten gerade die Länder untereinander in einen Modernisierungswettbewerb, bei dem Brandenburg in wesentlichen Fragen besondere Anstrengungen unternimmt.

II. „Zukunftswerkstatt Brandenburg“ – aktuelle Entwicklungen der staatlichen Modernisierung 1. Verwaltungsreform als Regierungsaufgabe Die Verwaltungsreform in Brandenburg hat seit 1999 deutlich an Umfang und Geschwindigkeit zugenommen. Mit den im Haushaltssicherungs- und Verwaltungsmodernisierungsgesetz 2003 und der Novelle des Landesorganisationsgesetzes („Modernisierungsgrundgesetz“) konzeptionell verankerten Grundsätzen und Zielen der brandenburgischen Verwaltungsmodernisierung

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sind Strategien verfestigt und organisatorische Umsetzungen in allen Verwaltungsbereichen beschleunigt worden. Die Begleitung und Steuerung des Prozesses durch zentrale Gremien (z. B. Stabsstelle für Verwaltungsmodernisierung, Landesausschuss eGovernment) und die Einbindung der Beschäftigten über die Gewerkschaften im Rahmen eines Beirates zur Verwaltungsoptimierung haben sich bewährt. Es hat sich bestätigt, dass nur ein effektvolles Modernisierungsmanagement die übergeordneten, zusammenhängenden Reformziele erfolgreich verwirklichen kann. Die Bündelung von Entscheidungsbefugnissen in Gremien oder bei einzelnen Ressorts (z. B. für die eGovernment- und IT-Strategie im Innenministerium) hat die Umsetzung der Reformvorhaben inhaltlich und zeitlich begünstigt und Einzelinteressen sinnvoll in die Gesamtstrategie der Landesregierung eingebunden. Trotz des integrativen Ansatzes der staatlichen Modernisierung ließen sich nicht alle politischen Ziele in den ursprünglich gedachten Formen und Fristen verwirklichen. Dazu ist der Reformprozess zu vielschichtig und manchmal auch zu tiefgreifend. Aber die Richtung stimmt! Die brandenburgische Landesregierung stellt sich den veränderten Herausforderungen erfolgreich und modifiziert – wo nötig – Ziel und Weg. Sie begreift die Reform ihrer Verwaltung als politisch geführten Prozess, den sie selbst koordiniert, strategisch steuert und evaluiert. Die Koalitionsvereinbarung für die aktuelle Legislaturperiode unterstreicht die Absicht, diesen als richtig erkannten Weg unbeirrt fortzusetzen und die brandenburgische Verwaltung zu einem effizienten und bürgernahen „Dienstleistungsunternehmen“ zu entwickeln. Dazu bedarf es auch zukünftig aktiver verwaltungspolitischer Führung sowie der Sicherung finanzieller Spielräume. Denn ohne Investitionen gelingt keine Modernisierung. Hinzu kommen unverzichtbar eine umfassende Aufgabenkritik, mutige Deregulierung und Entbürokratisierung, zwei wichtigen Säulen für die Stärkung der Wirtschaftskraft und Standortattraktivität des Landes. Zunehmend an Bedeutung gewinnt die konsequente Nutzung der technischen Möglichkeiten des eGovernment, das eine Schlüsselfunktion bei der Verwaltungsmodernisierung einnimmt und darüber hinaus einen wesentlichen Beitrag zur Erhöhung der Attraktivität Brandenburgs als Wirtschaftsstandort leistet. 2. Aktuelle Rahmenbedingungen der Reform a) Wirtschaftliche und finanzwirtschaftliche Entwicklungen1 Die Lage des Brandenburger Haushaltes ist aufgrund vieler Faktoren sehr angespannt. Diese Feststellung trifft sicherlich auch auf andere finanzschwa1 Siehe Finanzplan des Landes Brandenburg 2006 bis 2010 – Stand vom August 2006.

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che Länder in Ost und West zu. In Brandenburg gibt es jedoch zusätzlich eine Reihe spezifischer Probleme, die den Haushalt noch langfristig belasten werden. Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in Brandenburg im Jahr 2005 blieb hinter dem Bundesdurchschnitt zurück. Das reale Bruttoinlandsprodukt verringerte sich um 1,5% gegenüber dem Vorjahr. Brandenburg lag damit im Vergleich zu den anderen Ländern am unteren Ende der Wachstumsskala. Gründe sind u. a. die unverändert ungünstige Lage am Arbeitsmarkt, der anhaltende Bevölkerungsverlust und die schwache Einkommensentwicklung, die die private Konsumnachfrage stark geschwächt haben. Für 2006 mehren sich zwar die Anzeichen für eine konjunkturelle Besserung, was insbesondere auf die verstärkten Anstrengungen des Wirtschaftsministers um die Ansiedelung von Unternehmen in Brandenburg zurückgeht. Eine durchgreifende und nachhaltige Steigerung der Wirtschaftskraft wird sich daraus aber erst in den kommenden Jahren ergeben können. Hinzu kommt, dass in Brandenburg – wie in den anderen neuen Bundesländern – die Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen im Rahmen des Solidarpakts II bis 2019 kontinuierlich abgeschmolzen werden. Ab 2020 entfallen diese Ergänzungszuweisungen ganz. Das wird sich in erster Linie auf der Ausgabenseite des Haushaltes auswirken, da eine Stärkung der Einnahmeseite von einer Verbesserung der Steuerkraft des Landes abhängt. Hier gibt es für die kommenden Jahre zwar positive Signale, die jedoch nicht dazu führen dürfen, den eingeschlagenen Konsolidierungskurs zu verlassen, da andere Effekte mit zu berücksichtigen sind. Hierzu zählen die zu erwartenden Veränderungen beim Länderfinanzausgleich. Da der Länderfinanzausgleich auf einen Finanzkraftausgleich pro Einwohner ausgerichtet ist, kommt der Bevölkerungsentwicklung für die Ermittlung der Finanzausstattung Brandenburgs ebenfalls eine entscheidende Rolle zu. Bereits in den letzten Jahren reduzierten sich in Folge der überdurchschnittlich sinkenden Bevölkerung die Einnahmen aus Steuern erheblich. Bis 2010 ergeben sich allein daraus Einnahmerückgänge von insgesamt rd. 80 Mio. e. Demgegenüber stieg die Gesamtverschuldung des Landes im Haushaltsjahr 2005 weiter an. Brandenburg verzeichnet nach Sachsen-Anhalt den zweithöchsten Schuldenstand je Einwohner. Der Rückgang der derzeitig überproportionalen Finanzausstattung wird voraussichtlich nicht durch erhöhte Einnahmen zu kompensieren sein. Es steht deshalb außer Zweifel, dass das Verschuldungsniveau nur mit einer konsequenten Konsolidierungspolitik stabilisiert werden kann. Hierdurch entsteht erheblicher Druck auf den Fortgang der Verwaltungsmodernisierung. Die Verwaltungsreform muss weiterhin wesentlich dazu beitragen, dass Kosten bei Personal- und Sachmitteln nachhaltig eingespart werden.

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b) Demografische Entwicklung Laut aktueller Prognose2 wird die Bevölkerungszahl Brandenburgs bis zum Jahr 2030 kontinuierlich um etwa 12.800 Personen jährlich zurückgehen. Wenn am 30. Juni 2005 noch 2,562 Mio. Einwohner in Brandenburg lebten, werden es 2030 nur noch 2,235 Mio. Einwohner sein. Grund sind Geburtenausfälle und Wanderungsverluste infolge der angespannten Arbeitsmarktlage. Besonders betroffen von dieser Entwicklung ist der ohnehin schon dünn besiedelte äußere Entwicklungsraum des Landes. Hier wirkt sich auch die zunehmende Überalterung der Bevölkerung wesentlich stärker aus als es im Berliner Umland der Fall ist. Die demografische Entwicklung trägt nicht nur – wie zuvor geschildert – negativ zur Verringerung der Einnahmenseite des Haushaltes bei, sondern zwingt auch zu Anpassungen in den einzelnen Aufgabenbereichen. Aus wirtschaftlichen Gründen werden weitere Zusammenführungen von Verwaltungen und Konzentrationen von Behördenstandorten sowie von Verwaltungsdienstleistungen geboten sein. Sie dürfen jedoch nicht zu Lasten der Erreichbarkeit durch Bürger und Unternehmen gehen. Hieraus ergeben sich Handlungszwänge für Land, Gemeinden und Gemeindeverbände, für die der Koalitionsvertrag von 2004 die Grundrichtung bereits vorgibt. c) Gestiegene Erwartungen der Bürger und Unternehmen an eine moderne Verwaltung Neben den finanziellen und demografischen Zwängen für eine fortzusetzende grundlegende Veränderung der Verwaltungsstrukturen Brandenburgs sind die Auswirkungen einer veränderten Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland bedeutsam. Bürger und Unternehmen stellen in der heutigen Dienstleistungskultur hohe Anforderungen an die staatliche Verwaltung. Sie wünschen sich effiziente und bürgernahe Dienstleistungen. Die Verwaltung wird längst nicht mehr als staatliche Obrigkeit, sondern in der Rolle eines Verhandlungspartners gesehen, der nicht einzwängt oder gar behindert, sondern begleitet, unterstützt und fördert. Zu diesem erweiterten Verständnis von Bürger- und Kundenorientierung gehört eine aktivierende Verwaltung, die dem Bürger mehr Eigenverantwortung überträgt und keine bürokratischen Hemmnisse aufbaut. Einfache, verständliche Gesetze, klare Verfahrensstrukturen, kurze Verwaltungswege und zügige Leistungserbringung in möglichst hoher Qualität werden als Standard erwartet. Durch das Internet im privaten Bereich an grenzenloses Einkaufen und Beschaffen von In2 Siehe Finanzplan des Landes Brandenburg 2006 bis 2010 – Stand vom August 2006 (Fn. 1).

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formationen gewöhnt, soll nunmehr auch die Verwaltung über elektronische Verfahren rund um die Uhr erreichbar sein. EGovernment soll Wege und Arbeitszeiten verkürzen. Unternehmen fordern Entlastungen von Bürokratie, die Zeit und Geld sparen, um ihnen zu ermöglichen, schnell und kostengünstig zu arbeiten, zu expandieren und Gewinne zu erzielen. Überbordende Vorschriften und Bürokratiekosten schrecken Investoren ab, sie werden als Standortnachteil angesehen. Dies zwingt uns ebenso wie andere Länder zu umfassender Deregulierung und Entbürokratisierung sowie zu verstärkter Nutzung technischer Möglichkeiten, wenn wir Bürger und Unternehmen zufrieden stellen und im Land binden bzw. ins Land bekommen wollen. Sowohl die demografische als auch die wirtschaftliche Entwicklung fordern uns auf diesen Gebieten mehr denn je. Hier muss die Verwaltung mit Hilfe der verwaltungsreformerischen Maßnahmen neue Akzeptanz suchen. 3. Was wird von dem zukünftigen Reformprozess erwartet? Die Strategie einer zentralen Steuerung der Verwaltungsreform hat erste Früchte getragen: die jährlich fortgeschriebene Personalbedarfsplanung, die den erforderlichen sozialverträglichen Personalabbau ressortübergreifend festlegt, die strukturellen Veränderungen in allen Bereichen der Landesverwaltung, die großen Reformprojekte (Polizeireform, Forstreform), die Bildung von Landesbetrieben, die Bündelung und Privatisierung von Aufgaben, die vom Innenministerium konzipierte und gesteuerte eGovernmentStrategie sowie die Deregulierungsbemühungen in allen Bereichen haben bereits zur Verschlankung der Verwaltungsstrukturen, zur Verflachung der Hierarchie, Verbesserung der Effizienz und zur Konsolidierung des Haushaltes beigetragen. Gleichzeitig hat sich innerhalb der Landesregierung der Wille gefestigt, mit einer zielstrebigen Fortführung dieses Prozesses einen spürbaren und nachhaltigen Erfolg zu erzielen. Der eingeleitete Veränderungsprozess muss vor dem Hintergrund der Wirtschaftslage, dem zunehmenden Kostendruck und den Folgen der demografischen Entwicklungen weiter beschleunigt werden. Der öffentliche Dienst muss sich mehr denn je bewusst werden, dass er als bedeutsamer Teil der Infrastruktur des Landes mit der Umsetzung der politischen Reformvorgaben wesentliche Voraussetzungen für eine positive wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung schafft. Insofern muss er sich seiner Verantwortung stellen und seine Anpassung an die Notwendigkeiten einer modernen Verwaltung forcieren. Das Bild der künftigen Landesverwaltung muss noch stärker als bisher von – Kostenbewusstsein,

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– energischem Bürokratieabbau und konsequenter Deregulierung sowie einer – umfassenden Nutzung der Möglichkeiten des eGovernment geprägt sein. Die Landesverwaltung muss deshalb in ihrer Struktur und ihren Abläufen durch einen verstärkten Einsatz betriebswirtschaftlicher und informationstechnischer Mittel weiter optimiert und durch eine nachhaltige Aufgabenkritik auf ihre Kernkompetenzen begrenzt werden. Die Prüfung kostengünstigerer Organisationsformen (z. B. Privatisierung oder Zentralisierung) sowie einer länderübergreifenden Zusammenarbeit, die sich nicht nur auf Berlin beziehen darf, müssen auch zukünftig im Fokus unseres Handelns stehen. Wesentliche Impulse müssen von einer wirksamen Deregulierungs-Offensive und der Einführung der Kosten-Leistungsrechnung (KLR), der Haushaltssteuerung über Budgets und Zielvereinbarungen sowie der konsequenten Umsetzung und Weiterentwicklung der eGovernment-Strategie ausgehen. Im Zusammenwirken dieser Instrumente muss mehr betriebswirtschaftliches Denken und Steuern durch bessere Kosteninformationen, unternehmerische Führungskultur mit mehr Ergebnisverantwortung sowie klarer Kundenorientierung und weniger Bürokratie erreicht werden. Das Bewusstsein um die Notwendigkeit, grundlegende Reformen zu implementieren, und um die Unumkehrbarkeit dieses Prozesses muss weiter stabilisiert werden. Die Mitarbeiter müssen mit ihren Fachkenntnissen und Fähigkeiten, Optimierungspotenziale zu erkennen, noch stärker als bisher in den Prozess eingebunden werden. Bei fortgesetzten Kostensenkungen und Umstrukturierungen werden Personalreduzierungen zunehmen. Die Mitarbeiter gleichwohl zu motivieren und anzuspornen, ist eine der wichtigsten Aufgaben des Personalmanagements im Rahmen des kommenden Reformprozesses. Hinzu kommen muss eine Fortbildungsoffensive, die das Verwaltungspersonal in die Lage versetzt, mit den Entwicklungen in seinem Arbeitsumfeld Schritt zu halten. 4. Schwerpunkte des aktuellen Reformprozesses a) „Modernisierungsgrundgesetz“ Seit dem 1. Juni 2004 legt das neue Landesorganisationsgesetz die Eckpunkte der Verwaltungsmodernisierung fest. Es soll im Sinne eines „Modernisierungsgrundgesetzes“ den laufenden Prozess der Umgestaltung der Landesverwaltung nachhaltig unterstützen und vertiefen sowie die wesentlichen innovativen Maßnahmen für die Zukunft dauerhaft sichern. Damit wurde ein wesentlicher Grundstein für die aktuelle Arbeit der Landesregierung gelegt, da das Landesorganisationsgesetz alle Handlungsvoraussetzungen für

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die Verwirklichung der zuvor beschriebenen Erwartungen an den Reformprozess geschaffen hat. Das Gesetz sieht den verstärkten Einsatz betriebswirtschaftlicher und informationstechnischer Mittel sowie eine nachhaltige Aufgabenkritik zwecks Zurückführung der Landesverwaltung auf ihre Kernkompetenzen vor. Es trifft verbindliche Aussagen zur Privatisierung sowie zur länderübergreifenden Zusammenarbeit, insbesondere mit dem Land Berlin, zur Dienstleistungsorientierung, zum Kostenbewusstsein und zur Konzentration auf die staatlichen Kernaufgaben. Abbau von Bürokratie sowie umfassende Nutzung von eGovernment sollen das Bild der künftigen Landesverwaltung prägen. Zugleich werden der in Brandenburg bewährte zweistufige Verwaltungsaufbau und der damit verbundene Verzicht auf eine Mittelinstanz fortgeschrieben. Der Grundsatz der Einräumigkeit der Verwaltung erfährt eine Stärkung durch die gesetzliche Festlegung von sechs Verwaltungsregionen, an denen sich die Zuständigkeitsbereiche der unteren Landesbehörden zu orientieren haben. Parallel zur Novelle des Landesorganisationsgesetzes wurden Mitte 2004 zwei Landesoberbehörden (Landesbergamt sowie Landesamt für Geowissenschaften und Rohstoffe), dreizehn untere Landesbehörden (drei Ämter für Soziales und Versorgung, vier Ämter für Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik sowie sechs Ämter für Immissionsschutz) und eine Landeseinrichtung (Landesinstitut für Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik) aufgelöst bzw. zusammengeführt. Zwei neue Landesoberbehörden (Landesamt für Bergbau, Geologie und Rohstoffe sowie Landesamt für Arbeitsschutz), das Landesamt für Soziales und Versorgung sowie das Landesumweltamt übernahmen die Aufgaben und das Personal der in den jeweiligen Fachbereichen aufgelösten Behörden. b) Zentrale Steuerung des Reformprozesses Seit 1999 beriet ein Staatssekretärsausschuss für Verwaltungsoptimierung, bestehend aus dem Chef der Staatskanzlei und den Amtschefs des Innenund des Finanzministeriums, alle Modernisierungsprojekte der Landesregierung. Die zentrale Koordinierung und Steuerung der Verwaltungsmodernisierung wurde im Jahr 2004 dem Minister der Finanzen im Rahmen der Regierungsneubildung nach der Landtagswahl übertragen. Das Abstimmungsverfahren innerhalb der Landesregierung wurde dadurch gestrafft. Eine gesonderte Beratung der Projekte der Verwaltungsmodernisierung im Rahmen des früheren Staatssekretärsausschusses für Verwaltungsoptimierung war dadurch nicht mehr erforderlich. Als Folge dieser Aufgabenzuweisung wurden die Stabsstelle für Verwaltungsmodernisierung sowie die zentrale Koordinierung des Personalmanagements und die Stellenbörse des

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Landes, die bis dahin zur Staatskanzlei gehörten, in das Ministerium der Finanzen verlagert und in einem Referat zusammengeführt. Im Innenministerium wurde im Jahre 2003 die Abteilung „Strategische Planung und Innovation“ (SP) gegründet. Sie schuf die Grundlage für eine gezielte strategische Neuausrichtung der Informationstechnologie (IT) und des eGovernment-Prozesses in der gesamten Landesverwaltung. Mit der eGovernment- und IT-Leitstelle liegt die zentrale Koordinierung für eGovernment-Vorhaben und für den IT-Einsatz in der gesamten Landesverwaltung in der Verantwortung des Innenministers. Hiermit wurde der Grundstein für die Einführung einheitlicher ressortübergreifender elektronischer Verfahren gelegt. Zur Beschleunigung des Bürokratieabbaus hat die Staatskanzlei im Jahre 2005 eine „Leitstelle für Bürokratieabbau“ eingerichtet, die in Zusammenarbeit mit dem vom Landtag eingerichteten Sonderausschuss zur Überprüfung von Normen und Standards den Prozess der Normenprüfung und Deregulierung sowie die Projekte zur Bürokratiekostenmessung und -senkung ressortübergreifend steuert und koordiniert. Die Verwaltungsmodernisierung in Brandenburg wird durch den Beirat zum Prozess der Verwaltungsmodernisierung begleitet, dem der Minister der Finanzen, der Minister des Innern sowie Vertreter der Beschäftigten (Gewerkschaften, Beamtenbund) angehören. Zweck dieses Gremiums ist es, im Modernisierungsprozess möglichst einen Konsens zwischen der Landesregierung und den Gewerkschaften herzustellen und die Beschäftigten einzubeziehen. Der Beirat wird bei Maßnahmen der Verwaltungsmodernisierung an der Entscheidungsfindung beteiligt und gibt eigene Voten ab. Die endgültige Entscheidung trifft die Landesregierung. c) Neues Finanzmanagement Seit April 2005 werden die bisherigen Bemühungen Brandenburgs um die Modernisierung des Rechnungswesens unter der Bezeichnung „Neues Finanzmanagement Land Brandenburg“ zusammengefasst. Das neue Finanzmanagement führt insbesondere die seit 2002 unter dem Begriff „Pilotprojekt Kosten-Leistungsrechnung“ laufenden Einführungsprojekte unter einem Dach zusammen. Dies wurde notwendig, da das Gesamtprojekt mittlerweile weit mehr umfasst als die Einführung einer Kosten- und Leistungsrechnung, einem Instrument des internen Rechungswesens und der dezentralen Ressourcensteuerung. Das Projekt „Neues Finanzmanagement Brandenburg“ befasst sich mit der Einführung von vollständigen kaufmännischen Rechnungswesensystemen (Doppik) für Landesbetriebe, der Einführung einer integrierten Ka-

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meralistik mit der Möglichkeit zur outputorientierten Budgetsteuerung, der Einführung reiner KLR-Lösungen für ministerielle Bereiche sowie mit der Standardisierung der dabei erarbeiteten Konzeptionen hin zu einem „Landesreferenzmodell Rechnungswesen“ für die gesamte Landesverwaltung. Das Pilotprojekt KLR, das die Aufgabe hatte, praktische Erfahrungen mit verschiedenen Ausprägungen eines neuen Rechnungswesens zu sammeln, um Empfehlungen für eine flächendeckende Anwendung in der Landesverwaltung geben zu können, wurde im Januar 2005 erfolgreich beendet. Es befindet sich nun in der Umsetzungsphase, die bis 2007 dauern soll. Nach dem Beschluss des Kabinetts vom Dezember 2005 sind darüber hinaus die Vorbereitungen für eine landesweite Einführung des „Neuen Finanzmanagements“ in vollem Gange. Ziel ist es, klare Informationen über Kosten und Nutzen der einzelnen Verwaltungsleistungen zu bekommen, da die Frage nach den Konsequenzen für eine Verwaltung bei Entscheidungen zum Ressourceneinsatz gerade in Zeiten zunehmend knapper werdender öffentlicher Mittel immer drängender wird. Das klassische kameralistische Rechnungswesen ist dazu nur unzureichend in der Lage. Als größte Probleme des klassisch kameralistischen Rechnungswesens gelten die überwiegende Inputsteuerung, die fehlenden Informationen über den tatsächlichen Ressourceneinsatz und -verbrauch, die Trennung von Ressourcen- und Fachverantwortung (und der damit geringe Gestaltungsspielraum der Mitarbeiter) und die geringen Anreize zum wirtschaftlichen Handeln. Im Rahmen des Neuen Finanzmanagements im Land Brandenburg werden an die jeweilige Organisationseinheit angepasste, moderne Steuerungselemente eingeführt, die helfen sollen, die Schwachstellen des klassischen kameralistischen Rechnungswesens zu beheben und den Wandel der Entscheidungslogik von der Input- zur Outputorientierung zu unterstützen. Die Zielvorstellungen im Einzelnen: – Eine den tatsächlichen Verhältnissen entsprechende Darstellung der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Landes; – Transparenz und Datensicherheit bei Haushaltsaufstellung und Haushaltsdurchführung sowohl für die – Exekutive als auch für die Legislative; – Effizienz- und Kostenkontrolle bei der Bereitstellung der Ressourcen; – Mehr Eigenverantwortung und Kostenbewusstsein bei den Einrichtungen des Landes bis hinunter zum einzelnen Mitarbeiter; – Höhere Mitarbeitermotivation durch klare Zuständigkeiten und größere Gestaltungsspielräume im jeweiligen Verantwortungsbereich; – Bürgerorientierter Überblick über die Verwaltungstätigkeit. Mit der flächendeckenden Einführung der KLR und der Erweiterung des Rechungswesens wird darüber hinaus ein anwendbares Instrument für bessere und fundierte politische Prioritätensetzung geschaffen. Mittels zusätz-

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licher, steuerungsrelevanter Informationen und der Verknüpfung von Politikfeldern mit Produkten der Verwaltung soll für das Land Brandenburg mittelfristig ein wirksamorientiertes Haushalten ermöglicht werden. Eines muss allerdings klar herausgestellt werden: Die Einführung betriebswirtschaftlicher Steuerungselemente und eines neuen Finanzmanagements wird in der Landesverwaltung schon aufgrund der viel komplexeren Zielsetzungen der öffentlichen Hand nicht (wie in der Privatwirtschaft) als alleiniges Entscheidungskriterium dienen können. Betriebswirtschaftliche Instrumente heben nicht die politische Rationalität der Entscheidungen auf. Sie können aber dabei unterstützen, die definierten Ziele und Wirkungen von Verwaltungshandeln so effizient wie möglich zu erreichen. d) Strukturveränderungen (1) Verkauf der Landeskliniken Im Rahmen einer aufgabenkritischen Bewertung sowie in Umsetzung des Haushaltsstrukturgesetzes 2000 und des Haushaltssicherungsgesetzes 2003 hat die Landesregierung beschlossen, die vier in Trägerschaft des Landes befindlichen Landeskliniken durch Verkauf aus der Landesverwaltung herauszulösen. Mit dem Verkauf der vier letzten noch in Landesträgerschaft verbliebenen Kliniken wird dieses bedeutende Projekt im Prozess der Verwaltungsoptimierung unter der Federführung des Ministeriums für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Familie abgeschlossen. Das Land Brandenburg hat sich klar dazu bekannt, dass die Durchführung der stationären psychiatrischen Versorgung genauso wie andere Krankenhausleistungen nicht zum Kernbereich staatlicher Aufgaben gehört. Die Eingliederung der Landeskrankenhäuser in staatliche Strukturen ist nicht mehr zeitgemäß. Aus diesem Grunde hat sich das Land für eine vollständige materielle Privatisierung ohne Einflussnahme auf den Wettbewerb über teilstaatliche Strukturen, wie z. B. Gesellschaftsbeteiligungen oder die Gründung einer Anstalt des öffentlichen Rechts, entschlossen. Gleichwohl erkennt das Land auch künftig seine hohe Verantwortung für die Durchführung des Maßregelvollzuges, der in drei der auszugliedernden Kliniken integriert ist. Die gesetzliche Ermächtigung zur Beleihung Privater mit dieser hoheitlichen Aufgabe ist mit der entsprechenden Änderung des Psychisch-Kranken-Gesetzes des Landes Brandenburg 2004 geschaffen worden. Es wurden unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Beleihung des Maßregelvollzuges ein Beleihungsakt und ein sehr differenzierter Beleihungsvertrag entworfen, der dem Land alle Möglichkeiten der Wahrnehmung seiner Aufsichtspflicht gibt. Daneben wird den

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Anforderungen an eine durchgängige Legitimationskette und an eine mitschreitende Aufsicht künftig dadurch Rechnung getragen, dass die für alle grundrechts-relevanten Maßnahmen verantwortlichen leitenden Abteilungsärztinnen und -ärzte und ihre Vertretungen im Landesdienst verbleiben. Mit diesem modernen Ansatz überträgt das Land alle Aufgaben, die nicht zu seinen Kernaufgaben gehören, auf Dritte und beschränkt sich auf die Aufsicht über die hoheitliche Aufgabe des Maßregelvollzugs. (2) Ausgliederung der Rechtsmedizin Die Aufgaben der Rechtsmedizin sollen ganz oder teilweise aus der Landesverwaltung ausgegliedert werden. Derzeit werden diese Aufgaben in allen Bundesländern in öffentlich-rechtlicher Zuständigkeit wahrgenommen. In einem ersten Schritt werden gegenwärtig die rechtlichen Möglichkeiten für eine Ausgliederung geprüft. Nach bisherigen Erkenntnissen wird eine vollständige Ausgliederung der rechtsmedizinischen Aufgaben nur dann zulässig sein, wenn die mit diesen Aufgaben betrauten Ärzte als Gerichtsärzte bestellt sind. Hierzu wäre eine entsprechende gesetzliche Ermächtigung zu schaffen. In einem zweiten Schritt sollen mögliche Geschäftsmodelle untersucht und bewertet sowie deren Wirtschaftlichkeit näher betrachtet werden. (3) Gründung des Landesbetriebes Straßenwesen Mit Wirkung vom 1.1.2005 wurde der Landesbetrieb Straßenwesen des Landes Brandenburg gegründet. Dadurch wurde die Straßenbauverwaltung von einer klassischen, mehrstufigen öffentlichen Verwaltung mit einer kameralistischen Haushaltsführung in eine moderne Organisationsform umgewandelt, die den Zielen der Effizienz und Wirtschaftlichkeit verpflichtet ist. Zeitgleich sind zahlreiche Elemente des Neuen Steuerungsmodells eingeführt worden. Hierbei handelt es sich im Wesentlichen um die Implementierung einer Finanzbuchhaltung (Doppik) und einer Kosten- und Leistungsrechnung mit einem geschlossenen Buchungs- und Kontrollsystem. Darüber hinaus wurden die Grundstrukturen für die Einführung eines Produkthaushaltes und einer zukünftigen Budgetierung entwickelt. Die Steuerung des Landesbetriebs wird über jährlich abzuschließende Zielvereinbarungen sichergestellt. (4) Gemeinsame Luftfahrtverwaltung Im Bereich der Luftfahrtverwaltung hat sich Brandenburg das Ziel gesetzt, eine gemeinsame Aufgabenerledigung mit dem Land Berlin zu errei-

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chen. Die entsprechenden Verhandlungen zwischen den beiden Ländern über die geeignete Form einer gemeinsamen Aufgabenerledigung konnten weitgehend abgeschlossen werden. (5) Modellvorhaben „MoSeS“ Das Modellvorhaben zur Stärkung der Selbstständigkeit von Schulen (MoSeS) wurde zum Schuljahresbeginn 2005/06 auf 18 Schulen ausgeweitet. Damit sind alle Schulamtsbezirke des Landes in das Modellvorhaben und damit in die Erprobung erweiterter Befugnisse der Schulen einbezogen (u. a. Übertragung von Aufgaben der Dienstvorgesetzten auf die Schulleiterin oder den Schulleiter). Mit den Schulen wurden für die nächsten zwei Jahre der Laufzeit des Modellvorhabens erneut Zielvereinbarungen geschlossen. Weitere Schulträger haben mit ihren Schulen Budgetvereinbarungen abgeschlossen. Teilweise wird den Schulen die Möglichkeit eingeräumt, im Rahmen ihres gesetzlichen Auftrags Mittel selbst zu erwirtschaften und diese auf einem Girokonto selbst zu verwalten. Weitere Zuständigkeiten wurden dezentralisiert. So entscheidet jetzt das staatliche Schulamt und nicht mehr das für Schule zuständige Ministerium über die Genehmigung besonderer Wahlpflichtfächer in der Sekundarstufe I. Die Schulen haben größere Spielräume bei der Gestaltung der Wochenstundentafeln erhalten, so dass die gesonderte Genehmigung von abweichenden Organisationsformen durch das für Schule zuständige Ministerium in vielen Fällen nicht mehr erforderlich ist. Die Verteilung der Planstellen und Stellen vom für Schule zuständigen Ministerium zur Bewirtschaftung an die staatlichen Schulämter erfolgt seit 2002/2003 zunehmend pauschaliert. Über Zusatzbedarfe für besondere Projekte oder Maßnahmen, die früher durch das Ministerium gezielt ausgestattet wurden, entscheiden die staatlichen Schulämter im Rahmen ihrer pauschalen Zuweisung. (6) Gründung des Landesbetriebs für Liegenschaften und Bauen In Umsetzung des Haushaltssicherungsgesetzes 2003 des Landes Brandenburg wurden die notwendigen Voraussetzungen geschaffen, um die Liegenschafts- und Bauverwaltung mit Wirkung zum 01.01.06 als Landesbetrieb zu führen. Zur Umsetzung dieser Gesetzesvorgabe wurde eine dreistufige Projektorganisation unter Einbeziehung sämtlicher betroffener Behörden und der jeweiligen Personalvertretungen eingesetzt. Im Brandenburgischen Landesbetrieb für Liegenschaften und Bauen (BLB) soll eine klassische, mehrstufige öffentliche Verwaltung mit einer kameralistischen Haushalts-

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führung in eine moderne Organisationsform umgewandelt werden, die den Zielen der Effizienz und Wirtschaftlichkeit verpflichtet ist. Der Landesbetrieb soll die Funktion eines wirtschaftlichen Eigentümers erhalten und in die Lage versetzt werden, eigenständig, nach kaufmännischen Gesichtspunkten, mit den ihm überlassenen Vermögensgegenständen zu wirtschaften, sie wertmäßig zu erhalten und ihren Wert zu mehren. Die Motivation der Mitarbeiter, ihre Identifikation mit der ihnen übertragenen Aufgabe und „ihrem“ Betrieb sowie ihre Entscheidungskompetenz und ihr Entscheidungswille werden dadurch gestärkt. Der Landesbetrieb wird den Ressorts die von ihnen benötigten Liegenschaften im Rahmen eines Vermieter-Mieter-Modells zur Verfügung stellen. Anders als bisher ergeben sich mit dem neuen Vermieter-Mieter-Modell und der Einführung betriebswirtschaftlicher Steuerungsinstrumente erstmals für jede Landesliegenschaft vollständige Transparenz der mit ihr verbundenen Kosten, die von den Nutzern in Form der Miete an den Landesbetrieb zu erstatten sind. Im bisherigen, auf der traditionellen kameralistischen Haushaltsführung beruhenden System war das nicht möglich. Insbesondere der Vermögensverzehr, der durch Abnutzung eintritt, konnte im Rahmen der kameralen Buchführung nicht erfasst werden. Die mit dem Vermieter-Mieter-Modell zu erreichende transparente sowie verursacher- und periodengerechte Zuordnung sämtlicher Kosten in Verbindung mit der Eigentümerrolle des Brandenburgischen Landesbetrieb für Liegenschaften und Bauen und der Kundenrolle der Ressorts wird bereits mittelfristig zu einer wirtschaftlicheren Nutzung der Liegenschaftsressourcen führen. Insbesondere sind Verbesserungen bei der Bewirtschaftung und Substanzerhaltung zu erwarten. Zudem erhalten die Nutzer einen Anreiz, ihren Flächenbedarf unter wirtschaftlichen Aspekten zu überprüfen und zu optimieren. e) Umfassende Aufgabenkritik im Ministerium des Innern des Landes Brandenburg Im Rahmen einer umfassenden Aufgabenkritik hat das Ministerium des Innern die kritische Hinterfragung aller Aufgaben des Hauses begonnen. In einem ersten Schritt erfolgte die Erfassung der wesentlichen Aufgaben, die dann in Interviews mit den Organisationseinheiten im Hinblick auf Zweck, Notwendigkeit und Umfang der Aufgabenerfüllung kritisch hinterfragt wurden. Im Ergebnis sollen die Kernaufgaben des Ministeriums festgeschrieben, mit Prioritäten versehen und die wichtigsten Geschäftsprozesse optimiert und ggf. standardisiert werden. Bei weniger wichtigen Aufgaben soll eine konsequente Aufwandsreduzierung vorgenommen werden. Aufgaben, die aufgrund der Zweckkritik nicht mehr im Innenministerium erledigt werden sollen, müssen verlagert oder ausgegliedert werden. Nach der Rückführung

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auf Kernaufgaben sowie einer umfangreichen Geschäftsprozessoptimierung soll auch die Vertrauens- und Fehlerkultur sowie die Kommunikation und Interaktion innerhalb der Organisation kritisch betrachtet werden. f) Evaluierung der Reform der Polizei Zum 01. Juli 2002 erfolgte im Zuge der Reform der Polizei des Landes Brandenburg eine weitreichende Organisationsänderung. Damit einher ging die Einführung neuer beziehungsweise die Verfeinerung bestehender Methoden und Instrumente zum Steuern, Führen und Arbeiten in der Polizei. Maßgeblich für den Gesamtprozess waren die Reformziele Wirtschaftlichkeit, effektive Polizeiarbeit, Bürger-/Kundenorientierung sowie Mitarbeiterzufriedenheit. Das zum 17. November 2003 eingesetzte Projekt „Evaluierung der Reform der Polizei“ hatte den Auftrag, die Umsetzung der Reform der Polizei in den Polizeipräsidien und in der Landeseinsatzeinheit der Polizei zu evaluieren. Dazu wurde der Ist-Stand in den Feldern Aufbau- und Ablauforganisation, Personal sowie Technik/Bau/Liegenschaften mittels schriftlicher Abfragen und Vor-Ort-Besuchen erhoben. Anhand eines Vergleiches des in der Reform beschriebenen Soll-Zustandes mit dem erhobenen Ist-Zustand erfolgten Feststellung und Bewertung von Abweichungen. Nach Abschluss der Evaluierung und Auswertung der Evaluierungsergebnisse im März 2005 konnte festgestellt werden, dass die mit der Polizeireform eingeführte Aufbauorganisation anerkannt ist und „gelebt“ wird. Die Strukturveränderungen haben sich bewährt, sie werden positiv bewertet. Handlungsbedarf hat sich jedoch für die Themenfelder Schichtdienstmanagement – Lage- und bedarfsorientierte Planung zum effektiveren und effizienteren Einsatz des Personals, Personalentwicklung und Evaluierung der Kriminalpolizei ergeben. Diesen Fragen wird sich die neu gebildete „Zentrale Projektgruppe – Polizei“ widmen und Organisationsvorschläge erarbeiten. 5. Bürokratieabbau als politische Aufgabe a) Einsetzung eines Sonderausschusses für Normen und Standards Bürokratieabbau bedeutet vor allem, sich zu beschränken, Schwerpunkte zu setzen und bei den Erwartungen an die Ergebnisse realistisch zu bleiben. Die kritische Überprüfung von Normen und Standards ist und bleibt Daueraufgabe für Parlament und Regierung. Mit Beschluss vom 8. Juni 2005 hat der Landtag einen Sonderausschuss zur Überprüfung von Normen und Standards eingesetzt. Er hat die Aufgabe, die Landesregierung bei der Aufgabenkritik zu begleiten und eine umfassende sowie eine aufgabenkritische

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Bewertung der Vorschriften und Gesetze des Landes Brandenburg durchzuführen. Auf dieser Grundlage soll er Empfehlungen für weitere Effizienzsteigerungen der Verwaltung (u. a. Beschleunigung von Genehmigungsverfahren und eGovernment), für Optimierung der Aufgabenerfüllung, für Reduzierung von Standards und Normen und damit für Bürokratieabbau vorlegen. Der Sonderausschuss dient zur parlamentarischen Unterstützung und Begleitung der Aufgabenkritik in der Landesregierung und arbeitet eng mit der Leitstelle für Bürokratieabbau in der Staatskanzlei zusammen. Er ist zunächst tätig bis zum Sommer 2007. Die Ministerien haben dem Sonderausschuss je einen Ansprechpartner benannt und 2005 anhand eines Fragenkatalogs des Ausschusses über ihren Prozess der Aufgabenkritik und Normenprüfung Bericht erstattet. Der Sonderausschuss hat die Berichte der Ministerien beraten und in einem ersten Bericht (Drucksache 4/3060) Empfehlungen für alle Ressorts ausgesprochen. b) Erstes Bürokratieabbaugesetz Mit dem 1. Gesetz zum Abbau bürokratischer Hemmnisse im Land Brandenburg vom 28. Juni 2006 hat Brandenburg ein deutliches Signal für die Schaffung von Freiräumen und die Förderung unternehmerischer Initiative gesetzt. Das Gesetz enthält ein Paket von Regelungen, mit denen Bürger und Unternehmen entlastet werden sollen, dazu gehören unter anderem Erleichterungen durch die Änderung von Vorschriften, z. B. in der Bauordnung (Gebührensenkungen und Zeitersparnis durch Wegfall von Verfahrensschritten; längere Geltungsdauer von Baugenehmigungen), durch Zusammenführung von bauordnungs- und katasterrechtlicher Einmessung, im Fischereigesetz (z. B. Wegfall des Fischereischeins für das Friedfischangeln), durch Liberalisierung der Öffnungszeiten in der Außengastronomie etc. Eine Reihe von überflüssigen Gesetzen und Rechtsverordnungen wird gleichzeitig aufgehoben. In acht Modellregionen (Barnim, Märkisch-Oderland, Spree-Neiße, Oberhavel, Prignitz und Teltow-Fläming sowie die kreisfreien Städte Brandenburg a. d. H. und Cottbus) werden Regelungen beschränkt, zeitlich befristet ausgesetzt bzw. geändert. Neben konkret festgelegten Erprobungen (selbstständige Bewirtschaftung von Stellen, Personal- und Sachmitteln durch die Schulen, Übertragung der Zuständigkeit über abweichende Öffnungszeiten an Sonn- und Feiertagen auf die örtlichen Ordnungsbehörden) ermöglicht eine allgemeine Experimentierklausel die Flexibilisierung von landesrechtlichen Standards. Damit können weitere Projekte in den Modellregionen umgesetzt werden. Vorschläge der Modellregionen werden sogleich zur landesweiten Einführung vorgesehen bzw. haben durch eine veränderte Auslegung auch dazu geführt, dass die Verwaltungspraxis verbessert wurde.

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Mit diesem Gesetz wird ein erster wichtiger Schritt zum Abbau von Überreglementierung und Bürokratie in Brandenburg unternommen. Weitere gesetzgeberische Maßnahmen, z. B. die Novellierung des amtlichen Vermessungswesens, des Wassergesetzes, des Straßengesetzes und des Gesundheitsdienstgesetzes sollen folgen. Außerdem strebt die Landesregierung die Reduzierung von Informations- und Meldepflichten für Unternehmen an. Die Möglichkeiten dazu werden derzeit in Pilotprojekten ermittelt. c) Bürokratieabbau im Ministerium des Innern Im Ministerium des Innern wird der Bürokratieabbau mit besonderem Nachdruck verfolgt, um das Land Brandenburg als besseren Wirtschaftsstandort zu etablieren. Hierzu bedarf es einer serviceorientierten, bürgerund wirtschaftsfreundlichen Verwaltung. Vor dieser Zielstellung hat der Geschäftsbereich des Ministeriums des Innern bereits vielfältige Aktivitäten initiiert, die sich nicht nur auf den Abbau von Normen und Standards beschränken, sondern diesen vielmehr in einem Gesamtkontext mit anderen Themenfeldern wie bspw. der Verwaltungsmodernisierung betrachten. Dabei verfolgt der Geschäftsbereich bestimmte Leitlinien, die sich als Ergebnis bisheriger Entbürokratisierungsbemühungen im Hause, aber auch bundesweit erwiesen haben. Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der Überprüfung von Vorschriften zu, die letztlich oftmals die Grundlage bürokratischer Verwaltungsverfahren bilden. Bereits frühzeitig wurden im Ministerium des Innern Aktivitäten unternommen, den Bürokratieabbau in diesem Sinne voranzutreiben. So hat in einem ersten Schritt vor allem eine zahlenmäßige Reduzierung des Normenbestandes im Sinne einer formellen Deregulierung – Rechtsbereinigung – stattgefunden, um eine bessere Übersichtlichkeit und Handhabung durch Anwender und Adressaten der Regelungen zu erreichen. Viel entscheidender jedoch als die Anzahl der abgebauten ist die Qualität der geltenden Vorschriften im Sinne einer „better regulation“. Aufbauend auf den Erfolgen der bisherigen Rechtsbereinigung wird daher in einem weiteren Schritt der zahlenmäßig verringerte Normenbestand inhaltlich auf Vereinfachungs- und Entlastungsmöglichkeiten hin überprüft, um im Ergebnis verständlichere, übersichtlichere und zeitgemäßere Normen zu schaffen. Einen Baustein bildet dabei unter anderem die Überprüfung der Genehmigungsverfahren. Das hierzu etablierte Vorschriftenmonitoring im Ministerium des Innern sichert die kontinuierliche Überprüfung bestehender Regelungen mit Blick auf sich möglicherweise bietendes Deregulierungspotential. In diesem Zusammenhang war die elektronische Erfassung sämtlicher Vorschriften des

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Geschäftsbereiches ein unerlässliches Hilfsmittel. Auch die Entwürfe neu zu erlassender Vorschriften werden durch die hausinterne Normenprüfstelle im Justitiariat einer entsprechenden Überprüfung anhand der Kriterien der Gemeinsamen Geschäftsordnung für die Ministerien der Landesregierung unterzogen. Im Ergebnis bisheriger Entbürokratisierungsbemühungen wurde aber auch deutlich, dass – gerade im Geschäftsbereich des Ministeriums des Innern – bestimmte Bereiche einer weiteren Deregulierung kaum zugänglich sind und insbesondere in sensiblen Bereichen der Bürokratieabbau mit dem gebotenen Augenmaß erfolgen muss, wenn nicht bestimmte Sicherheitsbelange preisgegeben werden sollen. Eine weitere Zielstellung des Bürokratieabbaus ist eine leistungsfähige und effiziente Verwaltung mit schlanken Strukturen und einer deutlichen Ausrichtung auf die Adressaten. Vor diesem Blickwinkel dürfen die anderen Bereiche nicht ausgeblendet werden. Insbesondere dort, wo auf der reinen Regulierungsebene ein weiterer Bürokratieabbau nicht mehr zu erreichen ist, kann die Vereinfachung des Verwaltungsvollzuges – nicht zuletzt durch E-Government – ebenfalls entbürokratisierend wirken. Im Lichte einer effektiven und effizienten Aufgabenwahrnehmung werden Bearbeitungswege und Arbeitsabläufe durch entsprechende binnenorganisatorische Maßnahmen vereinfacht, wobei gerade hier dem Instrument der Geschäftsprozessoptimierung eine erhebliche Bedeutung beizumessen ist. 6. Messung von Bürokratiekosten Im Land Brandenburg sollen zukünftig die Kosten von Bürokratie in Unternehmen und Verwaltung gemessen werden. Vorbild ist das so genannte Standard-Kosten-Modell aus den Niederlanden, welches seit mehreren Jahren erfolgreich angewandt wird und dazu beigetragen hat, dass dort die Bürokratiekosten bereits erheblich gesenkt wurden. Im Rahmen eines Pilotprojekts sollen zunächst Erfahrungen mit der Anwendung des StandardKosten-Modells auf Landesebene gesammelt werden. Im Vorgriff darauf wurde 2006 auf Initiative des Sonderausschusses zur Überprüfung von Normen und Standards mit Unterstützung einer externen Firma eine Quick Scan Untersuchung durchgeführt. Hierbei wurden alle Brandenburgischen Normen mit Blick auf die enthaltenen Informationspflichten untersucht. Anhand dieser Daten konnten die administrativen Kosten für die Unternehmen, Gemeinden und Bürger ermittelt werden. Im Ergebnis dieses Gutachtens wurden Normen ausgewiesen, die voraussichtlich hohe Lasten auslösen, mit denen es nunmehr umzugehen gilt. Die Landesregierung wird entsprechende Maßnahmen zur Verringerung der administrativen Lasten einleiten. Ein

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weiterer Baustein in diesem Zusammenhang wird im Rahmen der Normenprüfung die Etablierung einer vereinfachten Standardkostenmessung sein, an deren Entwicklung derzeit die Staatskanzlei arbeitet. Letztlich kann der Bürokratieabbau nur dann nachhaltig befördert werden, wenn auch die Bediensteten der Verwaltung entsprechend mitziehen. So sind motivierte und qualifizierte Beschäftigte die wichtigste Ressource auf dem Weg zu einer modernen Verwaltung. Von den Mitarbeitern der Verwaltung wird heute zunehmend verlangt, den Staat, die Verwaltung als Dienstleister gegenüber den Kunden der Verwaltung zu begreifen und ihr Verhalten und Handeln hieran auszurichten. Kundenfreundliche, schnelle Entscheidungen rücken immer mehr in den Fokus. Den Mitarbeitern wird abverlangt, offen zu sein für Veränderungen, die unter anderem aus sich ändernden Rahmenbedingungen resultieren. Auch die kontinuierliche Fortbildung der Mitarbeiter gewinnt angesichts sich zunehmend beschleunigender Innovationszyklen und steigender Anforderungen eine immer größere Bedeutung, der mit der Entwicklung entsprechender Fortbildungskonzeptionen Rechnung zu tragen ist. 7. E-Government a) Verbesserung der internen und externen Kommunikation Die Informations- und Kommunikationstechnik nimmt heutzutage einen immer wichtigeren Platz in unserer Gesellschaft ein. Zunehmend stellt auch im Land Brandenburg die öffentliche Verwaltung ihre Informationen und Dienstleistungen im Internet zur Verfügung mit dem Ziel, für Unternehmen und Bürger den Zugang zur elektronischen Behörde so einfach wie möglich zu gestalten. So sollen die behördeninternen Abläufe und die verwaltungsinterne Zusammenarbeit durch den Einsatz einheitlicher Technologien und Verfahren gestrafft und damit der Service des Dienstleisters Verwaltung nachhaltig verbessert werden. Service, Leistung und Schnelligkeit zählen zu den Leitbildern einer modernen Verwaltung. Moderne Informations- und Kommunikationstechnologien können helfen, die Effizienz der Verwaltung zu steigern, zeitaufwendige Routinearbeiten zu automatisieren und damit die Arbeitsprozesse zu beschleunigen. Ohne den Einsatz von E-Government ist eine moderne Informationsgesellschaft in der heutigen Zeit nicht mehr denkbar. Neue Technologien und Kommunikationsformen sowie Bürokratieabbau, Deregulierung und ressortübergreifende Verwaltungsmodernisierung müssen im Rahmen eines einheitlichen Ansatzes den Alltag in den Verwaltungen prägen. Nicht zuletzt müssen die Instrumente der Verwaltungsmodernisierung und die technischen Möglichkeiten des E-Government konsequent für eine Verwaltung, die sich als kundenorientierter Dienstleister versteht, eingesetzt werden.

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Mit klar definierten Schnittstellen kann eine rasche und reibungslose Datenübertragung ermöglicht werden. Klare Strategien und ein modularer Aufbau von Systemen müssen die nötige Flexibilität für die Einbindung von zukünftigen Technologien gewährleisten. Technologisch neutrale Ansätze, miteinander kompatible Techniken und Systeme (Interoperabilität) und eine enge Kooperation auf allen Verwaltungsebenen stellen das Muss für eine zukunftsorientierte elektronische Verwaltung dar. E-Government ist damit einer von mehreren Schlüsseln zu einer modernen Verwaltung und bedeutet längst mehr als nur das reine Herunterladen von Formularen. E-Government bietet die große Chance, unsere Verwaltung durch moderne Technikunterstützung von Grund auf einfacher, schneller, effizienter, wirksamer, nutzerfreundlicher, transparenter und beteiligungsfreundlicher zu gestalten. b) Bedeutung für den Wirtschaftsstandort E-Government führt dabei zu einer Erweiterung der bisherigen Modernisierungsansätze, mit der letztendlich auch die Dienstleistungsorientierung der Verwaltung eine neue Bedeutung erfährt. Es wird nicht nur der Zugang zur Verwaltung erleichtert, sondern Prozesse und Leistungen werden aus der Perspektive von Unternehmen und Bürger und im Hinblick auf ihren Nutzen definiert. Die Tatsache, dass insbesondere die Unternehmen im Land Brandenburg Nutzer elektronischer Dienstleistungen sind, hat die Landesregierung veranlasst, im Bereich des E-Government einen bedarfsorientierten Ansatz im Sinne eines wirtschaftsorientierten E-Government zu wählen. Kann sich das Unternehmen durch die Online-Erledigung den Gang zur Verwaltung sparen, kann dies zur Einsparung von Aufwendungen, beispielhaft wertvoller Zeit und auch zur effektiveren Einsetzung des von bestimmten Aufgaben entlasteten Personal führen. Damit könnten Brandenburger Unternehmen flexibler auf aktuelle Entwicklungen des Marktes reagieren und sich so einen Vorteil auch im Wettbewerb verschaffen. Eine IT-gestützte Vereinfachung von Verfahren zwischen Wirtschaft und Staat ist daher ein entscheidender Faktor im Standortwettbewerb und damit für den Wirtschaftsstandort Brandenburg. Der Fokus der Modernisierung muss dazu jedoch noch stärker als bisher auf eine Verbesserung der Prozesse und Leistungserbringung, die Einbeziehung politisch-gestaltender und demokratischer Verfahren sowie die Binnenund Außenmodernisierung der Verwaltung gelegt werden. Dies umso mehr, als verbesserte Möglichkeiten der Informationsnutzung und -verarbeitung auch das strategische und planerische Handeln des Landes erleichtern. Verwaltungsprozesse, die orts- und zeitunabhängig sowie ganzheitlich durchgeführt werden können, führen zudem in der Regel zu Aufwand- und Kosteneinsparungen bei Verwaltungen und Nutzern.

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E-Government kann nach alledem einen neuen Schub für die Modernisierung von Staat und Verwaltung bewirken und dessen Motor darstellen. E-Government darf dabei jedoch nicht allein aus einer rein technischen Perspektive verstanden und konzipiert werden; vielmehr müssen rechtliche, politische, finanzielle, organisatorische, personelle und kulturelle Faktoren Berücksichtigung finden. Dies erfordert einen ganzheitlichen Lösungsansatz im Sinne einer Reorganisation von verwaltungsinternen Prozessen und Strukturen im Zuge der Einführung von E-Government. c) Neudefinition von Verwaltungsprozessen Um die Potenziale von E-Government vollständig nutzen zu können, reicht es nicht aus, bereits existierende Verwaltungsprozesse allein mit neuer Technologie zu versehen. Vielmehr bedürfen die Verwaltungsprozesse selbst einer Neudefinition unter Ausschöpfung aller Möglichkeiten, die die moderne Technik bietet; die Gestaltung der Prozesse muss sich an den originären Aufgaben der Verwaltung und den politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen orientieren. Die traditionellen, bisher oft noch papiergestützten Verwaltungsabläufe dürfen nicht unverändert in die digitale Welt eins zu eins übertragen werden. Eine geringe nutzerseitige Nachfrage bestimmter Dienstleistungen bei gleichzeitig hohen Investitionen und geringen Einsparungspotenzialen auf Seiten der Verwaltung, ein zu großer Aufwand bei zu geringer Effizienz kann nicht das Ziel einer modernen und leistungsstarken Verwaltung sein. Vielmehr muss die Einführung des E-Government für alle Beteiligten den elektronischen Rechts- und Geschäftsverkehr so einfach und flexibel wie möglich gestalten und muss vom Nutzer auch tatsächlich angenommen werden. Beispielhaft kann in diesem Zusammenhang die Nachhaltigkeit im Bereich der Wirtschaft benannt werden. Die Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ist eine ständige Aufgabe für die Landesregierung in Brandenburg. Neben der Stärkung kleiner und mittlerer Unternehmen und Anreizen zur Existenzgründung gilt es, den Wirtschaftsstandort Brandenburg noch attraktiver für in- und ausländische Investoren zu machen sowie die Infrastruktur gezielt auszubauen und so die Voraussetzungen für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum zu schaffen. Kostenvorteile sind ein wichtiger Standortfaktor in Brandenburg und leisten einen wichtigen Beitrag zum Erfolg der hier ansässigen Unternehmen. Für Unternehmen ist es besonders wichtig, dass ein Bundesland wie Brandenburg über ein klar strukturiertes elektronisches Dienstleistungsangebot verfügt. Dies kann nur durch die schon eingangs formulierte klare strategische Linie, verlässliche Standardisierungen und die enge Kooperation aller Verwaltungsebenen geschaffen werden. Umgekehrt müssen die Unternehmen veranlasst werden, die erforderliche Infrastruktur

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vorzuhalten. Ziel muss es daher sein, die Unternehmen frühzeitig in die Konzeption von E-Government-Lösungen einzubinden und den konkreten Nutzen der jeweiligen Lösung klar zu ermitteln. Die Landesregierung Brandenburg hat sich dazu in der kürzlich unterzeichneten Vereinbarung mit den Wirtschaftskammern eindeutig bekannt. Begleitende Nutzerbefragungen können darüber hinaus wertvolle Hinweise zur Akzeptanz des E-Government-Angebots liefern. Brandenburg führt eine solche Befragung aktuell zum zweiten Mal durch. Nur wenn sich der Nutzungsgrad von eGovernment-Anwendungen schnell und dauerhaft erhöht, werden die getätigten bzw. zukünftigen Investitionen in die E-Government-Infrastruktur die erhoffte nachhaltige Wirkung erzielen. Insgesamt sehen wir im Aufbau eines attraktiven elektronischen Angebots für die Wirtschaft eine wichtige Komponente der Standortstärkung und erhoffen uns durch eine vertiefte Zusammenarbeit zwischen Verwaltung, Wirtschaft und der Wissenschaft sowie dem besonderen Fokus auf unsere Wachstumsbranchen wertvolle lokale und regionale Synergieeffekte. Mit der Einführung von E-Government-Verfahren muss daher eine möglichst umfassende Untersuchung der zugrunde liegenden Geschäftsprozesse sowie der Schnittstellen zu Kunden und Partnern erfolgen, in die die Mitarbeiter aktiv einzubeziehen sind. Letztendlich sind sie es, die die Anforderungen der Verwaltungskunden und die einzelnen Geschäftsprozesse am besten kennen und insoweit einen wesentlichen Beitrag zum internen und externen Erfolg für eine Einführung von E-Government leisten können. Die dazu erforderliche Technik kann dabei als solche immer nur ein Werkzeug darstellen. d) Bedeutung von E-Government für die Gesamtstrategie Auch positive Veränderungen bedingen jedoch zunächst einen Kostenaufwand, bevor sie Früchte – und diese nicht immer nur in einem betriebswirtschaftlichen Sinne – tragen können. E-Government darf von Politik und Verwaltung deshalb nicht nur und allein als Mehraufwand gesehen werden, der einer zusätzlichen Finanzierung bedarf. Vielmehr muss E-Government als ein Kernelement und unverzichtbares Instrument für eine nachhaltige Verwaltungsmodernisierung verstanden werden. E-Government wird sich dabei ausschließlich am Bedarf und Nutzen orientieren müssen, denn nicht alles, was denkbar ist, lässt sich finanzieren oder schafft einen Mehrwert für alle Beteiligten. E-Government im weiteren Sinne muss nach alledem als Teil einer ganzheitlichen Strategie zur Modernisierung von Staat und Verwaltung verstanden werden und die Aspekte eines klassischen „Change Management“ be-

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rücksichtigen. E-Government darf dabei nicht als vorübergehende Modewelle angesehen werden, sondern muss als ein Prozess begriffen werden, dessen Einführung und Umsetzung dauerhaft und nachhaltig zur Modernisierung von Staat und Verwaltung als eines von mehreren Kernelementen mit beitragen soll. Die Nachhaltigkeit des E-Government-Prozesses bedarf in diesem Sinne der Sicherstellung durch eine umfassende und verbindliche E-Government-Strategie, die Prioritäten setzt, ohne das Gesamtziel aus den Augen zu verlieren. Nur die strategische Planung kann verhindern, dass Entscheidungen von heute nicht zu einer eventuellen Hypothek für spätere Generationen werden. Mit der E-Government-Strategie des Landes Brandenburg (Dachstrategie) vom Februar 2003, die die konzeptionellen Ausgangs- und Rahmenbedingungen für die eGovernment-Aktivitäten der Landesregierung enthält, der IT-Standardisierungsrichtlinie mit der IT-Strategie vom Juni 2004 und dem Masterplan E-Government der Landesregierung vom August 2004 mit dem ihm zugrundeliegenden Aktionsplan E-Government wurden im Land Brandenburg die entscheidenden Strategiepapiere zur Sicherstellung der Nachhaltigkeit des E-Government-Prozesses geschaffen. Gerade in Zeiten begrenzter Ressourcen müssen wirksame E-Government-Strategien auf langfristige Planung angelegt sein, um den Anschluss in der E-Government-Entwicklung nicht zu verlieren und einen realistischen Rahmen zu schaffen. Die Dokumente bilden im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie sowie des E-Government daher das strategische Gesamtpaket zur Begleitung des Ausbaus der elektronischen Verwaltung. Sie stellen für die Landesverwaltung den verbindlichen Rahmen für die planmäßige und zielgesteuerte Umsetzung des E-Government-Prozesses im Land Brandenburg dar. Der Masterplan verfolgt dabei das Ziel, die Aktivitäten im Bereich des E-Government über Bundes-, Landes- und kommunale Grenzen sowie über Ressortgrenzen hinweg mit Bezug auf die Zielgruppen in ihrer Komplexität aufzuzeigen, sie sachgerecht zu verknüpfen sowie durch politischen und fachlichen Rückhalt zu befördern. Die Landesregierung hat mit dem Masterplan eGovernment und der IT-Strategie den Handlungsrahmen unter dem Vorbehalt der Haushaltslage bis 2008 festgelegt. Sie geht dabei konform mit dem von der Ministerpräsidentenkonferenz am 17. Juni 2004 beschlossenen Zeithorizont, der die Bereitstellung aller onlinefähigen Verwaltungsdienstleistungen in Deutschland bis zum Jahr 2008 vorsieht. Mit den Strategien gibt sich das Land Brandenburg seine maßgeblichen Leitlinien und Handlungsmaßgaben für die Förderung der Informationsgesellschaft. Im Dialog mit Wirtschaft, Verwaltung und Wissenschaft wird der Weg zu einem integrierten und nachhaltigen E-Government aufgezeigt. Alle Beteiligten

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sind gefordert, sich im intensiven, moderierten Dialogprozess kritisch mit den formulierten Handlungsempfehlungen und Leitlinien auseinanderzusetzen, um E-Government erfolgreich und nachhaltig umsetzen zu können. Dabei ist insbesondere eine frühzeitige Einbindung der Mitarbeiter zwangsnotwendig, um die erforderliche Akzeptanz im eigenen Hause und der Landesverwaltung insgesamt zu erreichen. Entscheidend für eine gewinnbringende Umsetzung von E-Government ist, dass sich alle Ebenen der Verwaltung des Potenzials der neuen technischen Möglichkeiten bewusst sind und aktiv daran mitwirken, ihre eigenen Geschäftsprozesse nach den gemeinsam als richtig erkannten Zielen besser zu gestalten. E-Government bedeutet eine tief greifende Veränderung der Verwaltungskultur, die für viele Mitarbeiter völlig neue Anforderungen mit sich bringen wird. Dies erfordert eine Qualifizierungsinitiative, die nicht nur die Vermittlung theoretischen Fachwissens beinhalten, sondern insbesondere auch dem Abbau von Berührungsängsten und der Vorbereitung auf die Umstellung der elektronischen Geschäftsprozesse dienen muss. E-Government ist vor allem und in erster Linie aber Führungsaufgabe und muss daher zwangsnotwendig „Chefsache“ sein. Nur wenn auch die Leitungsebene E-Government ernsthaft umsetzen will und sie dies allen Beteiligten in Wort und Tat glaubhaft vermittelt, wird das Thema ernst genommen und der notwendige Veränderungs- und Modernisierungsprozess in Gang gesetzt werden können. 8. Personalmanagement in Zeiten knapper Kassen Geprägt durch die aktuelle Haushaltssituation des Landes wird es in den kommenden Jahren darum gehen, mit einem sich absolut verringernden Personalkörper sowohl die bestehenden als auch neue und andere Aufgaben zu erfüllen. Die Landesregierung hat beschlossen, den Soll-Stellenbestand in den Jahren 2005 bis 2010 um weitere 8212 Stellen abzubauen, dies entspricht rd. 14% ihres Personalbestandes. Hinzu kommen Arbeitsplatzveränderungen infolge des Umbaus der Verwaltung und steigende Leistungsanforderungen durch Einführung elektronischer Arbeitsverfahren. Das Verhältnis vieler Beschäftigter zur Verwaltungsmodernisierung ist deshalb gespalten. Der aktuelle Prozess fordert den Betroffenen einiges ab, vor allem Flexibilität im Umgang mit den neuen Rahmenbedingungen. Die Beschäftigten müssen deshalb transparent in die Reformmaßnahmen einbezogen werden und müssen sie mitgestalten dürfen. Mit angemessenen Ausund Fortbildungsmaßnahmen müssen sie in die Lage versetzt werden, die neuen Herausforderungen anzunehmen. Nur so werden sie motiviert, kreativ an dem Prozess teilzunehmen und ihn nicht nur über sich ergehen zu lassen. Eine kontinuierliche und möglichst systematische Personalentwicklung

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der Beschäftigten durch Fortbildung ist also unerlässlich. Da der Fortbildungsbereich von Sparvorgaben nicht ausgenommen ist, muss er sich in Zeiten knapper Kassen intelligent aufstellen. Das bedeutet, den Mitteleinsatz mit Kreativität und aufgabenkritischer Disziplin an einer langfristigen Strategie auszurichten. Fortbildung muss in den politisch vorrangigen Feldern Priorität haben, z. B. beim E-Government, Bürokratieabbau oder bei der EU-Qualifikation. Die Methodik muss auf den Prüfstand gestellt werden. Fortbildung muss nicht zwingend in der klassischen Schulungsform erfolgen. Auch eLearning oder Blended Learning kommen als neue ressourcensparende Ansätze in Betracht. Auch die Führungskräftefortbildung ist ein Aspekt intelligenter Fortbildung. Ein ansprechendes Arbeitsklima lässt auch schwierige Arbeitssituationen, wie wir sie gerade in diesen Zeiten des umfassenden Strukturwandels der öffentlichen Verwaltung vorfinden, leichter meistern. Und last but not least: der öffentliche Arbeitgeber soll auch angesichts der zu erwartenden demografischen Entwicklungen ein attraktiver Arbeitgeber bleiben! 9. Ausblick Brandenburg stehen schwierige Zeiten bevor. Mit dem aufgezeigten Reformprogramm, das hier in seinen Konturen nur umrissen werden kann, ist die Landesregierung zuversichtlich, in dieser Regierungsperiode wichtige Grundlagen für die Zukunft Brandenburgs zu legen. Die Reformüberlegungen dürfen aber an der Grenze der Landesverwaltung nicht enden. Vielmehr müssen auch die Aufgaben und Strukturen der Kommunen in das Ganze einbezogen werden. Deshalb hat die Koalitionsregierung vereinbart, die Funktionalreform fortzuführen und zu evaluieren. Darüber hinaus wird bis zum Ende der Legislaturperiode ein umfassender Katalog erarbeitet und abgestimmt, welche Aufgaben vom Land auf die Landkreise und kreisfreien Städte und von den Landkreisen auf die Gemeinden übertragen werden können. Außerdem wird mit den kommunalen Gebietskörperschaften eine Verständigung über finanzielle und personelle Auswirkungen angestrebt, um eine mögliche umfassende Verwaltungsstrukturreform in der folgenden Legislaturperiode angehen zu können. Abkürzungen IT:

Informationstechnologie

KLR: Kosten-Leistungsrechnung

V. Bundesstaat und Föderalismusreform

Rechtsvergleichung im Dienste der Verfassungsentwicklung – an Beispielen des Föderalismus/Regionalismus bzw. von Zweikammersystemen Von Peter Häberle Einleitung, Problem Die Wissenschaft, ja „Kunst“, auch Tugend der – kulturellen – Verfassungsvergleichung hat seit der Stern- und Weltstunde des Verfassungsstaates 1989 global und dank der Entwicklungsstufen der europäischen Einigung regional einen neuen – großen – Stellenwert erlangt. Zwar gab es die Rechtsvergleichung als Methode und Praxis fast „schon immer“ und „klassisch“ im nicht nur deutschen, sondern auch italienischen und allgemein europäischen Zivilrecht, ebenso im Strafrecht (in neuerer Zeit auch in Italien in Gestalt von H. H. Jescheck besonders bekannt), doch hat sich die Rolle der Rechtsvergleichung jüngst intensiviert: in Italiens Verfassungsrechtswissenschaft etwa in den Namen von G. de Vergottini und A. Pizzorusso, um nur die ältere Generation zu nennen, repräsentiert. Blickt man über das juristische Fach hinaus, so beobachtet man „Komparistik“ auch in (anderen) Geisteswissenschaften und in Künsten, etwa in der Literatur und Musik. Globalisierung und Europäisierung veranschaulichen das Gemeinte und liefern Gründe, aber noch nicht eine komplette Erklärung. Die Entdeckung von „Gemeineuropäischem Verfassungsrecht“ (1983/91) – und von Mexiko aus vorgetragen – die These des Werdens von gemeinamerikanischem Verfassungsrecht (P. Häberle), aber auch der Vorschlag eines etwaigen „Gemeinislamischen Verfassungsrechts“ (E. Mikunda) wären ohne erklärte oder verdeckte Verfassungsvergleiche nicht möglich. Im Europa der EWG bzw. EU leistete die Entwicklung von Grundrechten als „allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ seitens des EuGH höchst schöpferische Pionierdienste. Man darf allerdings schon einleitend fragen, woher die große Legitimität der Verfassung des Typus „Verfassungsstaat“ kommt: aus dem kulturellen Vorbild der drei Buchreligionen; und man darf wohl die These wagen, dass heute die in Deutschland vor allem von Strafrechtlern und Zivilrechtlern nicht nur „nebenbei“ betriebene „Rechtsphilosophie“ längst in der Wissenschaft der „Verfassungstheorie“ aufgeht. Der „Vorrang der Verfassung“, in allen verfassungsstaatlichen Verfassungen Prinzip, teils schon textlich, teils gelebt, unterstützt diese hier nur angedeutete Wissenschaftsentwicklung.

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Erster Teil: Rechtsvergleichung als „Zukunftswissenschaft“ im Verfassungsstaat („Allgemeiner Teil“) Im Folgenden seien drei Grundsatzfragen nacheinander behandelt, obwohl sie innerlich zusammengehören: Methodenfragen (I.), die Frage nach den an Vergleichen personal Beteiligten, also die Frage nach dem wer?, nach den „Akteuren“ des Vergleichs (II.) und schließlich die Frage nach den (inhaltlichen) Zielen (Zwecken) des Verfassungsvergleichs (III.). I. Methodenfragen Rechtsvergleichung bezieht sich auf die juristische Trias von Texten, Theorien und Praxis (besonders der Rechtsprechung). Verfassungstexte, Verfassungstheorien und Richtersprüche im Verfassungsrecht bilden die Gegenstände des Vergleichs, wobei diese drei „Objekte“ ineinander verwoben sind, weil z. B. das deutsche GG ebenso wie die US-Verfassung so gelten, wie sie das BVerfG bzw. der Supreme Court auslegen, um einen Klassikertext zu variieren, der freilich nur eine Teilwahrheit umreißt (in der Verfassung als „öffentlicher Prozess“ sind auch andere Personen und Organe am Leben der Verfassung gestaltend beteiligt). Rechtsvergleichung als Methode wurde 1989 vom Verf. als „fünfte“ Auslegungsmethode postuliert, nach den klassischen vier von Savigny (1840) sanktionierten, eine These, die europaweit immer stärkere Zustimmung findet (jüngst etwa ausdrücklich seitens des Verfassungsgerichts von Liechtenstein). Dabei bleibt das konkrete Zusammenspiel der vier bzw. fünf Auslegungsmethoden in die Zeit hinein offen, letztlich von Gerechtigkeitserwägungen der Verfassungsrichter gesteuert. Vorausgegangen war das Konzept von der kulturellen Verfassungsvergleichung (1982). Im Kraftfeld des Verfassungsstaates geht es um Vergleich des Gleichen und Ungleichen, also nicht um eine Einebnung. Diesen ermöglicht die Vergegenwärtigung der Kultur, sei es der „Verfassungskultur“, sei es der „Grundrechtskultur“. Zwar geht es um den einen Verfassungsstaat als Typus, doch begegnet er in der Realität als Vielzahl individueller Varianten je nach der gewachsenen Kultur eines Landes bzw. einer Nation. Der Verfassungsstaat ist heute weltweit zur inhaltlichen Bezugsgröße geworden, freilich derzeit provoziert durch den Staatstypus, in dem jetzt der Islam zu „Identität“ gehört (wie wohl in Afghanistan, Somalia, auch im Irak). Hinzuzunehmen ist das, ebenfalls 1989 vorgeschlagene „Textstufenparadigma“ (neue Texte hier verarbeiten ältere Verfassungswirklichkeit dort oder hier), sowie die Kontext-These (Auslegen = Verstehen durch Hinzudenken). Die Spannung von abstrakter Typizität und konkreter Individualität des Verfassungsstaates muss ausgehalten, sie darf nicht eingeebnet werden. Die sog. „Entwicklungsländer“ in Lateinamerika und Afrika sind freilich ebenbürtig

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in die Vergleichstätigkeit der Europäer einzubeziehen. Ein tragendes Brückenelement könnte in der Idee heranwachsen, dass im Typus Verfassungsstaat die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Völkerrechts ein kongenialer konstitutioneller „Grundwert“ sind (Stichwort: „Konstitutionalisierung“ des Völkerrechts). Dies alles dient zur Erläuterung der These von der Rechtsvergleichung als Kulturvergleichung, wobei „Kultur“ an dieser Stelle nicht näher umrissen wird, sondern vorausgesetzt sei („offenes“, „pluralistisches“ Kulturkonzept).

II. Beteiligtenkreise: Die „Akteure“ der Verfassungsvergleichung im öffentlichen Prozess Die personale Frage nach dem „Subjekt“, dem „Akteur“, der Person oder Institution der vergleichenden Arbeit sei jetzt als zweiter Schritt thematisiert. In den Bemühungen der 80er Jahre ist das noch nicht so klar geschehen, doch hilft hier und heute eine Übertragung des älteren Modells der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ (1975) auf die Prozesse des Vergleichens weiter. Am Verfassungsvergleich sind real und ideal beteiligt – der Verfassung des Pluralismus gemäß – viele: nicht nur die Wissenschaftler und die Richter, an die meist zuerst gedacht wird, sondern auch andere, die Verfassunggeber, die Gesetzgeber, d.h. die Parlamente, die Exekutive, d.h. Regierung und Verwaltung, aus dem Felde der Gesellschaft auch die mannigfachen Pluralgruppen (von den Parteien bis zu Kirchenkreisen und Verbänden), wenn sie in der Öffentlichkeit Gesetzesvorschläge anregen bzw. kommentieren. Politik und „Politikberatung“ sind Tätigkeiten, die gerade heute von Rechtsvergleichung leben. Man denke an die Reformstaaten in Osteuropa, in denen es zu großen Rezeptionsprozessen von West nach Ost gekommen ist (z. B. in Sachen Zweikammersystem); man vergegenwärtige sich die Entwicklungsstufen der europäischen Einigung von Rom (1957) bis Brüssel/Rom (2004) in Bezug auf die EU und ihre beiden „Konvente“. Wenn im Folgenden die Zweikammersysteme in Regional- und Föderalstaaten miteinander verglichen werden, so ist dies Rechtsvergleichung über Kontinente hinweg, an der vor allem Wissenschaftler beteiligt sind. Wenn sich europäische Verfassungsgerichte gegenseitig zitieren oder der Sache nach voneinander „lernen“, so sind es die Richter, die sich am Verfassungsprozess des Rechtsvergleichens beteiligen. Die Foren, wie das Treffen der Richter der Verfassungsgerichte in Europa oder wissenschaftlichen Tagungen, aber auch Konferenzen (z. B. der europäischen Minister für Justiz und Inneres) dienen der Rechtsvergleichung. So ist zwischen Rechtsvergleichung als Politik und als Wissenschaft, als Theorie und als Praxis zu unterscheiden.

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Je nach dem Beteiligtenkreis gibt es funktionellrechtliche Grenzen für die Akteure. Die verfassungsrichterliche Rechtsvergleichung darf nur behutsam arbeiten, im Wechselspiel von „judicial activism“ und „judicial restraint“ – eine kräftige „Vorhut“ hat sie in Gestalt der Sondervotanten wie z. B. in den USA, Spanien, Deutschland, Albanien und im EGMR. Demgegenüber ist die Wissenschaft in Theorie und Praxis frei wie kein anderer „Akteur“, nur dem Ringen um die Wahrheit verpflichtet. Die Verfassungspolitik, etwa in Gestalt der totalrevidierten Kantonsverfassungen der Schweiz seit den späten 60er Jahren dort besonders erfolgreich, kann intensiv gestalten und nach innerschweizer oder europäischen Vorbildern Ausschau halten. Private Verfassungsentwürfe können erfolgreich sein. „Verfassungspolitik“ muss freilich, oft im Stil von „Varianten“ arbeitend (so eine Tradition der Schweiz), sich oft an Kompromissen orientieren, an Taktiken und Strategien, was dem rechtsvergleichenden Wissenschaftler fremd, ja verwehrt ist. III. Ziele (Zwecke) des Verfassungsvergleichs Stand bisher der eher formale Aspekt der „Methoden“ und „Beteiligten“ im Vordergrund, freilich ist er durch die Orientierung am Typus Verfassungsstaat schon per se inhaltlich geprägt, so sei auf einer dritten Stufe jetzt das inhaltliche Ziel oder Zielbündel rechtsvergleichender Arbeit im Verfassungsstaat skizziert. Solche Ziele sind die Grundwerte des Verfassungsstaates: Menschenwürde und, in innerem Zusammenhang mit ihr, die pluralistische Demokratie. Vom Bürger geht alle Staatsgewalt aus, genauer von der Bürgergemeinschaft („Bürgerdemokratie“ als Stichwort). Ein offener Kanon von fortzuschreibenden Grundrechten bis hin zum status activus processualis, Gerechtigkeit und Gemeinwohl, aber auch die je nationale Kultur (Minderheitenschutz eingeschlossen), Föderalismus bzw. Regionalismus kommen hinzu. In Klassikertexten von Aristoteles bis Rawls, von Kant über F. Schiller bis B. Brecht vermitteln sie die Verfassungsziele, sie bilden den „Humus“, auf dem rechtsvergleichendes Arbeiten gelingen kann. Ohne sie wäre diese „leer“ und richtungslos. Rechtsvergleichung ist kein Selbstzweck, sie ist Dienst an der Entwicklung des Verfassungsstaates als Typus und an der Individualität seiner nationalen Beispielsvarianten, wobei sich beide beeinflussen: nationale „Erfindungen“ bzw. Entwicklungen wie der Parlamentarismus in Großbritannien, der Föderalismus in den USA, die Menschenrechte in Frankreich, die Grundrechtsdogmatik in Deutschland, der Regionalismus in Italien, und die verfassungsstaatliche Monarchie in Spanien, aber auch schon das Erfinden von Ideen und Texten, wie das Verständnis der Minderheiten als „staatsbildende Faktoren“ dank Ungarn oder die Idee der Menschenrechte als Erziehungsziele in Guatemala (1985) und Peru (1979) können zu kreativen Beiträgen beim „Wachstum“ des Typus

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Verfassungsstaat werden. Die rechtsvergleichende Arbeit, mühsam genug, auch entbehrungsreich und hohe Sensibilität für die „Rechtskultur“ des anderen fordernd, ist bei all dem ein „Vehikel“, wobei der rechte Sinn für die Balance zwischen kühner Innovation und kluger Tradition in „Produktionen und Rezeptionen“ unverzichtbar bleibt. Nach dieser, freilich allenfalls groben Skizze, sei ein Blick auf konkrete Anwendungsfelder des Föderalismus bzw. Regionalismus und die Zweikammersysteme gewagt.

Zweiter Teil: Föderalismus bzw. Regionalismus als Beispielsfeld und Referenzgebiet („Besonderer Teil“) Die hier in den Dienst der „Verfassungsentwicklung“ genommene Rechtsvergleichung könnte sich auf einem Feld aus aktuell politischen wie theoretischen und praktischen Gründen besonders bewähren: auf dem Gebiet der beiden den Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsstufe d. h. Deutschland und Italien immer mehr kennzeichnenden Struktur des Föderalismus bzw. Regionalismus. Beide „Formen“ sind Ausprägungen der vertikalen Gewaltenteilung, setzen sich auch sonst in immer mehr Ländern durch und können weltweit auf eine eindrucksvolle Erfolgsgeschichte blicken: ähnlich wie die Verfassungsgerichtsbarkeit. (Es gibt global wohl keine einzige Rückbildung von Föderalstaaten zu Zentralstaaten.) Schon auf den ersten Blick darf man im Föderalismus bzw. seinem „kleinen Bruder“, dem Regionalismus, eine glückliche Gegenbewegung gegen die Globalisierung und Effizienzideologie erblicken: Die kleinere Einheit vor Ort, das kulturelle Eigenständige, Überschaubare sucht sich in seiner Identität gegen das Denken in großräumigen Märkten zu behaupten. Föderalismus und Regionalismus sind aus meiner Sicht auch Strukturen, die der unseligen grenzenlosen „Ökonomisierung“ unserer Tage entgegenwirken können. I. Ein Theorierahmen Föderalismus- bzw. Regionalismustheorien sind ein „weites Feld“. Eine rechtsvergleichend arbeitende Verfassungstheorie, die sich weltweit mit allen relevanten Beispielsnationen beschäftigt (von Kanada bis Indien, von Brasilien bis Argentinien und Mexiko), gibt es noch nicht. Auch in diesem Beitrag sind nur einige Stichworte möglich. Bekannt ist die Entwicklungslinie vom „seperative“ oder „dual federalism“ zum „cooperative federalism“, wie sie sich seit den 60er Jahren in den USA, Australien, aber auch in Deutschland vollzogen hat. Vergleicht man die drei deutschsprachigen Föderalstaaten Österreich, Deutschland und die Schweiz miteinander, so lässt sich

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sagen, dass sie einer aufsteigenden Linie entsprechen: Österreich ist derzeit der (noch) am stärksten unitarische Bundesstaat (der 2005 gescheiterte „Österreich-Konvent“ hätte dies wohl kaum geändert). Die Schweiz hat sich bis heute in großer Eigenständigkeit und Eigenwilligkeit der Kantone behauptet, wie man nicht nur aus der intensiv gelebten Verfassungsautonomie im Spiegel der neuen totalrevidierten Kantonsverfassungen sieht. Deutschland steht gleichsam in der Mitte zwischen diesen beiden Polen, wobei die fünf neuen Länder dem Föderalismus einen künftigen Impuls verliehen haben. Das vorläufige Scheitern der Bundesstaatsreform (2004) ist insofern positiv zu bewerten, als dies den unerfreulichen, sich verstärkenden Zentralismusbestrebungen aus „Berlin“ ein Halt entgegengesetzt hat und jetzt 2006 ein zweiter Anlauf besser zu gelingen scheint. Bundesstaaten in der EU wie Österreich, Belgien und Deutschland sehen sich besonderen, auch theoretisch zu bewältigenden neuen Problemen gegenüber: die Länder werden „europaunmittelbar“, ihre Verfassungen enthalten eigenes „Europaverfassungsrecht“, etwa das Bekenntnis zur europäischen Einigung, zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, zu einem „Europa der Regionen“ etc.; sie finden sich auf EU-Ebene in einem „Ausschuss der Regionen“ wieder, ein „präföderales“ Organ. Der „Freistaatsplan“ der Basken (2005/2006) verstößt m. E. gegen das Europäische Verfassungsrecht, nicht nur gegen das spanische. Jeder Bundesstaat muss eine Balance zwischen unverzichtbarer Homogenität und optimaler Pluralität suchen. Der Föderalismus, und im kleineren auch der Regionalismus, legitimieren sich aus dem Ideal der Bürgernähe, der Demokratie vor Ort, im Kleinen, der kulturellen Freiheit und der Heimat (Subsidarität). Die vertikale Gewaltenteilung und der damit verbundene Freiheitsgewinn (Oppositions- und Minderheitenschutz) wurden schon erwähnt. Die Kulturhoheit der Länder bzw. Kantone lässt sich als „Seele“ des Föderalismus bezeichnen. Die Palette des Kulturverfassungsrechts dieser Länder ist ihr Dokument und ihre Chance. Damit wird einem primär ökonomischen Bundesstaatsverständnis („Markt- bzw. „Konkurrenzföderalismus“) eine Grenze gezogen. Wettbewerb ist gut, auch im Kulturellen (etwa um die besten Theater und Hochschulen), aber er ist nicht das Maß aller Dinge! Der Wettbewerbsföderalismus ist nur ein Mosaikstein im Ganzen einer „gemischten Bundesstaatstheorie“. Sie verbindet flexibel Elemente des Wettbewerbs mit der kulturellen Vielfalt. Aspekte des Unitarischen finden sich im erwähnten Homogenitätsgebot, solche des subsidaritätsgestützten Pluralismus in der Eigenständigkeit der Länder. Dabei mögen sich in den einzelnen Verfassungsstaaten die Akzente im Gang der Verfassungsgeschichte bzw. „im Laufe der Zeit“ verschieben. In den 60er Jahren mochten in vielen Bundesstaaten Elemente des Kooperativen von den USA bis Australien in den Vordergrund rücken, heute deutet vieles darauf hin, dass das Element des Separativen („Trennungsföderalismus“) wieder

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stärker wird. In Deutschland ist etwa im Kulturbereich Selbstkoordinierung der Länder gefordert, nachdem man die Nachteile der sog. „Gemeinschaftsaufgaben“ und der Verwischung der Verantwortungsräume bzw. Kompetenzen klarer erkannt hat. Die neue Föderalismusreform 2006 bleibt hier gefordert, auch ihre nächste Stufe 2007. In paralleler Weise wären die Eigenheiten des Regionalismus aufzulisten, auch die Unterschiede zum Föderalismus (Desiderat von „Regionalistic Papers“). Vermutlich gibt es gleitende Übergänge. So lebt das spanische System der „Autonomien“ an der Schwelle zu einem eigengearteten Föderalismus. Dasselbe gilt wohl auch für Südafrika. Der italienische Regionalismus scheint sich auf den Weg zu einem „neuen Regionalismus“ oder gar einem „Föderalismus auf Italienisch“ zu machen. Die Verfassungsautonomie bleibt ein unterscheidendes Kriterium zwischen Föderalismus und Regionalismus, auch die kulturell ausgelebte Eigenständigkeit der Gliedstaaten, wie sie sich in Wappen, Hymnen etc. ausprägt und vor allem in substantiellen Zuständigkeiten auf dem Felde der Kultur zeigt. Besteuerungsrechte und wirtschaftliche Eigenkompetenzen kommen hinzu. Auf einen besonderen Unterschied sei eigens verwiesen: Im Typus Verfassungsstaat sollte es m. E. keinen sog. „differenzierten Föderalismus“ geben, wohl aber kann sich ein „differenzierter (asymmetrischer)“ Regionalismus wie in Italien und Spanien bewähren. In Föderalstaaten muss der konstitutionelle Status der einzelnen Länder schematisch gleich sein, die Kräfte der Desintegration würden andernfalls zu stark, Ausgleich kann es über den Finanzausgleich geben. In Regionalstaaten, in denen die Einheit stark ist und die Homogenität ohnedies größer, kann man sich Differenzierungen zwischen den Regionen untereinander leisten. Die Balance zwischen Homogenität und Pluralität gerät nicht ausser Kontrolle. Die schrittweisen Regionalisierungen in Frankreich („Dezentralisierung à la française“) und Großbritannien („devolution“) wären eigens zu untersuchen, auch ihre Hintergründe. Die Auszeichnung einzelner Regionen vor der Mehrheit der anderen (Sonderstatute) könnte auf Dauer auch ein Vehikel für Föderalisierung (Spanien, Katalonien, Baskenland, Galizien) sein. Diese Stichworte zur Theorie von Föderalismus bzw. Regionalismus können bzw. müssen sich in einem „Test“ bewähren: den Erscheinungsformen der Ausgestaltung etwaiger Zweiter Kammern und des Ob und Wie eines jeweils optimalen Modells. II. Folgerungen für Zweikammersysteme – Sieben Arbeitsthesen Arbeitsprogramm bleibt eine Bestandsaufnahme der weltweit in Verfassungsstaaten vorgefundenen (Föderalismus und Regionalismus verbinden-

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den) Zweikammersysteme, ihrer „Prototypen“ als ein Stück „gemischte Verfassung“ und etwaige Reformvorhaben, die „gleichsinnig“ oder „gegenläufig“ sein können. Dabei ist auf zwei Ebenen zu arbeiten: Zweite Kammer auf Bundesebene und solche auf der Ebene der Gliedstaaten selbst. Beispiele reichen von der Abschaffung des Senats in Bayern als einem „Betriebsunfall“ (?) bis zur Reformdiskussion in Spanien. In Osteuropa haben Polen, Rumänien, Tschechien, Russland und Weißrussland ein Zweikammersystem eingeführt. Auch hier ist eine Skala zu erkennen: der starke Ständerat in der Schweiz, der starke (aristokratische) Senat in den USA (auch Kanada), in denen viele Einzelstaaten ihrerseits sich in zwei Kammern gliedern, der schwache Bundesrat in Österreich. Zu vergleichen wären die Zusammensetzung bzw. die Art der Wahl, die jeweiligen Kompetenzen (Mitwirkung bei den drei Staatsfunktionen, der Gesetzgebung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit, z. B. bei der Richterbestellung auf Bundesebene). Zu fragen wäre, welche Konsequenzen aus der jeweils gewählten Föderalismus- bzw. Regionalismustheorie für die konkrete Ausgestaltung der Zweikammersysteme folgen. Und umgekehrt: Wie beeinflussen die positivrechtlich geltenden Strukturen das Theorieensemble in Sachen Föderalismus/Regionalismus? Vielleicht kann auch eine Verfassungstheorie des Zweikammersystems gelingen, mit Stichworten wie Gewaltenbalance, Mäßigung, Bürgernähe, Interessenvertretung, Pluralismus. Zusammenfassend: 1. Die erste Grundfrage ist die nach der Legitimation der Zweiten Kammern. Zu fragen ist, ob ergänzend zum „Input/Output-Modell“ die Gewaltenteilung als innere Rechtfertigung für Zweite Kammern gebraucht wird. Ihre mäßigende Wirkung, ihre Ausgleichsfunktion gegenüber der Ersten Kammer, aber auch anderen Verfassungsorganen sind fruchtbar. Gewaltenteilung ist dabei im bürgerorientierten Sinne verstanden, so wie klassische Literatur in der Schweiz sogar ein Grundrecht auf Gewaltenteilung bejaht (Giacometti). Die demokratische Legitimation (Stichwort für das britische Oberhaus: „Konsensdemokratie“) ist nicht alles. Die Verhinderung von Machtmissbrauch bleibt ein ewiges Thema menschlichen Zusammenlebens (totalitäre und autoritäre Staaten wollen oft keine wirkliche Zweite Kammer). Zu unterscheiden sind zwei Funktionen bürgerorientierter Gewaltenteilung: die formelle und die informelle. Die letztere gelingt durch das Bemühen, dank der Zweiten Kammern, die Herrschaft der politischen Parteien zu begrenzen, so wie in der Schweiz das Volk dank der „halbdirekten Demokratie“ ein höchst reales Gegengewicht schafft. Die formelle, den Zweiten Kammern zu verdankende Gewaltenteilung funktioniert dadurch, dass die Zweiten Kammern durch bestimmte Kompetenzen arbeitsteilig gegenüber den anderen Ver-

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fassungsorganen, vor allem den Ersten Kammern, den Parlamenten, aber auch den Staatsoberhäuptern, Gestalt und Gewicht gewinnen. 2. Ein zweites Stichwort liegt in der „Kooperation“. Hier gibt es in Südafrika das faszinierende System des „cooperative government“ im Text der sehr zu bewundernden Verfassung von 1997 – wobei immer noch nicht klar ist, ob Südafrika „noch“ ein Regionalstaat ist oder „schon“ ein werdender Bundesstaat (die Verfassungsautonomie deutet auf Letzteres, die Praxis, man denke z. B. an die vortreffliche Verfassung von Kwazulu Natal, ebenso). In vielen Ländern der Welt lassen sich mannigfache Kooperationsformen, oft ungeschriebener Art beobachten (horizontale und vertikale Kooperationsformen). Was sich hier in der Praxis bzw. Verfassungswirklichkeit herausgebildet hat, ist in Südafrika zum Teil auf Verfassungstexte gebracht worden, besonders von Experten der Länder mit kooperativem Föderalismus wie Deutschland (Stichwort „Textstufenparadigma“). Freilich müssen wir uns vergegenwärtigen, dass in Deutschland derzeit im Rahmen der Föderalismusreform (2004/05/2006) der kooperative Föderalismus zurückgeschnitten werden soll. So sollen „Gemeinschaftsaufgaben“ von Bund und Ländern beseitigt oder reduziert werden, soll die Rahmengesetzgebung abgeschafft werden, soll mehr Trennungsföderalismus und Konkurrenzföderalismus geschaffen werden, da die (Politik)Verflechtungen besonders seit 1968 zu intensiv waren, wurden bzw. sind und die klaren Verantwortungsräume zwischen Bund und Ländern verwischen. Mehr „Trennungsföderalismus“ (seperative federalism) ist wieder angesagt, so dass man sieht, dass und wie der Föderalismus ein lebendes, prozesshaftes Ganzes ist, eine „gemischte Komposition“, in dem teils Elemente des Kooperativen, teils des Unitarischen, teils der Trennung im Laufe der Verfassungsgeschichte vortreten. Nur eine „gemischte“ Bundesstaatstheorie mit starker Betonung der kulturellen Vielfalt, liefert hier m. E. den angemessenen Theorierahmen. 3. Ein dritter Aspekt ist der Zusammenhang zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und den Zweiten Kammern. Er sei historisch und rechtsvergleichend, also auf den zwei Ebenen der Rechtsvergleichung in der Zeit und im Raum, punktuell skizziert, die nur ein Aristoteles gleichzeitig und umfassend beherrscht hat – seine Sammlung über Verfassungen ging bekanntlich verloren. In der Bismarck-Verfassung von 1871 besaß der deutsche Bundesrat die Kompetenz zur Schlichtung von föderalen Streitigkeiten (Art. 76 Abs. 2). Diese hat heute das deutsche BVerfG (Art. 93 Abs. 1 Ziff. 1 GG), und der deutsche Bundesrat ist insofern ein Stück weit ein Vorläufer des Verfassungsgerichts. Zum anderen: Rechtsvergleichend (im Raum) sehen wir in den USA, dass sich die vom Präsidenten berufenen Kandidaten für den US-Supreme Court einem öffent-

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lichen Hearing stellen müssen. Auch hier hat die Zweite Kammer also eine wichtige Kompetenz. In Deutschland wird die Hälfte der Bundesverfassungsrichter vom Bundesrat gewählt, in der Schweiz ist es die Bundesversammlung, die Vereinigung beider Kammern, die die Bundesrichter wählt. Hier funktioniert alles, wie immer in der Schweiz; nur vor einigen Jahren gab es einmal eine misslungene Wiederwahl eines Bundesrichters, ein großer Skandal. Schon klassische optimale Zweikammersysteme haben die USA und die Schweiz. 4. Die Zweiten Kammern scheinen weltweit verglichen stets besonderen Reformbedarf zu haben, Stichwort: Reformfähigkeit und -bedürfnis. Sie haben (noch) keinen ganz gesicherten Platz im Verfassungsstaat als Typus bzw. seinen nationalen Beispielen: man denke an die Reform des englischen Oberhauses oder andere Reformbemühungen (etwa in Indien und Südafrika, Mexiko und Kanada). Zweite Kammern sind offenbar politisch und theoretisch nicht so gesichert, sicher und „etabliert“ wie die Parlamente, zumal sie historisch aus ganz unterschiedlichen Gründen (z. B. vordemokratisch und präföderal) gewachsen sind. Eine vergleichende Verfassungslehre und Verfassungspolitik für Zweite Kammern müsste hier Kriterien liefern. 5. Status bzw. Struktur und Funktionen bzw. Kompetenzen von Zweiten Kammern sind zu trennen. Hängen sie aber nicht doch sehr intensiv zusammen? Diesen Zusammenhang von Status und Funktion eines Verfassungsorgans kann man in Deutschland von G. Leibholz lernen, er hat den sog. „Statusbericht“ des BVerfG in den 50er Jahren konzipiert (JöR 6, 1957). Die gewünschten oder vorhandenen Kompetenzen und Funktionen brauchen einen bestimmten Status. Umgekehrt kann der gesicherte Status zu einem Wachstum der Kompetenzen (der Zweiten Kammer) führen. 6. Zum Stichwort „Politische Kultur“: Der Stil des Verhandelns, der Debatten und der Entscheidungsbildung in Zweiten Kammern müsste vergleichend weltweit zum Thema gemacht werden, ebenso die Persönlichkeitsprofile und die Herkunft. Hier bedarf es der Politikwissenschaften. 7. Stichwort Europäisierung: Hier stellt sich die Frage, ob sich Zweite Kammern von Brüssel bzw. Straßburg her in nuce herausbilden können, sozusagen als Vorform des Zweikammersystems. Für (das stark unitarische) Österreich darf man darauf hinweisen, dass einige neue Verfassungsänderungen in den dortigen Ländern (etwa in Vorarlberg und Salzburg) „Europa-Artikel“ eingeführt haben. Auch in der Schweiz findet sich etwa in Verf. Bern von 1993 (Art. 54 Abs. 1) eine Bezugnahme auf die Regionen Europas. In Deutschland waren es die fünf neuen Bundesländer, die viele Europa-Artikel innovativ geschaffen haben (Bezug-

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nahme auf die europäische Einigung, Mitwirkung an diesen Prozessen, Hinweis auf die EMRK-Grundrechte etc.). Das „nationale Europaverfassungsrecht“ (verunglückt ist aber Art. 23 GG) sei zitiert. Hierzu sind Ansätze für eine Europaunmittelbarkeit der Länder und Regionen zu sehen. Das kann dann auch mittelfristig zu einer Stärkung etwa vorhandener Zweiter Kammern führen: Sozusagen von unten, vom Verfassungsrecht der Länder her, etablieren sich diese in Europa mit eigenem Gewicht und das führt gerade zu einem (stärkeren) Zweikammersystem. Der EU-Ausschuss der Regionen sei erwähnt. Genannt sei auch die Schweiz, so sehr sie sich noch der europäischen Einigung i. S. der EU entziehen will. Als Wissenschaftler darf man niemals die Entscheidungen des souveränen Schweizer Volkes kritisieren; derselbe Wissenschaftler darf aber doch kritische Fragen stellen, sozusagen „akademisch“. Wissenschaft legitimiert sich aus sich selbst, nicht vom Volk her, demokratisch; sie legitimiert sich nur aus ihrem eigenen Wahrheitsauftrag und bei uns Juristen speziell zusätzlich aus ihrem Gerechtigkeitsauftrag. Kurz: Die innere „Europäisierung“ kann in Verfassungsstaaten mit föderalen oder regionalen Strukturen langfristig dem Zweikammersystem zu Gute kommen.

Ausblick Die hier angedeutete Arbeit könnte ein Stück „wissenschaftlicher Vorratspolitik“ in Sachen Zweikammersysteme werden. Der Rechtsvergleich ist heute ein Dienst an der „Verfassung im Diskurs der Welt“. Das Zusammenwachsen der Wissenschaftlergemeinschaften in der „Welt des Verfassungsstaates“ ermutigt, auch wenn wir selbstbescheiden bleiben müssen. Wissenschaft kann manches, aber letztlich wohl nur wenig ausrichten. Die Verfassungslehre, die sich heute intensiv in die Völkerrechtswissenschaft und umgekehrt integrieren muss, hat gewiss Möglichkeiten, aber sie dürfen nicht überschätzt werden. R. Scholz hat als Verfassungsjurist und Verfassungspolitiker manche Wege gewiesen.

Literatur D’Atena, Antonio: L’Italia verso il „federalismo“, 2001 Bauer, Hartmut: Bundesstaatstheorie im GG, in: liber amicorum für P. Häberle, Verfassung im Diskurs der Welt, 2004, S. 631 ff. Esser, J.: Grundsatz und Norm, 1956 – Vorverständnis und Methodenwahl, 1972

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Häberle, Peter: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1. Aufl. 1982, 2. Aufl. 1998 – Europäische Verfassungslehre, 1. Aufl. 2001/2002, 4. Aufl. 2006 – Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992 – Mexiko – Konturen eines Gemeinamerikanischen Verfassungsrechts, JöR 52 (2005), S. 581 ff. – Textstufen in österreichischen Landesverfassungen – ein Vergleich, JöR 54 (2006), S. 367 ff. Hesse, Konrad: Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995 Kotzur, Markus: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Europa, 2004 Kramer, E. A.: Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2005 Luther, Jörg: Zur Entwicklung des Rechts auf Entwicklung, in: Liber amicorum für P. Häberle, Verfassung im Diskurs der Welt, 2004, S. 337 ff. – Die Verfassung in Zeiten des Übergangs, JöR 50 (2002), S. 331 ff. Palermo, F./Woelk, J.: Italiens Föderalismusreform: eine unendliche Geschichte, in: Jahrbuch des Föderalismus, 2004, S. 235 ff. Pawlowski, H.-M.: Methodenlehre für Juristen, 3. Aufl. 1999 Schambeck, H.: Die Bedeutung des parlamentarischen Zweikammersystems, in: ders., Politik in Theorie und Praxis, 2004, S. 157 ff.

Deutschland nach der Föderalismusreform – in besserer Verfassung! Von Peter M. Huber Deutschland – In guter Verfassung? Diese Frage hat Rupert Scholz, wie er im Vorwort des im Jahre 2004 erschienenen gleichnamigen Buches schreibt,1 sein Leben lang beschäftigt. Auch wenn er den Begriff der „Verfassung“ dabei in einem umfassenden, eher umgangssprachlichen Sinne versteht, so bilden das Grundgesetz als Verfassung der Bundesrepublik Deutschland und spezifische Verfassungsfragen dabei doch das Gravitationszentrum. Wie kaum ein anderer Staatsrechtslehrer seit dem II. Weltkrieg hatte Rupert Scholz nicht nur Gelegenheit, den Gegenstand seiner Betrachtungen in wissenschaftlich kritischer Distanz zu analysieren, zu konkretisieren und zu hinterfragen,2 sondern als aktiver Politiker auch auf Bestand und Veränderung der Verfassung Einfluss zu nehmen:3 als Berliner Senator für Bundes- und Europaangelegenheiten, als Berliner Justizsenator, als Vorsitzender der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat (1991–1993),4 als Vorsitzender des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages (1994–1998) und schließlich als Mitglied der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung.5 Auf der Grundlage der von der zuletzt genannten Kommission geleisteten Vorarbeiten haben Bundestag und Bundesrat im Sommer 2006 die sog. Föderalismusreform als 52. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 1

Scholz, R., Deutschland – In guter Verfassung?, 2004. Siehe nur Scholz, R., in Maunz/Dürig, GG, Band I, Art. 12 (Stand: Juni 2006), Art. 23 (Stand: Oktober 1996). 3 Dazu „Das Grundgesetz zwischen Bestand und Veränderung“, Symposion aus Anlass der Emeritierung von Rupert Scholz am 30. September 2005, mit Beiträgen von Josef Isensee, Volker Kröning, Wolfgang Schäuble, Rudolf Streinz und Peter Lerche, i. E. 4 Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, Zur Sache 5/93. 5 Dokumentiert in Deutscher Bundestag/Bundesrat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.), Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, Zur Sache 1/2005. 2

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28. August 20066 beschlossen, die umfangreichste Verfassungsänderung seit Inkrafttreten des Grundgesetzes.7 Seit 1. September 2006 ist sie in Kraft. Kuriert sie den „kranken Bundesstaat“, den Scholz soeben noch diagnostiziert hat, und bewahrt sie ihn vor „einem Stadium dann unheilbaren Siechtums“, das nach seiner Auffassung ohne eine wirkungsvolle Therapie unweigerlich drohte?8 Die Meinungen dazu sind geteilt. Wie alle Veränderungen, so lösen auch die mit der Föderalismusreform verbundenen Neuerungen bei vielen Beobachtern zunächst nachvollziehbare Abwehrreflexe aus.9 Hat man sich an die Neuerungen aber erst einmal gewöhnt, so erlaubt dies eine Betrachtung sine ira et studio, und die fällt gar nicht so negativ aus. I. Die Ausgangslage 1. Die Erosion der Landesgesetzgebung Seit Inkrafttreten des Grundgesetzes hat eine kontinuierliche Erosion der Gesetzgebungskompetenzen der Länder stattgefunden, die ernsthafte Zweifel an ihrer fortdauernden Staatsqualität aufwarf. Obwohl Art. 79 Abs. 3 GG garantiert, dass den Ländern – in den Worten des Bundesverfassungsgerichts – auch im Bereich der Gesetzgebung ein „Hausgut eigener Zuständigkeit unentziehbar verbleibt“, waren ihre Zuständigkeiten doch bis auf einige Restposten zusammengeschrumpft. 19 Änderungen des Grundgesetzes haben zwischen 1949 und 2006 Kompetenzen der Länder auf den Bund übertragen, wobei dieser Trend auch im Gefolge der von der Gemeinsamen Verfassungskommission angestoßenen Verfassungsänderungen10 allenfalls geringfügig abgeschwächt worden ist. Hinzu kommt, dass der Bund von seinen konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeiten meist abschließend Gebrauch gemacht hat (Art. 72 Abs. 1 GG). Zwar hat der verfassungsändernde Gesetzgeber die Voraussetzungen, unter denen dies geschehen darf, 1994 durch die Neufassung von Art. 72 Abs. 2 GG verschärft. Zu durchgreifenden Änderungen hatte dies jedoch erst ganz zum Schluss geführt, als das Bundesverfassungsgericht seit Ende 2002 Gelegenheit erhielt, die Neufassung der Erforderlichkeitsklausel in Art. 72 Abs. 2 GG mit Leben zu füllen.11 6

BGBl. I 2006, 2034 ff. Huber, P. M., in: Sachs (Hrsg.), GG, 3. Auf., 2003, Art. 145, Rdnr. 5. 8 Scholz, Deutschland – In guter Verfassung? (Fn. 1), S. 147 ff., 166. 9 Dreier, H./Wittreck, F., Textausgabe GG, Vorwort, 2006, S. XXIII ff. 10 Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission (Fn. 4), S. 60 ff. 11 BVerfGE 106, 62 ff. – Altenpflege; 110, 141 ff. – Kampfhunde; 111, 10 ff. – Ladenschluss; 111, 226 ff. – 5. HRG-ÄndG; 112, 226 ff. – 6. HRGÄndG. 7

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Dabei wurde allerdings schnell klar, dass die vom BVerfG entwickelte Auslegung nicht den Vorstellungen der politischen Akteure entsprach. Eine ernsthafte Beschränkung der Bundeszuständigkeiten im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung war von der überwältigenden Mehrheit nicht gewollt. Es passt in dieses Bild, dass die Möglichkeit eines „Freigabegesetzes“ nach Art. 72 Abs. 3 GG und das Rückholrecht des Art. 125a GG nur auf dem Papier standen, also „law in the books“ geblieben waren. Dazu mag auch beigetragen haben, dass beide Instrumente als verfassungspolitisch verfehlt kritisiert wurden, weil sie die Gefahr der Rechtszersplitterung nach sich zögen und ein problematisches Nebeneinander von Bundes- und Landesrecht etablieren würden. Die Europäisierung des nationalen Verfassungsgefüges und die insoweit sprichwörtliche „Landesblindheit“ des Unionsrechts haben die Gestaltungsspielräume des Landesgesetzgebers auch in den den Ländern noch verbliebenen Regelungsbereichen weiter beschränkt. Denn praktisch alle Gegenstände der Landesgesetzgebung – vom Rundfunkrecht über das Bildungswesen (Art. 149 EG) bis zur Kultur (Art. 151 EG) – sehen sich heute zunehmend unionsrechtlichen Überlagerungen ausgesetzt. 2. Übermäßige Verflechtung der Entscheidungszuständigkeiten Da Verfassungsänderungen ebenso wie die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU einer Zwei-Drittel-Mehrheit auch im Bundesrat bedürfen (Art. 23 Abs. 1 Satz 3, 79 Abs. 2 GG), konnte diese Entwicklung nicht ohne die Zustimmung der Länder oder jedenfalls ihrer großen Mehrheit erfolgen. Und in der Tat haben sie der Erosion ihrer Autonomie nicht nur keinen Widerstand entgegengesetzt, sondern sie kräftig befördert. Die Kompensation war aus der Sicht der Länder, jedenfalls der Landesregierungen, hinreichend attraktiv: die Einräumung immer weitergehender Mitwirkungsrechte bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes sowie in Angelegenheiten der EU. Da diese Mitwirkung ausweislich von Art. 50 GG über den Bundesrat erfolgt, ist dieses Verfassungsorgan mehr und mehr in die Rolle jener gleichberechtigten Zweiten Kammer hineingewachsen, die ihm die Mütter und Väter des Grundgesetzes gerade nicht zuerkennen wollten. Im Austausch gegen umfangreiche Mitwirkungsbefugnisse haben die Länder so die Auszehrung ihrer Autonomie in Kauf genommen bzw. sich dort, wo sie diese Entwicklung – wie im Zuge der europäischen Integration – nicht steuern konnten, doch gefügt – zum Vorteil der Landesregierungen und auf Kosten der Ersten und Dritten Gewalt. Hinzu kommt, dass sich der Bundesrat durch die parteienstaatliche Überformung des verfassungsrechtlichen Institutionengefüges im Laufe der Zeit

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von einem Organ zur Vertretung spezifischer Länderinteressen mehr und mehr zum institutionellen Anker der parlamentarischen Opposition auf Bundesebene gewandelt hat.12 Das hat vor allem die politische Bedeutung der Landesregierungen im Allgemeinen und der Ministerpräsidenten im Besonderen enorm gesteigert, weil sie als Mitglieder des Bundesrates, und damit als Angehörige eines obersten Verfassungsorgans des Bundes, über erhebliche bundespolitische Macht und Präsenz verfügen. Die auch von Rupert Scholz beklagte mangelnde Effektivität und Entscheidungsschwäche des deutschen Bundesstaats beruht daher zu einem erheblichen Teil auf der „Zuständigkeitsverflechtung“ von Bund und Ländern.13 3. Fehlende Ausrichtung auf die Funktionsbedingungen der EU Als weiteres grundlegendes Problem des deutschen Föderalismus in seiner aktuellen Ausgestaltung lässt sich heute, unter den Bedingungen der weit fortgeschrittenen europäischen Integration, die mangelnde Ausrichtung auf die strukturellen Gegebenheiten europäischer Entscheidungsfindungsprozesse ausmachen. Die in Deutschland geltende Verfassungsordnung ist heute einerseits durch die Öffnung des Grundgesetzes für das „Integrationsprogramm“ gekennzeichnet, die es in materieller Hinsicht dazu zwingt, sich den von Art. 6 f. EU formulierten Homogenitätsanforderungen anzupassen, letztlich aber auch den Bedingungen und Strukturen unionaler Entscheidungsfindung. Insoweit bedeutet die Mitgliedschaft in der EU faktisch das Ende nationaler Verfassungsautonomie,14 auch wenn das Grundgesetz andrerseits keiner unbegrenzten Öffnung zugänglich ist und auch nur in den Grenzen des vom nationalen Rechtsanwendungsbefehl gebilligten Integrationsprogramms zurücktritt.15 Dem tragen weder die Kompetenzordnung des Grundgesetzes noch die Vorschriften über die innerstaatliche Willensbildung in europäischen Angelegenheiten ausreichend Rechnung, was eine effektive Wahrnehmung deutscher Mitgliedschaftsrechte in Brüssel und eine wirkungsvolle Vertretung deutscher Interessen erheblich erschwert bzw. verhin12

Huber, P. M., Regierung und Opposition, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 3. Aufl., 2005, § 47, Rdnr. 63. 13 Huber, P. M., Klarere Verantwortungsteilung von Bund, Ländern und Kommunen, Gutachten D 65. Deutschen Juristentag, 2004; ders., Deutschland in der Föderalismusfalle?, 2003 m. w. N. 14 Pernice, I., Europäisches Verfassungsrecht im Werden, in: Bauer u. a. (Hrsg.), Ius Publicum im Umbruch, 2000, S. 25/35. 15 Pernice, I., in: Dreier (Hrsg.), GG, 2. Aufl., 2006, Art. 23, Rdnr. 30 spricht insoweit von einem „Notrecht“ der Mitgliedstaaten.

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dert. Ungeachtet der offenen Staatlichkeit, der das Grundgesetz von Anfang an verpflichtet gewesen ist, ist es jedoch nach wie vor als Verfassung eines in sich ruhenden und sich selbst genügenden Nationalstaats konzipiert, in dem es in erster Linie darum geht, die Macht auf möglichst viele Träger zu verteilen (vertikale Gewaltenteilung). Dieser „introvertierte“ Föderalismus trägt der europäischen Einbindung Deutschlands jedoch nicht (mehr) ausreichend Rechnung, zumal sich der Gedanke der vertikalen Gewaltenteilung angesichts der weitgehenden Übertragung von Zuständigkeiten auf die europäische Ebene bis zu einem gewissen Grad überlebt hat. a) Rechtssetzungsphase In der sog. aufsteigenden (Rechtssetzungs-)Phase bereitet vor allem die effektive Durchsetzung nationaler Interessen im Rat der EU Probleme, aber auch die zu geringen Mitwirkungsmöglichkeiten des Bundestags nach Art. 23 GG, das unabgestimmte Verhältnis zu den vergleichbaren Rechten des Bundesrates sowie die Einrichtung des Ländervertreters.16 Nach Art. 23 Abs. 6 GG a. F. sollte, wenn mit einem Vorhaben auf Unionsebene im Schwerpunkt ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betroffen sind (Art. 70 GG), die Wahrnehmung der Mitgliedschaftsrechte Deutschlands im Rat auf einen vom Bundesrat zu benennenden Vertreter der Länder im Ministerrang übertragen werden. Die Wahrnehmung der Mitgliedschaftsrechte durch den Ländervertreter muss unter Beteiligung und in Abstimmung mit der Bundesregierung erfolgen, wobei die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes zu wahren ist (Art. 23 Abs. 6 Satz 2 GG). Eine nähere Ausgestaltung dieser Vorschrift findet sich in § 6 Abs. 2 bis 4 EUZBLG a. F./n. F. Diese Bestimmung ist schon aus verfassungsrechtlicher Sicht kritikwürdig: Dem Landesminister fehlt es zwar nicht an der institutionellen – Art. 23 Abs. 6 GG ist durch verfassungsänderndes Gesetz eingeführt worden – wohl aber an der nur über den Bundestag zu vermittelnden personellen demokratischen Legitimation. Er unterliegt keiner vom Bundestag einzufordernden parlamentarischen Verantwortung und vermag dennoch für den Gesamtstaat verbindlich zu handeln.17 Das senkt das demokratische Legitimationsniveau über die von der Europäisierung ohnehin verursachten „Einflussknicks“ hinaus weiter ab. Art. 23 Abs. 6 GG, § 6 EUZBLG sind aber auch deshalb der Kritik ausgesetzt, weil sie eine effektive Verhandlungsführung auf deutscher Seite erheblich erschweren. So ist es etwa im Hinblick auf die im Rat üblichen „Paketlösungen“ misslich, dass die Bun16

Ausführlich Huber, Verantwortungsteilung (Fn. 13), D 26 ff., D 103 ff. Badura, P., in: FS für Redeker, 1993, S. 111, 126; Huber, P. M., Recht der Europäischen Integration, 2. Aufl., 2002, § 11, Rdnr. 46 f. 17

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desregierung insoweit nicht über alle Verhandlungsgegenstände verfügen kann, denn es kann vernünftigerweise nicht erwartet werden, dass die anderen Mitgliedstaaten ihre Verhandlungslinie an der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung Deutschlands ausrichten werden. Die Beteilungs- und Abstimmungserfordernisse zwischen der Bundesregierung und dem Bundesrat mögen dieses Defizit mildern; beseitigen können sie es nicht. Hinzu kommen die Schwierigkeiten, die Kontinuität der Verhandlungsführung sicherzustellen. Da die Landesminister turnusmäßig wechseln und die Landesregierungen auch unterschiedliche politische Profile aufweisen, erweist sich dies als instabiles Element für die Vertretung Deutschlands in Brüssel. Schließlich bleibt das Zeitproblem, wenn bei dringendem Entscheidungsbedarf die Standpunkte von 16 Ländern koordiniert werden müssen. Das gelingt – wie die Erfahrung lehrt – des Öfteren nicht, zu Lasten des Gesamtstaates.18 b) Implementationsphase Schwierigkeiten bereitet aber auch die absteigende Implementationsphase. Das gilt für die Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten wie auch für die innerstaatlichen Steuerungsinstrumente, namentlich für die Haftung zwischen Bund und Ländern. Da die Mitwirkung an der Rechtssetzung auf unionaler Ebene in erster Linie Sache des Bundes ist, die Implementation des Unionsrechts in die nationale (Teil-)Rechtsordnung sich nach dem Grundsatz der institutionellen und verfahrensmäßigen Autonomie der Mitgliedstaaten jedoch nach der grundgesetzlichen Kompetenzordnung richtet (Art. 30, 70 ff., 83 ff. GG),19 ergeben sich hier regelmäßig Diskrepanzen. Weil dem Regierungsapparat auf Bundesebene i. d. R. die Vollzugserfahrungen fehlen und der Bund weder die Auswirkungen unionaler Regelungen auf die Verwaltungspraxis spürt noch mit den Kosten belastet ist (Art. 104a Abs. 1 GG), besteht eine Neigung, unionalen Rechtssetzungsvorhaben zuzustimmen, ohne die Konsequenzen für die nationale Rechtsordnung in allen Einzelheiten zu bedenken – d. h. die verfahrensrechtlichen Schwierigkeiten der Umsetzung und die Probleme bei der Einfügung unionaler Vorgaben in einen häufig ganz anderen dogmatischen Rahmen des nationalen Rechts. Zudem fehlt dem Bund das Instrumentarium, um den aus Art. 10 EG abgeleiteten Anforderungen an eine effektive und gleichmäßige Geltung des Unionsrechts Rechnung zu tragen. Fehlt ihm – etwa im Rundfunkrecht – 18 Siehe FAZ vom 28.2.1998. „Manche Länder mißbrauchen Mitwirkungsrechte in der EU“. 19 Huber, P. M., Recht der Europäischen Integration, § 22, Rdnr. 3.

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eine Gesetzgebungskompetenz oder ist bzw. war er – wie beim Naturschutz (Art. 75 Abs. 1 Nr. 3 GG) – auf Rahmenregelungen begrenzt, so scheiterte nicht selten die Erfüllung der gegenüber der EU bestehenden Verpflichtungen. Und das ist nicht nur ein theoretisches Problem,20 wie zahlreiche Vertragsverletzungsverfahren, der 1996 gestellte Antrag der EU-Kommission auf Verhängung eines Zwangsgeldes wegen Nichtbefolgung von EuGH-Urteilen21 oder die Schwierigkeiten mit der innerstaatlichen Umsetzung des Stabilitätspaktes22 zeigen. Zwar sind die Länder durch das Bundesstaatsprinzip und den Grundsatz der Bundestreue (Art. 20 GG)23 gehalten, dem Bund die Erfüllung seiner unionsrechtlichen Verpflichtungen zu ermöglichen; auch wären hier – je nach Lage der Dinge – der Einsatz der Bundesaufsicht (Art. 84 Abs. 3 bis 5, Art. 85 Abs. 3 und 4 GG) oder gar des Bundeszwangs (Art. 37 GG) denkbar24. Praktische Erfahrungen mit diesem Instrumentarium gibt es jedoch nicht. Auch Haftungsansprüche zwischen Bund und Ländern gab es in diesem Zusammenhang bislang nicht. Der hier in Betracht kommende Art. 104a Abs. 5 GG findet auf das Handeln von Gesetzgeber und Regierung keine Anwendung, und selbst für den nicht ordnungsgemäßen Vollzug des Unionsrechts hatte das BVerwG die Möglichkeit einer analogen Anwendung dieser Haftungsnorm (vorschnell25) zurückgewiesen.26 20 Zuletzt Zwanzigster Jahresbericht über die Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts (2002) vom 21.11.2003, KOM (2003) 669 endg., S. 82. 21 ABl. EG 1997 Nr. C 166/7 f.; konkret ging es um die Nichtumsetzung der GrundwasserRiL 80/68/EWG, der GewässerschutzRiL 75/440/EG und der VogelschutzRiL 79/409/EWG, deren Umsetzung jedenfalls auch an den Ländern hing. 22 Stabilitäts- und Wachstumspakt, Entschließung des Europäischen Rates über den Stabilitäts- und Wachstumspakt, ABl. EG 1997 Nr. C 236/01; VO/EG Nr. 1466/97 des Rates vom 7. Juli 1997 über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken, ABl. EG 1997 Nr. L 209/01; VO/EG Nr. 1467/97 des Rates vom 7. Juli 1997 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit, ABl. EG 1997 Nr. L 209/06. 23 Grundlegend Bauer, H., Die Bundestreue, 1992, S. 195; Zuleeg, M., Zum Standort des Verfassungsstaats im Geflecht der internationalen Beziehungen, DÖV 1977, 462/466. 24 Huber, Recht der Europäischen Integration (Fn. 19), § 22, Rdnr. 7. 25 Die Annahme des Gerichts, die Länder seien wegen der unmittelbaren Anwendbarkeit der EG-Verordnung gegenüber der EU zum ordnungsgemäßen Vollzug verpflichtet und nicht gegenüber dem Bund, verwechselt die zweifellos bestehende objektiv-rechtliche Bindung der Länder und die unionsrechtliche Pflichtenstellung; letztere besteht nur im Verhältnis zwischen EU und Bund. 26 BVerwGE 116, 234 ff.; nun aber BVerfG, 2 BvG 1/04 vom 17.10.2006.

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II. Ansätze zur Entflechtung 1. Reduzierung der Zustimmungsgesetze Vor der Föderalismusreform bedurften ca. 60% aller Bundesgesetze der Zustimmung des Bundesrates. Entscheidende Ursache dafür war die Befugnis des Bundesgesetzgebers nach Art. 84 Abs. 1 und Art. 85 Abs. 1 GG, mit Zustimmung des Bundesrates Regelungen über die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren der Länder treffen zu können. Ca. 50% aller zustimmungspflichtigen Bundesgesetze beruhten auf dieser ursprünglich als Ausnahme konzipierten Ermächtigung. Das beeinträchtigte nicht nur die Organisationshoheit der Länder, sondern zog auch ein flächendeckendes Vetorecht des Bundesrates nach sich. a) Einrichtung der Behörden und Verwaltungsverfahren Vor diesem Hintergrund hat die Föderalismusreform dem Bund einerseits die Möglichkeit eröffnet, auch ohne Zustimmung des Bundesrates uneingeschränkt Regelungen über die Einrichtung der Landesbehörden und deren Verwaltungsverfahren zu erlassen, freilich um den Preis eines Abweichungsrechts der Länder (Art. 84 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG n. F.). Diese müssen Ingerenzen des Bundes in ihre Organisationshoheit damit grundsätzlich nur dulden, wenn dies verfassungs- oder unionsrechtlich vorgegeben ist. Allein diese Neuerung rechtfertigt nach Erhebungen des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags die Erwartung, dass sich die Anzahl der zustimmungspflichtigen Bundesgesetze – vorbehaltlich des Art. 104a Abs. 4 GG n. F. – um beinahe die Hälfte reduzieren wird. Sie erledigt zudem auch die schwierigen, mit der sog. Einheitsthese verbundenen Abgrenzungsprobleme und dürfte rechtspolitisch zu einer noch stärkeren Dominanz bundesrechtlicher Vorgaben führen. Denn Staatspraxis und Erfahrung deuten darauf hin, dass die Länder von ihrem Abweichungsrecht nur in politisch kontroversen oder grundsätzlichen Fragen Gebrauch machen, es im Übrigen jedoch bei der bundesrechtlichen Regelung bewenden lassen werden. Dass Art. 84 Abs. 1 Satz 3 und 4 GG n. F. daneben weiterhin die Möglichkeit enthält, bei einem besonderen Bedürfnis nach bundeseinheitlicher Regelung mit Zustimmung des Bundesrates auch abweichungsfeste Regelungen über das Verwaltungsverfahren27 vorzusehen, schreibt lediglich den 27 Die „Einrichtung der Behörden“, insbesondere Regelungen über die Zuständigkeit der obersten, höheren oder unteren Verwaltungsbehörde, können dagegen in Zukunft nicht mehr abweichungsfest ausgestaltet werden.

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Status quo fort und entfaltet deshalb kein neues Verflechtungs- oder Blockadepotential. b) Neuer Zustimmungstatbestand Ein solches enthält freilich der neu gefasste Art. 104a Abs. 4 GG. Danach bedürfen Bundesgesetze, die Pflichten der Länder zur Erbringung von Geldleistungen, geldwerten Sachleistungen oder vergleichbaren Dienstleistungen begründen, der Zustimmung des Bundesrates, wenn daraus entstehende Ausgaben von den Ländern zu tragen sind. Diese Regelung läuft zwar dem Anliegen der Reform, Verflechtungen abzubauen, zuwider, trägt andererseits aber dem Umstand Rechnung, dass in zahlreichen Fällen, in denen bislang die Zustimmung des Bundesrates nach Art. 84 Abs. 1 und Art. 85 Abs. 1 GG Schwierigkeiten bereitete, die eigentliche Ursache in den Auswirkungen auf die Länderhaushalte lag. So gesehen sichert der Zustimmungsvorbehalt die Budgethoheit der Länder ab und dient damit zugleich ihrer Eigenstaatlichkeit, dem Demokratieprinzip und der Zielsetzung des Art. 109 Abs. 1 GG. Das erscheint rechtspolitisch sinnvoll. 2. Entflechtung zugunsten der Kommunen Für die Kommunen – Gemeinden und Landkreise – waren die Folgen des in Art. 104a Abs. 1 GG normierten Konnexitätsprinzips bislang besonders gravierend. Ausweislich von Art. 106 Abs. 9 GG stellen sie sich auch im Rahmen der Finanzverfassung letztlich (nur) als Einrichtungen mittelbarer Landesstaatsverwaltung dar, und obwohl sie der verfassungsändernde Gesetzgeber durch mehrfache Änderungen des Art. 106 GG in den vergangenen Jahren zunehmend als dritte Ebene im Finanzverfassungssystem des Grundgesetzes anerkannt hat,28 werden sie im Übrigen doch vollständig durch die Länder mediatisiert. Unmittelbar gegen den Bund gerichtete Finanzierungsansprüche besitzen sie deshalb nicht. Betraute sie dieser daher auf der Grundlage von Art. 84 Abs. 1, Art. 85 Abs. 1 GG mit finanzwirksamen Aufgaben wie der Sozialhilfe oder der Grundsicherung, so konnte er dabei im wesentlichen frei entscheiden, ob er die damit verbundenen Kosten tragen wollte oder nicht (Art. 104a Abs. 3 GG a. F.). Da das Grundgesetz kein an die Gesetzeskausalität anknüpfendes Konnexitätsprinzip kennt, musste er für einen (entsprechenden) finanziellen Ausgleich bei Kreisen und Städten auch nicht Sorge tragen. Für diese war die damit vorgegebene „Sandwich-Position“ deshalb besonders misslich, weil die Länder, die einem entsprechenden Gesetz im Bundesrat ihre Zustimmung auch bislang 28

So BVerfGE 101, 158/230 – FAG IV.

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schon hätten verweigern können – die Zuweisung einer Aufgabe ist eine „Einrichtung der Behörden“ i. S. v. Art. 84 Abs. 1 GG –, solchen finanzwirksamen Aufgabenübertragungen auf die Kommunen i. d. R. deshalb keinen hartnäckigen Widerstand entgegen gesetzt haben, weil sie bei dieser Übertragung einigermaßen ungeschoren davon kamen. Zwar kennen alle Landesverfassungen mittlerweile ein an die Gesetzeskausalität anknüpfendes „Konnexitätsprinzip“ für den kommunalen Finanzausgleich.29 Dieses nimmt die Länder jedoch nur in die Pflicht, wenn sie staatliche Aufgaben auf Kreise und Gemeinden abwälzen. Auf eine Übertragung durch den Bund ist es jedoch in aller Regel nicht anwendbar. Den letzten also bissen bislang die Hunde. Das in Art. 84 Abs. 1 Satz 7 und Art. 85 Abs. 1 Satz 2 GG nun eingefügte Verbot, durch Bundesgesetz Aufgaben auf Gemeinden und Gemeindeverbände zu übertragen, beendet diese Situation. In Zukunft ist es allein den Ländern vorbehalten, den Kommunen (materiell) staatliche Aufgaben zu übertragen. Dann aber greifen die landesverfassungsrechtlichen Garantien, namentlich das überwiegend strikte Konnexitätsgebot. 3. Entflechtungsansätze in der Finanzverfassung Auch in der Finanzverfassung ist – insbesondere auf der Ausgabenseite – die Finanzhoheit von Bund und Ländern mittlerweile so miteinander verflochten, dass eine klare Verantwortungszurechnung kaum noch möglich ist. Während die Steuergesetzgebung fast ausschließlich in den Händen des Bundes liegt (Art. 105 GG) – die Länder spielen hier keine nennenswerte Rolle (Art. 105 Abs. 2a GG) – prägte die Ausgabenseite ungeachtet des in Art. 104a Abs. 1 GG niedergelegten Konnexitätsprinzips ein Entscheidungsverbund, der an der Finanzierung der Gemeinschaftsaufgaben ebenso greifbar wurde wie an den Geldleistungsgesetzen nach Art. 104a Abs. 3 GG a. F., den Finanzhilfen des Bundes nach Art. 104a Abs. 4 GG a. F. sowie dem horizontal und vertikal verschränkten Finanzausgleich. Seit den 1960er Jahren hat sich vor allem im Kulturbereich auch noch eine Reihe von ungeschriebenen – parakonstitutionellen – Kofinanzierungstatbeständen entwickelt, deren verfassungsrechtliche Zulässigkeit unter dem Gesichtspunkt der Mischfinanzierung mehr als zweifelhaft ist. Verfassungsrechtliche Einwände gegen diese Praxis sind freilich nie auf Resonanz gestoßen. Der Bund freut sich i. d. R. über sein Mitspracherecht, die Länder darüber, dass ihnen die finanzielle Entlastung einen größeren Aktionsradius eröffnet. 29

Siehe etwa Art. 83 Abs. 3 BV; Art. 93 Abs. 1 Satz 2 ThürVerf.

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a) Allgemeine Ansätze Ein großer Wurf ist der Föderalismusreform hier nicht gelungen. Immerhin wurde die Hochschulbauförderung in Art. 91a GG a. F. gestrichen und auf Forschungsbauten an Hochschulen begrenzt (Art. 91b Abs. 1 Nr. 3 GG n. F.). Das im Gesetzentwurf noch enthaltene Verbot, im Bereich ausschließlicher Landeszuständigkeiten Finanzhilfen des Bundes zu gewähren,30 wurde dagegen dahingehend abgeschwächt, dass solche Finanzhilfen überall dort zulässig sind, wo der Bund über Gesetzgebungsbefugnisse verfügt, also etwa im Bereich der Hochschulen (arg. e Art. 74 Abs. 1 Nr. 33 GG), nicht dagegen im Bereich des Schulrechts. Das – unter kompetenzrechtlichen Gesichtspunkten problematische – Ganztagsschulprogramm der Bundesregierung31 wird sich vor diesem Hintergrund allerdings nicht wiederholen können. b) Berlin-Klausel Auch die in Art. 22 Abs. 1 GG neu aufgenommene Berlin-Klausel, ein besonderes Anliegen von Rupert Scholz32, wird man auf der „Haben-Seite“ der Reform verbuchen können. Dass die Repräsentation des Gesamtstaates in der Hauptstadt als Aufgabe des Bundes definiert wird (Art. 22 Abs. 1 Satz 2 GG), verbunden mit entsprechenden Finanzierungskompetenzen (Art. 22 Abs. 1 Satz 3 GG), ist eine klare Verantwortungszuweisung und holt diese symbolträchtige Staatsaufgabe aus dem Dunkel des (finanz-)verfassungsrechtlichen Instrumentenmix33 heraus. Sie ist zudem geeignet, für Berlin die Folgen abzumildern, die sich aus dem erfolglosen Antrag ergeben haben, durch das Bundesverfassungsgericht eine „extreme Haushaltsnotlage“ feststellen zu lassen.34 III. Neuordnung der Gesetzgebungskompetenzen Zentraler Bestandteil der Föderalismusreform aber ist vor allem eine Neuordnung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern. Sie gibt vor allem den Landtagen wieder substantielle Rechtssetzungsbefug30

BT-Drucks. 16/813, S. 4 – Art. 104b Abs. 1 Satz 2. „Investitionsprogramm Zukunft Bildung und Betreuung 2003–2007“, Finanzplan des Bundes 2003–2007, BT-Drucks. 15/1501. 32 Scholz, Deutschland – In guter Verfassung? (Fn. 1), S. 32 ff.; Deutscher Bundestag/Bundesrat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.), Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung (Fn. 5), S. 951. 33 Huber, P. M., in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, III, 5. Aufl., 2005, Art. 107, Rdnr. 116. 34 BVerfG, 2 BvF 3/03 vom 19.10.2006. 31

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nisse und bremst damit die Sklerose des deutschen Föderalismus. Zudem gelingt es ihr, die Materien so zwischen Bund und Ländern zu verteilen, dass zum ersten Mal seit 1949 so etwas wie ein sachliches Konzept erkennbar wird. 1. Abweichungsrecht statt Rahmengesetzgebung Nach allgemeiner Auffassung hatte sich der Typus der Rahmengesetzgebung in Art. 75 GG nicht sonderlich bewährt. Sie war schon insoweit ein Fremdkörper im Kompetenzverteilungssystem des Grundgesetzes, weil die mit ihr verbundene kooperative Rechtssetzung die Art. 70 GG zugrunde liegende Idee durchbrach, dass entweder der Bund oder die Länder für die Gesetzgebung zuständig sein sollen, nicht aber beide. Zudem war die Abgrenzung zwischen den – nicht unmittelbar geltenden – Rahmenregelungen und den Ausnahmefällen, in denen in Einzelheiten gehende oder unmittelbar geltende Regelungen des Bundes zulässig waren (Art. 75 Abs. 2 GG a. F.), schwierig und in der Praxis trotz jahrzehntelanger Bemühungen nicht gelungen. Häufig war der Rahmen so groß, dass man vom Bild nichts mehr sah, wie eine gängige Metapher lautete. Daran hätte die jüngere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zwar voraussichtlich einiges geändert. Beseitigt hätte sie die Abgrenzungsschwierigkeiten, und mithin auch die mit ihnen verbundene Rechtsunsicherheit, jedoch nicht. Zudem genügte die Rahmengesetzgebung nicht, um eine unionsrechtskonforme Umsetzung von EU-Richtlinien bzw. eine Operationalisierung entsprechender EU-Verordnungen sicherzustellen. a) Die konkurrierende Gesetzgebung mit Abweichungsrecht als neuer Gesetzgebungstyp Angesichts dieses Ausgangsbefundes hat Art. 72 Abs. 3 GG n. F. die Rahmengesetzgebung im Wesentlichen durch einen neuen Typus von Gesetzgebung ersetzt, die konkurrierende Gesetzgebung mit Abweichungsrecht. „Politische Prozeduralisierung“35 ersetzt damit einen starren, mit Auslegungsunsicherheiten behafteten, den sachlichen Anforderungen nicht mehr genügenden Gesetzgebungstyp. Sie gibt dem Bund einerseits die Möglichkeit, in den einschlägigen – bislang überwiegend den Ländern zugeordneten – Materien Vollregelungen zu erlassen, gestattet es diesen aber gleichzeitig, ohne weitere (verfassungsrechtliche) Voraussetzungen von den Vorgaben des Bundesrechts abzuweichen. 35 Schulze-Fielitz, H., Umweltschutz und Föderalismus – Europa, Bund, Länder, demn. in: GfU 2007.

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b) Kritik Die Aufnahme der „konkurrierenden Gesetzgebung mit Abweichungsrecht“ stellt freilich ebenfalls einen gewissen Bruch im System von Art. 30, 31 und 70 ff. GG dar. Mehr noch als die Rahmengesetzgebung lässt sie in Zukunft parallele Regelungen von Bund und Ländern zu. Das beinhaltet – wie in der wissenschaftlichen Diskussion der letzten Jahre immer wieder betont worden ist – die Gefahr der Rechtszersplitterung, das Risiko, systematische Konzeptionen des Bundes zu konterkarieren, und kann auch umfangreiche Auslegungs- und Vollzugsprobleme nach sich ziehen: Wann weicht ein Land vom Bundesrecht ab, wann wiederholt es dieses nur deklaratorisch und umgekehrt? Eine Notifizierungspflicht – wie in der Sachverständigenanhörung gefordert36 – hat der verfassungsändernde Gesetzgeber nicht vorgesehen. Stattdessen soll es eine informelle Dokumentation bei Juris richten. Zusätzliche Abgrenzungsschwierigkeiten werden dadurch geschaffen, dass für die meisten Materien des Art. 72 Abs. 3 GG abweichungsfeste Kerne normiert worden sind (Jagdscheine, allgemeine Grundsätze des Naturschutzes, stoff- und anlagenbezogene Regelungen im Wasserrecht), was die alten Abgrenzungsprobleme der Rahmenkompetenz in neuem Gewande weiterleben lässt. Schließlich: galt bislang, dass Bundesrecht Landesrecht „bricht“ und die Länder das Recht der Gesetzgebung nur besitzen, solange und soweit der Bund von seinen Kompetenzen keinen (abschließenden) Gebrauch gemacht hat (arg. e Art. 72 Abs. 1 GG), ist es ihnen in Zukunft gestattet, sich über bundesgesetzliche Regelungen hinwegzusetzen. Allerdings wird das Bundesrecht durch die Abweichung eines Landes nicht „gebrochen“, sondern nach dem lex-posterior-Satz nur verdrängt. Gleiches gilt auch im Verhältnis zwischen Landesrecht und abweichendem Bundesrecht (Art. 72 Abs. 3 Satz 3 GG). Es gilt in diesen Fällen m. a. W. ein „Anwendungsvorrang“ des jeweils späteren Gesetzes. c) Wertung Bei näherem Hinsehen verlieren die Einwände jedoch an Gewicht. Erkennt man, dass es hier „eigentlich“ um Landeskompetenzen geht, bei denen der Bund entweder mit Blick auf die unionsrechtlichen Verpflichtungen aus übergeordnetem Interesse in einer Art subsidiärer Garantenstellung tätig wird (arg. e Art. 28 Abs. 3 GG), oder im Interesse einer modernen, effektiven und umfassenden Gesetzgebung, und dass es sonst mit der Regel des 36 Siehe Gemeinsame öffentliche Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages und des Ausschusses für Innere Angelegenheiten des Bundesrates zur Föderalismusreform, Stenographischer Bericht, 12. Sitzung, Rechtsausschussprotokoll 12, S. 8.

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Art. 70 GG sein Bewenden hätte, dann überwiegen die Vorteile dieses „Systembruchs“: Er eröffnet der bundesstaatlichen Kompetenzordnung zusätzliche Flexibilität und die Chance zu föderalem Wettbewerb – soweit die Länder organisatorisch, personell und finanziell dafür gerüstet sind. Er kann im gesamtstaatlichen Interesse einen Prozess von „trial and error“ anstoßen, in dem sich das Abweichen eines Landes bundesweit als Erfolg durchsetzen oder als Fehlentwicklung herausstellen kann. Mit Blick auf die EU gestattet es dieser Typus von Gesetzgebungskompetenz der Bundesrepublik Deutschland, ihre unionsrechtlichen Verpflichtungen zu erfüllen und die Gefahr zu verringern, Vertragsverletzungen und Strafzahlungen unterworfen zu werden. Er eröffnet dem Bund zudem die Möglichkeit, den verfassungsrechtlichen Kern der betroffenen Materien bundesweit festzustellen und ihn damit zugleich auch politisch abzusichern. Zudem sind die Gegenstände, die unter diesen Gesetzgebungstyp fallen, begrenzt: das Jagdwesen (Nr. 1), Detailfragen des Naturschutzes und der Landschaftspflege (Nr. 2), die praktisch gegenstandslose Bodenverteilung (Nr. 3), das Recht der Raumordnung (Nr. 4), ein Teil des Wasserhaushaltsrechts (Nr. 5) sowie die Hochschulzulassung und die Hochschulabschlüsse (Nr. 6). Auch rechtfertigen die bisherige Staatspraxis zu den bundesrechtlichen Öffnungsklauseln, die Erfahrungen mit der temporären Geltung von Bundesrecht in den östlichen Ländern nach 1990, die 30-jährigen Erfahrungen mit dem Verwaltungsverfahrensgesetz und dem Datenschutzrecht, die (freiwillige) Selbstkoordination der Länder im Bereich des Polizei- und Baurechts, das Interesse nicht nur ausländischer Investoren an möglichst uniformen Regelungen sowie die Konvergenz im Bereich des Kommunalrechts die Prognose, dass ein Land nur in seltenen Fällen von diesem Abweichungsrecht Gebrauch machen wird. Dabei wird die lex-posterior-Regel, die auch zu Lasten abweichenden Landesrechts gilt, die Bereitschaft zum Abweichen zusätzlich dämpfen. Da ein Abweichen der Länder von den Regelungen des Bundesrechts in den genannten Bereichen voraussetzungslos möglich ist, scheiden aber vor allem verfassungsgerichtliche Auseinandersetzungen über die Zulässigkeit der Abweichung aus. Die konkurrierende Gesetzgebung mit Abweichungsrecht ist daher unter dem Gesichtspunkt von Flexibilität und Innovationsfähigkeit der bundesstaatlichen Ordnung im Allgemeinen und ihrer Europatauglichkeit im Besonderen trotz der damit verbundenen Probleme grundsätzlich zu begrüßen. Denn sie erleichtert in den in Art. 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1–6 GG n. F. genannten Bereichen nicht nur die Implementation des Unionsrechts, sondern gibt dem Bundesgesetzgeber auch die Möglichkeit zur Kodifikation von Materien, die bislang an der Aufsplitterung der Gesetzgebungszuständigkeiten (vermeintlich) gescheitert sind. So wird es ihm insbesondere möglich

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sein, das seit bald 20 Jahren stecken gebliebene Vorhaben eines Umweltgesetzbuches zu verwirklichen. Mittelbar lässt sich Art. 125b Abs. 1 Satz 3 GG n. F. sogar ein diesbezüglicher Verfassungsauftrag entnehmen. 2. Rationalere Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen Insgesamt vermittelt die vorgesehene Neuordnung der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes zudem erstmals seit 1949 Züge eines rationalen Konzeptes: danach ist allein der Bund für die Außenvertretung zuständig sowie für die ihrer Natur nach überregionalen Angelegenheiten. Beide übersteigen die Leistungsfähigkeit der Länder a priori. Auch ist er Garant des Ganzen und gewährleistet die Handlungsfähigkeit des Staates, wenn andere Stellen dazu nicht in der Lage sind (Art. 28 Abs. 3 GG). Die Länder erhalten dagegen weitgehende Autonomie bezüglich ihres Selbstorganisationsrechts, typischerweise regionaler Angelegenheiten sowie von Bildung und Kultur – „vom Kindergarten bis zur Habilitation“, wie es der Abgeordnete Norbert Röttgen in der Bundesstaatskommission formuliert hat. Das ist – mit Einschränkungen im Detail (z. B. Rundfunk) – Ausdruck einer letztlich auf dem Subsidiaritätsprinzip aufbauenden Zuständigkeitsordnung. Zur Stärkung der Außenkompetenz des Bundes wird man in diesem Zusammenhang die Begrenzung des Ländervertreters nach Art. 23 Abs. 6 Satz 1 GG auf schulische Bildung, Kultur und Rundfunk rechnen können sowie die neue ausschließliche Zuständigkeit für den Schutz deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung ins Ausland (Art. 73 Abs. 1 Nr. 5a GG). Von ihrer Natur her gesamtstaatlich bzw. überregional angelegt sind die Repräsentation des Gesamtstaates in der Hauptstadt (Art. 22 Abs. 1 GG), das Melde- und Ausweiswesen (Art. 73 Abs. 1 Nr. 3 GG), die Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus durch das Bundeskriminalamt in Fällen, in denen eine länderübergreifende Gefahr vorliegt, die Zuständigkeit einer Landespolizeibehörde nicht erkennbar ist oder die oberste Landesbehörde um die Übernahme ersucht (Art. 73 Abs. 1 Nr. 9a GG), das Waffen- und Sprengstoffrecht (Art. 73 Abs. 1 Nr. 12 GG), die Versorgung der Kriegsbeschädigten, Kriegshinterbliebenen und die Fürsorge für die ehemaligen Kriegsgefangenen (Art. 73 Abs. 1 Nr. 13 GG) und das Atomrecht (Art. 73 Abs. 1 Nr. 14 GG). Zur Organisationshoheit der Länder und ihrem Selbstorganisationsrecht i. w. S. kann dagegen das Landesbeamtenrecht hinsichtlich der Laufbahnen, der Besoldungs- und Versorgungsfragen gerechnet werden; es ist konsequenterweise in die Zuständigkeit der Länder überführt worden (arg. e Art. 74 Abs. 1 Nr. 27 GG). Statusrechte und -pflichten sind dagegen durch Art. 33 Abs. 5 GG ohnehin weitgehend bundesrechtlich vorgegeben.

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Wegen ihres bloß regionalen Zuschnitts wurden auf die Länder übertragen: das Heimrecht (arg. e Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG), das Ladenschluss-, Gaststätten- und Gewerberecht, soweit es Spielhallen, die Schaustellung von Personen, Märkte und Messen betrifft (arg. e Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG), die Flurbereinigung (arg. e Art. 74 Abs. 1 Nr. 17 GG ), der Schutz vor verhaltensbezogenem Lärm (arg. e Art. 74 Abs. 1 Nr. 24 GG) und das Hochschulrecht jenseits der Hochschulzulassung und der Hochschulabschlüsse (arg. e Art. 74 Abs. 1 Nr. 33 GG). 3. Rückführung der Erforderlichkeitsklausel Die oben zitierte Rechtsprechung des BVerfG seit dem Altenpflegeurteil hatte die Hürden für ein Tätigwerden des Bundesgesetzgebers im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung substantiell erhöht. Danach ist eine Gesetzgebung des Bundes nur mehr zulässig, wenn sich die Lebensverhältnisse in den Ländern in erheblicher, das bundesstaatliche Sozialgefüge beeinträchtigender Weise auseinander entwickelt haben oder sich eine derartige Entwicklung abzeichnet, wenn eine Rechtszersplitterung droht, die sowohl im Interesse des Bundes als auch der Länder nicht hingenommen werden kann, oder wenn die Untätigkeit des Bundes erhebliche Nachteile für die Gesamtwirtschaft mit sich bringt.37 Zwar ist eine gewisse Einschätzungsprärogative des Bundesgesetzgebers auch unter Zugrundelegung dieser Anforderungen nicht zu vermeiden.38 Schon aus funktionellrechtlichen Gründen ist es kaum vorstellbar, dass das Bundesverfassungsgericht darüber befinden sollte, wann sich die Lebensverhältnisse in den Ländern so auseinander entwickelt haben, dass eine Beeinträchtigung des bundesstaatlichen Sozialgefüges droht, welches Maß an Rechtszersplitterung in Deutschland hinzunehmen ist oder wann genau „erhebliche Nachteile für die Gesamtwirtschaft“ drohen. So hat es denn trotz der ungewöhnlich breiten Ausführungen zu der ihm eröffneten Kontrolldichte einen Prognosespielraum des Gesetzgebers letztlich sowohl hinsichtlich des Gesetzesziels als auch hinsichtlich seiner Auswirkungen einräumen müssen: „Prognostische Einschätzungen sind insbesondere bei der Beurteilung von Gesetzeswirkungen und bei der Antwort auf die Frage unumgänglich, wie sich die tatsächlichen Verhältnisse ohne ein Eingreifen des Bundesgesetzgebers oder durch ein Eingreifen der Landesgesetzgeber künftig entwickeln werden . . . 37

BVerfGE 106, 62/142 ff. – seither gefestigte Rechtsprechung. Huber, P. M., Deutschland in der Föderalismusfalle?, 2003, S. 25; missverständlich insoweit BVerfGE 106, 62/148 ff. 38

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Auch für die Feststellung künftiger Entwicklungen, von denen die „Erforderlichkeit“ im Sinne des Art. 72 Abs. 2 GG abhängt, hat der Gesetzgeber einen Prognosespielraum. Entwickelt sich ein Geschehensablauf anders als zuvor angenommen, so realisiert sich darin vielfach nur das prognosetypische, jeder Abschätzung komplexer künftiger Entwicklungen innewohnende Risiko. Fehlprognosen sind selbst bei größter Prognosesorgfalt letztlich nicht auszuschließen. Also muss auch dem Gesetzgeber, der Prognosen nicht vermeiden kann, innerhalb gewisser Grenzen zugestanden werden, dass er dieses Risiko eingeht, ohne eine negative verfassungsrechtliche Beurteilung befürchten zu müssen“.39 Dessen ungeachtet drohte diese Rechtsprechung die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes in großem Umfang leer laufen zu lassen und befrachtete alle bundesgesetzlichen Regelungen mit einer erheblichen Rechtsunsicherheit. Dass die Ablösung von wirksam erlassenem Bundesrecht zudem an eine Freigabe durch den Bund geknüpft war – Art. 72 Abs. 3 GG a. F., Art. 125a GG a. F. –, beschwor, wie namentlich an der KampfhundeProblematik deutlich wurde,40 die Gefahr einer „Versteinerung“ des Bundesrechts herauf. Vor diesem Hintergrund ist es geradezu ein Befreiungsschlag, dass die Föderalismusreform die Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG nurmehr auf die in Art. 72 Abs. 2 GG n. F. genannten Gegenstände, d. h. auf 10 von 33 Materien begrenzt hat. Deutlicher kann man die Handlungsfähigkeit des Bundes kaum stärken. IV. Verbesserte Europatauglichkeit des Grundgesetzes Die Föderalismusreform erhöht schließlich auch die Europatauglichkeit des Grundgesetzes, wenn auch nicht im erforderlichen Ausmaß. Zwar bringt sie für die sog. aufsteigende (Rechtssetzungs-)Phase lediglich marginale Verbesserungen, die weder das Legitimationsniveau der deutschen Europapolitik anheben noch die Durchsetzung deutscher Interessen erleichtern werden. Dagegen lassen sich im Hinblick auf die absteigende (Implementations-)Phase durchaus signifikante Verbesserungen ausmachen. 1. Geringfügige Veränderungen in der aufsteigenden (Rechtssetzungs-)Phase Bei Art. 23 Abs. 4 und 5 GG haben sich die Länder nicht bewegt. Die Durchsetzung nationaler – d. h. gesamtstaatlicher – Interessen ist ihnen offenkundig kein Anliegen. Die Ministerpräsidentenkonferenz hat, jegliche 39 40

BVerfGE 106, 62/150 ff. BVerfGE 110, 141 ff. – Kampfhunde.

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Kritik zurückweisend, im Gegenteil sogar die Auffassung vertreten, Art. 23 GG habe sich bewährt.41 Dagegen hat die Bundesregierung, und hier namentlich Staatssekretär Geiger, die von den Sachverständigen geäußerte Kritik substantiiert untermauert und anhand mehrerer Rechtssetzungsvorhaben dokumentiert, wie lähmend die innerstaatliche Mitwirkung des Bundesrates wirkt,42 dass Verständigungen zwischen Bund und Ländern häufig erst kurz vor der abschließenden Sitzung des Rates zustande kommen und eine wirkungsvolle Einflussnahme Deutschlands so nicht erfolgen kann. Dass Enthaltung im Brüsseler Jargon mittlerweile „German vote“ heißt, kann vor diesem Hintergrund kaum überraschen. a) Enttäuschende Gesamtbeurteilung Die Föderalismusreform bringt weder die Einrichtung eines Bundes-Europaministeriums noch ändert sie etwas an der defizitären Rolle des Deutschen Bundestags in der aufsteigenden (Rechtssetzungs-)Phase. Nicht einmal die Ratifizierung des VVE konnte das Parlament aus seiner Lethargie reißen. Die Steilvorlage des VVE hat es verspielt,43 und auch die entsprechend § 6 EUZBTG abgeschlossene Vereinbarung vom 22. September 2006 geht über den Status quo kaum hinaus. Im Bereich des Bundesrates wird es zu keiner Vereinfachung kommen, und auch die Hoffnung auf die von nahezu allen Sachverständigen empfohlene Streichung des Art. 23 Abs. 6 GG bleibt unerfüllt. b) Marginale Verbesserungen beim Ländervertreter Immerhin wurde die Vorschrift neu gefasst. Aus der Sollvorschrift ist eine gebundene Entscheidung geworden; im Gegenzug ist ihr Anwendungsbereich deutlich begrenzt. In Zukunft wird der Ländervertreter nur noch in drei Bereichen tätig werden: bei Schulen, Rundfunk und Kultur. In diesen Fällen muss ein Landesminister Deutschland in Abstimmung mit der Bundesregierung vertreten. Das schafft Klarheit, reduziert aber auch die Anwendungsfälle des Art. 23 Abs. 6 GG und das mit ihnen verbundene Konfliktpotential. 41 Deutscher Bundestag/Bundesrat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.), Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung (Fn. 5), S. 168. 42 Deutscher Bundestag/Bundesrat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.), Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung (Fn. 5), S. 169 ff. 43 Die durch das Gesetz vom 17. November 2005 (BGBl. I 2005, 3178) vorgenommene Änderung des EUZBTG ist bestenfalls ein Placebo.

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Unionsrechtliche Rahmenbedingungen können in dieselbe Richtung wirken. Für eine entsprechende Regelung über die Zusammensetzung des Rates wurde dies bereits dargelegt. Ein anderes Beispiel ist die Rundfunkpolitik. Hier sieht der jüngste Entwurf der EU-Kommission vor, die Fernsehrichtlinie durch eine Richtlinie über audiovisuelle Medien zu ersetzen.44 Damit nimmt sie die tatsächlichen Konvergenztendenzen im Medienrecht45 ansatzweise auf,46 was sachlich nahe liegt, mit der deutschen Kompetenzverteilung allerdings nur bedingt kompatibel ist. Denn hier gehört die Individualkommunikation zur ausschließlichen Zuständigkeit des Bundes (Art. 73 Abs. 1 Nr. 7 GG), Rundfunk hingegen ist Ländersache.47 Machen die den Rundfunk betreffenden Regelungen jedoch nurmehr einen von mehreren Regelungsgegenständen aus, so bleibt für den neu gefassten Art. 23 Abs. 6 GG kein Raum. Die nicht kompatiblen Kompetenzverteilungssysteme von EU-V/EG-V und GG reduzieren seinen Anwendungsbereich damit faktisch noch weiter, und das ist gut so. 2. Signifikante Verbesserungen bei der absteigenden (Implementations-)Phase In deutlichem Gegensatz zu den enttäuschenden Ergebnissen, die die Föderalismusreform für die aufsteigende (Rechtssetzungs-)Phase gebracht hat, stehen die Verbesserungen bei der absteigenden (Implementations-)Phase. Dazu gehören neben der bereits besprochenen Ersetzung der Rahmengesetzgebung durch die konkurrierende Gesetzgebung mit Abweichungsbefugnis vor allem die Normierung eines Haftungstatbestandes für Verstöße gegen das Unionsrecht und die Aufteilung der Haftung zwischen Bund und Ländern für Sanktionen im Zusammenhang mit dem europäischen Stabilitätspakt. a) Haftung für Verstöße gegen das Unionsrecht Die nunmehr in Art. 104a Abs. 6 GG normierte Haftungsregelung ist auf der Habenseite zu verbuchen. Art. 104a Abs. 6 Satz 1 GG ordnet zunächst 44

KOM (2005) 646 endg. Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 89/552/EWG des Rates zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit. 45 Siehe etwa v. Herget, H., Rundfunk und Grundgesetz. Die Auswirkungen der Digitalisierung elektronischer Massenmedien auf den Rundfunkbegriff und die Folgen für die Rundfunkhoheit und Rundfunkordnung in Deutschland und Europa, 2005. 46 Immerhin stehen „audiovisuelle Mediendienste“ noch im Mittelpunkt des Vorschlags; die Tendenz geht jedoch zur Einebnung der Unterschiede. 47 BVerfGE 12, 205 ff. – 1. Rundfunkurteil.

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an, dass Bund und Länder nach der innerstaatlichen Zuständigkeits- und Aufgabenverteilung die Lasten einer Verletzung von supranationalen und völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands tragen. Bei länderübergreifenden Finanzkorrekturen verteilt Satz 2 die Haftungsquoten zwischen Bund und Ländern im Verhältnis von 15 : 85. Von letzterem tragen nach Satz 3 die Gesamtheit der Länder 35 v. H., die verursachenden Länder 50 v. H. Auch wenn diese Regelungen einer Ausgestaltung durch Bundesgesetz bedürfen (Satz 4) und zwischen Satz 1 und 2 Abgrenzungsschwierigkeiten auftreten werden, so dürfte mit der Neuregelung bereits ein unmittelbar anwendbarer Regresstatbestand geschaffen worden sein, der es Deutschland erleichtern wird, seinen unionsrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen (Art. 10 EG). b) Haftung für Verstöße gegen den Stabilitätspakt Das gilt – mutatis mutandis – auch für die den Stabilitätspakt betreffende Haftungsregelung in Art. 109 Abs. 5 GG. Dieser enthält – systematisch korrekt – eine Spezialregelung für Zahllasten, die sich aus einer Verletzung der Stabilitätskriterien der Art. 104 ff. EG sowie des sog. Stabilitätspaktes ergeben und sieht vor, dass Bund und Länder Sanktionen im Verhältnis 65 : 35 tragen. Auch für diese Norm ist eine weitere Ausdifferenzierung vorgesehen. Von dem auf die Länder entfallenden Anteil sollten 35 v. H. von allen Ländern solidarisch getragen werden, 65 v. H. jedoch nach Maßgabe ihres Verursachungsbeitrags (Satz 3). Es liegt auf der Hand, dass diese ausgestaltungsbedürftige (Art. 109 Abs. 5 Satz 4 GG), in einem Kernbereich aber unmittelbar anwendbare Vorschrift mehr Disziplinierungspotential enthält als das bis dahin in § 51a HGrG geregelte Instrumentarium. V. Fazit Für den Bundesstaat gilt wie für die katholische Kirche: semper est reformanda. Wenn auch die eingangs skizzierten Probleme mit der Föderalismusreform des Jahres 2006 nicht vollständig gelöst worden sind, so stellt sie doch einen großen Schritt in die richtige Richtung dar. Es gibt Gewinner auf beiden Seiten: die Länder, weil sie ihre Staatlichkeit wieder ein Stück mehr entfalten können, die Landtage, weil mit ihnen das demokratische Prinzip auf Landesebene Substanz gewinnt, und der Bund, weil er an Kompetenzen gewinnt und an Handlungsfähigkeit. Gewonnen hat damit Deutschland insgesamt. Es befindet sich nach der Föderalismusreform in besserer Verfassung!

Das Grundgesetz als „Exportartikel“ – Föderative Strukturen bei der Verfassungsreform in Südafrika, Bosnien-Herzegowina und Afghanistan Von Ulrich Karpen Glückwünsche an einen „politischen Professor“ Rupert Scholz ist einer der wenigen herausragenden „politischen Professoren“ des Staatsrechtes, neben Karl Carstens, Horst Ehmke, Roman Herzog u. a. Er hat seine verfassungsrechtlichen und -praktischen Kenntnisse und Erfahrungen stets vielen Institutionen im In- und Ausland zur Verfügung gestellt, sei es als Abgeordneter, Bundesminister, Berater politischer Stiftungen, und er tut es auch heute. Seit dem Februar 2000 ist er Mitglied des neugebildeten Kuratoriums der Konrad-Adenauer-Stiftung. Er arbeitet vor allem in den Abteilungen „Politik und Beratung“ und „Internationale Zusammenarbeit“ mit. Die Stiftung ist mit 77 Auslandsmitarbeitern in etwa ebenso vielen Außenstellen und Auslandsbüros in wichtigen Ländern und Hauptstädten der Welt vertreten.1 Rupert Scholz hat sich um das Rechtsstaatsprogramm der Stiftung in Lateinamerika verdient gemacht. Bolivien verdankt ihm Vieles. Vor allem aber hat er bei Tagungen, Konferenzen und Beratungseinsätzen im Ausland für die Verwirklichung von föderativen Verfassungsstrukturen geworben. Subsidiarität, Devolution, Dezentralisierung und Bundesstaatlichkeit gelten ihm als wichtige Instrumente zur Stabilisierung von Staaten, nicht nur in Deutschland und der Europäischen Union, sondern auch im benachbarten und fernen Ausland, gerade in Entwicklungsländern. Föderative Elemente verbürgen Einheit in Vielfalt. In seiner neuesten Schrift „Deutschland – In guter Verfassung?“, die den teilweise vollendeten, teilweise ausstehenden Prozess der Reform des Grundgesetzes begleitet, hat Scholz sich in ebendieser grundsätzlichen Weise mit dem Bundesstaat beschäftigt.2 Er weist insbesondere auf die Dezentralisierungsbestrebungen in Spanien und Großbritannien und den sich mehr und mehr herausbildenden Regionalis1

Konrad-Adenauer-Stiftung, Jahresbericht 2004, S. 35. „Der kranke Bundesstaat und Wege zu seiner Genesung“, in „Deutschland – In guter Verfassung?“, Heidelberg 2004, S. 147–166. 2

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mus in der Europäischen Union hin. Und das ist nicht die einzige prominente Befassung mit dem Bundesstaat. Rupert Scholz war einer der beiden Vorsitzenden der „Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat“,3 die – eingesetzt am 16. Januar 1992 – notwendige Reformkonsequenzen aus der Wiedervereinigung ziehen sollte und dies mit der Vorlage des Berichtes am 28. Oktober 1993 getan hat.4 Ein Teil der Vorschläge wurde bekanntlich durch die Änderung des Grundgesetzes vom 10. Oktober 1994 verwirklicht.5 Die Kommission hat sich unter Scholz’ Einfluss für eine Stärkung der Länder und der kommunalen Selbstverwaltung ausgesprochen. Am 18. Juli 1995 setzte die Bundesregierung den Sachverständigenrat „Schlanker Staat“ ein. Rupert Scholz wurde zum Vorsitzenden berufen. Im Abschlussbericht6 wird das Subsidiaritätsprinzip für die Europäische Union und das Bund-Länder-Verhältnis reformleitend herangezogen. Schließlich hat Scholz sich als Gutachter der „Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung“ immer wieder für eine angemessene Einordnung der Länder als Staaten eingesetzt; sie seien nicht lediglich hochpotenzierte Selbstverwaltungskörperschaften.7 I. Rechtsexport und Rechtsimport Gibt es – wie Rupert Scholz zu Recht anmahnt – am Bundesstaat des Grundgesetzes heute – und eigentlich immer! – vieles zu verbessern, so wird der deutsche Föderalismus als Verwirklichung der Subsidiarität und Dezentralität im Ausland doch als ein wichtiger Strebepfeiler einer funktionierenden Verfassungsordnung angesehen. Sachverständige und Politiker – wie Rupert Scholz u. a. – werden aufgefordert, bei der Verfassungsgebung und Neugestaltung von Rechtsordnungen in anderen Ländern zu helfen. „Rechtsimport“ gilt vielen als Möglichkeit, ja Notwendigkeit, im eigenen Land eine neue Wirtschaftsordnung zu schaffen und letztlich den Wohlstand zu heben. Deutschland wird als ein Partnerland mit vorbildlicher Wirtschafts-, Sozial- und – eben – Rechtsordnung respektiert. 3 Beschluss des Bundestages – Drs. 12/1590, 12, 1670 – und Beschluss des Bundesrates – Drs. 741/91. 4 Vgl. „Zur Sache. Themen parlamentarischer Beratung“, Bericht der Gemeinsamen Verfassungs-Kommission, Nr. 5/93, Deutscher Bundestag, Bonn 1993; siehe auch BT-Drs. 12/6000 und BR-Drs. 800/93. 5 BGBl. 1994 I, 3146. 6 Bände 1–3, Bonn 1997, hier Band 1, S. 27 und 37. 7 Dokumentation der Kommissionsarbeit, „Zur Sache“ 1/2005, Berlin 2005; Scholz, S. 402 gegen den „Wildwuchs der Kulturförderung“, S. 534 für die Streichung des Art. 91a GG, S. 776 für eine angemessene Finanzfolgeregelung, die ja noch aussteht.

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„Export“ and „Import“ sind an sich Begriffe der wirtschaftlichen Terminologie. Hier geht es um den Austausch eines Kulturgutes. Solche Transaktionen sind in der Geschichte nichts Neues. Man denke etwa an die Rezeption des Römischen Rechts im späten Mittelalter, die Übernahme einer versunkenen Rechtsordnung durch die deutschen Länder. Japan hat nach seiner Öffnung im 19. Jahrhundert viele Bestandteile ausländischer Rechte übernommen, u. a. das deutsche Verwaltungsrecht. Und heute übernehmen fast alle Länder dieser Welt notgedrungen Regelungen aus dem angloamerikanischen Rechtskreis. Wenn man nun bei der Rechts- und Politikberatung im Ausland auf deutsches Recht zurückgreift und die Übernahme gewisser Teile oder gar ganzer Gesetze empfiehlt, so sollte von vornherein dreierlei klar sein: – Fremdes Recht kann niemals eins zu eins übernommen werden. Regelmäßig werden Elemente fremden Rechts mit dem Recht des eigenen Landes verbunden. Das übernommene Recht wird immer angepasst, assimiliert und also verändert. – Recht ist kein stofflicher Gegenstand, der einfach „weitergegeben“, „aufgenommen“ werden kann. In Wirklichkeit vollzieht sich eine kulturelle Integration von höchst verwickelter und wandelbarer Schichtung. Ein Gefüge vielfältiger geschichtlicher und sozialer, intellektueller und psychologischer Gruppenprozesse kommt in Gang. – Schließlich ist die rezipierende Rechtsgemeinschaft nicht Objekt, sondern Subjekt der Rezeption, weil ein Volk fremdes Recht nur übernehmen kann, wenn es dieses Recht zu einem Element des eigenen Lebens und Denkens macht. Rechtsexport und -import sind also ganz und gar friedliche Vorgänge, die – jedenfalls heute – nichts mit Aggression und Imperialismus zu tun haben. Viele Länder – nicht nur Entwicklungsländer – lassen sich bei der Rechtsschöpfung oder -erneuerung von ausländischen Rechtexperten beraten. Der Vorteil liegt auf der Hand: Es ist einfach unproduktiv, wenn jeder Staat das Rad neu erfinden will. Gesetze sind Produkte nicht nur von Intellektualität, sondern auch von Erfahrung. Es ist nicht nur legitim, sondern auch ökonomisch, sich den Erfahrungsschatz anderer zunutze zu machen, zumal „Kosten“ der Gesetze nicht nur die finanziellen Auswirkungen ihrer Anwendung, sondern auch die Produktionskosten sind. Manche meinen, der Import fremder Rechte beschädige das Nationalgefühl und Selbstbewusstsein des übernehmenden Volkes, was der Praktiker aber eher selten bestätigt finden wird. Man kann vielleicht drei Gruppen von Staaten ausmachen, die um Unterstützung deutscher Rechtsexperten nachsuchen:

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– Da sind zunächst solche Länder, etwa in Lateinamerika, die im globalen Wirtschaftswettbewerb Teile ihrer Rechtsordnungen modernisieren, um ausländische Investitionen zu erleichtern: Kapital ist ein „scheues Reh“, das sich dort, wohin es geht, heimisch fühlen möchte. – Viele mittel- und osteuropäische Länder nehmen umfangreiche Rezeptionen vor. Nach der Transformation wäre es an sich möglich gewesen, auf präkommunistische Rechtsordnungen zurückzugreifen, auf Gesetze etwa der Zwischenkriegszeit 1914/18–1939/45. Diese Gesetze sind aber über fünfzig Jahre alt. Es hat neue Entwicklungen gegeben, etwa im Wirtschaftsrecht, die neuen Rechtsinstitute und -institutionen hervorgebracht haben. Neu sind z. B. Leasing, Franchising, Management-buy-out. An Bedeutung gewonnen haben föderalistische Strukturen. Nicht neu ist die Idee der Verfassungsgerichtsbarkeit, wohl aber ihre Ausgestaltung. – Schließlich gibt es zahlreiche Länder, die nach Revolutionen und anderen tiefgreifenden Umbrüchen neue Rechtsordnungen benötigen. Das gilt etwa für Südafrika, Afghanistan, Irak, Bosnien und Herzegowina und das Kosovo. Hier ist oft die Eilbedürftigkeit die Mutter der Rezeption. Man braucht rasch detaillierte Gesetze, nachdem oft eine Vorentscheidung für demokratische Rechtsstaatlichkeit und eine freiheitlich-demokratische Grundordnung getroffen worden ist. Die deutsche (Verfassungs-)Rechtsordnung ist im Inland akzeptiert und erfreut sich im Ausland großen Respektes. Das Grundgesetz als die rechtliche Grundordnung unseres Staates hat sich ohne Zweifel im Ganzen bewährt. Die demokratisch-rechtsstaatliche, soziale und föderale Ordnung war eine wichtige Voraussetzung für den Wiederaufbau Deutschlands. Das Grundgesetz verbürgt politische und auch wirtschaftliche Stabilität. Es hat die Wiedervereinigung des Landes gefördert. Das strahlt in die Welt aus. Deutschland hat den – bis jetzt geglückten – Versuch gemacht, diese Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates nicht nur im Grundgesetz zu verankern, sondern Tag für Tag zu verwirklichen, mit politischem Leben zu füllen. Das letztlich fehlgeschlagene Weimarer Experiment und der fürchterliche Rückschlag der faschistischen Diktatur haben bewirkt, dass wir es mit der freiheitlichen Ordnung wirklich ernst meinen. Das spüren andere Länder. Sie möchten sich auch gute, stabile Rechtsordnungen geben. Und das kann gelingen, wenn vielleicht auch nicht im ersten, zweiten Anlauf, genausowenig wie bei uns. Rückschläge, wie wir sie in vielen Staaten Afrikas und Asiens erleben, sind unvermeidbar. Natürlich werden im Ausland auch andere Länder um Rat gefragt: die USA, Schweden, die Niederlande, um nur einige zu nennen. Jedes Land hat seinen „Beratungsstil“. Was Deutschland angeht, so sind es zahlreiche Institutionen, die Rechtsberatung vornehmen. Neben den staatlichen Organen

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– Bundestag, Abgeordnete, Auswärtiges Amt usw. – sind es vor allem die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ),8 die Deutsche Stiftung für Internationale Rechtliche Zusammenarbeit und die politischen Stiftungen. Die Konrad-Adenauer-Stiftung, die Friedrich-Ebert-Stiftung, die Friedrich-Naumann-Stiftung und die den anderen Parteien nahestehenden Stiftungen unterhalten Auslandsinstitute und organisieren durch sie oder durch für den Einzelauftrag zusammengestellte Expertengruppen Verfassungs- und Rechtsberatung. Die deutsche Staatsrechtslehre genießt im Ausland Anerkennung. Häufig gehen Teams ins Ausland, denen Professoren, (Verfassungs-)Richter, Ministerialbeamte angehören. Die deutsche Spezialität, Beratungstätigkeit dieser Art „im Schatten des Staates“ durch die staatsunabhängigen, wenngleich staatsfinanzierten und „parteinahen“ Stiftungen durchführen zu lassen, hat verschiedene Vorteile. Wenn unabhängige Berater im politischen Zentrum des Empfängerlandes – beim Parlament, einer verfassunggebenden Versammlung, bei den Fraktionsvorständen, im Justizministerium, beim Regierungschef oder auch Staatspräsidenten – tätig werden, wird das nicht so leicht als „Einmischung in innere Angelegenheiten“ wahrgenommen wie es bei einer Regierungsdelegation der Bundesrepublik der Fall sein könnte. Es ist auch keine außenpolitische Katastrophe, wenn – was geschehen kann – die Beratung misslingt, die Berater nach Hause geschickt werden, das Verfassungswerk kollabiert. Auch können bei einem Verfassungsprojekt Berater von mehreren Stiftungen eingeladen werden, so dass Pluralität sichtbar wird und der Eindruck einer Identifizierung mit einer Partei, etwa der Regierungspartei der Bundesrepublik, vermieden wird. Dieses Prinzip hat sich in Chile9, Südafrika10 und den osteuropäischen Transformationsländern auffällig bewährt. Die Pluralität ist übrigens auch für die Berater „vor Ort“ hilfreich. Man kann sich die Arbeit teilen: Der eine berät diese Partei besser, der andere jene, der eine tut sich mit den Gewerkschaften leichter, der andere mit den Unternehmern, der eine steht diesem Volksstamm näher, der andere jenem. Und es zeigt sich immer wieder, dass die 8 Dazu Wieczorek-Zeul, Heidemarie, Bis Jahresende fällt der Grundsatzbeschluss, in: FAZ vom 8.5.2006. 9 Karpen, Ulrich, Die chilenische Verfassung vom 11. September 1980 aus der Sicht der demokratischen Opposition, JöRNF, Bd. 34, Tübingen 1985, S. 703 ff.; Hofmeister, Wilhelm, Die deutschen Christdemokraten und Chile, KAS-Auslandsinformationen 7/04, Berlin, 2004, S. 22 ff. Hier – wie etwa auch in Griechenland – zeigte sich ferner: Wer in Zeiten der Diktatur treu zu den Demokraten des Gastlandes steht, kann später vertieft auf die neue Verfassungsordnung einwirken; dazu Wille, Barthold C., Die Mühen der Ebene, in: FAZ vom 8.6.2006. 10 Karpen, Ulrich, Südafrika auf dem Weg zu einer demokratisch-rechtsstaatlichen Verfassung, in: JöRNF, Bd. 44, Tübingen, 1996, S. 609 ff.; McMills, Greg, Demokratie, Wachstum und Entwicklung in Afrika, KAS-Auslandsinformationen 1/06, Berlin, 2006, S. 91 ff.

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Übereinstimmung in der Bewertung des „Exportartikels“, des Grundgesetzes, mögliche parteipolitisch gefärbte Differenzen bei weitem überwiegt, umso mehr, je weiter man sich von Deutschland entfernt. II. Beratungsziele und -felder Ziel der politischen Beratung, der Verfassungs- und Rechtsberatung, gerade in Entwicklungsländern und in Umbruchstaaten, ist es, „Staaten zu bauen“, starke Staaten zu bauen. Capacity building, institutional building, vor allem in fragilen oder gar gescheiterten Staaten (failed states) ist ein ambitioniertes Unterfangen, das aber gelingen kann.11 „Staaten bauen“ bedeutet, sich selbsterhaltende staatliche Kapazitäten zu schaffen, die weiterbestehen, wenn Rat und Unterstützung von außen wegfallen. Die Rechtsordnung ist nur ein – wenngleich ein wichtiger – Pfeiler der Stabilität. Die „Stärke“ eines Staates ist eine Funktion der Bandbreite staatlicher Aktivitäten und staatlicher Macht.12 Wichtig ist zunächst die Frage, welche Aufgaben ein Staat wahrnehmen will und kann und in welchem Umfang das geschieht, welche Kapazität der Aufgabenbewältigung er sich zutraut. Gewisse Minimalfunktionen muss er, will er „Staat“ sein, erfüllen: Sicherheit nach außen und innen (Verteidigung, Recht), auch Gleichheitsgewähr. Weitere (mittlere) Funktionen kommen hinzu: Ausbildung, Umweltschutz, Sozialversicherung usw. Moderne, leistungsfähige Staaten übernehmen auch aktive Funktionen: Industriepolitik, Vermögensumverteilung usw. In welchem Umfang der Staat diese Aufgaben wahrnimmt, hängt nicht zuletzt von den verfügbaren Budgetmitteln ab. Aufgaben, die der Staat nicht übernehmen kann oder will, verbleiben bei der Gesellschaft. „Macht“ ist bekanntlich die Fähigkeit, seinen Willen auch gegen Widerstrebende durchzusetzen. Staatliche Macht ist die Fähigkeit, durch Institutionen, Gesetze, Gerichte seine Verwaltungsanordnungen auch effektiv durchzusetzen, also die institutionelle Kapazität des Staates, die Stärke seiner Institutionen. „Stark“ ist ein Staat in diesem Sinne, wenn er eine klare Politik formulieren, die zur Umsetzung erforderlichen Gesetze erlassen, sie durch eine funktionierende Bürokratie implementieren kann, auch Transparenz garantieren, Bestechung und Korruption bekämpfen, Verantwortlichkeit der Staatsorgane einfordern kann. Manche Staaten erfüllen begrenzte Staatsaufgaben mit institutioneller Effektivität. Manchmal wirft man ihnen „soziale Kälte“ vor. Zu diesen Staa11

Zu nur vorsichtigem Optimismus rät Buchsteiner, Jochen, Bescheidenere Ziele, in: FAZ vom 18.7.2006. 12 Fukuyama, Francis, Staaten Bauen – die neue Herausforderung internationaler Politik, Berlin 2004, S. 24 ff.

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ten zählen manche Beobachter die USA. Bürger bevorzugen nicht selten eine größere Aufgabenfülle des Staates. Manches wird dann nicht so effektiv durchgesetzt. So verhält es sich etwa in Deutschland, Frankreich und Japan. Schließlich gibt es ineffektive Staaten, die eine ehrgeizige Aufgabenfülle mit schwachen Institutionen zu bewältigen versuchen. Natürlich gibt es Wanderungsbewegungen. So hat Russland nach der Transformation zweifellos Aufgaben abgeworfen, ebenso Neuseeland. Letzteres Land erfüllt seine Aufgaben sehr effizient, bei ersterem sind die Gefahren von Korruption und ineffizienter Verwaltung noch nicht gebannt. Die Beratungsfelder sind außerordentlich vielgestaltig: Vom Aufbau des Parlaments und seines wissenschaftlichen Dienstes über die Ausarbeitung von Gesetzentwürfen bis zur kompletten Neustrukturierung von Rechtsgebieten, wie des Rechts der Kapitalgesellschaften, Vorschlägen für eine Handels- und Schiffsregisterordnung bis zur Einrichtung von Grundbüchern. III. Subsidiarität, Dezentralisierung, Föderalisierung als Instrumente zur Stabilisierung von Staaten Jede Rechtsberatung im Ausland versucht drei wichtige verfassungspolitische Ziele zu erreichen: – Schutz der Menschenrechte; – Mitsprache der Bevölkerung in freien und fairen Wahlen; – Rechtsbindung der Politik und eine unabhängige Justiz. Je nach der verfassungsrechtlichen Grundentscheidung eines Landes wird eine dezentrale oder föderale Staatsgliederung angestrebt. Es gibt großes Interesse an der deutschen Grundrechtsordnung. Die unmittelbare Anwendbarkeit der Grundrechte und die Auslegungskultur des Bundesverfassungsgerichts wie der Staatsrechtslehre gelten vielen als vorbildlich. Auf der Suche nach gesellschaftlicher, politischer und rechtlicher Stabilität wollen andere Länder das deutsche Wahlrecht, das Parteienrecht und das Medienrecht kennenlernen. Sie wollen verstehen, wie rechtsstaatliche Verwaltung funktioniert – einschließlich der Rechtsmittel –, insbesondere eine auch die Verwaltung bindende Gerichtsbarkeit. Ein wichtiges Element der Stabilität sehen sie – wie das Grundgesetz – in der Durchsetzung der Höchstrangigkeit und Unantastbarkeit des Verfassungsrechtes. Deshalb das große Interesse anderer Länder gerade an Aufbau und Verfahren des Bundesverfassungsgerichts! Schließlich gilt dem Bundesstaat des Grundgesetzes große Aufmerksamkeit. Nur die Minderzahl der Mitglieder der Staatengemeinschaft ist föderal verfasst. Gleichwohl ist die Feststellung zulässig, dass sich das Prinzip der

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Mehrebenenregierung und -verwaltung eines Staates steigender Anerkennung erfreut. Leittypus des Föderalismus ist der Bundesstaat, aber die Reichweite der „föderativen“ Struktur im weiteren Sinne erstreckt sich von der „demokratischen Dezentralisation“ der Gliedstaaten in Regionen und Provinzen, Städten, Landkreisen und Gemeinden auf der einen Seite bis zu den internationalen Zusammenschlüssen der Staaten auf der anderen. Durch alle diese Stufen hindurch sind größere politische Einheiten territorial in politische „Teilsysteme“ gegliedert.13 Der Gegenbegriff zum föderativen Aspekt der Staatengliederung ist die Unitarisierung. Wie und in welchen Institutionen sich das Föderative in einem Staat realisiert, hängt von dessen Geschichte, räumlicher Lage, der naturräumlichen Gliederung, seiner Bevölkerung und anderen Faktoren ab. Letztlich entscheidet die Verfassung über die Gestalt der föderativen Gliederung. Selbst wenn man das Prinzip der „kommunalen Autonomie“ ausklammert und damit Vielfalt reduziert, gibt es keine universale Doktrin des Föderalismus.14 Rupert Scholz hat in seinem Bundesstaatsaufsatz die Idee des Föderalismus herausgearbeitet.15 Sie gehört zu den tradierten Grundwerten der europäischen Staatenwelt, hat dann aber in anderen Kontinenten Fuß gefasst: Kanada, Brasilien, Südafrika, Indien, Australien. Und auch im zukünftigen Europa wird der Föderalismus ein wichtiges Bauelement sein. Je mehr die Bedeutung und die Zuständigkeiten der nationalstaatlich verfassten Mitgliedstaaten zugunsten der supranationalen Verfassungsunion zurückgehen oder schwächer werden, umso mehr wird das in der Europäischen Verfassung mitgarantierte Prinzip des europäischen Regionalismus und damit eine verstärkt föderativ verfasste Gesamtstruktur Europas Gestalt gewinnen. – Föderalismus heißt zunächst Dezentralisierung staatlicher Macht und staatlicher Entscheidungsprozesse.16 Solche Dezentralität gewährleistet mehr innerstaatlichen Wettbewerb und damit in aller Regel auch mehr gesamtstaatliche Effektivität. – Dezentralisierung, Föderalisierung, Devolution schaffen ferner ein größeres Maß an Bürgernähe und stärken damit die staatliche Demokratie, da ungleich mehr Partizipations- und Selbstgestaltungschancen eröffnet werden.17 13 Zippelius, Reinhold, Allgemeine Staatslehre – Politikwissenschaft, 13. Aufl., München 1999, S. 389. 14 Isensee, Josef, Bundesstaat in Bestand und Entwicklung, in: Badura, Peter, Dreier, Horst, Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2. Bd., Tübingen 2001, S. 719 f. 15 Scholz, Deutschland – In guter Verfassung? (Fn. 2), S. 149. 16 Scholz, Deutschland – In guter Verfassung? (Fn. 2), S. 150.

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– Föderative Dezentralisierung bildet ferner ein System vertikaler Gewaltenteilung, das neben die horizontale Gewaltenteilung tritt und damit vor allem die rechtstaatlichen Garantien mittels Beschränkung und Kontrolle staatlicher Macht verstärkt.18 – Die Zurückführung politischer Einheiten auf ein menschliches Maß, die Schaffung überschau- und unmittelbar erlebbarer Lebens- und Funktionsbereiche stärkt schließlich auch die Chance, dass in kleineren Bereichen ethnische und kulturelle Eigenarten erhalten und entfaltet werden können. Föderalisierung ist ein wichtiges Mittel des Schutzes und der Aufwertung von Minderheiten.19 – Zusammengefasst: Föderalismus erlaubt und fördert eine Einheit in dynamischer Vielfalt. Jedes föderale System steht und fällt mit der Balance zwischen Dezentralisierung und Zentralisierung, zwischen zentralen und dezentralen Belangen,20 von Aufgaben, Zuständigkeiten, Kontrollmitteln. Dieses Balanceverhältnis kann nicht auf ein vorher starr festgelegtes Konzept zurückgeführt werden und verändert sich mit der Zeit. Viele dieser Elemente des föderativen Konzeptes können mit dem sozialphilosophischen und verfassungsrechtlichen Prinzip der Subsidiarität erklärt werden. Die Regel vom prinzipiellen Vorrang der jeweils kleineren Einheit vor der größeren Einheit – in Aufgabe wie Verantwortung – erfüllt sich in jedem föderativen System, sei es ein Bundesstaat oder ein anders gegliedertes Gemeinwesen. Die Bundesrepublik ist ein klassischer Bundesstaat mit langer Tradition. Um die konkrete Ausgestaltung und die Anpassung an neue Herausforderungen wird immer gerungen. Das dem Bundesstaat zugrunde liegende föderative Prinzip gilt weltweit als geeignetes Organisationsprinzip, das das Ziel verfolgt, Dezentralität, Subsidiarität, ethnische, religiöse, kulturelle Vielfalt zu schützen und Wettbewerb zu fördern. Dezentralität ist verfassungspolitisch nicht zuletzt deshalb so wichtig, weil es heute weltweit weniger Konflikte zwischen Staaten als Konflikte zwischen Minderheiten in Staaten gibt, die häufig die Form von Bürgerkriegen annehmen. Auch deshalb schauen andere Länder auf den deutschen Bundesstaat. Sie wollen verstehen, wie man eine effiziente rechtsstaatliche Verwaltung mit den Gedanken dezentralisierter Regierung und Verwaltung und der gemeindlichen Selbstverwaltung realisiert und damit Subsidiarität, Partizipation, individuelle und Gruppenfreiheit verwirklicht. 17 18 19 20

Scholz, Deutschland – In guter Verfassung? (Fn. 2), S. 150. Zippelius, Allgemeine Staatslehre (Fn. 13), S. 393. Zippelius, Allgemeine Staatslehre (Fn. 13), S. 391. Scholz, Deutschland – In guter Verfassung? (Fn. 2), S. 151.

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Dezentralität muss nicht „Bundesstaat“ heißen, kann es aber – wie in Bosnien und Herzegowina. Dezentralität kann auch durch die Einrichtung von Provinzen erreicht werden – wie in Südafrika und Afghanistan. IV. Die Provinzen Südafrikas Die alte Verfassung Südafrikas vom 28. September 1983 hatte die Konstitutionalisierung der Apartheid auf die Spitze getrieben.21 Die Demokratisierung des Landes begann mit Präsident Willem De Klerks „Rubikon“-Rede bei der Eröffnung des Parlaments am 2. Februar 1990 nach seiner Wahl zum Präsidenten am 6. September 1989. Er kündigte die Entlassung Nelson Mandelas und anderer politischer Gefangener und die Aufnahme von Verfassungsverhandlungen mit allen Parteien an, auf der Grundlage der Gleichberechtigung aller Südafrikaner!22 Am 11. Februar wurde Mandela aus dem Gefängnis entlassen. Die „Aushandlung der Revolution“23 begann. Das Ergebnis der langwierigen und schwierigen Verhandlungen – mit mehreren Unterbrechungen – war die Übergangsverfassung des Jahres 1994. Diese Verfassung sollte so lange Geltung haben, bis eine endgültige Verfassung durch ein auf der Basis der Übergangsverfassung gewähltes Parlament verabschiedet werden konnte. Dabei musste die endgültige Verfassung sich an die in der Übergangsverfassung festgelegten Vorgaben, die 33 Constitutional Principles, halten. Die endgültige Verfassung24 musste dann vom Verfassungsgericht25 im Hinblick auf die Übereinstimmung mit den Vorgaben ge21 Gov.Gaz. No. 8914, Cape Town, 28. Sept. 1983, S. 1–79; dazu Basson, Dion, Viljoen, Henning, South African Constitutional Law, Cape Town, 1988; s. auch Ress, Georg (Hrsg.), Verfassungsreform in Südafrika und Verfassungsgebung in Namibia/Südwestafrika, Heidelberg 1986. 22 Dazu die Biographien von Mandela, Nelson, Der lange Weg zur Freiheit, Frankfurt 1994, und De Klerk, Willem, De Klerk, F. W., Eine Hoffnung für Südafrika, Herford 1991. 23 Zu den politischen und verfassungsgeschichtlichen Entwicklungen der Jahre 1990–1994 vgl. Sparks, Allister, Tomorrow Another Country, The Inside Story of South Africa’s Negotiated Revolution, Johannesburg 1994; Karpen, Südafrika (Fn. 10), S. 610 ff.; ders., Federalism – An Important Instrument for Providing Pluralism in the New Democratic South Africa, in: Konrad-Adenauer-Stiftung, Occasional Papers, Johannesburg 1995; ders., The International Experience of Opposition Politics, Lessons from South Africa?, in: Kotzé, Hennie, Parliamentary Dynamics – Understanding Political Life in South African Parliament, Stellenbosch 1996, S. 11 ff.; de Villiers, Bertus (Hrsg.), Birth of a Constitution, Kenwyn 1994; Rob Amato, Understanding the New Constitution, Kapstadt 1994. 24 Act No. 108, Gov.Gaz. 1996, No. 17678. 25 Certification of the Constitution of the Republic of South Africa, 1996, 1996 (4) SA 744; 1996 (10) BCLR 1253 (CC). Näheres bei Mireku, Obenq, Constitutional Review in Federalised Systems of Government, A Comparison of Germany and South Africa, Baden-Baden 2000.

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prüft werden. Sie trat schließlich in Übereinstimmung mit den in der Übergangsverfassung niedergelegten Grundsätzen am 4. Februar 1997 in Kraft. Eines der zentralen und umstrittensten Themen war die Frage, wie föderal das neue Südafrika werden sollte. Südafrika ist eine vielfach fragmentierte Gesellschaft, ethnisch eine „Regenbogennation“, der Afrikaner (Angehörige der verschiedenen Völker und Stämme, z. B. Zulus, Xhosas, Tswanas/Sothos u. a.), Engländer, Mischlinge und Asiaten (vor allem Inder) angehören. Die Bevölkerung ist auch nach städtischer und ländlicher Lebensweise, nach Bildungsniveau und Wohlstand, Wertvorstellungen im Bezug auf die soziale und politische Ordnung, Vertrauens- und Misstrauensbeziehungen sehr unterschiedlich.26 Im Hinblick auf diese Grundbedingungen des neuen Staates setzten sich die weiße National Party (konservativ) und auch die überwiegend weiße Democratic Party (liberal) für eine starke föderale Lösung ein. Im Vordergrund standen der Schutz der Rechte von Minderheiten und Regionen. Die Inkatha-Partei von Dr. Buthelezi aus KwaZulu/Natal wollte aus regionaler Verbundenheit zustimmen. Der African National Congress (sozialdemokratisch), die dominierende Partei Mandelas und Mbekis, setzte sich für einen zentralistisch ausgerichteten Staat ein. Er fördere Integration und Einebnung der starken Zerklüftung. Zustande kam ein mühsam erzielter Kompromiss. Selbst nach der Annahme der Übergangsverfassung wurden einzelne Vorschriften im Hinblick auf die föderale Ordnung verändert und damit letztlich der föderale Charakter gestärkt.27 Die bisher bestehenden regionalen Körperschaften und Einrichtungen wurden abgeschafft, die Homelands wurden in das Staatsgebiet einbezogen. Es wurden neue Provinzen geschaffen und insgesamt drei Regierungsebenen eingerichtet: die nationale, die Provinz- und die örtliche Ebene.28 Den Begriff „Bundesstaat“ oder „Föderation“ benutzt die Verfassung nicht. Allerdings ist der Abschnitt 3 der Verfassung mit „Cooperative Government“ (der drei Ebenen) überschrieben und handelt von eben diesem Prinzip wie den „intergovernmental relations“.29 Das südafrikanische Verfassungsgericht betont in ständiger Rechtsprechung,30 dass die Provinzen keine „souveränen Staaten“ sind, auch wenn 26 Schumacher, Ulrike, Politische Formen für fragmentierte Gesellschaften, Das Beispiel Südafrika, Berlin 1994. 27 Dazu Warnecke, Dirk, Die Finanzverfassungen Deutschlands und Südafrikas im Vergleich, Diss., Hamburg 2003, S. 36 ff. 28 Art. 40 der Verfassung; dazu de Villiers, Bertus, Bundestreue: The Soul of Intergovernmental Partnership, in: Konrad-Adenauer-Stiftung, Occasional Papers, Johannesburg 1995; Provincial Government in South Africa, Seminar Report 2001, Nr. 7, Johannesburg 2001. 29 Artt. 40 und 41. 30 Nachweise bei Warnecke, Finanzverfassungen (Fn. 27), S. 39.

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Art. 142 der Verfassung ihnen das Recht einräumt, sich eigene Verfassungen zu geben31 und die Provinzen nach Art. 104 der Verfassung eigene Parlamente haben. Die Kommunen sind nicht Bestandteile der Provinzen, so dass letztere – einem „sandwich“32 ähnlich – zwischen Zentrale und Gemeinden eingeklemmt sind. Eine dem Art. 79 GG entsprechende Garantie für die Provinzen gibt es nicht. Es gibt ausschließliche und konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeiten der nationalen Ebene und der Provinzen.33 Im Gegensatz zu Art. 70 GG fällt der nationalen Ebene die Gesetzgebungskompetenz zu, wenn sie nicht ausdrücklich für die Provinzen reserviert ist. Auch die Verwaltungszuständigkeiten sind auf die verschiedenen Ebenen aufgeteilt. Die nationale Ebene ist zuständig, wenn keine andere Zuweisung erfolgt. Die Provinzen führen eigene Gesetze aus und nehmen explizit zugewiesene zusätzliche Verwaltungskompetenzen wahr. Sie sind aber – anders als in Deutschland – nicht grundsätzlich mit der Ausführung von nationalen Gesetzen beauftragt. Die kommunale Ebene entspricht mit Gemeinden und Kreisen („districts“, „metropolitan areas“) ungefähr dem, was man vom deutschen Bundesstaat her gewohnt ist. Die Finanzverfassung Südafrikas ist ebenso von einer starken Dominanz der zentralen Ebene geprägt. Auf nationaler Ebene werden die Provinzen durch eine „Zweite Kammer“, den „National Council of Provinces“, vertreten.34 Der National Council ist eine Neuschöpfung ohne historische Vorgänger. Wenngleich das Provinzsystem kein Bundesstaat ist, sondern nur wesentliche Elemente eines kooperativ-intergouvernementalen Regierungssystems mit stark zentralistischer Tendenz enthält, weisen der Wortlaut von Art. 50 GG und Art. 42 Abs. 4 der südafrikanischen Verfassung deutliche Ähnlichkeiten auf. Wie der Bundesrat ist der Council nur dann in besonderer Weise zur Mitwirkung an der gesamtstaatlichen Willensbildung berufen, wenn diese die Interessensphäre der Provinzen unmittelbar berührt. Knapp zusammengefasst lässt sich aber sagen, dass der Bundesrat im Vergleich mit dem Council auf dem Gebiet der Gesetzgebung stärker beteiligt ist. Auch für den Council lässt sich feststellen – was in der deutschen Föderalismusreformdiskussion als veränderungswürdig angesehen wurde und wird –, dass bei der Mitwirkung 31

Vgl. statt aller Brand, Dirk, The Western Cape Provincial Constitution: Comments, Text and Judgments, in: Konrad-Adenauer-Stiftung, Occasional Papers, Johannesburg 1999. 32 Warnecke, Finanzverfassungen (Fn. 27), S. 38. 33 David, Søren, Die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen im südafrikanischen Verfassungsrecht, Baden-Baden 2000, S. 164 ff. 34 Wittneben, Mirko, Die Rolle des National Council of Provinces in der südafrikanischen Verfassung, Baden-Baden 2005; Mulert, Gerrit, Die Funktion zweiter Kammern in Bundesstaaten, Eine verfassungsvergleichende Untersuchung des deutschen Bundesrates und des südafrikanischen National Council of Provinces, BadenBaden 2006.

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an der Gesetzgebung häufig parteipolitische Erwägungen die provinzspezifischen überlagern, jedenfalls deutlich dann, wenn (parteipolitisch) wichtige Gesetze zur Entscheidung anstehen. Der National Council ist recht kompliziert zusammengesetzt.35 Er umfasst 90 Mitglieder, 10 für jede Provinz. 6 der 10 Mitglieder sind „Ständige Mitglieder“, gewählt von den Provinzparlamenten. 4 „Sondermitglieder“ sind der Premier der Provinz und 3 vom Provinzparlament gewählte Mitglieder, in der Regel Mitglieder des Provinzkabinetts. Man hat es also mit einer Kombination von indirekter Repräsentation und Ratsprinzip (Bundesrat) zu tun. Mulert36 macht in seiner Analyse von Organisation und Verfahren schwerwiegende Strukturschwächen des Council aus. Die Parteipolitik missbrauche die Zweite Kammer. Die enge Verknüpfung zwischen Parteien und parlamentarischen Mandaten erweise sich als ein entscheidendes Hindernis für die Funktionsfähigkeit des National Council als Vertretungsorgan der Provinzen im Sinne des kooperativen Regierungssystems. Der Verfasser geht so weit anzunehmen, dass der Council scheitern werde, wenn es ihm nicht gelinge, seine Aufgabe als jenseits der Parteipolitik liegend zu verstehen. Eine Überprüfung der Erfahrungen mit dem südafrikanischen Provinzsystem nach zehn Jahren seiner Existenz zeigt neben den farbigen Besonderheiten eines fernen Landes auch – und gerade – ein Beispiel geglückten „Exports des Grundgesetzes“. Die Staatsrechtslehrer und (Verfassungs-)Richter beider Länder kennen sich gut. Manche Entscheidungen des dortigen Verfassungsgerichtes vollziehen – gerade im Grundrechtebereich – Karlsruher Argumentationen nach. Südafrikaner studieren in Deutschland, Deutsche in Südafrika. Die Schriftenreihe „Recht und Verfassung in Südafrika“37 wird von südafrikanischen und deutschen Juristen verantwortet. Waren viele Beobachter zu Beginn skeptisch, ob das südafrikanische „Experiment“ einer neuen politischen Ordnung Bestand haben werde, so überwiegt jetzt wohl eher vorsichtiger Optimismus. Zwar gibt es – wie überall – politische Skandale.38 Der Rechtsstaat und sein Gewaltmonopol leiden in einigen Teilen des Landes Not, vor allem in den Townships.39 Oppositionspolitiker bezeichnen den Provinzstaat als „Scheinföderalismus“.40 Insgesamt ist man 35

Artt. 60–72 der Verfassung. Mulert, Funktion (Fn. 34), S. 262 37 Nomos-Verlag, Baden-Baden. 38 Die allerdings die Nachfolge von Mbeki in der Präsidentschaft betreffen können: Vgl. „Phönix aus der Asche“, in: FAZ vom 2.6.2006. 39 Recht und Gesetz nach dem Geldbeutel, Kriminalität in Südafrika, in: Das Parlament, 56. Jahrg., 28/29, 10./17.7.2006. 40 Buthelezi, Mangosuthu, Herausforderungen und Betätigungsfelder für afrikanische Oppositionsparteien, in: KAS-Auslandsinformationen 9/05, Berlin 2005, S. 16. 36

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aber – so scheint es – mit dem Prozess der Stabilisierung41 eines schwierigen Landes weiter gekommen als in anderen Staaten, in denen wichtige Schritte noch nicht getan sind – wie in Bosnien und Herzegowina – oder in denen es brennt – wie in Afghanistan. V. Der Bundesstaat Bosnien und Herzegowina Der Zerfall Jugoslawiens bildete den Auftakt zu den erschütterndsten Ereignissen der europäischen Nachkriegsgeschichte. Der jugoslawische Nachfolgekrieg 1991–1995 ist mit der Erinnerung an die „ethnischen Säuberungen“, die Belagerung Sarajewos und das Massaker von Srebrenica (11. Juli 1995) verbunden.42 Am 4. Mai 1980 starb Staats- und Parteichef Tito. Damit setzte ein innerer Auflösungsprozess des Vielvölkerstaates Jugoslawien ein.43 Am 25. Juni 1991 erklärten Slowenien und Kroatien den endgültigen Austritt aus dem Gesamtstaat. Wirtschaftlich stärker als die anderen Landesteile, wollten sie sich rasch nach den Ländern der Europäischen Gemeinschaften orientieren. Es folgte ein vierjähriger ethnischer Bürgerkrieg. Unter den fast 4,5 Mio. Einwohnern Bosniens und Herzegowinas gibt es keine dominierende Volks- bzw. Religionsgruppe. Den größten Teil stellen die (muslimischen) Bosniaken mit 40%, gefolgt von den Serben (31%) und Kroaten (17%), wobei die Zuordnung nicht immer einfach ist. Die ethnischen Gruppen bilden vielfach Siedlungsschwerpunkte, sind aber insgesamt leopardenfellartig44 über das Land verstreut. Am 29. Februar und 1. März 1992 sprachen sich bei einem Referendum, an dem – trotz Boykotts durch die bosnischen Serben – 63% der Stimmberechtigten teilnahmen, 99,4% für die Unabhängigkeit der Republik Bosnien und Herzegowina aus, die am 3. März 1992 erklärt wurde.45 In der Folge begannen blutige Kämpfe, in denen serbische Truppen beinahe 70% des bosnischen Territoriums eroberten. Für den 14. September 1995 wurde ein regionaler Waffenstillstand ausgehandelt. Nach längerer Pendeldiplomatie erreichte der US-Gesandte 41 Ostheimer, Andreas, Südafrikas Politische Kultur, Vom Befreiungskampf über die Transformation zur demokratischen Konsolidierung, in: KAS-Auslandsinformationen 9/05, Berlin 2005, S. 19 ff. 42 Keßelring, Agilolf, Wegweiser zur Geschichte Bosnien-Herzegowina, Paderborn 2005, S. 109 ff.; Meier, Viktor, Wie Jugoslawien verspielt wurde, München 1995, S. 348 f. 43 Graf Vitzthum, Wolfgang, Mack, Marcus, Multiethnischer Föderalismus in Bosnien-Herzegowina, in: Graf Vitzthum, Wolfgang (Hrsg.), Europäischer Föderalismus, Berlin 2001, S. 81–136. 44 Karger, A., Das Leopardenfell, in: Osteuropa 42 (1992), S. 1103. 45 Um das Bild zu vervollständigen: Mazedonien wurde am 8.4.1993 in die UNO aufgenommen. Serbien und Montenegro schlossen sich im April 1992 zur „Bundesrepublik Jugoslawien“ zusammen. Montenegro ist seit 2006 ein unabhängiger Staat.

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Richard Holbrooke46 einen Waffenstillstand für ganz Bosnien und Herzegowina. In dieser Zeit wurde in Dayton, Ohio (USA) auf einem Luftwaffenstützpunkt unter massivem Druck der USA ein Friedensabkommen ausgehandelt.47 Die Verfassung von Bosnien und Herzegowina ist einer seiner Anhänge.48 Das Dayton Peace Agreement ist ein komplexes, stark verschachteltes49 Vertragswerk. Es regelt nicht nur das interne Gefüge Bosnien und Herzegowinas, sondern auch dessen Beziehungen zu der Bundesrepublik Jugoslawien („Restjugoslawien“) und Kroatien sowie die Beziehungen zwischen diesen beiden Staaten. Das Dayton-Abkommen teilt Bosnien und Herzegowina in zwei (quasi-)staatliche „Entitäten“. Die Republik Bosnien und Herzegowina – die freilich nicht „Republik Bosnien und Herzegowina“ heißt, weil es an einem homogenen Volk fehlt – ist also ein Bundesstaat, wenngleich die beiden Teile nicht „Staaten“ heißen. Eine „Entität“ ist die Republik Srpska (RS), die andere die kroatisch-bosniakische Föderation Bosnien und Herzegowina (FBuH), welche ihrerseits (nach Schweizer Muster) in zehn Kantone eingeteilt ist. Dayton schuf das fragile Gebilde eines zweigeteilten Staates dreier Nationen (so die Selbstbezeichnung der drei in Bosnien und Herzegowina verfassungsmäßig berücksichtigten ethnischen Gruppen, eben der Bosniaken, Serben und Kroaten). Es gibt ferner ein kleines Sondergebiet, den „Distrikt Brcko“ (etwa 85.000 Einwohner), dessen endgültige Grenzen – RS – wie FBuH-Gebiete umfassend – von einem Internationalen Schiedsgericht festgelegt wurden. Der Distrikt ist de facto eine dritte Entität.50 Neben der militärischen Besetzung wurden zugleich Organe eingerichtet, die die Dayton-Vereinbarungen im Lande umsetzen sollten. Das ist in erster Linie der Hohe Repräsentant (Office of the High Representative – OHR), gegenwärtig der Deutsche Schwarz-Schilling. Auf regionaler Ebene wurden ihm Supervisors nachgeordnet, einer davon in Brcko. Der Hohe Repräsentant ist dem sog. Friedensimplementierungsrat der Internationalen Staatengemeinschaft rechenschaftspflichtig. Bosnien und Herzegowina ist ein Protektorat. Die internationalen Behörden handeln nicht selten gegen staatliche und lokale Institutionen.51 Das Mandat soll 2007 zu Ende gehen. 46

Holbrooke, Richard, To end a War, New York 1999. Unterzeichnet in Paris am 14.12.1995, seit diesem Datum in Kraft. 48 ILM 35 (1996) S. 75. 49 Vitzthum/Mack, Multiethnischer Föderalismus (Fn. 43), S. 86 f. 50 Dazu Karpen, Ulrich, Nation Building im Kleinen – Erfahrungen beim Aufbau von Bosnien und Herzegowina, in: Festschrift für Hans Peter Schneider, im Erscheinen; ders., Training of the Interim Assembly of the Brcko District of Bosnia und Herzegovina, in: Legal Reform in the Brcko District of Bosnia and Herzegovina, Central and Eastern European Legal Studies, Bd. III, London 2006, S. 27–32. 51 Hornstein-Tomic ´ , Caroline, Bosnien und Herzegowina zehn Jahre nach Dayton, Der steinige Weg vom „verhinderten“ zum selbsttragenden Staat, in: KAS-Auslands47

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Bosnien und Herzegowina ist also ein Bundesstaat. Der Sitz der Regierung des Gesamtstaates und der des Landes FBuH ist Sarajewo, der des Landes RS ist Banja Luka. Beide Länder verfügen über eigene Verfassungen.52 Während die gesamtstaatliche Bundesverfassung in Art. I 1 und 2 den Gesamtstaat als (demokratischen) „Staat“ bezeichnet, werden die Länder „Entitäten“ genannt (Art. I 3). Art. III der Verfassung weist dem Gesamtstaat eine Reihe ausdrücklicher Zuständigkeiten zu; alle übrigen Regierungsfunktionen und Kompetenzen sind den Entitäten zugewiesen (Art. I 3). Der Gesamtstaat kann unter bestimmten Voraussetzungen zusätzliche Zuständigkeiten begründen. Das Gesamtstaatsparlament besteht aus einer Volksgruppenkammer (Art. IV 1) und einem Abgeordnetenhaus (Art. IV 2). Die Volksgruppenkammer besteht aus je 5 Kroaten und Bosniaken aus der FBuH und 5 Serben aus der RS. Die 42 Mitglieder des Abgeordnetenhauses kommen zu zwei Dritteln aus der FBuH, zu einem Drittel aus der RS. Die Exekutive besteht aus Präsidentschaft (Art. V 1) und Ministerrat (Art. V 4). Die Präsidentschaft setzt sich aus einem Bosniaken und einem Kroaten (aus der FBuH) sowie einem Serben (aus der RS) zusammen, die in ihren jeweiligen Landesteilen direkt gewählt werden. Die Präsidentschaft entscheidet regelmäßig im Konsens, nur in Ausnahmefällen mit Mehrheit. Die Präsidentschaft ernennt den Vorsitzenden des Ministerrates zum Regierungschef. Dieser ernennt mit Zustimmung der Abgeordnetenhauses einen Außen-, einen Außenhandels- sowie weitere Minister, soweit angezeigt. Die Schwäche des gesamtbosnischen Staates setzt sich in den zentralen Sektoren der Finanz- und Militärverfassung fort. Die Militärverfassung ist staatenbündisch geprägt. Bosnien und Herzegowina hatte zwei Teilarmeen, deren eine Hälfte faktisch aus serbischen und deren andere de facto aus bosnischen und kroatischen Kontingenten bestand. Unklar waren zunächst die Bestimmungen über den militärischen und zivilen Oberbefehl. Erst die Reform des Verteidigungssystems 2003/04 führte zur Einrichtung eines Verteidigungsministeriums, eines Gemeinsamen Kommandostabes und eines informationen 11/05, Berlin 2005, S. 43–56; Smyrek, Daniel Sven, Internationally Administered Territories – International Protectorates?, An Analysis of Sovereignty over Internationally Administered Territories with special Reference to the Legal Status of Post-War Kosovo, Berlin 2006; Rehs, Alexander, Gerichtliche Kontrolle internationaler Verwaltung – Das Beispiel Bosnien und Herzegowina, Berlin 2006; Solioz, Christophe, Turning Points in Post-War Bosnia, Ownership process and European Integration, Baden-Baden 2005; Graf Vitzthum, Wolfgang, Staatsaufbau in Südosteuropa, Bosnien und Herzegowina als Paradigma außengestützter Staatsbildung, in: Frowein u. a. (Hrsg.), Verhandeln für den Frieden, „Festschrift Tono Eitel“, Berlin 2003, S. 823–846. 52 Zu den Einzelheiten Winkelmann, Ingo, Der Bundesstaat Bosnien-Herzegowina, in: Graf Vitzthum, Wolfgang, Winkelmann, Ingo (Hrsg.), Bosnien und Herzegowina im Horizont Europas, Demokratische und föderale Elemente der Staatswerdung in Südosteuropa, Berlin 2003, S. 59–86.

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operativen Kommandos. Im Einklang mit dem Gesetz zur Verteidigung von Bosnien und Herzegowina bestehen die Streitkräfte nunmehr aus allen militärischen Kräften in Bosnien und Herzegowina ohne Rücksicht darauf, ob diese durch die Institutionen des Staates oder der Entitäten organisiert wurden, einschließlich der Armeen der RS und der FBuH.53 Zu erwähnen ist noch die Binnenstruktur der FBuH. Die Föderation besteht aus 10 Kantonen unterschiedlicher Größe, alle mit Parlamenten, Regierungen usw. ausgestattet. In Bosnien und Herzegowina besteht also die (wohl einzigartige) Situation einer extrem dezentralisierten Föderation innerhalb der Föderation, während sich die RS als Zentralstaat darstellt. In der FBuH liegen fast alle Kompetenzen bei den Kantonen. Dementsprechend ergeben sich Probleme der Kompetenzabgrenzung zwischen dem Gesamtstaat und den Entitäten einerseits und zwischen der Föderation andererseits. Bosnien und Herzegowina erstrebt die Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Mit den derzeit auf der Tagesordnung befindlichen Konsensentscheidungen, ethnischen Dreifachbesetzungen und Kurzzeitrotationen von staatlichen Spitzenämtern wird und kann Bosnien und Herzegowina den ersehnten Anschluss an europäische Strukturen aber nicht schaffen. Je schneller der Prozess der Flüchtlingsrückkehr befriedigend abgeschlossen werden kann, desto schneller kann die Neuausrichtung der bestehenden Verfassungsstrukturen erfolgen54, meint Winkelmann. Dem ist zuzustimmen. Die Flüchtlingsrepatriierung ist weitgehend abgeschlossen. Ein langer – unter Federführung des ehemaligen belgischen Ministerpräsidenten W. Martens – vorbereiteter Versuch, eine die Entitätengrenzen überschreitende Polizeiorganisation zu schaffen, ist gescheitert. Als die wichtigsten „Konstruktionsmängel“ und Unzulänglichkeiten des Dayton-Abkommens lassen sich die folgenden benennen:55 – Die faktischen Zustände, die durch die kriegerischen Eroberungen hergestellt worden waren, wurden anerkannt. 53 Trnka, Kasim u. a., Zehn Jahre Implementing Dayton – Der Weg Bosnien und Herzegowinas in eine europäische Zukunft, Informativ-Analytische Grundlage, Konrad-Adenauer-Stiftung, Außenstelle Sarajewo, Sarajewo 2005, S. 24. 54 Winkelmann, Der Bundesstaat Bosnien-Herzegowina (Fn. 52), S. 85; vgl. auch die kritische Darstellung möglicher Szenarien für die Zukunft Bosnien und Herzegowinas, in: Reiter, Erich, Jurekovic´, Predrag (Hrsg.), Bosnien und Herzegowina, Europas Balkanpolitik auf dem Prüfstand, Baden-Baden 2005, S. 163 ff.; Luchterhandt, Otto, Die Verfassungsdebatte: Zwischenbilanz und Herausforderungen für Bosnien und Herzegowina. Konferenz der deutschen politischen Stiftungen am 5./6. Mai 2006. Kommentierte Zusammenfassung. Sarajewo, 2006. 55 Trnka, Zehn Jahre Implementing Dayton (Fn. 53), S. 2.

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– Es wurden „Entitäten“ hergestellt, die in der Geschichte von Bosnien und Herzegowina keine Stütze finden und sich im Grunde mit der Frontlinie decken. – Eine überdimensionierte, mehrstufige ineffiziente und wirtschaftlich nicht haltbare Regierungsstruktur wurde hergestellt. Es gibt eine inkonsistente Verteilung von Zuständigkeiten auf fünf Ebenen (einschließlich der Landkreise und Gemeinden). – Das Wahlsystem beruht auf einer ethnisch-entitätsrelevanten Grundlage und ist demokratisch kaum zureichend. Der Mangel einer „Ausstiegsstrategie“ der internationalen Gemeinschaft wurde erkannt und durch eine völkerrechtlich nicht völlig eindeutige „Beendigungserklärung“ des amtierenden Hohen Repräsentanten ersetzt. Zwar ist Bosnien und Herzegowina kein „failing state“ und es herrscht Frieden. Damit ist viel erreicht. Aber es ist noch ein weiter Weg bis zu einer unabhängigen, selbsttragenden und nachhaltigen Entwicklung des politischen und rechtlichen Systems. Europa kann und muss dabei behilflich sein. VI. Die Provinzialverfassung Afghanistans Es ist eine bisher ungelöste Aufgabe, Afghanistan zu stabilisieren und die neue Verfassung vom 26. Januar 200456 mit Leben zu erfüllen. Das Land ist außerordentlich heterogen. Es hat eine (geschätzte) Einwohnerzahl von 28 Mio. Menschen; 4 Mio. davon leben als Flüchtlinge in Pakistan und im Iran, 3 Mio. in Kabul. Die Einwohner gehören verschiedenen ethnischen Gruppen an:57 Ca. 40% sind Paschtunen, 25% Tadschiken, 15% mongolischstämmige Hazara, 5% Usbeken, ferner Turkmenen und Belutschen. Es gibt 7 größere Sprachen. Davon sind Dari und Paschtu die offiziellen Sprachen. 85% der Bevölkerung sind sunnitischen Glaubens, 15% Shiiten. Das Land ist geographisch zerklüftet, und neben der Verwaltungseinteilung in 34 Provinzen sehr unterschiedlicher Größe spielen die Machtsektoren der „leader of armed forces“, die immer noch Milizen unter Waffen haben, eine große Rolle. Historisch gelangte Afghanistan erst im Frieden von Rawalpindi vom 8. August 1919 zur völligen Unabhängigkeit von England.58 Im 56

Eine autorisierte englische Fassung der authentisch in Dari geschriebenen Verfassung gibt es bisher nicht. Die inoffizielle Übersetzung ist abgedruckt bei Yassari, Nadjma (Hrsg.), The Sharia in the Constitutions of Afghanistan, Iran and Egypt – Implications for Private Law, Tübingen 2005, S. 269 ff. 57 Zur Landeskunde außer den bekannten Nachschlagewerken unentbehrlich: Nyrop, Richard (Hrsg.), Afghanistan, A Country Study, Foreign Area Study des USDepartment of the Army, Washington 1986; Kraus, Willy (Hrsg.), Afghanistan, Natur, Geschichte und Kultur, Staat, Gesellschaft und Wirtschaft, Tübingen 1972.

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Jahre 1933 gelangte nach der Ermordung König Nadir Shahs der 19-jährige Mohammad Zahir Shah auf den Thron, den er 1973 mit Ausrufung der Republik verlor. Das heutige Afghanistan ist eine Republik; gleichwohl bestimmt Art. 158 der Verfassung: „The title of the Father of the Nation and the privileges granted by the Emergency Loya Jirga of 1381 (2002) to His Majesty Mohammad Zahir former King of Afghanistan, shall be preserved for him during his lifetime, in accordance with this Constitution.“ Zahir Shah lebt in Kabul. 1978 erfolgte die Machtübernahme durch die Kommunisten. 1988/89 traten die sowjetischen Truppen den verlustreichen Rückzug an. 1992 übernahmen die Mujaheddin („Gotteskrieger“) die Macht, 1996 die Taliban („Koranschüler“). 2001 vertrieben die Amerikaner zusammen mit der afghanischen Nordallianz die Taliban.59 Auf der Petersberger Konferenz vom 2. Dezember 2001 wurden die Grundlagen des Neubaus des Landes gelegt, am 22.12.2001 wurde Hamed Karsai als Übergangspräsident vereidigt. Vom 14.12.2003 bis zum 4.1.2004 tagte die Provisorische Große Volksversammlung („Emergency Loya Jirga“), deren Mitglieder ernannt worden waren, und arbeitete die Verfassung aus, die am 4.1.2004 verabschiedet wurde. Am 9.10.2004 wurde der erste Präsident (Karsai) vom Volk gewählt (Art. 61 der Verfassung); am 18.9.2005 fand die erste Wahl des Repräsentantenhauses als der Ersten Kammer des Parlaments statt. Die Staatsorgane hatten sich konstituiert.60 Die Verfassung ist die zehnte in der afghanischen Geschichte seit Beginn des 20. Jahrhunderts.61 Die schwierigste Frage, die sich bei den Verfassungsberatungen in Afghanistan (wie in anderen islamischen Ländern) stellte, war die Verankerung des Staatsgrundgesetzes im Islam und die Ver58 Vgl. die Übersicht bei Schetter, Conrad, Kleine Geschichte Afghanistans, München 2004, und die gründliche Ausarbeitung von Helena Schwarz, Afghanistan, Geschichte eines Landes, Essen 2002. 59 Zur jüngeren Geschichte Afghanistans unentbehrlich Rubin, Barnett R., The Fragmentation of Afghanistan (Bd. 1) und The Search for Peace in Afghanistan (Bd. 2), Yale University Press 1995; Rasanayagam, Angelo, Afghanistan, A Modern History, London 2003, insbes. S. 213 ff. („The Rude Awakening“). 60 Zum Wiederaufbau die umfassende Materialsammlung bei Sperk, Andrea (Hrsg.), Der Wiederaufbau in Afghanistan, Stiftung für Wissenschaft und Politik, Berlin 2002; sowie Karpen, Ulrich, Afghanistan braucht Hilfe bei der Reform seiner Rechtsordnung, in: Hamburger Abendblatt vom 18.4.2006. 61 Siehe die Textsammlungen: The Constitutions of Afghanistan (1923–1996), Kabul o. J.; Nursai, Ata Mohammed, Die Verfassungen Afghanistans, 1923–1987, Köln 1989; die – soweit ersichtlich – einzige Verfassungsgeschichte ist Bachardoust, Ramazan, Afghanistan, Droit Constitutionnel, histoire, régimes politiques et relation diplomatiques depuis 1747, Paris 2002. Eine neuere Darstellung der Entwicklung auch im (Verfassungs-)Rechtsbereich ist die Beitragssammlung von Noelle-Karimi, Christine u. a. (Hrsg.), Afghanistan – A Country without a State?, Frankfurt a. M. 2001.

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pflichtung aller Staatsorgane auf die Einhaltung der Religion. Diese Frage soll (und kann) hier nicht näher behandelt werden. Nur soviel sei gesagt, dass die Verfassung – neben der invocatio dei in der Präambel – an zwei wichtigen Stellen den Islam erwähnt: In den Staatsfundamentalnormen (Art. 1–3) und der Verbindlichkeit des Sharia-Rechtes für die Gerichte. „Afghanistan is an Islamic Republic, an independent, unitary, and indivisible State“ (Art. 1). „In Afghanistan no law may be contrary to the beliefs and provisions of the sacred religion of Islam“ (Art. 3). Artikel 130 und 131 erklären unter bestimmten Voraussetzungen die Prinzipien der (Sharia-)Hanafi-Rechtsschule einerseits, bei Verfahren unter Beteiligung von Shiiten die Shi’i-Rechtsschule für verbindlich.62 Artikel 1 der Verfassung erklärt Afghanistan zu einem unitarischen Staat. Damit scheinen dezentrale Strukturen nur schwach ausgeprägt zu sein. So verhält es sich in der gegenwärtigen Verfassungswirklichkeit allerdings nicht. Der dezentrale große Einfluss der regionalen Machthaber verbindet sich mit der Verwaltung einer Provinz oder mehrerer Provinzen. Ferner wirken Vertreter der Provinzen an der Gesetzgebung einschließlich der Verabschiedung des Haushaltes mit. Das Parlament (Shura) besteht aus zwei Häusern: der Wolesi Jirga (Repräsentantenhaus) und der Meshrano Jirga (Artt. 41, 42 der Verfassung). Nach Art. 43 werden die Abgeordneten der Wolesi Jirga in allgemeinen, freien, geheimen und direkten Wahlen gewählt. Die Legislaturperiode beträgt vier Jahre (Art. 44). Die Mitglieder der Meshrano Jirga werden nach Art. 45 wie folgt ernannt und gewählt: – ein Drittel der Mitglieder wird vom König für fünf Jahre aus dem Kreis „wohlinformierter und erfahrener“ Bürger ernannt; – die übrigen zwei Drittel werden wie folgt gewählt: a) Jeder Provinzialrat, der nach Art. 109 von den Provinzbürgern im allgemeinen, freien, gleichen und direkten Wahlen gewählt wird, bestimmt ein Mitglied für die Meshrano Jirga. Das sind also 34 Mitglieder. 62 Zu diesem komplexen Thema hier nur die folgenden Hinweise: das Kapitel „Rechtsprechung“ bei Elger, Ralf, Islam, Frankfurt 2002, S. 58 ff.; Schacht, Joseph, An Introduction to Islamic Law, Oxford 1986; Coulson, N. J., A History of Islamic Law, Edinburgh 1978; Petersohn, Alexandra, Islamisches Menschenrechtsverständnis unter Berücksichtigung der Vorbehalte muslimischer Staaten zu den UN-Menschenrechtsverträgen, Diss., Bonn 1999; Karpen, Ulrich, Religionsfreiheit auch in islamischen Ländern! Lehren aus Afghanistan, unveröffentl. Manuskript, 2006; Meir, Dov B. Ben, Der Kampf des islamischen Fundamentalismus, in: KAS-Auslandsinformationen 7/04, Berlin 2004, S. 4 ff.; Morgenstern, Matthias, Ibrahim, Abraham, in: FAZ vom 24.8.2006; Jacobs, Andrea, Reformislam, in: KAS-Arbeitspapier 155/2006; Kamali, Mohammad Hashim, Islam and its Sharia in the Afghan Constitution 2004 with Special Reference to Personal Law, in: Yassari, The Sharia (Fn. 56), S. 23 ff.

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b) Die Bürger jeder Provinz wählen ein Mitglied in direkter Wahl, also ebenfalls 34 Mitglieder. Beide Häuser des Parlaments entscheiden über Gesetzentwürfe mit Mehrheit. Kommt ein übereinstimmender Beschluss nicht zustande, wird ein Vermittlungsausschuss einberufen (Art. 74). Seine (positive) Entscheidung wird mit königlicher Zustimmung Gesetz. Stammt der Gesetzentwurf aus der Wolesi Jirga, kann er – bei Dissens des Vermittlungsausschusses – in der folgenden Legislaturperiode ohne Zustimmung der Meshrano Jirga verabschiedet werden. Die Loya Jirga (Große Vollversammlung) besteht nach Art. 78 aus den Mitgliedern beider Häuser des Parlaments und den Vorsitzenden der Provinzialräte. Nach Art. 108 ist die Verwaltung des Landes zentralisiert. Die Provinzialräte haben nach Art. 109 im Wesentlichen beratende Aufgaben und arbeiten eng mit den Provinzregierungen zusammen. Die Artikel 110 und 111 garantieren autonome Rechte der lokalen Verwaltung. Gerade für Afghanistan gilt der Befund, dass eine gute Verfassungsordnung zwar notwendige, aber noch lange nicht hinreichende Bedingung eines funktionierenden Staatswesens ist. Der Wiederaufbau des Landes schreitet trotz enormer internationaler Anstrengungen staatlicher wie nichtstaatlicher Organisationen zögerlich voran. Afghanistan entwickelt sich immer mehr zum „Narcostate“. 2005 wurden 4500 t Opium in Afghanistan produziert, was 87% des Weltmarktvolumens entspricht.63 Das „DDR“-Programm (Disarmement, Demobilisation, Reconstruction) ist nur teilweise erfüllt. Wer sich im Augenblick in Afghanistan engagiert, muss das nach dem Grundsatz „spes contra spem“ tun. Rechtsberatung im Ausland – Chancen und Grenzen Afghanistan und Irak stellen zweifelsohne die spektakulärsten Brennpunkte der Transformationspolitik der vergangen beiden Jahre dar. Der Irak wurde vom Bertelsmann Transformation Index Board64 auch nach den Wahlen im Januar 2005 nicht als Demokratie eingestuft. Diese Einschätzung will der BTI-Board auch für Afghanistan gelten lassen. Man sollte das Land aber eher als eine – allerdings schwache – Demokratie ansehen, denn immerhin haben zwei Wahlen – Präsidentschafts- wie Parlamentswahl – unter internationaler Aufsicht störungsfrei stattgefunden. Der Weg ist weit. Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt. Für Bosnien und Herzegowina ist eine sehr viel optimistischere Einordnung möglich. Es ist allerdings 63

Schetter, Conrad, Afghanistan, Zerbrechlicher Fortschritt, Friedrich Ebert Stiftung, 2005, S. 12. 64 Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.), BTI 2006, Auf dem Weg zur marktwirtschaftlichen Demokratie, Gütersloh 2005, S. 45.

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zutreffend,65 dass das staatliche Gewaltmonopol noch immer auf der Präsenz multinationaler Friedenstruppen beruht und der Hohe Repräsentant in die tägliche Regierungsarbeit eingreifen kann und das auch tut. Die demokratischen Strukturen in Südafrika sind stabil.66 Insgesamt ist das Land das industriell und technologisch am weitesten entwickelte Land Afrikas. Es hat starke Gewerkschaften und Unternehmerverbände. Regionale und soziale Unterschiede sind allerdings beträchtlich. In allen drei Ländern hat Deutschland Rechtshilfe leisten können. Das war und ist keine Einbahnstraße. Rechtsexport ist nicht vornehmlich unter dem Gesichtspunkt von Entwicklungshilfe zu begreifen. Export- und Importland lernen voneinander. Beide Seiten bringen ihre Geschichte, ihre Werte, ihre gegenseitige Sympathie ein. Und eines ist zu bedenken: Weder die deutsche Verfassung noch die deutsche Rechtsordnung sind allein auf der Welt. In vielen Ländern, gerade Mittel- und Osteuropas, aber auch Lateinamerikas, stehen deutsche Berater in einem fruchtbaren Wettbewerb mit anderen Rechtsordnungen und ihren Vertretern, in Konkurrenz mit dem (Verfassungs-)Recht der USA (Usbekistan, Südafrika), Englands, Schwedens, der Niederlande. Diese Länder, wie auch die Europäische Union, der Europarat, die OECD entsenden erstklassige engagierte Berater. Das lehrt Bescheidenheit in Umgang und Kommunikation, aber auch in der Beurteilung dessen, was wir anbieten können. Das Grundgesetz ist eine gute Verfassung, aber sie ist kein „Exportartikel“ in dem Sinne, dass sie nur übernommen zu werden brauchte. Ob es um das Regierungssystem (Parlamentarismus, Präsidialsystem), die Form der Dezentralisierung (Bundesstaat, Regionen, Provinzen), auch die Grundrechte geht: Stets kann es nur der Grundgedanke sein, der als Leitbild für eine landesangemessene verfassungsrechtliche Grundordnung dienen kann. Es kann nicht darum gehen, die aus meistens schweren politischen und verfassungsrechtlichen Krisen hervorgegangenen verfassungspolitischen Entwürfe des Gastlandes vom „grünen Tisch“ am Maßstab der parlamentarischen Grundrechtedemokratie westlicher Prägung zu messen. Die sich bietenden Alternativen, die Ratschläge, die man gibt, müssen aus der Sicht des betroffenen Volkes, der Lage und Geschichte des Landes beleuchtet werden. Man darf nicht bevormunden, nicht die Souveränität, den Stolz, den Idealismus und das Engagement der Akteure verletzen. Insofern ist Verfassungsberatung eine heikle Aufgabe. Man muss zuerst zuhören und lernen. Aber dann kann man sprechen und raten und eine politisch hoffnungsvolle „bessere“ Zukunft des Landes mitgestalten. Insofern ist Verfassungsberatung eine lohnende Aufgabe. 65 66

Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.), BTI (Fn. 64), S. 110. Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.), BTI (Fn. 64), S. 172.

Die Beeinflussung der Organisationsautonomie der Länder durch Gesetze des Bundes Zur neuen Kompetenz des Bundes nach Art. 84 Abs. 1 und 104a Abs. 4 GG über die Einrichtung der Behörden und das Verfahren der Länder Von Ferdinand Kirchhof I. Das Zustimmungsgesetz nach Art. 84 Abs. 1 GG a. F. als Blockademöglichkeit einer Landesopposition im Bundesrat Art. 84 Abs. 1 GG a. F. hatte dem Bund Sorgen bereitet und den Ländern einen Mechanismus an die Hand gegeben, Bundesgesetze in der Entstehung zu stoppen oder zu modifizieren. Die Vorschrift räumte dem Bundesrat einen Zustimmungsvorbehalt ein, wenn ein Bundesgesetz von den Ländern als eigene Angelegenheit ausgeführt wurde und der Bund dennoch Einrichtung und Verfahren der Landesbehörden regelte. Ursprünglich als Ausnahme konzipiert, die nur etwa 20% der gesamten Bundesgesetze einer Legislaturperiode erfassen würde, geriet sie unter der Hand zum Regelfall, der pro Legislaturperiode 50 bis 60% der Bundesgesetze betraf, weil der Bund meistens die Gelegenheit wahrnahm, neben materiellen Normen auch die Einrichtung der Behörden oder das Verwaltungsverfahren mit zu regeln. Das Bundesverfassungsgericht verstärkte diese Tendenz, indem es jeweils den gesamten Gesetzesbeschluss des Bundestages dem Zustimmungsvorbehalt des Bundesrates unterwarf, sobald sich darin auch nur eine einzige Norm mit der Organisation oder dem Verfahren der Landesbehörden befasste. Der Zustimmungsvorbehalt des Art. 84 Abs. 1 GG a. F. sollte die Länderautonomie in ihrer ureigenen Ausprägung als Organisationshoheit und Exekutivbefugnis vor dem Zugriff des Bundes schützen. Die im Bundesrat versammelten Landesregierungen erkannten früh die Chance, dieses an formelle Normen des Gesetzesbeschlusses anknüpfende Veto für ihre materiellen Änderungswünsche einzusetzen, und nutzten sie weidlich. Wegen der meistens entgegengesetzten Mehrheitsverhältnisse in Bund und Ländern wurde das Zustimmungsgesetz nach Art. 84 Abs. 1 GG a. F. zum Hebel einer für diesen Zweck weder gewählten noch legitimierten Länderopposition gegen die Mehrheit im Bundestag; das Gesetzgebungsverfahren wurde deswegen im Bundesrat häufig blockiert.

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II. Handlungsoptionen und Ergebnis der Reform Diese Blockade muss eine Föderalismusreform beseitigen, die sich vor allem die Entflechtung zu eng verzahnter Gebietskörperschaften auf die Fahne geschrieben hat; zwei grundsätzliche, konträre Lösungen hätten sich angeboten. Zum einen hätte sich der Bund auf materielle Bundesgesetze ohne Regelungen zum Verfahren oder zur Organisation der Behörden beschränken können. Diesem Vorschlag wollte er indessen nicht näher treten, weil er einen bundeseinheitlich geregelten Vollzug bundesweit geltender, materieller Gesetze für unerlässlich hielt; bei seinem Widerstand gegen diesen Vorschlag haben auch Überlegungen eine Rolle gespielt, dass materielle Regeln oft durch Verfahrensrechte unterstützt oder – wie im Planungsrecht – sogar ersetzt werden. Zum anderen hätte man das Ingerenzrecht des Bundes in die Organisation und in das Verfahren der Länder belassen, aber den Zustimmungsvorbehalt zugunsten der Länder aufheben können. Mit diesem Vorschlag waren die Länder nicht einverstanden, weil sie dann die gesamte Beseitigung des sie begünstigenden, in den Art. 83 ff. GG angelegten Exekutivföderalismus erwarteten und weil sie nicht auf die praktische Möglichkeit verzichten wollten, mit dem Hebel des Zustimmungsvorbehalts auf die materielle Bundesgesetzgebung einzuwirken. Am Ende ist mit dem neuen Art. 84 Abs. 1 GG eine Mischlösung entstanden, welche die Zahl der Zustimmungsgesetze verringert, zwischen den Ingerenzbefugnissen des Bundes und der Autonomie der Länder bei der Einrichtung der Behörden und ihrem Verwaltungsverfahren ein „Patt“ herstellt und die Kommunen absolut, die Länder selbst aber nur in einem gestaffelten Abwehrsystem vor umfangreichen kompetenziellen Zugriffen des Bundes absichert. Die nachfolgenden Erwägungen wollen das in diesem ersten Schritt der Föderalismusreform Erreichte beleuchten und ausloten; es wird sich dabei viel Licht, aber auch Schatten zeigen. Überlegungen zu diesem Reformthema sind gerade in dieser Festschrift angebracht, denn der Geehrte und der Autor haben an der „Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung“ als Sachverständige teilgenommen und dazu Modelle und Vorstellungen entwickelt. III. Reform im Dreiklang von Verfassungsnovelle, Begleitgesetz und Koalitionsvertrag Langjährige Vorbereitungen der Föderalismusreform durch Landesregierungen und -parlamente, das eineinhalbjährige Ringen der paritätisch aus

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Mitgliedern des Bundestags und des Bundesrats zusammengesetzten „Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung“ sowie die in der großen Koalition von CDU/CSU und SPD zwischen den Fraktionen in kleiner Runde ausgehandelte Entflechtungslösung haben ein kompliziertes Regelungswerk in drei Schichten hervorgebracht: Das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. August 2006 (BGBl. I S. 2034), welches entsprechend Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG den Text des Grundgesetzes ändert; das mit Zustimmung des Bundesrates ergangene Föderalismusreform-Begleitgesetz vom 5. September 2006 (BGBl. I S. 2098), das allerdings zu Art. 84 Abs. 1 und 104a Abs. 4 GG n. F. keine zusätzlichen Bestimmungen enthält; sowie der Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD vom 11.11.2005, der in den Randnummern 31 f. der Anlage 2 „Ergebnis der Koalitionsarbeitsgruppe zur Föderalismusreform“ vom 7.11.2005 detailliertere Bestimmungen zu beiden Verfassungsnormen enthält. Begleitgesetz und Koalitionsvertrag können allerdings nicht Verfassungsrecht ordnen. Obwohl das Begleitgesetz im „Paketverfahren“ dem Grundgesetzentwurf beigefügt wurde, ist es aus normhierarchischen Gründen nicht imstande, die Verfassung authentisch zu interpretieren oder ihren offenen Rahmen auszufüllen. Die Koalitionsvereinbarung bewegt sich rechtsdogmatisch dabei zweifellos noch mehr auf Glatteis, ist aber wie auch die Begründungen zum Entwurf der Grundgesetzänderung (BT-Drs. 16/813) und zum Föderalismusreform-Begleitgesetz (BT-Drs. 16/814) bei der Ermittlung des subjektiven Willens des Gesetzgebers nicht außer Acht zu lassen. Gesetz und Koalitionsvereinbarung sollen nach dem Willen ihrer Autoren zumindest die historische Interpretation des Verfassungsgebers fixieren. Im Ergebnis zeigt sich der Reformwille bei der Novellierung des Föderalismus auf den drei Ebenen eines neuen Verfassungstextes, eines Begleitgesetzes zur Detaillierung sowie zahlreicher unverbindlicher Parlamentsmaterialien, nämlich zwei Entwurfsbegründungen und einem Koalitionsvertrag. IV. Wegfall des Zustimmungsvorbehalts gegen Zugriffsrecht der Länder 1. Länderindividuelles Abweichensrecht statt kollektiver Blockade im Bundesrat Einer möglichen Blockade im Bundesrat durch Verweigerung der Zustimmung zu einem Gesetzesbeschluss des Bundestages wird mit der Kernregelung des Art. 84 Abs. 1 S. 1 und 2 GG begegnet. Bundesgesetze können weiterhin die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren regeln. Dazu bedarf es künftig nicht mehr der Zustimmung des Bundesrates. Um als unpassend empfundene Ingerenzen des Bundes in Organisation und

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Verfahren der Länder auszuschließen, wird jedoch jedem Land die Möglichkeit gegeben, für sein eigenes Territorium vom Bundesgesetz abweichende Regelungen zu erlassen, sodass es die Organisations- und Verfahrenshoheit wieder an sich ziehen kann (Zugriffsrecht). Im Ergebnis wird die kollektive Blockade durch eine Mehrheit im Bundesrat um den Preis einer länderindividuellen Abweichungsbefugnis beseitigt. Da sie sich nur auf die genannten Gebiete des Verwaltungsverfahrens und der Behördenorganisation bezieht, ist die dabei notwendig entstehende länderspezifische Rechtsregelung für ein bundesweit geltendes, materielles Gesetz zu verschmerzen, zumal damit den Ländern die Besorgung ihrer ureigenen Angelegenheiten, nämlich ihrer eigenen Organisation, wieder zurückgegeben wird. Außerdem wird das demokratische Element in den Ländern gestärkt, denn jetzt bestimmt das Landesparlament über ein eventuelles Abweichen vom Bundesrecht, während bisher die im Bundesrat vertretenen Landesregierungen an der Bundesgesetzgebung beteiligt waren. 2. Anwendungsvorrang des späteren Landesgesetzes statt Brechung des Landesrechts durch Bundesrecht Die Möglichkeit abweichender Landesgesetze stellt jedoch die Grundregel des Art. 31 GG, dass Bundesrecht Landesrecht bricht, auf den Kopf. Denn ein Zugriffsrecht der Länder ergibt nur einen Sinn, wenn deren Gesetz gegenüber einer bundesrechtlichen Organisations- oder Verfahrensregelung vorrangig ist. Dies impliziert Art. 84 Abs. 1 S. 2 GG bereits mit der Einräumung des Zugriffsrechts, weil es sonst sinnlos wäre. Die Verweisung des Art. 84 Abs. 1 S. 4 GG auf Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG stellt zusätzlich klar, dass in diesem Fall ein Landesgesetz dem Bundesgesetz „vorgeht“. Da das spätere Gesetz dem früheren nur „vorgeht“, es aber nicht „bricht“ (so Art. 31 GG), d.h. die spätere Norm nicht die frühere beseitigt, sondern nur deren Anwendung hemmt, lebt bei einer Aufhebung des späteren Gesetzes das frühere wieder auf. Vielleicht entsteht auf diese Weise demnächst sogar eine Reservegesetzgebung der jeweils anderen Körperschaft, indem z. B. der Bund eine Materie durch Gesetz regelt, obwohl er abweichendes Landesrecht erwartet oder gar wünscht, nur um bei dessen unvermuteten Ausbleiben eine Minimalnormierung zu garantieren. V. Zersplitterung der Rechtslage durch Abweichensrechte 1. Kompetenzkonflikt statt Kompetenzentscheidung Ist diese Zugriffsregelung vielleicht kein optimale, aber eine in der Praxis taugliche, die Interessen von Bund und Ländern abgewogen verteilende Ent-

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scheidung des Grundgesetzes, hat man mit einer weiteren, darüber hinausgehenden Regelung das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Im Laufe der Diskussion über die Föderalismusreform mehrten sich beim Bund die Stimmen, die auf bundeseinheitliche Organisations- und Verfahrensregelungen drängten. Insbesondere wo Grundrechtschutz durch Verfahren sichergestellt werden soll oder materielle Entscheidungen – wie im Planungsrecht – durch Verfahrensbestimmungen gesteuert werden, wären bundeseinheitliche Normen unerlässlich. Diesen argumentativen Ansatz kann man bezweifeln, denn die Länder können ebenso grundrechtsschützende oder planungssichernde Verfahrensregeln erlassen. Zudem betrifft das Argument allein das Verwaltungsverfahren, nicht die Behördenorganisation. Dennoch haben sich diese Stimmen unter dem Eindruck dieser Argumentation und des generellen Wunsches des Bundes nach umfassenden Ingerenzmöglichkeiten im bisherigen Umfang durchgesetzt. So wurde in Art. 84 Abs. 1 S. 3 GG vorgesehen, dass auch der Bund durch späteres Gesetz wieder von der landesrechtlichen, anderen Regelung abgehen kann (Abweichensrecht). Nach Art. 84 Abs. 1 S. 4 i. V. m. 72 Abs. 3 S. 3 GG gilt dann im Verhältnis von Bundes- und Landesrecht das jeweils spätere Gesetz. Im Ergebnis ist somit ein Hin und Her der Gesetze möglich. Der Bundesgesetzgeber kann Verfahren und Organisation der Länder regeln, jene können davon abweichen, danach hat der Bund wieder die Möglichkeit zur Regelung. Damit ist die Kette nicht zu Ende, denn jetzt kann das Spiel von vorne beginnen; Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG bestimmt deshalb ausdrücklich, dass „im Verhältnis von Bundes- und Landesrecht das jeweils spätere Gesetz“ vorgehe. Im Ergebnis beantwortet damit das Grundgesetz die Frage der Gesetzgebungszuständigkeit nicht endgültig; es ordnet die Kompetenzen nicht eindeutig (eventuell in sukzessiver Stufung) zu, sondern erlaubt ein Hin- und Herpendeln nach dem Belieben der einfachen Gesetzgeber. Der Rechtsanwender hat das Nachsehen, denn er muss im Extremfall mehrerer erlassener gegensätzlicher Bundes- und Landesgesetze die geltende Rechtslage für jedes einzelne Land durch Vergleich des aktuellen Standes der Bundes- und Landesgesetzgebung ermitteln. Auch der Rechtstaat erleidet einen Schaden, denn als Rechts„ordnungs“staat müsste er ein klares, kontinuierliches und in der Normlage sicheres Rechtssystem erzeugen. Nach neuem Recht kann sich aber die Rechtslage ständig ändern, weil die Kompetenzkette an keiner Stelle vom Grundgesetz gestoppt wird. Diese Regelung ist zu bedauern; sie entscheidet keine Kompetenzkonflikte, sondern ruft sie hervor. Sicherlich wird ein besonnener Bundesgesetzgeber eine erneute Abweichung nach einer Sonderregelung durch ein Land nur zurückhaltend anordnen. Die Entscheidung über Organisation und Verfahren bleibt aber im jeweiligen Einzelfall der aktuellen Politik überlassen.

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2. Sechsmonatsfrist für erneut abweichende Bundesgesetze Das Unbehagen über diese verfassungsrechtlich fixierte Konfliktmöglichkeit kommt in Art. 84 Abs. 1 S. 3 GG zum Ausdruck, der ein späteres, die Organisations- oder Verfahrensregelung eines Landes abänderndes Bundesgesetz frühestens sechs Monate nach seiner Verkündung in Kraft treten lässt. Damit will man allzu rasche gegensätzliche Regelungen vermeiden. Man erkauft sich diese Verstetigung der aktuellen Rechtslage freilich mit einem Bundesgesetz, das erst ein halbes Jahr später in Kraft treten darf. Die Gesetzgebungsmacht des Bundes wird temporär empfindlich beschnitten. Wenn die Länder innerhalb dieser sechs Monate erneut zur Gegenregelung ansetzen, würde es sogar nie in Kraft treten, denn für sie gilt eine derartige Frist nicht. Für Gesetze, die aus besonderen Gründen schnell in Kraft treten müssen, kann zudem mit Zustimmung des Bundesrates auf die Sechsmonatsfrist verzichtet werden; hier ergibt sich für die Länder sogar erneut die Chance, auf den Inhalt des Gesetzes unter der Drohung mit der Sechsmonatsfrist einzuwirken. 3. Problematische Neuerung Das Grundgesetz hat mit diesen Zugriffsrechten und Abweisungsbefugnissen eine komplizierte Lösung geschaffen, die auf dem Rücken des Rechtsanwenders ausgetragen wird und einem Rechtsstaat schlecht zu Gesicht steht. Vor allem hat sie statt einer eindeutigen Kompetenzzuordnung ein „Patt“ in den Legislativbefugnissen konstituiert. So sehr der erste Schritt der Föderalismusreform in seiner Gesamtheit zu begrüßen und zu unterstützen ist; in diesem Punkt können Gesetzgebung und Rechtsanwendung in ernsthafte Schwierigkeiten geraten. Es wurden zwar Kompetenzen in dem Sinne entflochten, dass grundsätzlich keine Mitwirkungsbefugnisse des anderen im Gesetzgebungsverfahren mehr bestehen. Dafür werden aber zwei Verfahren unabgestimmt nebeneinander gestellt und einzelne Normenkollisionen im konkreten Fall lediglich nach dem lex-posterior-Grundsatz entschieden. VI. Neuer Zustimmungsvorbehalt für Leistungsgesetze in Art. 104a Abs. 4 GG 1. Schutz der Länder vor hohen Vollzugskosten Nach der alten Regelung mit dem Zustimmungsvorbehalt des Bundesrates konnte eine Mehrheit der Länder über den Hebel des Art. 84 Abs. 1 GG im politischen Alltag auch den materiellen Inhalt des zustimmungspflichtigen Bundesgesetzes beeinflussen, indem sie der Organisations- oder Ver-

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fahrensregelung ihre Zustimmung verweigerten, weil sie den sachlichen Inhalt des Bundesgesetzes nicht hinnehmen wollten. Diese Möglichkeit soll mit der Zugriffs- und Abweichensgesetzgebung ausgeschlossen werden. Die Länder haben diesen Verlust als unvermeidliche Konsequenz einer Novellierung hingenommen. Sie hegten aber Bedenken, dass der Bund das Entfallen dieser politisch-praktischen Barriere einsetzen würde, um materielle Bundesgesetze zu erlassen, welche im Vollzug für die Länder aufwendig und teuer würden. Da nach der (im Prinzip verfehlten) Grundregel des Art. 104a Abs. 1 GG nicht der aufgabenverursachende Gesetzgeber sondern die Körperschaft der gesetzesdurchführenden Exekutive die Vollzugskosten zu tragen hat, könnte der Bund eine aufwendige Verwaltung seiner Bundesgesetze durch die Länder finanzieren lassen, ohne dass jene dieser finanziellen Belastung Einhalt gebieten könnten. Aus diesem Grunde wurde ein neuer Art. 104a Abs. 4 GG eingefügt, nach dem „Bundesgesetze, die Pflichten der Länder zur Erbringung von Geldleistungen, geldwerten Sachleistungen oder vergleichbaren Dienstleistungen gegenüber Dritten begründen“, der Zustimmung des Bundesrates bedürfen, wenn die dabei entstehenden Ausgaben von den Ländern zu tragen sind. Mit dieser Vorschrift wird die Zahl der Zustimmungsgesetze zwar wieder erhöht und damit die Blockademöglichkeiten des Bundesrates verstärkt; sie dürfte sich aber dennoch unterhalb der Marke von 40% bewegen, sodass die Gesamtregelung aus Art. 84 Abs. 1 und 104a Abs. 4 GG insgesamt dennoch das Gesetzgebungsverfahren erleichtert. 2. Erfassung der bedeutenden Belastung durch den Inhalt des Gesetzes In der Diskussion bei den Verhandlungen zur Föderalismusreform wurde von allen Seiten anerkannt, dass den Ländern Barrieren gegen eine übermäßige finanzielle Belastung durch den Vollzug von Bundesgesetzen zustehen müssten. Solange die Grundregel des Art. 104a Abs. 1 GG nicht vom bisherigen Grundsatz der Verwaltungskausalität, nach dem die gesetzesdurchführende Körperschaft die Vollzugsaufwendungen zu tragen hat, zum Grundsatz der Gesetzeskausalität übergeht, welcher den eine Aufgabe schaffenden und damit Kosten verursachenden Gesetzgeber finanziell belastet, ist eine derartige Konstruktion über Zustimmungsgesetze, wie sie Art. 104a Abs. 4 GG einrichtet, wohl unvermeidlich. Als schwierig erwies sich jedoch die Beschreibung des Zustimmungstatbestands. Er sollte nicht schon von jeder leichten und tragbaren Finanzbelastung der Länder beim Vollzug von Bundesgesetzen ausgelöst werden, sondern erst bei erheblichen oder unzumutbaren Finanzlasten. Als problematisch erwies sich also die Formulierung des Normtextes, der die erhebliche von der tragbaren Belastung unter-

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scheidet. In der Diskussion standen fest bezifferte Größen für jedes Gesetz; sie wurden zu Recht verworfen, weil die Inflation die Werte verschieben kann und Gesetzeskomplexe geteilt werden können, um eine fixe Grenze zu unterlaufen. Die Bindung an einen Promille- oder Prozentsatz des jeweiligen Haushalts erwies sich als ungeeignet, weil dann wahrscheinlich jeder einzelne Landeshaushalt und dessen Belastung Richtschnur gewesen wäre. Die Zustimmungsfrage müsste im jeweiligen Gesetzgebungsverfahren und damit nach den Werten eines bestimmten Haushaltsjahres entschieden werden, obwohl das Gesetz langfristig gilt und die Länder im Vollzug auf Dauer finanziell belastet. Hinzu kommt, dass man Haushalte nach dem Willen des Budgetgesetzgebers aufstellt und somit auch im Hinblick auf Zustimmungsrechte steuern könnte. Letztlich erwies es sich daher als beste Lösung, den intendierten Tatbestand der für die Länder bedeutenden oder unzumutbaren Belastung durch den Inhalt der Gesetze zu beschreiben, welcher typischerweise zu erhöhten und bedeutenden Vollzugsaufwendungen der Länder führt. Vorgeschlagen waren dafür die Indikatoren: subjektive Ansprüche Dritter, objektive Rechtspflichten zur Erbringung von Leistungen, die über eine normale Verwaltungstätigkeit hinausgehen, oder Vorgabe von Personal- und Sachstandards für die Erfüllung der Aufgabe. Der Verfassungsgeber hat von diesen Möglichkeiten den Indikator einer objektiven Pflicht der Länder zur Erbringung von Geldleistungen, geldwerten Sachleistungen oder vergleichbaren Dienstleistungen gegenüber Dritten gewählt. Es ist in der Tat angemessen, in einer bundesgesetzlichen Verpflichtung der Länder, nach außen Leistungen außerhalb des üblichen Verwaltungsverfahrens zu erbringen, eine besonders intensive Kostenbelastung im Vollzug zu identifizieren. Ob darüberhinaus auch subjektive Ansprüche des Bürgers auf diese Leistung vorhanden sind, ist für die Tatsache der finanziellen Belastung der Länder unerheblich. Der Tatbestand des neuen Art. 104a Abs. 4 GG ist also textlich für die Erfassung der Schwelle bedeutender und unzumutbarer Belastung der Länder korrekt formuliert.

3. Übliche Verwaltungsleistungen und geldwerte Zusatzleistungen Mit den termini der Geldleistung, geldwerten Sachleistung oder vergleichbaren Dienstleistung wird es aber vermutlich interpretatorische Probleme geben. Nach der ratio constitutionis sind Gesetze, die nur den üblichen bürokratischen Vollzug und dessen Leistungen regeln, wie z. B. den Erlass von Verwaltungsakten, die Ausgabe von Genehmigungen und Konzessionen oder die Überwachung privater Tätigkeit, auszuklammern, und werden lediglich Zusatzleistungen, wie z. B. soziale oder finanzielle Hilfen, Pflege- und

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Betreuungsleistungen, zustimmungspflichtig. Nach diesem Normziel wird sich eine einheitliche Grenzlinie zwischen unbedeutenden und bedeutenden Finanzlasten auch für den Einzelfall finden lassen; die Aufgabe der Grenzziehung kommt aber den Gerichten zu. Die Koalitionsvereinbarung von CDU/CSU und SPD vom 11.11.2005 versucht in Randnummer 32 der Anlage 2 den Terminus der vergleichbaren Dienstleistung gegenüber Dritten zu präzisieren, indem sie Beispiele aufführt und den Sachleistungsbegriff des Sozialversicherungsrechts einsetzt, der mit dieser Bezeichnung auch Geld- und Dienstleistungen erfasst. Dort wird festgestellt, dass unter den Begriff der Sachleistungen keine „reinen Genehmigungen, Erlaubnisse oder sonstige Verwaltungsakte, die keine darüber hinausgehende Leistungen bestimmen, sondern nur die Vereinbarkeit mit materiellen Vorschriften feststellen“, fallen. Diese Erläuterung hilft bei der Interpretation des Willens des Verfassungsgebers weiter; sie kann als Bestandteil des Koalitionsvertrages selbstverständlich keine verbindliche Handreichung zur Auslegung des Grundgesetzes geben. 4. Versuch einer Reduktion durch Koalitionsvereinbarung Eine Zustimmung ist nach dem Text des Art. 104a Abs. 4 GG nur vorgesehen, „wenn daraus entstehende Ausgaben von den Ländern zu tragen sind“. Die ratio constitutionis liegt darin, allein wirkliche Belastungen der Länderhaushalte durch das Erfordernis einer Zustimmung zu vermeiden. Die in Randnummer 32 der Anlage 2 des Koalitionsvertrags dazu abgegebene Erklärung „Leistungen, die nicht durch Länderhaushalte, sondern vollständig aus Beitragsmitteln, Zuschüssen aus dem EU-Haushalt oder dem Bundeshaushalt finanziert werden, sind nicht von dem neuen Zustimmungstatbestand erfasst.“, wirft aber Probleme auf, denn sie ist zu weit gefasst. Wenn Zuschüsse der EU oder des Bundes den Gesetzesvollzug finanzieren, trifft sie zwar zu, denn der Landeshaushalt erhält Kostenersatz; bei Beitragsmitteln ist sie hingegen verfehlt. Eine Finanzierung aus Beitragsmitteln – gemeint sind wohl generell Vorzugslasten, also Gebühren und Beiträge – stammt unmittelbar aus dem jeweiligen Landeshaushalt; das Land gibt etwas aus Eigenem ab. Es ist lediglich durch Sonderlasten statt durch Steuern gegenüber den Bürgern gewonnen worden. Da beitragsfinanzierte Gesetze das Belastungsniveau der Länderhaushalte erhöhen, sind sie in das Zustimmungserfordernis einzubeziehen. Der Vorbehalt in der Koalitionsvereinbarung steht damit hinsichtlich der Beitragsmittel im Widerspruch zum Sinn und zum Wortlaut der Verfassungsnorm.

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5. Ansatzpunkt für eine Kostenerstattung ohne korrespondierende Transferbefugnis? Art. 104a Abs. 4 GG ist in systematischer Hinsicht bemerkenswert. Sein Tatbestand setzt an besonderen finanziellen Belastungen der Länder an; insoweit steht die Norm zu Recht in der Finanzverfassung. Seine Rechtsfolge betrifft indessen den Zustimmungsvorbehalt bei Bundesgesetzen und würde an sich in die Regeln der Art. 76 ff. GG oder des Art. 84 GG über das Gesetzgebungsverfahren gehören. Die Schwierigkeit der systemgerechten Plazierung der Vorschrift korrespondiert mit praktischen Schwierigkeiten bei ihrer Anwendung. Ursprünglich war für Art. 104a Abs. 4 GG eine Alternative im Gespräch, die bei derartigen Leistungsgesetzen einen Aufwendungsersatzanspruch der Länder gegenüber dem Bund vorsah. Mit einer solchen Rechtsfolge hätte die Norm fugenlos systematisch und inhaltlich in die Finanzverfassung gepasst. In der gewählten Fassung kann der Bundesrat jedoch durch Verweigerung der Zustimmung das materielle Gesetz verhindern, weil es die Länder finanziell zu sehr belastet. Verfassungsrechtlich kann der Bundesrat damit aber nicht vom Bund Aufwendungsersatz erzwingen, obwohl eigentlich diese Frage zu beantworten wäre und es ihm meist nur um die Erstattung seiner Kosten geht. Selbstverständlich wird er wie bisher diese Vorschrift einsetzen, um mittelbar den Bund zum Aufwendungsersatz zu veranlassen. Dafür benötigt er jedoch eine Kompetenz des Bundes zum Finanztransfer an die Länder im Grundgesetz. Es bestehen zwar etliche Transferbefugnisse mit unbestimmten Rechtsbegriffen, z. B. in den Art. 104a Abs. 3, 104b oder 107 Abs. 2 GG; auch kann die Umsatzsteuer nach Art. 106 Abs. 3 und 4 GG durch einfaches Bundesgesetz umverteilt werden; diese Vorschriften hängen aber von unterschiedlichen tatbestandlichen Voraussetzungen ab, dienen differenten, besonderen Ziele und sind zum Teil auch zeitlich begrenzt, so dass nicht jeder Transferwunsch der Länder auf eine korrespondierende Transferbefugnis im Grundgesetz stößt und bedient werden kann. Wo aber die notwendige Befugnis fehlt, wirkt der Hebel des Art. 104a Abs. 4 GG im Bundesrat nicht mehr. Ferner sind manche Bundesgesetze von unabweisbarer materieller Notwendigkeit und Dringlichkeit. Hier wird es dem Bundesrat kaum gelingen, eine Verweigerung der Zustimmung politisch durchzusetzen, obwohl die Finanzbelastung der Länder erheblich ist. In beiden Fällen sind wie bisher „Hängepartien“ zwischen Bundestag und Bundesrat zu erwarten, die keinen von beiden zufrieden stellen. Im Grundfall bildet Art. 104a Abs. 4 GG eine ausgewogene Regelung zwischen dem Bedürfnis nach Bundesgesetzen im Landesvollzug und dem Begehren der Länder nach Kostenersatz; ohne Probleme wird er aber nicht bleiben.

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VII. Fortführung der alten GG-Regelung in Ausnahmefällen 1. Rückfall in die alte Rechtslage? Art. 84 Abs. 1 S. 5 und 6 GG zeigen deutlich, wie mühsam sich der Abstimmungsprozess zwischen Gebietskörperschaften und Verfassungsorganen in der Föderalismusreform gestaltete, denn hier wird die alte Regel, dass der Bundestag Organisation und Verfahren der Länderbehörden mit Zustimmung des Bundesrates regeln kann, als Ausnahmefall weitergeführt. Voraussetzung ist dafür zwar ein „besonderes Bedürfnis nach bundeseinheitlicher Regelung“. Macht der Bund von dieser Ausnahmeregelung Gebrauch, entfällt die Abweichungskompetenz der Länder. Hier ist des Guten zuviel getan worden. Wenn man angetreten ist, die Zustimmungsblockade zu beseitigen, darf man sie nicht für Ausnahmefälle beibehalten, insbesondere weil die ursprüngliche Regelung in Art. 84 Abs. 1 GG a. F. ohnedies als Ausnahme gedacht war, obwohl das nicht ausdrücklich im Text stand, und dann von einer großzügigen Staatspraxis umfassend und dauernd ausgenutzt wurde. Es besteht die Gefahr, dass dieser Ausnahmefall unter der Hand wieder zum Regelfall wird und dann in die alte Blockadepolitik zurückführt. 2. Umweltverfahren als „Regelausnahme“ i. S. d. Art. 84 Abs. 1 S. 5 und 6 GG? Die Koalitionsvereinbarung will in der Randnummer 31 der Anlage 2 für Art. 84 Abs. 1 S. 5 und 6 GG einen näheren Hinweis zu ihrer Auslegung geben: „Es besteht Einigkeit zwischen Bund und Ländern, dass Regelungen des Umweltverfahrensrechts regelmäßig einen Ausnahmefall im Sinne des Art. 84 Abs. 1 S. 3 [Anm. d. Verf.: jetzt S. 5 und 6] darstellen.“ Damit würde die Ausnahme des Verbots eines abweichenden Landesgesetzes im Umweltverfahren zur Regel erklärt. Die Koalitionsvereinbarung kann ihrer Rechtsnatur nach dogmatisch das Regel-Ausnahme-Prinzip des Art. 84 Abs. 1 S. 5 und 6 GG jedoch nicht umkehren. Eine solche Umkehrung wäre auch bedenklich. Zwar könnte man argumentieren, die Ausnahme müsse sich nicht aus dem jeweiligen Einzelfall ergeben. Sie könne auch darin bestehen, dass dieser Tatbestand im Umweltverfahren regelmäßig angenommen und dafür in anderen Sachbereichen streng ausgeschlossen wird. Dann wäre der Ausnahmefall nach Sachgebieten, nicht nach Einzelfällen definiert. Es ist aber nicht einzusehen, dass gerade im Umweltverfahren stets eine besondere Notwendigkeit besteht, ausschließlich bundeseinheitliche Verfahrensnormen in Geltung zu setzen. Das mag eventuell bei grenzüberschreitenden Umweltmedien – wie Luft und Wasser – der Fall sein; im

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Lärm- oder Bodenschutz kann man sie z. B. aber nicht voraussetzen. Dieser Vorstellung genereller Exemtion der Umweltverfahrensnormen sollte man schon jetzt entschieden entgegentreten, zumal politische Bekundungen aus dem Bundesumweltministerium bereits einen Schritt weiter gehen und für alle Verfahrensnormen aus dem eigenen Hause mit Hinweis auf seine generelle Aufgabenstellung des Umweltschutzes diesen Ausnahmefall beanspruchen und damit die Erklärung der Koalitionsvereinbarung noch erheblich erweitern. VIII. Striktes Verbot des Durchgriffs auf die Kommunen 1. Schutz der kommunalen Selbstverwaltungshoheit vor Bundesgesetzen Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG und auch Art. 85 Abs. 1 S. 2 GG schließen ein Ingerenzrecht des Bundes durch Kompetenzzuweisungen an Kommunen aus. Mit der Formulierung „Durch Bundesgesetz dürfen Gemeinden und Gemeindeverbänden Aufgaben nicht übertragen werden.“ wird strikt und ohne Ausnahme jeglicher Durchgriff des Bundes auf die dritte Verwaltungsebene im Staat ausgeschlossen. Diese Regelung erwies sich als erforderlich und ist erfreulicherweise in der notwendigen Rigidität von der Reform aufgenommen worden, weil der Bund bisher unter Hinweis auf seine Gesetzgebungsbefugnis zahlreiche Aufgaben bundesgesetzlich den Kommunen übertragen hatte. Dadurch sind Schäden im Autonomieverhältnis zwischen Bund und Ländern verursacht worden, weil der Bund in die mittelbare Landesverwaltung eingriff. Zugleich bewirkt eine derartige Aufgabenübertragung einen Verlust an Selbstverwaltungshoheit bei den Kommunen; jene konnten sich nicht einmal selbst durch den Mechanismus des Zustimmungsvorbehalts im Bundesrat wehren. Das Bundesverfassungsgericht hatte diese Praxis mit der Beschränkung gebilligt, dass es sich um eine punktuelle Annexregelung handle, die für den wirksamen Vollzug der materiellen Bundesnorm notwendig sei. In der politischen Praxis ist sie unterdessen zum Regelfall geworden. Das totale Durchgriffsverbot der Art. 84 Abs. 1 S. 7 und 85 Abs. 1 S. 2 GG schützt nunmehr die Selbstverwaltungshoheit der Kommunen, die in Art. 28 Abs. 2 GG materiell gewährleistet ist, auch im Bereich des Vollzugs von Bundesgesetzen. 2. Finanzielles Sekundärziel des Verbots Hinter diesen Untersagungsnormen steht ein weiteres finanzielles Ziel, das der Text der Bundesverfassung selbst gar nicht aufzeigt. Im Gegensatz zum Grundsatz der Vollzugskausalität nach Art. 104a Abs. 1 GG, nach dem

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die gesetzesdurchführende Gebietskörperschaft die Kosten des Normvollzugs aus eigener Tasche endgültig tragen muss, hat mittlerweile nach langen Auseinandersetzungen der Grundsatz der Gesetzeskausalität in alle Landesverfassungen Eingang gefunden: Zwar bestreiten die Kommunen ihre von den Ländern durch deren Gesetze übertragenen Aufgaben immer noch aus eigenen Mitteln; sie erhalten aber für die durchschnittlichen, notwendigen Kosten des Vollzugs der Landesgesetze Aufwendungsersatz. Damit wird den Kommunen, die zum Teil keine eigenen, nennenswerten Steuerquellen besitzen, ein finanzielles Äquivalent für die Durchführung der ihnen vom Staat überbürdeten Aufgaben gewährt. Wenn jedoch der Bund durch sein Gesetz den Kommunen Aufgaben überträgt, wie es nach der bisherigen Rechtslage möglich war, versagt dieses Kostenerstattungssystem, denn die Landesverfassungen ordnen nur an, dass diejenigen Aufwendungen zu ersetzen seien, die das Land selbst durch sein eigenes Landesgesetz den Kommunen aufgetragen hat. Das strikte Durchgriffsverbot der Art. 84 Abs. 1 und 85 Abs. 1 GG n. F. bereiten nunmehr dieser Technik und damit der finanziellen Belastung der Kommunen ein Ende. Jetzt bleibt dem Bund nur noch die Möglichkeit, Kompetenzen auf das Land oder auf andere Landesbehörden zu übertragen; die Kommunen selbst bleiben ausgespart. Erst die Länder können sie weiter an ihre Kommunen übertragen. Dazu bedarf es aber eines neuen landesrechtlichen Gesetzgebungsakts; da dann staatliche Aufgaben den Kommunen durch Landesnorm aufgebürdet werden, greifen die Aufwendungsersatzregeln der Landesverfassungen wieder und die Kommunen erhalten Aufwendungsersatz. Im Ergebnis ist es also weiterhin möglich, dass die Kommunen Bundesgesetze durchführen müssen. Allein beruht diese Entscheidung künftig auf dem jeweiligen Willen des Landesgesetzgebers und hat eine landesverfassungsrechtliche Kostenerstattungspflicht zur Folge. Die Lösung ist konsequent und richtig. IX. Ausblick Mit Art. 84 Abs. 1 und 104a Abs. 4 GG ist der reformierende Verfassungsgeber den Zielen einer Entflechtung von Bund und Ländern und einer dem Subsidiaritätsgedanken verpflichteten Stärkung der Autonomie der Länder beim Vollzug von Bundesgesetzen einen Schritt näher gekommen. Die neuen Normen enthalten jedoch einige Halbherzigkeiten und Inkonsistenzen, die wohl zum Teil die Verfassungsrechtsprechung ausbügeln und glätten kann. Die Zulassung von unbegrenzten Abweichungsregeln des Bundes und der Länder begründet jedoch ein „Patt“ in den Gesetzgebungskompetenzen, das Parlamenten, Rechtsanwendern und Gerichten noch manches Kopfzerbrechen bereiten wird.

Die neue Abweichungsgesetzgebung der Länder und ihre Auswirkungen auf den Umweltbereich Von Michael Kloepfer*

A. Vorbemerkungen Nach einer Vielzahl von vergeblichen Anläufen ist es im Juli 2006 der Großen Koalition gelungen, im Rahmen der – maßgeblich auch vom Jubilar beförderten – Föderalismusreform I mit entsprechenden Änderungen des Grundgesetzes die Kompetenzen des Bundes und der Länder im Allgemeinen und damit auch im Umweltbereich im Besonderen neu zu ordnen.1 In den ehemals rahmenrechtlichen Umweltkompetenzen (insbes. zum Naturschutz und Wasserhaushalt) wird zugleich mit der neuen „Abweichungsgesetzgebung“ den Ländern eine weite, wenn auch nicht unbegrenzte Möglichkeit zur Abweichung vom Bundesrecht in den Bereichen der ehemaligen Rahmengesetzgebung eingeräumt. Somit wird einerseits die Schaffung eines einheitlichen Umweltgesetzbuches als Bundesrecht ermöglicht, zugleich jedoch dessen einheitliche Wirkung in den Ländern durch die formal mögliche Schaffung eigener abweichender Landesregelungen in wichtigen Punkten potentiell eingeschränkt. Eine umfassende und überwiegend kritische Diskussion im Schrifttum hat inzwischen begonnen.2 * Seinem wiss. Assistenten Herrn Ass. jur. Uwe Müller dankt der Autor herzlich für die Mitarbeit. 1 Das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (BGBl I, 2034, ausgegeben am 31.8.2006) ist am 1.9.2006 in Kraft getreten (vgl. Art. 2, BGBl I, 2034, 2038), das Föderalismusreform-Begleitgesetz (BGBl I, 2098, ausgegeben am 11.9.2006) tritt ausweislich seines Art. 22 (BGBl I, 2098, 2107) zum 12.9.2006 und in Teilen zum 1.1.2007 in Kraft. 2 Vgl. Kloepfer, in: ZG 2006, 250 ff.; Nierhaus/Rademacher, in: LKV 2006, 385 ff.; Ipsen, in: NJW 2006, 2801 ff.; Frenz, in: NVwZ 2006, 742 ff.; Epiney, in: NuR 2006, 403 ff.; Kahl/Diederichsen, in: NVwZ 2006, 1107 ff.; Louis, in: ZUR 2006, 340 ff.; Ekardt/Weyland, in: NVwZ 2006, 737 ff.; Möller/Raschke/Fisahn, in: EurUP 2006, 203 ff.; Stock, in: ZUR 2006, 113 ff.; vgl. auch die Stellungnahmen der Sachverständigen zur Anhörung vor dem Rechtsausschuss im Bundestag am 18.5.2006 im Rahmen der umfassenden Beratungen zur Föderalismusreform von Dietlein, Epiney, Frenz, Kloepfer, Koch, Ruthig, Schmidt-Jortzig, Schrader und Ziehm, im Internet abrufbar unter: http://www.bundestag.de/ausschuesse/a06/ foederalismusreform/Anhoerung/03_Umwelt/Stellungnahmen; Sachverständigenrat

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In diesem Zusammenhang wird die Neuregelung der Haftungsteilung zwischen Bund und den Ländern bei Verstößen gegen die Vorgaben des Gemeinschaftsrechts bisher meistens nur verkürzt in die aktuelle Auseinandersetzung um die neue Abweichungsgesetzgebung einbezogen. Da jedoch die weit überwiegende Anzahl der deutschen Regelungen im Umweltbereich durch die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben intendiert sind, stellt sich deswegen, aber auch aus praktischen Erwägungen, die Frage, ob die formal mögliche Abweichung der Länder in der Praxis erhebliche Bedeutung gewinnen wird oder ob nicht über die Rückkopplung der Beachtung der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben das erforderliche Korrektiv zur Inanspruchnahme der Abweichungsgesetzgebung installiert wurde. Im Folgenden soll daher zunächst in einem Allgemeinen Teil (unter B.) die Abweichungsgesetzgebung im Kontext der Neuverteilung der Kompetenzen im Umweltbereich dargestellt werden. Im anschließenden Besonderen Teil (unter C.) wird dann vertieft auf die sogenannten abweichungsfesten Kerne und auf die Begrenzung der Abweichungsgesetzgebung durch gemeinschafts- und landesverfassungsrechtliche Vorgaben einzugehen sein. In einer abschließenden Bewertung der Implementierung der neuen Abweichungsgesetzgebung wird die zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse vorgenommen (unter D.).

B. Allgemeiner Teil I. Neuverteilung der Kompetenzen im Überblick Durch die verabschiedete Föderalismusreform I sollen die verantwortungs- und effizienzerschwerende Verflechtung zwischen Bund und Ländern abgebaut und wieder klare Verantwortlichkeiten geschaffen und dadurch die föderalen Elemente der Solidarität und der Kooperation einerseits und des Wettbewerbs anderseits neu ausbalanciert werden.3 Die Kategorie der Rahmengesetzgebung mit der Notwendigkeit von zwei nacheinander geschalteten Gesetzgebungsverfahren auf der Ebene des Bundes und in den Ländern hat sich nach gefestigter Auffassung insbesondere bei der Umsetzung europäischen Rechts, aber auch im übrigen nicht selten als ineffektiv erwiesen und insgesamt nicht bewährt.4 Im Bundesumweltrecht erschwerte oder verhinderte die bisherige Aufteilung seiner Teilbereiche in solche der konkurrierenden Gesetzgebung und solche der Rahmengesetzgebung wegen der dort nur möglichen geringeren Regelungsdichte eine medienübergreifende für Umweltfragen (SRU), Stellungnahme, „Der Umweltschutz in der Föderalismusreform“, Februar 2006. 3 Vgl. Gesetzesbegründung BT-Drs. 16/813, S. 7. 4 Vgl. Nierhaus/Rademacher, in: LKV 2006, 385, 387.

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Normsetzung, wie sie mit dem Vorhaben eines Umweltgesetzbuches und der Ablösung paralleler Genehmigungsverfahren durch eine einheitliche integrierte Vorhabensgenehmigung angestrebt wird.5 Künftig lassen sich 3 Gesetzgebungsarten bzw. 6 verschiedene Kompetenzformen im Umweltbereich unterscheiden6: (1) die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes (z. B. Kernkraftnutzung – Art. 73 Abs. 1 Nr. 14 GG) (2) die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz der Länder (z. B. Schutz vor verhaltensbezogenem Lärm7 – Art. 74 Abs. 1 Nr. 24 GG i. V. m. Art. 30, 70 Abs. 1 GG) (3) die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes mit vier Varianten: (a) mit Bindung an die Erforderlichkeitsklausel (Recht der Wirtschaft – Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG i. V. m. Art. 72 Abs. 2 GG); (b) ohne Bindung an die Erforderlichkeitsklausel und mit unbegrenzten Abweichungsbefugnissen der Länder (z. B. Raumordnung – Art. 74 Abs. 1 Nr. 31 GG i. V. m. Art. 72 Abs. 3 Nr. 4 GG); (c) ohne Bindung an die Erforderlichkeitsklausel und mit begrenzten Abweichungsbefugnissen der Länder (z. B. in den Bereichen Naturschutz und Landschaftspflege sowie einzelnen Bereichen des Wasserhaushalts – Art. 74 Abs. 1 Nr. 29 und 32 GG i. V. m. Art. 72 Abs. 3 Nr. 2 und 5 GG); (d) ohne Bindung an die Erforderlichkeitsklausel und ohne Abweichungsbefugnisse der Länder (z. B. Abfallwirtschaft, Luftreinhaltung und Lärmschutz sowie in den „abweichungsfesten“ Bereichen der grundsätzlich der 5

Vgl. Kloepfer, in: ZUR 2006, 338, 339. Vgl. Kloepfer, in: ZUR 2006, 338, 339. 7 Die Formulierung „Schutz vor verhaltensbezogenem Lärm“ kam erst kurz vor Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens zum Zuge und soll insbesondere der erforderlichen Abgrenzung zum anlagenbezogenen Lärmschutz dienen, welcher weiterhin in der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Art. 74 Abs. 1 Nr. 24 GG enthalten bleibt. In der Gesetzesbegründung ist noch von Sport- und Freizeitlärm sowie von Anlagen mit sozialer Zweckbindung die Rede. In der Sache hat sich dadurch keine inhaltliche Verschiebung ergeben, sondern es erfolgte lediglich eine Konkretisierung auf verhaltensbezogenen Lärm, der seinerseits wiederum durch überwiegend lokale Aktivitäten in bestimmten Anlagen entsteht. Dadurch wird der Geltungsbereich der bisherigen Landes-Immissionsschutzrechte nachgezeichnet. Künftig werden somit Lärmentwicklungen von Sport- und Freizeitanlagen, Kindergärten, Jugendheimen, Spielplätzen, Sportstätten, Theatern sowie Veranstaltungs- und Festplätzen, Hotels und Gaststätten als Anlagen mit überwiegender lokaler Bedeutung ausschließlich von den Ländern geregelt, soweit dort „verhaltensbezogene Sachverhalte“ ermittelt werden können; vgl. Kloepfer, in: ZG 2006, 250, 256; vgl. auch BT-Drs. 16/813, S. 13. 6

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Abweichungsklausel unterliegenden Gebiete Naturschutz und Landschaftspflege sowie Wasserhaushalt – Art. 74 Abs. 1 Nr. 29 und 32 GG i. V. m. Art. 72 Abs. 2 bzw. Abs. 3 Nr. 2 und 5 GG.). In den Bereichen 3 (a) und (b) ist der Bund relativ schwach, in den Bereichen 3 (c) und (d) ist er relativ stark. Die Föderalismusreform I hat mit Art. 74 Abs. 1 Nr. 28 bis 32 GG die umweltspezifischen Kompetenzen aus der bisherigen Rahmengesetzgebung in die konkurrierende Gesetzgebung überführt. Namentlich die umweltbezogenen Materien, insbesondere Naturschutz, Landschaftspflege und Wasserhaushalt werden in den nicht an die Erforderlichkeitsklausel gebundenen Teil der konkurrierenden Gesetzgebung aufgenommen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 28 bis 32 GG i. V. m. Art. 72 Abs. 2 GG). Im Gegenzug wurden den Ländern als Ergebnis eines politischen Tauschgeschäfts Abweichungsbefugnisse in den Bereichen der ehemaligen Rahmengesetzgebungskompetenzen zugestanden.8 Im Bereich der Regelung des Verwaltungsverfahrens (Art. 84 Abs. 1 S. 2 GG, Art. 125b Abs. 2 GG) erhält die Abweichungsbefugnis die Funktion der Kompensation für das verlorengegangene Erfordernis der Zustimmung des Bundesrates für insbesondere verwaltungsverfahrensbezogene Bundesgesetze nach Art. 84 Abs. 1 GG (a. F.). Der Bund erhält durch die Überführung wichtiger Materien der Rahmengesetzgebung in die konkurrierende Gesetzgebung die Möglichkeit einer Vollregelung dieser Materien, für die er bislang nur Rahmenvorschriften für die Gesetzgebung der Länder erlassen konnte. Insbesondere wird dem Bund insoweit die einheitliche Umsetzung des Umweltrechts der Gemeinschaft ermöglicht.9 Allerdings können die Länder nun in umfassender Form Abweichungsgesetze erlassen. Um die Effektivität der Abweichungsgesetzgebung der Länder zu ermöglichen und kurzfristige Rechtsänderungen durch den Bund zu vermeiden, treten Bundesgesetze mit potentieller Abweichungsmöglichkeit der Länder nach Art. 72 Abs. 3 GG frühestens sechs Monate nach ihrer Veränderung in Kraft. Nach Art. 72 Abs. 3 S. 2 GG kann jedoch mit der Zustimmung des Bundesrates etwas anderes bestimmt werden.10 Insbesondere (aber nicht nur) für den wichtigen Bereich der Gesetzgebung im Naturschutz und Wasserhaushalt erhält der Bund durch den neuen Art. 125b Abs. 1 S. 3 GG einen zeitlichen Regelungskorridor bis zum 31.12.2009, innerhalb dessen die Länder keine Abweichungsgesetze vom bisherigen Bundesrahmenrecht erlassen dürfen. Die Länder können hier erst 8 Die Vereinbarkeit der Abweichungsgesetzgebung mit gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben grundsätzlich ablehnend Epiney, in: NuR 2006, 403, 406. 9 Vgl. Gesetzesbegründung, BT-Drs. 16/813, S. 11. 10 Vgl. Gesetzesbegründung, BT-Drs. 16/813, S. 11.

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ab dem 1.1.2010 von ihrem Abweichungsrecht Gebrauch machen, es sei denn, der Bund erlässt vor diesem Zeitpunkt neue Regelungen. In dieser Zeit besteht somit für den Bund u. a. die Möglichkeit, erstmals ein einheitliches Umweltgesetzbuch zu verwirklichen, das den Drang der Länder zum Erlass abweichender Regelungen von den bisherigen Regelungen auf diesem Gebiet befristet verhindern soll. Die den Ländern nach Art. 72 Abs. 3 GG eingeräumte Abweichungsgesetzgebung gab in der Literatur bisher überwiegend Anlass zur grundsätzlichen Kritik.11 Auch bei den Umwelt-Verbänden ist die Einführung der neuen Abweichungsmöglichkeit der Länder auf eine strikte Ablehnung gestoßen.12 Im Kern wird der ungehemmte und politisch unverantwortliche Umgang mit der neuen Abweichungskompetenz durch die Länder befürchtet.13 Zweifel an der Umsetzbarkeit einer integrierten Vorhabensgenehmigung und damit des Kernstücks des Umweltgesetzbuches auf der Basis der Abweichungsgesetzgebungskompetenz der Länder äußern zudem auch Vertreter der Wirtschaft und des Umweltschutzes gleichermaßen.14 Dabei wird jedoch die Bindung an den mittlerweile dichten Normenbestand des europäischen Umweltrechts nicht hinreichend berücksichtigt.15 II. Funktion der Abweichungsgesetzgebung in Art. 72 Abs. 3 GG 1. Erstarrungsgefahr der Umweltgesetzgebung Mit einer nach der Altenpflege-Entscheidung16 beginnenden neuen Rechtsprechung17 zur Erforderlichkeitsklausel hat das BVerfG die durch die Ver11

Vgl. SRU Stellungnahme, Der Umweltschutz in der Föderalismusreform (Fn. 2), S. 11 ff.; Stock, in: ZUR 2006, 113, 117 f.; Grandjot, in: UPR 2006, 97 ff.; noch zum Begriff der Zugriffsgesetzgebung Möstl, in: ZG 2003, 297, 302 f.; Kirchhof, in: DVBl. 2004, 977, 981; Haug, in: DÖV 2004, 190, 194; Koch/Mechel, in: NuR 2004, 277, 283 ff. 12 Vgl. nur NABU (Hrsg.), „Naturschutzrecht und Föderalismusreform, Chancen und Risiken“, Positionspapier, Stand 17.2.2006; DUH (Hrsg.), „Föderalismusreform darf nicht in Kleinstaaterei münden“, Hintergrundpapier, 6.1.2006, S. 2 ff.; differenzierend BUND (Hrsg.), „Große Koalition ohne schlüssige Konzeption“; S. 11. 13 Vgl. nur Funk, in: Der Tagesspiegel, vom 10.2.2006, S. 4: „Von Grün bis Schwarz: Politiker aus Bund und Ländern warnen davor, an der Staatsreform herumzubasteln“. 14 Vgl. nur Schlegel/Bebber, in: Der Tagesspiegel, vom 31.1.2006, S. 4: „Glos im Bund mit Grünen“. 15 Vgl. zum entsprechenden Überblick nur Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 9, Rdn. 126 ff. 16 BVerfGE 106, 62 ff.; vgl. Jochum, in: NJW 2003, 28 ff.; Brenner, in: Jus 2003, 852 ff.; Faßbender, in: JZ 2003, 332 ff.

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fassungsänderung von 1994 verschärften Anforderungen nach Art. 72 Abs. 2 GG so restriktiv ausgelegt, dass dies einer fundamentalen Zurückdrängung des Bundes im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung gleichkam. Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat sich nun dieser Entwicklung entgegengestellt, indem er nur noch relativ wenige Sachmaterien an dem Erforderlichkeitskriterium bindet. Dies kommt der Sache nach einem weitgehenden „Ausbremsen“ des Bundesverfassungsgerichts und einem bedeutenden Geländegewinn des Bundes im Kampf um seine Gesetzgebungskompetenzen gleich, nachdem er insoweit in Karlsruhe fast schon eine Schlacht verloren hatte.18 Die Bedeutung dieser Änderung wird in der Gesetzesbegründung – jedenfalls auf den ersten Blick – nicht recht deutlich. Der Hinweis auf die „übereinstimmende Auffassung von Bund und Ländern“19 ersetzt jedenfalls keine sachliche Begründung für die sehr starke Reduzierung des bisherigen Anwendungsbereichs der Erforderlichkeitsklausel. Unter den der Erforderlichkeitsklausel nach Art. 72 Abs. 2 GG weiterhin unterliegenden Regelungsmaterien des Art. 74 GG befindet sich im Hinblick auf umweltrelevante Materien als durchaus substantieller Restbestand auch das Recht der Wirtschaft in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG (z. B. bezüglich des Rechts erneuerbarer Energien oder des Chemikalienrechts). Hier kann sich die Rechtsprechung des BVerfG zur Erforderlichkeit einer Bundesregelung besonders kritisch auswirken. Die gewährleistete verfassungsgerichtliche Nachprüfbarkeit der Erforderlichkeit einer bundeseinheitlichen Regelung nach Art. 72 Abs. 2 GG ist durch Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG verfassungsprozessual abgesichert. In der Grundsatzentscheidung zur Altenpflege aus dem Jahre 2002 betonte das Gericht, dass die Kriterien der „Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse“ sowie der „Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit“ äußerst restriktiv auszulegen seien.20 Die Bedrohung der gleichwertigen Lebensverhältnisse im Bundesgebiet nimmt das BVerfG danach erst dann an, wenn sich die Lebensverhältnisse in den Ländern in erheblicher, das bundesstaatliche Sozialgefüge beeinträchtigender Weise auseinander entwickelt haben oder wenn sich eine solche Entwicklung abzeichnet.21 Eine grundsätzliche Neuregelung des Sachgebiets müsste den Erfordernissen des Art. 72 Abs. 2 GG uneingeschränkt genügen. Der Bund müsse deshalb dann das Vorliegen der Voraussetzungen der Erforder17 Vgl. ferner BVerfGE 110, 141, 175 (Kampfhunde); 111, 226, 253 ff. (Juniorprofessur); 112, 226, 243 ff. (Studiengebühr). 18 So schon Kloepfer, in: ZG 2006, 250, 256. 19 Vgl. Gesetzesbegründung, BT-Drs. 16/813, S. 11 und 12. 20 BVerfGE 106, 62 und 135 ff.; vgl. dazu auch allgemein Hebeler, „Die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Grundgesetz“, in: ZG 2006, 301 ff. 21 Auf die noch fehlende Konkretisierung der Begrifflichkeiten hinweisend Epiney, in: NuR 2006, 403, 409.

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lichkeitsklausel hinreichend plausibel für alle Vorschriften des neuen Rechts darlegen. Etwaige Zweifel gingen zu seinen Lasten. Die vom Gesetzgeber zugrundegelegten Tatsachenfeststellungen kann das BVerfG – nach eigener Einschätzung – ohne Beschränkungen auf ihre Richtigkeit und Vollständigkeit, die damit verfolgten rechtspolitischen Ziele auf ihre Plausibilität und die Prognoseentscheidung auf ihre Verlässlichkeit der zugrundeliegenden Erfahrungssätze hin überprüfen.22 In mehreren weiteren Entscheidungen hat das BVerfG die im Altenpflegeurteil aufgestellten Grundsätze zu konkreter Anwendung und weiterer Entfaltung gebracht.23 Vor diesem Hintergrund drohte beim Scheitern der Verfassungsreform eine Erstarrung und ein langsames Verdorren des bisher an das Erforderlichkeitskriterium gebundenen Bundesumweltrechts. Das derzeit existierende, auf Art. 74 GG bzw. Art. 75 GG (a. F.) gestützte Umweltrecht des Bundes dürfte heute in weiten Bereichen dem Erforderlichkeitskriterium des Art. 72 Abs. 2 GG nach der geschärften „Erforderlichkeits“-Rechtsprechung des BVerfG24 nicht mehr entsprechen. Zwar geht altes, noch unter Art. 72 Abs. 2 GG (a. F.) erlassenes Bundesrecht fort, es könnte aber nur noch bei „Erforderlichkeit“ durch neue Bundesregelungen ersetzt werden. Ohne die Abschaffung des Erforderlichkeitserfordernisses (wenn auch um den Preis der Abweichungsgesetzgebung als Ergebnis des politisch erzielten Kompromisses) im Zuge der Föderalismusreform I hätte der Bundesgesetzgeber – bei Nicht-Vorliegen einer Erforderlichkeit – versuchen müssen, möglichst lange an dem alten Recht unter Vermeidung von Modernisierungen festzuhalten. Die Gefahr einer „Erstarrung“ des Bundesrechts war danach mit den Händen zu greifen. Für die umweltrelevanten Materien des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG ist diese Gefahr bis heute nicht gebannt. Vielleicht justiert das Bundesverfassungsgericht insoweit nach der Föderalismusreform I seine Erforderlichkeits-Rechtsprechung bei Gelegenheit nach. 2. Ersatz des Wegfalls der Rahmenkompetenz Die Überführung von einem Teil der bisherigen Rahmengesetzgebungszuständigkeiten in die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes beseitigte naturgemäß die originären Gestaltungsmöglichkeiten der Länder in Form rahmenausfüllender Gesetze. Ohne Mitwirkung der Länder durch ihre Gesetzgebung war die der Rahmengesetzgebung unterliegende 22

Vgl. BVerfGE 106, 62, 150 ff. Vgl. BVerfGE 110, 141 (gefährliche Hunde); BVerfGE 111, 10 (Ladenschluss); BVerfGE 111, 226 (Juniorprofessuren); BVerfGE 112, 226 (Studiengebühren). 24 BVerfGE 106, 62 ff.; vgl. Jochum, in: NJW 2003, 28 ff.; Brenner, in: Jus 2003, 852 ff.; Faßbender, in: JZ 2003, 332 ff.; vgl. ferner BVerfGE 110, 141, 175 (Kampfhunde); 111, 226, 253 ff. (Juniorprofessur); 112, 226, 243 ff. (Studiengebühr). 23

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Materie bisher gesamtstaatlich grundsätzlich nicht regelbar. Künftig ist dies bezüglich der überführten Sachmaterien anders, weil der Bund im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung abschließende Regelungen vornehmen darf. Der Verlust der Länder an der Mitgestaltung der bisherigen Rahmengesetzgebungsmaterien durch Ausfüllungsgesetze soll – wie erwähnt – politisch durch die in Art. 72 Abs. 3 GG vorgesehene Abweichungsgesetzgebung kompensiert werden. Dadurch kann insbesondere auch regionalen Besonderheiten Rechnung getragen werden. Die Länder gewinnen durch die Einführung der neuen Abweichungsgesetzgebung die Möglichkeit, in den genannten Bereichen abweichend von der Regelung des Bundes eigene Konzeptionen zu verwirklichen und auf ihre unterschiedlichen strukturellen Voraussetzungen und Bedingungen zu reagieren. Darauf kann der Bund allerdings erneut vereinheitlichende Regelungen erlassen, von den die Länder wieder abweichen können etc. Ob und inwieweit von dieser Möglichkeit in relevanter Weise Gebrauch gemacht wird oder ob die bundesgesetzliche Regelung ohne Abweichung gelten soll, unterliegt – in den Bereichen potentieller Abweichungsgesetzgebung – der verantwortlichen politischen Entscheidung des jeweiligen Landesgesetzgebers.25 Die Länder sind bei ihrer Abweichungsgesetzgebung an bundesverfassungs-, völker- und europarechtliche Vorgaben in gleicher Weise gebunden wie der Bund.26 Hinzu kommen für die Länder allerdings noch die zusätzlichen Bindungen an das Landesverfassungsrecht, das hinsichtlich seiner umweltspezifischen Inhalte nicht selten sehr viel weiter geht als Art. 20a GG. 3. Ersatz des Wegfalls des Zustimmungserfordernisses des Bundesrats Dem tragenden Entflechtungszweck der Föderalismusreform I entspricht der starke Umbau des Art. 84 Abs. 1 GG (a. F.). Diese Verfassungsbestimmung traf (zusammen mit der vom Bundesgesetzgeber extensiv betriebenen Einbeziehung verwaltungsverfahrens- und organisationsrechtlicher Regelungen) die Hauptverantwortung für den hohen Anteil an zustimmungsbedürftigen Bundesgesetzen. Der Reformgesetzgeber hat nunmehr den Wegfall der Zustimmungsbedürftigkeit solcher Gesetze durch Abweichungsbefugnisse der Länder zu kompensieren versucht (Art. 84 Abs. 1 S. 2 GG). Mit dem Bezug in Art. 84 Abs. 1 S. 3 GG auf Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG soll wiederum sichergestellt 25 26

Vgl. Gesetzesbegründung, BT-Drs. 16/813, S. 11. Vgl. Gesetzesbegründung, BT-Drs. 16/813, S. 11.

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werden, dass im Verhältnis von Bundesrecht und abweichendem Landesrecht das jeweils spätere Gesetz vorgeht.27 Nach dem geänderten Art. 84 Abs. 1 S. 4 GG können Bundesgesetze künftig nur „in Ausnahmefällen“ wegen eines besonderen Bedürfnisses nach bundeseinheitlicher Regelung ohne Abweichungsmöglichkeit das Verwaltungsverfahren der Länder regeln, soweit der Bundesrat nach Art. 84 Abs. 1 S. 5 GG zustimmt.28 In diesem Zusammenhang wurde in der Koalitionsvereinbarung vom 18.11.2005 im Begleittext festgelegt, dass die Regelung des Umweltverfahrensrechts regelmäßig einen Ausnahmefall im Sinne des Art. 84 Abs. 1 S. 4 GG darstellen soll.29 Hierauf verweist – etwas stilwidrig – der Gesetzesentwurf.30 Aus der Sicht der Rechtsklarheit wäre sicher die Aufnahme des Umweltverfahrensrechts in den Wortlaut des Art. 84 Abs. 1 S. 4 GG die bessere Lösung gewesen. III. Strukturprinzip der lex-posterior-Regel in Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG 1. Gefahr eines „Ping-Pong-Effekts“? Mit Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG wird das bisherige Verhältnis von Bundesund Landesrecht erheblich modifiziert. Im Bereich der Abweichungsgesetzgebung gilt im Verhältnis von Bundes- und Landesrecht insoweit nicht mehr der Superioritätsgrundsatz (Art. 31 GG), sondern der Posterioritätsgrundsatz (Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG).31 Die Länder erhalten hierdurch – vor allem in den Bereichen der ehemaligen Rahmengesetzgebung – auch dann ein Zugriffsrecht auf bestimmte Materien, wenn und soweit der Bund von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz bereits abschließend Gebrauch gemacht hat. Entgegen der Grundregel des Art. 72 Abs. 1 GG können sie von der bundesrechtlichen Regelung abweichende Vorschriften erlassen und damit die Gesetzgebung wieder an sich ziehen. Damit soll der durch eine extensive Bundesgesetzgebung beförderten bisherigen Erosion 27

Vgl. Gesetzesbegründung, BT-Drs. 16/813, S. 15. Vgl. Gesetzesbegründung, BT-Drs. 16/813, S. 15; zur sprachlichen Kritik vgl. nur Ziehm, in: Stellungnahme zur Anhörung vor dem Rechtsausschuss im Bundestag, S. 5, im Internet abrufbar unter: http://www.bundestag.de/ausschuesse/a06/ foederalismusreform/Anhoerung/03_Umwelt/Stellungnahmen. 29 Vgl. Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD vom 11.11.2005, S. 203, Anlage 2, Rdn. 31 (im Internet abrufbar unter http://koalitionsvertrag.spd.de); vgl. auch Gesetzesbegründung BT-Drs. 16/813, S. 15. 30 Vgl. Gesetzesbegründung, BT-Drs. 16/813, S. 15; trotz ihrer politischen Bedeutung ist eine Koalitionsvereinbarung rechtlich nicht verbindlich und bindet den Gesetzgeber nicht; sie ist kein Teil des staatlichen Gesetzgebungsverfahrens; vgl. nur zur objektiven Auslegung BVerfGE 1, 299, 312; 11, 126, 129 f.; 62, 1, 45. 31 Vgl. Gesetzesbegründung, BT-Drs. 16/813, S. 11 f. 28

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der Länderkompetenzen im Bereich der Gesetzgebung entsprechend entgegengewirkt werden.32 Durch die neue Abweichungsgesetzgebung gilt das Bundesrecht dort nur noch, soweit und solange die Länder von ihren Kompetenzen keinen Gebrauch machen und kein abweichendes Landesrecht erlassen. Soweit Abweichungsgesetze der Länder erlassen werden, geht späteres Bundesrecht dem abweichenden Landesrecht allerdings wieder vor. Hebt der Bund sein Gesetz danach ersatzlos auf, gilt wieder das bisherige Landesrecht.33 Die Länder ihrerseits können auch vom novellierten Bundesrecht erneut abweichen, jedoch nur unter entsprechender Beachtung des auch für die Länder verbindlichen Gemeinschaftsrechts (und ihres eigenen Verfassungsrechts). Das Landesrecht geht dann wieder dem Bundesrecht vor („Ping-Pong-Effekt“).34 Das Bundesrecht verliert seine Gültigkeit jedoch nur hinsichtlich derjenigen Normbereiche, die von den Ländern tatsächlich abweichend geregelt werden, und auch nur in den Ländern, die divergierende Regelungen erlassen. Mit Recht wird daher darauf hingewiesen, dass es sich nicht um eine Durchbrechung sondern vielmehr um eine „Überlagerung“ des Bundesrechts im Sinne eines Anwendungsvorrangs handelt, wie er bereits im Verhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und den jeweiligen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen bekannt ist.35 Theoretisch mag hieraus das Risiko einer unendlichen „Ping-Pong-Regelung“ erwachsen; praktisch politisch aber wohl nicht.36 Eher ist zu erwarten, dass bei einer zweiten bundeseinheitlichen Regelung ein Kompromiss zwischen Bund und Ländern gesucht wird, um das abweichende Landesrecht überflüssig zu machen.37 Offensichtlichen Rechtsmissbräuchen könnte im Übrigen mit dem Gedanken der Bundestreue entgegengewirkt werden.38 Insgesamt dürfte die politische Bedeutung der neuen Abweichungsgesetzgebung weniger in der zusätzlich gewonnenen Regelungsmacht als vielmehr in der damit verbundenen zusätzlichen Verhandlungsmacht der Länder liegen. 32

Vgl. Nierhaus/Rademacher, in: LKV 2006, 385, 389. Vgl. dazu Kloepfer, in: ZG 2006, 250, 255. 34 Vgl. Gesetzesbegründung, BT-Drs. 16/813, S. 11. 35 Vgl. dazu nur Huber, in: Blanke/Schwanengel (Hrsg.), Zustand und Perspektiven des deutschen Bundesstaates, 2005, S. 21, 31; Nierhaus/Rademacher, in: LKV 2006, 385, 389. Zudem war die Überlagerung von Bundesrecht durch späteres Landesrecht auch vor der Föderalismusreform unter engen Voraussetzungen möglich. So konnte Bundesrecht, welches in Folge der 1994 veränderten Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG (a. F.) nicht mehr erlassen werden durfte, über Art. 72 Abs. 3, 125a GG (a. F.) durch Landesrecht ersetzt werden. 36 A. A. wohl Schmidt-Jortzig, in: Stellungnahme zur Anhörung vor dem Rechtsausschuss im Bundestag, S. 8, im Internet abrufbar unter: http://www.bundestag.de/ ausschuesse/a06/foederalismusreform/Anhoerung/03_Umwelt/Stellungnahmen. 37 Vgl. dazu Gesetzesbegründung, BT-Drs. 16/813, S. 11. 38 Vgl. Kloepfer, in: ZG 2006, 250, 255. 33

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2. Einführung einer Notifizierungspflicht? Für den Rechtsanwender besteht durch die Ausübung der Abweichungsgesetzgebung die Gefahr des Verlustes der Übersichtlichkeit hinsichtlich des jeweils geltenden Rechts. Dies gilt insbesondere in den Fällen, in denen einem Abweichungsgesetz ein Änderungsgesetz des Bundes nachfolgt, dass nach der lex-posterior-Regel das Landesrecht verdrängt. Gleiches gilt, soweit die Aufhebung einer Regelung von Bund oder Land dazu führt, dass eine zuvor vom Anwendungsvorrang erfasste Regelung wieder Anwendung findet. Hier könnte ein formelles oder informelles Notifikationsverfahren von Bund und Ländern über den Erlass abweichender Normen etc. vorgesehen werden (etwa nach dem Vorbild von Art. 176 S. 3 EG).39 Am einfachsten wäre es, (z. B. beim Bundesjustizministerium oder einer Fachministerkonferenz) ein entsprechend auskunftspflichtiges „Dokumentationszentrum“ zu errichten, an das einschlägige Rechtsänderungen von Bund und Ländern zu melden wären.40 Die Länder müssten danach dem Bund (und umgekehrt) den Erlass und die Aufhebung entsprechender Gesetze anzeigen. Ein materielles Prüfrecht oder gar Konsequenzen für die Verfassungsmäßigkeit der Landesregelungen, bei Verstoß gegen die Notifizierungspflicht, wären damit freilich nicht verbunden.

C. Besonderer Teil Für eine Bewertung der neuen Abweichungsgesetzgebung sind neben der beschriebenen Diskussion von Funktion und Struktur der Abweichungsbefugnisse insbesondere die Herausarbeitung des Umfangs der sogenannten abweichungsfesten Kerne (unter I) von besonderer Bedeutung. Daneben bedarf es einer Darstellung der Begrenzung der Abweichungsgesetzgebung der Länder durch die Vorgaben des Gemeinschaftsrechts (unter II) und etwaiger landesverfassungsrechtlicher Bindungen der Länder (unter III). I. Abweichungsfeste Kerne Wie erwähnt, bleibt bei den Materien, die in Art. 72 Abs. 3 S. 1 GG für abweichende Regelungen der Länder geöffnet werden, für bestimmte Teile dieser Sachmaterien gleichwohl eine Abweichung der Länder ausgeschlossen.41 Der Inhalt dieser sogenannten abweichungsfesten Kerne soll im Folgenden in einigen Umrissen skizziert werden. 39

Vgl. nur Ruthig, in: Stellungnahme zur Anhörung vor dem Rechtsausschuss im Bundestag, S. 12, im Internet abrufbar unter: http://www.bundestag.de/ausschuesse/ a06/foederalismusreform/Anhoerung/03_Umwelt/Stellungnahmen. 40 Vgl. dazu Kloepfer, in: ZG 2006, 250, 268 f.

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1. Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 GG (Naturschutz und Landschaftspflege) So können die Länder abweichende Regelungen über den Naturschutz und die Landschaftspflege nach Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 GG nicht treffen, soweit die „allgemeinen Grundsätze des Naturschutzes, das Recht des Artenschutzes42 oder des Meeresnaturschutzes“ berührt sind.43 Zur Konkretisierung des Begriffs der allgemeinen Grundsätze des Naturschutzes kann auch die Rechtsprechung des BVerfG zum Begriff der „allgemeinen Grundsätze des Hochschulrechts“ im bisherigen Art. 75 Abs. 1 Nr. 1a GG (a. F.) entsprechend herangezogen werden.44 Eine vom Wortlaut her naheliegende Orientierung zur Bestimmung der allgemeinen Grundsätze des Naturschutzes an den Aufzählungen in § 2 BNatSchG scheidet dagegen aus, da die dort aufgeführten Grundsätze des Naturschutzes und der Landschaftspflege für sich genommen zu ausführlich sind. Würde sich die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz auf sämtliche dort aufgeführten Grundsätze beziehen, bliebe nach der Ausübung der Kompetenz durch den Bund kaum noch ein eigener Spielraum für die Länder.45 Die Grundsätze des § 2 BNatSchG sollten durch die Landesgesetzgebung konkretisiert und ergänzt werden. Sie hatten nicht die Funktion, die Länder aus ihren Rahmenkompetenzen zu verdrängen. Dies bedeutet, dass die „allgemeinen Grundsätze“ des Naturschutzes erheblich enger und weniger konkret zu fassen sind als in § 2 BNatSchG, der ja auch nicht nur „allgemeine“ Grundsätze enthält. Von den „allgemeinen Grundsätzen“ des Naturschutzes sollen laut Begründung des verfassungsändernden Gesetzes beispielsweise die Landschaftsplanung, die konkreten Voraussetzungen und die Inhalte der Ausweisung von Schutzgebieten, die gute fachliche Praxis der Land- und Forstwirtschaft und die Mitwirkung der Naturschutzverbände ausgenommen sein.46 Andererseits hat die Bundesregierung auf eine Anfrage im Bundestag erklärt, dass die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung als grundlegende Regelung zum Ausgleich und Ersatz von Eingriffen in Natur und Landschaft angesehen wird; diese Ansicht ist freilich nicht unbestritten.47 Auch die Erhaltung 41

Vgl. dazu auch Frenz, in: NVwZ 2006, 742, 746. Vgl. zu den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben nur Möller/Raschke/Fisahn, in: EurUP 2006, 203, 204 ff. 43 Vgl. Gesetzesbegründung, BT-Drs. 16/813, S. 11. 44 Vgl. nur BVerfGE 111, 226 – Juniorprofessur. 45 Vgl. dazu bereits Louis, in: ZUR 2006, 340, 342. 46 Vgl. BT-Drs. 16/813, S. 11. 47 Vgl. BT-Drs. 16/767, S. 5 f. 42

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der biologischen Vielfalt und die Sicherung der Funktionsfähigkeit des Naturhaushalts sollen zu den Grundsätzen des Naturschutzes gehören.48 Bei der Bestimmung des Artenschutzes als Teil des abweichungsfesten Kerns kann von der in den §§ 39 ff. BNatSchG vorgeprägten Grundform ausgegangen werden. Erfasst wird der Schutz wildlebender Tier- und Pflanzenarten und zwar in Form des allgemeinen wie des besonderen Artenschutzes.49 Insbesondere der prägende internationale und europäische Bezug rechtfertigt die vom verfassungsändernden Gesetzgeber angeordnete Abweichungsfestigkeit des Artenschutzes. Noch stärker aus internationalen und europäischen Erwägungen ist die Abweichungsfestigkeit des Meeresnaturschutzes gerechtfertigt. Die Ausnahmen hinsichtlich des Rechts des Meeresnaturschutzes ermöglichen dem Bund, abweichungsfeste und damit inhaltlich abschließende Regelungen zum maritimen Biodiversitätsschutz zu erlassen.50 Mitumfasst ist der maritime Arten- und Gebietsschutz sowie die naturschutzfachliche Bewertung bei der Realisierung von Vorhaben im maritimen Bereich.51 Dabei umfasst das Meer begrifflich auch das offene Meer jenseits der Hoheitsgrenzen, in dem der Küstenstaat durch Erklärung einer Ausschließlichen Wirtschaftszone eine teilweise Hoheitsgewalt begründen kann. Zum Meer in diesem Sinne gehört auch das Küstengewässer.52 In diesem Zusammenhang spricht die Begründung des verfassungsändernden Gesetzes von verbindlichen Regelungen zum Schutz der maritimen Biodiversität.53 Die abweichungsfeste Zuständigkeit des Bundes wird somit auf den Bereich des Naturschutzes und der Landschaftspflege im Bereich der Küstengewässer ausgedehnt. So sollen bundesrechtliche Regelungen für den maritimen Fauna-, Flora- und Habitatschutz eröffnet werden, insbesondere wenn sie durch europarechtliche Verpflichtungen oder internationale Verträge erforderlich sind.54 2. Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 5 GG (Wasserhaushalt) Abweichungsfest sind nach Art. 72 Abs. 3 Nr. 5 GG zunächst die stoffbezogenen Regelungen des Wasserrechts. Sie beziehen sich auf einen Kernbereich des Gewässerschutzes. Nach der Gesetzesbegründung handelt es sich dabei um stoffliche Belastungen, die Kernbereiche des Gewässerschutzes 48 49 50 51 52 53 54

Vgl. BT-Drs. 16/813, S. 11. Zu den Begriffen vgl. Kloepfer, Umweltrecht (Fn. 15), § 11, Rdn. 212 ff. Vgl. nur Louis, in: ZUR 2006, 340, 341. Vgl. Gesetzesbegründung, BT-Drs. 16/813, S. 11. Vgl. Louis, in: ZUR 2006, 340, 341. Vgl. BT-Drs. 16/813, S. 11. Vgl. nur Louis, in: ZUR 2006, 340, 341.

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berühren und daher durch bundesweit einheitliche Instrumentarien gesetzlich zu regeln sind.55 Um bei der Auslegung des Begriffs der stofflichen Regelungen zu verhindern, dass eine Anlage mehr Schadstoffe emittieren darf als qualitätsseitig für das jeweilige Gewässer hinnehmbar ist, bleibt durch eine weite Auslegung des Stoffbegriffs sicherzustellen, dass eine fachliche Abstimmung von emissions- und immissionsbezogenen Werten zu erfolgen hat, soweit sie für die Gewässerqualität relevant werden können. Erfasst sind mit der Formulierung „stoffbezogener Regelungen“ insbesondere stoffbezogene Tatbestände für die Benutzung und die Bewirtschaftung von Gewässern, stoffbezogene Einleitungsverbote und Begrenzungen sowie Qualitätsnormen.56 Das Abweichungsrecht der Länder erstreckt sich nach Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 5 GG ferner nicht auf „anlagenbezogene Regelungen“ des Wasserhaushaltrechts.57 Von Anlagen ausgehende Gefährdungen der Gewässer stellen einen Kernbereich des Gewässerschutzes dar, der durch bundesweit einheitliche rechtliche Instrumentarien zu regeln ist.58 Auf Anlagen „bezogen“ sind alle Regelungen, deren Gegenstand von Anlagen ausgehende Einwirkungen auf den Wasserhaushalt betreffen, z. B. das Einbringen und Einleiten von Stoffen.59 Der wasserrechtliche Anlagenbegriff ist weit zu verstehen und geht deutlich über die derzeit im WHG geregelten Anlagen (§§ 19a ff., 19g ff. WHG) hinaus. Er umfasst neben ortsfesten und beweglichen Einrichtungen sowie Grundstücken, auch Anlagenteile und technische Schutzvorkehrungen.60 Der Anlagenbegriff bestimmt sich zudem vom Schutzzweck des Wasserrechts her. Damit sind Anlagen alle technischen Einrichtungen, die geeignet sind, nachteilige Einwirkungen auf die Gewässer zu verursachen. Anlagenbezogene Regelungen sind somit solche, die von Anlagen ausgehende Einwirkungen zum Gegenstand haben. Mitumfasst ist grundsätzlich auch das anlagenbezogene Verfahrensrecht.61 Mit dieser weiten Auslegung kann u. a. auch verhindert werden, dass Regelungen über eine integrierte Genehmigung in einem Umweltgesetzbuch durch abweichendes Wasserrecht der Länder durchbrochen werden.

55

Vgl. BT-Drs. 16/813, S. 11. Vgl. nur Ginzky/Rechenberg, in: ZUR 2006, 344, 348. 57 Auf die durchaus bestehenden Abgrenzungsschwierigkeiten hinweisend Epiney, in: NuR 2006, 403, 410. 58 Vgl. Ginzky/Rechenberg, in: ZUR 2006, 344, 346. 59 So schon Kloepfer, in: ZG 2006, 250, 264. 60 Vgl. nur Kloepfer, Umweltrecht (Fn. 15), § 13, Rdn. 160. 61 So schon Ginzky/Rechenberg, in: ZUR 2006, 344, 347. 56

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II. Begrenzung der Abweichungsgesetzgebung durch Gemeinschaftsrecht 1. Naturschutz und Landschaftspflege An sich können die Länder abweichende Regelungen über den Naturschutz nach Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 GG nach ihrem Belieben treffen, soweit sie nicht – wie erwähnt – den abweichungsfesten Kern, d. h. die allgemeinen Grundsätze des Naturschutzes, das Recht des Artenschutzes oder das Recht des Meeresnaturschutzes, berühren.62 Allerdings wird der für die Länder so verbleibende weite Abweichungsspielraum durch den bereits bestehenden europäischen Rechtsrahmen erheblich eingeschränkt.63 So verpflichtet insbesondere die FFH-Richtlinie64 zur Einrichtung eines europaweiten Biotopverbundsystems „Natura 2000“. Es dient der Erhaltung der natürlichen Lebensräume und der wildlebenden Tier- und Pflanzenarten von europäischer Bedeutung.65 Auch die dazu erforderliche Erhebung und Bewertung der Schutzgüter von Natur und Landschaft im Rahmen der Landschaftsplanung stellt eine entscheidende Voraussetzung zur Erfüllung gemeinschaftsrechtlicher Anforderungen dar, wie sie sich beispielsweise aus der UVP-66, der SUP-67, der FFH- und der Wasserrahmen-Richtlinie68 ergeben.69 Entsprechendes gilt prinzipiell auch für die Grundsätze der guten fachlichen Praxis, wie sie derzeit in § 5 BNatSchG geregelt sind.70 Insbeson62 Vgl. Gesetzesbegründung, BT-Drs. 16/813, S. 11; kritisch zur Abgrenzbarkeit Epiney, in: NuR 2006, 403, 410. 63 Vgl. nur Kloepfer, in: ZUR 2006, 338, 339; weitergehend eine Unvereinbarkeit der Abweichungsmöglichkeit mit Europarecht annehmend Ekardt/Weyland, in: NVwZ 2006, 737, 741; vgl. auch Epiney, in: NuR 2006, 403, 409. 64 Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21.5.1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen, Fauna-Flora-HabitatRichtlinie, (ABl. EG Nr. L 206 v. 22.7.1992, S. 7). 65 Vgl. zu den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben Möller/Raschke/Fisahn, in: EurUP 2006, 203, 207 ff. 66 Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27.6.1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABl. EG Nr. L 175 v. 5.7.1985, S. 40) und UVP-Änderungsrichtlinie 97/11/EG des Rates vom 3.3.1997 (ABl. EG Nr. L 73 v. 14.3.1997, S. 5). 67 Richtlinie 2001/42/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27.6.2001 über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme (ABl. EG Nr. L 197 v. 21.7.2001, S. 30). 68 Richtlinie 2000/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines Ordnungsrahmens für Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich der Wasserpolitik (ABl. EG Nr. L 327 v. 22.12.2000, S. 1). 69 Vgl. zum Ganzen nur Louis, in: ZUR 2006, 340 ff.; vgl. auch Epiney, in: NuR 2006, 403, 409.

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dere im Rahmen der EU-Agrarreform sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, auf nationaler Ebene die Grundsätze für die Erhaltung landwirtschaftlicher Flächen in einem guten ökologischen Zustand festzulegen.71 Weitere Einschränkungen ergeben sich beispielsweise aus den Vorgaben der Nitrat-72, der Grundwasser-73 und der Wasserrahmenrichtlinie hinsichtlich der ökologischen Standards zum Schutz der Gewässer.74 Zwar ist die Absicherung der stringenten Vorgaben der Eingriffsregelung nach § 18 BNatSchG mit der Pflichtenfolge der Vermeidung, des Ausgleichs, der Abwägung und der Entschädigung als durchaus wirksames Instrument eines flächendeckenden Mindestschutzes durch entsprechende gemeinschaftsrechtliche Vorgaben nicht ersichtlich.75 Allerdings sind die Vorgaben der Verträglichkeitsprüfung nach der FFH-, der UVP- und SUPRichtlinie sowie die entsprechenden Vorgaben für die Schutzziele der Wasserrahmenrichtlinie auch hier geeignet, eine erhebliche Einschränkung der Abweichungsmöglichkeiten der Länder herbeizuführen.76 Hinsichtlich der Mitwirkungs- und Klagebefugnisse der Umwelt- und Naturschutzverbände finden sich die entsprechenden gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben in der FFH-, der UVP-, der SUP-, der IVU-77 und der Öffentlichkeitsbeteiligungs-Richtlinie78. Die Verbandsklage nach § 61 BNatSchG ist 70

Vgl. nur Kloepfer, Umweltrecht (Fn. 15), § 11, Rdn. 47 ff. Vgl. nur Art. 5 Abs. 1 der EG-Verordnung 1782/2003/EG des Rates vom 29.9.2003 (ABl. EG Nr. L 270 v. 21.10.2003, S. 1), geändert durch EG-Verordnung 583/2004/EG des Rates vom 22.3.2004 (ABl. EU Nr. L 91 v. 30.3.2004, S. 1). 72 Richtlinie 91/676/EWG des Rates vom 12.12.1991 zum Schutz der Gewässer vor Verunreinigungen durch Nitrat aus landwirtschaftlichen Quellen (ABl. EG Nr. L 375 v. 31.12.1991, S. 1). 73 Richtlinie 80/68/EWG des Rates vom 17.12.1979 über den Schutz des Grundwassers gegen Verschmutzungen durch bestimmte gefährliche Stoffe (ABl. EG Nr. L 20 v. 26.1.1980, S. 43), geändert durch Richtlinie 91/692/EWG (ABl. EG Nr. L 377 v. 31.12.1991, S. 48). 74 Vgl. zum Ganzen nur Kloepfer, Umweltrecht (Fn. 15), § 9, Rdn. 131 ff. 75 Vgl. nur Kloepfer, Umweltrecht (Fn. 15), § 11, Rdn. 83 ff. 76 So im Ergebnis auch Epiney, in: NuR 2006, 403, 409; vgl. zu den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben auch Möller/Raschke/Fisahn, in: EurUP 2006, 203, 204 ff.; a. A. wohl SRU Stellungnahme: Der Umweltschutz in der Föderalismusreform (Fn. 2), S. 12. 77 Richtlinie 96/61/EG des Rates vom 24.9.1996 über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung (ABl. EG Nr. L 257 v. 10.10.1996, S. 26). 78 Richtlinie 2003/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.5.2003 über die Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Ausarbeitung bestimmter umweltbezogener Pläne und Programme und zur Änderung der Richtlinie 85/337/EWG und 96/61/EG des Rates in Bezug auf die Öffentlichkeitsbeteiligung und den Zugang zu Gerichten (ABl. EU Nr. L 156 v. 25.6.2003, S. 17). 71

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in ihrem Kernbestand über die in der Umsetzung der Aarhus-Konvention79 auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts geregelten Verbandsklagerechte in Art. 10a UVP-Richtlinie und Art. 15a IVU-Richtlinie abgesichert.80 Zudem verlangt die Aarhus-Konvention selbst, anerkannten Umwelt- und Naturschutzverbänden einen entsprechenden Rechtschutz bei der Verletzung des gesamten innerstaatlichen Umweltrechts zu eröffnen.81 Eine Abweichung der Länder von den Vorgaben dieser naturschutzrechtlichen Klageverfahren wäre mit dem geltenden Völkerrecht nicht vereinbar.82 Für den wichtigen Bereich des Umweltmonitorings bestehen entsprechende Vorgaben insbesondere durch die Wasserrahmen-, die FFH- und die SUP-Richtlinie.83 Die Sicherstellung der Umsetzung der Anforderungen durch die Länder dient auch der Vergleichbarkeit der Leistungen der Länder im Umweltbereich. Als notwendiges Instrument der Erkenntnis und Evaluierung stellt das Monitoring die Grundlage umweltpolitischer Entscheidungen dar und ist zwingende Voraussetzung des doch überwiegend gewollten Wettbewerbs um die besten Lösungen für den Umweltschutz.84 2. Wasserhaushalt Das Abweichungsrecht der Länder im Recht des Wasserhaushalts ist an sich umfassend, soweit die Länderregelungen – wie erwähnt – nicht den abweichungsfesten Kern, d. h. „stoff- oder anlagenbezogene Regelungen“ erfassen. Das europäische Umweltrecht schränkt gleichwohl den Handlungsraum der Länder ein und zwar durch die europarechtlich einheitlichen Regelungen zum Wasserrecht.85 Zu nennen sind hier beispielsweise die Gewässerschutz-86, die Grundwasser-, die Trinkwasser-87 und die Wasser79 Übereinkommen vom 25.6.1998 über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten, 38 ILM 517 (1999). In Kraft seit 30.10.2001. 80 Vgl. Epiney, in: NuR 2006, 403, 408. 81 Vgl. nur SRU Stellungnahme: Rechtsschutz für die Umwelt – altruistische Verbandsklage ist unverzichtbar, 2005, S. 7 f. 82 Vgl. nur SRU Stellungnahme: Der Umweltschutz in der Föderalismusreform (Fn. 2), S. 13. 83 Vgl. dazu auch Epiney, in: NuR 2006, 403, 409. 84 Vgl. zur Kritik an der bisher nur eingeschränkten Nutzung des Wettbewerbs um die beste Umweltpolitik Koch/Mechel, in: NuR 2004, 277, 278 ff. 85 Vgl. Gesetzesbegründung, BT-Drs. 16/813, S. 11. 86 Richtlinie 76/464/EWG des Rates vom 4.5.1976 betreffend die Verschmutzung infolge der Ableitung bestimmter gefährlicher Stoffe in die Gewässer der Gemeinschaft (ABl. EG Nr. L 129 v. 18.5.1976, S. 23). 87 Richtlinie 80/78/EWG des Rates vom 15.7.1980 über die Qualität von Wasser für den menschlichen Gebrauch (ABl. EG Nr. L 229 v. 30.8.1980, S. 11).

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rahmenrichtlinie. Den erforderlichen Schutz vor Gewässerverunreinigungen durch die Landwirtschaft bietet die Nitratrichtlinie. Medienübergreifende und damit auch für den Gewässerschutz relevante Regelungen enthalten die IVU- und die UVP-Richtlinie.88 Offen bleibt jedoch bisher die fehlende Absicherung hinsichtlich des gemeinschaftsrechtlich noch nicht geregelten Schutzes vor Hochwasser. Einen entsprechenden Vorschlag für eine europäische Hochwasserrichtlinie hat die EG-Kommission am 18.1.2006 vorgelegt.89 Als Instrumente werden die umfassende Analyse des Hochwasserrisikos, die Erstellung von Hochwasserrisikokarten und Plänen für ein Hochwasserrisikomanagement benannt.90 Angestrebt wird die naheliegende und sinnvolle Verzahnung mit dem Regelungssystem der Wasserrahmenrichtlinie.91 Ansätze einer entsprechenden Regelung des Hochwasserschutzes auf Gemeinschaftsebene sind im Zusammenhang mit der Umsetzung eines integrierten Küstenzonenmanagements zu erkennen.92 Dabei umfasst das integrierte Küstenzonenmanagement neben der Planung und Entscheidungsfindung auch die vorgelagerte Informationssammlung sowie die nachgelagerte Überwachung der Umsetzung.93 Zusätzlich verlangt die Wasserrahmenrichtlinie einen länderübergreifenden Ansatz hinsichtlich der Bewirtschaftung der Einzugsgebiete der Flüsse und stellt damit sowohl ein geeignetes Instrument zum integrierten Küstenzonenmanagement als auch zum europaweiten Hochwasserschutz dar.94 Schließlich fordert die Wasserrahmenrichtlinie einen mitgliedstaatsübergreifenden Ansatz hinsichtlich der Bewirtschaftung der Einzugsgebiete der Flüsse und kann somit einen wichtigen Beitrag zum Hochwasserschutz leisten.95 Auch hier bleibt es bei der grundsätzlichen Bindung auch der Länder an gemeinschaftsrechtliche Vorgaben.

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Vgl. zum Ganzen nur Kloepfer, Umweltrecht (Fn. 15), § 13, Rdn. 12 ff. Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bewertung und Bekämpfung von Hochwasser, KOM (2006) 15 endg., 2006/0005 (COD). 90 Vgl. dazu nur Breuer, in: EurUP 2006, 170 ff.; vgl. auch Rother, in: EurUP 2006, 178 ff. 91 Vgl. Breuer, in: EurUP 2006, 170, 171 f. 92 Vgl. nur Empfehlung 2002/413/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30.5.2002 zur Umsetzung einer Strategie für ein integriertes Management der Küstengebiete in Europa (ABl. EG Nr. L 148 v. 6.6.2002, S. 24). 93 Vgl. Erbguth/Vandrey, in: EurUP 2006, 183, 184. 94 Vgl. nur Erbguth/Vandrey, in: EurUP 2006, 183, 185 ff.; vgl. zum Ganzen auch Breuer, in: Rengeling (Hrsg.), Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht, § 65, Rdn. 45 ff. 95 Vgl. zum Ganzen nur Breuer, in: Rengeling (Hrsg.), Handbuch (Fn. 94), § 65, Rdn. 45 ff. 89

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3. Raumordnung Etwaige Begrenzungen für das Abweichungsrecht der Länder im Bereich der Raumplanung nach Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 4 GG durch verbindliche spezifisch raumplanerische Vorgaben lassen sich auf der Gemeinschaftsebene nicht finden.96 Die spezifisch flächenbezogenen gemeinschaftsrechtlichen Regeln des Umweltrechts enthalten jedoch auch Vorgaben hinsichtlich einer notwendigen Gesamtplanung. Von zentraler Bedeutung sind beispielsweise die Vorgaben der Wasserrahmen-, der FFH- und VS97-Richtlinie.98 Mit der Wasserrahmenrichtlinie wurde ein neuer Ordnungsrahmen für die Bewirtschaftung von Gewässern geschaffen. Sie verlangt zur Umsetzung neuer Bewirtschaftungsziele ein Wassermanagement, das auf Ländergrenzen keine Rücksicht nimmt, sondern an Flusseinzugsgebieten orientiert ist. Zusätzlich ist die Abstimmung der nationalen und internationalen Maßnahmen der Gewässerbewirtschaftung erforderlich. Die ökologische Vernetzung der Länder bezüglich eines Flusseinzugsgebiets entspricht regulativ und administratorisch den Sonderheiten des Umweltmediums „Wasser“. Eine räumliche länderübergreifende Gesamtplanung ist daher – jedenfalls bei Landesgrenzen überwindenden Gewässern – zwangsläufig indiziert.99 Auswirkungen auf die Raumordnung und die Bodennutzung haben auch die entsprechenden Vorgaben des verfahrenbezogenen Umweltschutzes, wie sie in der UVP- und der SUP-Richtlinie für die Raumordnungspläne, Raumordnungsverfahren und die Bauleitplanung als wichtige raumordnerische Instrumente festgeschrieben sind.100 4. Haftungsverteilung bei Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht Die Neuverteilung in Art. 104a Abs. 6 GG betrifft die bislang zwischen Bund und Ländern streitige Frage der Lastentragung im Falle finanzwirksamer Entscheidungen zwischenstaatlicher Einrichtungen wegen einer Verlet96 Vgl. nur Kloepfer, Umweltrecht (Fn. 15), § 10, Rdn. 7 ff.; vgl. zum Ganzen Hoppe/Deutsch, in: Rengeling (Hrsg.), Handbuch (Fn. 94), § 87, Rdn. 26 ff. 97 Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2.4.1979 über die Erhaltung der wild lebenden Vogelarten (ABl. EG Nr. L 103 v. 25.4.1979, S. 1; geändert durch ABl. EG Nr. L 223 v. 13.8.1997, S. 9). 98 Vgl. zum Ganzen nur Hoppe/Deutsch, in: Rengeling (Hrsg.), Handbuch (Fn. 94), § 87, Rdn. 55 ff. 99 Vgl. zum Ganzen nur Breuer, in: Rengeling (Hrsg.), Handbuch (Fn. 94), § 65, Rdn. 45 ff. 100 Vgl. dazu nur Hoppe/Deutsch, in: Rengeling (Hrsg.), Handbuch (Fn. 94), § 87, Rdn. 114 ff.

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zung von supranationalen oder völkerrechtlichen Pflichten Deutschlands.101 Beispiele sind die Verhängung von Zwangsgeldern oder Pauschalbeiträgen durch die Europäische Union oder Finanzkorrekturen aufgrund fehlerhafter Verausgabung von EU-Mitteln.102 Die Pflichtverletzungen können auf legislatives, exekutives und judikatives Fehlverhalten von Bund oder Ländern zurückzuführen sein. Die innerstaatliche Verantwortung wird grundsätzlich bei derjenigen Gebietskörperschaft liegen, welche die supranationalen oder völkerrechtlichen Verpflichtungen im Rahmen ihrer Zuständigkeiten verletzt. Für die Lastenverteilung zwischen Bund und Ländern und der Länder untereinander gilt mithin das Prinzip der innerstaatlichen Zuständigkeits- und Aufgabenverteilung, die sich für die innerstaatliche Umsetzung des supranationalen Rechts bzw. Völkerrechts insbesondere nach den Art. 30, 70 ff. und 83 ff. GG bestimmt. Die Folgen einer Pflichtverletzung sollen grundsätzlich diejenige Körperschaft treffen, in deren Verantwortungsbereich sie sich ereignet hat.103 Eine Ausnahme bilden die Fälle länderübergreifender Finanzkorrekturen durch die EU. Für diese Fälle regeln Art. 104a Abs. 6 S. 2 und 3 GG als Ausnahme vom Verursacherprinzip eine Solidarhaftung sowohl für den Bund in Höhe von 15 vom Hundert als auch für die Länder in Höhe von 85 vom Hundert der Gesamtlasten. Eine weitergehende Haftung des Bundes ist ausgeschlossen.104 Die Ländergemeinschaft trägt 35% der Gesamtlasten, 50% tragen die lastenverursachenden Länder. Die durch Art. 104a Abs. 6 GG neu geregelte Haftung der Bundesländer für die unzulängliche Umsetzung von Gemeinschaftsrecht hat bisher überwiegende Zustimmung gefunden. Der auf den verantwortlichen Verursacher abstellenden Regelung des Art. 104a Abs. 6 S. 1 GG wird grundsätzlich eine sinnvolle Steuerungswirkung nicht abgesprochen werden können. Unter dem Aspekt der Abweichungsgesetzgebung kann die neue Verfassungsvorschrift als notwendige haftungsrechtliche Konsequenz der Zulassung der Abweichungsbefugnisse der Länder angesehen werden, die dem Bund die etwa früher bestehende Möglichkeit verschließen, zumindest durch verbindliche Rahmenvorgaben zu einer Harmonisierung der Umsetzung auf Länderebene beizutragen.105 Allerdings steht ein konkretisierendes Bundesgesetz (Art. 104a Abs. 6 S. 4 GG) noch aus. 101

Kloepfer, in: ZUR 2006, 338, 339. Vgl. Gesetzesbegründung, BT-Drs. 16/813, S. 19. 103 Vgl. Gesetzesbegründung, BT-Drs. 16/813, S. 19. 104 Vgl. Gesetzesbegründung, BT-Drs. 16/813, S. 19. 105 Vgl. nur Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) Stellungnahme: Der Umweltschutz in der Föderalismusreform (Fn. 2), S. 15. 102

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Das Verhalten der EU-Kommission im Hinblick auf die Möglichkeiten einer Abweichungsgesetzgebung der Länder bleibt abzuwarten. Es ist nicht völlig auszuschließen, dass sie künftig eine vollständige Umsetzung im Bereich der Abweichungsgesetzgebung erst nach dem Verzicht aller Länder auf entsprechende Abweichungen oder nach dem Erlass aller angekündigten (gemeinschaftsrechtskonformen) Abweichungsgesetze der Länder annehmen würde.106 Dieses Verhalten der Kommission wäre allerdings rechtswidrig. Es ist gerade der „Charme“ der Abweichungsgesetzgebung, dass der Bund künftig selbstständig und zügig Gemeinschaftsrecht umsetzen und so die mitgliedstaatlichen EU-Pflichten Deutschlands erfüllen kann. Wenn dann danach die Länder gemeinschaftsrechtswidrig abweichen würden, blieben die Richtlinien rechtzeitig umgesetzt. Die Länder würden die Folgen ihres gemeinschaftsrechtswidrigen Handelns selbst zu tragen haben.107

III. Begrenzung der Abweichungsgesetzgebung durch (Landes-)Verfassungsrecht Neben der Begrenzung der Abweichungsgesetzgebung durch die Vorgaben des Gemeinschaftsrechts bestehen für die Länder zudem noch landestypische Begrenzungen durch die umweltschutzspezifischen Bestimmungen in den jeweiligen Landesverfassungen. Diese erhalten durch die politisch gewollte und im Ergebnis des Tausches der Vollkompetenzen des Bundes mit den Abweichungsrechten der Länder gestiegene Bedeutung der Landesgesetzgeber eine verstärkte Bedeutung für den Gesetzgebungsprozess insbesondere im Umweltbereich über die jeweiligen Landesgrenzen hinaus. So enthalten die Verfassungen von Baden-Württemberg (Art. 3a, 3c Abs. 2 LV),108 Bayern (Art. 3 Abs. 2, 141 BayVerf.),109 Berlin (Art. 31 BlnVerf.),110 Brandenburg (Präambel, Art. 2 Abs. 1, 28, 31 Abs. 2, 39, 40 Abs. 4, 42 Abs. 2 S. 1, 43 BbgVerf.),111 Bremen (Art. 11a, 26 Nr. 5, 65 BremVerf.),112 106 Vgl. dazu nur Grandjot, in: UPR 2006, 97, 99; die Kommission kann auch nicht unter Hinweis auf mögliche künftige Abweichungsgesetze eine Umsetzung als nicht vorgenommen ansehen. 107 Vgl. dazu auch Kloepfer, in: ZG 2006, 250, 267. 108 Verfassung des Landes Baden-Württemberg vom 11.11.1953 (GBl. S. 173), zuletzt geändert durch ÄndG vom 23.5.2000 (GBl. S. 449). 109 Verfassung des Freistaates Bayern in der Fassung der Neubekanntmachung vom 15.12.1998 (GVBl. S. 991), zuletzt geändert durch § 1 ÄndG vom 10.11.2003 (GVBl. S. 817). 110 Verfassung von Berlin vom 23.11.1995 (GVBl. S. 779), zuletzt geändert durch Art. I Neuntes ÄndG vom 6.7.2006 (GVBl. S. 710). 111 Verfassung des Landes Brandenburg vom 20.8.1992 (GVBl. I S. 298), zuletzt geändert durch Art. 1 ÄndG vom 16.6.2004 (GVBl. I S. 254).

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Hamburg (Präambel HmbVerf.),113 Hessen (Art. 26a HessVerf.),114 Mecklenburg-Vorpommern (Präambel, Art. 2, 7 Abs. 2, 12 MVVerf.),115 Niedersachsen (Art. 1 Abs. 2 NdsVerf.),116 Nordrhein-Westfalen (Art. 29a NRWVerf.),117 Rheinland-Pfalz (Art. 69 RhPfVerf.),118 Saarland (Art. 59a SLVerf.),119 Sachsen (Art. 1 S. 2, 10, 31 Abs. 2 S. 2, 34, 101 Abs. 1 SäVerf.),120 Sachsen-Anhalt (Präambel, Art. 2 Abs. 1, 35 LSAVerf.),121 Schleswig-Holstein (Art. 7 SHVerf.),122 und Thüringen (Präambel, Art. 22 Abs. 1, 30 Abs. 2, 31, 33, 38, 44 Abs. 1 ThürVerf.)123 zum Teil recht weitreichende umweltspezifische Bestimmungen. Zusätzlich bekennen sich einige Landesverfassungen zur Weimarer Tradition des Denkmal- und Landschaftsschutzes (Art. 62 HessVerf., Art. 18 Abs. 2 NRWVerf., Art. 40 Abs. 3 RhPfVerf., Art. 36 Abs. 4 LSAVerf.).124 Hervorzuheben sind insbesondere die teilweise sehr detaillierten umweltspezifischen Aussagen in den Verfassungen von Brandenburg,125 Mecklenburg-Vorpommern,126 Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen,127 die im 112 Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen vom 21.10.1947 (BremGBl. S. 251), zuletzt geändert durch Art. 1 ÄndG vom 16.5.2006 (BremGBl. S. 271). 113 Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg vom 6.6.1952 (HmbGVBl. S. 117), zuletzt geändert durch Neuntes ÄndG vom 16.5.2001 (HmbGVBl. S. 106). 114 Verfassung des Landes Hessen vom 1.12.1946 (GVBl. I S. 229, ber. 1947 S. 106 und 1948 S. 68), zuletzt geändert durch ErgänzungsG vom 18.10.2002 (GVBl. I S. 628). 115 Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern vom 22.5.1993 (GVOBl. M-V S. 372), zuletzt geändert durch Zweites ÄndG vom 14.7.2006 (GVOBl. M-V S. 572). 116 Niedersächsische Verfassung vom 19.5.1993 (Nds. GVBl. S. 107), zuletzt geändert durch Art. 1 ÄndG vom 27.1.2006 (Nds. GVBl. S. 58). 117 Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen vom 18.6.1950 (GS. NW. S. 127), zuletzt geändert durch Art. I ÄndG vom 22.6.2004 (GV. NRW. S. 360). 118 Verfassung für Rheinland-Pfalz vom 18.5.1947 (GVBl. S. 209), zuletzt geändert durch Art. 1 Sechsunddreißigstes ÄndG vom 16.12.2005 (GVBl. S. 495). 119 Verfassung des Saarlandes vom 15.12.1947 (Amtsbl. S. 1077), zuletzt geändert durch ÄndG vom 5.9.2001 (Amtsbl. S. 1630). 120 Verfassung des Freistaates Sachsen vom 27.5.1992 (SaGVBl. S. 243). 121 Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt vom 16.7.1992 (GVBl. LSA S. 600), zuletzt geändert durch § 1 ÄndG vom 27.1.2005 (GVBl. LSA S. 44). 122 Verfassung des Landes Schleswig-Holstein in der Fassung der Bekanntmachung vom 13.6.1990 (GVOBl. Schl.-H. S. 391), zuletzt geändert durch Art. 1 ÄndG vom 14.2.2004 (GVOBl. Schl.-H. S. 54). 123 Verfassung des Freistaats Thüringen vom 25.10.1993 (GVBl. S. 625), zuletzt geändert durch Art. 1 Viertes ÄndG vom 11.10.2004 (GVBl. S. 745). 124 Vgl. dazu nur Kloepfer, Umweltrecht (Fn. 15), § 3, Rdn. 2. 125 Vgl. nur Sachs, in: LKV 1993, 241 ff.; Kemper, in: LKV 1996, 87 ff. 126 Vgl. nur Erbguth/Wiegand, in: DVBl. 1994, 1325 ff. 127 Vgl. nur Neumann, in: LKV 1996, 392 ff.

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Vergleich zu den anderen Landesverfassungen in einer für Umweltfragen stärker sensibilisierten Zeit entstanden sind. So legt beispielsweise Art. 2 Abs. 1 BbgVerf. die Verpflichtung des Landes zum Schutz der natürlichen Umwelt als Verfassungsgrundsatz fest. Die Verantwortung für Natur und Umwelt wird in Art. 28 BbgVerf. als Erziehungsziel festgeschrieben. Die Freiheit der Forschung wird durch Art. 31 Abs. 2 BbgVerf. einer Beschränkung unterworfen, soweit eine Eignung der Forschungstätigkeit zur Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen besteht. In Art. 39 Abs. 2 BbgVerf. wird für jedermann ein Recht auf Schutz seiner Unversehrtheit vor Verletzungen und unzumutbaren Gefährdungen, die aus Veränderungen der natürlichen Lebensgrundlagen entstehen, eingeräumt. Dadurch wird auf der Ebene des Landesverfassungsrechts zumindest ein begrenztes Grundrecht auf Umweltschutz statuiert.128 Auf das Spannungsfeld zwischen Landwirtschaft und Naturschutz zielt Art. 12 Abs. 3 S. 2 MVVerf. ab, indem er die besondere Verantwortung der Landwirtschaft für einen wirksamen Naturschutz betont.129 Auch der Zugang zu umfassenden Informationen über die Umweltdaten ist als verfassungsmäßig verbrieftes Recht beispielsweise in Art. 39 Abs. 7 S. 2 BbgVerf., Art. 34 LSAVerf. oder Art. 33 ThürVerf. normiert.130 Teilweise erfolgte auch die Aufnahme eines Verbandsklagerechts für anerkannte Naturschutzverbände in die Landesverfassungen. So gewähren etwa Art. 38 Abs. 8 BbgVerf. und Art. 10 Abs. 2 SäVerf. entsprechende Rechte.131 Wenn auch nicht flächendeckend eine derartige Regelungstiefe auf landesverfassungsrechtlicher Ebene erreicht wird, sind jedoch sämtliche umweltverfassungsrechtliche Vorgaben der Länder darauf zu prüfen, ob und inwieweit sie nicht die Ausübung der Abweichungsgesetzgebung für die jeweiligen Länder im konkreten Fall beschränken. Dies führt dann begrüßenswerterweise fast zwangsläufig dazu, dass es künftig notwendig erscheint, die wissenschaftliche Durchdringung des Landesumweltverfassungsrechts zu verstärken.

D. Abschließende Bewertung und Ausblick Mit der Föderalismusreform I steht der Regelung eines bundeseinheitlich integrierten Verfahrens zur Genehmigung von Anlagen, wie es schon bisher als integriertes Umweltgenehmigungskonzept den Kern der Kodifikation 128

Vgl. nur Kloepfer, Umweltrecht (Fn. 15), § 3, Rdn. 3. Vgl. dazu nur Erbguth/Wiegand, in: DVBl. 1994, 1325, 1332. 130 Vgl. Kloepfer, Umweltrecht (Fn. 15), § 3, Rdn. 3. 131 Vgl. zu den entsprechenden Regelungen in Brandenburg Kemper, in: LKV 1996, 87 ff. 129

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eines Umweltgesetzbuches bilden sollte, kein verfassungsrechtliches Hindernis mehr im Wege.132 Daran ändern auch die Abweichungsbefugnisse der Länder in den Teilbereichen Wasserhaushalt, Naturschutz und Landschaftspflege nichts. Diese Abweichungsgesetzgebung der Länder wird ohnehin durch Bindung der Landesgesetzgeber an die Vorgaben des Gemeinschaftsrechts erheblich eingeschränkt. Dies gilt verstärkt vor dem Hintergrund der neu geregelten innerstaatlichen Haftungsverteilung bei Europarechtsverstößen zu Lasten der Länder in Art. 104a Abs. 6 GG. Die Bindung auch der Länder an das Gemeinschaftsrecht wird dadurch effektiviert.133 Ergänzend treten neben die Begrenzung der Abweichungsbefugnisse der Länder durch die Vorgaben des Gemeinschaftsrechts auch die verschiedenen Vorgaben des Umweltverfassungsrechts der jeweiligen Länder, die teilweise recht detaillierte Vorgaben für den Umweltschutz enthalten. Unabhängig von der nur in engen Grenzen (d. h. außerhalb abweichungsfester Kerne sowie im Rahmen des Europa- und Landesverfassungsrechts) möglichen Ausübung des Abweichungsrechts durch die Länder ist außerdem immer noch fraglich, ob überhaupt dieser Zuwachs an Kompetenzen wirklich umfassend praktisch genutzt werden wird. Dies wird nicht nur vom Abweichungswillen einiger Länder, sondern maßgeblich auch von deren vorhandenen finanziellen Mitteln abhängig sein.134 Schließlich spricht auch das wohlverstandene gemeinsame politische Interesse von Bund und den Ländern hinsichtlich der Umsetzung der rechtlichen Vorgaben der Gemeinschaft gegen eine extensive Ausübung der Abweichungsmöglichkeiten durch die Länder. Möglicherweise wird in der Zukunft nicht so sehr die reale Ausübung der Abweichungsgesetzgebung als vielmehr die Drohung mit ihr praktisch bedeutsam werden. Wichtiger dürfte die aus den Abweichungsbefugnissen folgende erhöhte Verhandlungsmacht der Länder sein. Das Interesse des Bundes am Bestand seiner Regelung könnte es ihm angeraten erscheinen lassen, im vorhinein zu inhaltlichen Abstimmungen mit den Ländern zu kommen.135 Den etwaigen Befindlichkeiten der Länder würde somit bereits durch die Regelungen des Bundes ausreichend Rechnung getragen werden können. Ein Abweichungsbedarf würde damit erst gar nicht entstehen. Eine solche durch die mögliche Abweichungsgesetzgebung angeratene politische Kooperation führt tendenziell erneut allerdings eher zur Verantwortungsver132 Zur bisherigen Rechtslage vgl. nur Kloepfer, Umweltrecht (Fn. 15), § 1, Rdn. 43, § 3 Rn. 91. 133 Kloepfer in ZUR 2006, 338, 339; kritisch dazu Epiney, in: NuR 2006, 403, 409. 134 Vgl. nur Koch/Mechel, in: NuR 2004, 277, 283. 135 Vgl. Ipsen, in: NJW 2006, 2801, 2804 f.; Frenz, in: NVwZ 2006, 742, 747.

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mischung als zur Trennung der Verantwortlichkeiten, die ja ein wesentliches Ziel der Föderalismusreform I war. Aber diese „Inkonsequenz“ politischer Gesamtlösungen ist eben ein typisches Kennzeichen einer lebendigen parlamentarischen Demokratie, die dem Gedanken des mehrheitsermöglichenden Kompromisses eben sehr viel stärker verbunden ist als der Systemtreue gegenüber tradierten sozial- und politikwissenschaftlichen Modellen.

Reform der bundesstaatlichen Finanzbeziehungen? Anmerkungen zur zweiten Stufe der Föderalismusreform Von Stefan Korioth I. Merkwürdigkeiten der gegenwärtigen Föderalismusdebatte Die „konkrete Ausgestaltung des Föderalismus in Deutschland“, so urteilte der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vor der Föderalismusreform des Jahres 2006, stelle ein „außerordentlich hohes Hindernis für die Umsetzung grundlegender Reformen dar. Die politischen Entscheidungsprozesse sind quälend langsam, undurchsichtig und unberechenbar.“1 Seit Beginn der 1990er Jahre hatte der Rat immer wieder gefordert, „mit dem Föderalismus ernst zu machen“. Dazu sei „mehr Wettbewerb zwischen den Bundesländern zuzulassen“2. Ein föderales System funktioniere umso besser, je stärker die Bestimmung über öffentliche Aufgaben, Ausgaben und Einnahmen bei jeweils einer Ebene der Gebietskörperschaften ohne Mitwirkung der anderen zusammengefasst sei. Ohne Zweifel: von dieser dem Sachverständigenrat vorschwebenden fiskalischen Äquivalenz3 hatte sich der deutsche Bundesstaat, nicht erst der grundgesetzliche, weit entfernt. Er war stattdessen, insbesondere seit der Finanzreform der Jahre 1967/69, als Chancen-, Erfolgs- und Gefahrengemeinschaft mit „wechselseitiger Ressourcenabhängigkeit“4 in allen Bereichen der vertikalen und horizontalen Kompetenzverteilung konstruiert. Die Gesetzgebung liegt weit überwiegend beim Bund, aber die Länder wirken an ihr mit. Die Länder führen die Bundesgesetze aus, die auch über Ausgaben bestimmen, die von den Ländern zu tragen sind. Gemeinsame Aufgaben1 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2004/2005, Tz. 787. 2 Sachverständigenrat (Fn. 1), Jahresgutachten 2002/2003, Tz. 398. 3 Grundlegend zu diesem ökonomischen Prinzip des Föderalismus Olson, Mancur, Das Prinzip „fiskalischer Gleichheit“. Die Aufteilung der Verantwortung zwischen verschiedenen Regierungsebenen, in: Kirsch, Guy (Hrsg.), Föderalismus, 1977, S. 66 ff. 4 Lehmbruch, Gerhard, Parteienwettbewerb im Bundesstaat. Regelsysteme und Spannungslagen im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 2000, S. 62.

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wahrnehmungen und -finanzierungen sind begrenzt zulässig. Einnahmeautonomie fehlt den Ländern; stattdessen gewährleistet ein großer Steuerverbund allen Gebietskörperschaften eine gesicherte Grundfinanzierung. Unterschiede in der Pro-Kopf-Finanzausstattung nähert ein umverteilender Finanzausgleich an. Dieses föderale System habe Deutschland, so folgerte nicht nur der Sachverständigenrat, in die Politikverflechtung der organisierten Unverantwortlichkeit und schließlich in eine Föderalismusfalle geführt. Entflechtung, Stärkung der Unabhängigkeit der Länder und Reföderalisierung seien die Gebote der Stunde; eine in diese Richtung möglichst weitgehende Föderalismusreform, „eine sehr viel deutlichere Entflechtung des politischen Willensbildungsprozesses in Deutschland“5, sei Kernpunkt aller zur Modernisierung Deutschlands erforderlichen Reformen. Waren diese wertenden Bestandsaufnahmen und Schlussfolgerungen wirklich zutreffend, und wenn ja, schafft die Föderalismusreform 2006 hier Abhilfe? Zunächst gilt es, sich von falschen Vorstellungen freizumachen. Es gibt keine allgemeingültige, universale und vorverfassungsrechtliche Doktrin für die Richtigkeit eines föderalen Systems. Das wird insbesondere von Wirtschaftswissenschaftlern häufig übersehen, offenbar auch vom Sachverständigenrat, dem ein bestimmter Typ von Bundesstaat als festes Leitbild vorzuschweben scheint. Die Leitbegriffe der Unabhängigkeit und Konkurrenz können ebensowenig undiskutierbare Verbindlichkeit beanspruchen wie die der föderalen Solidarität, Gleichheit oder Kooperation. Jeder Föderalismus ist ein Bindestrich-Föderalismus, historisch, kulturell, geographisch, sozial und wirtschaftlich geprägt und einzigartig. Es ist sinnlos, vom echten oder vom Scheinföderalismus zu sprechen. Die gegenwärtig von Ökonomen bevorzugte angelsächsisch-eidgenössische Variante des Bundesstaates besagt für den deutschen Bundesstaat zunächst gar nichts; gleiches gilt in umgekehrter Richtung. Was also, so lautet dann die Frage, war am grundgesetzlichen föderalistischen Muster der wechselseitigen Verklammerung und der funktionalen Gewaltenteilung so falsch? Einige weitere Beobachtungen lassen Zweifel an der sogenannten Föderalismusfalle aufkommen. Die Funktionsweise der Politikverflechtung ist für die in wesentlichen Teilen unverändert geltende bundesstaatliche Ordnung bereits 1976 kritisch beschrieben worden,6 dennoch hat sich der grundgesetzliche Bundesstaat seither als erstaunlich beweglich erwiesen und nicht weniger als das Großereignis der deutschen Einigung bewältigt. Könnte die Kritik seit den 1990er Jahren damit zusammenhängen, dass es Veränderungen außerhalb des föderalen Systems gegeben hat, die der Politik Problemlösungen abverlangen, deren 5

Sachverständigenrat (Fn. 1), Jahresgutachten 2004/2005, Tz. 31. Scharpf, Fritz W./Reissert, Bernd/Schnabel, Fritz, Politikverflechtung. Bd. 1: Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland, 1976. 6

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Schwierigkeiten sich in den föderalen Entscheidungswegen und Institutionen zwar abbilden, für die aber die föderalen Institutionen nicht ursächlich sind? Die Wirtschafts- und Fiskalkrise samt ihren Folgeproblemen für die sozialen Sicherungssysteme und für die Innovationskraft des Finanzstaates verlangen Lösungen, die auch in einem Einheitsstaat nur unter Überwindung erheblicher Gegenkräfte oder „Blockaden“ durchsetzbar wären. Umso mehr sind Zweifel angebracht, ob klassischerweise gesamtstaatliche Aufgaben in einem von Autonomie und Wettbewerb der Gebietskörperschaften geprägten „föderalisierten“ Staat leichter lösbar wären. Vor allem aber: die galoppierende Staatsverschuldung verengt die Handlungsmöglichkeit des Finanzstaates – die Verschuldungsfolgen kann eine Föderalismusreform nicht aus der Welt schaffen. Stutzig gegenüber dem von fast allen geteilten und sorglos verbreiteten Befund, die kooperativ geprägte Föderalstruktur sei die Wurzel vieler Übel, machen zudem zwei hartnäckig tradierte Legenden. Die eine behauptet, die Quote der Zustimmungsgesetze habe sich seit 1949 kontinuierlich erhöht, weshalb der Bundesrat zum Blockadeinstrument der bundespolitischen Opposition und zum entscheidenden Hemmschuh jeglicher Politikgestaltung habe werden können. Die Statistik spricht eine andere Sprache: In der ersten Legislaturperiode (1949–1953) betrug der Anteil der mit Zustimmungsformel verkündeten Bundesgesetze 41,8 v. H., zwischen 1957 und 1961 55,7 v. H.; den höchsten Stand erreichte die Legislaturperiode von 1983 bis 1987 mit 60 v. H., 54,6 v. H. betrug die Zustimmungsquote zwischen 1998 und 2002, im Durchschnitt von 1949 bis 2003 lag sie bei 53,2 v. H.7 Sind es also wirklich vertikale Verschränkungen und Machtbrechungen, die gegenwärtige Entscheidungsprozesse erschweren, oder ist es nicht vielmehr das Unbehagen, von der Idylle der alten Bundesrepublik Abschied nehmen zu müssen? Der zweiten Legende zufolge hat es in der Bundesrepublik eine Frühphase mit hoher Eigenständigkeit des Bundes und der Länder gegeben, deren finanzverfassungsrechtlicher Ausdruck ein Trennsystem bei der Steuerertragsverteilung gewesen sei.8 Fast nichts davon ist richtig: Die spezi7

Daten nach: Handbuch des Bundesrates 2004/2005, S. 305. Typisch etwa die Verzeichnung bei Blankart, Charles B., Öffentliche Finanzen in der Demokratie. Eine Einführung in die Finanzwissenschaft, 6. Aufl. 2005, S. 601, wonach „1949 ein Trennsystem etabliert wurde“; Peffekoven, Rolf, Zweifel an der Reformfähigkeit der Politik: Gescheiterte Reform des Föderalismus?, in: Wirtschaftsdienst 2005, S. 7 ff., 8. Sachverständigenrat (Fn. 1), Jahresgutachten 1997/98, Tz. 341: „Die im Grundgesetz von 1949 niedergelegte Finanzverfassung entsprach den Vorstellungen eines föderativen Staates: Bund und Länder hatten klar voneinander getrennte Befugnisse, so daß dem Gedanken autonomer Körperschaften Genüge getan war. Bei der Besteuerung galt ein Trennsystem.“ In grundsätzlicher Betonung auch Oeter, Stefan, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht. Untersuchungen zur Bundesstaatstheorie unter dem Grundgesetz, 2003, 8

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fisch deutsche vertikale Gewaltenteilung entlang den Staatsfunktionen gab es 1949, wie es sie 2006 gibt; bei der Steuerverteilung existierte bereits seit 1951 ein einfachgesetzlicher Steuerverbund bei der Einkommen- und Körperschaftsteuer aufgrund der „Inanspruchnahmebefugnis“ des Bundes nach Art. 106 Abs. 3 GG (1949).9 Der Länderfinanzausgleich (Art. 106 Abs. 4 GG [1949]) bewirkte bereits eine spürbare Annäherung der Länderfinanzkraft. Richtig ist demgegenüber, dass erst 1955 der Steuerverbund aus Einkommen- und Körperschaftsteuer verfassungsrechtlich verankert und 1969 um die fiskalisch erheblich bedeutsamer gewordene Umsatzsteuer erweitert wurde. Zutreffend ist auch, dass die Bundesgesetzgebung seit 1949 neue Sachbereiche an sich gezogen hat. Wenn aber Kooperation und Egalisierung bereits die Frühgeschichte des grundgesetzlichen Bundesstaates prägten, so wird die Deutung der weiteren Entwicklung als Verfallsgeschichte des Bundesstaates fragwürdig. Die Bedenken, ob der Föderalismusdiskussion der letzten 15 Jahre die richtigen Prämissen zugrundeliegen, vergrößern sich bei einem Blick auf die Reformüberlegungen der ökonomischen Wissenschaften. Hier dominieren modellhaft idealisierende Vorstellungen, die Erwartungen an die Steuerungsfähigkeit des Verfassungsrechts und die Steuerbarkeit der Politik richten, die in jedem Staatsaufbau schwer zu erfüllen sind. Zu sehr werden abstrakte Modelle10 erwogen, ohne deren Verwirklichungsmöglichkeiten und Vereinbarkeit mit der deutschen bundesstaatlichen Kultur zu bedenken. Eine Bundesstaatsreform aber ist keine konstruierende Technik, keine Rechenoperation anhand eines institutionellen Bauplans, sondern Gestaltung auf historisch gewachsenem und verwachsenem Grund. Insbesondere bei einer Überprüfung der bundesstaatlichen Finanzbeziehungen, die immer mit Verschiebungen von Einnahmen und Ausgaben zwischen Gebietskörperschaften und Gewinnen oder Verlusten im Vergleich zum bestehenden Zustand verbunden ist, müssen zudem die Verwirklichungsmöglichkeiten der Änderungsvorschläge besonders berücksichtigt werden. Der gegenwärtige Bundesstaat beruht auf permanenten Aushandlungsprozessen und Kompromissen. Bei der vertikalen Machtbalance setzt das Grundgesetz auf Kooperation S. 143 ff., 403 ff.; Schuppert, Gunnar Folke, Staatswissenschaft, 2003, S. 703; Häberle, Peter, Aktuelle Probleme des deutschen Föderalismus, Die Verwaltung 24 (1991), S. 169 ff. 9 Für das Jahr 1955 nahm der Bund bereits 38 v. H. der Einkommen- und Körperschaftsteuer für sich in Anspruch. Dazu Hidien, Jürgen, W., Der bundesstaatliche Finanzausgleich in Deutschland. Geschichtliche und staatsrechtliche Grundlagen, 1999, S. 370. 10 Vgl. etwa die Beiträge und Manifeste in: Müller-Groeling, Hubertus (Hrsg.), Reform des Föderalismus. Kleine Festgabe für Otto Graf Lambsdorff, 2004; Schatz, Heribert/van Ooyen, Robert Christian/Werthes, Sascha, Wettbewerbsföderalismus. Aufstieg und Fall eines politischen Streitbegriffes, 2000.

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statt Trennung oder gar Konfrontation. Auch Veränderungen können nur auf diesem Wege möglich sein. Wenn aber schon die Grundlagen der seit den 1990er Jahren geführten Föderalismusdebatte in Frage gestellt werden müssen (ohne sie deshalb zur Gänze zu verwerfen), so stellt sich die Frage, ob die als „Föderalismusreform“ bezeichneten Grundgesetzänderungen des Jahres 2006, die Reaktion des verfassungsändernden Gesetzgebers auf die Debatte, tatsächliche Systemmängel angemessen beheben. Daran bestehen Zweifel. Es fehlt ihnen eine schlüssige Analyse bestehender Mängel und ein folgerichtiges Verständnis heutiger Bundesstaatlichkeit. Am Maßstab hochwertiger Gesetzgebungstechnik gemessen sind sie zudem teilweise unausgereift (II.). Die vielfach geforderte Finanzverfassungsreform, die geplante zweite Stufe der Föderalismusreform, sollte deshalb mit größerer Sorgfalt angegangen werden. Angezeigt sind maßvolle Änderungen zugunsten der Steuerautonomie der Länder, einzelne Korrekturen des einfachen Rechts zum Finanzausgleich und Regelungen zur Eindämmung der Staatsverschuldung (III.). II. Von der „Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung“ zur Grundgesetzänderung 1. Die Entstehungsgeschichte Nach einem Jahrzehnt der Diskussion über das Pro und Contra einer Änderung oder Auflösung des grundgesetzlichen Konkordanzbundesstaates in Richtung eines Konkurrenz- oder Wettbewerbsföderalismus entlud sich politischer Druck. Im Herbst 2003 beriefen Bundestag und Bundesrat eine gemeinsame „Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung“.11 Dieses mit 45 Politikern aus Bund und Ländern und 12 Sachverständigen recht groß geratene Gremium sollte nationale Reformfragen auch vor dem Hintergrund der Situation der Kommunen und der Weiterentwicklung der Europäischen Union behandeln und Vorschläge zu Verfassungsänderungen insbesondere im Bereich der Gesetzgebungskompetenzen und der Mitwirkung der Länder bei der Bundesgesetzgebung unterbreiten. Dagegen lagen die Steuergesetzgebungskompetenzen und der bundesstaatliche Finanzausgleich außerhalb des Arbeitsauftrags der Kommission. Etwas abrupt endeten die Beratungen am 17. Dezember 2004 ohne konkrete Vorschläge. Vordergründiger Anlass des scheinbar überraschenden Scheiterns waren unterschiedliche Vorstellungen über einen Rückzug des Bundes aus 11 Vgl. BT-Drs. 15/1685, Plenarprotokoll 15/66 vom 16.10.2003, S. 5590 ff.; BR-Drs. 750/03, Plenarprotokoll vom 17.10.2003, S. 356 ff.

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den Bereichen Bildung und Hochschulen. Die wahren Gründe lagen indes tiefer. Die 2004 amtierende Bundesregierung hatte offensichtlich kein Interesse an einer Veränderung des bundesstaatlichen Gefüges mit ungewissen Auswirkungen; gleiches galt zum damaligen Zeitpunkt für die meisten Ministerpräsidenten. Unabhängig von diesen politischen Kraftfeldern zeigen die Beratungen der Kommission12 ein diffuses Bild. Zur Erörterung konzeptioneller und staatstheoretischer Grundfragen des Bundesstaates und zur Formung eines daraus sich ergebenden Reformleitbildes fehlte offenbar die Gelegenheit. Frappierend ist hier der Gegensatz zur Troeger-Kommission, die von 1964 bis 1966 die Finanzreform 1967/1969 vorbereitete. In ihrem 1966 vorgelegten Gutachten13 formulierte die Troeger-Kommission die präzise Leitvorstellung des kooperativen Bundesstaates und leitete ihre Novellierungsvorschläge konsequent daraus ab. Ganz anders die Beratungen der Kommission der Jahre 2003/2004: Ohne klares Fundament verloren sie sich teilweise in Detailfragen und Lösungsvorschlägen von zweifelhaftem Wert.14 Zugleich spiegelt die Kommissionstätigkeit, (partei)politisch abgemildert und gelegentlich instrumentalisiert, die unterschiedlichen Konzepte des zentral gesteuerten kooperativen Bundesstaates und des Konkurrenzmodells wider. Solche Gegensätze fanden ihre scheinbare Aufhebung in harmonisierenden Formeln wie „solidarischer“ oder „kooperativer Wettbewerbsföderalismus“. So blieben der Kommission Vorschläge zu kompetenziellen Verteilungsgeschäften und Paketlösungen.15 Nach dem ergebnislosen Ende der Beratungen verhandelten die beiden Vorsitzenden der Kommission in einer Art „Vorsitzendenverfahren“16 weiter. Diese in der Öffentlichkeit unbeachtete Weiterführung hatte, im Zuge der unerwarteten Großen Koalition nach den Bundestagswahlen vom 18. September 2005, Folgen: Der Anhang zum Koalitionsvertrag vom 11. November 2005 präsentierte ausformulierte Vorschläge für bundesstaatsbezogene 12 Sie sind vollständig dokumentiert in: Deutscher Bundestag/Bundesrat (Hrsg.), Dokumentation der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, Zur Sache 1/2005. 13 Kommission für die Finanzreform (Troeger-Kommission), Gutachten über die Finanzreform in der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1966; dazu etwa Grawert, Rolf, Finanzreform und Bundesstaatsreform, in: Der Staat 7 (1968), S. 63 ff. 14 Dazu Henneke, Hans-Günter, KoMbO 2004 – ein Werkstattbericht zur Föderalismusreform, NdsVBl. 2004, S. 250 ff.; ders., Föderalismusreform am Verfassungstag auf Eis gelegt – Bleibt frisch, was bisher an Vernünftigem erreicht wurde?, NdsVBl. 2005, S. 201 ff. 15 Zur Bewertung die Beiträge von Peffekoven, Zweifel (Fn. 8), ferner Häde, Ulrich, Huber, Bernd, Renzsch, Wolfgang, Gescheiterte Reform des Föderalismus, in: Wirtschaftsdienst 2005, S. 7 ff. 16 Schmidt-Jortzig, Edzard, Die fehlgeschlagene Verfassungsreform, ZG 2005, S. 16 ff.

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Verfassungsänderungen. Die Große Koalition einigte sich „auf die Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung auf der Grundlage der Vorarbeiten in der Föderalismusreform [gemeint offenbar: Föderalismuskommission] von Bundestag und Bundesrat, wie in der Anlage festgehalten (Anlage 2).“17 Merkwürdige Verschlossenheit – erklärbar vor dem Hintergrund der Erfahrungen am Jahresende 2004 – herrschte über die Verfahrensfragen: Das Paket, so war von der Bundeskanzlerin im November 2005 zu vernehmen, dürfe nicht aufgeschnürt werden, Veränderungen im Verfahren der verfassungsändernden Gesetzgebung müssten ausgeschlossen bleiben. Auch deshalb war Eile geboten: Eine „Redaktionsgruppe“18 entwarf im Dezember 2005 ein Zeitschema, das eine parallele Behandlung der Änderungsgesetze durch Bundestag und Bundesrat und einen Abschluss des Verfahrens im Frühsommer vorsah.19 Die Beratungen beider Organe gipfelten in einer gemeinsamen Anhörung im Mai und Juni 2006, in der fast 100 Sachverständige zu den verschiedenen Sachbereichen gehört wurden.20 Nach Beschlüssen mit den notwendigen Zwei-Drittel-Mehrheiten am 30. Juni und 7. Juli 2006 konnte die Verfassungsänderung im September 2006 in Kraft treten. Es soll an dieser Stelle keine Bewertung dieses Verfahrens und der Novelle insgesamt stattfinden; allein die bereits umgesetzten finanzverfassungsrechtlichen Änderungen und offenen Fragen sollen behandelt werden. Dennoch soviel: Um eine grundlegende Föderalismusreform handelt es sich nicht, sondern im Kern um ein neues Arrangement der Gesetzgebungszuständigkeiten und der Länderzustimmungsrechte bei der Bundesgesetzgebung. Ob das Ziel einer vertikalen Zuständigkeitsentflechtung erreicht werden kann, ist mehr als fraglich: Eine klare Verteilung der Materien und Gesetzgebungsrechte auf Bund und Länder ist nicht gelungen. Der Wegfall der Rahmenkompetenzen des Bundes und die teils mosaikartig zersplitterten Zuweisungen der Zuständigkeiten für die Hochschulen, das Beamtenrecht und das Umweltrecht innerhalb der konkurrierenden Befugnisse (insbes. Art. 74 Abs. 1 Nr. 24, 27, 29–33 GG n. F.) wirken einerseits teils beliebig; warum etwa, angesichts zunehmender europarechtlicher Vorgaben, wichtige Bereiche des Umweltrechts künftig dezentral geregelt werden sollen, er17

Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom 11. November 2005, Abschnitt B.V.1 (S. 93). 18 Bestehend aus je einem Vertreter der CDU- und SPD-Bundestagsfraktionen, der Bundesministerien der Justiz und des Inneren und des Bundeskanzleramtes. Auf der Länderseite waren je ein Vertreter aus lediglich vier Ländern (Bayern, Nordrhein-Westfalen, Bremen, Berlin) zugelassen. 19 Zum weiteren Gang des Verfahrens: BT-Drs. 16/813, 16/814 vom 7.3.2006; Deutscher Bundestag, Sten. Bericht der 44. Sitzung vom 30.6.2006 (16/44), S. 4233 ff.; BR-Drs. 462/06 vom 7.7.2006. 20 Deutscher Bundestag, Rechtsausschuss, Sten. Berichte der Sitzungen vom 15. und 16.5.2006, 17.5.2006, 18.5.2006, 29.5.2006, 31.5.2006 und 2.6.2006.

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schließt sich nicht. Andererseits lassen manche sachfremde Binnentrennungen zusammengehörender Materien Zuständigkeitsstreitigkeiten erwarten. Die Abweichungsbefugnis der Länder in bestimmten Bereichen konkurrierender Rechtsetzung des Bundes (vgl. Art. 72 Abs. 3 GG n. F.) dürfte zu Unklarheiten und ganz neuen Formen vertikaler Politikverflechtung führen. Art. 84 Abs. 1 GG – vielleicht die gelungenste Norm des Pakets – wird die Quote zustimmungsbedürftiger Gesetze vermindern. Der neue und weitgefasste Zustimmungstatbestand des Art. 104a Abs. 4 GG aber – eine der misslungenen Normen der Reform – könnte diesen Erfolg wieder zunichte machen. 2. Änderungen der Finanzordnung Wenig überzeugend sind die drei Teile der Novelle, die unmittelbar die Bund-Länder-Finanzbeziehungen betreffen. a) Mischfinanzierungen Halbherzig ist die begrenzte Neuordnung der Gemeinschaftsaufgaben und weiteren Mischfinanzierungen (Art. 91a, 91b, 104b GG n. F.) ausgefallen. Mischfinanzierungen (neben den genannten Vorschriften in ihrer ursprünglichen Fassung auch der 1993 eingefügte Art. 106a GG) waren mit der Finanzreform 1969 erstmals durch verfahrensbezogene und inhaltliche Maßgaben begrenzt worden; die intransparente Praxis der zwischen 1949 und 1969 ohne Rechtsgrundlage praktizierten Fondswirtschaft fand, nicht zuletzt zum Schutz der Länder, ein Ende.21 Die Reform des Jahres 1969 hatte das Zusammenwirken von Bund und Ländern formalisiert. Aber der damalige Erfolg war nur ein halber und mit unerwünschten Nebenfolgen behaftet.22 Die weitgefassten Tatbestände der Gemeinschaftsaufgaben verklammerten die Verantwortungsbereiche auch in Kernzuständigkeiten der Länder, ergänzt durch ein planerisches Übergewicht des Bundes. Seit langem kritisierte Wirkungen der Mischfinanzierungen sind ausgabensteigende Effekte durch hohen Koordinierungs- und Verwaltungsaufwand, aber auch Mitnahmeeffekte infolge angebotener Bundesmittel, die eine ländereigene Präferenzenbil21

Vgl. BVerfGE 39, 96 (109); 41, 291 (311); Müller-Volbehr, Jörg, Fonds- und Investitionshilfekompetenz des Bundes, 1975, S. 46 ff.; Geske, Otto-Erich, Zur Koordinierung der Haushalts- und Finanzplanungen von Bund, Ländern und Gemeinden, in: Der Staat 22 (1983), S. 83 ff. 22 Selmer, Peter, Finanzordnung und Grundgesetz. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Finanz- und Steuersachen, in: AöR 101 (1976), S. 238 (246); von Münch, Ingo, Gemeinschaftsaufgaben im Bundesstaat, in: VVDStRL 31 (1973), S. 51 ff.

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dung verzerren.23 Abhilfe hätte hier nur – gerade bei einer Reform, die eine Entzerrung der Zuständigkeiten anstrebt – ein harter Schnitt durch ersatzlose Aufhebung der einschlägigen Verfassungsbestimmungen versprochen. Dies hätte zeitgleich zu lösende Folgefragen aufgeworfen. Mischfinanzierungen waren 1969 legalisiert worden, um gesamtstaatlich wichtige Projekte auch denjenigen Ländern zu ermöglichen, die zur Wahrnehmung dieser Aufgaben aus eigener (Finanz-)Kraft nicht in der Lage sind. Die bei einer Streichung der Mischfinanzierungen freiwerdenden Bundesmittel hätten daher den Ländern über den vertikalen Finanzausgleich, vorrangig die Umsatzsteuerverteilung, zugutekommen müssen. Die Grundgesetznovellierung 2006 hat stattdessen die Mischfinanzierungen grundsätzlich erhalten und lediglich die Tatbestände des Hochschulbaues, der Bildungsplanung, der Verbesserung der kommunalen Verkehrsverhältnisse und der sozialen Wohnraumförderung gestrichen.24 Daran überrascht zunächst, dass ausgerechnet die Gemeinschaftsaufgaben mit der stärksten gesamtstaatlichen Bedeutung und den stärksten Spill-over-Effekten gestrichen wurden, während Aufgaben mit eher lokaler Bedeutung wie etwa der Küstenschutz und die Agrarstruktur erhalten blieben. Immerhin kann für die verbleibenden Gemeinschaftsaufgaben angeführt werden, dass dann, wenn die Verteilung der Mittel nicht nach dem Gießkannenprinzip geschieht, gesamtstaatlich problematische Unterschiede durch zentrale Steuerung ausgeglichen werden können.25 Im Bereich des neuen Art. 104b GG läuft es allerdings letztlich auf eine Lösung zu Lasten der Länder heraus, wenn zukünftig Investitionshilfen zwingend befristet und degressiv gestaltet sein müssen. 23 Borell, Rolf, Mischfinanzierungen. Darstellung, Kritik, Reformüberlegungen, 1981, S. 27 ff.; Sachverständigenrat (Fn. 1), Jahresgutachten 1990/1991, Tz. 445. 24 Außerdem macht die Begründung des Gesetzentwurfs (BT-Drs. 16/813, S. 48) eine Verengung des früheren Art. 104a Abs. 4 GG durch den jetzigen Art. 104b GG geltend, weil nunmehr ausdrücklich solche Bereiche den Mischfinanzierungen entzogen sind, die zur ausschließlichen Gesetzgebung der Länder gehören. Das trifft insoweit nicht zu, als schon nach Art. 104a Abs. 4 GG solche Programme unzulässig waren, die etwa ausschließlich die Kulturhoheit der Länder betrafen. Das Programm zur Förderung von Ganztagsschulen (2003) etwa war verfassungswidrig. Zum Problem auch Stettner, Rupert, Der verkaufte Verfassungsstaat – Zur Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Ländern bei der Kulturförderung unter besonderer Berücksichtigung der Kulturstiftung des Bundes, in: ZG 2002, S. 315 ff. 25 Problematisch sind allerdings die Übergangsregelungen für die beendeten Mischfinanzierungen (Art. 125c, Art. 143c GG n. F., Gesetz zur Entflechtung der Gemeinschaftsaufgaben und Finanzhilfen [Entflechtungsgesetz – EntflechtG]). Diese stellen den Ländern nicht dauerhaft die bisherigen Finanzierungsanteile des Bundes an den ausgelaufenen Gemeinschaftsaufgaben und die früheren Finanzhilfen zur Verfügung.

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b) Steuergesetzgebung der Länder Wiederum halbherzig ist die zweite Novellierung der Finanzbeziehungen durch Änderung des Art. 105 Abs. 2a GG (mit der Folgeänderung bei den Maßstäben der horizontalen Umsatzsteuerverteilung in Art. 107 Abs. 1 S. 4 GG). Die neue Befugnis der Länder zur Steuersatzfestsetzung bei der Grunderwerbsteuer ist eine begrüßenswerte Dezentralisation, es hätten allerdings die weiteren nach Art. 106 Abs. 2 GG dem Ertrag nach den Ländern zustehenden Steuern einbezogen werden sollen. Zwar erstreckt sich der Katalog des Art. 106 Abs. 2 GG auch auf Steuern wie die Kraftfahrzeugund Vermögensteuer, die rechtspolitisch umstritten sind, Ausweichstrategien der Steuerschuldner offenstehen oder derzeit mit (bundes)steuerpolitischen Lenkungszwecken befrachtet sind. Das aber spricht, auch angesichts der fiskalischen Zweitrangigkeit dieser Steuern, nicht gegen eine Gesetzgebungskompetenz der Länder.26 Hier könnten die Länder ohne Störung der notwendigen zentralen Festlegungen grundlegender Leitlinien der Steuerpolitik unterschiedliche eigene Konzepte entfalten. Ihnen sollten daher die Gesetzgebungskompetenzen auch über die Kraftfahrzeug-, Vermögen-, Erbschaftund Schenkungsteuer zukommen. Art. 105 Abs. 2a GG erhielte dann folgende Fassung: „Die Länder haben die Befugnis zur Gesetzgebung über die örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern und über die Steuern, deren Aufkommen ausschließlich ihnen zusteht.“ c) Der „nationale Stabilitätspakt“ Konzeptionslos, unvollständig, mit Detailfehlern und absehbaren Ungereimtheiten in der Anwendung belastet ist die dritte unmittelbar finanzbezogene Grundgesetzänderung. Der neue Art. 109 Abs. 5 GG samt Ausführungsgesetz widmet sich den von Bund und Ländern zu tragenden Folgen aus der Verpflichtung des Art. 104 EG, übermäßige Defizite zu vermeiden.27 Zu begrüßen ist zunächst die Absicht des verfassungsändernden Gesetzgebers, die seit Entstehen des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts schwebende Kontroverse um die innerstaatliche Wirkung der Maastricht-Kriterien und die darauf bezogenen Regelungsbefugnisse des Bundes zu beenden.28 Bereits vor gut einem Jahrzehnt ist dazu der Vorschlag entwi26 So aber, auch mit Blick auf die Grund- und Grunderwerbsteuer, Kesper, Irene, Bundesstaatliche Finanzordnung. Grundlagen, Bestand, Reform, 1998, S. 343 ff. 27 Zu den gemeinschaftsrechtlichen Grundlagen Häde, Ulrich, in: Calliess, Christian/Ruffert, Matthias (Hrsg.), EU-/EG-Vertrag, 2. Aufl. 2003, Art. 104 EG, Rdnr. 91 ff.; Jahndorf, Christian, Grundlagen der Staatsfinanzierung durch Kredite und alternative Finanzierungsformen im Finanzverfassungs- und Europarecht, 2003, S. 272 ff.

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ckelt worden, Art. 109 Abs. 2 GG um die Einfügung „[. . .] und der Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Europäischen Union [. . .]“ und Art. 109 Abs. 3 GG um die Wendung „[. . .] sowie Vorschriften zur Vermeidung eines übermäßigen öffentlichen Defizits erlassen [. . .]“ zu ergänzen.29 In einem zweiten Schritt hätte dann das auf Art. 109 Abs. 3 GG beruhende Haushaltsgrundsätzegesetz um die Festlegung starrer oder beweglicher Verschuldungsanteile von Bund und Ländern ergänzt werden müssen.30 Merkwürdigerweise hat der verfassungsändernde Gesetzgeber diesen in der Systematik des Grundgesetzes folgerichtigen Weg nicht gewählt. Der neue Art. 109 Abs. 5 GG erwähnt allein in Satz 1 die „gemeinsame“ Verpflichtung von Bund und Ländern, die europäischen Vorgaben zur „Einhaltung der Haushaltsdisziplin“ zu erfüllen. Im Übrigen widmet sich die Neuregelung ausschließlich den Haftungsanteilen bei Sanktionsmaßnahmen der Gemeinschaft gegen die Bundesrepublik Deutschland. Die wichtigeren und vorgelagerten Fragen einer vertikalen und horizontalen Verteilung des nach den Maastricht-Kriterien zur Verfügung stehenden Verschuldungsrahmens wurden nicht einmal angesprochen. Die weitere Problematik der Regelung liegt nicht in der Verteilung der Sanktionsmaßnahmen zu 35 v. H. auf die Länder und zu 65 v. H. auf den Bund. Dies entspricht annähernd den Anteilen der beiden Ebenen am gesamtstaatlichen Defizit. Brisant ist vielmehr die horizontale Verteilung zwischen den Ländern, weil neben einem Anteil von 35 v. H. nach der Einwohnerzahl 65 v. H. des Länderanteils entsprechend dem jeweiligen „Verursachungsbeitrag“ von den einzelnen Ländern zu erbringen ist; dabei bleiben nach § 2 Abs. 1 SZAG31 Länder mit einem ausgeglichenen oder positiven Finanzierungssaldo unberücksichtigt. Wenn also von 16 Ländern nur ein einziges einen negativen Finanzierungssaldo hat, muss es den gesamten nach der Verursachung ermittelten Länderanteil 28 Dazu Häde, Ulrich, Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht und europäische Haushaltsdisziplin. Zur innerstaatlichen Umsetzung der Verpflichtungen aus Art. 104c EGV, in: JZ 1997, S. 269 ff.; Mehde, Veith, Gesetzgebungskompetenz des Bundes zur Aufteilung der Verschuldungsgrenzen des Vertrags von Maastricht, in: DÖV 1997, S. 616 ff.; Henneke, Hans-Günter, Landesfinanzpolitik und Verfassungsrecht. Gestaltungsspielräume und Bindungen – dargestellt am Beispiel Niedersachsens, 1998, S. 86 ff. 29 Vgl. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen, Gutachten zur Bedeutung der Maastricht-Kriterien für die Verschuldungsgrenzen von Bund und Ländern, 1994, S. 48. 30 Vgl. Korioth, Stefan, Klarere Verantwortungsteilung von Bund, Ländern und Kommunen in der Finanzverfassung?, in: Verhandlungen des 65. Deutschen Juristentages, Bonn 2004, Bd. II/1, S. P 89 (120 f.). 31 Gesetz zur innerstaatlichen Aufteilung von unverzinslichen Einlagen und Geldbeträgen gemäß Art. 104 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (Sanktionszahlungs-Aufteilungsgesetz – SZAG).

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tragen. Das mag angesichts der gegenwärtigen Situation der Länderhaushalte eine unwahrscheinliche Folge sein; die möglichen Finanzkraftverschiebungen zwischen den Ländern offenbaren aber den regelungssystematischen Missgriff. Sanktionsregelungen sollten nicht in Finanzausgleichsregelungen umschlagen. Noch gravierender ist, dass nach § 2 Abs. 3 SZAG die nach den Grundsätzen der Absätze 1 und 2 ermittelten Zahlungspflichten eines Landes „für die Dauer einer vom Bundesverfassungsgericht festgestellten extremen Haushaltsnotlage im Rahmen eines abgestimmten Sanierungskonzeptes“ vom Bund gestundet werden. Soll zukünftig tatsächlich allein das Bundesverfassungsgericht nach einem mit hohem Aufwand verbundenen verfassungsgerichtlichen Streit eine Haushaltsnotlage rechtlich bindend feststellen können? Von dieser Verfahrensfrage abgesehen nimmt die Regelung Fehlanreize für die Haushaltspolitik der Länder in Kauf: Eine Haushaltsnotlage wird durch Stundung belohnt. Schließlich muss es selbst im Fall einer verfassungsgerichtlich anerkannten Haushaltsnotlage schwierig bleiben, deren Beginn und Ende festzustellen. Vielleicht ist es auch in diesem Zusammenhang hilfreich, dass das Bundesverfassungsgericht – nach In-Kraft-Treten der Reform – die Anforderungen an eine extreme Haushaltsnotlage so verschärft hat, das die Bezugnahme hierauf bei der Freistellung von der Sanktionshaftung leerlaufen dürfte. Von den Einzelheiten abgesehen, fehlt dem Art. 109 Abs. 5 GG ein Regelungskonzept. Die innerstaatliche Defizitverteilung erscheint als quantitative Frage, obwohl sie tatsächlich ein qualitatives Problem ist. Staatsverschuldung in den Länderhaushalten hat teilweise andere Hintergründe als die Kreditfinanzierung des Bundes. Während dieser über die wesentlichen Befugnisse der Einnahmegesetzgebung verfügt, insbesondere über Steuern, können die Länder sich nur über eine erhöhte Verschuldung relevante Einnahmespielräume verschaffen. Sehr viel leichter als der Bund geraten die Länder in den Zwang zur Kreditaufnahme, zumal die Aufgaben und Ausgaben der Länder vielfach bundesgesetzlich vorgegeben sind. Die seit 1990 im Vergleich der Länderhaushalte auffallend gleichförmige Kreditaufnahme (Ausnahmen bilden vor allem Bayern und Berlin) deutet finanzielle Zwänge an, die nicht allein auf individuelle landespolitische Entscheidungen rückführbar sind. Diese qualitative Verschiedenheit von Bundeshaushalt und Länderhaushalten übergeht Art. 109 Abs. 5 GG. Die Regelung ergibt nur Sinn, wenn sie als Auftrag für eine veränderte Defizit- und Kreditaufnahmepolitik in den Landeshaushalten verstanden wird.32 Die starren bundesrechtlichen Quoten verweisen darauf, zukünftig die fiskalische Handlungsmöglichkeit der Staatsverschuldung vollständig oder überwiegend dem Bund zu übertragen, ver32 Diesen Hinweis, auch mit den daraus abzusehenden Folgen, verdanke ich Herrn LRDir Dr. Matthias Woisin (Finanzbehörde Hamburg).

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bunden mit der Pflicht des Bundes, für eine aufgabengerechte Finanzierung der Länder Sorge zu tragen. Eine solche zentralistische Wende ist aber erklärtermaßen nicht das Ziel der Novellierung. Umso weniger passt Art. 109 Abs. 5 GG zu dem Programm der Entflechtung und Autonomiestärkung. III. Weitere Änderungen der Finanzverfassung? Jede Veränderung des bundesstaatlichen Gefüges, die zentrale Festlegungen der Finanzverfassung ausspart, muss „Stückwerk bleiben“33. Als akzessorische Folgeverfassung34 hat die Finanzverfassung Veränderungen der materiellen Aufgabenverteilung Rechnung zu tragen. Dazu bekennt sich auch der Koalitionsvertrag vom 11. November 2005: „In einem weiteren Reformschritt in der 16. Wahlperiode sollen die Bund-Länder-Finanzbeziehungen den veränderten Rahmenbedingungen inner- und außerhalb Deutschlands, insbesondere für Wachstums- und Beschäftigungspolitik angepasst werden.“35 Die Frage lautet also, ob die veränderten Zuständigkeitsverteilungen (weitere) Änderungen der Art. 104a ff. GG fordern oder jedenfalls sinnvoll erscheinen lassen. Zunächst ist festzustellen: Die Grundgesetzänderungen des Jahres 2006 könnten für sich stehen. Sie verlangen nicht zwingend eine Änderung der Finanzverfassung. Das kann als Bestätigung dafür gedeutet werden, dass keine Neugestaltung der Föderalordnung vorliegt, die den Namen Reform verdient. Es lässt sich aber auch als Bekräftigung des nach wie vor im Kern kooperativ angelegten Föderalismus verstehen. Dennoch gibt es Verschiebungen in der vertikalen Gewichtsverteilung, die es angezeigt sein lassen, die Art. 104a ff. GG in einzelnen Aspekten zu überarbeiten. Den stärksten Erörterungsbedarf löst die Verlagerung der Gesetzgebungskompetenz im Beamtenrecht auf die Länder aus. Weil Personalausgaben fast die Hälfte der Länderetats ausmachen, eröffnet die neue Befugnis der Länder, insbesondere das Besoldungsrecht ihrer Beamten (einschließlich der kommunalen Beamten) zu regeln (vgl. Art. 74 Abs. 1 Nr. 27 GG n. F.), eine erhebliche Dispositionsbefugnis bei den Ausgaben, die Forderungen nach neuen Selbständigkeiten bei den Einnahmen Nachdruck verleihen könnte. Bei allen Reformüberlegungen ist allerdings auch zu beachten, dass die Bundesrepublik in wichtigen Grunddaten des öffentlichen Finanzwesens noch immer ein zweigeteilter Bundesstaat ist; der im Jahre 2001 als Bestandteil der einfachgesetzlich neugeordneten Bund-Länder-Finanzbeziehungen geregelte „Solidarpakt II“36 soll den neuen Ländern bis 2019 finan33

Sachverständigenrat (Fn. 1), Jahresgutachten 2004/2005, Tz. 789. Kirchhof, Ferdinand, Grundsätze der Finanzverfassung des vereinten Deutschlands, in: VVDStRL 52 (1993), S. 71 (80); Korioth, Stefan, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 12, 85 ff., 151 f. 35 Koalitionsvertrag (Fn. 17), Abschnitt B.V.1 (S. 93). 34

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zielle Planungssicherheit geben. Veränderungen der Finanzordnung – auf der Ebene des Verfassungsrechts wie des einfachen Rechts – müssen den damit geschaffenen Vertrauenstatbestand beachten. Es überrascht, dass hiervon im Koalitionsvertrag der Großen Koalition jedenfalls im Zusammenhang der Föderalismusreform nicht die Rede ist. 1. Keine Veränderung der Vollzugskausalität nach Art. 104a Abs. 1 GG Reformdruck lastet am wenigsten auf der Verteilung der Ausgabenlasten,37 die inhaltliche Aufgabenzuordnungen mit der Finanzierung verknüpft. Mit Art. 104a Abs. 1 GG, der den Abschnitt über das Finanzwesen systematisch folgerichtig einleitet,38 schuf die Finanzreform des Jahres 1969 dazu erstmals eine ausdrückliche Regelung.39 Sie brachte, im Zusammenwirken mit Art. 104a Abs. 2 und 3 GG, gegenüber dem früheren Recht, das bereits seit 1949 dem Grundgedanken der Konnexität von (Verwaltungs-)Aufgaben und Ausgaben folgte,40 teils Klarstellungen, teils Neuordnungen. Diese bezweckten, die Ausgabenverantwortungsbereiche von Bund und Ländern zu sondern und den bis 1969 entstandenen Wildwuchs von Mischfinanzierungen sowohl bei den bundesgesetzlich angeordneten als auch den sonstigen Aufgaben der Länder (Agrarstruktur, regionale Wirtschaftsförderung, sozialer Wohnungsbau) durch einen Verfassungsvorbehalt zu kanalisieren. So merkwürdig es heute erscheinen mag: Es war das erklärte Ziel des verfassungsändernden Gesetzgebers der 1960er Jahre, den finanzwirtschaftlichen Verantwortungsbereich der Länder gegenüber dem früheren Rechtszustand zu stärken41 und im Zusammenwirken mit Art. 109 Abs. 1 GG die haushaltswirtschaftliche Unabhängigkeit von Bund und Ländern zu sichern. 36

Hierzu Mediger, Jost, Die Neuordnung des Länderfinanzausgleichs, in: Wallerath, Maximilian (Hrsg.), Kommunale Finanzen im Bundesstaat, 2003, S. 17 ff. 37 Die Ausgabenlasten bezeichnen die Pflichten einer Gebietskörperschaft, die Kosten einer Aufgabenwahrnehmung aus dem eigenen Haushalt zu bestreiten. Demgegenüber meint die Finanzierungskompetenz die Finanzierungsbefugnis nach außen. Ausgabelast und Finanzierungskompetenz fallen regelmäßig zusammen, müssen es aber nicht. 38 Weitere Lastentragungsregeln finden sich in Art. 91a und 91b, Art. 106 Abs. 4 S. 2, Art. 106 Abs. 8, Art. 106a und Art. 120 Abs. 1 GG. 39 Zur Entstehungsgeschichte Hellermann, Johannes, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl. 2005, Art. 104a, Rdnr. 24 ff. 40 Vgl. BVerfGE 26, 338 (389 f.); Fischer-Menshausen, Herbert, Die staatswirtschaftliche Bedeutung des neuen Finanzausgleichs, in: DÖV 1955, S. 261 ff. 41 Vgl. Troeger-Gutachten (Fn. 13), Tz. 202; vgl. auch BVerwGE 81, 312 (314); BVerfGE 39, 97 (107 f., 109) zu dem aus Art. 104a Abs. 1 GG folgenden Verbot der Mischfinanzierung und dem zwingenden Charakter der Vorschrift.

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Dieser Hintergrund ist heute weitgehend vergessen, der damals gewählte Weg der Verknüpfung von Verwaltungskompetenz und Kostentragungspflicht findet nur noch wenig Unterstützung und Verständnis. Stattdessen gilt der durch Gesetz oder Vereinbarung nicht abdingbare Grundsatz der Vollzugskausalität nach Art. 104a Abs. 1 GG, nach dem es für die Kostentragung irrelevant ist, welche Körperschaft die kostenverursachende Regelung erlassen hat, und der es Bund und Ländern verbietet, Aufgaben der anderen Ebene zu finanzieren, als schwerer verfassungspolitischer Kunstfehler. Die dem entgegengestellte Reformforderung lautet, den Bund nach dem Prinzip der Gesetzeskausalität unmittelbar an den Kosten seiner Gesetze zu beteiligen.42 Gegen eine Kostenverteilung nach der Gesetzgebung sprechen aber, soweit damit eine Änderung der Grundregel des Art. 104a Abs. 1 GG verbunden sein soll, mehrere Gründe. Dabei ist zwischen den Ländern und Gemeinden als jeweiliger im Bundesgesetz bezeichneter Verwaltungsebene und zwischen Leistungsgesetzen und sonstigen Gesetzen zu unterscheiden. Das Prinzip der Gesetzeskausalität entspricht einer bundesstaatlichen Aufgabenverteilung nach Sachbereichen und nach dem Grundsatz der fiskalischen Äquivalenz. Der Grundsatz ist folgerichtig, wenn innerhalb einer Gebietskörperschaft der Zusammenhang zwischen gesetzgeberischer Entscheidung und ihren Kosten und Nutzen gewahrt ist. Das aber ist nach dem Grundgesetz nur dann der Fall, wenn Bundesgesetze vom Bund und Landesgesetze von Landesbehörden vollzogen werden. Im praktisch wichtigeren Fall der Ausführung der Bundesgesetze durch die Länder (Art. 83 ff. GG) gibt es zwei kostenverursachende Entscheidungen verschiedener Ebenen, das Gesetz, das mittelbar, und die Verwaltungsentscheidung, die unmittelbar die Zweckkosten verursacht. Gesetzeskausalität würde in diesem Fall bedeuten, die Verwaltung von den Kostenfolgen ihrer Entscheidung freizustellen – ein teurer Ländervollzug auf Kosten des Bundes wäre zu erwarten.43 Wenn dem entgegengehalten wird, nur die Gesetzeskausalität könne 42 Vgl. Kirchhof, Ferdinand, Empfehlen sich Maßnahmen, um in der Finanzverfassung Aufgaben- und Ausgabenverantwortung von Bund, Ländern und Gemeinden stärker zusammenzuführen?, in: Verhandlungen des 61. Deutschen Juristentages, Karlsruhe 1996, Bd. I, S. D 5 ff., 56 ff., 66 ff.; Henneke, Hans-Günter, Finanzverantwortung im Bundesstaat, in: DÖV 1996, S. 713 (723); Schoch, Friedrich/Wieland, Joachim, Finanzierungsverantwortung für gesetzgeberisch veranlasste kommunale Aufgaben, 1995, S. 145 ff. 43 Selmer, Peter, Empfehlen sich Maßnahmen, um in der Finanzverfassung Aufgaben- und Ausgabenverantwortung von Bund, Ländern und Gemeinden stärker zusammenzuführen?, in: NJW 1996, S. 2062 (2065 f.); Mückl, Stefan, Finanzverfassungsrechtlicher Schutz der kommunalen Selbstverwaltung. Kommunale Selbstverwaltung im Spannungsverhältnis von Aufgabenverantwortung und Ausgabenlast, 1998, S. 150 ff. Bereits der Regierungsentwurf zum Finanzreformgesetz 1955 nannte die Anknüpfung der Finanzierungslasten an die Vollzugskompetenz eine „anerkannte verwaltungsökonomische Forderung“, vgl. BT-Drs. II/480, S. 43.

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den auf Kosten der Länder spendablen Bundesgesetzgeber verhindern, dann beschreibt dies – völlig zu Recht – die spiegelbildliche Gefahr,44 aber hiergegen wirken die systemimmanenten Mechanismen des Grundgesetzes: Die Länder können kostenintensive Bundesgesetze über den Bundesrat abwehren und tun dies auch. Verfassungspolitisch gibt es überdies die Option, im Wege der Verlagerung der Gesetzgebungskompetenzen auf die Länder dem Prinzip der fiskalischen Äquivalenz stärker Rechnung zu tragen, ohne das System der vertikalen funktionalen Gewaltenteilung aufzugeben. Unter dem Aspekt einer Stärkung der Länderverantwortung kann sich im Übrigen die Anknüpfung der Ausgabenlast an die Gesetzgebung als problematisch erweisen. Eine Verlagerung von Ausgaben zieht die Verlagerung von Einnahmen nach sich und in einem weiteren Schritt die verstärkte Einflussnahme des finanzierenden Bundes auf die Länder. Die Anziehungskraft des größten Etats könnte sich ungehindert entfalten, verstärkt wesentlich dadurch, dass ein weitverzweigtes System der Kostenerstattung durch den Bund mit erheblichem und letztlich auch kostenintensivem Prüfungs- und Nachweisbedarf verbunden wäre. Insgesamt könnten sich die ausgabenbezogenen Kostenerstattungen zu einem der Einnahmenverteilung vorgelagerten zweiten – zweckbezogenen – Finanzausgleichskreislauf entwickeln. Schließlich sollte Beachtung finden, was bereits die Troeger-Kommission hervorhob: Eine sinnvolle parlamentarische Kontrolle kann nur gegenüber der Verwaltung ausgeübt werden, die zugleich vollzieht und finanziert.45 2. Stärkung der Einnahmeautonomie der Länder: Übergang zum Trennsystem oder Zuschlagsrechte? Die Überlegungen zur Neuordnung der Finanzverfassung begannen auf der Einnahmenseite. Schon seit dem Ende der 1980er Jahre steht das Für oder Wider einer Stärkung der Ländereigenständigkeit durch eine Dezentralisierung von Steuergesetzgebungskompetenzen im Mittelpunkt der Diskussion.46 Der Grund dieser Überlegungen ist bekannt: Die Verteilung der 44 Plastisch Färber, Gisela, Finanzverfassung, in: Bundesrat (Hrsg.), 50 Jahre Herrenchiemseer Verfassungskonvent – Zur Struktur des deutschen Föderalismus, 1999, S. 89 ff., 98, 101: „Die deutsche Finanzverfassung behandelt (. . .) Recht nach wie vor als ‚kostenlose Ressource‘. [. . .] Wenn die Ausgabentragungspflicht an der Gesetzgebungskompetenz und nicht an der Verwaltungskompetenz anknüpfen würde, so verginge dem jeweiligen Gesetzgeber (. . .) die Lust, Gesetze zu verabschieden, deren Kosten er aus seinen Steuereinnahmen finanzieren muss.“ 45 Troeger-Gutachten (Fn. 13), S. 51. Ebenso der Entwurf des Finanzreformgesetzes vom 30.4.1968, BT-Drs. V/2861, S. 12, 30, 51. 46 Vgl. etwa Klatt, Hartmut, Reform und Perspektiven des Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland. Stärkung der Länder als Modernisierungskonzept, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 28/1986, S. 3 ff.; Münch, Ursula/Zinterer, Tanja,

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Steuergesetzgebungskompetenzen ist der zentralistische Scheitelpunkt der Finanzverfassung. Die Anwendung des Art. 105 GG verdrängt die Länder praktisch vollständig und stärker als die Gemeinden aus der Steuergesetzgebung. Das bundeseinheitliche Steuerrecht – ausgenommen sind nur die örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern – verhindert Wettbewerbsverzerrungen und regional verursachte, steuersystematisch aber ungerechtfertige Ungleichbehandlungen. Die Dominanz des Bundes in der Steuergesetzgebung ist das Ergebnis einer kontinuierlichen Steuervereinheitlichung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert.47 Allerdings ist der Preis dafür hoch. Für eine eigenständige Einnahmenpolitik bleibt den Ländern nur die Kreditaufnahme und die Veräußerung von Vermögensgegenständen. Dieser Zustand ist ökonomisch, bundesstaatspolitisch, angesichts sich verengender Haushaltsspielräume vor allem aber unter dem Aspekt demokratischer Legitimation und Verantwortlichkeit der Staatsgewalt in den Ländern unbefriedigend. Die fehlende Steuerautonomie beschränkt die Länder, während die Landesregierungen über den Bundesrat an der Bundesgesetzgebung über Gemeinschaft- und Landessteuern teilhaben (Art. 105 Abs. 3 GG). Dieser allgemein geteilte Befund indes ist das eine. Das andere ist die Schwierigkeit der Abhilfe. Die Reformoptionen sind bekannt. Die weitestgehende Forderung verlangt, den großen Steuerverbund aus Einkommen-, Körperschaft- und Umsatzsteuer (Art. 106 Abs. 3 GG), der rund 70 v. H. der gesamten Steuereinnahmen umfasst, aufzulösen.48 Dieser Übergang zum (freien) Trennsystem müsste bedeuten, jeweils einer Ebene eine der ertragsstärksten Steuern zur Ausgestaltung und Ertragsziehung zuzuweisen. Typischerweise verfechten die Befürworter des Trennsystems die Variante, den Ländern die Regelung Reform der Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern: Eine Synopse verschiedener Reformansätze zur Stärkung der Länder 1985–2000, in: ZParl 31 (2000), S. 657 ff. 47 Vgl. Waldhoff, Christian, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Steuergesetzgebung im Vergleich Deutschland-Schweiz, 1997, S. 41 ff. 48 Boss, Alfred, Wettbewerb der Regionen und Finanzverfassung. Prinzipien einer Reform des Finanzausgleichs in der Bundesrepublik Deutschland, in: Beihefte der Konjunkturpolitik 41 (1993), S. 79 (91 ff.); Sanden, Joachim, Die Weiterentwicklung der föderalen Strukturen der Bundesrepublik Deutschland. Staatsrechtliche Studie zu einem postmodernen Ansatz der Bundesstaatsreform, 2005, S. 963 ff.; Tietmeyer, Hans, Föderalismus bedeutet Wettbewerb, in: FAZ vom 12.9.2003; grs. Sympathie auch bei Scholz, Rupert, Zur Reform des bundesstaatlichen Systems, in: FS P. Badura, 2004, S. 491 (506 f.); Sachverständigenrat (Fn. 1), Jahresgutachten 2003/2004, S. 305; anders jetzt das Jahresgutachten 2004/2005, Tz. 796; Ottnad, Adrian/Linnartz, Edith, Föderaler Wettbewerb statt Verteilungsstreit. Vorschläge zur Neugliederung der Bundesländer und zur Reform des Finanzausgleichs, 1997, S. 194 ff.; s. a.: Hans Eichel sieht Finanzverbund als Reformbremse, in: FAZ v. 14.11.2003, S. 11.

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und den in ihrem Territorium erzielten Ertrag der Einkommen- und Körperschaftsteuer zu überlassen, dem Bund die Umsatzsteuer. Solche Empfehlungen führen jedoch in die Irre. Eine wirkungsvolle Einkommensteuerpolitik, insbesondere im Dienste distributiver, stabilisierender und strukturausgleichender Zwecke, ist nur als einheitliche aus der Hand des Bundesgesetzgebers möglich. Im Übrigen ist die regional als auch in Abhängigkeit von der gesamtwirtschaftlichen Lage im Aufkommen stark schwankende Einkommensteuer (gleiches gilt für die Körperschaftsteuer) kein geeignetes Finanzierungsinstrument für wirtschaftlich ungleich starke Länder. Zwar gibt es keinen zwingenden Zusammenhang von Wirtschafts- und Steuerschwäche, aber wirtschaftlich schwache Länder hätten nur theoretisch die Möglichkeit, durch niedrige Steuersätze Unternehmen und Investitionen anzuziehen, wenn auf der Ausgabenseite die Folgen bundesgesetzlich weitgehend einheitlich vorgegebener Aufgaben zu tragen und die erforderlichen Einnahmen zu beschaffen sind. Der akzessorische Charakter der Finanzverfassung zeigt sich besonders deutlich: Einer einheitlichen Aufgaben- und Ausgabenstruktur kann nicht eine Einnahmenverteilung gleichsam angehängt werden, die auf Verschiedenheit und Dezentralisation setzt. Ein Trennsystem bei den Einnahmenkompetenzen setzt also eine Entflechtung der Sachaufgaben voraus. An eine Veränderung der nach Gesetzgebung und Vollzug, nicht aber nach Sachbereichen vertikal gegliederten Aufgabenverantwortung ist aber nicht zu denken. Schließlich ist zu beachten, dass die Zuweisung der Einkommen- und Körperschaftsteuer an die Länder sowie der Umsatzsteuer an den Bund mit erheblichen Verwerfungen für vor allem die neuen Länder und die finanzschwachen westlichen Flächenländer verbunden wäre. Bei den direkten Steuern liegt die Pro-Kopf-Steuerkraft der neuen Länder noch immer bei knapp 40 v. H. des Länderdurchschnitts. Der Verzicht auf die verteilende Wirkung der Umsatzsteuerverteilung müsste die Fähigkeit der neuen Länder bedrohen, mit eigener Finanzkraft ihre Aufgaben wahrzunehmen.49 Die andere Variante eines freien Trennsystems, die den Ländern die Besteuerung des Umsatzes, dem Bund die des Einkommens zuweisen möchte, begegnet darüber hinaus weiteren Problemen. Die besonderen Erhebungs49 Nur knapp 10 v. H. des (gesamten) Aufkommens der Einkommen- und Körperschaftsteuer wird in den neuen Ländern erzielt. Ein Trennsystem – bei unveränderten Ländersteuern (Art. 106 Abs. 2 GG) – würde bedeuten: „Die Steuerkraft der neuen Flächenländer beträgt etwa ein Fünftel der Steuerkraft der finanzstärksten alten Flächenländer, wenn die Länder nur das bei ihnen vereinnahmte (‚örtliche‘) Aufkommen der Einkommen- und Körperschaftsteuer erzielten, nicht aber das Aufkommen aus der Umsatzsteuer. Bei einer solchen Divergenz wäre nicht einmal ein einheitliches Rechts- und Wirtschaftsgebiet in Deutschland aufrechtzuerhalten.“ So Geske, Otto-Erich, Erwartungen an eine Neuordnung des deutschen Föderalismus, in: Wirtschaftsdienst 2003, S. 721 (731).

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techniken der Umsatzsteuer als Allphasen-Netto-Umsatzsteuer mit Vorsteuerabzug schließen eine wirtschaftskraftbezogene regionale Zuordnung weitgehend aus. Vorgaben des europäischen Rechts (vgl. Art. 93 EG) geben der Gestaltbarkeit dieser Steuer einen engen Rahmen. Insgesamt gilt nach wie vor: Ein bundeseinheitliches Steuerrecht, folgerichtig ergänzt durch einen großen Steuerverbund, hat neben steuerrechtspolitischen Vorzügen den Vorteil, Bund und Ländern eine gesicherte Grundfinanzierung zu verschaffen,50 verbunden mit der Möglichkeit, Anpassungen bei Belastungsverschiebungen zwischen den Ebenen vorzusehen. Die Auflösung des Steuerverbundes zugunsten eines freien Trennsystems wäre keine sinnvolle Reform. Die Einnahmenautonomie der Länder ließe sich jedoch durch Zuschlagsrechte zur Einkommen- und Körperschaftsteuer sinnvoll verstärken.51 Deren Ertragsvolumina sind so groß, dass sie sowohl zur Basisfinanzierung der Ebenen beitragen als auch für begrenzte Gestaltungsrechte geöffnet werden können. Zudem weisen diese Steuern eine unmittelbar Beziehung zur Wirtschaftskraft eines Landes auf. Die Länder hätten es also in der Hand, durch eine geeignete Wirtschaftspolitik die Steuerquellen zu pflegen und den Steuerertrag zu steigern. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen könnten denkbar einfach ausfallen: Der im Übrigen unveränderte Steuerverbund müsste durch ein Zuschlagsrecht der Länder entsprechend dem Recht des Bundes zur Erhebung einer Ergänzungsabgabe (vgl. Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG) erweitert werden. Das beschränkte die Länder auf eine Modifikation der Steuersätze. Die Festlegung der Bemessungsgrundlagen bliebe dem Bundesgesetzgeber vorbehalten. Die Obergrenzen des Zuschlags ließen sich auf 5 v. H. über dem bundesstaatlichen Sockel festschreiben. 3. Zur Reform der vertikalen Umsatzsteuerverteilung (Art. 106 Abs. 3 und 4 GG) Das Festhalten am Verbundsystem heißt jedoch nicht, die zwangsläufigen Nachteile des Steuerverbundes zu übersehen. Sie liegen nicht im Bereich der Gewähr einer Basisfinanzierung für Bund und Länder (sowie die Gemeinden) durch verfassungsgesetzlich festgeschriebene Beteiligungsverhältnisse, sondern im – notwendigen und zunächst auch begrüßenswerten – flexiblen Bereich, dort, wo der Verbund durch bewegliche Verteilungsquoten in der Lage sein muss, Belastungsverschiebungen zwischen den Ebenen aufzufangen. Die Rolle dieses Tariergewichts nimmt die Umsatzsteuer ein, 50 Das räumt jetzt auch der Sachverständigenrat (Fn. 1), Jahresgutachten 2004/2005, Tz. 31, ein. 51 Dazu etwa Hendler, Reinhard, Finanzverfassungsreform und Steuergesetzgebungshoheit der Länder, in: DÖV 1993, S. 292 (298); Kesper, Bundesstaatliche Finanzordnung (Fußn. 26), S. 338 ff.

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deren Verteilung durch zustimmungsbedürftiges Bundesgesetz nach verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Kriterien zu regeln ist (Art. 106 Abs. 3 S. 3 und 4, Abs. 4 GG). Die hier erforderlichen Verteilungsentscheidungen werfen materielle und formelle Probleme auf. In materieller Hinsicht ist es bislang, trotz intensiver und bis in die neueste Zeit reichender Bemühungen,52 nicht gelungen, die unbestimmten Rechtsbegriffe – manche sprechen von „Leerformeln“53 – konsensfähig zu konkretisieren und dadurch in der Staatspraxis handhabbar zu machen. Zuletzt ist die Aufforderung des Bundesverfassungsgerichts, der Gesetzgeber solle Maßstäbe der Umsatzsteuerverteilung formulieren,54 ins Leere gelaufen. Das Maßstäbegesetz55, das schon in anderen Regelungsbereichen seinen Namen nicht verdient,56 hat die Frage einfach ausgeklammert (vgl. § 4 MaßstG). Das lässt sich nicht nur mit dem Unwillen des Gesetzgebers erklären, den Regelungsauftrag des Bundesverfassungsgerichts zu erfüllen. Vielmehr ließen sich aus den unbestimmten Rechtsbegriffen des Art. 106 Abs. 3 und 4 GG nur dann Verteilungskriterien herausarbeiten und festlegen, wenn finanzpolitische Entscheidungsfreiheit vollständig reduziert und durch den Vollzug von Finanzverfassungsrecht ersetzt werden sollte. Das aber kann nicht der Sinn von Vorgaben zur Umsatzsteuerverteilung sein. Es ist deshalb zu erwägen, die Sätze 3, 4 und 5 des Art. 106 Abs. 3 GG, ferner Absatz 4 dieser Vorschrift mit Ausnahme des ersten Halbsatzes des Satzes 1 ersatzlos zu streichen. Der dann verbleibende Auftrag, die Verteilung des Umsatzsteueraufkommens auf Bund und Ländergesamtheit durch ein zustimmungsbedürftiges Bundesgesetz vorzunehmen, kann natürlich die Verfahrensprobleme nicht lösen. Nach wie vor wären Aushandlungsprozesse zwischen Bund und Ländern mit den Möglichkeiten der Blockade und der 52 Insbesondere: Gutachten der Sachverständigenkommission zur Vorklärung finanzverfassungsrechtlicher Fragen für künftige Neufestlegungen der Umsatzsteueranteile, Maßstäbe und Verfahren zur Verteilung der Umsatzsteuer nach Art. 106 Abs. 3 und Abs. 4 Satz 1 GG, 1981; Kesper, Bundesstaatliche Finanzordnung (Fn. 26), S. 240 ff.; Wendt, Rudolf, Umsatzsteuerverteilung zwischen Bund und Ländern. Anwendung des Deckungsquotenverfahrens und die Frage getrennter Regelkreise beim Familienleistungsausgleich, 2002. 53 Tipke, Klaus, Die Steuerrechtsordnung, Bd. 3. Föderative Steuerverteilung, Rechtsanwendung und Rechtsschutz, Gestalter der Steuerrechtsordnung, 1993, S. 1119. 54 BVerfGE 101, 158 (219 f., 227 ff.). 55 Gesetz über verfassungskonkretisierende allgemeine Maßstäbe für die Verteilung des Umsatzsteueraufkommens, für den Finanzausgleich unter den Ländern sowie für die Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen (Maßstäbegesetz – MaßstG) vom 9.9.2001 (BGBl. I S. 2302). 56 Dazu Korioth, Stefan, Maßstabgesetzgebung im bundesstaatlichen Finanzausgleich – Abschied von der „rein interessenbestimmten Verständigung über Geldsummen“?, in: ZG 2002, S. 335 ff.

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Versuchung zu Paketlösungen erforderlich. Aber das ist unausweichlich – und auch ein Trennsystem könnte von der mühsamen Konsenssuche nicht vollständig freistellen. Zwar wären hier Bund und Länder frei, ihre Besteuerungskompetenzen auszunutzen. Finanzpolitisch aber sind Rücksichtnahmen erforderlich. Besondere Steuerbelastungen, die eine Ebene den Pflichtigen auferlegt, können auf die Besteuerungsmöglichkeiten der anderen Ebenen nicht ohne Einfluss bleiben. Selbst wenn der Besteuerungszugriff jeweils ein anderer ist, gibt es letztlich nur die beiden Steuerquellen Einkommen und Vermögen,57 so dass die verschiedenen Steuerarten und die verschiedenen Besteuerungssubjekte nicht isoliert betrachtet werden dürfen. Auch im Trennsystem bliebe deshalb die Möglichkeit, Besteuerungsfragen mit anderen Bereichen bundesstaatlicher Politik zu verknüpfen. Letztlich stellt damit auch ein Trennsystem nicht von der Notwendigkeit zur Kooperation von Bund und Ländern frei. 4. Erweiterung des primären Finanzausgleichs auf nichtsteuerliche Abgaben? Die grundgesetzlichen Regelungen über die primäre vertikale und horizontale Finanzverteilung zwischen den Gebietskörperschaften (Art. 106 und 107 Abs. 1 GG) beschränken sich auf die Verteilung von Steuererträgen. Das ist eine Folge des – in seinem verfassungsrechtlichen Rang allerdings neuestens umstrittenen – Prinzips des Steuerstaats.58 Der Staatsbedarf wird überwiegend durch Steuern finanziert, ohne andere Einnahmen völlig auszuschließen. Seit längerem verblasst indes die zentrale Rolle der Steuer. Nichtsteuerliche Abgaben gewinnen an Bedeutung. Das hat verschiedene Gründe. Verstärkt werden Abgaben zur Verhaltenslenkung eingesetzt. Die zunehmende Ökonomisierung des Staats- und Verwaltungshandelns führt zu einer stär57 Grundlegend dazu Vogel, Klaus, Finanzverfassung und politisches Ermessen, 1972, S. 14 f. Daraus ergeben sich drei Phasen des Zugriffs: die Besteuerung kann das Einkommen, den Vermögensbestand und die Vermögensverwendung betreffen, vgl. Kirchhof, Paul, Staatliche Einnahmen, in: Isensee, Josef/Kirchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, 1990, § 88, Rdnr. 70. 58 Zur verfassungsrechtlichen Entscheidung für den Steuerstaat und zu ihren Folgen Isensee, Josef, Steuerstaat als Staatsform, in: FS H. P. Ipsen, 1977, S. 409 ff.; Vogel, Klaus, Der Finanz- und Steuerstaat, in: Isensee, J./Kirchhof, P. (Hrsg.), HStR (Fn. 57), Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 30; Schuppert, Gunnar Folke, Staatswissenschaft, 2003, S. 331 ff.; aus der Rechtsprechung: BVerfGE 93, 319 (342); 78, 249 (266 f.); 67, 256 (274 ff.); kritisch Kirchhof, Ferdinand, Vom Steuerstaat zum Abgabenstaat?, in: Die Verwaltung 1988, S. 137 ff.; Sacksofsky, Ute, Umweltschutz durch nichtsteuerliche Abgaben. Zugleich ein Beitrag zur Geltung des Steuerstaatsprinzips, 2000, S. 188; Hendler, Reinhard, Gebührenstaat statt Steuerstaat?, in: DÖV 1999, S. 749 ff.

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keren Entgeltorientierung,59 für die sich Gebühren und gebührenähnliche Abgaben eignen. Im Verhältnis von Staat und Bürger ist die Notwendigkeit (verfassungs)rechtlicher Disziplinierung nichtsteuerlicher Abgaben seit langem anerkannt. Vor allem Sonderabgaben unterliegen einem strengen rechtlichen Regime, das sich auf den Grundgedanken der rechtfertigungsbedürftigen Ausnahme dieser Abgabe von der Regel der Steuer stützt.60 Überraschenderweise hat der hier entwickelte Grundsatz, wonach nichtsteuerliche Abgaben die steuerzentrierte Finanzverfassung nicht unterlaufen dürfen, die bundesstaatliche Ertragsverteilung noch nicht erreicht. Auch der steuerzentrierten Ertragsverteilung drohen aber Störungen durch nichtsteuerliche Abgaben. Das hat der Fall der Vereinnahmung der Erlöse aus der Versteigerung der UMTS-Mobilfunklizenzen gezeigt. Die Versteigerungserlöse von 50 Mrd. Euro, rechtlich als Verleihungsgebühren zu qualifizieren, hat der Bund mit Billigung des Bundesverfassungsgerichts61 unter Berufung auf die überkommenen Ertragshoheitsgrundsätze bei Gebühren, die an die Verwaltungszuständigkeit bei der Sachaufgabe anknüpfen, vereinnahmt. Die durch Abschreibungen der abgabenpflichtigen Unternehmen zu erwartenden Steuerausfälle haben dagegen Bund und Länder zu tragen. An der regulären Besteuerung der Unternehmensgewinne hätten dagegen beide Ebenen partizipiert. Die Anregung des Bundesverfassungsgerichts, der verfassungsändernde Gesetzgeber solle tätig werden, wenn neuartige Einnahmequellen das von Art. 106 GG zugrundegelegte Verteilungssystem zu sprengen drohten,62 ist allerdings nicht leicht umzusetzen. Eine am Gebot der Verteilungsgerechtigkeit orientierte Lösung könnte das Aufkommen nichtsteuerlicher dem Staatshaushalt zugute kommender Abgaben, die an das Einkommen oder Vermögen des Pflichtigen anknüpfen und im Jahr der Vereinnahmung ein Volumen von 5 v. H. des Gesamtaufkommens der Gemeinschaftsteuern erreichen, entsprechend den für die Einkommen- und Körperschaftsteuer geltenden Regeln verteilen. Das würde bedeuten, Bund und Länder, nach Abzug eines Gemeindeanteils von 15,5 v. H. (wie bei der Einkommensteuer) je zur Hälfte zu beteiligen.63 59 Gramm, Christoph, Vom Steuerstaat zum gebührenfinanzierten Dienstleistungsstaat, in: Der Staat 36 (1997), S. 267 ff. 60 BVerfGE 55, 274; 57, 139; 67, 256; 75, 108; 91, 186; 92, 91; 93, 319; 98, 38. 61 BVerfGE 105, 185; zustimmend insoweit die Anmerkung von Leist, Alexander, in: DVBl. 2002, S. 903; kritisch Selmer, Peter, Die UMTS-Versteigerung vor dem BVerfG: Alle Fragen bleiben offen, in: NVwZ 2003, S. 1304 ff. 62 BVerfGE 105, 185. 63 Sollte diese Lösung nicht zu verwirklichen sein, so bleibt – bereits nach geltendem Recht – die Notwendigkeit, erhebliche nichtsteuerliche Einnahmen des Bundes (oder der Ländergesamtheit) bei der vertikalen Umsatzsteuerverteilung zu berücksichtigen. Solche Einnahmen sind – ungeachtet ihres rechtlichen Charakters – dann „laufende Einnahmen“ i. S. d. Art. 106 Abs. 3 S. 4 Nr. 1 GG, wenn sie dem

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5. Umverteilender Finanzausgleich (Art. 107 Abs. 2 GG) Auf der Grundlage eines Plädoyers für die Beibehaltung des großen Steuerverbundes verdient die zukünftige Gestaltung der beiden Schritte des umverteilenden Finanzausgleichs, des Länderfinanzausgleichs nach Art. 107 Abs. 2 S. 1 und 2 GG sowie der Bundesergänzungszuweisungen nach Art. 107 Abs. 2 S. 3 GG besondere Beachtung. Der große Steuerverbund verschafft allen Gebietskörperschaften im Rahmen der insgesamt erzielbaren Steuereinnahmen eine gesicherte Basisfinanzierung. Diese wird horizontal, bei der Verteilung der Steuererträge auf die einzelnen Länder, durch die einwohnerbezogene und mit steuerkraftbezogenen Vorausanteilen versehene Umsatzsteuerverteilung (Art. 107 Abs. 1 S. 4 GG, § 2 FAG) in der Weise komplettiert, dass bereits bei der Zuteilung der Ertragshoheitsrechte eine Angleichung der Länderfinanzkraft stattfindet. Auch dies sollte beibehalten werden, um die Grundanforderung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs zu erfüllen, allen Gebietskörperschaften eine aufgabenangemessene Finanzausstattung zu gewährleisten. Es stellt sich dann allerdings die Frage, ob das gegenwärtige Maß der Umverteilung von Finanzkraft im Länderfinanzausgleich und die Kompensation der Leistungsschwäche von Ländern durch Bundesergänzungszuweisungen vermindert werden kann, um die Eigenständigkeit und Selbstverantwortung der Länder zu stärken. Die Reformfrage richtet sich an dieser Stelle an das einfache Recht. Die zahlreichen unbestimmten Rechtsbegriffe in den Vorgaben des Art. 107 Abs. 2 GG verschaffen dem Gesetzgeber bei seiner Aufgabe, die „Balance zwischen Eigenstaatlichkeit der Länder und bundesstaatlicher Solidargemeinschaft“64 zu wahren, erheblichen Gestaltungsspielraum und bedürfen keiner Reform. Die Merkwürdigkeiten des seit 2001 geltenden Maßstäbegesetzes sollen hier nicht vertieft werden;65 seine leerformelhaften Formulierungen, Wiederholungen von Verfassungsbegriffen und komprimierten Zitate aus der Verfassungsrechtsprechung entsprechen nicht dem Rechtsetzungsauftrag, den das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber erteilt hat.66 Weil dieser Auftrag zur abstrakten, vom finanziellen Resultat losgelösten Maßstabsetzung seinerseits problematisch war67, hat das gesetzgeberische Unterlassen der verfassungsgerichtlichen Anweisung jedenfalls keiHaushalt einer Gebietskörperschaft endgültig zugutekommen; so zu Recht Selmer, UMTS-Versteigerung (Fn. 61), NVwZ 2003, S. 1308 f. 64 BVerfGE 101, 158 (222); 72, 330 (386 f., 397); 86, 148 (214, 255, 261, 264). Bereits BVerfGE 1, 117 (134): „Die Frage, bis zu welchem Intensitätsgrad [. . .] der horizontale Finanzausgleich vorgetrieben werden kann, ist eine finanzpolitische und keine verfassungsrechtliche.“ 65 Dazu Korioth, Maßstabgesetzgebung (Fn. 56), ZG 2002, S. 335 ff. 66 BVerfGE 101, 158.

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nen finanzverfassungsrechtlichen Schaden verursacht. Ob es die Autorität des Bundesverfassungsgerichts beeinträchtigt hat, sei dahingestellt. Das neue Finanzausgleichsgesetz geht in die richtige Richtung, als es das Volumen der Finanzkraftauffüllung im horizontalen Ausgleich (§ 10 Abs. 1 und 2 FAG) und bei den finanzkraftstärkenden Bundesergänzungszuweisungen (§ 11 Abs. 2 FAG) im Vergleich zum früheren Recht leicht absenkt. Dieser Weg lässt sich in Zukunft noch weiter fortsetzen. Allerdings ist nachdrücklich der weitverbreiteten Auffassung zu widersprechen, wonach ein die Finanzkraft stark nivellierender Länderfinanzausgleich den Ländern jeden Anreiz zu einer verantwortlichen Finanz- und Wirtschaftspolitik nehme.68 Zum einen gleicht der Länderfinanzausgleich nur die Steuereinnahmen an; gewillkürte besondere Ausgaben und damit auch besondere Ausgabefreudigkeit der Länder, die auf eigenen Entscheidungen beruht, bleiben unberücksichtigt. Zum anderen entstehen wesentliche Anreize für eine erfolgreiche Landespolitik unabhängig von bundesstaatlichen Finanzzuteilungs- und Umverteilungsmechanismen aus dem demokratisch-parlamentarischen Willensbildungsprozess. Bei vorgegebener Aufgaben- und Ausgabenstruktur ist der Länderfinanzausgleich kein geeigneter Ort, Elemente eines finanziellen Wettbewerbs zwischen den Ländern einzuführen. Dies gilt umso mehr, als der Länderfinanzausgleich auch die bundesstaatliche Aufgabe regionaler Identitätswahrung widerspiegelt. Der Zuschnitt der Länder entspricht vielfach nicht den Kriterien der Effizienz und Leistungsfähigkeit. Als dienende Ordnung hat die Finanzordnung dies hinzunehmen und dafür zu sorgen, dass dennoch die Anforderung hinreichender Finanzausstattung erfüllt wird. Das macht den umverteilenden Finanzausgleich unentbehrlich. Unnötigerweise werden jedoch Schwachpunkte des früheren Rechts im neuen Gesetz fortgeführt. So wird nach wie vor bei der Ermittlung der Länderfinanzkraft als Ausgleichs- und Vergleichsdatum des Länderfinanzausgleichs die Finanzkraft der Gemeinden nicht mit 100 v. H., sondern lediglich mit 64 v. H. einbezogen (§ 8 Abs. 3 FAG). Diese Kürzung ist verfassungsrechtlich problematisch. Bei der Finanzkraftermittlung sind die tatsächlichen Einnahmen der Länder und ihrer Gemeinden zu berücksichtigen. Die pauschale Kürzung der Kommunaleinnahmen verzerrt die Ausgangsdaten und berücksichtigt systemwidrig den gemeindlichen Finanzbedarf 67 Linck, Joachim, Das „Maßstäbegesetz“ zur Finanzverfassung – ein dogmatischer und politischer Irrweg, in: DÖV 2000, S. 325 ff.; Pieroth, Bodo, Die Mißachtung gesetzter Maßstäbe durch das Maßstäbegesetz, in: NJW 2000, S. 1086 f.; Rupp, Hans Heinrich, Länderfinanzausgleich. Verfassungsrechtliche und verfassungsprozessuale Aspekte des Urteils des BVerfG vom 11.11.1999, in: JZ 2000, S. 269 ff. 68 So etwa Homburg, Stefan, Anreizwirkungen des deutschen Finanzausgleichs, in: Finanzarchiv 51 (1994), S. 312 ff.; Huber, Bernd, Ökonomische Probleme des deutschen Finanzausgleichs, in: Henneke, Hans-Günter (Hrsg.), Verantwortungsteilung zwischen Kommunen, Ländern, Bund und Europäischer Union, 2001, S. 174 ff.

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schon bei der Finanzkraftberechnung. Begünstigt werden im Ergebnis diejenigen westlichen Bundesländer, die überdurchschnittlich finanzstarke Kommunen aufweisen.69 Bei den sonderlastbezogenen Bundesergänzungszuweisungen perpetuiert das neue Recht Bundeszahlungen für die Kosten „politischer Führung“ in Ländern mit geringer Bevölkerungszahl (§ 11 Abs. 4 FAG). Ganz abgesehen davon, ob ein entsprechender Bedarf („Kosten der Kleinheit“) überhaupt nachweisbar ist, erscheint es wenig sinnvoll, dass der Gesetzgeber die Eigenverantwortung kleiner Länder schwächt, statt diese effizientere Lösungen finden zu lassen, gegebenenfalls durch länderübergreifende gemeinsame Einrichtungen bei Behörden und Gerichten oder durch Neugliederungen.70 Die Abschaffung dieser Zahlungen, die keine Änderung des Maßstäbegesetzes voraussetzt, könnte die Länderautonomie sinnvoll stärken. Insgesamt sollte jedoch der Bereich des sekundären umverteilenden Finanzausgleichs nicht überbewertet werden. Seine fiskalische Bedeutung steht im Gegensatz zur öffentlichen Beachtung insbesondere des Dauerstreitpunktes Länderfinanzausgleich. Das Volumen des Länderfinanzausgleichs und aller Bundesergänzungszuweisungen beträgt weniger als 10 v. H. der nach Art. 106 und Art. 107 Abs. 1 GG zu verteilenden gesamten Steuereinnahmen. Die durch Absenkung der Umverteilung möglichen Stärkungen der Eigenverantwortung der Länder sind von vornherein begrenzt. 6. Prävention bei Haushaltsnotlagen Mit seinem Urteil vom 19. Oktober 2006 hat das Bundesverfassungsgericht die tatbestandlichen Voraussetzungen einer extremen Haushaltsnotlage gegenüber der früheren Rechtsprechung71 erheblich verschärft und Hilfeleistungspflichten des Bundes begrenzt. Sanierungshilfen nach Art. 107 Abs. 2 S. 3 GG „unterliegen einem strengen Ultima-Ratio-Prinzip und sind nur dann verfassungsrechtlich zulässig und geboten, wenn die Haushaltsnot69 Verfassungsrechtlich gefordert ist die volle Einbeziehung der gemeindlichen Finanzkraft in die Finanzkraft der Länder, vgl. Carl, Dieter, Bund-Länder-Finanzausgleich im Verfassungsstaat, 1995, S. 94 ff.; Korioth, Der Finanzausgleich (Fn. 34), S. 572 ff.; anders BVerfGE 86, 148 (218); Grawert, Rolf, Die Kommunen im Länderfinanzausgleich, 1989, S. 96. Immerhin stellt das neue Recht eine Verbesserung dar. Das bis einschließlich 2004 geltende Recht hat die Gemeindefinanzkraft nur mit 50 v. H. berücksichtigt, vgl. § 8 Abs. 5 FAG [1993]. 70 Zur Kritik an diesen Bundeszahlungen: Heun, Werner, in: Dreier, Horst (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 2000, Art. 107, Rdnr. 35; Kesper, Bundesstaatliche Finanzordnung (Fn. 26), S. 268; Huber, Peter Michael, Deutschland in der Föderalismusfalle?, 2003, S. 29; Korioth, Stefan, Die bundesstaatliche Finanzverfassung ist besser als ihr Ruf, in: Wirtschaftsdienst 1996, S. 339 (344). 71 Vgl. BVerfGE 72, 330 (404 ff.) und insbes. BVerfGE 86, 148 (258 ff.).

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lage eines Landes nicht nur relativ – im Verhältnis zu den übrigen Ländern – als extrem zu werten ist, sondern wenn sie auch absolut – nach dem Maßstab der dem Land verfassungsrechtlich zugewiesenen Aufgaben – ein so extremes Ausmaß erreicht hat, dass ein bundesstaatlicher Notstand im Sinne einer nicht ohne fremde Hilfe abzuwehrenden Existenzbedrohung des Landes als verfassungsgerecht handlungsfähigen Trägers staatlicher Aufgaben eingetreten ist.“72 Da von einer solchen Existenzbedrohung alle öffentlichen Haushalte entfernt sind und der „bundesstaatliche Notstand“ nur als Situation verstanden werden kann, in der auch der Bund zur Hilfeleistung kaum in der Lage wäre, dürfte eine „extreme Haushaltsnotlage“ zukünftig als Anspruchsgrundlage auf Sanierungshilfen im umverteilenden Finanzausgleich ausscheiden. Aus dieser begrüßenswerten neuen Tendenz des Bundesverfassungsgerichts, die Haftung des Bundes für eine übermäßige Verschuldung eines Landes auszuschließen, ergeben sich weitreichende Folgerungen. Sie gehen angesichts der Betonung der Eigenständigkeit und Selbstverantwortung jedes Landes über die Verschuldungsproblematik hinaus. Innerhalb der föderalen Bewältigung von Haushaltskrisen reduziert sich der Sinn vielfach geforderter Verfahrensvorschriften, die es ermöglichen sollen, sich aufbauende Haushaltsnotlagen zu erkennen und vorbeugende Maßnahmen vorzusehen.73 Nach der Verabschiedung der Haushaltsnotlage als Haftungsfall haben Präventionsregelungen nur noch begrenzte Bedeutung: Es gibt keinen Haftungsverpflichteten mehr, der gewarnt werden müsste; das betroffene Land selbst kennt seine Haushaltsnotlage auch ohne Hinweise und Mahnungen. Es wird wichtiger sein, die Anerkennung der finanziellen Selbständigkeit der Länder in den Dienst der Haushaltsnotlagenabwehr zu stellen, etwa mit folgendem Verfahren: Beruft sich ein Land auf eine Haushaltsnotlage, so sollte, ermöglicht durch eine Änderung des Art. 109 GG, das Land auf der Einnahmenseite Steuerrechtsetzungskompetenzen erhalten und sie ausschöpfen müssen, etwa Zuschlagsrechte zur Einkommen- und Körperschaftsteuer bis zu 15 v. H. über dem bundeseinheitlichen Satz. Auch sollte das Land, unabhängig davon, ob dies zukünftig für alle Länder möglich sein wird, die Rechtsetzung über die nach Art. 106 Abs. 2 GG den Ländern zustehenden Steuern erhalten. Auf der Ausgabenseite muss das Land verpflichtet werden, 72

BVerfG, Urteil vom 19. Oktober 2006 (2 BvF 3/03), Umdruck, S. 61. Dies gilt trotz des Umstandes, dass das Bundesverfassungsgericht, seine früheren Forderungen (vgl. BVerfGE 86, 148 [266]) aufgreifend, an der Notwendigkeit von Präventionsregelungen festzuhalten scheint: Der Gesetzgeber müsse „grundlegend neue [. . .] Lösungskonzepte zur Vorbeugung von Haushaltskrisen und deren Bewältigung“ finden. „Das Bundesstaatsprinzip macht solche Bestrebungen angesichts der gegenwärtig defizitären Rechtslage erforderlich“, so BVerfG, Urt. v. 19.10.2006 (2 BvF 3/03), Umdruck, S. 83. 73

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sämtliche Konsolidierungspotentiale in Anspruch zu nehmen. Dies betrifft nach der Föderalismusreform insbesondere die Beamtenbesoldung. Diese besonderen Gestaltungsbereiche auf der Einnahmen- und Ausgabenseite muss das Notlagenland fünf Jahre lang ausschöpfen. Wenn in diesem Zeitraum eine Konsolidierung aus eigener Kraft trotz Einnahmenerhöhung und Ausgabensenkung nicht gelungen ist, sollte der Weg offenstehen, von den anderen Ländern und dem Bund Verhandlungen über eine veränderte Steuerverteilung zu verlangen. Dann nämlich gibt es Gründe für die Vermutung, dass die Haushaltskrise nicht auf überhöhten selbstbestimmten Ausgaben beruht. Wichtig wäre es, die Indienstnahme finanzieller Selbständigkeit mit Automatismen zu versehen, die ein strategisches Verhalten des betroffenen Landes, aber auch der anderen Gebietskörperschaften ausschließen. Der dornige Weg, dass ein Land erst nach selbständiger und selbstverantwortlicher Ausschöpfung aller Konsolidierungspotentiale Hilfe der anderen Gebietskörperschaften in Anspruch nehmen kann, sollte die Anreize zu einer soliden Haushaltspolitik stark erhöhen. Die Verpflichtung, Einnahmen und Ausgaben zu konsolidieren, lässt die Bürger des betroffenen Landes die Haushaltsnotlage unmittelbar und erheblich stärker spüren, als dies in den bisher von Finanzkrisen betroffenen Ländern der Fall war. Dennoch ist vor der Erwartung zu warnen, rechtliche Flankierungen könnten Verschuldungskrisen im Bundesstaat gänzlich vermeiden helfen. Die notorische Steuerungsschwäche des Staatsschuldenrechts ist bekannt. Helfen kann letztlich nur eine selbstbestimmte verantwortungsvolle Finanzpolitik aller Gebietskörperschaften. IV. Fazit Der Bundesstaat, der kein vorverfassungsrechtliches Gefüge richtiger Abgrenzung und Zuordnung von Macht kennt, sondern stets konkrete Ordnung ist, befindet sich gerade deshalb in ständiger Bewegung und Entwicklung: res publica composita semper reformanda. Das Ziel einer auf den Grundlagen des ersten Teils der Föderalismusreform zu konzipierenden Finanzverfassungsreform kann nicht die Totalrevision sein, die Umwertung aller Werte. Das ist zum einen nicht erforderlich und könnte zum anderen nur in einer politischen oder verfassungsrechtlichen Ausnahmesituation gelingen. Selbst dann sind die Beharrungskräfte, repräsentiert durch die Bollwerke der Exekutiven in Bund und Ländern, erheblich. Im bundesstaatlichen System Deutschlands von 1871 bis heute gibt es mehr offene oder verdeckte Traditionslinien, als die unruhige Geschichte Deutschlands in dieser Epoche erwarten ließe. Vereinheitlichung und Einheit gelten als sinnvoll und erstrebenswert, Dezentralisierung dagegen erscheint mit dem Makel der Kleinstaaterei behaftet. Jede Föderalismusreform muss diesen festen Bestandteil

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unserer bundesstaatlichen Kultur berücksichtigen. Vorsicht ist dann geboten, wenn abstrakte Grundannahmen über die Funktionsweisen einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung auf das dem Gemeinwohl verpflichtete Zusammenwirken von Gebietskörperschaften übertragen werden sollen. Entschiedene Zurückweisung verdienen Tendenzen, den grundgesetzlichen Bundesstaat und die Finanzverfassung als Hauptursachen für wirtschaftliche Probleme, die Kompliziertheit staatlicher Entscheidungsprozesse und den Ansehens- und Autoritätsverfall der Parlamente für ursächlich zu erklären. Es wäre eine gefährliche Selbsttäuschung, vielleicht sogar eine ganz neue „Föderalismusfalle“, wenn die Hoffnung erweckt würde, eine Veränderung der bundesstaatlichen Finanzordnung könne das Hauptproblem des Finanzstaats, die ausufernde Staatsverschuldung, lösen. Wer den öffentlichen Haushalten und der Politik Handlungsspielräume zurückgewinnen will, hat den Bestand der Staatsaufgaben einer kritischen Revision zu unterziehen. Das muss einer vertikalen Neuverteilung der Finanzkompetenzen vorgelagert sein, die als solche nur in sehr begrenztem Umfang Effizienzreserven und Einsparmöglichkeiten zu mobilisieren vermag.

Die Europatauglichkeit der grundgesetzlichen Föderalismusreform Von Peter-Christian Müller-Graff Die sogenannte „Europatauglichkeit“ der grundgesetzlichen Föderalismusreform, wie sie im Jahr 2006 beschlossen wurde,1 erwuchs zum jüngsten Fragenbrennpunkt in dem seit Jahrzehnten vielerörterten Verhältnis von deutschem Föderalismus und Europäischer Union,2 das auch Rupert Scholz 1

Beschluss des Bundestages v. 30.6.2006; Beschluss des Bundesrates v. 7.7. 2006. Verf. war Sachverständiger bei der gemeinsamen öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages und des Ausschusses für Innere Angelegenheiten des Bundesrates zur Föderalismusreform (Allgemeiner Teil) im Mai 2006 sowie Sachverständiger bei der öffentlichen Anhörung des Ausschusses des Deutschen Bundestages für Angelegenheiten der Europäischen Union über den Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 29. Oktober 2004 über eine Verfassung für Europa im März 2005. 2 Zum Verhältnis von deutscher Bundesstaatlichkeit und europäischer Integration vgl. auswahlweise aus der umfänglichen Literatur: Ipsen, Hans Peter, Als Bundesstaat in der Gemeinschaft, in: von Caemmerer, Ernst/Schlochauer, Hans-Jürgen/ Steindorff, Ernst (Hrsg.), Probleme des Europäischen Rechts. Festschrift für Walter Hallstein, 1966, S. 248 ff.; Birke, Hans Eberhard, Die deutschen Bundesländer in den Europäischen Gemeinschaften, 1973; Blumenwitz, Dieter, Europäische Gemeinschaft und Rechte der Länder, in: Bieber, Roland/Bleckmann, Albert/Capotorti, Francesco u. a. (Hrsg.), Das Europa der zweiten Generation, Gedächtnisschrift für Christoph Sasse, Band 1, 1981, S. 215 ff.; Schwan, Hartmut Heinrich, Die deutschen Bundesländer im Entscheidungssystem der Europäischen Gemeinschaften, 1982; Grabitz, Eberhard, Die Rechtsetzungsbefugnis von Bund und Ländern bei der Durchführung von Gemeinschaftsrecht, AöR 111 (1986), S. 1 ff.; Ress, Georg, Die Europäischen Gemeinschaften und der deutsche Föderalismus, EuGRZ 1986, 549 ff.; Hrbek, Rudolf, Doppelte Politikverflechtung: Deutscher Föderalismus und Europäische Integration. Die deutschen Länder im EG-Entscheidungsprozeß, in: Hrbek, Rudolf/Thaysen, Uwe (Hrsg.), Die Deutschen Länder und die Europäischen Gemeinschaften, 1986, S. 17 ff.; Borchmann, Michael, Bundesstaat und europäische Integration. Die Mitwirkung der Bundesländer an Entscheidungsprozessen der EG, AöR 112 (1987), 586 ff.; zur Hausen, Götz-Eike, Die deutschen Länder als Souffleure auf der Brüsseler Bühne?, EuR 1987, 322 ff.; Magiera, Siegfried/Merten, Detlef (Hrsg.), Bundesländer und Europäische Gemeinschaft, 1988; Haas, Evelyn, Die Mitwirkung der Länder bei EG-Vorhaben, DÖV 1988, 613 ff.; Frowein, Jochen Abr., Bundesrat, Länder und europäische Einigung, in: Bundesrat (Hrsg.), Vierzig Jahre Bundesrat, 1989, S. 285 ff.; Merten, Detlef (Hrsg.), Föderalismus und Europäische Gemeinschaften unter besonderer Berücksichtigung von Umwelt und Ge-

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immer wieder beschäftigt hat.3 Die Frage festigte sich in Gestalt mehrerer Einzelpunkte aus gutem Grund zu einem eigenen allgemeinen Strukturelesundheit, Kultur und Bildung, 1990; Fastenrath, Ulrich, Länderbüros in Brüssel. Zur Kompetenzverteilung für informales Handeln im auswärtigen Bereich, DÖV 1990, 125 ff.; Blanke, Hermann-Josef, Föderalismus und Integrationsgewalt. Die Bundesrepublik Deutschland, Spanien, Italien und Belgien als dezentralisierte Staaten in der EG, 1992; Hrbek, Rudolf, Der Ertrag der „Verfassungsdebatte“ von Maastricht: Ein Erfolg für den Föderalismus und die deutschen Länder?, in: Baur, Jürgen F./Müller-Graff, Peter-Christian/Zuleeg, Manfred (Hrsg.), Europarecht, Wirtschaftsrecht, Energierecht. Festschrift für Bodo Börner, 1992, S. 125 ff.; Badura, Peter, Der Bundesstaat Deutschland im Prozeß der europäischen Integration, 1993; Morawitz, Rudolf/Kaiser, Wilhelm, Die Zusammenarbeit von Bund und Ländern bei Vorhaben der Europäischen Union, 1994; Epiney, Astrid, Gemeinschaftsrecht und Föderalismus: „Landes-Blindheit“ und „Pflicht zur Berücksichtigung innerstaatlicher Verfassungsstrukturen“, EuR 1994, 301 ff.; Oschatz, Georg-Berndt/Risse, Horst, Die Bundesregierung an der Kette der Länder? Zur europapolitischen Mitwirkung des Bundesrates, DÖV 1995, 437 ff.; Donoth, Hans-Peter, Die Bundesländer in der Europäischen Union, 1996; Meißner, Martin, Die Bundesländer und die Europäischen Gemeinschaften, 1996; Lang, Ruth, Die Mitwirkung des Bundesrates und des Bundestages in Angelegenheiten der Europäischen Union gemäß Artikel 23 Abs. 2 bis 7 GG, 1997; Pröpper, Martin, Die Mitwirkung des Bundesrates an der europapolitischen Willensbildung, 1997; Littwin, Frank, Die innerstaatliche Verteilung der Finanzierungslasten aus der Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen Union, DVBl. 1997, 151 ff.; Arnold, Rainer, Die Beteiligung der Bundesländer an der Europäischen Union, in: Männle, Ursula (Hrsg.), Föderalismus zwischen Konsens und Konkurrenz, 1998, S. 131 ff.; von Dewitz, Lars, Der Bundesrat – Bilanz der Arbeit im EU-Ausschuß seit 1992, in: Borkenhagen, Franz H. U. (Hrsg.), Europapolitik der deutschen Länder, Bilanz und Perspektiven nach dem Gipfel von Amsterdam, 1998, S. 69 ff.; Müller-Terpitz, Ralf, Die Beteiligung des Bundesrats am Willensbildungsprozeß der Europäischen Union, 1999; Clostermeyer, Claus-Peter, Fragen zur „Europafähigkeit“ Deutschlands und seiner Länder im internationalen Vergleich – eine Einführung, in: Hrbek, Rudolf (Hrsg.), Europapolitik und Bundesstaatsprinzip, 2000, S. 7 ff.; Oberländer, Stefanie, Aufgabenwahrnehmung im Rahmen der EU durch Vertreter der Länder. Theorie und Praxis im Vergleich, 2000; Calliess, Christian, Innerstaatliche Mitwirkung der deutschen Bundesländer nach Art. 23 GG und ihre Sicherung auf europäischer Ebene, ebda., S. 13 ff.; Halfmann, Ralf, Entwicklungen des deutschen Staatsorganisationsrechts im Kraftfeld der europäischen Integration, 2000; Zwicker, Kai, Als Bundesstaat in der Europäischen Union, 2000; Haslach, Christian, Die Umsetzung von EG-Richtlinien durch die Länder, 2001; Stumpf, Christoph A., Mitglieder von Regionalregierungen im EU-Ministerrat, EuR 2002, 275 ff.; Bauer, Michael W., Der europäische Verfassungsprozess und der Konventsentwurf aus der Sicht der deutschen Länder, in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung (Hrsg.), Jahrbuch des Föderalismus 2004, 2004, S. 453 ff.; Koenig, Christian/Braun, Jens Daniel, Rückgriffsansprüche des Bundes bei einer Haftung für Verstöße der Bundesländer gegen Gemeinschaftsrecht, NJ 2004, 97 ff.; Weber, Albrecht, Zur föderativen Struktur der Europäischen Union im Entwurf des Europäischen Verfassungsvertrages, EuR 2004, 841 ff., Hrbek, Rudolf, Der deutsche Bundesstaat in der EU. Die Mitwirkung der deutschen Länder in EU-Angelegenheiten als Gegenstand der Föderalismus-Reform, in: Gaitanides, Charlotte/Kadelbach, Stefan/Rodriguez Iglesias, Gil Carlos (Hrsg.), Europa

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ment des Gesamtvorhabens der Föderalismusreform.4 Denn zweifelsohne ist bei Fragen der grundgesetzlichen Reform der Bundesstaatlichkeit auch der spezifische Gesichtspunkt ihrer Passfähigkeit und Auswirkung zum einen im Hinblick auf das Agieren der Bundesrepublik auf europäischer Ebene5 und zum anderen im Hinblick auf die Umsetzung von europäischen Vorgaben innerhalb der Bundesrepublik6 zu beachten. Nachfolgend soll im Blick auf die Föderalismusreform des Jahres 2006 drei Fragen nachgegangen werden: erstens den Orientierungspunkten des allgemeinen normativen Gestaltungsverhältnisses zwischen mitgliedstaatlichem Föderalismus und Europäischer Gemeinschaft (I.), zweitens den grundsätzlichen Anforderungen der „Europatauglichkeit“ an die Ausgestaltung des innerstaatlichen Föderalismus (II.) und drittens der Bewertung der insoweit wichtigsten europaspezifischen grundgesetzlichen Einzeländerungen durch die Föderalismusreform 2006 (III.). I. Normatives Gestaltungsverhältnis zwischen mitgliedstaatlichem Föderalismus und Europäischer Gemeinschaft Das normative Gestaltungsverhältnis zwischen mitgliedstaatlichem Föderalismus und Europäischer Gemeinschaft ist weitaus komplexer als es die manchmal anzutreffende These glauben machen will, dass föderale Ordnunund seine Verfassung. Festschrift für Manfred Zuleeg, 2005, S. 256 ff.; MüllerGraff, Peter-Christian, Involvement of the German Länder in EC/EU Law and Policy Making, in: Weatherill, Stephen/Bernitz, Ulf (eds.), The Role of Regions and Sub-National Actors in Europe, Oxford 2005, S. 103 ff.; Baier, Christina, Bundesstaat und Europäische Integration, 2006; Häde, Ulrich, Die innerstaatliche Verteilung gemeinschaftsrechtlicher Zahlungspflichten. Anlastungen und Haushaltsdisziplin, 2006. 3 Vgl. namentlich Scholz, Rupert, Europäische Union und deutscher Bundesstaat, NVwZ 1993, S. 817 ff.; ders., Zur nationalen Handlungsfähigkeit in der Europäischen Union. Oder: Die notwendige Reform des Art. 23 GG, in: Gaitanides/Kadelbach/Rodriguez Iglesias (Hrsg.), Europa und seine Verfassung (Fn. 2), S. 274 ff. 4 Vgl. Themenstruktur der Anhörung Föderalismusreform v. 7.4.2006. Das Thema der Europatauglichkeit des deutschen Bundesstaates hatte sich bereits in der Bundesstaatskommission (Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung) entwickelt; vgl. dazu ausführlich Eppler, Annegret, Die Europafähigkeit Deutschlands in der Diskussion: Bundesstaatskommission und Ratifizierung des Vertrags über eine Verfassung für Europa, 2005, S. 73 ff., 76 ff. Insbesondere ging es dabei um die unterschiedliche Evaluation der Beteiligung der Länder an den Angelegenheiten der EU durch den Bundesrat. 5 Zur Entwicklung des Themas der Ländermitwirkung bei der Rechtsetzung auf Gemeinschaftsebene vgl. Baier, Bundesstaat (Fn. 2), S. 28 ff., 70 ff. 6 Zur Entwicklung des allgemeinen Themas der Ländermitwirkung bei der Umsetzung von Gemeinschaftsrecht in der Bundesrepublik Deutschland vgl. Baier, Bundesstaat (Fn. 2), S. 61 ff., 137 ff.

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gen immer nur eingeschränkt europatauglich seien.7 Diese Auffassung wird der Sache nach zuvörderst damit begründet, dass der föderale Aufbau eines Mitgliedstaats dessen Einfluss in der Gemeinschaft tendenziell behindere und mindere, da eine Einbeziehung der Länder in die Willensbildung des Bundes auf europäischer Ebene die Verhandlungsposition des Bundes schwäche.8 Ob damit indes eine ausweglose strukturelle Schwäche föderaler Staatsorganisation in der supranationalen Gemeinschaft bezeichnet wird, bleibt zweifelhaft, da sich zugleich die noch keineswegs abschließend negativ beantwortete Frage nach der tatsächlichen Fähigkeit eines föderal aufgebauten Mitgliedstaats zur kohärenten und zielführenden Organisation seines Auftretens auf europäischer Ebene stellt. Werden unter dem Gesichtspunkt der Europakompatibilität des föderalen Aufbaus die Sonderfragen der Umsetzung von Richtlinien der EG in der Bundesrepublik einbezogen, die speziell im bundesstaatlichen Aufbau wurzeln,9 ist die These einer strukturell geringeren Europatauglichkeit von mitgliedstaatlichem Föderalismus leicht verleitlich. Denn sie beruht auf einer Prämisse, die das organisierte Europa in seinen Wesenszügen und Anforderungen tendenziell unitarisch oder zentralistisch denkt. Dies ist jedoch weder das Leitbild des geltenden Primärrechts der Europäischen Gemeinschaften und Europäischen Union noch das Konzept der neuen Europäischen Union, das der Verfassungsvertrag für Europa10 inkorporiert, wie sich aus mehreren Gesichtspunkten ergibt: der Begrenzung des gemeinschaftsrechtlichen Effektivitätsgrundsatzes durch das unionsrechtliche Gebot der Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten (1.), den föderativen Zügen im Primärrechtsprofil des transnationalen europäischen Gemeinwesens (2.) und dem daraus ableitbaren Erfordernis der Föderalismustauglichkeit der Europäischen Union (3.). 1. Gemeinschaftsrechtlicher Effektivitätsgrundsatz und das Achtungsgebot der nationalen Identität der Mitgliedstaaten Erstens ist festzuhalten, dass der sogenannte Effektivitätsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts, wonach jede gemeinschaftsrechtliche Bestimmung so auszulegen ist, dass sie ihre volle Wirksamkeit entfalten kann,11 keine Vor7 Vgl. prononciert z. B. Möllers, Christoph, in: Sekretariat des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages, Zusammenstellung der Stellungnahmen, 11.5.2006, Blatt 50. 8 Ebda. 9 Vgl. als gründliche und differenzierende Substantiierung derartiger spezifischer Probleme Baier, Bundesstaat (Fn. 2), S. 149 ff. 10 Vgl. Vertrag vom 29. Oktober 2004. 11 Zur „effet utile“-Rechtsprechung z. B. Gaitanides, Charlotte, in: von der Groeben, Hans/Schwarze, Jürgen (Hrsg.), Vertrag über die Europäische Union und Ver-

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gabe für den inneren Aufbau eines Mitgliedstaats in der Frage einer föderalen oder unitarischen Ausgestaltung beinhaltet. Es ist schon eine offene Frage, ob im Extremfall der hartnäckigen Verweigerung der Umsetzung einer Richtlinie der EG durch ein zur Umsetzung zuständiges Land der gemeinschaftsrechtliche Effektivitätsgrundsatz die mitgliedstaatliche Pflicht zur Gemeinschaftstreue des Art. 10 EGV12 zu einer Pflicht des Bundes verdichten kann, Mittel des Bundeszwangs gemäß Art. 37 GG13 wegen Nichterfüllung seiner Pflicht zur Bundestreue14 zu aktivieren. In keinem Fall vermag er aber den föderalen Grundaufbau eines Mitgliedstaats in Frage zu stellen.15 Denn der Unionsvertrag gewährleistet in Art. 6 Abs. 3 ausdrücklich die Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten, zu der namentlich auch seine interne Staatsorganisation zählt.16 Der Verfassungsvertrag konkretisiert dieses Gebot auch speziell und ausdrücklich als Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten, „die in deren grundlegender politischer und verfassungsrechtlicher Struktur einschließlich der regionalen und kommunalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt“ (Art. I-5 Abs. 1 S. 1 VVE). Er trägt damit der schon zu Art. 6 Abs. 3 EUV bestehenden Einsicht Rechnung, dass die eigene Identität der Union notwendig aus den Identitäten der Mitgliedstaaten erwächst, die es deshalb zu achten gilt.17 Davon unabhängig ist es überdies in rechtstatsächlicher Hinsicht schwerlich belegbar, dass ein zentralistischer Staatsaufbau notwendig und generell eine bessere Verwirklichungseffektivität von Gemeinschaftsrecht gewährleistet. Zwar zeigen jüngere Analysen der Statistiken, dass Deutschland bei der Richtlinienumsetzung schlechtere Quoten aufweist als viele andere Mitgliedstaaten, andererseits aber etwa zum Stichtag des 15.11.2004 damit vor zentralistisch aufgebauten Staaten wie Frankreich und Italien lag.18 Auch wenn statistisch die Umsetzungsquote der Bundesrepublik in den letzten trag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 6. Aufl., 2003, Art. 220 EG, Rdz. 55 m. w. N. 12 Zu dieser Pflicht vgl. z. B. Lück, Michael, Die Gemeinschaftstreue als allgemeines Rechtsprinzip im Recht der EG, 1992; Zuleeg, Manfred, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), Vertrag (Fn. 11), Art. 10 EG, Rdz. 4 ff. 13 Zu dessen Inhalt z. B. Erbguth, Wilfried, in: Sachs, Michael, Grundgesetz, Kommentar, 3. Aufl., 2003, Art. 37, Rdz. 2 ff., 7 ff. 14 Zur Tragweite dieses Grundsatzes vgl. z. B. Sachs, Michael, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz (Fn. 13), Art. 20, Rdz. 68 ff. 15 Vgl. für den Fall einer Schadensersatzklage gegen die Republik Österreich EuGH, Slg. 1999, I-3099, Ls. 6 – Konle. 16 Vgl. z. B. Beutler, Bengt, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), Vertrag (Fn. 11), Art. 6 EU, Rdz. 201; Pechstein, Matthias, in: Streinz, Rudolf (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 6 EUV, Rdz. 27. 17 Vgl. treffend Pechstein, Matthias, in: Streinz, EUV/EGV (Fn. 16), Art. 6 EUV, Rdz. 25.

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Jahren in der Regel schlechter ausfällt als im Durchschnitt der EU,19 widerlegt eine jüngste Studie zu den von den Umsetzungsschwierigkeiten betroffenen Sachbereichen die Annahme, dass es sich dabei insbesondere um diejenigen handelt, in denen die Legislativzuständigkeit bei den Ländern liegt.20 Man mag sogar spekulieren, dass in Sachbereichen einer ausschließlichen Länderzuständigkeit politische Umsetzungsvorbehalte nicht bundesweit zu einer Umsetzungsverzögerung führen, sondern auf einzelne Länder beschränkt bleiben. Andererseits zeigt die Auswertung der letzten Jahre aber auch, dass in den Bereichen, in denen die Länder an der innerstaatlichen Gesetzgebung beteiligt sind, entgegen dem ersten statistischen Anschein21 ein erhebliches Verzögerungspotential für die Umsetzung infolge der oftmals zunächst klärungsbedürftigen internen Abgrenzungsfragen der Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Ländern im Hinblick auf Richtlinien, die, wie oft, sachbereichlich inkongruent zu den grundgesetzlichen Abgrenzungen sind.22 2. Föderative Züge im Primärrechtsprofil des europäischen Gemeinwesens Zweitens ist das primärrechtliche Profil von Europäischen Gemeinschaften und Europäischer Union und ebenso der verfassungsvertraglich projektierten neuen Europäischen Union nicht zentralistisch oder unitarisch geprägt, sondern föderativ orientiert, allerdings auf eigene und vom normativen Kontext des bundesstaatlichen Gemeinwesen der Bundesrepublik klar zu unterscheidende Weise.23 Herausragende Einzelelemente, die an dieser Stelle keiner besonderen Vertiefung bedürfen,24 sind insoweit das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung der Gemeinschaft,25 die Trennung zwischen ausschließlichen und nicht-ausschließlichen Zuständigkeiten der euro18 Vgl. dazu die sorgfältige Datenauswertung der Umsetzungsquoten bei Baier, Bundesstaat (Fn. 2), S. 140 ff. 19 Ebda., S. 142. 20 So das Ergebnis der Auswertung durch Baier, Bundesstaat (Fn. 2), S. 146, 173. 21 Ebda., S. 149. 22 Ebda., S. 149 ff., 173. 23 Vgl. hierzu im Vergleich Müller-Graff, Peter-Christian, Unitarisierung in der Europäischen Union?, in: Grupp, Klaus/Hufeld, Ulrich (Hrsg.), Recht – Kultur – Finanzen, Festschrift für Reinhard Mußgnug, 2005, S. 311, 315 ff. 24 Im einzelnen ebda., S. 315 ff.; zum Verfassungsvertrag Müller-Graff, PeterChristian, Strukturmerkmale des neuen Verfassungsvertrags für Europa im Entwicklungsgang des Primärrechts, integration 2004, 186, 194. 25 Vgl. Art. 5 Abs. 1, 7 EG; dazu z. B. Zuleeg, Manfred, in: von der Groeben/ Schwarze (Hrsg.), Vertrag (Fn. 11), Art. 2 EG, Rdz. 2; perspektivisch Art. I-11 Abs. 2 VVE.

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päischen Ebene,26 die Mitwirkung der Mitgliedstaaten an der Rechtsetzung der Gemeinschaft über den Rat,27 die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit von Mitgliedstaaten und Gemeinschaftsorganen,28 die Entscheidung für den überwiegenden Verwaltungsvollzug von Gemeinschaftsmaßnahmen durch die Mitgliedstaaten29 und das Prinzip grundsätzlich voneinander unabhängiger öffentlicher Haushalte.30 Selbst der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts vor widersprechendem mitgliedstaatlichem Recht31 und die judikativ-prozeduralen Vorkehrungen zur einheitlichen Auslegung europäischen Rechts32 verstehen sich vor dem Hintergrund der föderativ-regelförmigen Lösung der Ausübung von Hoheitsrechten durch verschiedene Hoheitsträger für dasselbe Territorium. Dieser föderative Zug des transnationalen europäischen Gemeinwesens zeigt sich nicht nur im Hinblick auf das Verhältnis zwischen europäischer und mitgliedstaatlicher Ebene. Er wird zunehmend auch im Verhältnis der europäischen Ebene zu subzentralen mitgliedstaatlichen Hoheitsträgern in unterschiedlicher Weise primärrechtlich unterfüttert. Ansätze finden sich im geltenden Primärrecht allerdings nur indirekt: so namentlich im Verständnis des Subsidiaritätsprinzips des Art. 5 Abs. 2 EGV, das zwar die Frage der Kompetenzausübung nur im Verhältnis von Gemeinschaft und Mitgliedstaat regelt, im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung eines Mitgliedstaats aber auch deren Untergliederungen einbezieht;33 des Weiteren in der Einrichtung des Ausschusses der Regionen,34 der zwar nur beratende Funktion hat und den föderalen Staatsaufbau eines Mitgliedstaats gemeinschaftsrecht26 Vgl. Art. 5 Abs. 2 EGV; perspektivisch deutlich aufgliedernd und zuordnend Artt. I-12 Abs. 1 und 2, I-14, I-15 VVE. 27 Vgl. insbesondere Art. 251 EGV sowie Art. 252 EGV und z. B. Art. 308 EGV; perspektivisch vor allem Art. I-34, III-396 VVE. 28 Vgl. oben Fn. 12 sowie für die projektierte neue Union Art. I-5 Abs. 2 VVE, wonach sich nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit Union und Mitgliedstaaten gegenseitig bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus dem VVE ergeben, achten und unterstützen. 29 Vgl. z. B. Streinz, Rudolf, Europarecht, 6. Aufl., 2003, Rdz. 467. 30 Vgl. Art. 268 EGV; perspektivisch: Art. I-53 VVE. 31 Vgl. EuGH Slg. 1964, 1251 – Costa/ENEL –; perspektivisch: Art. I-6 VVE. 32 Vgl. namentlich Artt. 220 ff. EGV, Art. 35 EUV; perspektivisch: Art. I-39, Artt. III-353 ff. VVE. 33 Vgl. z. B. Streinz, Rudolf, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV (Fn. 16), Art. 5 EGV, Rdz. 35; vgl. auch Erklärung Deutschlands, Österreichs und Belgiens zur Subsidiarität in der Schlussakte zum Amsterdamer Vertrag, ABlEG Nr. C 340/143. Zu den Chancen des kooperativen Föderalismus als Modell für Europa Kalbfleisch-Kottsieper, Ulla, Föderaler Kompetenzverlust durch Überkompensation?, in: Jahrbuch des Föderalismus 2001, S. 168 ff., 1987. 34 Vgl. Artt. 263 ff. EGV; vgl. dazu Müller-Graff, Peter-Christian, Die europäischen Regionen in der Verfassung der EG, integration 1997, 145, 146 f.

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lich weder gewährleistet noch punktgenau abbildet,35 aber doch in den Beratungsrahmen der Gemeinschaft ein Gremium einstellt, „das sich aus Vertretern der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften zusammensetzt, die entweder ein auf Wahlen beruhendes Mandat in einer regionalen oder lokalen Gebietskörperschaft innehaben oder gegenüber einer gewählten Versammlung verantwortlich sind“36; ferner in der Ermöglichung der aktiven Parteifähigkeit für eine Nichtigkeitsklage gegenüber bestimmten Maßnahmen von Gemeinschaftsorganen unter den allerdings allgemeinen und sehr engen Voraussetzungen des Art. 230 Abs. 4 EGV zugunsten „jeder juristischen Person“, darunter in der Praxis der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit auch eines Landes der Bundesrepublik Deutschland37 oder einer belgischen Region.38 Einen Schritt weiter in der freilich erneut nur indirekten Berücksichtigung des föderalen Aufbaus eines Mitgliedstaats geht das 2. Protokoll zum Verfassungsvertrag über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit mit der ausdrücklichen Erwähnung und Einbeziehung der „Kammern“ eines nationalen Parlaments in das sogenannte Frühwarnsystem der Rechtsetzung der projektierten Union39 und in das Rechtsschutzsystem.40

3. Das Erfordernis der Föderalismustauglichkeit des europäischen Gemeinwesens Drittens sind die vorgenannten Elemente passfähig zur Rechtnatur der Europäischen Gemeinschaften und der Europäischen Union. Sie sind in ihrer Existenz und grundlegenden Ausgestaltung Geschöpfe, die auf Verträgen beruhen, welche von den Mitgliedstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Bestimmungen ratifiziert zu sein haben.41 In diesem Erfordernis der mitgliedstaatlichen Verfassungskonformität ist nicht nur eine verfahrensrechtliche Dimension zu sehen, sondern im Interesse der grundsätzlichen Kompatibilität der Gemeinschaftsrechtsordnung mit der nationalen Verfassungsordnung auch die inhaltliche Komponente, dass die innerstaatliche Zustimmung im Einklang mit dem Inhalt der staatlichen Verfassung zu stehen hat, mithin es zu einer Ratifikation von Primärrecht nicht im Widerspruch 35 Zutreffend Burgi, Martin, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV (Fn. 16), Art. 263 EG, Rdz. 7. 36 Art. 263 Abs. 1 EGV. 37 Vgl. EuG, Slg. 1999, II-3663, Tz. 81 – Freistaat Sachsen u. a./Kommission. 38 Vgl. EuGH, Slg. 1988, 1573, Tz. 8 – Exécutif régional Wallon/Kommission. 39 Vgl. Art. 6 und 7 des 2. Protokolls. 40 Vgl. Art. 8 des 2. Protokolls. 41 Art. 313 EGV, Artt. 48, 52 EUV.

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zu mitgliedstaatlichem Verfassungsrecht kommen soll. Dieses Erfordernis kann auf Seiten eines Mitgliedstaates zur Folge haben, dass er im Falle einer inhaltlichen Unvereinbarkeit zwischen projektiertem Primärrecht und nationaler Verfassung entweder, soweit zulässig und möglich, seine Verfassung ändert, um diese mit der sachgegenständlich relevanten europavertraglichen Bestimmung in Einklang zu bringen,42 oder aber dass er nicht ratifizieren kann. Da die Gliederung des Bundes in Länder und die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung zu den einer Grundgesetzänderung entzogenen Wesenszügen des Grundgesetzes zählen (Art. 79 Abs. 3 GG)43 und die Union die nationale Identität der Mitgliedstaaten auch im Sinne deren Staatsaufbau zu achten hat (Art. 6 Abs. 3 EUV),44 ist, soweit die Bundesrepublik bei der Entwicklung der Europäischen Union nach Maßgabe des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG zur Verwirklichung eines vereinten Europas mitzuwirken beauftragt ist,45 das primärrechtliche Profil der europäischen Ebene und, ihm folgend, deren sekundärrechtliche Ausfaltung grundsätzlich ihrerseits im Sinne des Art. 79 Abs. 3 GG föderalismustauglich auszugestalten. Für die Maßgeblichkeit des Art. 79 Abs. 3 GG ist Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG insoweit klarstellend. Das Gebot der Föderalismustauglichkeit gilt damit bereits unabhängig von den materiellen grundgesetzlichen Anforderungen an die Struktur der Europäischen Union, die von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG zusätzlich als Maßgabevorbehalt46 für die Mitwirkung der Bundesrepublik festgelegt sind, darunter die Verpflichtung der Union auf „föderative Grundsätze“, wodurch die Bundesorgane zu deren Förderung innerhalb der Union beauftragt sind.47 42 Vgl. zu diesem Vorgehen etwa die Reaktion Frankreichs auf die Entscheidung des Conseil Constitutionnel v. 9.4.1992 zum Vertrag von Maastricht; dazu MüllerGraff, Peter-Christian/Reichel, Anja, Die Europäische Integration aus der Sicht der Rechtsprechung nationaler Verfassungsgerichte, in: Jopp, Mathias/Maurer, Andreas/ Schneider, Heinrich (Hrsg.), Europapolitische Grundverständnisse im Wandel, 1998, S. 365, 391 ff. 43 Vgl. dazu z. B. Lücke, Jörg, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz (Fn. 13), Art. 79, Rdz. 20 ff., 26 ff. 44 s. oben Fn. 16. 45 Zum Charakter des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG als Staatszielbestimmung und Auftrag Randelzhofer, Albrecht, in: Maunz, Theodor/Dürig, Günter/Badura, Peter/Di Fabio, Udo/Herdegen, Matthias/Herzog, Roman/Klein, Hans H./Lerche, Peter/Papier, Hans-Jürgen/Randelzhofer, Albrecht/Schmidt-Aßmann, Eberhardt/Scholz, Rupert, Grundgesetz, Kommentar, 2001, Art. 24 I, Rdz. 202; Classen, Claus Dieter, in: von Mangoldt, Hermann/Klein, Friedrich/Starck, Christian (Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz. Kommentar, 4. Aufl. Band 2, 2000, Art. 23, Rdz. 10; Pernice, Ingolf, in: Dreier, Horst (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Band 2, 1998, Art. 23, Rdz. 45; BT-Drs. 12/3338, S. 6. 46 Dazu Streinz, Rudolf, in: Sachs, Grundgesetz (Fn. 13), Art. 23, Rdz. 8 ff., 16.

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Daher kann es keinen eurozentrischen Gestaltungszwang für den Aufbau eines Mitgliedstaats geben. Dies gilt umso mehr, als die Integrationsermächtigung von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG durch den inhaltlichen Strukturauftrag für die Grundzüge der Europäischen Union, an der die Bundesrepublik mitwirkt, konditioniert ist.48 Wegen der darin u. a. genannten föderativen Grundsätze ergibt sich aber auch eine zusätzliche politische Verantwortung der Bundesrepublik bei der Ausgestaltung ihrer eigenen föderalen Ordnung. Deren Profil kann, von innen wie von außen betrachtet, als konzeptionelle Anregung für die Lösung von Gestaltungsfragen in der Union verstanden werden oder wirken. II. Grundsätzliche Anforderungen der „Europatauglichkeit“ an die Ausgestaltung des innerstaatlichen Föderalismus Aus den vorangehenden Überlegungen ergeben sich unschwer die grundsätzlichen Anforderungen des Ziels der „Europatauglichkeit“ an die Ausgestaltung des innerstaatlichen Föderalismus. Zum einen geht es darum, für die Mitwirkung bei der Entwicklung der Europäischen Union die Chancen einer gesamtstaatsverträglichen optimalen Außenwirkung des in den Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG gestaltbaren49 inneren Staatsaufbaus in der Dimension der europäischen Integration zu sichern. Zum anderen sind zur Erfüllung der Verpflichtungen aus der Mitwirkung infolge der Integrationsermächtigung des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG und im Rahmen des von Art. 79 Abs. 3 GG bestehenden verfassungsrechtlichen Gestaltungsspielraums Regelungen anzustreben, die eine optimale Innenwirkung der Konsequenzen der Mitgliedschaft in der Europäischen Union ermöglichen. Bei Reformen des normativen Systems des Föderalismus ist infolgedessen darauf zu achten, dass die im Inneren angestrebte Steigerung von Handlungsfähigkeit, Legitimation und Transparenz des staatlichen Gemeinwesens – eine auffällige Parallele zu den Reformzielen des Verfassungsvertrages für das transnationale Gemeinwesen der projektierten neuen Europäischen Union50 – stimmig zu den Anforderungen der Mitwirkung in der Europäischen Union ausgeformt wird. Darin liegt die Chance, die konkret gestaltbare und gewählte staatliche föderale Struktur mit der europäischen Rechts-, Wirtschafts- und Politikgemeinschaft mittels föderativ-systemratio47

Ders., ebda., Art. 23, Rdz. 32. „Materielle Schranken der Integrationsermächtigung“: s. Streinz, in: Sachs, Grundgesetz (Fn. 13), Art. 23, Rdz. 12. 49 Zur Ausgestaltbarkeit im Rahmen des Art. 79 Abs. 3 GG vgl. z. B. Lücke, Jörg, in: Sachs, Grundgesetz (Fn. 13), Art. 79, Rdz. 26 ff., 28 ff. 50 Vgl. dazu Müller-Graff, Strukturmerkmale (Fn. 24), 186 ff. 48

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naler Regeln zu verzahnen. Diese Abstimmung ist jedenfalls angezeigt, soweit es um supranationale Integration geht und dadurch die Ebene der bloßen Außenpolitik und des klassischen Völkerrechts verlassen ist. Die innere Neuordnung steht daher auch unter dem Gebot ihrer Passfähigkeit zum Integrationsauftrag. Dies bedeutet mithin, zwei allgemeine Anforderungen im Blick zu halten: das legitimations- und effizienzoptimale Agieren der Bundesrepublik innerhalb der Europäischen Union sowie das legitimierte und effiziente Verwirklichen europäischer Maßnahmen, insbesondere von Gemeinschaftsrecht, innerhalb der Bundesrepublik. III. Die wichtigsten europaspezifischen Einzeländerungen der grundgesetzlichen Föderalismusreform von 2006 Die Föderalismusreform des Jahres 2006 enthält mehrere europaspezifisch einschlägige Einzeländerungen, die der genannten Doppelaufgabe zuordenbar (1.) und in deren Licht zu bewerten sind (2.). 1. Zuordnung Die Zuordnung der einschlägigen Einzeländerungen zu den beiden grundsätzlichen Anforderungen erschließt sich unschwer aus deren jeweiliger Zweckrichtung. In die Kategorie der föderalen Außenwendung in die Europäische Gemeinschaft fallen die Neuordnung der Vertretung der Bundesrepublik im Rat durch einen Ländervertreter sowie des Beschlussverfahrens der Europakammer des Bundesrates. Zu der Kategorie der föderalen Binnenverankerung der Integrationskonsequenzen zählen die konstitutionelle Schaffung eines nationalen Stabilitätspaktes und die Festlegung der internen Haftungsverantwortlichkeit. Demgegenüber ist die Abschaffung der Rahmengesetzgebung nicht speziell auf die Mitgliedschaft in der EG/EU zugeschnitten, kann aber gleichwohl Auswirkungen auf die zu beachtende Doppelaufgabe haben. Eine Abstimmung der inhaltlich-sachbereichlichen Definition und Kategorisierung der innerstaatlichen Kompetenzverteilung mit denen der Europäischen Gemeinschaft stand aus guten Gründen nicht zur Diskussion. 2. Bewertung Es versteht sich von selbst, dass die verabschiedeten Einzelregelungen ihren maßgeblichen Tauglichkeitstest anhand der Maßstäbe des effizienz- und legitimationsoptimalen Agierens des Gesamtstaates im Rahmen von Europäischer Gemeinschaft und Europäischer Union und des effizienz- und legitimationsoptimalen Verwirklichens des Gemeinschaftsrechts innerhalb der

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Bundesrepublik in der politischen Wirklichkeit zu finden haben werden. Inwieweit diesen Kriterien tatsächlich Genüge getan werden wird, ist naturgemäß schwerlich prognostizierbar, doch erledigt dies nicht eine Bewertung des normativen Ansatzes. Insgesamt gilt aber auch für diese Reform und insbesondere für Neufassung des Art. 23 Abs. 6 S. 1 GG die schon zur Schaffung des Art. 23 GG aus Anlass des Vertrages von Maastricht von Rupert Scholz geäußerte Einschätzung, dass sich das Grundprinzip des kooperativen Föderalismus und der gegenseitigen Bundes- und Organtreue bei der Praktizierung dieser neuen Regelungen zu bewähren haben und diese so zu praktizieren sind, dass weder der deutsche Bundesstaat noch die politische Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik in der Europäischen Gemeinschaft Schaden nimmt.51 a) Außenvertretung durch einen Ländervertreter Die Außenvertretung der Bundesrepublik in der Europäischen Union durch einen Ländervertreter, die gemeinschaftsrechtlich als Möglichkeit durch Art. 203 Abs. 1 EGV eröffnet ist52 und auch durch Art. I-24 VVE nicht ausgeschlossen wird,53 ist verfassungsrechtlich durch Änderung des Art. 23 Abs. 6 S. 1 GG neu geregelt worden. Entgegen manchen Forderungen nach ersatzloser Streichung des bisherigen Art. 23 Abs. 6 S. 1 GG54 gilt nunmehr für den Fall, dass im Schwerpunkt ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder auf den Gebieten der schulischen Bildung, der Kultur oder des Rundfunks betroffen sind, die Wahrnehmung der Rechte, die der Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat der Europäischen Union zustehen, vom Bund auf einen vom Bundesrat benannten Vertreter der Länder übertragen wird. Dazu regelt § 6 Abs. 2 EUZBLG in der Fassung des Föderalismusreform-Begleitgesetzes die Einzelheiten und konkretisiert in S. 1 insbesondere die Übertragung der Verhandlungsführung durch die Bundesregierung in den Beratungsgremien der Kommission und des Rates und bei Ratstagungen in der Zusammensetzung der Minister (nicht in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs).55 Für 51

Scholz, Europäische Union und deutscher Bundesstaat (Fn. 3), 824. Zur Entstehung der Neuformulierung durch den Reformvertrag von Maastricht Jacqué, Jean Paul, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV (Fn. 11), Art. 203 EG, Rdz. 6. 53 Wegen Art. I-24 Abs. 4 VVE; kritisch hierzu Scholz, Handlungsfähigkeit (Fn. 3), 284. 54 Für den Verzicht auf die Aufteilung der Außenvertretung der Bundesrepublik namentlich Scholz, Handlungsfähigkeit (Fn. 3), 283 f. 55 § 6 Abs. 2 EUZBLG sieht zugleich vor, dass die Ausübung der Rechte durch den Vertreter der Länder unter Teilnahme von und in Abstimmung mit dem Vertre52

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Fälle, in denen sonstige ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder von Vorhaben betroffen sind, die auf Ratstagungen in der Zusammensetzung der Minister behandelt werden, sieht § 6 Abs. 2 S. 5 EUZBLG in der Fassung des Föderalismusreform-Begleitgesetzes vor, dass der Bundesrat als Vertreter der Länder Mitglieder von Landesregierungen im Ministerrang benennen kann, die berechtigt sind, in Abstimmung mit dem Vertreter der Bundesregierung Erklärungen abzugeben. § 6 Abs. 2 S. 6 EUZBLG ergänzt, dass in diesen Bereichen die Bundesregierung die Verhandlungsführung in den Beratungsgremien der Kommission und des Rates und bei Ratstagungen in der Zusammensetzung der Minister in Abstimmung mit dem Vertreter der Länder ausübt. Mit der Änderung des Art. 23 Abs. 6 S. 1 GG wird die bisherige allgemeine und streitträchtige Soll-Vorschrift ersetzt, wonach eine Übertragung der Verhandlungsführung auf einen Ländervertreter stattfinden sollte, wenn im Schwerpunkt ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betroffen waren.56 Sie hatte sich aus Sicht der Länder nicht bewährt. Zum einen kam es in großer Zahl57 zu Kontroversen zwischen Bundesregierung und Bundesrat, ob entweder Gesetzgebungsbefugnisse58 oder diese im Schwerpunkt59 betroffen waren. Zum anderen mündete das daraufhin zwischen Bundesregierung und Bundesrat eingeführte Verfahren zur Vermeidung verfassungsrechtlicher Streitigkeiten im Hinblick auf die Einordnung nach Art. 23 Abs. 6 S. 1 GG60 regelmäßig auch bei unterschiedlichen Rechtsauffassungen in die Lösung, die Verhandlungsführung nicht auf einen Ländervertreter zu übertragen, sondern diesem lediglich das Recht zur Abgabe von Erklärungen im Rat mit Einverständnis mit der Bundesregierung einzuräumen.61

ter der Bundesregierung erfolgt und die Abstimmung der Verhandlungsposition mit dem Vertreter der Bundesregierung im Hinblick auf eine sich ändernde Verhandlungslage entsprechend den für die interne Willensbildung geltenden Regeln und Kriterien erfolgt. 56 Art. 23 Abs. 6 S. 1 a. F. i. V. m. § 6 Abs. 2 EUZBLG. 57 Nach den Auswertungen von Baier, Bundesstaat (Fn. 2), S. 106 in mehr als einem Drittel der Fälle. 58 Z. B. im Fall der Mitteilung der Kommission zur allgemeinen und beruflichen Bildung; vgl. Zusammenstellung des Büros des Ausschusses des Bundesrates für Fragen der Europäischen Union über die „Qualifizierte Mitwirkung des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union“ v. 6.2.2004, S. 20. 59 Z. B. im Fall des Programms zur Zusammenarbeit in der Sicherung der Qualität der Hochschulbildung; vgl. Baier, Bundesstaat (Fn. 2), S. 108 mit Nachweis weiterer Beispiele. 60 von Dewitz, Bundesrat (Fn. 2), S. 77 f. 61 Vgl. Baier, Bundesstaat (Fn. 2), S. 109 f.

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Die Neuregelung des Art. 23 Abs. 6 S. 1 GG reduziert das Streitpotential in zweierlei Hinsicht. Zum einen werden die in Betracht kommenden Fälle der Übertragung der Verhandlungsführung sachbereichsmäßig konkretisiert (schulische Bildung, Kultur, Rundfunk) und damit eingegrenzt. Hierbei kann dahinstehen, ob die teilweise Einbeziehung des Hochschulbereichs (wegen Artt. 149, 163 EGV), des Baurechts (wegen Art. 174 EGV)62 und des Polizeirechts (wegen Artt. 29 ff. EUV)63 sachgerecht gewesen wäre und § 6 Abs. 2 S. 5 EUZBLG ausreicht. In dem sachgebietlich eingegrenzten Rahmen wird allerdings allein mit der Neuregelung des Art. 23 Abs. 6 S. 1 GG das Potential von Meinungsverschiedenheiten über die spezielle Frage der Schwerpunktbetroffenheit von Gesetzgebungsbefugnissen im Einzelfall nicht überwunden. Jedoch ist, falls diese zu bejahen ist, zum zweiten die Ungewissheit der bisherigen Soll-Vorschrift64 für eine Übertragung der Verhandlungsführung beseitigt. Überdies mag das Ziel der Gesamtreform, zu einer klareren Abgrenzung der Zuständigkeiten zu kommen, auch eine Orientierung für die Haltung der Beteiligten zur Einordnung nach Art. 23 Abs. 6 S. 1 GG geben, doch ist der Erwartung, dass sich eine entsprechende Usance entwickeln könne, im Blick auf das politische Alltagsgeschehen eher mit Skepsis zu begegnen. Konzeptionell beinhaltet die Neuerung eine föderal systemrationale Außenwendung der deutschen Bundesstaatlichkeit, die ein effizientes Agieren im Interesse des Gesamtstaates bei kooperativer und professioneller Handhabung nicht beeinträchtigen muss. Der schon gegen die bisherige Fassung des Art. 23 Abs. 6 S. 1 GG erhobene Vorwurf einer systemwidrigen Durchbrechung der Bundeskompetenz für die Außenpolitik verfängt deshalb nicht, weil eine Beurteilung des Verhältnisses zwischen Mitgliedstaat und EG allein nach den Maßstäben der auswärtigen Gewalt dem historisch neuartigen Phänomen supranationaler, insbesondere legislativer Befugnisse der EG nicht voll gerecht wird65 und daher durch eine gewissermaßen innen62 Im Baurecht ist der Ausschluss wegen der internen Kompetenzverteilung und Kompetenzverschränkung für Bauplanung und Bauordnung nachvollziehbar. 63 In diesem Bereich kann es im Rahmen der dritten Unionssäule zu verpflichtenden Maßnahmen (Art. 34 EUV) kommen, wobei es sich allerdings nicht um supranationales, sondern völkerrechtliches Koordinierungsrecht handelt und im Normzweck der Artt. 29 ff. EUV das Zusammenwirken bei der Vereitelung von Straftaten und die Strafverfolgung im Vordergrund steht. 64 Vgl. zu dieser z. B. Streinz, in: Sachs, Grundgesetz (Fn. 13), Art. 23, Rdz. 114, 116 m. w. N. 65 Vgl. z. B. Randelzhofer, Albrecht, in: Maunz/Dürig u. a., Grundgesetz (Fn. 45), Art. 24 I, Rdz. 209; Jarass, Hans D., in: ders./Pieroth, Bodo, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar, 5. Aufl. 2000, Art. 23, Rdz. 62; Streinz, in: Sachs, Grundgesetz (Fn. 13), Art. 23, Rdz. 119, der allerdings für den vom Bundesrat benannten Vertreter zu Recht an das Problem der „Desorientierung der par-

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politische Komponente zu modifizieren ist. Art. 23 Abs. 6 S. 1 GG festigt die föderale Außenwendung der innerstaatlichen Kompetenzverteilung in die Ebene der EG und stärkt damit die demokratische Legitimation einschlägiger europäischer Rechtsetzung durch Überwindung der Mediatisierung der Länder durch die Bundesregierung in den sachgegenständlichen Bereichen. Konzeptionell kommt das Gesamtstaatsinteresse dadurch nicht zu kurz, da Art. 23 Abs. 6 S. 2 GG unverändert bleibt, wonach die Wahrnehmung der mitgliedstaatlichen Rechte unter Beteiligung und in Abstimmung mit der Bundesregierung zu erfolgen hat66 und dabei die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes zu wahren ist. Ausgangspunkt, aber nicht ausschließlicher Orientierungspunkt für das inhaltliche Gesamtstaatsinteresse ist in diesem Fall die Position des (die Länder bundesrechtlich zusammenführenden) Bundesrates. Die Übertragung der Verhandlungsführung an einen Ländervertreter bietet zudem die Chance, Unmut oder Widerstand der Länder gegen eine im einschlägigen Bereich ihrer ausschließlichen Zuständigkeit getroffene gemeinschaftsrechtliche Regelung, der in ihrer gänzlichen Zurücksetzung auf europäischer Ebene wurzelte67 und auch in einem gewissen Wertungwiderspruch zu Art. 32 Abs. 3 GG68 stünde, zu vermeiden. Dieses Problem würde auch nicht durch Inkrafttreten der Art. 6 und 7 des 2. Protokolls zum Verfassungsvertrag mit ihrer Einbeziehung der sogenannten Kammern der nationalen Parlamente in das Frühwarnsystem unionaler Gesetzgebung beseitigt. Insoweit kann die Neuregelung des Art. 23 Abs. 6 S. 1 GG integrationsdienliche Wirkung entfalten. Den im Zuge der Reform teils geäußerten Effizienzbedenken einer Verhandlungsführung durch einen Ländervertreter69 wird der Bundesrat durch eine überzeugende Professionalisierung der Wahrnehmung dieser Aufgabe zu begegnen haben. Insbesonlamentarischen Verantwortung“ erinnert, das u. a. von Badura, Peter (Festschrift Redeker, 1993, S. 126 f.) thematisiert wurde. 66 Unklar ist freilich der Begriff der „Abstimmung“; vgl. dazu z. B. Streinz, in: Sachs, Grundgesetz (Fn. 13), Art.23, Rdz. 117. 67 Zu den strukturellen Besorgnissen der Länder im Zuge der Supranationalisierung vgl. Müller-Graff, Involvement, (Fn. 2), I. 2. 68 Zu dieser Spezialität des deutschen Föderalismus im Bereich der auswärtigen Beziehungen vgl. Müller-Graff, Peter-Christian, La Fonction Représentative d’un Etat fédéral dans l’Union Européenne, in: Festschrift für Roland Bieber, 2007. 69 Ausführliche Darstellung der Bedenken (u. a. Mangel an Erfahrung mit europäischen Verhandlungen, fehlendes Netzwerk; allgemein zur deutschen Vertretung: Mangel an flexibler Verhandlungsführung auf europäischer Ebene wegen innerstaatlicher Abstimmungsnotwendigkeit mit zu vielen Akteuren) und deren unterschiedliche Bewertung (so zog ein von Länderseite durch Rheinland-Pfalz im März 2004 eingebrachtes Papier eine „durchweg positive Bilanz der zehnjährigen Bilanz mit Art. 23 GG“) sowie der unterschiedlichen rechtspolitischen Vorschläge und Kompromissvorschläge in der Bundesstaatskommission bei Eppler, Europafähigkeit (Fn. 4), S. 77 ff., 83 ff. m. w. N.

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dere bietet sich an, für die Vertretung im Rat einige Länderminister als regelmäßig betraute Spezialisten heranzubilden. Damit lässt sich in der Neufassung des Art. 23 Abs. 6 S. 1 GG durchaus eine Verbesserung des zur Außenwendung der Bundesstaatlichkeit geeigneten Konzepts erkennen. Sie vermittelt der europäischen Rechtsetzung zugleich Legitimationsgewinn und kann insgesamt integrationsdienlich wirken. Sie bietet die Chance, das Querelenpotential der bisherigen allgemeinen Soll-Vorschrift durch eine sachgebietlich konkretisierte und dadurch eingegrenzte Regelung der Übertragung der Verhandlungsführung auf einen Ländervertreter zu begrenzen. Auch wenn die Vertretungsregelung die interne Kompetenzlage nur ausschnittsweise, nicht aber umfassend abbildet, kann sie als plausibler Kompromiss gelten. Sie steht auch nicht der Tendenz des Verfassungsvertrages entgegen, Fachministerräte zu begrenzen (Art. I-24 Abs. 1 und 4 VVE), da dadurch nicht das mitgliedstaatliche Bestimmungsrecht über seine individuelle oder funktionale Repräsentation bei einzelnen Tagesordnungspunkten begrenzt wird, die ungeachtet der institutionellen Ausgestaltung des Rates fachkundig und legitimiert zu beraten und verhandeln sind. Dem Bundesrat kommt die Aufgabe zu, die Professionalisierung und Effizienz der Verhandlungsführung durch einen Ländervertreter zu gewährleisten. b) Beschlusskompetenz der Europakammer Die Beschlussfassung der Europakammer des Bundesrates ist durch Änderung des Art. 52 Abs. 3a GG neu geregelt worden. Die bisherige Anordnung der entsprechenden Geltung des Art. 51 Abs. 2 und 3 S. 2 GG wurde durch die Festlegung ersetzt, dass die Anzahl der einheitlich abzugebenden Stimmen der Länder sich nach Art. 51 Abs. 2 GG bestimmt. Der inhaltliche Kern dieser Neuregelung liegt allein in der Beseitigung des bislang bestehenden Erfordernisses der in Art. 51 Abs. 3 S. 2 GG vorgesehenen Stimmabgabe nur durch anwesende Mitglieder oder deren Vertreter. Damit wird die Möglichkeit geschaffen, dass die Europakammer Beschlüsse nunmehr auch im schriftlichen Verfahren fassen kann.70 Ob dies der Europakammer insgesamt zu größerer Bedeutung verhilft,71 bleibt abzuwarten. Unverändert und lediglich in redaktionell neue Form gebracht 70

Vgl. BT-Drs. 16/813, S. 10; allgemein zur Europakammer des Bundesrates vgl. Fischer, Wolfgang/Koggel, Claus Dieter, Die Europakammer des Bundesrates, DVBl. 2000, 1742 ff. 71 Kritisch zur bisherigen Bilanz der Europakammer und für deren Abschaffung Pernice, Ingolf, Bund-Länder-Koordinierung zur Europapolitik, EHI-Papier 10/04, S. 3, 5.

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bleibt hingegen das unter dem Gesichtspunkt der Europatauglichkeit neutrale Erfordernis, dass Stimmen nur einheitlich abgegeben werden können,72 und ebenso die für die Europatauglichkeit gleichfalls neutrale Bestimmung des Stimmgewichts, für die weiterhin auf Art. 51 Abs. 2 GG Bezug genommen wird. Im Ergebnis werden durch diese Neuregelung die Beschlussmöglichkeiten der Europakammer des Bundesrates gesteigert. Dies kann bei entsprechender Nutzung sowohl dem effizienten Agieren der Bundesrepublik in für den Bundesrat einschlägigen Angelegenheiten der Europäischen Union als auch der effizienten europäischen Außenwendung der inneren föderalen Zuständigkeit und Legitimation dienen. Die Neufassung des Art. 52 Abs. 3a GG beinhaltet eine dazu taugliche Lösung. c) Nationaler Stabilitätspakt Die Anordnung der gemeinsamen Verantwortlichkeit für die Einhaltung der gemeinschaftsrechtlich verpflichtenden Haushaltsdisziplin ist Gegenstand des neuen Art. 109 Abs. 5 GG. Danach gilt, dass Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland aus Rechtsakten der EG auf Grund des Art. 104 EGV zur Einhaltung der Haushaltsdisziplin von Bund und Ländern gemeinsam zu erfüllen sind. Zugleich wird als im Verhältnis zum neuen Art. 104 Abs. 6 GG spezielle Regelung festgelegt, dass Sanktionsmaßnahmen der EG von Bund und Ländern im Verhältnis von 65 zu 35 zu tragen sind und dass die Ländergesamtheit solidarisch 35 vom Hundert der auf die Länder entfallenden Lasten entsprechend ihrer Einwohnerzahl trägt, wohingegen 65 vom Hundert der auf die Länder entfallenden Lasten die Länder entsprechend ihrem Verursachungsbeitrag tragen. Mit dieser Bestimmung wird verfassungspositives Neuland betreten, um die Verpflichtungen der Bundesrepublik aus dem sogenannten Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt73 grundsätzlich und mit quantifizierten Vorgaben ausdrücklich in die innere föderal aufgeteilte Verantwortung zu stel72 Sprachlich in die Neufassung des Art. 52 Abs. 3a GG integriert statt des bisherigen Verweises auf Art. 51 Abs. 3 S. 2 GG. 73 Der Europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt setzt sich zusammen aus den zur Effektuierung des Art. 104 EGV erlassenen VO (EG) Nr. 1466/97 (ABlEG L 209 v. 2.8.1997, S. 1) und VO (EG) Nr. 1467/97 (ABlEG L 209 v. 2.8.1997, S. 6) sowie der Entschließung des Europäischen Rates v. 17.6.1997 (ABlEG C 236 v. 2.8.1997, S. 1). Zur bisherigen Diskussion über einen nationalen Stabilitätspakt vgl. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Die europäischen Verschuldensregeln und der nationale Stabilitätspakt, WF X-046/05, S. 11 ff. (Otto Singer); Bredt, Stephan, Der europäische „Stabilitätspakt“ benötigt mitgliedstaatliche Verankerung, EuR 2005, 104 ff.

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len. Denn in der Verpflichtung der Mitgliedstaaten aus Art. 104 Abs. 1 EGV, übermäßige öffentliche Defizite zu vermeiden, bedeutet „öffentlich“ laut Art. 2 des Protokolls über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit „zum Staat, d. h. zum Zentralstaat (Zentralregierung), zu regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften oder Sozialversicherungseinrichtungen gehörig“74. Gemäß Art. 3 des Protokolls sind die Regierungen der Mitgliedstaaten im Rahmen dieses Verfahrens für die Defizite des Staatssektors der EG gegenüber verantwortlich.75 Ob die Länder dadurch gemeinschaftsrechtlich unmittelbar in die Pflicht genommen sind, ist zweifelhaft.76 Innerhalb der Bundesrepublik erwuchs aus dem grundgesetzlichen Prinzip der Trennung und Selbständigkeit der Haushaltswirtschaft von Bund und Ländern (Art. 109 Abs. 1 GG77) die Frage nach der verfassungs- oder einfachrechtlichen Möglichkeit der Inpflichtnahme der Länder für die gemeinschaftsrechtlich verbindliche Haushaltsdisziplin,78 die hier nicht im einzelnen nachzuzeichnen ist und im Schrifttum überwiegend mit einer aus der Bundestreue abgeleiteten verfassungsrechtlichen Pflicht der Länder beantwortet wurde, an der effektiven Umsetzung der Haushaltsdisziplin im Rahmen ihrer Zuständigkeiten mitzuwirken.79 Allerdings bildete sich gleichermaßen die weitgehend geteilte Ansicht heraus, dass das Grundgesetz keine geeignete Grundlage biete, um die den Bund bindenden gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben innerstaatlich auch gegenüber den Ländern durchzusetzen,80 unbeschadet einer gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung der Ermächtigung des Art. 109 Abs. 3 GG, durch Bundesgesetz für Bund und Länder gemeinsam geltende Grundsätze für das Haushaltsrecht, für eine konjunkturgerechte Haushaltswirtschaft und für eine mehrjährige Finanzplanung aufzustellen.81 Im Vergleich zur bisherigen Verfassungslage schafft die Ein74

ABlEG C 191 v. 29.7.1992, S. 84. Vgl. dazu Ongena, Hedwig, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV (Fn. 11), Art. 104 EG, Rdz. 34. 76 Vgl. Siekmann, Helmut, in: Sachs, Grundgesetz (Fn. 13), Art. 109, Rdz. 54. 77 Dazu im einzelnen ebda, Art. 109, Rdz. 3 ff. 78 Ebda., Rdz. 52 ff. 79 Statt aller Stern, Klaus, Die Konvergenzkriterien des Vertrags von Maastricht und ihre Umsetzung in der bundesstaatlichen Finanzverfassung, in: Festschrift für Ulrich Everling, 1995, S. 1480, 1481; Höfling, Wolfrum, Verfassungsrechtliche und gemeinschaftsrechtliche Zentralfragen der Staatsverschuldung, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1995, 421, 441; Häde, Verteilung (Fn. 2), S. 51 f. m. w. N. 80 Statt aller Siekmann, Helmut, in: Sachs, Grundgesetz (Fn. 13), Art. 109, Rdz. 52 m. w. N. 81 So sieht Häde, Verteilung (Fn. 2), S. 81, den Bund durch nachvollziehbare gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des Art. 109 Abs. 3 GG ermächtigt, „durch finanzwirtschaftliche Kennziffern bezeichnete Grenzen auch im Hinblick auf die Vermeidung übermäßiger öffentlicher Defizite festzulegen“, räumt aber zugleich ein, dass die Einhaltung solcher Grenzwerte nicht erzwingbar ist und begründet für den 75

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fügung von Art. 109 Abs. 5 GG nunmehr die seit langem geforderte ausdrückliche verfassungsrechtliche Klarheit der gemeinsamen Verantwortlichkeit von Bund und Ländern für die gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung der Bundesrepublik zur Vermeidung übermäßiger öffentlicher Defizite. Zugleich wird die Verteilung der Lastentragung im Falle von Sanktionsmaßnahmen der EG verfassungsrechtlich vorgespurt. Angesichts der Verflechtungen der bundesstaatlichen Finanzverfassung sinnfällig führt Art. 109 Abs. 5 GG den Grundsatz der gemeinsamen Lastentragung ein und quotiert zugleich die anteilige Verteilung von Sanktionszahlungen sowohl auf Bund und Länder als auch zwischen den Ländern (hierbei zum kleineren Teil nach dem Solidarprinzip entsprechend ihrer Einwohnerzahl und zum größeren Teil nach dem Verursacherprinzip), überlässt aber die Einzelheiten der Ausführungsgesetzgebung, die sich derzeit im Sanktionszahlungs-Aufteilungsgesetz (SZAG) findet. Die damit gefundene Lösung eines verfassungsrechtlich bislang nicht mit hinreichender Klarheit gelösten schwerwiegenden Problems der innerföderalen Verantwortlichkeit für die gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen zur Haushaltsdisziplin ist eine anerkennenswerte systemrationale Lösung. Der sich darin spiegelnde Gedanke eines verfassungsrechtlich über die Kombination aus dem Grundsatz der gemeinsamen Verantwortung und operationabler Lastenverteilungsregeln im Sanktionsfalle abgesicherten nationalen Stabilitätspakts bietet die Chance, die Erfüllung der gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik zu fördern. Die verfassungsrechtliche Verankerung ermöglicht naturgemäß ein verlässlicheres Maß an Dauerhaftigkeit als eine einfach-gesetzliche Festlegung. Die vorgesehenen Quotierungen werden in ihren Funktionswirkungen im Einzelnen zu beobachten sein. d) Allgemeine interne Haftungsverantwortlichkeit Die im Verhältnis zu Art. 109 Abs. 5 GG allgemeine interne Haftungsverantwortlichkeit von Bund und Ländern ist Gegenstand des neuen Art. 104a Abs. 6 GG. Danach tragen Bund und Länder nach der innerstaatlichen Zuständigkeits- und Aufgabenverteilung die Lasten einer Verletzung von supranationalen oder völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands. Zugleich wird festgelegt, dass in Fällen länderübergreifender Finanzkorrekturen der EU Bund und Länder diese Lasten im Verhältnis 15 zu 85 tragen und die Ländergesamtheit in diesen Fällen solidarisch 35 vom Hundert der Fall der Nichteinhaltung aus gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung des Art. 109 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 die Möglichkeit des Bundes zu einem verstärkten Eingreifen in die Haushaltswirtschaft der Länder.

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Gesamtlasten entsprechend einem allgemeinen Schlüssel trägt, während 50 vom Hundert der Gesamtlasten diejenigen Länder tragen, die die Lasten verursacht haben, anteilig entsprechend der Höhe der erhaltenen Mittel. Auch diese Regelung klärt eine verfassungsrechtlich bislang offene82 schwerwiegende Frage zwischen Bund und Ländern, die insbesondere aus der Mitgliedschaft der Bundesrepublik in der EG resultiert, aber auch anderen völkerrechtlichen Bindungen entstammen kann: die innerstaatliche Lastentragung im Falle finanzwirksamer Entscheidungen zwischenstaatlicher Einrichtungen wegen einer Verletzung supranationaler oder völkerrechtlicher Pflichten, namentlich in Gestalt von sogenannten Finanzkorrekturen durch die EG im Falle fehlerhafter Verausgabung von EG-Mitteln (sogenannte Anlastungen83) und in Form der Verhängung von Zwangsgeldern oder Pauschalbeträgen durch die EG (Art. 228 EGV84), aber auch bei Verurteilungen durch den EGMR. Ähnlich wie im Bereich der gemeinschaftsrechtlichen Pflichten zur Haushaltsdisziplin hatten sich auch hier Meinungsverschiedenheiten zwischen Bund und Ländern in der Frage herausgebildet, wer im Falle derartiger finanzwirksamer Entscheidungen innerstaatlich die Lasten zu tragen habe.85 Eine spezifisch diese Frage aufnehmende verfassungsrechtliche Regelung fehlte. Der neue Art. 104a Abs. 6 GG unterscheidet einen Grundsatz und eine Ausnahme für einen Sonderfall. Im Grundsatz gilt danach in systemrationaler Stimmigkeit zur föderalen Ordnung das Verursacherprinzip, genauer das Prinzip der innerstaatlichen Zuständigkeits- und Aufgabenverteilung für die Umsetzung von supranationalem Recht oder Völkerrecht (Artt. 30, 70 ff., 83 ff. GG), auch für die Verteilung der Lasten aus der Verletzung von supranationalen oder völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands. Folgerichtig ist die innerstaatliche Verantwortung im Verhältnis von Bund und Ländern oder der Länder untereinander derjenigen Gebietskörperschaft zuzuweisen, die für die Verletzung der sachgegenständlich betroffenen Verpflichtung verantwortlich ist. 82 Vgl. zur bisherigen Rechtslage BVerfGE 109, 1 ff.; BVerwG 104, 29 ff.; Kaufmann, Marcel, Bewegung im Streit um die Bund-Länder-Verwaltungshaftung – Zum Beschluß des BVerfG im Bund-Länder-Streit zwischen Mecklenburg-Vorpommern und der Bundesrepublik Deutschland vom 7.10.2003, NVwZ 2004, 438 ff.; Meyer, Hubert/Luttmann, Maik, EU-Anlastungsrisiko als Haftungsproblem zwischen Staat und Kommunen, NVwZ 2006, 144 ff. 83 Vgl. etwa Art. 7 Abs. 4 VO 1258/99; zum Institut der Anlastung Häde, Verteilung (Fn. 2), S. 24 ff. 84 Vgl. dazu Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), Vertrag (Fn. 11), Art. 228 EG, Rdz. 17 ff., 22 f. 85 Vgl. BT-Drs. 16/813, S. 19; zur komplizierten Rechtslage bei sog. Anlastungen vor der Reform vgl. Häde, Verteilung (Fn. 2), S. 23, 38 f.

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Von diesem Verursacherprinzip abweichend enthält Art. 104a Abs. 6 GG zugleich eine Spezialregel für den Fall der länderübergreifenden Finanzkorrektur der EU. Sie liegt vor, wenn eine Finanzkorrektur durch die Kommission wegen eines Fehlers identischer Verwaltungs- und Kontrollsysteme aller durchführender Länder erfolgt, ohne dass die Prüfung im einzelnen jedes Land erfasst86 (der neue § 7 Abs. 4 EUZBLG enthält hierzu eine Rechtsmittelausübungsregelung). Art. 104a Abs. 6 GG führt hier für 50% der Gesamtlast eine Solidarhaftung ein, wobei 15% auf den Bund und 35% auf die Ländergesamtheit entsprechend einem allgemeinen Schlüssel entfallen. Das zugrundeliegende Prinzip lässt sich aus der freilich etwas pauschalen Prämisse einer gesamtstaatlichen Verbundenheit bei der Entstehung gleichförmiger Verwaltungs- und Kontrollsysteme rechtfertigen. Stimmig zum Gedanken sanktionierbarer Verantwortlichkeit in einer föderalen Ordnung wird die andere Hälfte der Gesamtlasten unter den Ländern nach dem Verursacherprinzip anteilig entsprechend der Höhe der erhaltenen Mittel verteilt,87 wobei die Einzelheiten wiederum der Ausführungsgesetzgebung aufgegeben sind, die sich im Lastentragungsgesetz (LastG) findet. Auch die mit Art. 104a Abs. 6 GG gefundene Lösung des Lastenverteilungsproblems nach dem allgemeinen oder eingeschränkten Verursacherprinzip bei finanzwirksamen Entscheidungen einer zwischenstaatlichen Einrichtung infolge der Verletzung supranationaler und völkerrechtlicher Verpflichtungen der Bundesrepublik ist konzeptionell geeignet, die Erfüllung derartiger Verpflichtungen zu fördern, wobei auch hier die Funktionswirkungen der vorgesehenen Quotierungen im einzelnen zu beobachten sein werden. Die ausdrückliche verfassungsrechtliche Zuordnung der Haftungsverantwortlichkeit führt vor Augen, dass mit ihr im Falle der Verletzung einer Pflicht im eigenen Zuständigkeits- und Aufgabenbereich haushaltswirksam zu rechnen ist und damit auch Rügen des zuständigen Rechnungshofes zu erwarten sind. Dies schafft einen Anreiz zu gemeinschaftsrechtskonformer Umsetzung und dient zugleich der Schärfung der jeweiligen spezifischen Verantwortung für die ordnungsgemäße Verwirklichung des Gemeinschaftsrechts innerhalb der föderalen Ordnung. e) Abschaffung der Rahmengesetzgebung Die Reform beinhaltet auch die Abschaffung der Kategorie der Rahmengesetzgebung des bisherigen Art. 75 GG88 und die überwiegende Überführung deren bisheriger Materien in die konkurrierende Gesetzgebung unter 86 87 88

Vgl. BT-Drs. 16/813, S. 19. Art. 104a Abs. 6 S. 2, 2. Hs. GG. Vgl. Art. 1 Nr. 8 des Grundgesetzänderungsgesetzes.

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Eröffnung einer Abweichungskompetenz der Länder,89 vereinzelt in die ausschließliche Zuständigkeit entweder des Bundes90 oder der Länder91 oder in die konkurrierende Zuständigkeit ohne Abweichungsmöglichkeit.92 Die bisherige Rahmengesetzgebungskompetenz hatte bekanntlich zahlreich zu Streitfragen geführt und einen eklatanten Mangel an klarer Abgrenzung der Legislativkompetenzen von Bund und Länder aufgewiesen.93 Unter dem Gesichtspunkt der Europatauglichkeit begründet die Abschaffung der Rahmengesetzgebung für die legislative Umsetzung von Gemeinschaftsrecht keine strukturell neuartigen Probleme. Soweit Materien der ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes oder der Länder oder der konkurrierenden Gesetzgebung ohne Abweichungsmöglichkeit zugeordnet werden, findet, soweit sie überhaupt von Rechtsakten der EG betroffen werden können, eine sachgegenständliche Erweiterung der jeweils herkömmlichen Umsetzungszuständigkeit statt. Im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung entfällt die Erforderlichkeitsprüfung. Soweit ein Sachbereich zu einem Gegenstand konkurrierender Gesetzgebung mit Abweichungsrecht wird (eine auffällige Optionsparallele zu Art. 95 Abs. 4 und 5 EGV im Bereich binnenmarktfinaler Rechtsangleichung94 für das Verhältnis von gemeinschaftlicher und mitgliedstaatlicher Rechtssetzung), tritt für die gemeinschaftsrechtlich erforderliche Umsetzung keine schwierigere Lage ein als in gegenwärtigen Bereichen ohne legislative Bundeskompetenz. Für diese ließen sich aber keine signifikanten spezifischen Schwierigkeiten nachweisen.95 Im Unterschied zu Bereichen ohne Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes bietet eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz trotz Abweichungsrecht sogar eine doppelte Chance zur Förderung konformer Umsetzung: zum einen die Möglichkeit zu einer zügigen gemeinschaftskonformen Umsetzung durch den Bund und zum anderen die Möglichkeit, vorweg einen Orientierungspunkt für den gemeinschaftsrechtlich zu beachtenden Standard im Falle des Abweichens durch ein Land zu setzen.

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Art. 72 Abs. 3 GG neu. Vgl. Art. 73 Ziff. 3 und 5a GG. 91 Vgl. bisherige Bereiche von Art. 75 Abs. 1 Ziff. 1 (teilweise), 1a (teilweise), 2 GG. 92 Vgl. Art. 74 Abs. 1 Ziff. 27 GG. 93 Vgl. dazu im Einzelnen z. B. Lindner, Josef Franz, Die Rahmengesetzgebung nach Art. 75 GG – Grundlagen, Strukturen, Probleme, JuS 2005, 577 ff.; Degenhart, Christoph, in: Sachs, Grundgesetz (Fn. 13), Art. 75 GG. 94 Zur spezifischen Struktur dieses Ausscherrechts eines einzelnen Mitgliedstaats vgl. Müller-Graff, Peter-Christian, Die Rechtsangleichung zur Verwirklichung des Binnenmarkts, EuR 1989, 107, 144 ff. 95 Vgl. oben I. 1. Fn. 19. 90

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IV. Ergebnis Insgesamt lassen sich daher der grundgesetzlichen Föderalismusreform des Jahres 2006 insgesamt teils deutliche Verbesserungen, teils Chancen zur Verbesserung der „Europatauglichkeit“ des deutschen Föderalismus im Interesse dessen innerer und äußerer Behauptung bescheinigen. Darin liegt zugleich eine Chance zur Stärkung der Funktionsfähigkeit der Europäischen Union, die dem Subsidiaritätsprinzip verpflichtet ist.

Neugliederung des Bundesgebietes Verfassungsreformanstrengungen und die Mitwirkung des Jubilars dabei Von Edzard Schmidt-Jortzig Rupert Scholz hat die stete Erneuerung der Staatsverfassung, ihre Anpassung an die sich wandelnden Verhältnisse, ohne dass sie ihre Steuerungskraft verliert, zu seiner beruflichen Lebensaufgabe gemacht. Seine jüngste Monographie „Deutschland – In guter Verfassung?“1 spiegelt dies eindrucksvoll wieder, wenn dort mit heißem Herzen die verschiedenen Veränderungsbedürfnisse der Grundordnung aufgedeckt werden. Aber überhaupt der Sprung aus der Staatsrechtswissenschaft in die Politik, den Scholz schon vor über 25 Jahren tat, bezieht hierher seine Motivation und die wissenschaftliche Arbeit ihren spezifischen Ansatz. Kein Wunder also auch, dass Rupert Scholz bei den letzten beiden großen Anstrengungen zur Verfassungsreform eine führende Rolle gespielt hat. In der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat 1991/93 hat er den Co-Vorsitz innegehabt, und bei der Föderalismusreformkommission von 2003/04 hat er die Dinge mit vielfältigen Beiträgen als Sachverständiges Mitglied zu lenken versucht. Beide Male spielte die territoriale Neuordnung eine wichtige Rolle, wenngleich oft eher hintergründig. 1993 brachte die Kommission immerhin noch eine gewisse Öffnung zustande, als sie (u. a.) den Vorschlag einer erleichterten ländereigenen Initiativermöglichung unterbreitete, der dann zu dem neuen Art. 29 Abs. 8 GG führte.2 2004 hingegen wurden alle Neugliederungserörterungen a priori abgewehrt, obgleich reihum unübersehbar war, dass eine ernsthafte Remedur des Föderalismus in Deutschland nicht ohne die Neugliederungsfrage zu erreichen war. Man befürchtete augenscheinlich (und gewiss nicht zu Unrecht), dass ein Anreißen dieses Themas verschiedene Länder sogleich in grundsätzliche Abwehrhaltung treiben könnte und 1

Heidelberg 2004. Art. 1 Nr. 4 des (42.) Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes v. 27.10.1994 (BGBl. I S. 3146). Zu den drei vorangegangenen Fassungen von Art. 29 GG: Greulich, Susanne, Länderneugliederung und Grundgesetz (1995), S. 30 ff., 92 ff., 120 ff. 2

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damit auch andere Einigungen unmöglich gemacht würden. Der Bremer Bürgermeister (Präsident des Senats), Henning Scherf, etwa hatte schon in der ersten Arbeitssitzung der Kommission erklärt: „Wenn hier die Frage der Länderneugliederung ernsthaft thematisiert werden soll, wird Bremen seine Mitarbeit einstellen“.3 I. Erfordernis leistungsfähiger Länder im Bundesstaat Dass Prosperität und Effektivität des Föderalismus Glieder braucht, die „nach (ihrer) Größe und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Aufgaben wirksam erfüllen können“, ist eigentlich unstreitig. Diese Grundvoraussetzung liegt gewissermaßen auf der Hand, und zwar nicht nur, weil Art. 29 Abs. 1 GG den Topos bei aller sonstigen Veränderung immer unmissverständlich herausgestellt hat. Vielmehr sind auch die darauf hinweisenden inneren Notwendigkeiten und systematischen Funktionsbedingungen im Bundesstaat unübersehbar. 1. Theoretische Anlegung Schon verwaltungswissenschaftlich könnte man ein Organisationsraster entwerfen, mit welchem ein Gebiet und eine Bevölkerungsgröße wie die der Bundesrepublik Deutschland sich in einer zweiten, strukturell etwa gleichgestellten Ebene wirklich optimal unterteilen und verwalten ließe. Bei ca. 82 Mio. Menschen auf ca. 357.000 qkm Fläche dürfte das wohl auf eine Zahl von 6–12 reißbrettmäßig etwa ähnlich situierte Länder hinauslaufen.4 Vergleiche mit europäischen regionalen Staatsuntergliederungen dürften dabei eher in die erste Hälfte dieses „Korridors“ führen. Indessen ist das Kriterium „Größe“ nach Art. 29 Abs. 1 Satz 1 GG kein absoluter Richtbegriff oder auch nur eine dominante Vorgabe, die den beiden anderen normativen Oberzielen „Leistungsfähigkeit“ und „Erfüllenkön3 Im offiziellen Protokoll der Sitzung v. 7.11.2003 ist diese Passage freilich nicht aufgeführt worden. 4 In der Euphorie errechenbarer Idealgrößen (vgl. Wagener, Frido, Neubau der Verwaltung. Gliederung der öffentlichen Aufgaben und ihrer Träger nach Effektivität und Integrationswert, 1969) arbeitete auch etwa die Sachverständigenkommission für die Neugliederung des Bundesgebietes (sog. „Ernst-Kommission“) 1970–72 mit entsprechenden Mindestgrößen; vgl. Bericht der Sachverständigenkommission (sog. „Ernst-Gutachten“), 1973, Tz. 102 und 194 (S. 50, 85). Danach sollten in der (alten) Bundesrepublik 5 oder 6 Länder bestehen mit jeweils mehr als 5 Mio. Einwohnern (Mindestgröße). – Zum politisch ökonomischen Richtmaßstab Hohmann, Harald, Der Verfassungsgrundsatz der Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse im Bundesgebiet. Erläutert am Beispiel der fünf neuen Bundesländer, in: DÖV 1991, S. 191 (193).

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nen (der) obliegenden Aufgaben“ den entscheidenden Bezug lieferte. Vielmehr sind alle drei Begriffe miteinander verknüpft und beschreiben ein gemeinsames Richtmaß, das nur eben von verschiedenen Seiten gekennzeichnet wird. Die „Größe“ der Länder ist also nur insoweit maßgeblich, als sie für die Leistungsfähigkeit und die Aufgabenbewältigung Bedeutung erlangt.5 Mit anderen Worten: Ist die aufgabenbezogene Leistungsfähigkeit eines Landes nicht zu bemängeln, so wird es in seinem quantitativen Zuschnitt vollauf zu akzeptieren sein, auch wenn es, was die Gebietsgröße und die Bevölkerungszahl anbetrifft, die errechnete Optimalgröße bei weitem nicht erreicht. Oder umgekehrt: Selbst das größenmäßig noch so ideal anmutende Land müsste bei Neugliederungen zur Disposition stehen, wenn es organisatorisch und betriebwirtschaftlich einfach nicht als leistungsfähig und aufgabengerecht erscheint. Bei aller Relativierung bzw. Entisolierung der Richtbegriffe ist man sich allerdings darüber einig, dass in der Regel „nur große und leistungsfähige Länder die ihnen obliegenden Aufgaben wahrnehmen und damit die föderative Grundordnung des Staates dauerhaft gewährleisten können“.6 Normativ treten indes noch wichtige nichtquantitative Maßgaben hinzu. Dazu gehört zunächst die raum- wie landesplanerische Passförmigkeit der Gliederungseinheiten. Dabei ist dies dem Umstand geschuldet, dass jedes Bundesland immer auch ein Teil des Gesamtraumes Bundesrepublik Deutschland ist, also mit seiner Formierung zugleich eine bestimmte Strukturierung des Bundesgebietes erfolgt. Und dies soll eben nicht bloß statisch zur Kenntnis genommen werden, sondern im Interesse der Menschen, denen ja alle Anstrengungen des Staates letztlich gelten, zu einer „gesunden Entwicklung“ der Lebensverhältnisse führen, im Einzelnen wie im ganzen. Sinnvolle Bundesraumordnung ist deshalb nur denkbar, wenn schon die Landesgebiete sich organisch in das Gesamte integrieren.7 Und natürlich sollte dann ein Land auch für sich selber, d. h. für seine Binnenordnung einen stimmigen und weiter gliederungsfähigen Bezug abgeben können.8 Eine 5

Ähnlich Herzog, Roman, (1977), in: Maunz/Dürig, GG. Kommentar (1958 ff.), Art. 29, Rdn. 40; oder Kunig, Philipp, in: v. Münch/Kunig, GG-Kommentar, Bd. II (5. Aufl. 2001), Art. 29, Rdn. 16. 6 Stolorz, Christian, Bedrückende Entwicklungsperspektiven des Föderalismus im vereinigten Deutschland, in: ZParl 28 (1997), S. 311 (321). 7 Nachdem die vielfältigen Leitvorstellungen, mit denen Raumordnung der BR. Deutschland zu erfüllen ist, im einzelnen aufgezählt sind, heißt es in § 1 III Bundesraumordnungsgesetz: „Die Entwicklung, Ordnung und Sicherung der Teilräume soll sich in die Gegebenheiten und Erfordernisse des Gesamtraumes einfügen“. 8 Z. B. § 1 I Nr. 1 Landesplanungsgesetz SH: Die Landesplanung soll eine „den Schutz der natürlichen Grundlagen des Lebens, sowie die wirtschaftlichen sozialen und kulturellen Erfordernisse beachtende Ordnung des Raumes auf- und feststellen und die Raumordnungspläne fortlaufend der Entwicklung anpassen“.

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Anleihe beim Sozialstaatsprinzip, wie sie immer wieder vorgenommen wird,9 ist für diese Erkenntnisse gar nicht mehr notwendig. Die „wirtschaftliche Zweckmäßigkeit“ als Richtpunkt für die territoriale Gliederung sodann ist in einem weiten, die finanziellen Bedingungen mit einbeziehenden Sinne zu verstehen. Da nach der Verfassungskonzeption die Länder es sein sollen, die in Deutschland „die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben“ zuvörderst wahrnehmen (Art. 30 GG), ist schon normativ ihre entsprechende Leistungsfähigkeit ebenso Voraussetzung wie ihre „finanzielle Lebensfähigkeit“ (Art. 115c Abs. 3 GG). Während letzteres schon eine existentielle Mindestbedingung ist, bedeutet ersteres ein funktionelles Erfordernis. Als schwierigstes Zusatzkriterium – weil nicht mehr objektiv bestimmbar, sondern stark subjektiv geprägt – erscheint zuletzt die tunliche gesellschaftlich-historisch-kulturelle Homogenität der einzelnen Glieder. Die Menschen müssen sich demnach in ihrem jeweiligen Bundesland wohlfühlen und ein eigenes Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln können. Im Grundgesetztext wird dies mit dem Aspekt der „landsmannschaftlichen Verbundenheit (sowie der) geschichtlichen und kulturellen Zusammenhänge“ thematisiert (Art. 29 Abs. 1 Satz 2). 2. Praktische Erfordernisse Dass im Übrigen die Länder untereinander einigermaßen äquivalent, einander entsprechend sein sollten, damit nicht sogleich Über- und Unterordnungen angelegt sind, ist ein Gebot der praktischen funktionellen Vernunft. Wer von vornherein auf Entgegenkommen und Unterstützung eines anderen angewiesen ist, wird nie das Selbstbewusstsein und die Handlungsfähigkeit erlangen, wie sie jener andere aufweist. Naturgegebene Inferioritäten, aufwendige Ausgleichsinstrumente und praktische Kooperationsbehinderungen sind die Folge. Natürlich kann es dabei nicht um die Forderung formeller Gleichheit gehen, denn bestimmte strukturelle Unterschiede sind schon aus geographischen, klimatischen und bei den Menschen vielleicht mentalitätsmäßigen Gründen vorgegeben. Aber materiell ähnliche, vergleichbare, „gleichwertige“ Verhältnisse (um die begriffliche Entgegensetzung zur „Einheitlichkeit“ bei den zur Befugniszumessung maßgeblichen ‚Lebensverhältnissen im Bundesgebiet‘ nach Art. 72 Abs. 2 und 106 Abs. 3 Satz 4 Nr. 2 GG aufzunehmen) sind gewiss erwünscht. Im Übrigen gilt das bundesstaatliche Äquivalenzziel auch vertikal, d. h. zwischen Bund und Ländern, wenngleich zur Klärung der meisten Konkur9 Siehe etwa Ernst-Gutachten (Fn. 4), S. 53 f.; Herzog, in: Maunz/Dürig (Fn. 5), Art. 29, Rdn. 36.

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renzfragen (beispielsweise bei gegenläufigen Normierungsabsichten) ein Vorrangverhältnis zugunsten des Bundes angelegen ist. Für ein konstruktives Zusammenspiel der bundesstaatlichen Ebenen braucht der Bund aber auf Länderebene angemessene, gleichwertige Partner. Schließlich sollen die beiden Stufen zum Wohle des Gesamtgemeinwesens zusammenwirken, sich anregen, ergänzen, auch kontrollieren. Und wenn ein Land wegen permanenter existentieller Finanznotlagen über die Bedarfszuweisungen faktisch ein Kostgänger des Bundes ist, sind eigenständige Impulse von ihm kaum zu erwarten. Es geht um Ebenbürtigkeit der bundesstaatlichen Partner, damit Ideen angestoßen, Synergieeffekte erzeugt und unterschiedliche Fähigkeiten zusammengeführt werden können. II. Normative Ausgangslage für eine Territorialreform Als Rupert Scholz Anfang 1992 den (Co)Vorsitz in der neu eingesetzten „Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat“10 antrat, lag deshalb die Notwendigkeit, auch über Neugliederungen im Bundesgebiet nachzudenken, auf der Hand. Zu offenkundig waren bereits die allgemeinen Verwerfungssymptome im deutschen Föderalismus, für die der chronisch unausgeglichene Haushalt einzelner Länder nur den deutlichsten Beleg abgab. Die europäische Regionalpolitik drängte unübersehbar auf aktionsfähige, kompatible innerstaatliche Gliederungsgrößen, um ihre strukturellen Vorhaben wirksam vermitteln und vollziehen lassen zu können. Und vor allem erzeugte die deutsche Wiedervereinigung den Druck, die östlichen, sog. „neuen“ Bundesländer an den durchschnittlichen Leistungsstand der westlichen heranzuführen, denn die Diskrepanzen waren groß und konnten nicht auf Dauer durch Sonder-Solidarpakte überbrückt werden. Namentlich Berlin und Brandenburg galten zudem als natürliche Fusionspartner und Art. 5 Spiegelstrich 2 des Einigungsvertrages erwähnte die Wegbereitung für diese Option sogar als ein ausdrückliches Desiderat der Verfassungsreform.11 10 Die Kommission wurde am 28. bzw. 29.11.1991 durch gleichlautende Beschlüsse von Bundestag und Bundesrat gebildet (BT-Drucks. 12/1590, BR-Drucks. 741/91). Auf der konstituierenden Sitzung am 16.1.1992 wählte die Kommission ihre beiden gleichberechtigten Vorsitzenden, neben Scholz den Ersten Hamburger Bürgermeister Henning Voscherau. Zu den konzeptionellen Vorstellungen Scholz’ vgl. dens., Neue Verfassung oder Reform des Grundgesetzes? (1992). 11 Der Vertrag zwischen der Br. D und der DDR über die Herstellung der Einheit Deutschlands – Einigungsvertrag – vom 31.8.1990 (BGBl. II S. 889) hatte bekanntlich in seinem Art. 5 schon generell empfohlen, „sich innerhalb von zwei Jahren mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen“.

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Die damals geltende Fassung des Art. 29 GG zum Verfahren einer Neugliederung des Bundesgebiets zeigte sich dafür aber reichlich unzulänglich. Die erfolgreichen Volksbegehren zur Gebietsabtrennung des alten Landes Oldenburg und des Kreises Schaumburg-Lippes von Niedersachsen 1975 hatten seinerzeit den Bundesgesetzgeber so aufgeschreckt, dass er nicht nur per Gesetz diese Plebiszite überstimmte,12 sondern durch Grundgesetzänderung die verfassungsrechtliche Neugliederungsmöglichkeit gleich ganz „verriegelte“.13 Es wurde nicht nur die Pflicht zur Neugliederung in eine bloße Ermächtigung umgewandelt, sondern die beiden aufgemachten Neugliederungswege fanden in den Absätzen 2–6 des Art. 29 GG nun faktisch kaum zu erfüllende Verfahrensbedingungen vor. Die Fachliteratur beurteilte diese Neugestaltung denn auch unverhohlen als „Veränderungssperre zugunsten der bestehenden Länder“, „als Schutz des Status quo“.14 Und auch in der Gemeinsamen Verfassungskommission war dies bald allgemeine Meinung. Art. 29 GG wurde als „Verhinderungsartikel“ bezeichnet.15 12 Gesetz über die Regelung der Landeszugehörigkeit des Verwaltungsbezirks Oldenburg und des Landkreises Schaumburg-Lippe nach Art. 29 III 2 GG vom 9.1.1976 (BGBl. I S. 45). 13 33. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 23.8.1976 (BGBl. I S. 2381). 14 Isensee, Josef, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: ders./ Kirchhof, P. (Hrsg.), Handbuch des Staatsrecht, Bd. IV (1990), § 98, Rdn. 26 (S. 531). Vgl. außerdem etwa Timmer, Reinhard, Neugliederung des Bundesgebiets und künftige Entwicklung des föderativen Systems, in: Westermann, H. u. a. (Hrsg.), Raumplanung und Eigentumsordnung. Festschrift W. Ernst (1980), S. 463 (491 f.): „die . . . Verfahrensvorschriften (werden) zu einer Verfestigung des status quo führen“; Ernst, Werner, Die Alternative: Neugliederung des Bundesgebiets, in: DVBl. 1991, S. 1030; Selmer, Peter, Grundsätze der Finanzverfassung des vereinten Deutschland, in: VVDStRL 52 (1993), S. 10 (60): „Die Frage (wie neben der Finanzverfassung auch eine Gebietsneugliederung hinreichende Leistungsfähigkeit der Länder erreichen könnte) ist durch die 1976 vorgenommene Rückstufung (des Art. 29 GG) obsolet geworden“; Rennert, Klaus, Der deutsche Föderalismus in der gegenwärtigen Debatte um eine Verfassungsreform, in: Der Staat 32 (1993), S. 269 (275): „. . . stellt eher eine Neugliederungs-Verhinderungsvorschrift dar“; MeyerTeschendorf, Klaus G., Territoriale Neugliederung nicht nur durch Bundesgesetz, sondern auch durch Staatsvertrag, in: DÖV 1993, S. 889 (890/1); Keunecke, Ulrich, Die gescheiterte Neugliederung Berlin-Brandenburg (2001), S. 35 (m. w. Nachw. in N. 96): „Faktisch (nahmen die politischen Kräfte damit) von einer umfassenden Neugliederung Abschied“; Erbguth, Wilfried, in: Sachs (Hrsg.), GG Kommentar (3. Aufl. 2003), Art. 29, Rdn. 75 m. w. Nachw.: „Art. 29 (legt) diesem (Neugliederungs)Postulat Steine in den Weg“; oder Leonardy, Uwe, Föderalismusreform ohne Länderneugliederung?, in: Decker, F. (Hrsg.), Föderalismus an der Wegscheide? Optionen und Perspektiven (2004), S. 75 (77 f.): „. . . bewußt und gewollt als ein Verhinderungsverfahren angelegt“. 15 Vgl. Greulich, Länderneugliederung (Fn. 2), S. 160 m. N. 901, S. 163; oder Meyer-Teschendorf, Neugliederung (Fn. 14), S. 889 (890 m. N. 5), jeweils mit Einzelnachweisen aus der Kommission.

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Mehrheiten für eine umfassende Neugestaltung des Art. 29 GG waren in der Kommission – das zeigte sich rasch – nicht zu erlangen. Dazu hatte möglicherweise auch ein Antrag Sachsens beigetragen, der die Reformierung des Artikels zu massiv und grundsätzlich erzwingen wollte und beispielsweise die Kompetenz zur Neugliederung zunächst bei den Ländern festmachte.16 Lieber (und allenfalls) war man zu Verfahrenserleichterungen bereit, abgesehen von einer Sondervorschrift für Berlin/Brandenburg. Namentlich die Kommissionsmitglieder aus Bremen und dem Saarland aber sträubten sich gegen jede Veränderung der geltenden Rechtslage, und die Kommission drohte sich festzufahren. In dieser Situation haben augenscheinlich die beiden Vorsitzenden der Kommission die Suche nach einem Kompromiss vorangetrieben, und dieser konnte nur darin bestehen, dass die bestehenden Neugliederungsvorgaben um eine neue, dritte Verfahrensvariante ergänzt würden. Diese lag darin, dass einzelne Länder für ihr Gebiet eine Neugliederung auch eigenständig vereinbaren könnten, ohne an die Verfahrensbestimmungen aus Art. 29 Abs. 2–7 GG gebunden zu sein. Zu klären blieb für diesen Weg nur noch die sog. „Bundeskomponente“, d. h. ob und in welcher Form eine Mitwirkung des Bundes notwendig sei. Als auch hier schließlich eine Einigung erzielt werden konnte, präsentierte die Kommission ihren betreffenden Vorschlag.17 Und nach Durchlaufen des Gesetzgebungsverfahrens wurde genauso dann der heute geltende Abs. 8 in Art. 29 GG eingefügt.18 Das Verdienst Rupert Scholz’ ist bei diesem Punkt nicht im Einzelnen nachzuweisen. Er hatte aber in der weichenstellenden Plenardiskussion am 25. März 1993 sich wiederholt in die engagierte Sachdebatte eingemischt und diese behutsam auf die Kompromisslinie zu führen gesucht. So wurde von ihm etwa darauf hingewiesen, dass es eigentlich schwer begreifbar sei, wenn nur der Bund zuständig sein sollte, wo es um den Bestand der Länder gehe.19 Er legte damit die Option einer Initiativergreifung der Länder nahe. Andererseits könne es aber auch nicht ohne ein Mitbestimmungsrecht des Bundes abgehen, weil jede territoriale Änderung im Bestand der Bundesländer eben Auswirkungen auf das gesamtstaatliche Gefüge habe.20 Scholz 16

Antrag v. 9.2.1993, KomDrucks. 53. Um ihn hatte sich besonders auch Voscherau verdient gemacht. Zum Gang der Kommissionsdebatte im einzelnen Meyer-Teschendorf, Neugliederung (Fn. 14), S. 889 (892 ff.). Siehe auch: Bericht der Gems. VerfKom v. 5.11.1993, BT-Drucks. 12/6000, ONr. 2.3 (S. 43 ff.) = Deutscher Bundestag (Hrsg.), Zur Sache 5/93, S. 85 ff.; sowie Scholz, Die Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat, in: ZG 1994, S. 1 ff. 18 s. o. Fn. 2. 19 Protokoll der 19. Stzg. der Gems. VerfKom v. 25.3.1993, S. 30. Vgl. auch Scholz (1996), in: Maunz/Dürig (Fn. 5), Art. 29, Rdn. 15. 20 A. a. O.; ebenso in: ZG 1994, S. 1 (16). 17

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stellte damit wieder einmal seine Fähigkeit unter Beweis, die eigenen Vorstellungen in einer Form in die Debatte einzubringen, mit der er die Meinungsströme unmerklich zu beeinflussen und zu lenken vermochte. Dass in der damaligen „Blockadelage“ die Einführung des neuen Art. 29 Abs. 8 GG mit seiner Staatsvertragsvariante ein Erfolg war, und zwar auch speziell seiner, steht jedenfalls außer Zweifel. Rechtswissenschaftlich, d. h. systematisch sowie dogmatisch, bleibt heute eigentlich nur noch auszuloten, welche der beiden föderativen Staatsebenen – gerade, wenn die Neugliederung durch einen Staatsvertrag der Länder eingeleitet und positioniert wird – die maßgebliche Entscheidungskompetenz innehat. Dieser Frage ist an anderer Stelle ausführlicher nachgegangen worden.21 Und das Ergebnis war, dass es sich bei der territorialen Neugliederung des föderativen Staates letztlich um ein Kondominium von Bund und Ländern handelt, für welches beide Seiten zusammenfinden müssen. Es kann nicht der Eine ohne den Anderen vollendete Tatsachen schaffen, sondern dies vermögen nur beide gemeinsam, und wie dann die einzelnen Verfahrensschritte aufgeteilt werden, ist eine Sache der konkret praktischen Konzeption. Art. 29 Abs. 8 GG passt also auch systematisch vollauf in die Föderalismuskonstruktion des Grundgesetzes hinein. Ohnehin muss ja noch ein dritter Beteiligter, nämlich die betroffene Bevölkerung mit einbezogen werden. – Auf die Verfahrensvoraussetzungen des neu geschaffenen Reformweges, insb. den auslösenden Länder-Staatsvertrag, im Einzelnen einzugehen, ist hier nicht der Platz. Auch dazu wurde schon an anderem Orte näher Stellung genommen.22 Nur aus historischem Interesse sei noch darauf verwiesen, dass die Frage nach der Grundkonzeption für eine territoriale Neugliederung auch in den vorangehenden deutschen Bundesstaatsverfassungen streitig war. Für die Reichsverfassung von 1871, unter der es ohnehin zu territorialen Verschiebungen zwischen den Mitgliedstaaten nicht kam, wäre eine autoritative Neugliederung seitens des Reiches von vornherein undenkbar gewesen. Über ihren Gebietsbestand zu verfügen, galt allein als Hoheitsrecht der Mitgliedstaaten. Gegenüber der nahe liegenden Vorstellung, auch dem Reich 21

Schmidt-Jortzig, Rechtliche Voraussetzungen für die Fusion von Bundesländern, Kreisen und Gemeinden, in: Lorenz-von-Stein-Institut (Hrsg.), Nordstaat. Untersuchung zu Chancen und Risiken einer künftigen Zusammenarbeit oder Fusion Norddeutscher Bundesländer (2006), S. 119 (120 ff.). 22 Schmidt-Jortzig, Voraussetzungen (Fn. 21); außerdem Keunecke, Gescheiterte Neugliederung (Fn. 14), S. 100 ff. Ausführlich Giese, Heinz-Ewald, Staatsverträge und Verwaltungsabkommen der deutschen Bundesländer miteinander sowie zwischen Bund und Ländern (Diss. jur. Bonn 1961), S. 130 ff.; oder Rill, Heinz-Peter, Gliedstaatenverträge. Eine Untersuchung nach österreichischem und deutschem Recht (1972), S. 161 ff.

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gewisse Initiativrechte oder Einflussmöglichkeiten einzuräumen, war dies gewissermaßen ein ungeschriebenes, weil selbstverständliches Reservatrecht der Mitgliedstaaten, auf das gewiss Art. 78 Abs. 2 der Reichsverfassung anzuwenden gewesen wäre, wonach entsprechende Vorrechte der einzelnen Mitgliedsstaaten nur jeweils mit Zustimmung des Betreffenden abgeändert oder übergangen werden konnten. Dass dann die Weimarer Reichsverfassung als Grundsatz die Regelungshoheit des Reiches festschrieb, d. h. vorgab, dass „die Änderung des Gebiets von Ländern und die Neubildung von Ländern innerhalb des Reiches durch verfassungsänderndes Reichsgesetz“ erfolgen müsse (Art. 18 Abs. 1 Satz 2) und dies nur insofern abgewandelt werden konnte, als bei Zustimmung der beteiligten Länder oder plebiszitärer Neugliederungsforderung plus „überwiegendem Reichsinteresse“ ein einfaches Reichsgesetz genügte, kam deshalb einer Revolution gleich.23 Eine Reihe von Stimmen hielt daher den Artikel auch für ungültig, weil er eine Grundvereinbarung der Weimarer Verfassungsgebung missachtet habe, dass nämlich „der Gebietsbestand der Freistaaten nur mit ihrer Zustimmung geändert werden“ könne.24 Diese Auffassung ging allerdings fehl, weil jene Beschränkung sich nur auf selber zugreifende Beschlüsse der verfassungsgebenden Nationalversammlung bezog und normativ, also für künftig die Verfassung eben Anderes, Neues bestimmen konnte.25 Die Vorstellung, dass damit eigentlich aber eine Vergewaltigung der überkommenen Landessouveränität erfolge, wirkte latent weiter. 1994 gab es darüber keinerlei Streit. Im Mittelpunkt stand die Überzeugung, dass mit dem neuen Abs. 8 des Art. 29 GG (neben den beiden schon 23

Zur Entstehungsgeschichte von Art. 18 WRV, der in allen Vorentwürfen auch noch kein solches Recht der Reichsgewalt kannte, vgl. Preuß, Hugo, Artikel 18 der Reichsverfassung: seine Entstehung und Bedeutung (1922); und Anschütz, Gerhard, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919. Kommentar (14. Aufl. 1933), Erl. 1 zu Art. 18. 24 Namentlich Nawiasky, Hans, Die Bestimmungen der Reichsverfassung über die Gebietsgewalt der Länder, in: Annalen des Deutschen Reichs 1919/20, S. 1 (5 ff., 23 ff.); ders., Bayerisches Verfassungsrecht (1923), S. 34 f.; Hartung, Fritz, Die geschichtlichen Grundlagen der Weimarer Reichsverfassung, in: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung (1925), S. 502 (513 f.). Die in Bezug genommene Grundvereinbarung war dabei das Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt v. 10.2.1919 (RGBl. S. 169), § 4 I 2. 25 Vgl. nur Jellinek, Walter, Revolution und Reichsverfassung, in JbÖffR 9 (1920), S. 1 (33); ders., Die Nationalversammlung und ihr Werk, in: HdbDStR, Bd. I (1930), S. 119 (125 mit Anm. 14); Merk, Wilhelm, Gebiet, Gebietsveränderungen und Grenzzeichen nach der Reichs- und der badischen Verfassung, in: AöR n. F. 8 (1925), S. 305 (313 f. Anm. 22); Giese, Friedrich, Die Rechtsformen der Gebietsänderung, in: HdbDStR I, S. 234 (241 Anm. 86); van Calker, Fritz, Grundzüge des deutschen Staatsrechts (2. Aufl. 1928), S. 40; oder Anschütz, WRV Kommentar (Fn. 23), Art. 18, Erl. 3 (S. 145 f.).

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zuvor gegebenen Varianten) ein Weg gefunden sei, wirklichen Neugliederungsbedürfnissen auch nachkommen zu können. Für den drängenden Fall im Raum Berlin und Brandenburg war ja ohnehin mit dem eingefügten Art. 118a GG26 ein Sonderverfahren an die Hand gegeben, das ohne jene Bundeskomponente ablaufen konnte, und die abgeschwächte Bundeskomponente im neuen Art. 29 Abs. 8 GG unübersehbar inspiriert und befördert hat. III. Ansätze zu einer Reform Nachdem die Fusion der Länder Berlin und Brandenburg fehlgeschlagen war, weil die notwendige Zustimmungsmehrheit in der Bevölkerung nicht zustande kam,27 verfiel die Neugliederungsdebatte in allgemeine Lethargie. Zu enttäuschend war die augenscheinliche Verweigerung der Menschen für strukturelle und ökonomische Notwendigkeiten. Furcht vor Veränderungen, Indolenz und überkommene Ressentiments schienen zu stark zu sein, um Neuausrichtungen durchzusetzen. Der große Kraftakt der deutschen Wiedervereinigung hatte augenscheinlich die Veränderungsbereitschaft erschöpft. Auch auf anderen Feldern bewegte sich nur wenig. Die politischen Meinungsgruppen blockierten sich immer mehr. Skeptiker begannen, die Reformfähigkeit Deutschlands insgesamt zu bezweifeln. Hinzu kam, dass einige „arme“, d. h. chronisch unterfinanzierte Länder am 27.5.1992 ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts erstritten hatten,28 wonach ein Land bei dauerndem Überschreiten der rechtlichen Grenzen für Kreditaufnahmen und bei Überforderung durch eine von ihm allein zu bewältigende Haushaltssanierung, also bei „extremer Haushaltsnotlage“, nach Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG einen bündischen Anspruch auf finanzielle Unterstützung erlange. „Befindet sich ein Glied der bundesstaatlichen Gemeinschaft,“ so heißt es dort, „in einer extremen Haushaltsnotlage, die seine Fähigkeit zur Erfüllung der ihm verfassungsrechtlich zugewiesenen Aufgaben in Frage stellt und aus der es sich mit eigener Kraft nicht befreien kann, so erfährt das bundesstaatliche Prinzip seine Konkretisierung in der Pflicht aller anderen Glieder der bundesstaatlichen Gemeinschaft, dem betroffenen Glied mit dem Ziel der haushaltswirtschaftlichen Stabilisierung auf der Grundlage konzeptionell aufeinander abgestimmter Maßnahmen Hilfe zu leisten, damit es wieder zur Wahrung seiner politischen Autonomie und zur Beachtung seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtungen befähigt wird“.29 26 Art. 1 Nr. 13 des (42.) Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes v. 27.10.1994 (BGBl. I S. 3146). 27 Zum ganzen Keunecke, Gescheiterte Neugliederung (Fn. 14), insb. S. 162 ff., und zu den ablehnenden Volksentscheiden S. 314 ff. 28 BVerfGE 86, 148 ff. 29 BVerfGE 86, 148 (264 f.), Ls. 6.

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Zwar hat das Gericht alle möglichen Abschwächungen und Konditionierungen anzubringen versucht und betont, dass seine konkreten Anknüpfungen nur eine Einzelfallentscheidung darstellen.30 Aber tendenziell stärkte der Karlsruher Spruch die eigentlich nicht mehr lebensfähigen Länder, die deshalb über eine Aufgabe ihrer Eigenständigkeit nachdenken müssten, naturgemäß in ihrem Behauptungswillen. Und wie weit dieses trotzige Pochen auf eine bundesstaatliche Alimentierung gehen kann, belegt nun die Verfassungsklage des Landes Berlin, mit der es eine Verurteilung des Bundes beantragt, ihm wegen extremer Haushaltsnotlage Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen zu gewähren31. Neugliederungsimpulse wird es jedenfalls erst wieder geben, wenn der Antrag Berlins scheitert. Denn erst dann wird der Zwang wieder spürbarer, sich nach Verstärkung umzusehen, um die eigenen Ausgangsbedingungen zu verbessern und sich im Zusammengehen mit anderen im bundesstaatlichen Geschehen eigenständig zu behaupten. Als sich in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts die Einsicht breit machte, dass für eine Modernisierung Deutschlands zunächst wohl doch die bundesstaatliche Ordnung reformiert werden müsste, war unabweislich auch die Idee im Spiel, eine Neugliederung des Bundesgebiets voranzutreiben. Denn, so hat es der frühere bayerische Minister Bruno Merk kürzlich ausgedrückt: „Wer nur ein bisschen der Entwicklung nachgeht, muss doch zu der Einsicht kommen, dass unterschiedliches Leistungsvermögen bei 16 (!) Bundesländern zwangsläufig Zweifel und Kritik an der Sinnhaftigkeit föderaler Aufgabenteilung provoziert, denen nur schwer entgegenzutreten ist“.32 In der dafür errichteten „Kommission von Bundestag und Bundesrat zur 30 BVerfGE 86, 148 (259). In der Bewertung wie hier etwa Kathstede, Gerd, Die „extreme Haushaltsnotlage“, in: vr. 2006, S. 50 (51 m. N. 15). 31 Verfahren BVerfG 2 BvF 3/03, Antragsschrift vom 4.9.2003, abrufbar unter http://www.berlin.de/imperia/md/content/senfin/Haushalt/20.pdf.; vgl. auch Wieland, Joachim, Die „extreme Haushaltsnotlage“ in der Rechtsprechung des BVerfG und der Normenkontrollantrag Berlins, in: Baßeler, U./Heintzen, M./Kruschwitz, L. (Hrsg.), Berlin – Finanzierung und Organisation einer Metropole (2006), S. 173 ff. Zum speziellen Berliner Kontext Kerber, Markus C., Vor dem Sturm – Anmerkungen zur finanziellen Neuordnung Berlins aus staatsrechtlicher und finanzwissenschaftlicher Sicht (2002). Und zur spezifischen Rechtsfrage etwa Häde, Ulrich, Solidarität im Bundesstaat, in: DÖV 1993, S. 461 (466 ff.); Hennecke, Hans-Günter, Beistands- und Kooperationspflichten im Bundesstaat, in: Jura 1993, S. 129 (134 f.); Selmer, Grundsätze (Fn. 14), S. 10 (53 ff.); ders., Das BVerfG an der Schwelle des finanzwirtschaftlichen Einigungsprozesses, in: JuS 1995, S. 978 (983 f.); Kirchhof, Ferdinand, Grundsätze der Finanzverfassung des vereinten Deutschland, in: VVDStRL 52 (1993), S. 71 (91 f.); Hidien, Jürgen W., Ergänzungszuweisungen des Bundes gem. Art. 107 Abs. 2 Satz 3 des Grundgesetzes (1997), insb. S. 123 ff., 138 ff.; Musil, Andreas/Kroymann, Johannes, Die extreme Haushaltsnotlage, in: DVBl. 2004, S. 1204 ff.; oder Kathstede, Die „extreme Haushaltsnotlage“ (Fn. 30). 32 Merk, Zu den Problemen der Föderalismus-Reform, in: BayVBl. 2006, S. 398 (399).

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Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung“33 wurden entsprechende Bestrebungen allerdings rasch abgeblockt, darauf ist eingangs schon hingewiesen worden.34 Selbst der Versuch, jedenfalls das in Art. 29 GG vorgeschriebene Prozedere für mögliche Neugliederungsinitiativen gangbarer zu machen,35 blieb ohne Erfolg, weil die Kommissionsleitung eine Behandlung unterband. Auch dieses Thema schien jenen Ländern, die potentiell ihre Eigenständigkeit in Gefahr sehen mussten, so brenzlig, dass man um die Erfolgsorientierung der Kommission bangen zu müssen glaubte. Vorgeschlagen waren ohnehin nur ganz marginale Änderungen. So sollten in Art. 29 GG etwa Abs. 3 Satz 4, Abs. 5 Satz 4 und der Nachsatz in Abs. 6 Satz 1 gestrichen werden, die Rechtsfolge nach erfolgreichem Volksbegehren in Abs. 4 wäre straffer zu fassen gewesen, und – als eher ermunternder Hinweis – wurde die Anfügung eines Absatzes erwogen: „Möglichkeiten der Kooperation und der Koordination zwischen den Ländern bleiben unberührt“.36 Die Frage einer Ausdünnung der besonders hinderlichen mehrfachen Volksabstimmungsmehrheit in Art. 29 Abs. 3 GG war also noch nicht einmal angesprochen worden. Rupert Scholz war bei Einsetzung der Föderalismuskommission sogleich als Sachverständiges Mitglied berufen worden. Seine Erfahrung schien unverzichtbar. Seine Kompetenz in staatsrechtlicher Normativität und Praxis 33 Eingesetzt durch gleichlautende Beschlüsse von Bundestag und Bundesrat am 16. bzw. 17.10.2003; vgl. BT-Drucks. 15/1683 und BR-Drucks. 750/03 (Beschluss). Zu Verlauf, Arbeit und Ergebnissen s. Deutscher Bundestag/Bundesrat – Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.), Dokumentation der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, Zur Sache 1/2005. 34 Oben zu Fn. 3. Bezeichnend auch Bosbach, Wolfgang, Obmann der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion in der Kommission: „Nicht wenige fragen, warum wir uns einem wichtigen Thema, das eigentlich zum Arbeitsauftrag der Kommission gehören würde, nicht zuwenden – auch der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes hat unlängst diese legitime Frage gestellt –, nämlich dem der Länderneugliederung. Es ist richtig, daß wir das Thema hier nicht behandeln. Dies geschieht zum einen aus praktischen Erwägungen, denn wir wollen die Arbeit irgendwann abschließen. Zum anderen kann die Länderneugliederung wegen fehlender Bundeszuständigkeit nicht Aufgabe der Kommission sein. Sie ist allein Aufgabe der Länder, genauer gesagt: allein Aufgabe der Menschen in den Ländern; denn eine Länderneugliederung kann man nicht von oben verordnen“ (StenBer. der 1. KomStzg. v. 7.11.2003, S. 10). Die Sache mit der „fehlenden Bundeszuständigkeit“ war allerdings ein eindeutiges Fehlargument – vielleicht ein gewolltes (?). 35 KomDrucks. 0033 v. 24.3.2004. Alle Bemühungen der FDP-Vertreter in der Kommission, die Behandlung dieses Grundlagenthemas doch noch durchzusetzen, wurden indes vom Obleutegremium abgeblockt; vgl. etwa Antrag der Abg. Funke und Burgbacher v. 16.12.2004 (Kommissions-Arbeitsunterlage 108); Vorschläge der FDP-Fraktionsvorsitzenden in den Landtagen (KomDrucks. 58, S. 14). Zum Vorgang Leonardy, Föderalismusreform (Fn. 14), S. 75 (78 f.). 36 KomDrucks. 0033.

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und vor allem in der Verbindung beider Perspektiven war kaum zu übertreffen. Und diese Erwartungen wurden nicht enttäuscht. Rupert Scholz hat mit seinen Beiträgen die Diskussionen und Verhandlungen der Kommission in vielfältiger Weise vorangebracht.37 Darauf ist hier nicht näher einzugehen. Zur Frage der Neugliederung des Bundesgebiets hat er sich allerdings nicht ausdrücklich geäußert. Dafür war – so ist zu vermuten – vor allem die Einschätzung ausschlaggebend, dass hier politisch gewiss keine Einigung zu erzielen sein würde und deshalb Kräfte und Zeit bei dem ohnehin sehr ambitionierten Kommissionsziel darauf nicht vergeudet werden sollten. In der Sache waren Notwendigkeit und Wünschbarkeit dieses Punktes bei ihm aber unbestritten. Das ergab sich aus vielen Gesprächen am Rande der Sitzungen. Wenn man schon Neugliederungen und also einen Zusammenschluss leistungsschwacher Länder nicht gleich realiter erreichen konnte, müssten jedenfalls die Verfahrenswege dorthin erleichtert werden. Dass in dieser Kommission und in dem verfügbaren Zeitfenster tatsächlich nichts zu erreichen war, hat Scholz’ Einschätzung indessen vollauf bestätigt. Die normative Ausgangslage blieb also unverändert. Wirklich nutzbar zu sein scheint danach nur mehr das Verfahren nach Art. 29 Abs. 8 GG, d. h. die Reform-Ergänzung von 1994. Hier müssten aber nun die Länder den Anstoß geben, wenn sie sich zusammenschließen (oder Gebietsteile von sich zu einem neuen Land vereinen) wollen. Es wäre ein entsprechender Staatsvertrag miteinander auszuhandeln und abzuschließen, und erst dann würde das Grundgesetz bestimmte zusätzliche Verfahrensbedingungen stellen. Was bei solchen Staatsverträgen im Einzelnen zu beachten ist, legen die Landesverfassungen fest.38 Verschiedentlich wird auch der Weg über Art. 29 Abs. 4 GG für aussichtsreich gehalten.39 Danach kann die Bevölkerung „in einem zusammenhängenden . . . Siedlungs- und Wirtschaftsraum, dessen Teile in mehreren Ländern liegen und der mindestens eine Million Einwohner hat, . . . durch Volksbegehren (fordern), dass für diesen Raum eine einheitliche Landes37 Siehe nur seine Stellungnahmen, Vorschläge und schriftlichen Fragenbeantwortungen v. 4.12.2003 (KomDrucks. 5); v. 29.1.2004 zur Neuformulierung des Art. 84 GG (Kom-ArbU 24); v. 21.2.2004 zur Rückführung von Mischfinanzierungstatbeständen (Kom-ArbU 39); v. 3.5.2004 zum Thema „Europa“ (KomDrucks. 40) v. 20.9.2004 (KomDrucks. 71-neu-g); oder v. 10.10.2004 zur Neuordnung der Kompetenzen im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung (Kom-ArbU 83). 38 Vgl. oben mit Fn. 22. In dem Hinweis darauf, dass es jedenfalls die Länder sein müssen, die nun initiativ werden, liegt auch der richtige Kern der Argumentation Bosbachs (zitiert o. Fn. 34). 39 Insb. Leonardy, Die Neugliederung des Bundesgebietes: Auftrag des Grundgesetzes, in: Eckart, K./Jenkis, H. (Hrsg.), Föderalismus in Deutschland (2001), S. 9 (27 ff.); ders., Föderalismusreform (Fn. 14), S. 75 (88 ff.); ders., Leserbrief („Keine Finanzreform ohne Länderneugliederung“), in: FAZ v. 3.4.2006, S. 22.

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zugehörigkeit herbeigeführt werde“. Die Einwohner in grenzmäßig zerschnittenen Ballungsräumen vermögen also, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und gegen die weiter untätig bleibenden politisch Verantwortlichen aufzubegehren. Ob dies allerdings wirklich ein realistisches Szenario ist, mag dahinstehen. Unübersehbar bleibt jedenfalls, dass die Möglichkeit einer „Neugliederung von oben“ nach Art. 29 Abs. 2 und 3 GG wegen der dort notwendigen mehrfachen Volksabstimmungsmehrheiten faktisch ausfällt. IV. Verstärkte Notwendigkeit einer Neugliederung So unzureichend der normative Bestand ist, so nachdrücklich zeigt sich das Bedürfnis nach einer tatsächlichen Territorialreform. Die seit langem beschworenen Bedürfnisse eines gesunden Föderalismus sind ja nicht schwächer geworden.40 Einige Notwendigkeiten drängen vielmehr ganz besonders, weil die Entwicklung weiter geht und sich beschleunigt.41 – Zum einen vermögen längst nicht mehr „alle Länder ihre Funktion als wirklich autonome Subsysteme im Gesamtstaat überzeugend“ auszufüllen.42 Über die Hälfte von ihnen fällt als angemessener, gleichwertiger Partner im föderativen Zusammenspiel aus. Weder dem Bund gegenüber noch mit den Ländern untereinander sind sie hinreichend eigenständig und ebenbürtig. Darauf wurde schon hingewiesen.43 Denn unter der Voraussetzung einer beständigen finanziellen Alimentierung durch Dritte können stärkere Deformierungen in der politischen Selbständigkeit nur eine Frage der Zeit sein und wurden ja auch schon mehrmals nachgewiesen. Nur größere Länder mit einer bestimmten wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit sind in der Lage, die ihnen durch die bundesstaatliche Ordnung übertragenen Aufgaben auf Dauer selbständig zu erfüllen.44 40

Schon Fritz W. Scharpf hatte ja 1992 vor der Gems. VerfKom mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass das Thema ‚Neugliederung des Bundesgebiets‘ notwendig zu jeder Bundesstaatsreform gehöre (Grundgesetz und Europa. Europäisches Demokratiedefizit und deutscher Föderalismus, ArbU 31, These 14). Ähnlich auch etwa Sachverständigenrat zur Begutachtung der Gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.), Auf dem Wege zur wirtschaftlichen Einheit Deutschlands. Jahresgutachten 1990/1, Tz. 459; oder Franke, Siegfried F., Zur Neuordnung der Finanzverfassung im vereinigten Deutschland, in VwArch 82 (1991), S. 526 (541 f.). 41 Zu den Gründen insgesamt Leonardy, Föderalismusreform (Fn. 14), S. 75 (79 ff.). 42 Selmer, Grundsätze (Fn. 14), S. 10 (62). Ebenso deutlich Kisker, Gunter, Die Bundesländer im Spannungsfeld zwischen deutsch-deutscher Vereinigung und europäischer Integration, in: Hesse, J. J./Renzsch, W. (Hrsg.), Föderalstaatliche Entwicklung in Europa (1991), S. 117 (132). 43 Oben sub I. 2 am Ende.

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Namentlich, wenn nun die Föderalismusreform45 zu stärkerem Wettbewerb unter den Ländern führen wird, jedenfalls aber ihre Eigenverantwortung deutlicher hervortreten lässt, wird die Kluft zwischen den leistungsstarken und den leistungsschwächeren Ländern noch nachhaltiger aufreißen, und der Bund wird immer weniger zur Überbrückung der Ungleichheiten imstande sein. Die effiziente und vergleichbare Fähigkeit der Länder zur Erfüllung ihrer verfassungsmäßigen Aufgaben, erst recht aber die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse sind immer weniger aufrecht zu erhalten. Der Bund muss in die Rolle des „Treuhänders“, ja, „Vormunds“ der schwächeren Länder schlüpfen, die Koordinationskosten werden steigen, und jedes Gegengewicht, jede Eigenidee und horizontale Kontrolle aus dem Kreis der schwächeren Länder erlischt. Sie werden zu abhängigen Kostgängern, die Verwaltungsaufwand betreiben, aber Schwung, Vitalität und Innovation gänzlich vermissen lassen (müssen). – Zum zweiten ist ohne eine Länderneugliederung die „finanzielle Lebensfähigkeit“ etlicher Länder nicht mehr zu gewährleisten. Dabei stellt die Ausgangseigenschaft einer klaren und festen Valenz der Gliedstaaten den Grundbaustein jeder funktionierenden Bundesstaatlichkeit dar. Auch das Grundgesetz betätigt dies nachdrücklich, wenn es in Art. 29 Abs. 1 die Leistungsfähigkeit der Länder zu einem Maßstab für die territoriale Aufgliederung des Bundesgebiets erklärt, die genuine „Finanzkraft der Länder“ zum Anknüpfungspunkt für den Finanzausgleich nimmt (Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG) und in Art. 115c Abs. 3 die „Lebensfähigkeit der Länder . . . auch in finanzieller Hinsicht“ für ein nicht einmal im äußeren Notstand des Staates (Verteidigungsfall) antastbares Essential erklärt. Immer mehr aber werden die leistungsschwachen Länder ein wirtschaftliches „Überleben“ allein noch durch finanzielle Transferleistungen von dritter Seite sicherstellen können, sei es durch vertikale Zuweisungen des Bundes, sei es durch horizontale Solidarleistungen seitens der Mit-Länder. Die erschreckende Zunahme der Länder, die keinen verfassungskonformen Haushalt mehr vorlegen können und deshalb eine „Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ ausrufen, ist schlagender Beleg für die eigentlich nicht mehr gegebene Fähigkeit zur staatlichen, finanziellen Eigenstän44 Dietlein, Johannes (2002), in: Bonner Kommentar zum GG (1950 ff.), Art. 29, Rn. 21 unter Bezugnahme auf Stolorz, Entwicklungsperspektiven (Fn. 6), S. 311 (320); Incesu, Lotte, Zähes Ringen um Länderrechte, in: Recht und Politik 28 (1992), S. 158; und v. Münch, Ingo, Föderalismus – Beweglichkeit oder Beton, in: NJW 2000, S. 2644 (2645). 45 Mit der notwendigen 2/3-Mehrheit vom Bundestag beschlossen am 30.6.2006 und vom Bundesrat eine Woche später, am 7.7.2006 gleichfalls mit der Mehrheit nach Art. 79 II GG angenommen (BT-Drucks. 16/813, BR-Drucks. 436/06). Zum Föderalismusreform-Begleitgesetz s. BT-Drucks. 16/814, 2010, 2069, 2020.

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digkeit. Die Geltendmachung „extremer Haushaltsnotlage“, um überlebensnotwendige Sonderbedarfszuweisungen zu erstreiten,46 wird sich demgemäß häufen, wenn das Bundesverfassungsgericht von seiner Auffassung über die entsprechend bundesstaatliche Alimentierungspflicht47 nicht abweicht. Das allerdings wird unvermeidlich sein, weil auch der Bund an die Grenzen seiner finanziellen Leistungsfähigkeit stößt, die Sanierungsversprechen der unterstützungsbedürftigen Länder sich immer deutlicher als leer herausstellen und die Illusion verfliegt, „gleichwertige Lebensverhältnisse“ selbst in wirtschaftlicher Hinsicht im gesamten Bundesgebiet zu erreichen, ja, nur anstreben zu können. Schon 1952 hatte das Bundesverfassungsgericht auch viel klarsichtiger diktiert, dass „ein Finanzausgleich mit Rücksicht auf Art. 29 GG nicht zu dem Ergebnis führen (darf), lebensunfähige Länder künstlich am Leben zu erhalten“.48 Und 40 Jahre später wurde deshalb sein Urteil bezüglich einer bundesstaatlichen Alimentierungspflicht entsprechend deutlich und kritisch kommentiert: „Einen verfassungsrechtlich zwingenden Grund, kleine arme Bundesländer bis zur letzten Finanzausgleichsmark am Leben zu erhalten, gibt es nicht; ein lebendiger Föderalismus beruht auf der Lebenskraft der Mitgliedstaaten; fehlt es an dieser Lebenskraft, muß die Abgrenzung korrigiert und nicht unentwegt nachfinanziert werden“.49 Bei der sich ausweitenden Differenz zwischen finanzschwachen und -starken Ländern sowie der grassierenden Finanzknappheit insgesamt gerät das konstitutionelle Finanzausgleichssystem einfach an seine Grenzen. Und was bleibt, ist dann einzig der Hinweis auf die Neugliederungsmöglichkeit, um, wie es in Art. 29 Abs. 1 GG eben heißt, zu gewährleisten, dass die Länder nach Größe und Leistungsfähigkeit (wieder) die ihnen obliegenden Aufgaben wirksam erfüllen können.50 – Zum dritten schließlich wird eine Neugliederung des Bundesgebiets mit Blick auf die fortschreitende Europäisierung der hoheitlichen Gestaltungs- und Vorsorgemacht unumgänglich. Hier müssen schlagkräftige Regionen geschaffen werden, deren Voraussetzungen die schwächeren Bundes46

Zum entsprechenden Antrag Berlins s. o. mit Fn. 31. BVerfGE 86, 148 (264 f.), Ls. 6. Dazu oben zu Fn. 28 ff. 48 BVerfGE 1, 117 (134). 49 Arndt, Hans-Wolfgang, Urteilsanmerkung, in: JZ 1992, S. 971 (974). Ganz ähnlich wird auch wirtschaftswissenschaftlich längst argumentiert (sog. „bail-outProblematik“); vgl. insb. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen (Hrsg.), Haushaltskrisen im Bundesstaat. Gutachten April 2005, S. 17 ff., 47, mit der Forderung nach einem Verfahren für Insolvenzen von Gebietskörperschaften; auch Blankart, Charles Beat, Haftungsgrenzen im föderalen Staat, in: FAZ v. 26.11.2005, S. 13; oder Göke, Wolfgang, Staatsverschuldung, in: ZG 2006, S. 1 (9 f.). 50 So denn auch etwas kleinlaut am Ende das Bundesverfassungsgericht selber: BVerfGE 86, 148 (270). 47

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länder kaum mehr erbringen können. Mögen sie auf dem bundesstaatlichen Glacis noch unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Stärke irgendwie beachtet werden, so ist abzusehen, dass mit zunehmender europäischer Integration „die Bundesebene an Bedeutung verlieren wird und die Länder sich als Regionen in einem gemeinsamen Europa behaupten müssen“.51 Dies können sie indessen bei individueller Strukturschwäche nur, wenn sie sich mit anderen zusammentun. Zahlreiche der bestehenden Länder werden jedenfalls für ihre anwachsenden europäischen Funktionen kaum hinreichend gerüstet sein. Sie verlieren ihre „Europafähigkeit“ oder haben diese nüchtern betrachtet bereits verloren. Und dies ist von ganz grundsätzlicher Wichtigkeit, weil die Bundesrepublik Deutschland immerhin der einzige Bundesstaat in der Europäischen Union ist, wo die Bundesländer nicht bloß Verwaltungseinheiten sind, sondern Staatsqualität haben. Aber nicht nur aus Länderperspektive, sondern auch aus Sicht der europäischen Union ist die Schaffung einer leistungsfähigen homogenen Zwischenebene in Deutschland von vitalem Interesse. Strukturell wird ja dem Konzept gefolgt, ein „Europa der Regionen“52 zu schaffen und dadurch Bürgernähe und Akzeptanz für eine Ausweitung des Integrationsprozesses zu entwickeln. Das kann jedoch nur gelingen, wenn die Regionen bzw. die Länder die politische, administrative und wirtschaftliche Kapazität haben, um tatsächlich die regionalen und lokalen Probleme eigenständig zu lösen. Unübersehbar ist danach heute, dass Neugliederungsfragen trotz ihres innerstaatlichen Charakters nicht länger isoliert betrachtet werden können, sondern einen gewichtigen europäischen Aspekt haben.53 Die Gebietsneugliederung in der Bundesrepublik Deutschland bleibt also auf dem Programm. Ihre Notwendigkeit wird sich sogar noch verstärken. 51 Keunecke, Gescheiterte Neugliederung (Fn. 14), S. 339. Ganz ähnlich Greulich, Länderneugliederung (Fn. 2), S. 200 f. 52 Zu Konzept und Begriff eines „Europa der Regionen“: Kommission der EG, Bericht 1990, Teil 1, S. 123 f. Außerdem etwa Müller-Brandeck-Bocquet, Gisela, Ein föderalistisches Europa? Zur Debatte über die Föderalisierung und Regionalisierung der zukünftigen Europäischen Politischen Union, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 15/1991, S. 13 (17 ff.); Petersen, Ulrich, Zur Rolle der Regionen im künftigen Europa, in: DÖV 1991, S. 278 ff.; oder Borchmann, Michael, Konferenzen „Europa der Regionen“ in München und Brüssel, in: DÖV 1990, S. 879 ff. 53 Scharpf, Europäisches Demokratiedefizit und deutscher Föderalismus, in: Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.), Materialien zur Fortentwicklung des Föderalismus in Deutschland (1993), S. 213 (222); Greulich, Länderneugliederung (Fn. 2), S. 201; Schiffers, Reinhold, Weniger Länder – weniger Föderalismus? Die Neugliederung des Bundesgebiets im Widerstreit der Meinungen 1948/49 (1996), S. 105; Stolorz, Entwicklungsperspektiven (Fn. 6), in: ZParl 28 (1997), S. 311 (330 ff.); Thieme, Werner, Verwaltungsvereinfachung durch Länderneuordnung?, in: DÖV 2001, S. 462 (465 f.); Dietlein, Bonner Kommentar (Fn. 44), Art. 29, Rn. 21 mit N. 120.

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Was not tut, ist nur, die politischen Kräfte hiervon auch zu überzeugen. Rechtlich aber müssten vor allem die Verfahrenswege für eine Territorialreform wieder gangbar gemacht werden. Der Erfolg von 1994 kann nur ein Anfang gewesen sein. Es bleibt deshalb zu hoffen, dass auch bei künftigen Anstrengungen in dieser Richtung der Rat Rupert Scholz’ gesucht wird.

Die Mitwirkungsrechte der Länder in EU-Angelegenheiten gemäß Art. 23 GG unter Berücksichtigung der Debatte in der Föderalismuskommission Von Edmund Stoiber I. Einleitung Neben der Stärkung der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit von Bund und Ländern war insbesondere auch die Verbesserung der Europatauglichkeit des Grundgesetzes (GG) eines der Ziele der Föderalismusreform. In diesem Zusammenhang hat sich die im Oktober 2003 eingesetzte Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung (Föderalismuskommission) auch mit der Frage befasst, ob Änderungsbedarf bei den Mitwirkungsrechten der Länder in EU-Angelegenheiten gemäß Art. 23 GG besteht. Dabei wurden die EU-bezogenen Länderrechte (v. a. Art. 23 Abs. 5 und 6 GG) seitens der Bundesregierung, von Vertretern des Bundestages und von einer Reihe der Sachverständigen, die im Rahmen der Beratungen der Föderalismuskommission angehört worden sind, kritisiert. Die Kritik lief im Kern darauf hinaus, die Mitwirkungsrechte der Länder in EU-Angelegenheiten würden die europapolitische Handlungsfähigkeit der Bundesregierung nicht unerheblich beeinträchtigen und damit die effektive Durchsetzung deutscher Interessen auf europäischer Ebene erschweren. Die Länder sind der Infragestellung ihrer Mitwirkungsrechte mit Nachdruck und im Ergebnis mit Erfolg entgegen getreten. Sie strebten im Gegenteil eine Stärkung ihrer Rechte insbesondere durch Klarstellungen in den Punkten an, in denen Meinungsverschiedenheiten zwischen Bund und Ländern über die Auslegung der Bestimmungen zur Ländermitwirkung in EU-Angelegenheiten bestehen. Im Folgenden werden zunächst die Mitwirkungsrechte der Länder in EUAngelegenheiten gemäß Art. 23 GG und den Ausführungsbestimmungen unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Föderalismusreform dargestellt (II.). Sodann werden die sonstigen EU-relevanten Änderungen aufgezeigt, die im Zuge der Föderalismusreform beschlossen worden sind (III.). Anschließend wird auf die Diskussion über die europabezogenen Länderrechte

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in der Föderalismuskommission eingegangen (IV.). Der Beitrag endet mit einem Ausblick auf die weitere Verbesserung der europapolitischen Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern unterhalb der Ebene einer (grund-)gesetzlichen Regelung (V.).

II. Die Mitwirkungsrechte der Länder in EU-Angelegenheiten gemäß Art. 23 GG unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Föderalismusreform 1. Rechtsgrundlagen Die Mitwirkung der Länder in EU-Angelegenheiten ist in Art. 23 Abs. 2, 4–6 GG, dem auf der Grundlage von Art. 23 Abs. 7 GG erlassenen Gesetz über die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union (EUZBLG) sowie in der gemäß § 9 EUZBLG getroffenen Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Regierungen der Länder über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen Union (Bund-Länder-Vereinbarung (BLV)) geregelt. Die Regelungen wurden im Zusammenhang mit der Ratifizierung des Vertrags von Maastricht geschaffen, der am 1.11.1993 in Kraft getreten ist. Hintergrund war die weitreichende Übertragung neuer Kompetenzen von der nationalen auf die europäische Ebene durch den Vertrag von Maastricht, mit dem die Europäische Union gegründet und der europäische Einigungsprozess auf eine neue Stufe gehoben wurde. Die damit einhergehenden Kompetenzverluste auch der Länder sollten durch stärkere Mitwirkungsrechte bei der europabezogenen innerstaatlichen Willensbildung und direkte Beteiligungsrechte (Art. 23 Abs. 6 GG, § 6 Abs. 2 EUZBLG) bzw. -möglichkeiten (§ 6 Abs. 1 EUZBLG) bei den Verhandlungen auf EU-Ebene zumindest teilweise kompensiert werden.

2. Zur Ausgestaltung der Mitwirkungsrechte der Länder im Einzelnen Nach Art. 23 Abs. 2 GG wirken die Länder „durch den Bundesrat“ in EU-Angelegenheiten mit. Die Mitwirkungsrechte betreffen zum einen die Einflussnahme auf den innerstaatlichen Prozess der Bestimmung der Position Deutschlands zu EU-Vorhaben. Darüber hinaus werden die Länder aber auch an den Beratungen auf europäischer Ebene beteiligt.

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a) Beteiligung an der innerstaatlichen Willensbildung zu EU-Vorhaben Die Bundesregierung hat den Bundesrat umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt über alle EU-Vorhaben, die für die Länder von Interesse sein könnten, zu unterrichten (Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG, § 2 EUZBLG). Der Bundesrat ist an der Willensbildung des Bundes zu beteiligen, soweit er an einer entsprechenden innerstaatlichen Maßnahme mitzuwirken hätte oder soweit die Länder innerstaatlich zuständig wären (Art. 23 Abs. 4 GG). Die Bundesregierung hat dem Bundesrat vor Festlegung ihrer Verhandlungsposition Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, soweit Interessen der Länder berührt sind (§ 3 EUZBLG). Die Stärke der Einflussnahme auf die innerstaatliche Positionsbestimmung hängt davon ab, inwieweit Länderkompetenzen von einem EU-Vorhaben betroffen sind: – Fällt ein EU-Vorhaben in die Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes, ist eine Stellungnahme des Bundesrates von der Bundesregierung lediglich zu „berücksichtigen“ (Art. 23 Abs. 5 Satz 1 GG, § 5 Abs. 1 EUZBLG). – Wenn bei einem EU-Vorhaben im Schwerpunkt Gesetzgebungsbefugnisse der Länder, die Einrichtung ihrer Behörden oder ihre Verwaltungsverfahren betroffen sind, ist insoweit bei der Festlegung der Verhandlungsposition durch die Bundesregierung die Stellungnahme des Bundesrates „maßgeblich zu berücksichtigen“ (Art. 23 Abs. 5 Satz 2 GG, § 5 Abs. 2 Satz 1 EUZBLG). Das bedeutet grundsätzlich eine Bindung der Bundesregierung an das Votum des Bundesrates. – Bei EU-Vorhaben, die auf Art. 308 EG-Vertrag gestützt werden, muss die Bundesregierung vor ihrer Zustimmung im EU-Ministerrat das Einvernehmen mit dem Bundesrat herstellen, soweit dessen Zustimmung nach innerstaatlichem Recht erforderlich wäre oder soweit die Länder innerstaatlich zuständig wären (§ 5 Abs. 3 EUZBLG). Art. 308 EG-Vertrag ermöglicht es der Gemeinschaft, auch dann tätig zu werden, wenn der Vertrag die hierfür nötigen Befugnisse nicht vorsieht, sofern dies erforderlich erscheint, um im Rahmen des Gemeinsamen Marktes eines der Ziele der Gemeinschaft zu verwirklichen. Für ein Tätigwerden auf der Grundlage von Art. 308 EG-Vertrag ist Einstimmigkeit im Rat erforderlich.

b) Beteiligung an den Beratungen auf europäischer Ebene Ebenso wie die Einflussnahme auf die innerstaatliche Positionsbestimmung zu EU-Vorhaben bemisst sich auch die Mitwirkung der Länder an den Beratungen auf europäischer Ebene nach der Betroffenheit in ihren Kompetenzen:

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– Die Bundesregierung zieht bei Vorhaben, bei denen der Bundesrat an einer entsprechenden innerstaatlichen Maßnahme mitzuwirken hätte oder bei denen die Länder innerstaatlich zuständig wären oder die sonst wesentliche Länderinteressen berühren, auf Verlangen Vertreter der Länder zu den Verhandlungen in den Beratungsgremien der Kommission und des Rates hinzu, soweit ihr dies möglich ist (§ 6 Abs. 1 EUZBLG). Diese Beteiligungsform ist in der Praxis vor allem in den Arbeitsgruppen des Rates und den Ausschüssen der Kommission von großer Bedeutung. Die vom Bundesrat benannten Ländervertreter, deren Zahl sich derzeit auf rund 300 beläuft, nehmen als Mitglieder der deutschen Delegation an den jeweiligen Sitzungen teil. Sie können mit Zustimmung der bei der Bundesregierung liegenden Verhandlungsführung aktiv mitverhandeln und Erklärungen abgeben. – In bestimmten Fällen ist die Verhandlungsführung in den Beratungsgremien der Kommission und des Rates sowie bei Ratstagungen auf Ministerebene auf einen Vertreter der Länder zu übertragen. Nach alter Rechtslage galt, dass dies erfolgen sollte, wenn ein EU-Vorhaben im Schwerpunkt ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betraf (Art. 23 Abs. 6 GG a. F., § 6 Abs. 2 EUZBLG a. F.). Diese Außenvertretungsbefugnis der Länder wurde im Zuge der Föderalismusreform auf die Fälle der schwerpunktmäßigen Betroffenheit von ausschließlichen Gesetzgebungsbefugnissen der Länder auf den Gebieten der schulischen Bildung, der Kultur oder des Rundfunks beschränkt (Art. 23 Abs. 6 GG n. F.). Die Länder sind der Bundesregierung insoweit entgegen gekommen, deren Anliegen es war, dass es infolge der Stärkung der Länderkompetenzen im Rahmen der Föderalismusreform nicht zu einer Zunahme der Außenvertretungsbefugnis der Länder auf EU-Ebene kommt. Im Gegenzug muss nunmehr in diesen Fällen die Verhandlungsführung auf EU-Ebene auf einen Vertreter der Länder übertragen werden. Der Bundesrat hat Ministerpräsidenten bzw. Landesminister als Vertreter der Länder für den Rat „Bildung, Jugend und Kultur“ (Teile „Bildung“, „Kultur“ und „Audiovisuelle Medien“), den Rat „Wettbewerbsfähigkeit“ (Teil „Forschung“) und den Rat „Justiz und Inneres“ (Teil „Inneres“) benannt. Im Rahmen der aufgrund der Änderung von Art. 23 Abs. 6 GG notwendigen Folgeänderung des § 6 Abs. 2 EUZBLG wurde ausdrücklich klargestellt, dass die vom Bundesrat benannten Ministerpräsidenten bzw. Landesminister – wie bisher – auch dann, wenn die Verhandlungsführung nicht auf sie zu übertragen ist, an diesen Ratstagungen teilnehmen und in Abstimmung mit dem Vertreter der Bundesregierung Erklärungen abgeben können (§ 6 Abs. 2 Satz 5 EUZBLG n. F.). Für den Fall, dass die Verhandlungsführung nicht auf einen Vertreter der Länder gemäß Art. 23 Abs. 6

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GG n. F. zu übertragen ist, ein EU-Vorhaben jedoch ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betrifft, wurde zudem vereinbart, dass die Bundesregierung die Verhandlungsführung in Abstimmung mit dem Vertreter der Länder ausübt (§ 6 Abs. 2 Satz 6 EUZBLG n. F.). – Bei Regierungskonferenzen zur Änderung des EU- bzw. EG-Vertrages werden zwei vom Bundesrat benannte Ländervertreter (ein Vertreter aus einem SPD- und ein Vertreter aus einem unionsregierten Land) in die deutsche Verhandlungsdelegation aufgenommen (BLV Abschnitt VII. Nr. 2). 3. Meinungsverschiedenheiten zwischen Bund und Ländern über die Auslegung der Bestimmungen zur Mitwirkung der Länder in Angelegenheiten der EU Die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern in EU-Angelegenheiten ist in der bisherigen Praxis weitgehend positiv verlaufen. Dennoch gibt es in einzelnen Punkten Meinungsverschiedenheiten zwischen Bund und Ländern über die Auslegung der Bestimmungen zur Mitwirkung der Länder in Angelegenheiten der EU. a) Begriff der „Angelegenheiten“ (Art. 23 GG) bzw. „Vorhaben“ (EUZBLG) der EU Die Bundesregierung vertritt die Auffassung, dass unter den Begriff der „Angelegenheiten“ bzw. „Vorhaben“ der EU im Sinne von Art. 23 GG bzw. des EUZBLG grundsätzlich nur rechtsverbindliche Maßnahmen fallen. Die Länder haben die Geltung ihrer Mitwirkungsrechte darüber hinaus auch bei Rechtsetzungsakte vorbereitenden Vorlagen wie Grün- und Weißbücher oder Mitteilungen, bei Empfehlungen und bei der sogenannten „offenen Methode der Koordinierung“1 eingefordert. Wenn die beiden letztgenannten Handlungsinstrumente auch nicht rechtsverbindlich sind, so entfalten sie doch eine hohe politische Verbindlichkeit. Deshalb ist es für die Länder wichtig, dass ihre Mitwirkungsrechte auch in diesen Fällen voll zum Tragen kommen. Die Bundesregierung hat im Frühjahr 2005 im Rahmen der Verhandlungen zwischen Bund und Ländern im Zusammenhang mit der Ratifizierung 1 Bei der auf EU-Ebene vor allem im Zusammenhang mit der Umsetzung der Lissabon-Strategie zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung seit dem Jahr 2000 zunehmend praktizierten offenen Methode der Koordinierung werden unabhängig von der vertraglichen Kompetenzordnung Zielvorgaben oder sogar Leitlinien für die nationale Politikgestaltung vereinbart, deren Umsetzung durch die Mitgliedstaaten regelmäßig auf EU-Ebene bewertet und überwacht wird.

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des Vertrages über eine Verfassung für Europa vom 29.10.20042 zwar zugestanden, dass der Begriff des EU-Vorhabens sich auch auf Maßnahmen im Vorfeld der Gesetzgebung und auf Empfehlungen erstreckt. Die Bundesregierung will dies jedoch erst mit Inkrafttreten des Verfassungsvertrages gelten lassen.3 Ob und wann das der Fall sein wird, ist nach den ablehnenden Referenden zum Verfassungsvertrag in Frankreich und den Niederlanden derzeit offen. Dass die Bundesregierung die als richtig erkannte Auslegung eines Rechtsbegriffs nicht mit sofortiger Wirkung, sondern erst mit Inkrafttreten des Verfassungsvertrages praktizieren will, ist weder rechtlich noch politisch haltbar. b) Betroffenheit von Länderkompetenzen „im Schwerpunkt“ Die Bundesregierung erkennt einen Fall, in dem eine Bundesrats-Stellungnahme maßgeblich zu berücksichtigen ist, nur an, wenn der Schwerpunkt eines EU-Vorhabens insgesamt die Gesetzgebungsbefugnisse der Länder, die Einrichtung ihrer Behörden oder ihre Verwaltungsverfahren betrifft. Nach Auffassung der Länder ist es demgegenüber ausreichend, wenn ein Schwerpunkt eines EU-Vorhabens (dessen Teilbarkeit vorausgesetzt) die genannten Länderzuständigkeiten betrifft, um insoweit eine Pflicht der Bundesregierung zur maßgeblichen Berücksichtigung der Bundesrats-Stellungnahme auszulösen. Eine Teilbarkeit kommt insbesondere bei einem EUVorhaben in Betracht, das mehrere wesentliche, klar abgrenzbare materielle Regelungsbestandteile enthält, kann aber auch zu bejahen sein, wenn es 2 Die Ergebnisse der Verhandlungen zwischen Bundesregierung, Bundestag und Ländern wurden durch das „Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union“ umgesetzt. Das vom Bundestag am 12.5.2005 beschlossene Gesetz, dem der Bundesrat am 27.5.2005 zugestimmt hat, ist (mit Ausnahme der Bestimmung, wonach die Einzelheiten der Unterrichtung und Beteiligung des Bundestages einer Vereinbarung zwischen Bundestag und Bundesregierung vorbehalten bleiben) mangels Inkrafttretens des Verfassungsvertrages jedoch noch nicht in Kraft getreten. Das Gesetz trifft v. a. Regelungen zur innerstaatlichen Umsetzung der den nationalen Parlamenten durch den Verfassungsvertrag eingeräumten Rechte der Rüge einer Verletzung des Subsidiaritätsprinzips innerhalb von sechs Wochen nach Übermittlung eines Rechtsetzungsvorschlags der Kommission, der Klage vor dem EuGH bei Verstößen von Rechtsakten gegen das Subsidiaritätsprinzip sowie des Vetos gegen einen einstimmigen Beschluss des Europäischen Rates zum Übergang von der Einstimmigkeit zu qualifizierten Mehrheitsentscheidungen gemäß Art. IV-444 des Verfassungsvertrages (sog. Brücken- bzw. Passerelle-Klausel). Darüber hinaus ist insbesondere eine Beteiligung von Bundestag und Bundesrat bei der Benennung der deutschen Richter und Generalanwälte des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) sowie der deutschen Mitglieder des Gerichts erster Instanz (EuG) vorgesehen. 3 Vgl. Schreiben des Bundesministers des Innern vom 10.8.2005, veröffentlicht „zu [BR-]Drucksache 312/05 (Beschluss)“.

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einerseits um materiell-rechtliche, andererseits um Zuständigkeits- und/oder Verfahrensregelungen geht. c) Letztentscheidungsrecht im Konfliktfall Für den Fall, dass eine Stellungnahme des Bundesrates maßgeblich zu berücksichtigen ist, aber die Bundesregierung eine andere inhaltliche Position zu dem EU-Vorhaben als der Bundesrat vertritt, enthält § 5 Abs. 2 EUZBLG eine Regelung. Danach ist zunächst Einvernehmen anzustreben (§ 5 Abs. 2 Satz 3 EUZBLG). Kommt das Einvernehmen nicht zustande, ist die Auffassung des Bundesrates dann maßgebend, wenn er sie mit einem mit zwei Dritteln seiner Stimmen gefassten Beschluss (sog. „Beharrungsbeschluss“) bestätigt (§ 5 Abs. 2 Satz 5 EUZBLG). Die Zustimmung der Bundesregierung ist allerdings dann erforderlich, wenn Entscheidungen zu Ausgabenerhöhungen oder Einnahmeminderungen für den Bund führen können (Art. 23 Abs. 5 Satz 3 GG, § 5 Abs. 2 Satz 6 EUZBLG). Die Bundesregierung leitet aus dem Erfordernis der Wahrung der gesamtstaatlichen Verantwortung des Bundes (Art. 23 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 GG, § 5 Abs. 2 Satz 2 EUZBLG) die Befugnis ab, auch im Falle eines Beharrungsbeschlusses vom Bundesrats-Votum abweichen zu können, wenn ihr dies zur Wahrung der gesamtstaatlichen Verantwortung einschließlich außen-, verteidigungs- und integrationspolitisch zu bewertender Fragen erforderlich erscheint. Nach Auffassung der Länder rechtfertigt das Erfordernis der Wahrung der gesamtstaatlichen Verantwortung demgegenüber kein Abweichen der Bundesregierung von der Stellungnahme des Bundesrates. Vielmehr steht dem Bundesrat, der als Bundesorgan ebenso wie die Bundesregierung die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes zu wahren hat, im Konfliktfall das Letztentscheidungsrecht zu. d) Befugnis der Bundesregierung zur Enthaltung bei auf Art. 308 EG-Vertrag gestützten Vorhaben Im Gegensatz zur Bundesregierung sind die Länder der Auffassung, dass sich die Bundesregierung bei auf Art. 308 EG-Vertrag gestützten Vorhaben im EU-Ministerrat auch nicht der Stimme enthalten darf, wenn ein gemäß § 5 Abs. 3 EUZBLG für die Zustimmung erforderliches Einvernehmen mit dem Bundesrat nicht hergestellt werden kann. Denn die Stimmenthaltung eines Mitgliedstaates der EU steht dem Zustandekommen von einstimmig zu fassenden Beschlüssen nicht entgegen (Art. 205 Abs. 3 EG-Vertrag). Bei der Besprechung des Bundeskanzlers mit den Regierungschefs der Länder am 18.12.1997 hat die Bundesregierung jedoch erklärt, dass sie bei einer

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Regelung, für die das vorgesehene Einvernehmen mit dem Bundesrat nicht zustande kommt, nur im Ausnahmefall von der Möglichkeit einer Stimmenthaltung Gebrauch machen wird. III. Sonstige EU-bezogene Änderungen im Rahmen der Föderalismusreform Über die oben dargelegte Modifizierung von Art. 23 Abs. 6 GG hinaus wurden im Rahmen der Föderalismusreform folgende EU-relevante Grundgesetzänderungen beschlossen: 1. Änderung von Art. 52 Abs. 3a GG Art. 52 Abs. 3a GG wurde geändert, um es der Europakammer, die in Eilfällen anstelle des Bundesrates beschließen kann, zu ermöglichen, künftig auch im schriftlichen Umfrageverfahren Beschlüsse zu fassen. Der bisherige Verweis auf Art. 51 Abs. 3 Satz 2 GG, demzufolge die Stimmen nur durch anwesende Mitglieder oder deren Vertreter abgegeben werden können, hatte dies ausgeschlossen. Art. 52 Abs. 3a GG n. F. legt nunmehr lediglich fest, dass sich die Anzahl der einheitlich abzugebenden Stimmen der Länder nach Art. 51 Abs. 2 GG bestimmt. Die Änderung dient der Verbesserung der Europatauglichkeit des Grundgesetzes, weil sie eine schnelle Reaktion des Bundesrates auf eine veränderte Verhandlungssituation in Brüssel wie z. B. die Modifizierung eines maßgeblich zu berücksichtigenden Votums besser sicherstellt als die bisherige Regelung. 2. Abschaffung der Rahmengesetzgebungskompetenz Die Kategorie der Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes gemäß Art. 75 GG hat sich nicht bewährt. Mit der Abschaffung der Rahmengesetzgebung wird auch die Europatauglichkeit des Grundgesetzes gestärkt. Denn die Notwendigkeit von zwei nacheinander geschalteten Gesetzgebungsverfahren hat sich insbesondere bei der Umsetzung von europäischem Recht als ineffektiv erwiesen. 3. Innerstaatliche Haftungsregelung bei einer Verletzung von europarechtlichen Verpflichtungen Deutschlands (Art. 104a Abs. 6 GG n. F.) Zwischen Bund und Ländern war strittig, ob der im Außenverhältnis zur EU für Vertragsverletzungen allein haftende Bund Regress für dafür ver-

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hängte finanzielle Sanktionen (z. B. vom EuGH verhängte Zwangsgelder oder Pauschalbeträge) bei einem Land oder mehreren Ländern nehmen kann, wenn diese die Vertragsverletzung durch fehlerhafte Umsetzung oder Anwendung von Gemeinschaftsrecht zu verantworten haben. Im Gegensatz zur Bundesregierung gab es nach Auffassung der Länder keine Rechtsgrundlage für einen solchen Regressanspruch und konnte insbesondere nicht auf Art. 104a Abs. 5 GG zurückgegriffen werden. Die Länder waren der Meinung, dass diese Bestimmung nur für innerstaatliche Vorgänge4 und auch hier nur für administratives Handeln, nicht aber für Regierungs- oder Gesetzgebungstätigkeit gilt. Mit der Ergänzung von Art. 104a GG um einen neuen Absatz 6 wurde nunmehr eine Regelung geschaffen, wonach die finanziellen Folgen einer Verletzung von europarechtlichen (und auch völkerrechtlichen) Verpflichtungen innerstaatlich grundsätzlich die Körperschaft (Bund oder Länder) treffen sollen, in deren Verantwortungsbereich sie sich ereignet hat (Art. 104a Abs. 6 Satz 1 GG). Für die Fälle länderübergreifender Finanzkorrekturen der EU aufgrund fehlerhafter Verausgabung von EU-Mitteln (sog. Anlastungen) ist als Ausnahme vom Verursacherprinzip eine Solidarhaftung für den Bund in Höhe von 15% und für die Länder in Höhe von 35% der Gesamtlasten vorgesehen. Die verbleibenden 50% tragen die Länder, welche die Lasten verursacht haben, anteilig entsprechend der Höhe der erhaltenen Mittel (Art. 104a Abs. 6 Sätze 2, 3 GG). Die Einzelheiten sind in dem „Gesetz zur Lastentragung im Bund-Länder-Verhältnis bei Verletzung von supranationalen oder völkerrechtlichen Verpflichtungen (Lastentragungsgesetz – LastG)“ geregelt, das im Rahmen des Föderalismusreform-Begleitgesetzes ergangen ist. Zudem wurde § 7 EUZBLG, der das Gebrauchmachen von Klagemöglichkeiten durch die Bundesregierung auf Verlangen des Bundesrates regelt, um einen neuen Absatz 4 betreffend die Einlegung des zulässigen Rechtsmittels bei einer länderübergreifenden Finanzkorrektur ergänzt. Danach ist die Bundesregierung, wenn das zunächst anzustrebende Einvernehmen nicht erzielt werden kann, auf ausdrückliches Verlangen betroffener Länder zur Einlegung des zulässigen Rechtsmittels verpflichtet.

4 Für einen vor dem In-Kraft-Treten der Föderalismusreform liegenden Fall hat das Bundesverfassungsgericht demgegenüber in einem neueren Urteil in Art. 104a Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 2 GG eine unmittelbar anwendbare Haftungsgrundlage für den Rückgriff des Bundes gegen ein Land wegen Anlastungen der Europäischen Kommission gesehen (Urteil vom 17. Oktober 2006 – 2 BvG 1/04 und 2 BvG 2/04). Dem BVerfG zufolge bestehe kein Anlass, den Anwendungsbereich dieser Norm auf die Verletzung national gesetzten Rechts zu beschränken.

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4. Innerstaatliche Regelungen im Zusammenhang mit der Europäischen Währungsunion (Art. 109 Abs. 5 GG n. F.) Nach Art. 109 Abs. 5 Satz 1 GG sind die Verpflichtungen zur Einhaltung der Haushaltsdisziplin im Rahmen der Europäischen Währungsunion von Bund und Ländern gemeinsam zu erfüllen. Die innerstaatliche Lastentragung bei finanziellen Sanktionen der EU gemäß Art. 104 Abs. 11 EG-Vertrag wegen der Verletzung dieser Verpflichtungen wird wie folgt aufgeteilt (Art. 109 Abs. 5 Sätze 2 und 3 GG): Bund und Länder tragen die Sanktionsmaßnahmen im Verhältnis 65 zu 35. Die Länder tragen solidarisch 35% der auf sie entfallenden Lasten; die restlichen 65% tragen die Länder entsprechend ihrem Verursachungsbeitrag. Das Nähere regelt das „Gesetz zur innerstaatlichen Aufteilung von unverzinslichen Einlagen und Geldbußen gemäß Art. 104 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (Sanktionszahlungs-Aufteilungsgesetz – SZAG)“. Es erging ebenfalls im Rahmen des Föderalismusreform-Begleitgesetzes. IV. Zur Diskussion über die europabezogenen Mitwirkungsrechte der Länder in der Föderalismuskommission 1. Zur Kritik an den Länderrechten Im Rahmen der Beratungen der Föderalismuskommission sind die Mitwirkungsrechte der Länder in EU-Angelegenheiten seitens der Bundesregierung, von Vertretern des Bundestages und einer Reihe der angehörten Sachverständigen weitgehend negativ bewertet worden.5 Hierin wurde eine nicht unerhebliche Beeinträchtigung der europapolitischen Handlungsfähigkeit der Bundesregierung zu Lasten einer bestmöglichen Vertretung deutscher Interessen auf EU-Ebene gesehen. Die dazu angeführten Argumente lassen sich im Wesentlichen auf die Aspekte „zu kompliziertes Mitwirkungsverfahren“ und „Beeinträchtigung der für eine schnelle Reaktion auf sich wandelnde Verhandlungssituationen notwendigen Flexibilität“ zusammenfassen. 5 Vgl. insbesondere Protokoll der bei der 3. Sitzung der Föderalismuskommission am 12.12.2003 durchgeführten öffentlichen Anhörung (Kommissionsprotokoll 3); Protokoll der 6. Sitzung der Föderalismuskommission am 14.5.2004 mit dem Schwerpunktthema „Europa“ (Kommissionsprotokoll 6); Positionspapier der Bundesregierung zu Art. 23 GG vom 29.4.2004 (Kommissionsdrucksache 0041). Zur Haltung der Länder vgl. insbesondere das Positionspapier der Ministerpräsidenten zur Föderalismusreform vom 6.5.2004 (Kommissionsdrucksache 0045, S. 10 f.) sowie das am 30.8.2004 übermittelte Positionspapier der Länder zu Art. 23 GG (Arbeitsunterlage 0080). Die Sitzungsprotokolle, Kommissionsdrucksachen und Arbeitsunterlagen können im Internet unter www.bundesrat.de (Föderalismusreform – Dokumente zur Arbeit der Bundesstaatskommission) abgerufen werden.

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Speziell gegen die Übertragung der Verhandlungsführung auf einen Vertreter der Länder gemäß Art. 23 Abs. 6 GG wurde angeführt, dass dies die effektive Interessenvertretung im Rat erschwere. Die Verhandlungsführung durch einen Ländervertreter könne darunter leiden, dass er gleichsam „einmalig“ in Aktion trete und deshalb auf EU-Ebene als Vertreter der deutschen Interessen nicht angemessen wahrgenommen werde.6 Deutschland müsse in der Außenwahrnehmung in Brüssel auf einer Ebene und mit „einer Stimme“ sprechen.7 Kritiker der europabezogenen Mitwirkungsrechte der Länder und insbesondere auch die Bundesregierung sprachen sich dementsprechend für die Abschaffung der Bindungswirkung von Bundesrats-Voten bei schwerpunktmäßiger Betroffenheit von Länderkompetenzen sowie (zumindest) für die Abschaffung der Übertragung der Verhandlungsführung auf einen Vertreter der Länder gemäß Art. 23 Abs. 6 GG aus. 2. Stellungnahme zu der Kritik Zur Diskussion um die Mitwirkungsrechte der Länder in EU-Angelegenheiten ist zunächst anzumerken, dass derartige Rechte angesichts des erreichten Standes der europäischen Integration gerade auch in qualifizierter (d. h. über eine bloße Berücksichtigung von Bundesrats-Stellungnahmen hinausgehender) Form mit Blick auf das in Art. 20 Abs. 1 GG verankerte und der „Ewigkeitsgarantie“ des Art. 79 Abs. 3 GG unterliegende Bundesstaatsprinzip verfassungsrechtlich geboten sind. Im Laufe der Zeit ist es zu immer mehr Hoheitsrechtsübertragungen auf die EU gekommen. Dies hat die Tendenz zur Erosion des Bundesstaatsprinzips, zu der die innerstaatliche Entwicklung geführt hat, weiter verstärkt. Dabei betreffen die Kompetenzverluste der Länder infolge von immer weiteren Hoheitsrechtsübertragungen auf und deren extensive Ausübung durch die EU nicht nur ihre eigenen Zuständigkeiten. Auch die Übertragung von Kompetenzen des Bundes auf die EU hat Auswirkungen auf die Länder: Sie verlieren ihre Beteiligungsrechte über den Bundesrat. Die Kompetenzverluste der Länder infolge des europäischen Einigungsprozesses müssen durch an den innerstaatlichen Zuständigkeiten der Länder ausgerichtete Mitwirkungsrechte in EU-Angelegenheiten wenigstens teilweise ausgeglichen werden. Anderenfalls könnte der Bund insbesondere auch in den Bereichen, die den Ländern innerstaatlich zur eigenen Gestal6 Positionspapier der Bundesregierung zu Art. 23 GG vom 29.4.2004 (Kommissionsdrucksache 0041), S. 3. 7 Positionspapier der Bundesregierung (Fn. 5), S. 1.

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tung zugeordnet sind, über auf EU-Ebene getroffene Entscheidungen letztlich nach eigenem Belieben mitbestimmen; dem Bund würde gleichsam der Zugriff auf die Gesamtheit der Länderrechte eröffnet. Damit würde das Bundesstaatsprinzip substanziell in einem Maße ausgehöhlt, das nicht mehr mit dem Grundgesetz zu vereinbaren sein dürfte. Abgesehen von den verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten, die einer Reduzierung der europabezogenen Mitwirkungsrechte der Länder auf die bloße Berücksichtigung von Bundesrats-Stellungnahmen entgegen stehen, entspricht die Kritik auch nicht den grundsätzlich positiven Erfahrungen in der gut dreizehnjährigen Praxis der Ländermitwirkung in EU-Angelegenheiten gemäß Art. 23 GG.8 Nachstehend wird auf die dargelegten Kritikpunkte im Einzelnen eingegangen. a) Zur Beeinträchtigung der Europafähigkeit Deutschlands durch ein zu kompliziertes und schwerfälliges Mitwirkungsverfahren Die Mitwirkungsrechte der Länder in EU-Angelegenheiten sind differenziert entsprechend ihren innerstaatlichen Befugnissen ausgestaltet mit der Folge, dass die Regelungen des Art. 23 GG und der Ausführungsbestimmungen auf den ersten Blick kompliziert erscheinen mögen. Das Mitwirkungsverfahren ist jedoch weder zu kompliziert noch schwerfällig. So wurde gerade aus Gründen der Effektivität und damit im Interesse der Europafähigkeit des Gesamtstaates die Regelung getroffen, dass die Mitwirkung der Länder in EU-Angelegenheiten „durch den Bundesrat“ erfolgt, weil dies die institutionalisierte Bildung eines Mehrheitswillens der Länder ermöglicht. Die für eine Bundesratsbehandlung vorgesehenen EU-Vorlagen werden in der Regel schnell auf die Tagesordnung gesetzt und zügig behandelt. Zum Teil finden dazu schon vor den eigentlichen Ausschussberatungen Koordinierungssitzungen der Länder auf der jeweiligen Fachebene statt, was eine effiziente und fachlich fundierte Bundesratsbehandlung fördert. In manchen Bereichen erfolgt die Positionierung des Bundesrates zum Teil sogar in Abstimmung mit der Bundesregierung, z. B. in auf Fachebene „vorgeschalteten“ Beratungen unter Beteiligung von Vertretern der Länder und des Bundes. Hierin ist jedoch kein die Festlegung der deutschen Verhandlungsposition unnötig verkomplizierender Bund-Länder-Koordinierungsprozess zu sehen. Solche Bund-Länder-Beratungen (die eine Stellungnahme 8 Vgl. hierzu das vom rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck mit Schreiben vom 24.3.2004 an die Föderalismuskommission übermittelte Papier mit Hintergrundinformationen zur Ländermitwirkung in EU-Angelegenheiten (Kommissionsdrucksache 0034).

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des Bundesrates gelegentlich verzögern können, weil man vor Abgabe des Bundesrats-Votums zunächst das Ergebnis der Beratungen abwartet) finden vielmehr auch im ureigenen Interesse der Bundesregierung statt. Sie benötigt die Einschätzungen der Länder, die in aller Regel für den Vollzug und zum Teil auch für die legislative Umsetzung von EU-Recht zuständig sind, für die Entwicklung ihrer Position. Selbstverständlich kann es bei komplexen und schwierigen EU-Vorlagen länger dauern, bis die Länder ihre Prüfung abgeschlossen haben und der Bundesrat eine Stellungnahme abgibt. In solchen Fällen brauchen ohnehin aber auch die Bundesregierung und die anderen Mitgliedstaaten entsprechend viel Zeit für ihre Bewertungen. So ist in Berichten über die Beratungen in den Brüsseler Ratsgremien häufig von Prüfvorbehalten einiger oder aller Mitgliedstaaten mangels endgültiger Positionsbestimmung zu lesen. Selbst wenn es im Einzelfall wegen der Mitwirkungsrechte der Länder zu einer Verzögerung der deutschen Positionsbestimmung gekommen sein mag, hat sich dies offenbar nicht verzögernd auf die Entscheidungsfindung in Brüssel ausgewirkt. In ihrer Antwort vom 10.11.20039 auf eine Kleine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion zur Beteiligung des Deutschen Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union hat die Bundesregierung auf die Fragen, in wie vielen und welchen Fällen Entscheidungen des Ministerrats aufgrund der Beteiligung des Bundesrates bzw. der Vertretung der Bundesrepublik Deutschland durch einen Vertreter der Länder verzögert oder blockiert worden seien, keinen einzigen Fall konkret benennen können. b) Zur Beeinträchtigung der europapolitischen Handlungsfähigkeit der Bundesregierung durch die Verpflichtung zur maßgeblichen Berücksichtigung eines Bundesrats-Votums Hierzu ist zunächst anzumerken, dass die Mitwirkungsrechte der Länder die europapolitische Handlungsfähigkeit der Bundesregierung schon deshalb nicht in nennenswerter Weise beeinträchtigen können, weil die Fälle, in denen eine Stellungnahme des Bundesrates maßgeblich zu berücksichtigen sowie ggf. auch die Verhandlungsführung auf einen Vertreter der Länder zu übertragen ist, in der Praxis nicht häufig sind. Der Bundesrat hat diese qualifizierten Mitwirkungsrechte in den letzten Jahren in ca. 6 Prozent der Fälle, in denen er zu einem EU-Vorhaben Stellung genommen hat, geltend gemacht.10 Ganz überwiegend gibt der Bundesrat wegen der besonderen 9

BT-Drs. 15/1961. So hat der Bundesrat zu den im Zeitraum 1998 bis 2005 eingegangenen EUVorlagen rund 800 Stellungnahmen abgegeben (dabei wurden Beschlüsse des Bun10

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Bedeutung einer EU-Vorlage für die Länder und/oder die Belange Deutschlands in Wahrnehmung seiner gesamtstaatlichen Verantwortung Stellungnahmen ab, die von der Bundesregierung nur zu berücksichtigen sind. Dementsprechend beeinträchtigen sie die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung allenfalls geringfügig. Auch in den Fällen, in denen eine Bundesrats-Stellungnahme maßgeblich zu berücksichtigen war, wurde die europapolitische Handlungsfähigkeit Deutschlands nicht wesentlich beeinträchtigt. Zum einen waren sich Bund und Länder in diesen Fällen zumeist in der Sache im Wesentlichen einig. Bislang ist es nur einmal zu dem in § 5 Abs. 2 Sätze 3 ff. EUZBLG geregelten Verfahren für den Fall mangelnder Übereinstimmung der Sachposition der Bundesregierung mit einer maßgeblich zu berücksichtigenden Stellungnahme des Bundesrates gekommen11. Zum anderen sind die Bundesrats-Voten in der Regel so gefasst, dass sie hinreichenden Spielraum für die Verhandlungen auf EU-Ebene lassen. Es trifft zwar zu, dass die Bundesregierung einen Vorbehalt einlegen und sich mit den Ländern rückkoppeln muss, bevor sie einer sich bei den Verhandlungen auf EU-Ebene abzeichnenden (Kompromiss-)Lösung zustimmen kann, die ganz oder teilweise nicht mit einem maßgeblich zu berücksichtigenden Bundesrats-Votum übereinstimmt. Dadurch wird die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung natürlich stärker beeinträchtigt, als wenn sie völlig frei agieren könnte. Es liegt jedoch in der Natur von Demokratie und Föderalismus, dass (Bundes-)Regierungen nicht immer völlig frei agieren können. Auch Vertreter anderer Mitgliedstaaten müssen – je nach deren innerstaatlichen Regelungen zur europapolitischen Willensbildung – im Verlauf des Verhandlungsprozesses auf EU-Ebene zunächst Vorbehalte gegenüber neuen (Kompromiss-)Vorschlägen einlegen und sich rückkoppeln – sei es mit ihrer Regierung, mit den nationalen Parlamenten oder Ländern bzw. Regionen. desrates, in denen er zu mehreren EU-Vorhaben Stellung genommen hat, nur als eine Stellungnahme gezählt). In 50 Fällen wurde die maßgebliche Berücksichtigung geltend gemacht und in 12 Fällen darüber hinaus auch die Übertragung der Verhandlungsführung auf einen Vertreter der Länder gefordert. Die Bundesregierung hat in diesen Fällen 31 Widersprüche gegen die maßgebliche Berücksichtigung der Stellungnahme des Bundesrates und 8 Widersprüche gegen eine Übertragung der Verhandlungsführung auf einen Vertreter der Länder erhoben, weil sie die Voraussetzungen nicht als gegeben angesehen hat. Dies hat jedoch nicht zu einer Anrufung des Bundesverfassungsgerichts geführt, weil die Sachpositionen von Bundesrat und Bundesregierung in diesen Fällen in der Regel im Wesentlichen übereinstimmten und auch bei der Verhandlungsführung pragmatische Lösungen gefunden wurden. 11 Geänderter Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme (Plan-UVP-Richtlinie) (BR-Drs. 693/99). In diesem Fall wurde allerdings die gemäß § 5 Abs. 2 Satz 5 EUZBLG erforderliche Zweidrittelmehrheit nicht erreicht.

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Bei notwendigen Rückkoppelungen des Bundes mit den Ländern erhält der Bund in der Regel eine schnelle, dem Brüsseler Zeitplan Rechnung tragende und kooperative Rückmeldung. Den Ländern, die den Verhandlungsprozess laufend vor allem über die Berichte der Bundesratsvertreter und der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Brüssel verfolgen, ist die „Gefechtslage“ sehr wohl bekannt. Im Bewusstsein dessen, was realistischerweise auf EU-Ebene durchsetzbar ist, zeigen sie sich letztlich auch kompromissbereit. Ungeachtet der oben dargestellten Streitfrage, ob ihr diese Befugnis überhaupt zusteht, ist die Bundesregierung bislang noch nicht unter Berufung auf die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes von einer maßgeblich zu berücksichtigenden Stellungnahme des Bundesrates abgewichen.12 Nicht zuletzt dies zeigt, dass der Bundesrat bei der Ausübung seiner Mitwirkungsrechte die gesamtstaatliche Verantwortung zu wahren weiß, auf die er als Bundesorgan ebenso wie die Bundesregierung verpflichtet ist. c) Zur Beeinträchtigung einer effektiven Vertretung der deutschen Interessen in Brüssel bei Verhandlungsführung durch einen Vertreter der Länder Die behauptete Erschwerung der Durchsetzung deutscher Interessen auf EU-Ebene bei einer Übertragung der Verhandlungsführung auf einen Vertreter der Länder ist schon mit Blick darauf nicht nachvollziehbar, dass die Verhandlungsführung durch einen Ländervertreter unter Teilnahme von und in Abstimmung mit dem Vertreter der Bundesregierung erfolgt (Art. 23 Abs. 6 Satz 2 GG, § 6 Abs. 2 Satz 3 EUZBLG). Eine Übertragung der Verhandlungsführung auf die Länderseite ist im Gegenteil aufgrund der Sachkompetenz des vom Bundesrat benannten Vertreters in der betreffenden, ja der ausschließlichen Gesetzgebungsbefugnis der Länder unterfallenden Materie die beste Gewähr für eine effektive Interessenwahrnehmung. Es trifft auch nicht zu, dass die vom Bundesrat benannten Vertreter der Länder gleichsam „einmalig“ in Aktion treten, deshalb auf EU-Ebene als Vertreter der deutschen Interessen nicht angemessen wahrgenommen würden und diese „mangelnde personelle Kontinuität“ auch für die Länder nachteilig sei.13 Die vom Bundesrat benannten Vertreter der Länder nehmen 12 Vgl. Antwort der Bundesregierung vom 10.11.2003 auf eine Kleine Anfrage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zur Beteiligung des Deutschen Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union (BT-Drucksache 15/1961). 13 Positionspapier der Bundesregierung zu Art. 23 GG vom 29.4.2004 (Kommissionsdrucksache 0041), S. 3. Vgl. hierzu den ehemaligen Bayerischen Staatsminister Hans Zehetmair (in: „politik und kultur“, Juli/August 2004, S. 3): „Ganz im Gegen-

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– nicht selten über viele Jahre hinweg – in der Regel an den Sitzungen der Ratsarbeitsgruppen und Räte, für die sie benannt sind, teil und nicht etwa nur dann und insoweit, als sie auch die Verhandlungsführung inne haben. Deshalb sind die Ländervertreter sowohl auf politischer wie auf Beamtenebene den Vertretern der anderen Mitgliedstaaten als fester Bestandteil der deutschen Delegation und kompetenter Ansprechpartner in den Zuständigkeitsbereichen der Länder bekannt. Außerdem können sich die Ländervertreter – mit Zustimmung des Delegationsleiters – auch bei den Tagesordnungspunkten zu Wort melden, bei denen sie nicht die Verhandlungsführung innehaben. So werden die Beiträge der Ländervertreter zu den Verhandlungen in den Brüsseler Gremien seitens des Bundes auch außerhalb der Bereiche der ausschließlichen Ländergesetzgebungsbefugnisse dort, wo die Vertreter der Bundesregierung über keine hinreichende eigene Kompetenz verfügen (z. B. Vollzugsfragen), durchaus geschätzt. Die gegen die Übertragung der Verhandlungsführung auf einen Vertreter der Länder angeführte Notwendigkeit, mit „einer Stimme“ zu sprechen, überzeugt ebenfalls nicht. Entscheidend ist, dass ein Mitgliedstaat bei den Verhandlungen auf Ratsebene inhaltlich mit einer Stimme spricht. In personeller Hinsicht spricht ohnehin kein Mitgliedstaat der EU mit „einer Stimme“. Die Mitgliedstaaten sind in den Fachministerräten durch den jeweils zuständigen Fachminister vertreten. Dabei kann der die Verhandlungen für einen Mitgliedstaat führende Vertreter je nach der innerstaatlichen Zuständigkeitsverteilung nicht nur für die unterschiedlichen Teile einer bestimmten Ratsformation (z. B. die Teile „Binnenmarkt“ oder „Forschung“ des Rates „Wettbewerbsfähigkeit“), sondern auch für einzelne Tagesordnungspunkte wechseln. d) Fazit Entsprechend ihren innerstaatlichen Befugnissen ausgestaltete Mitwirkungsrechte der Länder in EU-Angelegenheiten sind mit Blick auf das Bundesstaatsprinzip verfassungsrechtlich geboten. Die Mitwirkungsrechte der Länder nach Art. 23 GG haben sich in der nunmehr gut dreizehnjährigen Praxis auch bewährt. Insbesondere haben sie die europapolitische Handlungsfähigkeit der Bundesregierung nicht in nennenswerter Weise beeinträchtigt. Die Mitwirkungsrechte der Länder in EU-Angelegenheiten dienen im Gegenteil dem gesamtstaatlichen Interesse. Zum einen ermöglichen sie es, die teil darf ich für mich in Anspruch nehmen, während meiner zehnjährigen Tätigkeit [als Bundesratsvertreter im EU-Kulturministerrat] als Konstante mit wechselnden Partnern gegolten zu haben.“

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spezifische Sachkompetenz der Länder in den innerstaatlichen Willensbildungsprozess und in die Beratungen auf EU-Ebene einfließen zu lassen. Dies gilt vor allem, wenn ein EU-Vorhaben ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betrifft. Das gilt aber insbesondere aufgrund der Erfahrungen der Länder im Verwaltungsvollzug auch für die übrigen Fälle. Zum anderen verringert die Einbindung der Länder in die europabezogene Willensbildung innerstaatliches Konfliktpotenzial. Soweit Defizite bei der effektiven Durchsetzung deutscher Interessen auf EU-Ebene zu konstatieren sind, haben diese ihre Ursache in erster Linie und vor allem in internen Koordinierungsproblemen auf der Ebene der Bundesregierung und nicht in den Mitwirkungsrechten der Länder.

V. Ausblick Wenn sich die europabezogenen Mitwirkungsrechte der Länder auch bewährt haben, so sind Bund und Länder doch aufgefordert, an einer weiteren Verbesserung ihrer Zusammenarbeit in EU-Angelegenheiten unterhalb der Ebene einer (grund-)gesetzlichen Regelung zu arbeiten. Der im Rahmen der Föderalismusreform vereinbarte Begleittext zu Art. 23 Abs. 6 GG trifft hierzu einige Festlegungen. Sie betreffen zum einen die für die effektive Einbringung der eigenen Anliegen wichtige Phase der Ausarbeitung eines Rechtsetzungsvorschlags durch die Kommission. Zur frühzeitigen Identifizierung prioritärer bzw. potenziell strittiger Initiativen soll eine verbesserte gegenseitige Information zwischen Bund und Ländern im Vorfeld von EU-Vorhaben erfolgen. Außerdem soll die Einbringung deutscher Positionen in dieser Phase verbessert werden. Zur Stärkung der europapolitischen Handlungsfähigkeit der Bundesregierung in der Verhandlungsund Entscheidungsphase auf Ratsebene wurde mit der Möglichkeit, Beschlüsse der Europakammer auch im schriftlichen Umfrageverfahren herbeizuführen, bereits eine wichtige im Begleittext vorgesehene Maßnahme umgesetzt. Für die Beteiligung des Bundesrates an der europäischen Politikgestaltung ist auch eine neuere Entwicklung auf EU-Ebene von großer Bedeutung: Seit September 2006 setzt die Europäische Kommission ihre in der Mitteilung vom 10.5.2006 „Eine bürgernahe Agenda: Konkrete Ergebnisse für Europa“14 geäußerte Absicht um, alle neuen Vorschläge und Konsultationspapiere direkt den nationalen Parlamenten zu übermitteln und sie zu einer Reaktion aufzufordern, um so den politischen Entscheidungsprozess 14

KOM (2006) 211 endg.

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zu verbessern. Der Europäische Rat hat diese Zusage der Kommission bei seiner Tagung am 15./16. Juni 2006 begrüßt und die Kommission ersucht, die Stellungnahmen der nationalen Parlamente – insbesondere in Bezug auf die Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit – gebührend zu berücksichtigen. Mit der direkten Einbindung der nationalen Parlamente in EU-Vorhaben wird der Forderung der deutschen Länder im Kern entsprochen, das im Protokoll zum Verfassungsvertrag über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit vorgesehene Subsidiaritäts-Frühwarnsystem15 unabhängig vom Schicksal des Verfassungsvertrages zu praktizieren. Der Bundesrat hat das Angebot der Kommission aufgegriffen und lässt ihr seine Stellungnahmen zu EU-Vorhaben in Bezug auf die Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit zukommen. Die direkte Einbindung der nationalen Parlamente in die europäische Politikgestaltung ist ein wichtiger Beitrag zur Stärkung von Demokratie, Subsidiarität und Bürgernähe in der EU und damit auch zur Stärkung des Vertrauens der Bürger in die europäische Integration. Vor allem durch die frühzeitige und intensive Befassung der nationalen Parlamente mit EU-Vorhaben kann erreicht werden, dass mehr Öffentlichkeit hergestellt und die Europapolitik in einer ihrer innenpolitischen Bedeutung entsprechenden Weise in den Mitgliedstaaten wahrgenommen wird.

15 Danach leitet die Kommission ihre Rechtsetzungsvorschläge den nationalen Parlamenten unmittelbar zu, welche die Möglichkeit haben, innerhalb von 6 Wochen nach Übermittlung eine Verletzung des Subsidiaritätsprinzips zu rügen. Jedes nationale Parlament hat zwei Stimmen; in einem Zweikammersystem hat jede der beiden Kammern eine Stimme. Erreicht die Anzahl der Subsidiaritätsrügen ein Drittel der Gesamtzahl der den nationalen Parlamenten zugewiesenen Stimmen, muss der Entwurf überprüft und der Beschluss, an dem Entwurf festzuhalten, ihn zu ändern oder ihn zurückzuziehen, begründet werden.

Uneinheitlichkeit behördlicher Kontrollen im Bundesstaat, dargestellt am Beispiel der endlosen Reform des Bauordnungsrechts Von Dieter Wilke I. Kaum war das jüngste Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes, das nach seiner Begründung eine Föderalismusreform mit sich bringen sollte,1 am 1. September 2006 in Kraft getreten,2 als dessen ungeachtet die traditionellen Unzulänglichkeiten des deutschen Bundesstaates erneut manifest wurden. An zahlreichen Orten wurden in Lagerräumen große Mengen von Fleisch entdeckt, dessen Verfallszeit abgelaufen war und das dennoch an die Verbraucher hätte weitergegeben werden können. Nicht nur die älteren unter ihnen, die noch den Reklamespruch früherer Jahrzehnte „Fleisch ist Grundnahrungsmittel“ in ihrem Langzeitgedächtnis gespeichert haben mochten, wurden von offiziellen Erklärungen überrascht, wonach das aufgefundene Fleisch angeblich nicht gesundheitsschädlich, sondern nur ekelerregend wäre. Der sich hierauf entwickelnde so genannte Gammelfleischskandal ließ erkennen, dass das lebensmittelrechtliche Kontrollsystem versagt hatte. Die Krise wurde zunächst in klassischer Manier durch Verneinung der eigenen Verantwortung und Schuldzuweisung an andere, also durch Worte, nicht durch strukturelle Maßnahmen bewältigt. Die Medien wiesen reflexhaft auf die gewohnten Defizite moderner deutscher Verwaltungskultur hin: fehlende oder unwirksame Kontrollen, Personalmangel, behördliche Inkompetenz sowie unzulängliche Kommunikation der Behörden von Bund und Ländern. Obwohl eine Grundgesetznovelle soeben den Föderalismus reformiert und die Zuständigkeiten zwischen dem Zentralstaat und seinen Gliedstaaten neu abgesteckt hatte, wurde sogleich der Ruf nach einer Vermehrung der Zuständigkeiten des Bundes laut. So forderte der Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Seehofer erweiterte Kompetenzen 1

BT-DrS 16/813, S. 1. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 22, 23, 33, 52, 72, 73, 74, 74a, 75, 84, 85, 87c, 91a, 91b, 93, 98, 104a, 104b, 105, 107, 109, 125a, 125b, 125c, 143) vom 28.8.2006 (BGBl. I, S. 2034). 2

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seines Ministeriums, damit dieses künftig besser für die Kontrolle und Koordination der Länder gewappnet sei.3 Er erwarte die Bereitschaft der Länder sich in die Karten schauen lassen, das heiße, zuzulassen, dass Schwachstellen der Lebensmittelüberwachung überprüft, entdeckt und beseitigt würden: „Wir können es uns nicht leisten, dass 16 Bundesländer unkoordiniert nebeneinander herarbeiten“. Dieses ministerielle Plädoyer für eine bis dahin offenbar nicht praktizierte Variante der Bundesaufsicht war einigermaßen erstaunlich, denn die Föderalismusreform hatte doch gerade dem Wettbewerb der Länder den Weg bereiten sollen,4 und die Materie der Lebensmittelüberwachung wäre kein ungeeignetes Objekt eines solchen Konkurses zwischen den Ländern gewesen. Sollte doch die mit der Föderalismusreform bezweckte „Modernisierung“ des Bundesstaates die „Verantwortlichkeiten“ deutlicher voneinander trennen, die „Zweckmäßigkeit und Effizienz der Aufgabenerfüllung steigern“, „demokratie- und effizienzhinderliche Verflechtungen zwischen Bund und Ländern abbauen und wieder klare Verantwortlichkeiten schaffen“5. Offenbar war auf die angeblich bewirkte „nachhaltige Stärkung der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Bundes und der Länder“6 kein Verlass, denn die Verbraucherminister der Länder beschlossen unter dem politischem Druck ihres ressortverwandten Bundesministers alsbald „einheitliche Qualitätsstandards bei der Lebensmittelkontrolle“7, die nach Auffassung journalistischer Beobachter das Prinzip verfolgten, dass “die Länder kooperieren und der Bund koordiniert“8. In der Präambel des Beschlusses stellten „die für den Verbraucherschutz zuständigen Ministerinnen und Minister und Senatorinnen und Senatoren“ am 7. September 2006 jedoch fest, dass die „Kompetenzen zwischen Bund und Ländern klar geregelt sind“. Ihr Beschluss enthält zwar eine Entscheidung für ein „länderübergreifendes Qualitätsmanagement“ im Bereich der Lebensmittelkontrolle (unter Nr. 1), meidet im Übrigen ein Eingehen auf weitergehende Forderungen (oder doch wenigstens fordernde Andeutungen) des für den Verbraucherschutz zuständigen Bundesministers. Das Maßnahmenpaket bescheidet sich vielmehr mit mehr oder minder substantiellen Anregungen und Vorschlägen, die auch sonst bei der Handhabung von Krisen 3 Der Minister verlangte, dass der Bund die Länder koordinieren müsse, wenngleich diese grundsätzlich für die Lebensmittelkontrolle zuständig seien, und forderte „bundeseinheitliche Regeln für alle Lebensmittelkontrollen“. Vgl. www. bmelv.de (" Presse – Interviews = Passauer Neue Presse v. 7.9.2006). 4 BT-DrS 16/813, S. 7; FAZ v. 11.10.2006, S. 15. 5 BT-DrS 16/813, S. 1, 7. 6 BT-DrS 16/813, S. 1. 7 Beschluss der für den Verbraucherschutz zuständigen Ministerinnen und Minister und Senatorinnen und Senatoren v. 7.9.2006 (www.bmelv.de [" Verbraucherschutz " Lebensmittelsicherheit]). 8 FAZ v. 9.9.2006, S. 8.

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üblich sind, z. B. die Nennung der Namen von Unternehmern als „Schwarzen Schafen“ (unter Nr. 2) sowie eine Zuverlässigkeitsprüfung (unter Nr. 7), die – selbstredend – konsequente Ausfüllung, Überprüfung und Erhöhung von Strafrahmen (unter Nr. 3), die Zusammenarbeit von Fach- und Strafverfolgungsbehörden (unter Nr. 6) und die Aufforderung an die Wirtschaft zur Verbesserung ihrer Eigenkontrolle (unter Nr. 8). Als Maßnahmen, die von der Verbraucherministerkonferenz der Öffentlichkeit präsentiert wurden, figurieren sogar ein Lob, dass eine EDV-Plattform geschaffen worden sei, die einen „schnellen Informationsaustausch zwischen Landesbehörden und Bundesbehörden sicherstellt“ (unter Nr. 5), sowie „Erwartungen“, dass die bevorstehende deutsche EU-Präsidentschaft ein Instrument zur Verbesserung der Lebensmittelsicherheit sein werde (unter Nr. 13). Der Bundesverbraucherminister hat sich mit solchen Bekundungen nicht zufrieden gegeben, sondern sein Ziel, die Länder am Leitseil des Bundes zur Kontrollkonformität zu veranlassen, weiter verfolgt. In einem „Reformpaket“ vom Oktober 2006, das der Verbesserung der Lebensmittelüberwachung, insbesondere durch Vereinheitlichung der Kontrollen, dient, hat er den Druck verstärkt9 und die Länder gedrängt, ihrem Ministerbeschluss vom 7. September 2006 Taten folgen zu lassen. Trostreich ist für diese die Versicherung des Ministers, dass es bei den Veränderungen nicht darum gehe, die im Grundgesetz festgelegten Kompetenzen in Frage zu stellen, sondern vielmehr um eine bessere Ausfüllung der Länderkompetenzen und um eine wirksamere Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern. Die Länder hätten auf der Verbraucherschutzministerkonferenz im Grundsatz die Einführung eines Qualitätssicherungssystems beschlossen. Nunmehr müssten diese Standards im Detail festgelegt werden. Sein Konzept stelle für die notwendige Diskussion einen Rahmen dar. Zu diesem Konzept gehörten ein Frühwarnsystem und die Einführung eines Qualitätsmanagementsystems auf Landes- und Bundesebene, das im kollegialen Zusammenwirken der beiden Ebenen aufgebaut und betrieben werde. Ein weiteres Kernelement seines Reformvorschlages sei die verbindliche Verankerung der Einbeziehung des Bundes bei außergewöhnlichen Ereignissen und bei der Aufklärung komplexer Situationen. Die Legitimation zur Intervention des Bundes leitete der Bundesminister aus folgender Erwägung ab: Da die Warenströme durch ganz Deutschland liefen, könne der gesamte Staat betroffen sein, wenn es in einem Bundesland zu Versäumnissen komme; deshalb müsse der Bund auf wirksamere Kontrollen dringen und die Tätigkeit der Länder koordinieren.10 In ähnlicher Weise berief er sich auf den Gemeinplatz: „Lebensmittel haben keine Grenzen“11. 9 www.bmelv.de (" Verbraucherschutz lung v. 10.10.2006).

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II. Die Fleischaffäre bietet Lehrreiches auch zum Thema der Bauaufsicht und der Kontrolle der Bautätigkeit. Denn im Bereich des Baurechts fließen die Warenströme, die aus Bauprodukten bestehen,12 gleichfalls durch ganz Deutschland und kennen keine Grenzen. Der Verwendung der Bauprodukte bei der Herstellung baulicher Anlagen wäre überdies eine (innerdeutsche) Überregionalität durchaus zuträglich. Architekten, Bauunternehmer und Bauherren, insbesondere wenn sie als Investoren an wechselnden Orten agieren, empfinden es als unnötige Fesseln, wenn ihre bauliche Tätigkeit (zumal in Zeiten der Europäisierung und der Globalisierung) innerhalb desselben Staates durch uneinheitliche Rechtsregeln reguliert wird.13 Im Unterschied zum Lebensmittelrecht sind die Hürden für eine Vereinheitlichung des Bauwesens aber höher und ist die Neigung der Länder zu Alleingängen ausgeprägter. Denn während das Lebensmittelrecht großenteils aus bundesrechtlichen Normen besteht, die von den Ländern ausgeführt werden, liegt im Bereich des Baurechts nur das Boden-, Bauplanungs-, Bebauungs- oder Städtebaurecht in der Hand des Bundes, während für das Bauordnungsoder Bauaufsichtsrecht die Länder ausschließlich zuständig sind. Da für das Bauaufsichtsrecht ein Regime von sechzehn Bauordnungen gilt, weist dieses Rechtsgebiet eine Fülle von Divergenzen auf. Zwar hat es nicht an Versuchen normativer Selbstkoordination gemangelt, doch sind die Ergebnisse jahrzehntelanger Reformen nicht zufriedenstellend. So hat die jüngste dem Zeitgeist verpflichtete und Ländergrenzen übergreifende Mode der Privatisierung und Entbürokratisierung zum Rückzug des Staates aus der Bauaufsicht und zu einer weitgehenden Verminderung hoheitlicher Kontrolle geführt.14 Erst wenn es zu Katastrophen kommt, wie dem von der Schneelast verursachten Einsturz einer Eissporthalle in Bad Reichenhall am 2. Januar 2006, bei dem 15 Menschen den Tod fanden, ertönt der Ruf nach behördlichen Kontrollen (deren Reduzierung zuvor als gelungene Zurückdrängung hoheitlicher Macht zugunsten privater Freiheit gepriesen worden war)15. Im 10

www.bmelv.de (" Presse – Interviews = Münchener Merkur v. 6. 9. 2006). FAZ v. 11.10.2006, S. 15. 12 Vgl. Gesetz über das Inverkehrbringen von und den freien Warenverkehr mit Bauprodukten zur Umsetzung der Richtlinie 89/106/EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Bauprodukte und anderer Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaften (Bauproduktengesetz – BauPG) i. d. F. v. 28.4.1998 (BGBl. I, S. 812), zuletzt geändert durch Art. 76 G. v. 31.10.2006 (BGBl. I, S. 2407). 13 Nach der Begründung der Musterbauordnung 2002 (Fn. 101), S. 9, wirkt sich die Rechtszersplitterung im Bauordnungsrecht als nachteiliger Standortfaktor aus. 14 Vgl. Sarnighausen, Hans-Cord, Zum Rückzug des Staates aus der Bauaufsicht – Carports in unbebauten Vorgärten, BauR 2006, S. 46. 11

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Falle der Eissporthalle war seit über dreißig Jahren keine Kontrolle der Dachkonstruktion vorgenommen worden.16 Die Reaktion auf dieses Unglück glich den Reflexen nach der Entdeckung des Ekel-Fleischs (um eine Neuschöpfung der Mediensprache zu verwenden17). Kaum war ein Tag verstrichen, als der Bundesbauminister die Länder aufforderte, „über mögliche baurechtliche Konsequenzen in der den Landesbauordnungen zugrunde liegenden Musterbauordnung nachzudenken“18. Gemäß seinem Denkgebot seien „die Länder am Zuge, die in den Landesbauordnungen geregelten Anforderungen an die Standsicherheit von Gebäuden und die Kontrollen bestehender Gebäude auch unter dem Gesichtspunkt der Gefahren, die von erheblichen Schneelasten auf den Dächern ausgehen können, einer kritischen Überprüfung zu unterziehen“. Die Begründung für seinen Vorschlag, der sogleich als Ruf nach einem „Bau-TÜV“ gedeutet wurde,19 war wenig einfallsreich und scheute vor Trivialitäten nicht zurück: „Leben und Gesundheit dürfen durch Bauwerke nicht gefährdet werden. Bei der Errichtung von Gebäuden geht es ebenso wie während der Nutzungsphase um wirksame Gefahrenvorsorge“20. Allerdings ließ sich die Konferenz der Bauminister (Konferenz der für Städtebau, Bau- und Wohnungswesen zuständigen Minister und Senatoren der Länder [ARGEBAU]) auf das unausgegorene Projekt nicht ein,21 erteilte aber immerhin „Hinweise für die Überprüfung der Standsicherheit an baulichen Anlagen durch den Eigentümer/Verfügungsberechtigten (Fassung September 2006)“22. III. Das Baurechtsgutachten des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Juni 1954 hat fest- oder klargestellt, dass das „Baupolizeirecht“ eine „Rechtsmaterie für sich“ bildet.23 Die föderale Zuständigkeitsverteilung für die Ma15 Vgl. Kluth, Frank, Bad Reichenhall ist überall! – Zur baurechtlichen Überwachungskontrolle, NJW 2006, S. 822. 16 Vgl. die Presseerklärung der Bayerischen Ingenieurkammer Bau v. 20.7.2006 (www.bayika.de/presse/). 17 FAZ v. 26.10.2006, S. 11. 18 www.bmvbs.de (" Presse " Pressemitteilung v. 4.1.2006). 19 SZ v. 7.2.2006. 20 Pressemitteilung (Fn. 18). 21 Vgl. die Niederschrift über die 112. Sitzung der Bauministerkonferenz am 6.2.2006, wo unter TOP 5 Nr. 4 immerhin „Klärungsbedarf“ hinsichtlich der Frage konstatiert wird, „ob ggf. die wiederkehrenden Prüfungen bei Sonderbauten neu zu ordnen sind“, und als Ziel bezeichnet wird, „eine einheitliche Praxis in Bund, Ländern und Kommunen zu erreichen“ (www.is-argebau.de [" Beschlüsse]). 22 www.is-argebau.de (" Berichte/Informationen). 23 BVerfGE 3, 407 (434).

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terie des Baupolizei-, Bauaufsichts- oder Bauordnungsrechts unterliegt seit diesem Gutachten (das als Handlungsform des Bundesverfassungsgerichts heute nicht mehr zulässig wäre24) den folgenden Regeln: Das ausschließliche Gesetzgebungsrecht der Länder für das Bauordnungsrecht erstreckt sich auf das Baupolizeirecht im traditionellen Sinn (allerdings ohne die ihm früher, d. h. vor der Erstattung des Baurechtsgutachten, zugerechneten planungsrechtlichen Elemente).25 Das Bauordnungsrecht befasst sich mit der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung sowie mit der äußeren Gestaltung baulicher Anlagen, stellt also im Interesse der öffentlichen Sicherheit und Ordnung Anforderungen an die einzelnen Baugrundstücke und an bauliche Anlagen.26 Als „eine selbständige Rechtsmaterie“ ist es „einer bundesgesetzlichen Regelung nicht zugänglich“27. Die „vom Grundgesetz vorgenommene Kompetenzaufteilung zwischen Baurecht im weiteren Sinne und dem engeren Gebiet des Bauordnungsrechts“28 überantwortet das Bauordnungsrecht als „klassisches Recht der Gefahrenabwehr“29 der ausschließlichen Gesetzgebung der Länder, das „Bodenrecht“ nach Art. 74 Nr. 18 GG a. F.30 der konkurrierenden Gesetzgebung und damit dem Zugriff des Bundes. Zum „Bodenrecht“ gehören jene „Vorschriften, die den Grund und Boden unmittelbar zum Gegenstand rechtlicher Ordnung haben, also die rechtlichen Beziehungen des Menschen zum Grund und Boden regeln“; vor allem rechnet hierzu das Recht der städtebaulichen Planung, weil die Bauleitplanung die rechtliche Qualität des Bodens bestimmt.31 Dennoch durfte der Bund auf Grund des Art. 74 Nr. 18 24

Die Befugnis des Bundesverfassungsgerichts gemäß § 97 Gesetz über das Bundesverfassungsgericht v. 12.3.1951 (BGBl. I, S. 243), auf Antrag der obersten Verfassungsorgane (Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung; Bundespräsident) Rechtsgutachten über eine bestimmte verfassungsrechtliche Frage erstatten, ist durch Art. 1 Nr. 19 des Änderungsgesetzes v. 21.7.1956 (BGBl. I, S. 662) beseitigt worden. 25 BVerfGE 3, 407 (432 f.). Diese Rechtsauffassung wurde bestätigt durch BVerfG, B. v. 28.10.1975, BVerfGE 40, 261 (265 ff.). – Vgl. kritische Betrachtung des Baurechtsgutachtens durch Schulte, Bernhard, Rechtsgüterschutz durch Bauordnungsrecht, 1982, S. 57 ff., 67 ff. sowie seine Darstellung des Gutachtens, in: Reichel, Hans/Schulte, Bernd H. (Hrsg.), Handbuch Bauordnungsrecht, 2004, S. 76 ff. 26 BVerfGE 40, 261 (266, 267). 27 BVerfGE 40, 261 (266). 28 BVerfGE 40, 261 (267). 29 Battis, Ulrich, Risikoentscheidungen durch Bauordnungsrecht – Wirkungen im Verhältnis zu Zivil- und Strafrecht, in: Wallerath, Maximilian (Hrsg.), Fiat iustitia. Recht als Aufgabe der Vernunft. Festschrift für Peter Krause, 2006, S. 455. 30 Seit 1994 ist die korrekte Zitierweise Art. 74 Abs. 1 Nr. 18 GG, da dem Art. 74 GG durch das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 3, 20a, 28, 29, 72, 74, 75, 76, 77, 80, 87, 93, 118a und 125a) v. 27.10.1994 (BGBl. I, S. 3146) ein zweiter Absatz angefügt wurde, wobei es bis heute geblieben ist. 31 BVerfGE 3, 407 (424); BVerfG, B. v. 7.10.1980, BVerfGE 56, 298 (311).

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GG a. F., der außer dem „Bodenrecht“ das „Wohnungswesen“ der konkurrierenden Gesetzgebung zugewiesen hatte, „auch einzelne spezifisch das Wohnungswesen berührende baupolizeiliche Vorschriften erlassen“32. IV. Die bauordnungsrechtliche Teil- oder Restkompetenz für das Wohnungsrecht nutzte der Bund, um die Länder auf den Weg einer induzierten Selbstkoordination zu drängen. Der Bundesminister für Wohnungsbau Preusker bot in einem Schreiben vom 26. Oktober 1954 eine „Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern auf dem Gebiete der Baugesetzgebung“ an und plädierte für eine „gemeinsame Ausarbeitung einer Musterbauordnung“33. Er erklärte – wenngleich diplomatisch verklausuliert –, dass von der Bundeskompetenz für die baupolizeilichen Vorschriften des Wohnungswesens kein Gebrauch gemacht werde, wenn Bund und Länder gemeinsam die Voraussetzungen für eine grundsätzlich einheitliche Regelung des Bauaufsichtsrechts schafften.34 Für das damals noch vorhandene überlegene Selbstbewusstsein des Bundes gegenüber den Ländern zeugen die klaren Vorstellungen, die der Minister hinsichtlich des Ziels und des einzuschlagenden Verfahrens hatte. Nach seiner Auffassung sollte „vermieden werden, daß Bund und Länder bei der Regelung dieser Materie getrennte Wege gehen, die zwangsläufig zu einer weiteren unerwünschten und sachlich abträglichen Rechtszersplitterung führen müssen“35. Die „Basis für eine weitgehende einheitliche Regelung des Bauordnungsrechts“ sei ein „Bauordnungsausschuß“, der von den Ländern unter Beteiligung des Bundes gebildet werden solle.36 Dessen Aufgabe werde es sein, „eine einheitliche Musterbauordnung auszuarbeiten, deren Einführung den Ländern zu empfehlen ist“37. Für die auf der Grundlage der Musterbauordnung zu erlassenden Landesbauordnungen gab der Minister den Ländern folgenden autoritativen Rat, der dem heutigen Leser (und Kenner der Baurechtspraxis) nur noch ein Lächeln abnötigt: „Die Länder sollen indessen von einem Musterentwurf tunlichst nur insoweit abweichen, als dies durch örtliche Bedingt32 BVerfGE 3, 407 (433 f.). – Vgl. auch OVG Bln, U. v. 24.10.1980, ZfBR 1981, 40 (41). 33 Dieses Schreiben (abgedruckt bei Schulte, Handbuch [Fn. 25], S. 87) und sonstige Materialien zur so genannten „Bad Dürkheimer Vereinbarung“ von 1955 sind nunmehr im Informationssystem der Arbeitsgemeinschaft der Bauminister (ARGEBAU) zugänglich (www.is-argebau.de [" Wir über uns " Geschichte]). 34 Vgl. Schulte, Rechtsgüterschutz (Fn. 25), S. 72. 35 is-argebau.de (Fn. 33), S. 4 (unter 3). 36 is-argebau.de (Fn. 33), S. 4 (unter 3). 37 is-argebau.de (Fn. 33), S. 4 (unter 3).

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heiten geboten ist“38. Die Landesminister erklärten sich daraufhin zur gemeinsamen Ausarbeitung einer Musterbauordnung bereit.39 Auf einer Tagung in Bad Dürkheim am 21. Januar 1955 wurde der Vorschlag des Bundesministers von beamteten Fachleuten beraten. Eine staatsrechtliche Kuriosität barg die Eröffnung der Besprechung durch den Staatssekretär Wandersleb. Er begrüßte die „von allen Ländern der Bundesrepublik Deutschland und von Westberlin entsandten Vertreter“ und verstieß damit gegen den offiziellen (west)deutschen Komment, der trotz der besatzungsrechtlichen Vorbehalte der Alliierten dem westlichen Teil Berlins die Zugehörigkeit zum Bund zuerkannte. Ein faux pas lag überdies darin, dass das Protokoll sich nicht der damals korrekten Ausdrucksweise „Berlin (West) (oder – allenfalls – „West-Berlin“) bediente, sondern mit „Westberlin“ dem vulgären Sprachgebrauch der – von westlicher Seite noch nicht DDR genannten – Sowjetischen Besatzungszone den Vorzug einräumte.40 Der Gastgeber schlug vor, „einen gemeinsamen Ausschuß zur Erarbeitung einer Musterbauordnung zu bilden, um die Bauordnungen der Länder möglichst weitgehend zu vereinheitlichen“41. Die Anwesenden stimmten dem Vorschlag zu.42 Es sollte eine Musterbauordnungs-Kommission eingesetzt werden und dieser ein Arbeitsausschuss beigegeben werden. An beiden Gremien sollten alle zehn Länder43 der damaligen Bundesrepublik sowie Vertreter des Bundes beteiligt sein.44 Die anwesenden Beamten wollten sich dafür einsetzen, „daß ihre Entsendestellen den in Bad Dürkheim am 21. Januar 1955 getroffenen Vereinbarungen45 zustimmen“46. Ein Staatsvertrag über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern im Bereich des Baurechts wurde nicht geschlossen. Ob in sonstiger Weise eine förmliche Zustimmung erfolgte, ist nicht bekanntgeworden. Jedenfalls wurde auf Grund der Bad Dürkheimer Vereinbarung 1955 eine aus Vertretern sämtlicher Länder und des Bundes bestehende Musterbauordnungskommission eingerichtet, die den Auftrag hatte, eine Bauordnung nebst den „nötigen Durchführungsvor38

is-argebau.de (Fn. 33), S. 4 (unter 3). is-argebau.de (Fn. 33), S. 6. 40 is-argebau.de (Fn. 33), S. 12. 41 is-argebau.de (Fn. 33), S. 12. 42 is-argebau.de (Fn. 33). S. 8. 43 Das Saarland wurde erst 1957 elftes Land der Bundesrepublik Deutschland. 44 is-argebau.de (Fn. 33), S. 13, 14. 45 Hervorhebung nicht im Original. – Der Ausdruck „Vereinbarung“ findet sich auch in der „Allgemeine(n) Einführung in die Musterbauordnung“. Teil A, Fassung April 1960, in: Musterbauordnung für die Länder des Bundesgebietes einschließlich des Landes Berlin. Januar 1960, o. J. (Schriftenreihe des Bundesministers für Wohnungsbau Bd. 16/17), S. 116. 46 is-argebau.de (Fn. 33), S. 16. 39

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schriften“ zu entwerfen.47 Die Musterbauordnung sollte sodann den Ländern als Grundlage für die von ihnen jeweils als Gesetz zu erlassenden Landesbauordnungen dienen. Das Produkt dieser Bund-Länder-Kooperation war die Musterbauordnung 1960,48 der ein Konvolut von Musterverordnungen beigesellt wurde.49 Nach Auffassung der Autoren war „zu erwarten, daß der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit auf dem Gebiet des Bauaufsichtsrechts keinen Gebrauch macht, wenn die Länder das Bauaufsichtsrecht möglichst einheitlich und umfassend regeln“50. Die Musterbauordnung diente als „Unterlage für die Neufassung der Landesbauordnungen“51. In der Folgezeit erließen sämtliche Länder Gesetze, die Landesbauordnungen oder Novellen zu solchen zum Gegenstand hatten und „mehr oder minder stark“ der Musterbauordnung 1960 folgten.52 Wohlwollend bescheinigte das Bundesverfassungsgericht 1975 den bis dahin erlassenen Bauordnungen, sie stimmten mit dem „Musterentwurf“ weitgehend überein.53 Jedoch waren in Wahrheit bereits damals die Abweichungen zahlreich und von Gewicht.54 Insbesondere die Niedersächsische Bauordnung55 zeichnete sich durch kreative Gesetzgebungskunst aus, die der innerdeutschen Rechtsvergleichung im Bereich des Baurechts bis zum heutigen Tage Schwierigkeiten bereitet.56

47 is-argebau.de (Fn. 33), S. 13; vgl. auch Schulte, Rechtsgüterschutz (Fn. 25), S. 72. 48 Musterbauordnung 1960 (Fn. 45). – Aufbau und Inhalt der Musterbauordnung 1960 werden geschildert von Schulte, in: Handbuch (Fn. 25), S. 88 ff. 49 Musterentwürfe von Rechtsverordnungen zur Musterbauordnung, o. J. (Schriftenreihe des Bundesministers für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung Bd. 20). 50 Allgemeine Einführung in die Musterbauordnung (Fn. 45), S. 116. 51 Musterbauordnung 1960 (Fn. 45), S. VI. 52 Schulte, Rechtsgüterschutz (Fn. 25), S. 79. Dort findet sich eine Übersicht über sämtliche Landesbauordnungen nach dem Stand von 1980. 53 BVerfGE 40, 261 (266). 54 Vgl. Schulte, Rechtsgüterschutz (Fn. 25), S. 67. 55 Niedersächsische Bauordnung v. 23.7.1973 (GVBl. S. 259). 56 So fällt bei ihrer Lektüre sogleich ins Auge, dass – abweichend von der Musterbauordnung 1960 und sämtlichen anderen Bauordnungen – die bauaufsichtliche Generalklausel ihren Standort nicht in § 3 hat, sondern als § 1 „grundsätzliche Anforderungen“ aufstellt (und zudem auch inhaltlich eigenen Wege beschreitet). Nach Meinung Schulte, Rechtsgüterschutz (Fn. 25), S. 67, enthielt die Niedersächsische Bauordnung (die Gegenstand der in Fn. 53 zitierten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts war), „gerade die stärksten Abweichungen“.

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V. Während einer Zwischenphase schien es, als ob das Problem des Auseinanderdriftens der Landesbauordnungen obsolet werden könnte. Das Institut für Bautechnik, eine Gemeinschaftseinrichtung des Bundes und der Länder, die der einheitlichen Erfüllung bautechnischer Aufgaben dient (und das mittlerweile Deutsches Institut für Bautechnik heißt57) beauftragte eine Gruppe von Professoren des öffentlichen und des privaten Rechts mit der Entwicklung eines Bauaufsichtssystems neuer Art. Der Auftrag lautete, „die Möglichkeiten einer Neuregelung des Bauordnungsrechts zu erarbeiten, wobei eine Ausarbeitung der wesentlichen Grundsätze, insbesondere nach Kompetenzen, Verfahren und materiell-rechtlichen Prinzipien aus regionaler, nationaler und übernationaler Sicht erstellt werden sollte“; der Vergleich mit anderen baurechtlichen Systemen sollte „über den bauaufsichtlichrechtlichen und öffentlich-rechtlichen Ansatz überhaupt hinausführen“ und sich auch auf das allgemeine Privat-, Versicherungs- und Berufsrecht erstrecken.58 Dieser Forschungsauftrag ging auf einen Beschluss der ARGEBAU zurück, der eine „grundsätzliche Neukonzeption des Bauordnungsrechts“ untersucht wissen wollte.59 Das Projekt wurde von einem Arbeitskreis „Bauordnung der Zukunft“ betreut, der aus höheren Beamten des Bauwesens der Länder und einem Vertreter des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau bestand.60 An dem Forschungsvorhaben, das den – während seiner Laufzeit (1974 bis 1982) – verheißungsvollen Namen „Bauordnung 2000“ trug, wirkten außer dem Jubilar die Professoren Wilhelm Dütz, Hans J. Sonnenberger und Dieter Wilke sowie zahlreiche weitere Kenner des öffentlichen und privaten Rechts, einschließlich des privaten Baurechts und des Versicherungsrechts, mit. Angesichts der „Leistungsdefizite“ des deutschen Baurechts widmeten die Autoren sich einer Untersuchung „seiner Reformerfordernisse und der Möglichkeiten zu seiner Erneuerung“.61 Eingehende internationalrecht57 Vgl. das Abkommen über das Deutsche Institut für Bautechnik – DIBt-Abkommen – (GVBl. Berlin 1993, S. 195). 58 „Vorschläge zur Reform des Bauaufsichtssystems in der Bundesrepublik Deutschland (Schlußbericht)“. Hrsg. v. d. Arbeitsgemeinschaft der für das Bau-, Wohnungs- und Siedlungswesen zuständigen Minister der Länder – Arbeitskreis Bauordnung der Zukunft, o. J. (1984), S. 8 f. 59 Schlußbericht (Fn. 58), S. 5. 60 Schlußbericht (Fn. 58), S. 6 f. 61 Der Schlußbericht zum Forschungsvorhaben „Bauordnung 2000“ ist als Anlage 26a, 26b und 26c dem Schlußbericht des Arbeitskreises Bauordnung der Zukunft (Fn. 58) beigegeben und als (durchnummerierter) Band 9a, 9b und 9c der „Vorschläge zur Reform des Bauaufsichtssystems in der Bundesrepublik Deutschland (Schlußbericht)“, hrsg. v. d. Arbeitsgemeinschaft der für das Bau-, Wohnungs- und

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liche Vergleiche – insbesondere mit dem Recht Frankreichs – führten sie „zum Systementwurf eines grundsätzlich alternativ verfassten deutschen Baurechts“62. Zuvor waren sie zu dem Urteil, das sich inzwischen als zeitlos erwiesen hat, gelangt, dass die Mängel des Bauordnungsrechts „durch bloße Verbesserungen und Verfeinerungen der öffentlichrechtlichen Normen nicht behoben werden können“63. Denn die „Reformressourcen des öffentlichen Rechts“ seien beschränkt.64 Die Verfasser verstiegen sich nicht zu der politisch illusionären Forderung, dem Bund die Gesetzgebungskompetenz für das gesamte Baurecht einzuräumen.65 Einen Ausweg sahen sie vielmehr in der „Einbeziehung des Privatrechts in die Reformüberlegungen“.66 Dabei verkannten sie nicht, dass der gesamte Bereich der klassischen Baupolizei und ihrer Schutzgüter „einer echten Privatisierung nicht zugänglich“ sei.67 Denn die staatlichen Zuständigkeiten mit materiell-baupolizeilichem Inhalt stünden nicht zur Disposition.68 Soweit das Baurecht dagegen nicht dem Funktionsvorbehalt des Art. 33 Abs. 4 GG unterstehe, verfüge der Gesetzgeber über einen Dispositionsspielraum.69 Hinsichtlich der zentralen baupolizeilichen Schutzgüter (Brandschutz, Standsicherheit, Volksgesundheit) müsse der Staat eine entsprechende Sicherheitsgarantie übernehmen; er sei jedoch „nicht gezwungen, für diese Fragen ein komplettes Kontrollsystem, wie das bisher kraft Bauordnungsrechts geltende, vorzusehen“.70 Die Autoren sahen in berufsrechtlicher Hinsicht „Gestaltungsmöglichkeiten in Anknüpfung an diejenigen Personen, die – wie z. B. Architekten und Bauingenieure – typischerweise mit der Erstellung von Bauwerken befasst sind“71. Durch Privatisierungen könne eine wesentliche Entlastung der staatlichen Bauaufsicht gelingen.72 Die Bindung des Bauherrn und der sonst am Bau Beteiligten an das materielle Recht sei allerdings gefährdet, wenn es an behördlichen Sanktionen fehle. Denn die Neigung zum Rechtsbruch wachse, wenn die Missachtung von Normen folgenlos bleibe. Deshalb müssten die Gefahren, die mit der Zurücknahme hoheitlicher Befugnisse verbunden Siedlungswesen zuständigen Minister der Länder – Arbeitskreis Bauordnung der Zukunft – (o. J. [1984]), veröffentlicht worden. Er wird hier als „Bauordnung 2000“ zitiert. Das Zitat im Text findet sich auf S. II. 62 Bauordnung 2000 (Fn. 61), S. II. 63 Bauordnung 2000 (Fn. 61), S. 1. 64 Bauordnung 2000 (Fn. 61), S. 187. 65 Bauordnung 2000 (Fn. 61), S. 90 ff., 1070. 66 Bauordnung 2000 (Fn. 61), S. 1. 67 Bauordnung 2000 (Fn. 61), S. 104, 134. 68 Bauordnung 2000 (Fn. 51), S. 106. 69 Bauordnung 2000 (Fn. 61), S. 106, 136. 70 Bauordnung 2000 (Fn. 61), S. 106 f. 71 Bauordnung 2000 (Fn. 61), S. 135. 72 Bauordnung 2000 (Fn. 61), S. 135.

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seien, durch geeignete Konstruktionen, die durchaus privatrechtlichen Charakter tragen könnten, ausgeglichen werden.73 Der Professorenvorschlag konzipierte ein derartiges – dem Rechtsbruch entgegenarbeitendes – System. Das zur Diskussion gestellte „Privatrechtliche Alternativkonzept“74 sah eine partielle Privatisierung behördlicher Funktionen vor, die durch parallele Instrumentarien ergänzt wurde, so dass eine Selbstkontrolle privater Pflichtenträger bewirkt würde.75 Da allein das französische Recht ein durchgestaltetes System von Regelungen der Selbstkontrolle aufweist, wurden diesem auf Grund rechtsvergleichender Untersuchungen wesentliche Anregungen entnommen.76 Das französische Recht kennt nicht nur weitgehende materiellrechtliche Pflichten der am Bau Beteiligten, die mit strikten Garantiehaftungstatbeständen verbunden sind, sondern auch ein darauf zugeschnittenes haftpflichtversicherungsrechtliches Instrumentarium.77 Durch Versicherungspflichten wird der materiellen Haftpflicht in der Praxis die erforderliche Effizienz verliehen.78 Das Alternativkonzept beschränkte die behördlichen Prüfungen auf unabdingbare öffentlich-rechtliche Planungs- und Sicherheitsbelange und schlug für das private Recht durchgreifende Änderungen und Ergänzungen vor.79 Das neue privatrechtliche Instrumentarium sollte gewährleisten, dass bisher vom öffentlichen Recht wahrgenommene Bauaufsichtsfunktionen künftig durch private Pflichtenträger in eigenverantwortlicher Selbstkontrolle erfüllt würden.80 Das Projekt gab also eine – systemüberwindende – Antwort auf die Frage, wie die Beobachtung materiellen Bauordnungsrechts ohne zwischengeschaltete behördliche Kontrolle mit den Mitteln des Privatrechts sichergestellt werden kann.81 Dies sollte durch eine neu konzipierte verschärfte Haftung der am Bau Beteiligten (Architekten, Bauunternehmer, Bauträger, Baubetreuer, Hersteller) für Schäden und Mängel an Gebäuden erreicht werden.82 Da das geltende Versicherungsrecht der vorgeschlagenen Novellierung des Haftungsrechts nicht gerecht würde, sollte eine umfassende haftpflichtversicherungsrechtliche Flankierung des Reformmodells stattfinden.83 Ohne diese versicherungsrechtliche Arrondierung des zu modifizierenden 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83

Bauordnung Bauordnung Bauordnung Bauordnung Bauordnung Bauordnung Bauordnung Bauordnung Bauordnung Bauordnung Bauordnung

2000 2000 2000 2000 2000 2000 2000 2000 2000 2000 2000

(Fn. (Fn. (Fn. (Fn. (Fn. (Fn. (Fn. (Fn. (Fn. (Fn. (Fn.

61), 61), 61), 61), 61), 61), 61), 61), 61), 61), 61),

S. S. S. S. S. S. S. S. S. S. S.

188. 300 ff., 1082. 310. 345 ff., 514 ff. 310. 310. 1082. 1082 f. 1083. 1082 ff. 1097 ff.

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privaten Haftungsrechts musste nach Auffassung der Autoren die von ihnen konzipierte Reform Stückwerk bleiben. Der Arbeitskreis „Bauordnung der Zukunft“ vermochte es nicht, die Bauordnung 2000 Realität werden zu lassen. Die Beratungsresistenz der zuständigen Gremien hat sie vielmehr zu einem Objekt der Baurechtsgeschichte gemacht.84 Dies kündigte sich schon während der Laufzeit des Forschungsvorhabens an, als ein Ministerialdirektor aus dem Bayerischen Staatsministerium des Innern, zu dem auch die Oberste Baubehörde gehört, pessimistische „Gedanken zur Reform des Bauordnungsrechts“ äußerte.85 Zwar stelle „die Neuordnung dieses Rechtsgebietes eine politische Aufgabe von hohem Rang dar“, doch sei mit der Entwicklung alternativer Modellvorstellungen für ein neues Bauordnungsrecht in absehbarer Zeit nicht zu rechnen, und überdies sei „die Zeit für eine tiefgreifende Neukonzeption des Bauordnungsrechts noch nicht reif“.86 Dem „Professorenteam“, auf das der Insider sich verschiedentlich bezieht, sagt er – wenngleich verschlüsselt – das faktische Resultat des Forschungsprojekts voraus: Ob es in der Zukunft überhaupt zu einer umfassenden Systemänderung kommen werde, sei noch ungeklärt; es lasse sich „nicht ausschließen, daß das Ergebnis sorgfältiger Abwägung, in die auch der Vergleich mit anderen Rechtsordnungen eingebracht wird, unser derzeitiges System bestätigt und nur zu kleineren Korrekturen Anlaß gibt“87. Die abgeschöpften Professoren konnten deshalb nicht überrascht sein, als auch der Arbeitskreis „Bauordnung der Zukunft“ sich nicht in der Lage sah, seinen ministeriellen Auftraggebern eine „Patentlösung“ anzubieten88 und von der Übernahme des Alternativkonzepts abriet89, „dessen Grundkonzeption der derzeitigen deutschen Rechtslage diametral entgegensteht“ und einen „Systemwandel“ mit sich brächte.90

84 Immerhin wird neuerdings sogar von dem Vorsitzenden der Fachkommission Bauaufsicht der Bauministerkonferenz der Gedanke erwogen, ob es nicht möglich sei, „die – an das französische Beispiel angelehnte – Privatisierung der materiellen bautechnischen Zentralanforderungen in einem Versicherungsmodell“ an die Stelle des traditionellen Bauordnungsrechts treten zu lassen. – Vgl. Jäde, Musterbauordnung 2002 (Fn. 101), S. 7. 85 Süß, Siegwin, Gedanken zur Reform des Bauordnungsrechts, BayVBl. 1979, S. 257. 86 Süß, Gedanken (Fn. 85), S. 257, 260, 262. 87 Süß, Gedanken (Fn. 85), S. 258, 259, 261. 88 Schlußbericht (Fn. 58), S. 37. 89 Schlußbericht (Fn. 58), S. 47. 90 Anlage 22 (= Band 5) zum Schlußbericht des Arbeitskreises Bauordnung der Zukunft (Fn. 58), S. 12.

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VI. Da die Gesetzgeber nicht den Mut zur Systemüberwindung hatten, verblieb es bei der traditionellen Selbstkoordination der Länder, die unter Beteiligung des Bundes versuchten, wenigsten die Abweichungen in den Landesbauordnungen zu reduzieren. Noch während der Laufzeit des Forschungsprojekts „Bauordnung 2000“ wurden die Arbeiten an der Musterbauordnung 196091 fortgesetzt. Die Ministerkonferenz der ARGEBAU erteilte 1976 den Auftrag, die Musterbauordnung 1960 „fortzuschreiben“92. Dieser Aufgabe unterzogen sich der Arbeitskreis „Fortschreibung der Musterbauordnung“ (bzw. die Arbeitsgruppe „Musterbauordnung“93), die „Fachkommission Bauaufsicht“ und der Allgemeine Ausschuss der ARGEBAU.94 Der Verfasser hatte einige Jahre Gelegenheit, als Gast an den Beratungen der Arbeitsgruppe teilzunehmen und deren mühseligen Kampf gegen die sezionistischen Bestrebungen in den Landesbauordnungen zu beobachten. Um zu einer neuen Musterbauordnung mit unifizierender Wirkung zu gelangen, wurde häufig bei den einzelnen bauaufsichtlichen Regelungen diejenige Lösung zum künftigen Muster bestimmt, die sich in der Mehrheit der (damals elf) Landesbauordnungen fand. Der Querschnitt wurde also zum Muster. Das Ergebnis war die Musterbauordnung 1981.95 Entgegen den Erwartungen der Ministerkonferenz der ARGEBAU, die auf die „Leitbildfunktion“ der Musterbauordnung hingewiesen hatte und den Landesbauordnungen nur eine „Bandbreite“ oder einen „Spielraum“ zugestehen wollte.96 wiederholte sich das bereits bekannte Phänomen der bauordnungsrechtlichen Diversifizierung. Eine Fülle von Novellen der Landes91

Fn. 45. „Musterbauordnung (MBO) in der Fassung vom 11. Dezember 1981; § 6 geändert durch Beschluß der Fachkommission ‚Bauaufsicht‘ vom 23./25. Juni 1982“ – Textausgabe –, 1983, S. 72 (Bericht des Allgemeinen Ausschusses der ARGEBAU unter A II 1). 93 Schlußbericht (Fn. 58), S. 90 – Die personelle Zusammensetzung war mit der des Arbeitskreises „Bauordnung der Zukunft“ identisch. 94 Musterbauordnung 1981 (Fn. 92), S. 72 ff. (Bericht des Allgemeinen Ausschusses der ARGEBAU unter A II). 95 www.is-argebau.de (" Mustervorschriften/Mustererlasse " Bauaufsicht/Bautechnik " Archiv) = Musterbauordnung1981 (Fn. 92). – Die Entwicklung von der Musterbauordnung 1960 zur Musterbauordnung 1981 wird geschildert bei Böckenförde, Dieter/Temme, Heinz-Georg/Krebs, Winnifred (Hrsg.), Musterbauordnung für die Länder der Bundesrepublik Deutschland. Fassung gemäß Beschluß vom 10. Dezember 1993 der ARGEBAU, 4. Aufl., 1994, S. X ff. Den gesamten Prozess der Fortschreibung der Musterbauordnung bis zur Musterbauordnung 2002 dokumentiert Schulte, in: Handbuch (Fn. 25), S. 92 ff. 96 Musterbauordnung 1981 (Fn. 92), S. 76, 77 (Bericht des Allgemeinen Ausschusses der ARGEBAU unter A IV und B [Beschlußvorschlag]). 92

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gesetzgeber ließ das Vorbild der Musterbauordnung verschwimmen und die These der Ministerkonferenz zu Makulatur werden, dass die Funktion einer „Muster“-Bauordnung nicht verloren gehe, wenn sich die Abweichungen vom Muster nicht allzu weit entfernten.97 Schon nach knapp einem Jahrzehnt musste die Musterbauordnung 1990 das Vorbild für künftige Novellierungen abgeben.98 Mit dieser verknüpfte sich nur noch das matte Lob, „daß die Existenz einer Musterbauordnung bislang ein weiteres Auseinandergehen wirksam verhindert hat“99. Ob sie es verdient hat, erscheint zweifelhaft; denn bei den Reformen der neunziger Jahre – zumeist unter dem Banner der “Deregulierung“, „Privatisierung“100 und „Beschleunigung“ – haben die Landesbauordnungen das rechts-politische Gebot der „Mustertreue“ nicht eingehalten.101 Jedenfalls wurde sie inzwischen durch die Musterbauordnung 1997102, die sich das Prädikat „Muster ohne Wert“ zuzog,103 und diese wiederum durch die Musterbauordnung 2002 ersetzt.104 Die neueste Musterbauordnung erhebt nicht einmal mehr den Anspruch auf eine Anpassung des Landesrechts und eine möglichst weitgehende Rechtseinheit, sondern versteht sich nur noch als ein „Orientierungsrahmen für die Fortentwicklung des Bauordnungsrechts“ und als „entwicklungsoffener Rahmen“105. Angesichts einer solchen programmierten Uneinheitlichkeit verwundert es auch nicht, dass im Bereich des Verwaltungsverfahrensrechts die Länder zwischen unterschiedlichen Verfahrenstypen und innerhalb der Verfahrenstypen standardisierte Module wählen können; die bloße Rechtseinheit hinsichtlich deren Bezeichnung gilt den Autoren der Musterbauordnung schon als Erfolg.106 Von einer weitgehenden Übereinstimmung des Bauordnungsrechts, wie sie zur Zeit der Bad Dürkheimer Vereinbarung107 angestrebt wurde, kann keine Rede sein, wie das von Hans Rei97

Musterbauordnung 1981 (Fn. 92), S. 76 (Bericht des Allgemeinen Ausschusses der ARGEBAU unter A IV). 98 Böckenförde/Temme/Krebs (Hrsg.), Musterbauordnung (Fn. 95). 99 Böckenförde/Temme/Krebs (Hrsg.), Musterbauordnung (Fn. 95), S. XVIII. 100 Vgl. Scholz, Rupert, Privatisierung im Baurecht, 1997. 101 Vgl. Jäde, Henning, Musterbauordnung (MBO 2002). Textsynopse der Fassungen Dezember 1997 und November 2002 mit Begründung, 2003, S. 5 sowie S. 9 und 10 der Begründung. 102 www.is-argebau.de (" Mustervorschriften/Mustererlasse " Bauaufsicht/Bautechnik " Archiv) = Jäde, Musterbauordnung (MBO 2002) (Fn. 101). 103 Jäde, Musterbauordnung (MBO 2002) (Fn. 101), S. 5; Schulte, Bernd H., Die Reform des Bauordnungsrechts in Deutschland, DVBl. 2004, S. 925 (927). 104 www.is-argebau.de (" Mustervorschriften/Mustererlasse " Bauaufsicht/Bautechnik) = Jäde, Musterbauordnung (MBO 2002) (Fn. 101). 105 Jäde, Musterbauordnung (MBO 2002) (Fn. 101), S. 9, 11, 12 (Begründung). 106 Jäde, Musterbauordnung (MBO 2002) (Fn. 101), S. 11 (Begründung). 107 Vgl. oben IV.

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chel und Bernd H. Schulte herausgegebene „Handbuch Bauordnungsrecht“ mit seinen synoptischen Darstellungen und Tabellen belegt.108 So ist z. B. nach dem Urteil eines vorzüglichen Kenners das Ziel, die sich auseinander entwickelnden Bauordnungen wieder einander anzunähern, „was die Abstandsvorschriften angeht, nicht erreicht worden“109. Das frühere öffentlichrechtliche Glanzstück der Baugenehmigung, die bei Übereinstimmung des Vorhabens mit dem öffentlichen Recht erteilt wurde und als Schlusspunkt des Verfahrens die Baufreigabe enthielt,110 ist zerbrochen; die Landesbauordnungen folgen im Bereich des Genehmigungsrechts nur teilweise der Musterbauordnung und haben ein Fülle von Variationen kreiert.111 Eine Vereinheitlichung des Bauordnungsrechts ist also nach fünfzig Jahren vergeblicher Bemühungen nicht erreicht worden.112 Die Selbstkoordination der Länder ist gescheitert. VII. Möglichkeiten des Bundes, der Zersplitterung des Bauaufsichtsrechts oder der Unterschiedlichkeit seines Vollzugs entgegenzuwirken, sind – sieht man von der Methode Seehofer ab113 – nicht vorhanden. Nicht einmal die durch das Baurechtsgutachten des Bundesverfassungsgerichts eröffnete und vom Bundesbauminister des Jahres 1955 genutzte Gelegenheit, die Länder auf einen einheitlichen Kurs im Bauordnungsrecht einzuschwören,114 besteht noch. Eine Drohung, im Falle der Insubordination bundesrechtliches Bauordnungsrecht im Bereich des Wohnungswesens zu erlassen, würde heute nicht mehr verfangen. Auch die auf dem Verwaltungsrichtertag 2004 geäußerte Anregung Bernd Schultes, der Bund möge unter Ausschöpfung seiner Gesetzgebungskompetenz für wohnungsbaupolizeiliche Vorschriften ein Bauordnungsbuch des Bundes schaffen, geht neuerdings ins Leere.115 Denn 108

Fn. 25. Boeddinghaus, Gerhard, Deregulierung. Die Entwicklung des Abstandsrechts in den Jahren 2002 bis 2006, BauR 2006, S. 1248 (1249). 110 Vgl. § 93 Abs. 1 Satz 1 Musterbauordnung 1960 (Fn. 45): „Die Baugenehmigung ist zu erteilen, wenn das Bauvorhaben den öffentlich-rechtlichen Vorschriften entspricht.“ 111 Vgl. Ehlers, Dirk, Die Baugenehmigung – Baustein oder Schlussstein der Baufreigabe?, in: Geis, Max-Emanuel/Umbach, Dieter C. (Hrsg.), Planung – Steuerung – Kontrolle. Festschrift für Richard Bartlsperger, 2006, S. 463 (S. 471 ff., 474 ff., 478); Schulte, Die Reform des Bauordnungsrechts in Deutschland (Fn. 103), S. 928 f. 112 Vgl. Schulte, Die Reform des Bauordnungsrechts in Deutschland (Fn. 103), S. 925. 113 Vgl. oben I. 114 Vgl. oben IV. 115 Schulte, Die Reform des Bauordnungsrechts in Deutschland (Fn. 103), S. 931. 109

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der Bund hat auf seine verfassungsrechtliche ultima ratio verzichtet. Durch die Föderalismusreform des Jahres 2006 hat Art. 74 Abs. 1 Nr. 18 GG116 eine neue Fassung erhalten, die von der pauschalen Erwähnung des Wohnungswesens absieht, vielmehr nur noch Fragmente des Wohnungswesens der konkurrierenden Gesetzgebung zuordnet (Wohngeldrecht, Altschuldenhilferecht, Wohnungsbauprämienrecht, Bergarbeiterwohnungsbaurecht und Bergmannssiedlungsrecht). In der Gesetzesbegründung wird darauf hingewiesen, dass die bisherige konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für das Wohnungswesen erheblich eingeschränkt worden sei; es bleibe nur die Kompetenz für die im Einzelnen aufgeführten Materien erhalten. Alle übrigen Bereiche des Wohnungswesens, d. h. das Recht der sozialen Wohnraumförderung, der Abbau der Fehlsubventionierung im Wohnungswesen, das Wohnungsbindungsrecht, das Zweckentfremdungsrecht im Wohnungswesen sowie das Wohnungsgenossenschaftsvermögensrecht, „fallen damit in die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz der Länder“117. Ein Hinweis auf die Folgen der Novellierung für das Bauordnungsrecht findet sich in der Begründung nicht. Mit der Eliminierung des Wohnungswesens aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 18 GG hat jedenfalls der Bund auf die entsprechende baupolizeiliche Annexkompetenz verzichtet, mögen dies die gesetzgebenden Instanzen beabsichtigt oder übersehen haben. Damit ist dem vom Bundesverfassungsgericht in seinem Gutachten angeführten Argument, dass der Bund, der das Recht zur Gesetzgebung auf bestimmten Lebensgebieten, wie dem Wohnungswesen, habe, auch annexweise das Recht habe, die dieses Lebensgebiet betreffenden spezial-polizeilichen Vorschriften zu erlassen,118 der Boden entzogen. Kluge – auf Einheitlichkeit des Bauordnungsrechts bedachte – Bundespolitiker hätten das Druckmittel ihrer Vorgänger (im heutigen Politargot Drohkulisse) nicht ohne weiteres aus der Hand gegeben. Die Föderalismusreformer haben vielmehr dazu beigetragen, dass die Reform des Bauordnungsrechts niemals ein Ende finden wird. Selbst das Projekt „Musterbauordnung“ steht nunmehr zur Disposition der Länder, die durch keinen Staatsvertrag zur bauordnungsrechtlichen Kooperation verpflichtet werden, sondern, allein vom zyklischen Beharrungsvermögen getrieben, sich der nächsten wirkungslosen Musterbauordnung zuwenden werden.

116 117 118

Vgl. oben Fn. 2. BT-Drs. 16/813, S. 13 (zu Doppelbuchstabe jj). BVerfGE 3, 407 (433 f.).

VI. Infrastruktur- und Regulierungsverwaltungsrecht

Die Regionalisierung des öffentlichen Personennahverkehrs Von Hans D. Jarass Die rechtlichen Vorgaben des Verkehrswirtschaftsrechts für den öffentlichen Personennahverkehr haben seit den 90er Jahren eine grundlegende Veränderung erfahren. Dieser Veränderung soll im Folgenden nachgegangen werden, wobei die Regionalisierung des öffentlichen Personennahverkehrs im Zentrum steht. Soweit es um das Landesrecht geht, wird vor allem auf die Situation in Nordrhein-Westfalen eingegangen, ohne aber das Recht der anderen Bundesländer völlig zu vernachlässigen. I. Grundlagen 1. Öffentlicher Personennahverkehr und dessen Teilbereiche Zunächst sind einige Bemerkungen zum Begriff des öffentlichen Personennahverkehrs angebracht. Unter „öffentlichem Personennahverkehr“ wird mit der gesetzlichen Definition in § 2 des Regionalisierungsgesetzes (und damit des einschlägigen Bundesgesetzes)1 jede Beförderung von Personen verstanden, die (1) mit Verkehrsmitteln im Linienverkehr erfolgt, (2) allgemein, also einer unbestimmten Personenmehrheit zugänglich ist und (3) überwiegend auf die Verkehrsnachfrage im Stadt-, Vorort- oder Regionalverkehr ausgerichtet ist.2 Innerhalb des öffentlichen Personennahverkehrs lassen sich zwei große Teilbereiche unterscheiden: der straßengebundene Personennahverkehr und der Schienenpersonennahverkehr. Letzterer besteht (allein) aus dem (gemäß § 2 Abs. 5 AEG betriebenen) Eisenbahnverkehr,3 umfasst also keineswegs den gesamten schienengebundenen Personennahverkehr: Straßenbahnen, Hochbahnen, Untergrundbahnen, Schwebebahnen und ähnliche Verkehrsmittel fallen nicht unter § 2 Abs. 5 AEG,4 unterliegen vielmehr dem Personen1

Näher zum Regionalisierungsgesetz unten I. 2. a). Für Nordrhein-Westfalen wird die Definition in § 1 Abs. 2 ÖPNVG NRW wiederholt. 3 Vgl. § 1 Abs. 3 S. 1 ÖPNVG NRW. 4 Vgl. Begr. zum Regierungsentwurf des ÖPNVG NRW, LT-Drs. 11/7847, S. 31. 2

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beförderungsgesetz (PBefG).5 Zusammen mit den sonstigen Verkehrsmitteln des Straßenverkehrs, insbesondere den Bussen, bilden sie den straßengebundenen Personennahverkehr, weil sie den Verkehrsraum öffentlicher Straßen nutzen (vgl. § 4 Abs. 1 Nr. 1 PBefG) bzw. solchen Beförderungsmitteln vergleichbar sind. Der Unterschied zwischen straßengebundenem und sonstigem Personennahverkehr wird nicht nur durch das geltende Recht mit seiner Differenzierung zwischen Allgemeinem Eisenbahngesetz und Personenbeförderungsgesetz normativ vorgegeben.6 Auch in tatsächlicher Hinsicht ist der Unterschied höchst bedeutsam. Während der straßengebundene Personennahverkehr überwiegend von den Kommunen (bzw. von kommunalen Unternehmen) bewältigt wird,7 war und ist im Personennahverkehr der Eisenbahnen vor allem der Bund aktiv.8 In den folgenden Überlegungen geht es nicht um den Personennahverkehr mit Eisenbahnen, sondern um den straßengebundenen Personennahverkehr. Wenn daher im Folgenden von öffentlichem Personennahverkehr gesprochen wird, ist im Zweifel nur der straßengebundene Personennahverkehr gemeint. 2. Änderungen des Verkehrswirtschaftsrechts a) Änderungen des deutschen Rechts Mit der 1993 ergangenen und als Jahrhundertwerk eingestuften Bahnstrukturreform9 wurde es möglich, der seit langem geforderten Notwendigkeit Rechnung zu tragen, die zersplitterten Zuständigkeiten von Bund, Ländern und Gemeinden für den öffentlichen Personennahverkehr zusammenzuführen. Damit sollte insbesondere die Wirtschaftlichkeit der Verkehrsbedienung gestärkt werden.10 Dazu wurde zunächst das Grundgesetz geändert: Bedeutsam sind insbesondere die Führung der Eisenbahnen des Bundes als Wirtschaftsunternehmen in privatrechtlicher Form gemäß Art. 87e Abs. 3 GG und die Verwaltungszuständigkeit des Bundes für den Schienenpersonenverkehr in Art. 87e Abs. 4 GG, soweit es nicht um den Nahverkehr geht. Hinzu kommt die Regelung zur Finanzierung des öffentlichen Personennahverkehrs in Art. 106a GG. 5

Vgl. § 4 Abs. 1, 2 PBefG. Zu diesen Differenzen Fehling, Verw 2001, 28. 7 Barth, Nahverkehr in kommunaler Verantwortung, 2000, S. 33; Hösch, GewArch 2001, 224. 8 Begr. zum Regierungsentwurf des ÖPNVG NRW, LT-Drs. 11/7847, S. 31. Zudem sind hier die Länder sowie Private in begrenztem Umfang aktiv. 9 Muthesius, in: Püttner (Hg.), Der regionalisierte Nahverkehr, 1997, S. 71. 10 Muthesius, in: Püttner (Hg.), Nahverkehr (Fn. 9), S. 71. 6

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Auf der Ebene der Bundesgesetze wurde das Allgemeine Eisenbahngesetz durch Art. 5 des Eisenbahnneuordnungsgesetzes völlig neu gefasst.11 Weiter änderte das Neuordnungsgesetz das Personenbeförderungsgesetz in nicht unerheblicher Weise. Im vorliegenden Zusammenhang sind vor allem die neuen Regelungen in § 8 Abs. 3 PBefG, in § 8 Abs. 4 PBefG, in § 13 PBefG und in § 13a PBefG bedeutsam.12 Darüber hinaus wurde auf Drängen der Länder und der Verbände im Zusammenhang mit der Bahnstrukturreform das „Gesetz zur Regionalisierung des öffentlichen Personennahverkehrs“ (Regionalisierungsgesetz – RegG) erlassen.13 Gemäß § 3 RegG ist für eine Zusammenführung des öffentlichen Personennahverkehrs zu sorgen. § 4 RegG sieht zur Sicherstellung einer ausreichenden Verkehrsbedienung die Auferlegung gemeinwirtschaftlicher Verkehrsleistungen vor. Schließlich werden in § 5 bis § 8 RegG Vorgaben zur Finanzierung des öffentlichen Personennahverkehrs getroffen. Zur Konkretisierung dieses Gesetzes haben die Länder detaillierte Regelungen erlassen. Für Nordrhein-Westfalen finden sich die Regelungen im „Gesetz über den öffentlichen Personennahverkehr in Nordrhein-Westfalen“ (ÖPNVG NRW).14 In §§ 3 ff. ÖPNVG NRW werden die Aufgabenträger festgelegt, deren Funktion es ist, den öffentlichen Personennahverkehr zu planen, zu organisieren und auszugestalten. Die Durchführung der Verkehrsleistung liegt bei den Verkehrsunternehmen des öffentlichen Personennahverkehrs.15 Die Aufgabenträger haben einen Nahverkehrsplan aufzustellen, in dem gemäß § 8 Abs. 3 S. 1 ÖPNVG NRW Ziele und Rahmenvorgaben für das betriebliche Leistungsangebot sowie dessen Finanzierung und die Investitionsplanung festgelegt werden.16 b) Änderungen des EG-Rechts Auf der Ebene des EG-Rechts besteht seit 1969 die (unmittelbar geltende) „Verordnung (EWG) Nr. 1191/69 über das Vorgehen der Mitgliedstaaten bei mit dem Begriff des öffentlichen Dienstes verbundenen Ver11

Gesetz vom 27.12.1993 (BGBl. I 2378). Art. 6 Abs. 126 des Eisenbahnneuordnungsgesetzes; dazu Muthesius, in: Püttner (Hg.), Nahverkehr (Fn. 9), S. 80 ff. 13 Art. 4 des Eisenbahnneuordnungsgesetzes (BGBl. 1993 I 2378/2395). 14 Vom 7.3.1995 (GV NRW 1995, 196), zuletzt geändert durch Gesetz vom 17.12.2002 (GV NRW 2002, 650). Es erging ursprünglich als „Gesetz zur Regionalisierung des öffentlichen Schienenpersonennahverkehrs sowie zur Weiterentwicklung des ÖPNV“. 15 Sie werden etwa in § 2 Abs. 3 ÖPNVG NRW angesprochen. 16 Dazu Muthesius, in: Püttner (Hg.), Nahverkehr (Fn. 9), S. 103 ff. Die Verpflichtung zum Nahverkehrsplan ist bereits in § 8 Abs. 3 PBefG enthalten. 12

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pflichtungen auf dem Gebiet des Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffsverkehrs“.17 Sie beschränkte sich ursprünglich auf die Staatseisenbahnen.18 1991 wurde die Verordnung durch die „Verordnung (EWG) Nr.1893/91 zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1191/69“ auf grundsätzlich alle Unternehmen des Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffsverkehrs erstreckt.19 Gemäß Art. 1 Abs. 1 UAbs. 2 VO 1191/69 können allerdings die Mitgliedstaaten „Unternehmen, deren Tätigkeit ausschließlich auf den Betrieb von Stadt-, Vorort- und Regionalverkehrsdiensten beschränkt ist“, von der Anwendung der Verordnung ausnehmen. Dies betrifft vor allem den öffentlichen Personennahverkehr. Gleichwohl entfaltet die Verordnung in Deutschland auch in diesem Bereich Wirkungen, weil das deutsche Recht von der Ausnahmemöglichkeit nur noch eingeschränkt Gebrauch macht.20 Mit der novellierten Verordnung (EWG) 1191/69 soll vor allem die wirtschaftliche Eigenständigkeit der Verkehrsunternehmen gestärkt werden.21 Daher sieht Art. 1 Abs. 3 VO 1191/69 die Aufhebung von Verpflichtungen des öffentlichen Dienstes vor.22 Zudem sollen Wettbewerbsverfälschungen vermieden werden. Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass sich weitere Veränderungen auf EG-rechtlicher Ebene abzeichnen.23 II. Regionalisierung und Integration der Nahverkehrsbedienung 1. Grundfragen der Regionalisierung und des Regionsbezugs a) Stellenwert und Bedeutung der Regionalisierung Eines der zentralen Elemente der neuen Regelungen im Recht des öffentlichen Personennahverkehrs bildet die „Regionalisierung“, der Regionsbezug. Dementsprechend wurde das neue Recht in einem wichtigen Sammel17

ABl. 1969 L 156/1. Vgl. Art. 19 VO 1191/69. 19 ABl. 1991 L 169/1. 20 Die ursprüngliche Generalausnahme gem. § 3 der Verordnung v. 31.7.1992 (BGBl. I 1442), geänd. durch Verordnung v. 29.11.1994 (BGBl. I 3630) ist entfallen. Nunmehr besteht nur noch eine Teilausnahme im Bereich der eigenwirtschaftlichen Verkehre; vgl. EuGH, NJW 2003, 2516 Rn. 50 f., 57; BVerwG, DVBl. 2000, 1618; Elste/Wiedemann, WiVerw 2004, 10 f.; Franzius, NJW 2003, 3030; Wachinger, WiVerw 2004, 34 ff. 21 So 2. Erwägungsgrund zur VO 1893/91; Muthesius, in: Püttner (Hg.), Nahverkehr (Fn. 9), S. 74. 22 Durch Art. 1 Abs. 5 VO 1191/69 wird das wieder eingeschränkt. 23 Dazu Metz, in: Püttner (Hg.), Zur Reform des Gemeindewirtschaftsrechts, 2002, S. 227 ff.; Ronellenfitsch, in: Pitschas/Ziekow (Hg.), Kommunalwirtschaft im Europa der Regionen, 2004, 121 ff. 18

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band durch den Begriff des „regionalisierten Nahverkehrs“ gekennzeichnet.24 Das hohe Gewicht der Regionalisierung verdeutlicht auch die Überschrift des einschlägigen Bundesgesetzes, das in seiner amtlichen Kurzfassung als „Regionalisierungsgesetz“ firmiert.25 Entsprechend trug das Gesetz über den öffentlichen Personennahverkehr in Nordrhein-Westfalen ursprünglich den Kurztitel „Regionalisierungsgesetz“; er wurde nur geändert, um Verwechslungen mit dem Bundesgesetz zu vermeiden.26 Trotz der zentralen Bedeutung der Regionalisierung hat ihr konkreter Gehalt kaum Aufmerksamkeit gefunden. Das Interesse richtete sich auf ihre Folgen, vor allem auf die in §§ 5 ff. RegG geregelten finanziellen Folgen. Sucht man näher zu ermitteln, was mit der „Regionalisierung“ gemeint ist, muss die Vorschrift des § 3 RegG im Mittelpunkt stehen, trägt sie doch die Überschrift „Regionalisierung“. Die Vorschrift verlangt, „Planung, Organisation und Finanzierung des öffentlichen Personennahverkehrs zusammenzuführen“.27 Dies dient, wie die Vorschrift sagt, der „Stärkung der Wirtschaftlichkeit der Verkehrsbedienung im öffentlichen Personennahverkehr“. Zudem wird in § 3 S. 2 RegG festgehalten, dass die Länder das Nähere regeln.28 Die mit der Regionalisierung verbundene Aufgabenstellung enthält, was der Vorschrift nicht unmittelbar zu entnehmen ist, unterschiedliche Dimensionen. Zunächst trägt sie dem Umstand Rechnung, dass die Aufgabenverantwortung im Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs, wie Art. 87e Abs. 4 GG im Umkehrschluss entnommen werden kann, vom Bund auf die Länder übergegangen ist.29 Dies betrifft vor allem den (hier nicht interessierenden) Schienenpersonennahverkehr, ist aber für den straßengebundenen Personennahverkehr wegen der früheren Busdienste von Bundesbahn und Bundespost nicht ohne Bedeutung. Der Gehalt der Regionalisierung reicht aber noch weiter. Der Begriff der Regionalisierung betont den Regionsbezug. In die gleiche Richtung geht es, wenn die Zusammenführung von Planung, Organisation und Finanzierung für den öffentlichen Personennahverkehr verlangt wird. Damit soll nichts an der grundsätzlichen Zuständigkeit der Kreise und kreisfreien Städte als Aufgabenträger für den straßengebundenen Personennahverkehr geändert wer24

Püttner (Hg.), Der regionalisierte Nahverkehr (Fn. 9), 1997. Zu diesem Gesetz oben I. 2. a). 26 Amtl. Begr. zum Regierungsentwurf; LT-Drs. 13/2706, S. 15. 27 Wie sich noch zeigen wird, bedeutet „Zusammenführen“ nicht notwendig eine Verschmelzung der Zuständigkeiten; die Zusammenführung kann auch in der notwendigen Koordination und Kooperation bestehen. 28 Das wird auch in BT-Drs. 12/6269, S. 136 betont. 29 Darauf wird in BT-Drs. 12/6269, S. 136 hingewiesen. In die gleiche Richtung zielt Art. 143a Abs. 3 GG. 25

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den.30 Die „Zusammenführung“ kann auch in der bloßen Koordination und Kooperation der Aufgabenträger bestehen,31 muss nicht zu einer Fusion führen. Auf diesem Wege lässt sich die gebotene Stärkung der Wirtschaftlichkeit der Verkehrsbedienung ebenfalls erreichen.32 Die Koordination und Kooperation der Kreise und kreisfreien Städte als Aufgabenträger erfolgt auf der Ebene der Region. Damit schließt die Regionalisierung die Pflicht (auch und gerade) der auf der Ebene der Kreise und kreisfreien Städte angesiedelten Aufgabenträger ein, die Regionsperspektive stärker in den Blick zu nehmen und durch überörtliche Koordination und Kooperation die Wirtschaftlichkeit des öffentlichen Personennahverkehrs zu erhöhen. Über die Aufgabenträger hinaus haben zudem die Unternehmen der Regionsperspektive Rechnung zu tragen.33 b) Regionalisierung und räumliche Abgrenzung des Personennahverkehrs aa) Das Ziel der Regionalisierung und des Regionsbezugs kommt auch in der Abgrenzung des öffentlichen Personennahverkehrs durch das Regionalisierungsgesetz (in räumlicher Hinsicht) zum Ausdruck, die eine „allgemein gefasste Begriffsbestimmung für den ÖPNV“ enthält.34 Der öffentliche Personennahverkehr erfasst gemäß § 2 S. 1 RegG wie gemäß § 1 Abs. 2 S. 1 ÖPNVG NRW nicht nur den Stadt- und Vorortverkehr, sondern zudem den Regionalverkehr. Von Regionalverkehr ist im Zweifel gemäß § 2 S. 2 RegG bzw. § 1 Abs. 2 S. 2 ÖPNVG NRW zu sprechen, wenn in der Mehrzahl der Beförderungsfälle die Reiseweite 50 km oder eine Reisezeit von einer Stunde nicht übersteigt.35 bb) Ähnliche Aussagen finden sich in der Verkehrsdienste-Verordnung der Europäischen Gemeinschaft. Wie angesprochen, gestattet Art. 1 Abs. 1 UAbs. 2 VO 1191/69 den Mitgliedstaaten, Stadt-, Vorort- und Regionalverkehrsdienste einem gesonderten Regime zu unterwerfen.36 In der Ein30 Vgl. Gaedtke, Regionalisierungsgesetz NW, 1995, 1. Dies machen auch die ausführenden Landesgesetze deutlich; unten II. 2. a). 31 Da der (straßengebundene) öffentliche Personennahverkehr traditionell örtlich ausgerichtet war (vgl. Ambrosius, in: Püttner (Hg.), Nahverkehr (Fn. 9), 11 ff.), soll mit der Regionalisierung die Perspektive über den örtlichen Rahmen hinaus ausgeweitet werden. 32 Nach BT-Drs. 12/6269, S. 136 soll durch die Konzentration der Zuständigkeiten mehr Wirtschaftlichkeit im ÖPNV erreicht werden. 33 Dazu unten II. 2. d). 34 So BT-Drs. 12/6269, S. 136. 35 Vgl. auch die Definition des § 2 Abs. 1 HessÖPNVG. 36 Oben I. 2. b).

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beziehung und Gleichstellung der Regionalverkehrsdienste kommt dabei die räumliche Ausweitung des Nahverkehrs zum Ausdruck. Bekräftigt wird dies durch die Definition der Dienste, die eher noch weiter ausgreift: In Art. 1 Abs. 2 Spstr. 1 VO 1191/69 werden Stadt- und Vorortverkehrsdienste als „der Betrieb von Verkehrsdiensten“ definiert, „die die Verkehrsbedürfnisse sowohl in einem Stadtgebiet oder einem Ballungsraum als auch zwischen einem Stadtgebiet oder einem Ballungsraum und seinem Umland befriedigen“. Und Regionalverkehrsdienste sind gemäß Art. 1 Abs. 2 Spstr. 2 VO 1191/69 „der Betrieb von Verkehrsdiensten, um die Verkehrsbedürfnisse in einer Region zu befriedigen“. An diesen Definitionen ist auch von Interesse, dass die Verkehrsdienste in einem Ballungsraum einschließlich der zugehörigen Umgebung den Diensten in einem Stadtgebiet gleichgestellt werden.37 Hier wird für die Ausweitung des Nahverkehrs über den örtlichen Bereich hinaus offenkundig ein besonderes Bedürfnis gesehen. Bedeutung hat das vor allem für die Verkehrsverbünde. Bei ihnen besteht nach der Wertung der Verordnung in besonderem Maße Anlass, die örtliche Perspektive zu überschreiten und damit dem Regionsbezug Rechnung zu tragen. 2. Regionale Koordination und Kooperation der Aufgabenträger sowie der Unternehmen a) Ausgestaltung durch Landesrecht Die Aufgabe der Regionalisierung des öffentlichen Personennahverkehrs im Sinne des § 3 S. 1 RegG wird entsprechend dem Auftrag des § 3 S. 2 RegG in den einschlägigen Landesgesetzen näher geregelt. Im Bereich des straßengebundenen Personennahverkehrs werden durchweg die Kreise und die kreisfreien Städte als grundsätzliche Aufgabenträger festgelegt.38 Die Berücksichtigung des Regionalbezugs erfolgt dann in vielfältigen Formen der Kooperation bis hin zu Verkehrsverbünden. Besonderes Gewicht hat dies naturgemäß für den Schienenpersonennahverkehr, soweit hier nicht ohnehin die Länder als Aufgabenträger fungieren. Bedeutung hat der Regionalbezug aber auch für den straßengebundenen Personennahverkehr.39 37

Vgl. Barth, Nahverkehr (Fn. 7), S. 31. Etwa § 3 ÖPNVG NRW; Art. 8 BayÖPNVG. Die Kreise bzw. kreisfreien Städte können kreisangehörige Gemeinden an der Aufgabenerfüllung beteiligen; vgl. § 4 ÖPNVG NRW; Art. 9 BayÖPNVG 39 § 3 RegG gilt für den gesamten Personennahverkehr; wo das Gesetz speziell den Schienenpersonennahverkehr im Auge hat, wird das ausdrücklich gesagt; vgl. § 7 RegG. 38

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b) Koordination und Kooperation der Aufgabenträger im Kooperationsraum aa) In Nordrhein-Westfalen ist insoweit vor allem die Regelung des § 5 ÖPNVG NRW bedeutsam. Sie verlangt von den Kreisen und kreisfreien Städten, Zweckverbände zu gründen, und zwar in Anlehnung an die in der Anlage des Gesetzes aufgeführten Kooperationsräume.40 Die Kooperationsräume sind, entsprechend den unterschiedlichen Verkehrsverflechtungen, von unterschiedlicher Größe. Der größte umfasst nicht weniger als 21 kreisfreie Städte und Kreise, die kleinsten jeweils zwei Kreise. Können sich die Kreise und Kommunen auf die Schaffung eines notwendigen Zweckverbandes nicht einigen, kann die Gründung eines (Zwangs-)Verbandes angeordnet werden.41 Die Zweckverbände haben gemäß § 5 Abs. 3 S. 2 ÖPNVG NRW auf eine „integrierte Verkehrsgestaltung im ÖPNV hinzuwirken, insbesondere auf die Fortentwicklung des bestehenden Gemeinschaftstarifs, auf die Bildung kooperationsraumübergreifender Tarife mit dem Ziel eines landesweiten Tarifs, auf ein koordiniertes Verkehrsangebot im ÖPNV und einheitliche Beförderungsbedingungen, Produkt- und Qualitätsstandards, Fahrgastinformations- und Betriebssysteme und ein übergreifendes Marketing“.42 Weiter haben die Zweckverbände (neben den Kreisen und den kreisfreien Städten) gemäß § 8 Abs. 1 ÖPNVG NRW für ihren Bereich Nahverkehrspläne aufzustellen.43 Die Pläne der Zweckverbände sind gemäß § 8 Abs. 2 ÖPNVG NRW für die Pläne der Kreise und kreisfreien Städte verbindlich. Seit Erlass des Gesetzes wurden die in § 5 ÖPNVG NRW vorgesehenen Zweckverbände flächendeckend geschaffen. Im Bereich des straßengebundenen Personennahverkehrs haben sie vor allem Aufgaben der Koordination und der Kooperation übernommen, im Bereich des Schienenpersonennahverkehrs sogar die Aufgabenträgerschaft. bb) In den anderen Ländern erfolgt die Zusammenführung der Aufgabenverantwortung zum Teil etwas anders, ohne dass damit prinzipielle Unterschiede verbunden wären.44 Begrifflich sei darauf hingewiesen, dass man vielfach statt von Kooperationsraum wie in Nordrhein-Westfalen von (regio40

Zum Berücksichtigen der Kooperationsräume Püttner, in: Püttner (Hg.), Nahverkehr (Fn. 9), S. 98. Zu den Aufgaben von Verkehrsverbünden Werner, WiVerw 2001, 108 ff. 41 Vgl. § 5 Abs. 5, 6 ÖPNVG NRW. 42 Vgl. dazu Barth, Nahverkehr (Fn. 7), S. 178 f. Im Schienenpersonennahverkehr geht die Aufgabenstellung der Zweckverbände gemäß § 5 Abs. 3 S. 1 ÖPNVG NRW noch weiter. 43 Zu den Nahverkehrsplänen Biletzki, NZV 2000, 313 ff.; Barth, Nahverkehr (Fn. 7), S. 180 ff.

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nalem) Nahverkehrsraum spricht.45 So hat in Bayern die Bezirksregierung regionale Nahverkehrsräume gemäß Art. 6 BayÖPNVG abzugrenzen, wenn die Beziehungen und Verflechtungen des öffentlichen Personennahverkehrs über den Bereich einer kreisfreien Gemeinde oder eines Landkreises hinausreichen. Für Hessen sieht § 6 Abs. 2 des Gesetzes zur Weiterentwicklung des öffentlichen Personennahverkehrs vor, dass die Aufgabenträger die Aufgaben im Regionalverkehr gemeinsam in Verkehrsverbünden erfüllen. Und § 4 SächsÖPNVG verpflichtet in bestimmten, im Einzelnen aufgeführten überörtlichen Nahverkehrsräumen zu einer Zusammenarbeit nach dem Gesetz über die kommunale Zusammenarbeit. Als übergreifenden Begriff für Kooperationsräume, Nahverkehrsräume und Ähnliches kann man den Begriff des Nahverkehrsgebiets verwenden. c) Kooperationsraumübergreifende Kooperation der Aufgabenträger aa) Das Zusammenwirken der Aufgabenträger soll nach den Vorgaben des nordrhein-westfälischen Gesetzes über den öffentlichen Personennahverkehr nicht an den Grenzen des jeweiligen Kooperationsraumes Halt machen.46 Gemäß § 6 Abs. 1 ÖPNVG NRW sollen die Zweckverbände und das Land eine gemeinsame Management-Gesellschaft gründen;47 dies ist zwischenzeitlich geschehen, wenn auch beschränkt auf den Schienenpersonennahverkehr.48 Des Weiteren können Zweckverbände gemäß § 6 Abs. 2 ÖPNVG NRW anderen Zweckverbänden mit deren Zustimmung einzelne Angelegenheiten übertragen. Zudem sollen die Zweckverbände gemäß § 6 Abs. 3 ÖPNVG NRW auf die Bildung von landesweiten Tarif- und landeseinheitlichen Beförderungsbedingungen sowie die Bildung kooperationsraumübergreifender Tarife mit dem Ziel eines landesweiten Tarifs hinwirken. bb) Darüber hinaus können die Aufgabenträger gemäß § 6 Abs. 4 ÖPNVG NRW Vereinbarungen mit Aufgabenträgern in angrenzenden Ländern oder Staaten nach Maßgabe der hierfür geltenden landesrechtlichen Regelungen, innerstaatlichen Abkommen und völkerrechtlichen Vereinbarungen abschließen. Bedeutung hat das für Aufgabenträger, die an den Grenzen Nordrhein44 Vgl. auch den Überblick bei Püttner, in: Püttner (Hg.), Nahverkehr (Fn. 9), S. 96 ff. 45 Art. 6 BayÖPNVG; § 4 ÖPNVG Bbg; § 5 ÖPNVG MV; § 4 SächsÖPNVG. 46 Vgl. auch § 2 Abs. 2 Nr. 5 ROG, wonach „die Attraktivität des öffentlichen Personennahverkehrs . . . durch Ausgestaltung von Verkehrsverbünden und die Schaffung leistungsfähiger Schnittstellen zu erhöhen ist“. Entsprechendes findet sich in § 28 Abs. 6a LEPro. 47 Vgl. auch Barth, Nahverkehr (Fn. 7), S. 178. 48 „Agentur Nahverkehr NRW GmbH“ mit Sitz in Unna.

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Westfalens liegen und Nahverkehrsbeziehungen über die Landesgrenzen hinweg aufweisen.49 Vor diesem Hintergrund ist erst recht ein kooperationsraumübergreifendes Zusammenwirken geboten, wenn innerhalb Nordrhein-Westfalens intensive Nahverkehrsbeziehungen über die Grenzen eines Kooperationsraumes hinaus mit angrenzenden Gebieten bestehen, der fragliche Nahverkehrsraum somit die Grenzen des Kooperationsraums überschreitet. Auch in einem solchen Falle weist die Aufgabenstellung des betreffenden Aufgabenträgers über den Kooperationsraum hinaus. d) Kooperation der Unternehmen Die Zusammenführung der Aufgabenverantwortung bei den Aufgabenträgern und deren Kooperation ist naturgemäß kein Selbstzweck. Sie zielt auf die Regionalisierung der Verkehrsleistungen, womit zwangsläufig die Verkehrsunternehmen ins Spiel kommen.50 Auch sie sollen kooperieren51 und werden daher von den kartellrechtlichen Verboten des § 1 GWB durch § 8 Abs. 3 S. 7 PBefG freigestellt. Das Gesetz spricht insoweit in der in Bezug genommenen Vorschrift des § 8 Abs. 3 PBefG von „Verkehrskooperation“.52 Dementsprechend verlangt § 2 Abs. 3 S. 2 ÖPNVG NRW (ebenso wie § 28 Abs. 6 lit. a LEPro), die Zusammenarbeit der Verkehrsunternehmen in Verkehrsverbünden weiterzuentwickeln. Ziel ist, wie sich § 2 Abs. 3 S. 1 ÖPNVG NRW entnehmen lässt, eine angemessene Bedienung der Bevölkerung durch den öffentlichen Personennahverkehr „in allen Teilen des Landes“ zu gewährleisten. Mit vergleichbarer Zielsetzung ist gemäß § 9 Abs. 1 S. 1 ÖPNVG BW (ähnlich wie nach anderen Landesgesetzen) die Zusammenarbeit der Verkehrsunternehmen anzustreben.53 Insgesamt erfasst die Aufgabenausweitung der Aufgabenträger auch die betreffenden kommunalen und sonstigen Verkehrsunternehmen. Auch sie sollen vermehrt die Regionalisierung des öffentlichen Personennahverkehrs berücksichtigen und realisieren. Die Kooperation der Unternehmen und ihre 49 Der Hinweis auf die einschlägigen landesrechtlichen Regelungen, innerstaatlichen Abkommen und völkerrechtlichen Vereinbarungen dürfte dann bedeutsam werden, wenn es zu öffentlich-rechtlichen Vereinbarungen kommt; vgl. Oebbecke, Gemeindeverbandsrecht Nordrhein-Westfalen, 1984, Rn. 341. Privatrechtliche Vereinbarungen erfolgen auch in anderen Zusammenhängen ohne derartige rechtliche Grundlagen. 50 Dazu Püttner, in: Püttner (Hg.), Nahverkehr (Fn. 9), S. 96 f. Zur Unterscheidung von Aufgabenträgern und Unternehmen Püttner, a. a. O., S. 91 ff.; vgl. Hermanns/Hönig, LKV 2002, 207 f. 51 Barth, Nahverkehr (Fn. 7), S. 178 f.; BT-Drs. 12/6269 zu § 8 Abs. 3 PBefG. 52 Vgl. § 8 Abs. 3 S. 1 PBefG. 53 Näher dazu Püttner, in: Püttner (Hg.), Nahverkehr (Fn. 9), S. 101 f.

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verstärkte Ausrichtung über ihr Trägergemeinwesen hinaus kann im Übrigen in gewissem Umfang die Kooperation der Aufgabenträger ersetzen, da auf sie verzichtet werden kann, wenn bereits die Unternehmen den notwendigen Regionsbezug sicherstellen. 3. Integration der Nahverkehrsbedienung a) Grundlagen Nach der Vorschrift des § 8 Abs. 3 S. 1 PBefG, die ein wichtiges Element des neuen Verkehrswirtschaftsrechts bildet, hat die Genehmigungsbehörde im Zusammenwirken mit den Aufgabenträgern und den Verkehrsunternehmen „für eine Integration der Nahverkehrsbedienung, insbesondere für Verkehrskooperationen, für die Abstimmung oder den Verbund der Beförderungsentgelte und für die Abstimmung der Fahrpläne, zu sorgen“. Die „Integration der Nahverkehrsbedienung“ wird damit zu einem wesentlichen Baustein des neuen Verkehrswirtschaftsrechts.54 Auch im Landesrecht wird das Erfordernis der Integration herausgestellt.55 b) Integration der Dienstleistung und unternehmerische Integration Die Integration der Nahverkehrsbedienung betrifft zunächst die Integration der Dienstleistungen: Notwendig ist die Einrichtung grenzüberschreitender Linien, wo immer ein Bedarf dafür besteht. Weiter ist die Art der Dienstleistung zu koordinieren und abzustimmen. Für Beförderungsentgelte wird das in § 8 Abs. 3 S. 1 PBefG ausdrücklich festgehalten und etwa durch die bereits angesprochene Vorschrift des § 6 Abs. 3 ÖPNVG NRW konkretisiert.56 Doch handelt es sich dabei nur um (wichtige) Beispiele („insbesondere“). Die Integration der Nahverkehrsbedienung ist nicht auf die Ebene der Leistung beschränkt. Auch die Ebene der Organisation wird erfasst. § 8 Abs. 3 S. 1 PBefG verdeutlicht das durch den Hinweis auf die Notwendigkeit von Verkehrskooperationen zwischen den Verkehrsunternehmen. Dies zielt vor allem auf Verkehrsverbünde, beschränkt sich aber nicht darauf. Auch andere Formen der Kooperation sind zu fördern, bis hin zum Zusammenschluss von Unternehmen, selbst wenn es sich dann begrifflich um 54 Vgl. dazu BT-Drs. 12/6269 zu § 8 Abs. 3 PBefG (S. 142 ff.); Barth, Nahverkehr (Fn. 7), S. 178 f.; Fielitz/Grätz, Personenbeförderungsgesetz, Stand 2003, § 8 Rn. 5. 55 Etwa § 5 Abs. 3 S. 2 ÖPNVG NRW. 56 Dazu oben II. 2. c). Zur vergleichbaren Regelung des § 5 Abs. 3 S. 2 ÖPNVG NRW oben II. 2. b) aa).

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keine Kooperation mehr handelt. Auch insoweit ist die Aussage des § 8 Abs. 3 S. 1 PBefG nur beispielhaft, wie das einleitende „insbesondere“ belegt. Erfasst wird alles, was dem Ziel der integrierten Nahverkehrsbedienung dient. c) Besondere Bedeutung der Integration für den regionalen Bereich Die Aufgabe der Integration der Nahverkehrsbedienung hat offenkundig besondere Bedeutung im überörtlichen und damit im regionalen Bereich, auch wenn sie nicht darauf beschränkt ist. Im überörtlichen und regionalen Bereich besteht aufgrund der traditionellen Verankerung des (straßengebundenen) öffentlichen Personennahverkehrs und seiner Unternehmen bei den Gemeinden und Kreisen ein besonderer Bedarf für die Kooperation der Verkehrsunternehmen.57 Die Forderung des § 8 Abs. 3 S. 1 PBefG nach der Integration der Nahverkehrsbedienung steht somit in engem Zusammenhang mit der Regionalisierung. Dem entspricht es, dass § 5 Abs. 3 S. 2 ÖPNVG NRW, wie bereits ausgeführt, von den gerade im überörtlichen Bereich bedeutsamen Zweckverbänden verlangt, auf eine „integrierte Verkehrsgestaltung“ hinzuwirken.58 III. Stärkung der Leistungsfähigkeit der Verkehrsunternehmen 1. Verankerung des Ziels a) Allgemeines Ein weiteres wichtiges Element des neuen Verkehrswirtschaftsrechts bildet die Stärkung der Leistungsfähigkeit der Unternehmen des öffentlichen Personennahverkehrs. Bereits die Erwägungsgründe der Änderung der Verordnung (EWG) 1191/69 aus dem Jahre 1991 haben auf dieses Ziel entscheidend abgehoben.59 Wenn dort von der wirtschaftlichen Eigenständigkeit der Verkehrsunternehmen gesprochen wird, ist nichts anderes gemeint. Weiter wird in § 3 RegG die „Stärkung der Wirtschaftlichkeit der Verkehrsbedienung“ zum Ziel erhoben; das betrifft auch und gerade die Verkehrsunternehmen. In die gleiche Richtung geht es, wenn die 1993 eingefügte Vorschrift des § 8 Abs. 4 S. 1 PBefG den Vorrang der eigenwirtschaftlichen Verkehrsleistungen vor den gemeinwirtschaftlichen Verkehrsleistungen festlegt. Eigen57 58 59

Vgl. oben I. 1. Oben II. 2. b) aa). 2. Erwägungsgrund der VO 1893/91.

Die Regionalisierung des öffentlichen Personennahverkehrs

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wirtschaftlich sind Verkehrsleistungen gemäß § 8 Abs. 4 S. 2 PBefG, wenn ihr Aufwand „durch Beförderungserlöse, Erträge aus gesetzlichen Ausgleichs- und Erstattungsregelungen im Tarif- und Fahrplanbereich sowie sonstige Unternehmenserträge im handelsrechtlichen Sinne“ gedeckt wird.60 Wesentliches Kennzeichen eines eigenwirtschaftlichen Unternehmens ist somit, dass es die wirtschaftlichen Risiken trägt, während bei einem gemeinwirtschaftlichen Unternehmen die Risiken in der Regel beim Aufgabenträger liegen.61 Eine eigenwirtschaftliche Betätigung in diesem Sinne setzt voraus, dass das jeweilige Unternehmen über eine ausreichende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verfügt. Andernfalls ist es zu einer Übernahme der wirtschaftlichen Risiken nicht in der Lage. Der Vorrang der Eigenwirtschaftlichkeit gemäß § 8 Abs. 4 PBefG setzt somit die Stärkung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Unternehmen des öffentlichen Personennahverkehrs voraus. b) Mitwirkung bestehender Unternehmen und Gleichbehandlung von Unternehmen Der Stärkung und Sicherung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit von Unternehmen des öffentlichen Personennahverkehrs dient weiter die Pflicht des § 9 Abs. 2 ÖPNVG NRW, bei der Aufstellung eines Nahverkehrsplans die vorhandenen Unternehmen zu beteiligen.62 In den anderen Landesgesetzen finden sich entsprechende Regelungen. Damit wird den Unternehmen ermöglicht, ihre genehmigungsrechtlich geschützten Interessen zu vertreten.63 Die Pflicht wird im Übrigen bereits in § 8 Abs. 3 PBefG angesprochen, gründet somit letztlich im Bundesrecht.64 Zudem ist der Schutz bestehender Unternehmen in § 13 Abs. 3 PBefG im Hinblick auf die Vergaben von Genehmigungen verankert.65 Um die Stärkung der Leistungsfähigkeit der Verkehrsunternehmen geht es auch bei der Verpflichtung, alle Verkehrsunternehmen gleichzubehandeln. Sie folgt aus § 8 Abs. 3 S. 2 PBefG. Die Pflicht kommt unabhängig von 60 Zur Abgrenzung dieser Einnahmen BVerwG, DVBl. 2000, 1618 f.; Elste/Wiedemann, WiVerw 2004, 22 ff.; Karnop, DVBl. 2004, 161 ff. 61 Dementsprechend betont die Amtl.Begr. zur Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes aus dem Jahre 1993 die „unternehmerische Eigenverantwortung der beteiligten Verkehrsunternehmen“ in diesem Bereich; BT-Drs. 12/6269 zu § 8 Abs. 3 PBefG (S. 143). In Sonderfällen (sog. Netto-Verträge) tragen die Unternehmen allerdings auch hier die Risiken. 62 Dazu Barth, Nahverkehr (Fn. 7), S. 278 f. 63 Muthesius, in: Püttner (Hg.), Nahverkehr (Fn. 9), S. 109. 64 Vgl. Barth, Nahverkehr (Fn. 7), S. 285; Muthesius, in: Püttner (Hg.), Nahverkehr (Fn. 9), S. 109. 65 Näher dazu Barth, Nahverkehr (Fn. 7), S. 267 ff.

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Rechtsform und Trägerschaft zum Tragen. Insbesondere sind kommunale und private Verkehrsunternehmen gleichzubehandeln. 2. Leistungsfähige Unternehmensgröße Notwendige Voraussetzung für ein leistungsfähiges Verkehrsunternehmen ist, dass es eine ausreichende Größe aufweist. Wo das nicht der Fall ist, verlangt die Stärkung der Leistungsfähigkeit der Verkehrsunternehmen zumindest eine enge Kooperation.66 Noch besser wird das Ziel der Leistungsfähigkeit verwirklicht, wenn es zu einem Zusammenschluss von Unternehmen mit zu geringer Größe kommt. Alternativ ist daran zu denken, dass ein solches Unternehmen Verkehrsdienstleistungen über den bisher bedienten Bereich hinaus erbringt und auf diese Weise die notwendige Größe erlangt. Existentielle Bedeutung wird die Unternehmensgröße erlangen, falls durch künftige Regelungen des EG-Rechts ein allgemeiner Ausschreibungswettbewerb eingeführt wird. Erfolg im Ausschreibungsmarkt setzt eine ausreichende Unternehmensgröße voraus. Verliert etwa ein Unternehmen nach einer Ausschreibung ein Drittel der Leistungen, die es bisher erbracht hat, entstehen hohe Remanenzkosten, die das Unternehmen insgesamt belasten und bis zur Existenzgefährdung gehen können. Ist das Unternehmen jedoch deutlich größer, sodass es in der Ausschreibung etwa nur um ein Zehntel der Unternehmensleistung geht, ist das wirtschaftliche Risiko eher beherrschbar. Insgesamt zeigt das neue Verkehrswirtschaftsrecht eine bemerkenswerte Betonung der Regionalisierung und der Kooperation im öffentlichen Personennahverkehr. Das steht in bemerkenswertem Kontrast zur Begrenzung kommunaler Unternehmen auf den örtlichen Bereich durch das Kommunalwirtschaftsrecht.67

66 67

Vgl. Werner, WiVerw 2001, 91. Dazu Jarass, DVBl. 2006, 4 ff.

Neuordnung des Zivil- und Katastrophenschutzes Gibt es verfassungsrechtlichen Änderungsbedarf? Von Klaus Meyer-Teschendorf I. Fragen an das zweigeteilte nationale Notfallvorsorgesystem Das Notfallvorsorgesystem in Deutschland ist föderal ausdifferenziert. Der Bevölkerungsschutz liegt nicht in einer Hand, sondern ist aufgeteilt zwischen Bund und Ländern. Diese Aufteilung findet sinnfälligen Ausdruck in einer doppelten Begrifflichkeit: hier Zivilschutz, dort Katastrophenschutz. Zivilschutz ist (gesetzgeberische) Aufgabe und Verantwortung des Bundes (Artikel 73 Nr. 1 GG); Schutz der Zivilbevölkerung in militärischen Krisen und Lagen; Schutz vor (allein) kriegsbedingten Gefahren. Artikel 73 Nr. 1 GG erfasst den Zivilschutz als Teil bzw. Unterfall der Verteidigung, als Annex des militärischen Auftrags zur Landesverteidigung.1 Auf der anderen Seite der sog. „friedensmäßige“ Katastrophenschutz als Aufgabe und Verantwortung (allein) der Länder; ihnen obliegt die hierfür erforderliche personelle und vor allem auch materielle Ressourcenvorsorge, ihnen obliegt vor allem aber auch das operative Krisen- und Koordinationsmanagement, und zwar auch bei solchen Katastrophen und Unglücksfällen, die das Gebiet mehr als eines Landes gefährden. Das deutsche Hilfeleistungssystem funktioniert. Es kann auch mit Großschadenslagen umgehen. Im Prinzip jedenfalls. Das haben zuletzt die Sommerhochwasser an Donau und Elbe im August 2002 gezeigt. Eine Mehrzahl der Bundesländer war betroffen. Aber es gibt auch Defizite. Es handelt sich dabei vor allem um Defizite, die dem deutschen Hilfsleistungssystem als Folge der grundsätzlich veränderten außenpolitischen Sicherheitslage zu Beginn der 90er Jahre entstanden sind. Im Zuge der Ost-West-Entspannung hatten Politik und Öffentlichkeit geglaubt, den Bereich des Zivil- und Katastrophenschutzes strukturell, vor allem aber auch finanziell zurückführen zu können („Friedensdividende“). Dies betraf zunächst – im Blick auf die außenpolitische Entspannung auch verständlich – die Zivilschutzkapazitäten des Bundes; dies betraf dann aber auch – obwohl von der äußeren Sicher1 Vgl. nur Heintzen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 5. Aufl., Art. 73, Rdnrn. 12 ff.; Degenhart, in: Sachs, Grundgesetz, 2. Aufl., Art. 73, Rdnrn. 7 f.

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heitslage eigentlich unberührt – die Katastrophenschutzkapazitäten der Länder. Im Ergebnis jedenfalls hatte die veränderte internationale Sicherheitslage zu einer – aus heutiger Sicht wohl trügerischen – Selbst-Sicherheit geführt, dass unserem Land – wenn überhaupt – nur Gefahren aus Unglücksfällen und Naturkatastrophen drohen, die letztlich begrenzt, überschaubar und damit beherrschbar sind. Opfer- und Schadensszenarien wie die der Terroranschläge des 11. September 2001 lagen außerhalb der Vorstellungswelt fast aller politisch und administrativ Verantwortlichen. Aber nicht nur über die vorgenannten Defizite wird seit den Terroranschlägen des 11. September 2001 sehr offen geredet. Seither und verstärkt noch einmal nach der Flutkatastrophe im Sommer 2002 wird auch die ganz grundsätzliche Frage gestellt, inwieweit die strukturellen Rahmenbedingungen unseres zweigeteilten nationalen Katastrophenvorsorgesystems noch stimmen.2 Die jüngsten Veränderungen der Gefahrenlagen haben die alt hergebrachten Kategorien fragwürdig gemacht. Der „neue Feind“ des islamistischen Terrorismus fügt sich nicht nahtlos in die tradierte Zuständigkeitsverteilung („asymmetrische Bedrohung“). Auch länderübergreifende Großkatastrophen wie das Sommerhochwasser 2002 stellen die strenge scheinbar stimmige Zweiteilung in Frage. Ist es letztlich nicht von sekundärer Bedeutung, woher eine Bedrohung, eine Gefahrenlage stammt? Entscheidend kann bzw. muss doch nur sein, dass das Notfallvorsorgesystem auf einen Anschlag ebenso vorbereitet ist wie auf einen Unglücksfall oder eine Naturkatastrophe. Die vor den Erfahrungen des 11. September 2001 und der Sommerflut 2002 aufgeworfenen Fragen finden exemplarischen Ausdruck und Niederschlag in einem Beschluss der Ministerpräsidenten vom 27. März 2003. Die Regierungschefs der Länder stellen dort fest, dass von möglichen terroristischen Angriffen sowie durch überregionale Naturereignisse und Unglücksfälle Gefahren für die Bevölkerung ausgehen können, denen nur „mit gesamtstaatlichen Maßnahmen“ begegnet werden könne. Das bestehende Notfallvorsorgesystem mit seiner Zweiteilung in den Zivilschutz als Bevölkerungsschutz im Verteidigungsfall und die Gefahrenabwehr im Rahmen des Katastrophenschutzes bedürfe einer „Neuordnung“. Die Innenminister der Länder und des Bundes wurden – und sind aktuell – aufgerufen, hierzu Vorschläge vorzulegen.3 2 Beispiel aus dem politisch-parlamentarischen Raum: Wirksamen Zivil- und Katastrophenschutz schaffen, Antrag der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, BT-Drs. 15/1097 vom 3. Juni 2003. 3 Beschlussniederschrift über die Besprechung der Regierungschefs der Länder am 27. März 2003, TOP 2.

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II. Neue politische Rahmenkonzeption für den Zivilund Katastrophenschutz Ein erstes Umsteuern im Bereich des Zivil- und Katastrophenschutzes fand allerdings bereits unmittelbar nach bzw. als Folge des 11. September 2001 statt. Bund und Länder einigten sich auf eine neue Rahmenkonzeption für den Zivil- und Katastrophenschutz; sie wurde auf der Innenministerkonferenz Anfang Juni 2002 unter der Überschrift „Neue Strategie zum Schutz der Bevölkerung in Deutschland“ verabschiedet.4 Philosophie und gleichsam roter Faden der „Neuen Strategie“ ist der Gedanke einer „gemeinsamen“ Verantwortung von Bund und Ländern für die Bewältigung von Großschadenslagen. Gemeinsame Verantwortung nicht – oder jedenfalls zunächst nicht – in einem formal-verfassungsrechtlichen Sinne von neuen Zuständigkeiten (etwas einer neuen Gemeinschaftsaufgabe i. S. von Artikel 91a GG), sondern – als ganz pragmatischer Ansatz – im Sinne eines partnerschaftlichen Zusammenwirkens über föderale Grenzen hinweg. Kernelemente der „Neuen Strategie“ sind: die bessere Verzahnung, Abstimmung und Zusammenarbeit der föderalen Verantwortlichkeitsebenen; ein effizienteres Krisenmanagement von Bund und Ländern bei Großschadenslagen, insbesondere eine optimale Koordination des Ländergrenzen überschreitenden Einsatzes der Potenziale der Länder und des Bundes (hier insbesondere Bundeswehr und THW); insgesamt gemeinsame Bund-Länder-Anstrengungen bei der Bewältigung von großflächigen oder sonstigen national bedeutsamen Gefahrenlagen; eingebettet darin die Bitte der Länder um verstärkten Einsatz von Ressourcen des Bundes für Groß- und Sonderlagen einschließlich der Vorhaltung und Wahrnehmung von Informations- und Koordinationsfunktionen. Die Vereinbarung der Länder mit dem Bund auf der IMK im Juni 2002 stand noch ganz im Zeichen der neuen terroristischen Bedrohung. Die IMK im Dezember 2002 hat die Richtigkeit dieser Neukonzeption unter den Eindrücken des Sommerhochwassers 2002 generell für Großschadenslagen bestätigt.5 Zu Gute gekommen ist diesem Prozess des Umsteuerns und der Umstrukturierung, dass die Administrationen von Bund und Ländern gemeinsam mit den verantwortlichen Kommunen und den Hilfsorganisationen bereits vor den Terroranschlägen des 11. September 2001 begonnen hatten, unter den Bedingungen deutlich reduzierter Haushaltsmittel über strukturelle Verbesserungen und intelligentere Lösungen nachzudenken. Man musste also nicht bei Null beginnen. Insbesondere auch das Bundesministerium des Innern war trotz aller Rückführungen des Zivilschutzes in den 90er-Jahren 4

Beschlussniederschrift über Innenminister und -senatoren der 5 Beschlussniederschrift über Innenminister und -senatoren der

die 170. Sitzung der Ständigen Konferenz der Länder am 5./6. Juni 2002, TOP 23. die 171. Sitzung der Ständigen Konferenz der Länder am 5./6. Dezember 2002, TOP 36.

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keineswegs in Apathie erstarrt; Überlegungen zur Neuordnung des Zivilund Katastrophenschutzes wurden hier schon lange vor dem 11. September 2001 angestellt. Rasch eröffnete sich damit die Möglichkeit, unterbrochene Aktivitäten wieder aufzunehmen und dabei nicht unvorbereitet auch neue konzeptionelle Wege zu gehen.6 III. Neue Instrumente im Rahmen des Bund-Länder-Krisenmanagements So konnte schon im Herbst 2002 ein neues Instrument im Rahmen der Bund-Länder-Koordinierung bei großflächigen Gefahrenlagen genutzt werden: das Gemeinsame Melde- und Lagezentrum des Bundes und der Länder (GMLZ). Das GMLZ soll das länder- und organisationsübergreifende Informations- und Ressourcenmanagement bei großflächigen Schadenslagen oder sonstigen Lagen von nationaler Bedeutung sicherstellen. Hier war noch bei den Hochwassern an Elbe und Donau vieles eher zufällig gelaufen – mit entsprechendem Ärger und auch Resignation. Neben dem Management von Engpassressourcen findet im GMLZ vor allem auch eine zentrale Bündelung bzw. Koordinierung sowohl von Hilfsangeboten wie auch von Hilfsersuchen aus dem Ausland statt. Das GMLZ stützt sich im Wesentlichen auf das deutsche NotfallvorsorgeInformationssystem (deNIS), das auch schon lange vor den Anschlägen des 11. September 2001 konzipiert wurde. Kernaufgabe dieser Datenbank ist die übergreifende Vernetzung, Aufbereitung und Bereitstellung von Informationen für das Management von Großkatastrophen. deNIS gibt vor allem Informationen zum Schadensereignis selbst, zu Möglichkeiten der Gefahrenabwehr sowie zu möglichen Risikopotenzialen, etwa Standorten risikobehafteter Anlagen in der Nähe des Schadensgebietes. deNIS unterstützt vor allem aber auch die Ressourcen-Recherche des GMLZ. deNIS vernetzt die bisher bei Bund, Ländern, Kommunen und Organisationen verstreuten Daten über Hilfeleistungspotenziale, insbesondere die Potenziale an Spezial- und Mangelressourcen. Grundlage jeden Katastrophenschutzes ist die Möglichkeit, die Bevölkerung angemessen, vor allem aber schnell und flächendeckend vor bevorstehenden Gefahren zu warnen. Schon kurz nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 konnte der Bund ein neues, satellitengestütztes Warnsystem in Betrieb nehmen. Per Satellit können amtliche Warndurchsagen in Sekundenschnelle über die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und – dies wurde zwischenzeitlich auch umgesetzt – auch über private Rundfunkanstal6 Vgl. im Einzelnen Meyer-Teschendorf, Neue Strategie für die zivile Sicherheitsvorsorge, Notfallvorsorge 2/2003, S. 5 ff.

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ten verbreitet werden. Beim Sommerhochwasser 2002 hat sich gezeigt, dass der Rundfunk jedenfalls für eine gefahrensensibilisierte Bevölkerung das geeignete Warn- und Informationsmittel ist. Es wird eben nicht nur gewarnt, sondern auch informiert, etwa wie man sich angesichts einer bestimmten Gefahr verhalten soll. Das ist der entscheidende Vorteil der Rundfunkwarnung gegenüber der nur akustischen Sirenenwarnung. Das satellitengestützte Warnsystem soll auch den Ländern zur Verfügung stehen; sie wurden zwischenzeitlich mit Sendeeinrichtungen ausgestattet, die es ihnen erlauben, ihrerseits Warnmeldungen etwa vor regionalen Gefahren an die angeschlossenen Medien zu verschicken. Dazu ist – im Blick auf die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten – eine Ergänzung des seinerzeit nur auf den Zivilschutzfall bezogenen Staatsvertrags notwendig; sie wird derzeit vorbereitet. Die Sommerflut des Jahres 2002 hat vor allem eines nachdrücklich bestätigt: Professionelles Krisenmanagement will gelernt sein, muss vor allem immer wieder geübt werden. Folgerichtig wurde das Ausbildungs- und Übungsangebot der Akademie für Krisenmanagement, Notfallplanung und Zivilschutz (AKNZ) nach dem 11. September 2001 und dem Sommerhochwasser 2002 erheblich aufgestockt, vor allem auch an aktuelle Bedrohungslagen, etwa B- und C-Gefahren, angepasst. Insbesondere hat die AKNZ – wieder vor dem Horizont negativer Erfahrungen bei der Bewältigung des Sommerhochwassers 2002 – in den Jahren 2004 und 2005 länderübergreifende Krisenmanagementübungen konzeptionell angelegt und gesteuert; an der sog. LÜKEX 2005 waren 6 Bundesländer, zahlreiche Bundesministerien und -behörden, die Bundeswehr, die Polizei, internationale Partner und private Unternehmen beteiligt. Anspruchsvolles Ziel ist es, die Akademie zu einem Kompetenzzentrum für das gemeinsame Krisenmanagement von Bund und Ländern, zu einem Forum für den wissenschaftlichen Austausch sowie zu einer Begegnungsstätte und Ideen-Börse für Experten aus dem Inund Ausland auszubauen. Aus der zwischen Bund und Ländern verabredeten neuen Strategie ist zwischenzeitlich auch eine wichtige strukturelle Konsequenz gezogen worden. Die Dienstleistungen und Serviceangebote des Bundes im Bereich des Zivil- und Katastrophenschutzes, namentlich die Informations- und Koordinationsangebote des Bundes zur Unterstützung der Länder bei der Bewältigung von Großschadenslagen, sehen sich seit Mai 2004 im Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) gebündelt und zentral vorgehalten. Das BBK ist Antwort auf Forderungen aus den Erfahrungen des 11. September 2001 und des Sommerhochwassers 2002.7 7 Vgl. Begründung zum Entwurf eines Gesetzes über die Errichtung des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, BT-Drs. 15/2286 vom 22. Dezember 2003, S. 6.

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Mit der Errichtung dieser Behörde wird zugleich der zivile Bevölkerungsschutz auch organisatorisch als wichtige und gleichwertige Säule der nationalen Sicherheitsarchitektur hervorgehoben. In seiner Fülle von Angeboten ist das neue Amt strategischer Netzknoten und Dienstleistungszentrum des Bundes für die Behörden aller Verwaltungsebenen sowie die im Bevölkerungsschutz mitwirkenden Organisationen und Institutionen. Es ist keine Wiederauflage des früheren Bundesamtes für Zivilschutz. Anders als jenes ist es nicht auf den V-Fall und damit auf den Zivilschutz im engen, traditionellen Sinne fokussiert. Vielmehr soll es alle Bereiche der zivilen Sicherheitsvorsorge fachübergreifend berücksichtigen und zu einem wirksamen Schutzsystem für die Bevölkerung und ihre Lebensgrundlagen verknüpfen. Die Bezeichnung „Bevölkerungsschutz“ verdeutlicht diesen übergreifenden Ansatz; der frühere, mit dem Verteidigungsauftrag verbundene Begriff „Zivilschutz“ wurde ausdrücklich nicht aufgegriffen. Im zweiten Namensbestandteil „Katastrophenhilfe“ manifestiert sich das Angebot des Bundes zur Unterstützung des Krisenmanagements der Länder bei großflächigen Gefahrenlagen unterschiedlichster Ursachen.8 Hier nur als Anmerkung: Das eher konzeptionell und koordinierend ausgerichtete BBK ist wesentliches, aber nicht einziges Bundeselement im Rahmen der „Neuen Strategie“. Mit der Bundesanstalt Technisches Hilfswerk (THW) steht dem Bundesminister des Innern eine eigene Einsatzorganisation für die unmittelbare Katastrophenhilfe im In- und Ausland zur Verfügung; das THW ist der operative Beitrag des Bundes zum Bevölkerungsschutz. Durch die enge Verzahnung des THW in der örtlichen Gefahrenabwehr und partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit den Hilfsorganisationen einerseits und den länderübergreifenden Möglichkeiten einer Bundesbehörde andererseits nimmt das THW eine wichtige Position im Gesamtsystem des Zivil- und Katastrophenschutzes ein. Der Vollständigkeit halber: Der Bund leistet Katastrophenhilfe zugunsten der Länder nicht nur durch BBK und THW; hinzu kommen (subsidiäre) Unterstützungsressourcen der Bundeswehr und der Bundespolizei. IV. Neues Profil der Bundesleistungen im Bevölkerungsschutz Die Namensgebung des neuen Bundesamtes bringt sinnfällig zum Ausdruck: Der Bund hat seinen Schutzauftrag vom ausschließlichen Bezug zum Verteidigungsfall traditioneller Prägung gelöst. Er sieht sich – ganz in der Philosophie der „Neuen Strategie“ – in einer jedenfalls faktisch-politischen 8 So ausdrücklich PSt Körper anlässlich der 2. und 3. Beratung des Gesetzentwurfs für die Errichtung des BBK im Deutschen Bundestag am 4. März 2004, Plenarprotokoll 15/94, S. 8450.

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Mitverantwortung für die Bewältigung von Großschadenslagen, unabhängig davon, ob diese militärische oder sonstige Ursachen haben. Kurz: Der Sache nach hat sich der traditionelle Zivilschutzauftrag des Bundes längst zu einem umfassenderen Bevölkerungsschutzauftrag fortentwickelt, der den – denklogisch nicht auszuschließenden – (kriegsbedingten) Zivilschutzfall einschließt, der sich aber nicht auf dieses heute eher unwahrscheinliche Szenario beschränkt, sondern auch weitere Schadensszenarien von nationaler Bedeutung – große Naturkatastrophen, Unglücksfälle, aber auch Terroranschläge – umfasst. Zugleich hat sich das „Profil“ der Bundesleistungen verändert. Die Leistungspalette des Bundes im Bereich des Bevölkerungsschutzes orientiert sich nicht mehr nur oder vorrangig am V-Fall, sondern ist bzw. wird den neuen Gefahrenlagen angepasst. Manches, was rein auf den Zivilschutz ausgerichtet war, z. B. der Schutzraumbau, wird jetzt nur mehr rudimentär vorgehalten oder ganz eingestellt. Anderes wird auf die aktuellen Bedrohungslagen umgeschrieben – oder soll es doch jedenfalls. Prominentes Beispiel dafür ist die (insbesondere Fahrzeug-)Ausstattung, mit der der Bund – als Teil seines originären Zivilschutzauftrags – den Katastrophenschutz der Länder ergänzt (§ 12 ZSG). Das Ausstattungskonzept wird derzeit einer Neuorientierung unterzogen. Schlagwortartig geht es um folgendes: Rückzug des Bundes aus der bisherigen Ergänzung der flächendeckenden Grundversorgung, wie sie mit Blick auf den traditionellen Verteidigungsfall geboten war, dafür – angesichts aktuell in den Vordergrund gerückter neuer Bedrohungslagen – Konzentration des Bundes auf Spezialfähigkeiten mit den Schwerpunkten ABC-Schutz und Bewältigung eines Massenanfalls von Verletzten; weg vom Gießkannenprinzip, hin zu einer gefährdungsorientierten und damit schwerpunktmäßigen Vorsorge für „Sonderlagen“; die flächendeckende Grundversorgung ist und bleibt Sache allein der für Katastrophenschutz zuständigen Länder.9 Die Länder begrüßen die Neuorientierung der Leistungspalette des Bundes im Bereich des Bevölkerungsschutzes. Sie profitieren davon, dass der Bund nicht mehr nur den Zivilschutzfall in den Blick nimmt, sondern auch andere, neue Bedrohungslagen und damit das Krisenmanagement und die Katastrophenvorsorge der Länder entscheidend unterstützt und erleichtert (insbesondere auch finanziell entlastet). – Eine Ausnahme bildet das neue Ausstattungskonzept. Hier würden es die Länder gerne beim alten Zustand belassen – nicht weil ihnen der V-Fall als aktuelle Bedrohungslage er9 Beschlussniederschrift über die 66. Sitzung des Arbeitskreises V „Feuerwehrangelegenheiten, Rettungswesen, Katastrophenschutz und zivile Verteidigung“ der IMK am 28./29. März 2006, TOP 5, Bericht der AG „Neue Strategie zum Schutz der Bevölkerung“ (Stand März 2006), II. 2 (Neukonzeption des Bundes).

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scheint, sondern weil dieses Konzept ihre flächendeckende Grundversorgung (und damit die Landeshaushalte) stärker entlastet als das Neukonzept, das die Vorsorge des Bundes auf Spezialfähigkeiten begrenzt, die Sorge für die Grundausstattung indes den Ländern – als den dafür auch originär Verantwortlichen – belässt. V. Ergänzung der Zivilschutzkompetenz um eine Zusammenarbeitskompetenz Die Neuorientierung der Leistungspalette des Bundes stößt aber auch auf kritische Stimmen, etwa bei manchem Haushälter im Deutschen Bundestag: Was habe das noch mit Zivilschutz zu tun, wo sei dafür die Rechtsgrundlage. In der Tat: Die Zivilschutzkomponente deckt nur ein „Grundprofil“ der neuen Leistungspalette ab. Die neue Zusammenarbeit von Bund und Ländern – als ausdrückliche, bisher aber nur politische und nicht auch rechtliche Antwort auf Forderungen aus den Erfahrungen des 11. September 2001 und des Sommerhochwassers 2002 – findet im traditionellen Zivilschutzauftrag des Artikel 73 Nr. 1 GG und dem darauf beruhenden einfach-rechtlichen Regelungsbestand keine hinreichende Grundlage. Es ist ein neues Element jenseits von Zivilschutzfall und Zivilschutzgesetz. Anders ausgedrückt: Die „Neue Strategie“ steht derzeit noch ohne rechtliche Absicherung. In der Konsequenz bedeutet das: Das bisher allein am Verteidigungsfall orientierte Zivilschutzgesetz muss zu einem umfassenden Bevölkerungsschutzgesetz fortgeschrieben werden. Vorbild, jedenfalls in der thematischen Anlage, könnte das Bundesgesetz über den Bevölkerungsschutz und den Zivilschutz (BZG) der Schweiz vom 4. Oktober 2002 sein.10 Artikel 1 benennt als Regelungsgegenstände dieses Gesetzes einerseits den Zivilschutz, andererseits die Zusammenarbeit von Bund und Kantonen im Bevölkerungsschutz. Entsprechend könnte das deutsche Pendant gegliedert sein. – Kompetenzmäßig abgesichert als Regelungsgegenstand der Bundesgesetzgebung sähe sich jedoch, wie bisher schon, nur die Zivilschutzkomponente eines solchen übergreifenden Bevölkerungsschutzgesetzes. Die Zusammenarbeit von Bund und Ländern im Bevölkerungsschutz bedürfte eines zusätzlichen und eigenständigen Kompetenztitels. Eine denkbare und in sich plausible, weil an die schon vorhandene Regelungsstruktur des Grundgesetzes anlehnende Lösung wäre eine entsprechende Ergänzung des Artikel 73 Nr. 10 GG. Zu den dort schon institutionalisierten Fällen einer Zusammenarbeit von Bund und Ländern im Sicherheitsbereich11 sollte die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder „zum 10 Bundesgesetz über den Bevölkerungsschutz und Zivilschutz vom 4. Oktober 2002 (Stand: 12. Juli 2005).

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Schutz der Bevölkerung bei Katastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen“ oder einfach nur „zum Schutz der Bevölkerung (Zivil- und Katastrophenschutz)“ hinzutreten. In systematischer Ergänzung dazu sollte in Artikel 87 Abs. 1 Satz 2 die Einrichtung einer Zentralstelle auch für den Bereich des Bevölkerungsschutzes eröffnet werden; das auf Koordination und Kooperation angelegte Konzept der Sicherheitsarchitektur im föderalen Staat des Grundgesetzes fände damit auch für den Bereich des Bevölkerungsschutzes institutionellen Widerhall und Ausdruck.12 VI. Weitergehende Vorschläge: Bevölkerungsschutz aus einer Hand Auf Vorschlag des Bundes hatte die Innenministerkonferenz auf ihrer Frühjahrssitzung 2005 anlässlich der Vorlage eines Dritten Berichts zum Stand der Umsetzung der „Neuen Strategie“ beschlossen, den für Zivil- und Katastrophenschutz zuständigen Facharbeitskreis V zu bitten, „eine umfassende Analyse zu erstellen, in der die Umsetzung der Neuen Strategie gewürdigt und ggf. weiterer tatsächlicher und rechtlicher Veränderungsbedarf im Bereich des Schutzes der Bevölkerung aufgezeigt wird“.13 Anlässlich der Vorlage eines entsprechenden Berichts hat die IMK auf ihrer Frühjahrssitzung 2006 ganz grundsätzlich festgestellt: dass Bund und Länder in der Ausführung der „Neuen Strategie“ erhebliche Erfolge bei der Vorbereitung auf Großschadenslagen und deren Bekämpfung erzielt hätten; dass ein hohes Sicherheitsniveau gewährleistet sei; dass Deutschland insgesamt über ein gut ausgebautes System staatlicher, kommunaler und ehrenamtlicher Einrichtungen zur Schadensbekämpfung verfüge, die miteinander vernetzt seien. Politischen Entscheidungsbedarf sieht die IMK noch in drei Bereichen. Das betrifft einmal die – oben bereits anskizzierte – Frage, mit welchen Ausstattungskomponenten der Bund künftig den Katastrophenschutz der Länder ergänzen soll. Das betrifft zum zweiten die Frage einer – aus Sicht der Länder „verlässlichen“ – Einplanbarkeit der Bundeswehr in den Katastrophenschutz – Position des Bundes ist, dass effektive Katastrophenhilfe der Bundeswehr zugunsten der Länder bereits im geltenden Rechtsrahmen der Amtshilfe gewährleistet sei, dass also insoweit kein verfassungsrechtlicher Änderungsbedarf bestehe; nach Auffassung der Länder 11 Zum verfassungsrechtlichen Verständnis von Zusammenarbeit i. S. v. Art. 73 Nr. 10 vgl. etwa Heintzen, Art. 73 (Fn. 1), Rdnr. 89; Degenhart, Art. 73 (Fn. 1), Rdnr. 42. 12 Zur Funktion von Zentralstellen im Konzept der föderalen Sicherheitsverwaltung vgl. Burgi, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG III, 5. Aufl., Art. 87, Rdnr. 32; vgl. auch Gusy, Die Zentralstellenkompetenz des Bundes, DVBl. 1993, S. 1117 ff. 13 Beschlussniederschrift über die 178. Sitzung der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder am 23./24. Juni 2005, TOP 26.

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sichert die nur „subsidiäre“ Amtshilfe keine verlässliche Einplanbarkeit der Ressourcen der Bundeswehr in die Katastrophenvorsorge der Länder, gefordert wird ein entsprechender, dann originärer (Inlands-)Auftrag in der Verfassung.14 Entscheidungsbedarf sieht die IMK vor allem aber auch in der Frage, ob und inwieweit die jetzige Aufteilung zwischen Zivilschutz und Katastrophenschutz durch eine andere Abgrenzung der Aufgaben ersetzt werden solle.15 Hier scheint sich jetzt ein Grundverständnis zwischen Bund und Ländern herauszubilden, dass das jetzige System jedenfalls im Prinzip richtig austariert sei, dass die (verfassungs-)rechtliche Trennung zwischen Zivilund Katastrophenschutz zwar überbrückt werden müsse, dass dazu aber das Gesamtsystem nicht auf den Kopf gestellt zu werden brauche, dass moderate Ergänzungen ausreichen. Die Diskussion bewegt sich der Sache nach in die oben skizzierte Richtung: Ergänzung der Bundeszuständigkeit für den Zivilschutz durch eine Zusammenarbeitskompetenz einschließlich einer Zentralstellenfunktion für den Bevölkerungsschutz. Im Vorfeld hatte es allerdings durchaus weiterreichende verfassungspolitische Vorschläge gegeben. So war etwa unter dem plakativen Schlagwort „Bevölkerungsschutz aus einer Hand“ gefordert worden, die Zivilschutzzuständigkeit des Bundes in Artikel 73 Nr. 1 GG ersatzlos zu streichen und damit den Ländern die Gesamtverantwortung für den Zivilschutz und den Katastrophenschutz zu übertragen („klare Zuständigkeit der Länder sowohl für den Katastrophen- als auch für den Zivilschutz“).16 Die Vorstellungen darüber, welche Rolle der Bund dann noch in einem solchen Notfallvorsorgesystem ohne eigene operative Zuständigkeiten spielen sollte bzw. überhaupt könnte, waren eher diffus. Die Rede war von gewissen (nicht näher umschriebenen) Koordinierungsfunktionen und Ressourcenvorhaltungen – der Bund solle sich um „präventive Vorsorge für Gefahrenlagen von nationaler Bedeutung“ und die „internationale Katastrophenhilfe“ kümmern –; die Überlegungen gipfelten in dem Vorschlag, die für den Zivil-/erweiterten Katastrophenschutz und das THW vorgesehenen Bundesmittel an die Länder zu verteilen (Begründung: als „finanzielle Kompensation“ für die Übertragung der Zivilschutzkompetenz auf die Länder).17 14 In Richtung einer verfassungsrechtlichen Neujustierung der Katastrophenhilfe der Bundeswehr als „Wahrnehmung eigener Bundeskompetenzen“ jetzt Lorse, Der Beitrag der Streitkräfte zur Neuausrichtung des Katastrophenschutzes, ZRP 2005, S. 6 ff. 15 Beschlussniederschrift über die 180. Sitzung der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder am 4./5. Mai 2006, TOP 24. 16 Für einen „Zivil- und Katastrophenschutz aus Länderhand“ etwa der nordrheinwestfälische Innenminister Wolf, Presse-Information des Innenministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen vom 5. November 2005.

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Konsequenz dieser Auffassungen wäre eine deutliche Marginalisierung der Bundesrolle im nationalen Bevölkerungsschutz; von seinen heutigen Grundkompetenzen, wie sie sich maßgeblich in den Aufgaben- und Tätigkeitsfeldern von BBK und THW widerspiegeln, wäre so gut wie nichts übrig geblieben. Speziell zum THW hatte es schon im Vorfeld der Überlegungen für eine „Zusammenführung“ von Zivilschutz und Katastrophenschutz in Länderhand – und gleichsam als Einstimmung darauf, dass dem Bund jede operative Zuständigkeit im Bevölkerungsschutz genommen werden solle – die Forderung gegeben, das THW als Bundeseinrichtung zu zerschlagen und in Landesanstalten zu überführen; allenfalls Auslandseinsätze des THW sollten noch unter Regie des Bundes durchgeführt werden können.18 Der Koalitionsvertrag hat dazu jetzt eine politische Antwort in Form einer Bestandsgarantie zugunsten des THW als Bundeseinrichtung gegeben: als „unverzichtbares Element“ der Katastrophenhilfe im Inland und der humanitären Hilfe weltweit bleibe das THW in Bundeshand.19 Bevölkerungsschutz aus einer Hand ist natürlich auch in die andere Richtung hin denkbar: Bevölkerungsschutz allein in der Hand des Bundes. Soweit ersichtlich, wird eine solche Forderung in der aktuellen Diskussion um eine Neuordnung des Zivil- und Katastrophenschutzes nicht erhoben. In diese Richtung weist allerdings ein Vorschlag der Schutzkommission beim Bundesminister des Innern. In ihrem sog. „Dritten Gefahrenbericht“ rät sie „dringlich“, den Bevölkerungs- und Katastrophenschutz „grundgesetzlich in den Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung aufzunehmen“. Sie verspricht sich davon eine – aus ihrer Sicht „notwendige“ – Vereinheitlichung der landesrechtlichen Regelungen über den Katastrophenschutz und die Katastrophenvorsorge.20 VII. Sonderprobleme: Stärkung der Steuerungs- und Koordinierungskompetenz des Bundes bei Großkatastrophen Ausfluss der bisherigen strengen Trennung von „kriegsbedingtem“ Zivilschutz und „friedensmäßigem“ Katastrophenschutz ist die alleinige Verant17 Beschlussniederschrift über die 66. Sitzung des Arbeitskreises V (Fn. 9), TOP 5 – Bericht der AG „Neue Strategie zum Schutz der Bevölkerung“ (Stand März 2006), II. 2 (Optionen für die Zukunft des Bevölkerungsschutzes aus Ländersicht). 18 Die Übernahme des THW in Länderhoheit forderte etwa der niedersächsische Innenminister Schünemann; vgl. Pressemitteilung des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport Nr. 168 vom 25. Oktober 2004. 19 Gemeinsam für Deutschland – mit Mut und Menschlichkeit, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom 11. November 2005, VIII. 1.1 20 Schutzkommission beim Bundesminister des Innern, Dritter Gefahrenbericht, 2006, 4.2.

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wortlichkeit der Länder für das Krisenmanagement einschließlich der Zuständigkeit für Steuerungs- und Koordinierungsmaßnahmen bei der Bewältigung von Großkatastrophen und länderübergreifenden schweren Unglücksfällen. Nun sind allerdings – unterhalt der Schwelle des V-Falls – Gefahren- und Schadenslagen denkbar, die die Ressourcen und Fähigkeiten einzelner oder mehrerer Länder strukturell überfordern. Einschlägige Szenarien sind etwa biologische Gefahrenlagen (Beispiele: Influenza-Pandemie, SARS, Vogelgrippe, Freisetzung biologischer Agenzien mit terroristischem Hintergrund), länderübergreifendes Hochwasser, Gefährdung des Schutzes kritischer Infrastrukturen (etwa großflächiger Ausfall der Stromversorgung), die schwere Havarie in einer kerntechnischen Anlage oder der schwere Chemieunfall an exponierten Standorten. In solchen Situationen sollte der Bund – selbständig und eigenverantwortlich – koordinierende und unterstützende Maßnahmen zur Gefahrenabwehr ergreifen können. Selbstverständlich ist, dass das operative Krisenmanagement vor Ort weiterhin und nur bei den Ländern verbleibt; es kann allein – im Blick auf das föderative Ganze – um eine Stärkung der Koordinierungs- und Steuerungskompetenzen des Bundes gegenüber den Ländern (d.h. den Landesregierungen) gehen, nicht um Koordinierungs- und Steuerungskompetenzen im konkreten operativen Bereich. Auch sollte diese Koordinierungs- und Steuerungskompetenz nicht gegen den Willen der betroffenen Länder ausgeübt werden, sondern nur in deren Einvernehmen. Ein entsprechender Formulierungsvorschlag ist seinerzeit – als Änderung von Artikel 35 Abs. 3 GG – in die (gescheiterte) Föderalismusreform 2004 eingebracht worden. Er lautete: „Gefährdet die Katastrophe oder der Unglücksfall das Gebiet mehr als eines Landes, so kann die Bundesregierung, soweit es zur wirksamen Bekämpfung erforderlich ist, im Einvernehmen mit den betroffenen Ländern einzelne Maßnahmen koordinieren, den Landesregierungen die Weisung erteilen, Polizeikräfte oder Kräfte und Einrichtungen anderer Verwaltungen den betroffenen Ländern zur Verfügung zu stellen, sowie Einheiten der Bundespolizei und der Streitkräfte zur Unterstützung der betroffenen Länder einsetzen. Das gleiche gilt bei Katastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen, die ein betroffenes Land nicht bewältigen kann, auf Antrag dieses Landes. Maßnahmen nach Satz 1 sind jederzeit auf Verlangen des Bundesrates, im Übrigen unverzüglich nach Beseitigung der Gefahr aufzuheben.“21 Die verfassungspolitische Diskussion um eine Änderung bzw. Ergänzung des Artikel 35 Abs. 3 GG im Sinne einer Neufassung der Koordinierungs21 Vgl. auch Beschlussniederschrift über die 66. Sitzung des Arbeitskreises V (Fn. 9), TOP 5 – Bericht der AG „Neue Strategie zum Schutz der Bevölkerung“ (Stand März 2006), II. 1.1 (Haltung des Bundes).

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kompetenz des Bundes beim Katastrophenschutz hat neuen Auftrieb erhalten durch die Koalitionsvereinbarung, die ausdrücklich eine Stärkung der Steuerungs- und Koordinierungskompetenz des Bundes zur Bewältigung von insbesondere länderübergreifenden Großschadenslagen vorsieht.22

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Koalitionsvertrag (Fn. 19), VIII 1.1

Verfassungsrechtliche Grenzen für die Erhebung von Gebühren für Sicherheitsmaßnahmen Von Christoph Moench* Nach herkömmlichem Staats- und Verfassungsverständnis muss der Staat seine Aufgaben, vor allem originäre Staatsaufgaben wie die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, primär über Steuern finanzieren. Dieser Grundsatz ist Teil der Finanzverfassung des Grundgesetzes. Er ist auch – wie der Jubilar in einem grundlegenden Beitrag1 zu diesem Thema dargelegt hat – Folge des Gebotes der Lastengleichheit (Art. 3 GG). Aufgaben, die der Staat im Interesse aller Bürger und des Gemeinwesens erfüllt, müssen auch von allen Bürgern entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit über Steuern finanziert werden. Dabei kommt es nicht darauf an, wem die Sicherheitsmaßnahme im konkreten Fall – besonders – nützt. In den letzten Jahren weichen Bund und Länder zunehmend von diesem tradierten Steuerfinanzierungsmodell ab und gehen dazu über, die Kosten bestimmter Sicherheitsmaßnahmen auf deren vordergründige „Nutznießer“ abzuwälzen.2 Diese Tendenz setzte zu Beginn der 80er Jahre ein, als die Landesgesetzgeber nach und nach Gebührenregelungen für polizeiliche Serviceleistungen (z. B. Begleitung von Schwertransporten) erließen. Sie setzte sich fort mit der Anfang der 90er Jahre eingeführten Luftsicherheitsgebühr; jüngste Beispiele sind die in einigen Bundesländern erhobenen Hafensicherheitsgebühren und die Ausgleichsabgabe nach § 3 Abs. 2 BPolG für die Sicherung der Bahnanlagen.3 * Der Verfasser ist Partner der Sozietät Gleiss Lutz und seit 1996 Honorarprofessor an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt/M. 1 Scholz, Staatliche Sicherheitsverantwortung zu Lasten Privater?, in: Wendt, Rudolf u. a. (Hrsg.), Staat – Wirtschaft – Steuern, Festschrift für Karl Heinz Friauf zum 65. Geburtstag, Heidelberg 1996, S. 439–454. 2 Das betrifft nicht nur die Sicherheit. Im Wirtschaftsverwaltungsrecht ist allgemein ein Trend zur Nutzerfinanzierung öffentlicher Einrichtungen festzustellen, vgl. Gramm, Vom Steuerstaat zum gebührenfinanzierten Dienstleistungsstaat?, in: Der Staat 36 (1997), 267 ff.; Stober, Allgemeines Wirtschaftsverwaltungsrecht, 15. Aufl. 2006, S. 293 f. 3 Zu dieser Entwicklung im Überblick Scholz, Staatliche Sicherheitsverantwortung (Fn. 1), S. 439 ff., Würtenberger, Erstattung von Polizeikosten, NVwZ 1983, 192, 196 ff.; Schenke, Erstattung der Kosten von Polizeieinsätzen, NJW 1983,

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Ursache für diese Entwicklung ist in erster Linie die Finanzknappheit der öffentlichen Haushalte, wohl gepaart mit dem wachsenden Verständnis staatlicher Aufgaben als Dienstleistung. Hinzu kommt, dass nach den Anschlägen vom 11. September 2001 der Aufwand für (vorbeugende) Sicherheitsmaßnahmen erheblich gestiegen ist. Der Staat ist nicht mehr willens, die aufwendigen Maßnahmen zur Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung und zur Bewältigung der Terrorismusgefahren allein über Steuern zu finanzieren. Im Anschluss an den zitierten Aufsatz des Jubilars will ich in dem folgenden Beitrag untersuchen, ob und unter welchen Voraussetzungen der Staat die Kosten für Sicherheitsmaßnahmen auf Private abwälzen darf. Zu diesem Zweck werde ich in einem ersten Abschnitt die allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsätze für die außersteuerliche Heranziehung Privater zur Finanzierung von Sicherheitsmaßnahmen skizzieren und gehe in diesem Zusammenhang auf die Rechtsprechung zur Luftsicherheitsgebühr ein (I.). Dabei beschränke ich mich auf die Abwälzung von Kosten auf die beschützten Bürger und Unternehmen, also auf Nichtstörer. Störer, die die Sicherheitsmaßnahme verursacht haben, können selbstredend nach Maßgabe der polizeirechtlichen Vorschriften zum Ersatz der Polizeikosten herangezogen werden; das gilt auch für die Figur des Zweckveranlassers.4 In einem zweiten Abschnitt werde ich die Verfassungsmäßigkeit der Ausgleichsabgabe nach § 3 Abs. 2 BPolG (Abgabe zur Deckung der Kosten 1882 ff.; Gusy, Polizeikostenüberwälzung auf Dritte, DVBl. 1996, 722 ff.; vgl. auch die vom Jubilar betreute Dissertation von Nirschl, Kosten der Polizei- und Sicherheitsbehörden in der Systematik des deutschen Abgabenrechts unter besonderer Berücksichtigung der „Fluggastsicherheitsgebühr“, München 1994. 4 Zweckveranlasser ist derjenige, der eine Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung durch Dritte veranlasst. Sein Verhalten ist zwar nicht unmittelbar Ursache der Störung, bei einer wertenden Betrachtung muss er sich aber das Verhalten der Dritten zurechnen lassen. Über die klassischen Beispiele (Schaufensterwerbung) hinaus wird diskutiert, ob über dieses Institut Organisatoren von Großveranstaltungen (Love-Parade, Sportveranstaltungen, Popkonzerte etc.) zum Ersatz von Kosten für den Polizeieinsatz herangezogen werden können. Dies wird überwiegend mit der Begründung verneint, dass die Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung nicht vom Veranstalter, sondern von den Randalierern ausgehe (Scholz, Staatliche Sicherheitsverantwortung (Fn. 1), S. 439, 443, 449; Würtenberger/Heckmann, Polizeirecht in Baden-Württemberg, 6. Auflage 2005, S. 210; Schenke, Erstattung der Kosten (Fn. 3), S. 1882, 1883; Pietzcker, Polizeirechtliche Störerbestimmung nach Pflichtwidrigkeit und Risikosphäre, DVBl 1984, 457, 461; a. A. Götz, Kostenrecht der Polizei- und Ordnungsverwaltung, DVBl 1984, 14, 17.) Obergerichtliche Rechtsprechung gibt es hierzu – soweit erkennbar – nicht. Die häufig in diesem Zusammenhang zitierte Entscheidung des VGH Mannheim (DVBl 1981, 778) betraf die inzwischen aufgehobene Norm des § 81 Abs. 2 PolG a. F., die die Heranziehung privater Veranstalter ausdrücklich geregelt hatte (ähnlich wie die hessische Regelung des § 84 Abs. 2 SOG, die gleichfalls aufgehoben wurde).

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der Bundespolizei für die Sicherung von Bahnanlagen und des Bahnbetriebs) und der neuen landesrechtlichen Regelungen zur Finanzierung von Maßnahmen zur Sicherung der Häfen untersuchen (II.). Es folgt ein kurzes Resümee (III.). I. Verfassungsrechtliche Grenzen für die Heranziehung Privater zur Finanzierung von Sicherheitsaufgaben 1. Prinzip vom Steuerstaat Das Grundgesetz regelt nicht ausdrücklich, wie der Staat die Kosten für die Erfüllung von Staatsaufgaben zu finanzieren hat. Nach allgemeiner Auffassung liegt dem Grundgesetz aber das Prinzip vom Steuerstaat zugrunde.5 Demgemäß hat der Staat seine Aufgaben grundsätzlich über Steuern zu finanzieren. Dieser Grundsatz hat sich im 19. Jahrhundert im Zuge der Entwicklung eines neuen Staatsverständnisses herausgebildet und ist heute Wesensmerkmal eines modernen Staates. Das Prinzip vom Steuerstaat lässt sich normativ in der Finanzverfassung des Grundgesetzes festmachen. Der Verfassungsgeber, der in den Art. 104a ff. GG nur die Verteilung der Zuständigkeiten von Bund und Ländern in der Steuergesetzgebung und die Verteilung der Steuermittel geregelt hat, ging offensichtlich davon aus, dass Steuern das primäre Finanzierungsinstrument des Staates sind; das Grundgesetz enthält keine Regelung zu anderen Abgabenarten oder zur Generierung parafiskalischer Finanzmittel. Das Prinzip vom Steuerstaat gilt aber nicht absolut. Nach der Rechtsprechung des BVerfG6 und der herrschenden Lehre7 lässt die Verfassung unter 5 BVerfGE 93, 319, 342; BVerfGE 78, 249, 266 f.; BVerfGE 82, 159, 178 zur Zulässigkeit von Sonderabgaben; so auch BVerwGE 95, 188, 193; Isensee, Steuerstaat als Staatsform, in: Stödter, Rolf und Thieme, Werner (Hrsg.), Hamburg – Deutschland – Europa, Beiträge zum deutschen und europäischen Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsrecht, Festschrift für Hans Peter Ipsen zum siebzigsten Geburtstag, Tübingen 1977, S. 409, 420 ff.; Vogel, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: Isensee, Josef und Kirchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV: Finanzverfassung – Bundesstaatliche Ordnung, 2. Aufl. Heidelberg 1999, § 87, S. 25, 32; Gramm, Vom Steuerstaat zum gebührenfinanzierten Dienstleistungsstaat? (Fn. 2), S. 267, 273 f.; Selmer/Brodersen, Die Verfolgung ökonomischer, ökologischer und anderer öffentlicher Zwecke durch Instrumente des Abgabenrechts, DVBl 2000, 1153 (1164 f.). 6 BVerfGE 113, 128, 146 f.; BVerfGE 93, 319, 342; ebenso BVerwGE 95, 188, 193 f. 7 Isensee, Steuerstaat (Fn. 5), S. 409, 428 ff.; Vogel, Grundzüge, in: Handbuch des Staatsrechts IV (Fn. 5), S. 32; Kirchhof, in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, Besonderes Verwaltungsrecht, Band II: Kommunal-, Haushalts-, Abgaben-, Ordnungs-, Sozial- und Dienstrecht, 2. Aufl. Heidelberg 2000, S. 258 ff.; Gramm, Vom

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bestimmten, aus der Verfassung entwickelten Voraussetzungen Durchbrechungen zu. Die Finanzierung von Staatsaufgaben über Gebühren und Beiträge (sog. Vorzugslasten) und Sonderabgaben ist nicht generell unzulässig, bedarf aber im Einzelfall einer besonderen Rechtfertigung.8 Mit der Verfassung nicht vereinbar wäre freilich eine umfassende Finanzierung wesentlicher Staatsaufgaben durch andere Abgaben als Steuern.9 Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das BVerfG verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstäbe für die verschiedenen Abgabenarten entwickelt.10 Da sie unterschiedliche Anforderungen stellen, hängt die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit einer Abgabe zunächst von ihrer rechtlichen Einordnung ab. Zur Finanzierung von Sicherheitsmaßnahmen kommen letztlich nur Gebühren oder gebührenähnliche Abgaben in Betracht. Gebühren sind „öffentlichrechtliche Geldleistungen, die aus Anlass individuell zurechenbarer, öffentlicher Leistungen dem Gebührenschuldner durch eine öffentlich-rechtliche Norm oder sonstige hoheitliche Maßnahme auferlegt werden und dazu bestimmt sind, in Anknüpfung an diese Leistung deren Kosten ganz oder teilweise zu decken“.11 Kennzeichnend für eine Gebühr ist also der Entgeltcharakter für eine individuelle und zurechenbare Leistung. Diese Konstellation liegt hier vor: Mit den Gebühren für Sicherheitsleistungen sollen die Kosten ihrer Erbringung gedeckt werden.

Steuerstaat zum gebührenfinanzierten Dienstleistungsstaat? (Fn. 2), S. 267, 274; enger Nirschl, Kosten der Polizei- und Sicherheitsbehörden (Fn. 3), S. 45 ff. 8 BVerfGE 113, 128, 147; BVerfGE 55, 274, 303 f.; Kirchhof, in: Achterberg/ Püttner/Würtenberger, Besonderes Verwaltungsrecht, Band II (Fn. 7), S. 268, 362. 9 Isensee, Steuerstaat (Fn. 5), S. 409, 429 f., 436; Gramm, Vom Steuerstaat zum gebührenfinanzierten Dienstleistungsstaat? (Fn. 2), S. 267, 274 f. 10 Dazu im Überblick Isensee, Nichtsteuerliche Abgaben – ein weißer Fleck in der Finanzverfassung, in: Hansmeyer, Karl-Heinrich (Hrsg.), Staatsfinanzierung und Wandel, Berlin 1983, S. 435 ff.; Kirchhof, Staatlichen Einnahmen, in: Isensee, Josef und Kirchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV: Finanzverfassung – Bundesstaatliche Ordnung, 2. Aufl. Heidelberg 1999, § 88, Rn. 181 ff.; Jachmann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3: Art. 83–146, 5. Aufl. München 2005, Art. 105, Rn. 9 ff. 11 BVerfGE 113, 128, 148; BVerfGE 50, 217, 226; BVerfG, DVBl. 1998, 1220, 1221; BVerwGE 95, 188, 200; Wilke, Gebührenrecht und Grundgesetz – Ein Beitrag zum allgemeinen Abgabenrecht, München 1973, S. 82 ff.; enger Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, 11. Aufl. München 1999, S. 621 f., wonach Gebühren nur für Leistungen der Verwaltung erhoben werden dürfen, die der Betroffene veranlasst hat oder die in seinem Interesse erfolgen; ähnlich Vogel, Grundzüge, in: Handbuch des Staatsrechts IV (Fn. 5), S. 32 f.

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2. Verfassungsrechtliche Grenzen für die Erhebung von Gebühren a) Zulässigkeit von Gebühren Einen verfassungsrechtlichen Gebührenbegriff gibt es nicht. Das Grundgesetz enthält explizit keine konkreten Vorgaben für die Einführung von Gebühren. Nach der Rechtsprechung unterliegen Gebühren keinen grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn und soweit sie ihrerseits durch den Grundsatz der speziellen Entgeltlichkeit gerechtfertigt sind.12 Dieser Grundsatz, der sich aus dem Gebot der materiellen Gerechtigkeit (Art. 20 GG) herleiten lässt, besagt, dass ein Bürger, der eine öffentliche Leistung veranlasst oder durch sie einen besonderen Vorteil erlangt, zum Ersatz der Kosten herangezogen werden kann (Ausgleichsfunktion).13 Das BVerfG und das BVerwG gestehen dem Gesetzgeber bei der Einführung von Gebührentatbeständen einen weiten Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum zu.14 Es sei Sache des Gesetzgebers festzulegen, welche individuell zurechenbaren öffentlichen Leistungen er einer Gebührenpflicht unterwerfen und welche über die Kostendeckung hinausreichenden Zwecke, etwa einer begrenzten Verhaltenssteuerung in bestimmten Tätigkeitsbereichen, er mit einer Gebührenregelung anstreben wolle. Gebühren sind nach der Rechtsprechung also grundsätzlich unter der Voraussetzung zulässig, dass sie für eine individuell zurechenbare Leistung erhoben werden.15 Eine Leistung ist individuell zurechenbar, wenn der Gebührenschuldner sie veranlasst hat (Veranlasserprinzip) oder er aufgrund der Leistung einen individuellen Vorteil (Vorteilsprinzip) erlangt. Diese beiden Kriterien müssen nicht kumulativ vorliegen; vielmehr reicht es, wenn einer der beiden genannten Zurechnungsgründe gegeben ist.16 Veranlasser ist, wer die Leistung beantragt oder in sonstiger Weise auf sie hingewirkt hat.17 Bei der Anwendung des Vorteilsprinzips legt die Rechtsprechung einen großzügigen 12 BVerfGE 91, 207, 223; BVerfGE 93, 319, 343 f.; VGH Mannheim, DVBl. 1989, 1003, 1005. 13 Vgl. dazu allgemein Kirchhof, Staatlichen Einnahmen, in: Isensee, Josef und Kirchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV (Fn. 10), § 88, Rn. 181 ff., 188 ff.; Selmer/Brodersen, Verfolgung (Fn. 5), S. 1162 f. 14 BVerfGE 50, 217, 226 f.; BVerfGE 91, 207, 223; ebenso BVerfG, DVBl. 1998, 1220, 1221 und BVerwGE 95, 188, 200 ff. zur Luftsicherheitsgebühr. 15 BVerfGE 113, 128, 148; BVerfGE 50, 217, 226; BVerwG, DÖV 1992, 265, 266; zustimmend Götz, DVBl. 1984, 14, 19; Würtenberger/Heckmann, Polizeirecht in Baden-Württemberg (Fn. 4), S. 433. 16 Götz, Kostenrecht (Fn. 4), S. 14, 19; Wilke, Gebührenrecht und Grundgesetz (Fn. 11), S. 68 ff., 85 f.; Nirschl, Kosten der Polizei- und Sicherheitsbehörden (Fn. 3), S. 26 f.

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Maßstab an: Es reicht jeder materielle oder immaterielle Vorteil, auch ein Sicherheitsvorteil.18 Individuell zurechenbar ist der Vorteil, wenn er einer bestimmten Person oder einer bestimmten, klar abgrenzbaren Gruppe zugute kommt.19 Die Bestimmtheit der Begünstigten ist wichtig, da andernfalls das Prinzip der Gegenleistung seine Konturen verliert und damit die Gebühr ihr wesentliches, sie rechtfertigendes Merkmal. Unter Anwendung dieser Grundsätze haben BVerfG und BVerwG auch die Verfassungsmäßigkeit der Luftsicherheitsgebühr bejaht.20 Es handele sich nicht um eine den Grundsatz der Lastengleichheit verletzende Sonderabgabe, sondern um eine verfassungsrechtlich zulässige Gebühr als Entgelt für die Inanspruchnahme der öffentlichen Verwaltung. Denn die Flugsicherheitsgebühr knüpfe an eine individuell zurechenbare Leistung an. Die Sicherheitskontrollen seien eine „mittelbare Vorbereitungshandlung“ für einen Flug und hätten daher einen spezifischen Bezug zur Tätigkeit der Flugunternehmen. Die Kosten für die Kontrollen seien den Luftfahrtunternehmen nach dem Vorteilsprinzip zurechenbar. Jedes Luftfahrtunternehmen erlangt nach Auffassung des BVerfG einen Sicherheitsvorteil, weil „es einerseits seinen Passagieren objektiv einen Sicherheitsgewinn gewähren und subjektiv ein Sicherheitsgefühl vermitteln kann und weil es andererseits selbst eine geringeres Risiko trägt, daß sein Personal verletzt und sein Flugzeug beschädigt oder zerstört wird“.21 Diese Rechtsprechung ist – wie ich meine zu Recht – auf Kritik gestoßen, weil sie der Einführung von Gebührentatbeständen Tür und Tor öffnet.22 Mit dem Verzicht auf konkrete und spezifizierte Vorgaben für die individuelle Zurechenbarkeit einer öffentlichen Leistung überlässt es die Rechtsprechung dem Gesetzgeber, die Zurechnungsgründe im Einzelfall beliebig festzulegen. Von der Gewährleistung der Sicherheit durch bestimmte 17

BVerfGE 18, 302, 304 (Erhebung von strafprozessualen Gebühren); VGH Mannheim, DVBl. 1989, 1003, 1005 f.; Wilke, Gebührenrecht und Grundgesetz (Fn. 11), S. 83 f.; Götz, Kostenrecht (Fn. 4), S. 14, 19. 18 BVerfG, DVBl. 1998, 1220, 1221; BVerfGE 93, 319, 345 f.; BVerwGE 95, 188, 200; BVerwG, DÖV 1992, 265, 266; OVG Bremen, DVBl. 1982, 462, 464; zu Einzelheiten Wilke, Gebührenrecht und Grundgesetz (Fn. 11), S. 66 f., 84 f. 19 Vgl. Ronellenfitsch, Die Luftsicherheitsgebühr, VerwArch 1995, 307, 322, der zur Rechtfertigung der Luftsicherheitsgebühr den Gedanken der Schicksalsgemeinschaft heranzieht. Dieser Begriff ist infolge seiner Konturenlosigkeit abzulehnen. 20 BVerfG, DVBl. 1998, 1220, 1221; BVerwGE 95, 188, 201 f. 21 BVerfG, DVBl 1998, 1220, 1221. 22 Gramm, Vom Steuerstaat zum gebührenfinanzierten Dienstleistungsstaat? (Fn. 2), S. 267, 275 („offene Flanke der Steuerstaates“); ders., in: Sacksofsky, Ute und Wieland, Joachim (Hrsg.), Vom Steuerstaat zum Gebührenstaat, Baden-Baden 2000, S. 179, 181 f.; Nirschl, Kosten der Polizei- und Sicherheitsbehörden (Fn. 3), S. 27 ff.

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Maßnahmen profitiert neben der Allgemeinheit immer auch ein Kreis von Personen, der sich aufgrund der Nähe zur potentiellen Gefahr subjektiv und/oder objektiv sicherer fühlt. Damit ließe sich für (nahezu) jede Maßnahme eine Gebührenpflicht rechtfertigen. Auf diese Weise sind, wie es Wilke treffend formuliert hat, „diejenigen Leistungen individuell zurechenbar, die der Gesetzgeber individuell zurechnet.“23 Der Gesetzgeber erhält dadurch faktisch eine Blankettermächtigung, für staatliche Sicherheitsleistungen Gebühren zu erheben. Bei entsprechender Begründung enthalten zahlreiche staatliche Handlungen Vorteile für bestimmte Gruppen,24 ohne dass eine konkrete Leistungsbeziehung vorliegt. Die reflexartige Begünstigung des Einzelnen durch die Erfüllung einer originär staatlichen Aufgabe speziell im Bereich der konkreten Gefahrenabwehr oder der Gewährleistung der Sicherheit reicht nicht. Sonst wird die staatlich verbürgte Sicherheit zu einer oktroyierten entgeltpflichtigen Dienstleistung. Strengere Maßstäbe legt die Rechtsprechung bei der Festsetzung der Gebührenhöhe an. Hier muss der Gesetzgeber die verfassungsrechtlichen Vorgaben beachten, die sich aus dem Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG), anderen Grundrechten und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeben.25 Insbesondere darf die Höhe der Gebühr nicht außer Verhältnis zum Wert der staatlichen Leistung und der Leistungsfähigkeit des Gebührenschuldners stehen (Kostendeckungs- und Äquivalenzprinzip). Auf Einzelheiten will ich hier nicht eingehen, da dies den Umfang des Beitrages sprengen würde. Stattdessen will ich mich auf die generelle Frage konzentrieren, ob die Erhebung von Gebühren für Sicherheitsmaßnahmen überhaupt zulässig ist. b) Generelles Gebührenverbot für Sicherheitsmaßnahmen? Rupert Scholz und weitere wichtige Stimmen in der Literatur vertreten mit guten Argumenten die Auffassung, dass das Grundgesetz die Erhebung von Gebühren oder sonstigen Abgaben für Sicherheitsmaßnahmen generell, also unabhängig von der individuellen Zurechenbarkeit verbietet.26 Zur Begründung verweisen sie auf den allgemeinen Gleichheitssatz (aa)), das 23

Wilke, Gebührenrecht und Grundgesetz (Fn. 11), S. 88. Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I (Fn. 11), S. 622; Zugmaier, Anm. zum Beschluss des BVerfG vom 11.08.1998, DVBl. 1998, 1221, 1222; Gramm, in: Vom Steuerstaat zum Gebührenstaat (Fn. 22), S. 179, 181 mit dem Beispiel, dass nach diesen Maßstäben auch Polizeistreifen in einbruchsgefährdeten Wohnvierteln oder Ladenpassagen einen Vorteil für die Anwohner/Ladenbesitzer begründeten; ähnlich Nirschl, Kosten der Polizei- und Sicherheitsbehörden (Fn. 3), S. 41 ff. 25 BVerfGE 50, 217, 227; Würtenberger, Erstattung (Fn. 3), S. 192, 197; Gusy, Polizeikostenüberwälzung (Fn. 3), S. 722, 725 f.; Nirschl, Kosten der Polizei- und Sicherheitsbehörden (Fn. 3), S. 86 ff. 24

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Rechtsstaatsprinzip (bb)) und den Grundsatz der Gebührenfreiheit von Amtshandlungen im überwiegenden öffentlichen Interesse (cc)). aa) Verstoß gegen den Gleichheitssatz? Nach Ansicht des Jubilars und anderer verstößt die Erhebung von Gebühren für Sicherheitsmaßnahmen insbesondere gegen den in Art. 3 Abs. 1 GG verankerten Grundsatz der Lastengleichheit.27 Da der Staat Sicherheit und Ordnung im Interesse aller Bürger gewährleiste und allen Bürgern in gleichem Maße Schutz schulde, obliege die Finanzierung dieser Aufgabe allen Bürgern als Gemeinlast. Die außersteuerliche Heranziehung einzelner Bürger oder Gruppen zur Finanzierung einer originären Staatsaufgabe, die im Interesse aller Bürger und des Gemeinwesens wahrgenommen werde, sei nicht mit dem allgemeinen Gleichheitssatz zu vereinbaren. Im Übrigen dürfe der Staat die Erfüllung seines Schutzauftrages auch nicht von der Erhebung einer Gegenleistung abhängig machen.28 Demgegenüber hält die Rechtsprechung die Erhebung von Gebühren für Sicherheitsmaßnahmen mit Art. 3 Abs. 1 GG für vereinbar, wenn der Gesetzgeber tragfähige Gründe für die Belastung der einen Gruppe und die Nichtbelastung der übrigen Bürger habe.29 In den zitierten Entscheidungen zur Luftsicherheitsgebühr haben BVerfG und BVerwG ausgeführt, der Gleichheitssatz verbiete es nicht, eine bestimmte Person oder Gruppe von Personen, deren Verhalten die Kostenlast der öffentlichen Hand auslöse, zur Finanzierung heranzuziehen. Eine solche Differenzierung sei auch angemessen, weil der Gesetzgeber damit die Gesamtheit der übrigen Bürger, die keinen Bezug zu dem geregelten Sachverhalt hätten, vor zusätzlichen Steuern verschone.30 Der Spielraum des Gesetzgebers werde schließlich auch nicht 26 Scholz, Sicherheitsverantwortung (Fn. 1), S. 439, 444 f.; Gramm, Vom Steuerstaat zum gebührenfinanzierten Dienstleistungsstaat? (Fn. 2), S. 267, 278 f.; ders., in: Vom Steuerstaat zum Gebührenstaat (Fn. 22), S. 179 ff.; Isensee, Nichtsteuerliche Abgaben (Fn. 10), S. 435, 450; Albrecht, Probleme der Kostenerhebung für polizeiliche Maßnahmen, in: Schreiber, Manfred (Hrsg.), Polizeilicher Eingriff und Grundrechte, Festschrift zum 70. Geburtstag von Rudolf Samper, Stuttgart u. a. 1982, S. 165, 173 f.; Nirschl, Kosten der Polizei- und Sicherheitsbehörden (Fn. 3), S. 45 ff.; ebenso Ronellenfitsch, Der Beitrag der Eisenbahnunternehmen zur Terrorismusabwehr, DVBl. 2005, 65, 68 ff. 27 Scholz, Staatliche Sicherheitsverantwortung (Fn. 1), S. 439, 445, 448 f.; ähnlich Nirschl, Kosten der Polizei- und Sicherheitsbehörden (Fn. 3), S. 45 ff., 191 f. 28 Nirschl, Kosten der Polizei- und Sicherheitsbehörden (Fn. 3), S. 49. 29 BVerfG, DVBl. 1998, 1220, 1221; BVerwGE 95, 188, 202 f. 30 Dieses Argument ist normativ nicht stringent. Es geht nicht darum, eine originäre Staatsaufgabe mit zusätzlichen Steuern zu finanzieren, sondern hierfür das laufende Steueraufkommen zu verwenden.

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durch die verfassungsrechtlichen Schutzpflichten des Staates für das Leben und die körperliche Unversehrtheit seiner Bürger eingeschränkt. Art. 2 Abs. 2 GG könne zwar Handlungspflichten der staatlichen Organe im Bereich der Gefahrenabwehr und Verbrechensbekämpfung begründen, verbiete aber nicht die Heranziehung Privater zur Finanzierung von Sicherheitsmaßnahmen. bb) Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip? Andere sehen in der Erhebung von Abgaben für Sicherheitsmaßnahmen einen Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG).31 Der Bürger, der die Tätigkeit der Polizei über die von ihm gezahlten Steuern finanziere, dürfe nicht ein zweites Mal zur Deckung der Kosten herangezogen werden. Dies gelte unabhängig davon, ob der Bürger die Polizeimaßnahme veranlasst habe oder ob er einen Vorteil daraus ziehe. Dieses Argument vermag freilich nicht zu überzeugen, weil der Staat dann generell keine Gebühren erheben dürfte. Außerdem lassen sich aus dem Rechtsstaatsprinzip keine derartig konkreten Vorgaben zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben ableiten.32 cc) Verstoß gegen den Grundsatz der Gebührenfreiheit von Amtshandlungen im öffentlichen Interesse? Das Gebührenverbot für Sicherheitsmaßnahmen wird auch auf den Grundsatz gestützt, dass für Amtshandlungen im überwiegenden öffentlichen Interesse keine Gebühren erhoben werden.33 Dieser Grundsatz ist in einigen Landesgebührenordnungen ausdrücklich verankert;34 es wird auch 31

Albrecht, Probleme der Kostenerhebung (Fn. 26), S. 165, 177 f.; ähnlich Gramm, in: Vom Steuerstaat zum Gebührenstaat (Fn. 22), S. 179, 182 ff., der auf die Gefahren einer Kommerzialisierung staatlicher Aufgaben hinweist. Zumindest für die „polizeiliche Grundversorgung“ dürfe der Staat keine Gebühren erheben. 32 VGH Mannheim, DVBl. 1989, 1003, 1005; OVG Bremen, DVBl. 1981, 462, 464; Schenke, Erstattung der Kosten (Fn. 3), S. 1882, 1884; Götz, Kostenrecht (Fn. 4), S. 14, 18; Ronellenfitsch, Luftsicherheitsgebühr (Fn. 19), S. 307, 324; Rengeling, Zur Sicherung der Seehäfen gegen terroristische Anschläge aufgrund neuer internationaler, europäischer und deutscher Regelungen – Begriff, Funktionen und Kosten des „Betreibers der Hafenanlage“ in Niedersachsen, DVBl. 2004, 589, 592. 33 Majer, Die Kostenerstattungspflicht für Polizeieinsätze aus Anlaß von privaten Veranstaltungen – Ein Beitrag zur Inanspruchnahme öffentlicher Einrichtungen für privatnützige Zwecke, VerwArch 73 (1982), 167, 178 f.; Albrecht, Probleme der Kostenerhebung (Fn. 26), S. 165, 168 ff.; Nirschl, Kosten der Polizei- und Sicherheitsbehörden (Fn. 3), S. 195 f. 34 Vgl. § 3 Abs. 1 Nr. 2 BayKostG und § 3 Abs. 1 Nr. 10 speziell zu Polizeimaßnahmen; § 3 Abs. 1 Nr. 3 SächsVwKG; § 2 Abs. 1 Nr. 15 Thüringer Verw-

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die Auffassung vertreten, er liege dem Gebührenrecht als allgemeiner Rechtssatz zugrunde.35 Die Gebührenfreiheit von Amtshandlungen im überwiegenden öffentlichen Interesse hat allerdings nicht den Rang einer verfassungsrechtlichen Norm; das Grundgesetz bietet hierfür keinen normativen Anknüpfungspunkt.36 Der Gesetzgeber kann von diesem Grundsatz abweichen und auch für Amtshandlungen im überwiegenden öffentlichen Interesse Gebühren erheben, sofern die gebührenpflichtige Leistung individuell zurechenbar ist und die anderen verfassungsrechtlichen Vorgaben insbesondere bezüglich Maßstab und Höhe erfüllt sind. Das BVerwG hat in seiner Entscheidung zur Luftsicherheitsgebühr hierzu ausgeführt: „Es stellt das Vorliegen einer Gebühr nicht in Frage, wenn die Leistung, die sich der Staat ‚entgelten‘ lassen will, auch oder sogar in erster Linie aus Gründen des öffentlichen Wohls verlangt wird und damit zugleich oder überwiegend allgemeine Interessen verfolgt werden. Jede staatliche Handlungsweise muß einen Bezug zum öffentlichen Wohl haben. Daß eine gebührenpflichtige Amtshandlung in diesem Sinne öffentliche Interessen verfolgt, ist danach noch kein Hindernis, von einer Gebühr im herkömmlichen Sinne auszugehen.“

Allein das öffentliche Interesse an einer Leistung des Staates führt noch nicht zur Unzulässigkeit der Gebührenerhebung. Das öffentliche Interesse ist allerdings ein Kriterium für den Gebührenmaßstab und die Höhe der Gebühr. Für die grundsätzliche Zulässigkeit der Erhebung der Gebühr kommt es – wie wir oben ausgeführt haben – auf die individuell zurechenbare Leistung an. Ein darüber hinausgehendes generelles Verbot von Gebühren für Sicherheitsmaßnahmen lässt sich aus dem Grundgesetz nicht ableiten; die verfassungsrechtlichen Grenzen beziehen sich vornehmlich auf die Anforderungen an den Kreis der Pflichtigen, die Maßstäblichkeit und die Höhe der Gebühr. II. Verfassungsrechtliche Zulässigkeit neuer Sicherheitsgebühren Der Gesetzgeber geht nun verstärkt dazu über, die Kosten von Sicherheitsmaßnahmen über Gebühren zu finanzieren. Ich werde dies am Beispiel der Ausgleichsabgabe nach § 3 Abs. 2 BPolG (Abgabe zur Deckung der Kosten der Bundespolizei für die Sicherung der Bahnanlagen und des BahnKostG; § 4 Abs. 1 Nr. 2 BremGebBeitrG; § 2 Abs. 1 S. 2 HbgGebO für Maßnahmen auf dem Gebiet der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. 35 BayVGH, BayVBl. 1999, 277, 278; Würtenberger, Erstattung (Fn. 3), S. 192, 196. 36 BVerfG, DVBl. 1998, 1220, 1221; BVerwGE 95, 188, 200 f.; BVerwGE 13, 214, 219; BVerwGE 12, 162, 164; BVerwGE 8, 93, 95; OVG Bremen, DVBl. 1982, 462, 464; Würtenberger, Erstattung (Fn. 3), S. 192, 196; Götz, Kostenrecht (Fn. 4), S. 14, 19; Rengeling, DVBl. 2004, 589, 594.

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betriebes) und einiger landesrechtlicher Regelungen zur Finanzierung von Maßnahmen zur Sicherung von Hafenanlagen illustrieren und die Verfassungsmäßigkeit dieser Regelungen beleuchten. 1. Ausgleichsabgabe nach § 3 Abs. 2 BpolG a) Gegenstand der Regelung Im Zuge der Privatisierung der Deutschen Bahn hat der Gesetzgeber beschlossen, die Bahnpolizei in die Bundespolizei (früher Bundesgrenzschutz) einzugliedern und die Kosten für die von der Bundespolizei erbrachten Sicherheitsleistungen teilweise auf die Bahnunternehmen abzuwälzen. Mit dem durch Art. 1 des Haushaltssanierungsgesetzes vom 22.12.199937 eingeführten § 3 Abs. 2 BPolG wurde das Bundesministerium des Innern (BMI) als Verordnungsgeber ermächtigt, bis zu 50% der Kosten für die Erfüllung bahnpolizeilicher Aufgaben von den begünstigten Bahnunternehmen zu erheben.38 Die Aufgaben, auf die § 3 Abs. 2 Bezug nimmt, werden in § 3 Abs. 1 BPolG definiert. Danach hat die Bundespolizei neben dem Grenzschutz (§ 2 BPolG) unter anderem auch die Aufgaben der Bahnpolizei zu besorgen. Sie ist verpflichtet, „auf dem Gebiet der Bahnanlagen der Eisenbahnen des Bundes Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren, die 1. den Benutzern, den Anlagen oder dem Betrieb der Bahn drohen oder 2. beim Betrieb der Bahn entstehen oder von den Bahnanlagen ausgehen.“

Nach der Gesetzesbegründung ist der Begriff der (ausgleichspflichtigen) bahnpolizeilichen Leistungen weit zu verstehen. Er umfasst insbesondere die Verhütung von Straftaten durch Streifen- und Postendienst in den Bahnhöfen, in den Zügen, auf den Bahnanlagen und Gleiskörpern, Einsatz von Überwachungs- und Kontrolltechnik, Begleitung von gewaltbereiten Gruppen bei Großveranstaltungen und Demonstrationen, Erteilung von Platzver37

BGBl. I, S. 2534. § 3 Abs. 2 BPolG lautet: „Die durch die Erfüllung der Aufgaben nach Abs. 1 begünstigten Verkehrsunternehmen sind verpflichtet, der Bundespolizei für die erlangten Vorteile einen angemessenen Ausgleich zu leisten. Das Bundesministerium des Innern wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen für den zu leistenden Ausgleich einen Prozentsatz festzusetzen, der 50 Prozent des Gesamtaufwandes der Bundespolizei für die Erfüllung der Aufgaben nach Absatz 1 nicht überschreiten darf. Dabei sind insbesondere die erlangten Vorteile und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Verkehrsunternehmens zu berücksichtigen.“ 38

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weisen, Ingewahrsamnahmen, Tatort- und Ermittlungsarbeit bei Straftaten, Überwachung der Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften durch den Verkehrsbetreiber in enger Zusammenarbeit mit dem Eisenbahnbundesamt.39 Diese Aufzählung macht deutlich, dass der Gesetzgeber nicht nur die Kosten für besondere Serviceleistungen, sondern auch die Kosten für originäre Polizeimaßnahmen auf die Bahnunternehmen abwälzen will. Zur Umsetzung von § 3 Abs. 2 BPolG hat das BMI im Jahr 2002 eine Verordnung40 erlassen. Nach § 1 dieser Verordnung ist die DB AG verpflichtet, für die durch die Aufgabenerfüllung der Bundespolizei entstandenen Vorteile ab dem 01.01.2000 jährlich 20,83% des Gesamtaufwandes als Ausgleich zu leisten. Für die anderen Eisenbahnverkehrsunternehmen hat der Verordnungsgeber keinen Ausgleichsbetrag festgesetzt. Mit Urteil vom 17.05.2006 hat das BVerwG41 diese Verordnung für unwirksam erklärt, da sie nicht durch die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage gedeckt sei. § 3 Abs. 2 BPolG gestatte es nicht, allein die DB AG zum Ausgleich der der Bahnpolizei entstandenen Kosten heranzuziehen. Ausgleichspflichtig seien auch die anderen Eisenbahnverkehrsunternehmen, die einen entsprechenden Sicherheitsvorteil erlangten. Das BVerwG befasste sich nicht mit der Frage, ob die Erhebung einer Gebühr für die Erbringung der polizeilichen Maßnahmen überhaupt zulässig sei. b) Verfassungsmäßigkeit der Regelung Da zu erwarten ist, dass der Verordnungsgeber bald eine neue, den formalen Vorgaben des BVerwG genügende Verordnung zur Erhebung der Ausgleichsabgabe erlassen wird, stellt sich die Frage, ob die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage materiell verfassungsgemäß ist. Die Verfassungsmäßigkeit der Regelung des § 3 Abs. 2 BPolG war von Anfang an umstritten. Während ein Teil der Literatur sie für „eklatant verfassungswidrig“42 hält, gehen andere von ihrer Verfassungsmäßigkeit aus.43 Das BVerwG44 konnte diese Frage in der zitierten Entscheidung vom 17.05.2006 offen lassen, weil der streitgegenständliche Kostenbescheid bereits aus anderen Gründen rechtswidrig war. Wie oben dargelegt, hängt die verfassungsrecht39

BT-Drs. 14/1636, S. 173; ebenso BVerwG, NVwZ-RR 2006, 689. Verordnung vom 06.12.2002 zur Festsetzung des Ausgleichs für die Erfüllung bahnpolizeilicher Aufgaben des Bundesgrenzschutzes (BGSGAusglVO), BGBl. I, S. 1683. Die Verordnung ist im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Stadtentwicklung ergangen. 41 BVerwG, NVwZ-RR 2006, 689. 42 Ronellenfitsch, Beitrag der Eisenbahnunternehmen (Fn. 26), 65, 71 f. 43 Würtenberger/Heckmann, Polizeirecht in Baden-Württemberg (Fn. 4), S. 433. 44 BVerwG, NVwZ-RR 2006, 689, 692. 40

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liche Beurteilung der Ausgleichsabgabe nach § 3 Abs. 2 BPolG zunächst von ihrer Einordnung ab. Da die Ausgleichsabgabe die Kosten für bestimmte Leistungen der Bundespolizei abdecken soll, spricht vieles dafür, die Ausgleichsabgabe funktional als gebührenähnliche Abgabe einzuordnen.45 Als solche ist sie dem Grunde nach zulässig, wenn die von der Bundespolizei erbrachten Sicherheitsleistungen den begünstigten Bahnunternehmen individuell zurechenbar sind. Das ist der Fall, wenn die Bahnunternehmen diese Leistungen veranlasst haben oder ihnen daraus ein individueller Vorteil erwächst. aa) Bahnunternehmen als Veranlasser bahnpolizeilicher Leistungen? Veranlasser einer gebührenpflichtigen Amtshandlung ist derjenige, der die Leistung beantragt oder in sonstiger Weise auf sie hingewirkt hat.46 Die Rechtsprechung legt den Begriff der Veranlassung weit aus.47 Es reicht aus, dass der Gebührenschuldner durch sein Verhalten der Behörde einen hinreichenden Grund zum Handeln gegeben hat und die Amtshandlung dem Betroffen rechtlich zuzurechnen ist.48 Dabei soll es auch unerheblich sein, dass der Gebührenpflichtige die Polizeimaßnahme nicht freiwillig beantragt, sondern ihm dies von einer anderen Behörde zur Auflage gemacht wurde.49 Auch nach dieser weiten Auslegung kann die Ausgleichsabgabe nach § 3 Abs. 2 BPolG nicht mit dem Veranlasserprinzip gerechtfertigt werden. Der Gesetzgeber selbst gibt der Polizei auf, „Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren“. Er veranlasst durch die gesetzliche Aufgabenübertragung die Durchführung präventiver wie repressiver Maßnahmen. Die Bahnunternehmen haben den Schutz durch die Bundespolizei demgegenüber nicht veranlasst, geschweige denn beantragt. Und ebenso 45 In der Entscheidung vom 17.05.2006 ist das BVerwG (NVwZ-RR 2006, 689) auf die Einordnung der Ausgleichsabgabe nach § 3 Abs. 2 BPolG nicht näher eingegangen, hat inhaltlich aber die gleichen Prüfungsmaßstäbe angelegt wie für die Erhebung einer Gebühr; die beklagte Bundespolizei ging von einer „Vorzugslast mit der Nähe zur Gebühr“ aus. Auch der Gesetzgeber sieht die Ausgleichsabgabe offenbar als eine Art Gebühr an, vgl. BT-Drs. 1636, S. 173. 46 BVerfGE 18, 302, 304; VGH Mannheim, DVBl. 1989, 1003, 1005 f. 47 BVerfGE 18, 302, 304 zur Heranziehung des verurteilten Straftäters zur Zahlung der Prozessgebühren. Dies sei verfassungsgemäß, weil der Straftäter durch sein Verhalten Anlass zu dem Gerichtsverfahren gegeben habe. 48 BVerwGE 11, 274, 275; VGH Mannheim, DVBl. 1989, 1003, 1006; enger Wilke, Gebührenrecht und Grundgesetz (Fn. 11), S. 83 f.: erforderlich ist ein auf die Amtshandlung gerichtetes Verhalten des Gebührenschuldners. 49 VGH Mannheim, DVBl. 1989, 1003, 1006 zu einer Gebühr für die polizeiliche Begleitung eines Gefahrentransportes, die dem Beförderer von der Genehmigungsbehörde zur Auflage gemacht worden war.

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wenig kann das Verhalten der Dritten, das diese Maßnahmen unmittelbar oder mittelbar veranlasst, den Bahnunternehmen zugerechnet werden. Es gibt insoweit keine normativ zurechenbare Kausalität. Für den Veranlasserbegriff muss das Gleiche gelten wie für den polizeirechtlichen Verursacherbegriff: Grundsätzlich kann nur der unmittelbare Veranlasser in Anspruch genommen werden, in jedem Fall unterbricht das eigenverantwortliche Handeln Dritter den Zurechnungszusammenhang. Es lässt sich auch nicht argumentieren, dass die Bahnunternehmen, insbesondere die DB AG durch den Betrieb der Bahn und die Öffnung der Bahnhöfe für den allgemeinen Verkehr Straftaten in irgendeiner Form herausfordern oder Vorschub leisten; sie tun das weder objektiv noch subjektiv. Und sie sind auch kein Zweckveranlasser, da sie die Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gerade nicht wollen und sie auch nicht billigend in Kauf nehmen. Wie das BVerwG50 für den Fall der polizeilichen Zustandshaftung richtig entschieden hat, muss der Betreiber einer gefährlichen oder gefährdeten Anlage – im konkreten Fall ging es um einen Flughafenbetreiber – sich den Missbrauch der Anlage durch Dritte nicht zurechnen lassen. Für den Veranlasser (i. S. des Gebührenrechts) kann nichts anderes gelten. Danach sind die Bahnunternehmen keine Veranlasser der Sicherheitsmaßnahmen. Sie haben im Rechtssinne keine causa gesetzt. Sie brauchen daher als Veranlasser nicht für die Gewährung der polizeilichen Sicherheit aufzukommen. bb) Vorteil der Bahnunternehmen Die Ausgleichsabgabe nach § 3 Abs. 2 BPolG ist daher nur zulässig, wenn die in Anspruch genommenen Bahnunternehmen durch die polizeilichen Maßnahmen einen besonderen, individuell zurechenbarenVorteil erlangen. Der Gesetzgeber hat die Verfassungsmäßigkeit der Ausgleichsabgabe mit dem „besonderen tatsächlichen Vorteil“ zu rechtfertigen versucht, den die Verkehrsunternehmen erlangten, und auf die Entscheidung des BVerfG zur Luftsicherheitsgebühr verwiesen.51 Zur Begründung wird ausgeführt, dass der Schutz der öffentlich zugänglichen Bahnanlagen einen „besonderen Sicherungsaufwand“ erfordere. Dieser erhöhe den „betriebswirtschaftlichen Nutzeffekt“ der Verkehrsunternehmen und komme ihnen auch unmittelbar zugute. Da der individuelle Nutzen und das öffentliche Interesse an der Sicherheit untrennbar miteinander verknüpft seien, komme aber nur eine teilweise Abwälzung der Kosten in Betracht. Worin der „besondere tatsäch50 BVerwG, DVBl. 1986, 360 mit zust. Anm. Schenke und krit. Anm. Karpen, JZ 1986, 520 f. 51 BT-Drs. 14/1636, S. 173.

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liche Vorteil“ und der „unmittelbare betriebswirtschaftliche Nutzeffekt“ bestehen sollen, wird freilich nicht näher dargelegt. Ein solcher zurechenbarer Vorteil ist auch nicht erkennbar. Das ist von vornherein evident bei solchen polizeilichen Maßnahmen, die hoheitliche Befugnisse voraussetzen. Denn Maßnahmen, die aufgrund des staatlichen Gewaltmonopols alleine die Polizei durchführen kann, ersparen keine eigenen Aufwendungen für eigene Kräfte oder einen privaten Sicherheitsdienst. In einem solchen Fall nimmt die Bundespolizei eine eigene, ausschließlich staatliche Aufgabe wahr und nicht eine solche des Bahnunternehmens. Deshalb gibt es insoweit auch keine ersparten Kosten. Betriebswirtschaftliche Nutzeffekte, die über einen bloßen Reflex hinausgehen – jeder Bürger profitiert von Sicherheit – gibt es nicht. Aber auch bei anderen Aufgaben, die keine originär hoheitliche Befugnis voraussetzen – etwa die Sicherung der Bahnhöfe durch Bestreifung – gibt es keinen unmittelbaren zurechenbaren individuellen Nutzeffekt. Denn die Bahn – das gilt jedenfalls für die DB AG – hat eine aufwändige Eigensicherung, die weit über die Verkehrssicherungspflicht hinausgeht. Die Bahn unterscheidet sich insoweit nicht von anderen Unternehmen, deren Anlagen überwachungsbedürftig sind und die im Fokus der Öffentlichkeit stehen. Diese Unternehmen haben einen Werkschutz, der die Sicherheit gewährleistet. Spezifische Einsparungen gibt es durch die Bundespolizei nicht. Sofern der Bahn überhaupt ein Vorteil erwächst, ist dieser nicht individuell zurechenbar, sondern das Ergebnis einer reflexartigen Begünstigung durch die Wahrnehmung der öffentlichen Aufgabe der Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung. Insbesondere ziehen die Bahnunternehmen keinen zurechenbaren Vorteil daraus, dass die Bundespolizei hoheitliche Aufgaben wie die Festnahme von Straftätern für die Tatort- und Ermittlungsarbeit in Bahnhofsbereichen durchführt. Die Bahn ist insoweit in der gleichen Lage wie jeder andere Bürger, der vor einer konkreten Gefahr zu schützen ist oder der Opfer eines Deliktes wurde. Die Bahn – der Bürger – wird als Reflex begünstigt. Daraus darf ihr aber keine spezifische Kostenlast erwachsen. Sie bezahlt diese Sicherheit über ihre Steuern. Auch dem Gesetzgeber müssen bei der Aufzählung der ausgleichspflichtigen Maßnahmen gewisse Bedenken gekommen sein. Denn er hielt es für erforderlich, die Höhe der Ausgleichsabgabe auf 50% der tatsächlichen Kosten zu beschränken.52 Dies kann der Regelung des § 3 Abs. 2 BPolG aber nicht das Verdikt der Verfassungswidrigkeit nehmen. Wenn eine bestimmte öffentliche Leistung nicht individuell zurechenbar ist, sondern sie eine originäre Staatsaufgabe ist, die im Interesse der Allgemeinheit erbracht wird, dann können die Kosten überhaupt nicht, auch nicht zu 50% auf bestimmte Bürger abgewälzt werden.

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2. Verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Hafensicherheitsgebühren a) Gegenstand der Regelung Verfassungsrechtliche Bedenken wecken auch die jüngsten landesrechtlichen Regelungen zur Finanzierung von Sicherheitsmaßnahmen in Häfen. Diese Regelungen dienen der Umsetzung des Internationalen Code für die Gefahrenabwehr auf Schiffen und in Hafenanlagen (International Ship and Port Facility Security Code, ISPS-Code).53, 54 Danach sind die Hafenbetreiber verpflichtet, auf der Grundlage einer Bewertung der Sicherheitsrisiken durch die zuständige Behörde einen Plan zur Gefahrenabwehr auszuarbeiten. Die Gefahrenabwehrpläne sollen für verschiedene Gefahrenstufen orga53 Der ISPS-Code wurde von der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (International Maritime Organisation, IMO) nach den terroristischen Anschlägen vom 11. September 2001 auf Drängen der USA erarbeitet, um einheitliche Sicherheitsstandards für den Seeverkehr und die Seehäfen zu gewährleisten. Er sieht eine Reihe von organisatorischen und baulichen Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit in Häfen vor. Völkerrechtlich verbindlich wurde der ISPS-Code durch eine im Jahr 2002 von den Mitgliedstaaten der IMO beschlossene Änderung des Internationalen Übereinkommens zum Schutz des menschlichen Lebens auf See (Safety of Life at Sea, SOLAS). Die Bundesrepublik hat dieses Änderungsabkommen Ende 2003 ratifiziert. Parallel dazu hat die EU eine Verordnung zur Umsetzung des ISPSCode erlassen, die den Anwendungsbereich des ISPS-Code auf den nationalen Seeverkehr erweitert und inhaltlich in einzelnen Punkten über den ISPS-Code hinausgeht (Verordnung (EG) Nr. 725/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31.03.2004 zur Erhöhung der Gefahrenabwehr auf Schiffen und in Hafenanlagen, ABl. L 129 vom 29.04.2004, S. 6 ff.). Dazu im Überblick Rengeling, Sicherheit der Seehäfen (Fn. 32), S. 589 ff.; Ordemann, Die Umsetzung der IMO-Regelungen in den deutschen Seehäfen, Vortrag auf dem 2. DVWG-Rechtsforum „Terrorabwehr im Transport- und Verkehrswesen“ am 14. Mai. 2004 in Mannheim, abrufbar unter www.zds-seehaefen.de, S. 3 ff. 54 Zur Umsetzung dieser internationalen und europäischen Regelungen haben die für Hafensicherheit zuständigen Länder auf der Grundlage eines Mustergesetzes (dazu Ordemann, Umsetzung der IMO-Regelungen (Fn. 53), S. 6 ff.) neue Gesetze über die Sicherheit in Hafenanlagen erlassen. Vgl. das Gesetz zur Verbesserung der Sicherheit im Hamburger Hafen vom 06.10.2005 (HafenSG), HmbGVBl., S. 424 ff.; Bremisches Hafensicherheitsgesetz vom 06.07.2004, GBl., S. 405; Gesetz zur Verbesserung der Sicherheit in den schleswig-holsteinischen Hafenanlagen (Hafenanlagensicherheitsgesetz, HaSiG) vom 18.04.2004, GVOBl., S. 177; Niedersächsisches Hafengesetz vom 08.12.2005, GVBl., S. 377; Gesetz über die Sicherheit in Hafenanlagen im Land Nordrhein-Westfalen (HaSiG) vom 03.05.2005 (GV. NW., S. 489). Parallel dazu hat die Bundesregierung im Rahmen ihrer Zuständigkeit eine Verordnung für die Sicherheit auf Schiffen erlassen (Verordnung vom 19.09.2005 zum Gesetz vom 25.06.2004 zur Ausführung der im Dezember 2002 vorgenommenen Änderungen des Internationalen Übereinkommens von 1974 zum Schutz des menschlichen Lebens auf See und des Internationalen Codes für die Gefahrenabwehr auf Schiffen und in Hafenanlagen, BGBl. I, S. 2787). Auf diese Verordnung kann hier nicht näher eingegangen werden.

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nisatorische und bauliche Maßnahmen (z. B. Errichtung eines eingezäunten und bewachten Sicherheitsbereiches) festlegen. Sie müssen der zuständigen Aufsichtsbehörde zur Genehmigung vorgelegt werden. Die Betreiber müssen dann die im Gefahrenabwehrplan festgelegten Sicherheitsmaßnahmen (z. B. Einzäunung und Bewachung eines Sicherheitsbereichs) auf eigene Kosten ausführen.55 Besonderheiten gelten für Hamburg: Da Betreiber des Hafens eine rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts (Hamburg Port Authority) ist, trägt zunächst einmal die öffentliche Hand die Kosten für die nach dem ISPS Code erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen. Allerdings hat der Gesetzgeber die Hamburg Port Authority ermächtigt, die Kosten für die Sicherheitsmaßnahmen teilweise auf die Nutzer abzuwälzen. Gemäß § 1 Abs. 1 der Hafengebührenordnung56 i. V. m. Ziff. 4 der Anlage 1 zu dieser Gebührenordnung kann die Hamburg Port Authority für Fahrgastschiffe einschließlich Hochgeschwindigkeitsfahrzeuge in der Auslandsfahrt einen Sicherheitszuschlag von 1,– EUR je Passagier erheben. Mit dieser Gebühr sind die Aufstellung von mobilen Zäunen und die Bewachung des Sicherheitsbereichs gemäß den Anforderungen des ISPS-Code abgegolten. b) Verfassungsmäßigkeit der Regelungen Bei der Frage, ob diese Regelungen mit dem Grundgesetz vereinbar sind, ist wie folgt zu unterscheiden: Bei den landesrechtlichen Regelungen, die die privaten Hafenbetreiber verpflichten, bestimmte Sicherheitsmaßnahmen auf eigene Kosten durchzuführen, ist zu prüfen, ob eine solche Indienstnahme mit Artikel 12 Abs. 1 GG vereinbar ist. Die Indienstnahme privater Unternehmen, d. h. die Heranziehung zur Erfüllung staatlicher Aufgaben, stellt einen Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit darf. Ein solcher Eingriff ist nicht per se unzulässig, er muss aber durch „vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls“ gerechtfertigt sein und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen, d. h. geeignet, erforderlich und angemessen sein.57 Für den Bereich der Sicherheit ist anerkannt, dass der Gesetzgeber den Betreibern gefährdeter Anlagen – und 55 Vgl. § 7 Abs. 4 des HaSiG SH; § 8 Abs. 5 HmbHafenSG; § 9 Abs. 5 des Bremischen Hafensicherheitsgesetzes; § 6 Abs. 5 Nds. Hafengesetz; § 11 Abs. 6 HaSiG NRW. Insgesamt werden die Kosten der Hafenbetreiber auf über EUR 50 Millionen geschätzt (vgl. Ordemann, Umsetzung der IMO-Regelungen (Fn. 53), S. 15). 56 Gebührenordnung für den Hamburger Hafen vom 03.01.2006, HmbGVBl. I, S. 4 ff. 57 BVerfGE 22, 380, 383; BVerfGE 30, 292, 310 ff.; BVerfGE 68, 155, 170 f.; zu Einzelheiten Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. II: Art. 6–16a, Stand: 47. Lfg. Dez. 2006, Art. 12, Rn. 163.

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dazu zählen nach dem 11. September 2001 auch Häfen – bestimmte Maßnahmen in begrenztem Umfange zur Eigensicherung aufgeben darf.58 Im vorliegenden Fall besteht allerdings die Besonderheit, dass die Landesgesetzgeber die Verantwortung und die Kosten für die nach dem ISPS-Code erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen vollständig auf die Hafenbetreiber abwälzen. Hinzu kommt, dass der Staat sich die ihm verbleibenden Aufgaben gesondert über Gebühren vergüten lässt. Im Ergebnis tragen die Hafenbetreiber die Kosten vor allem bei den Gefahrenabwehrplänen für die Umsetzung des ISPS-Code in vollem Umfang.59 Sie könnten zwar versuchen, diese Kosten über die privatrechtlich vereinbarten Nutzungsentgelte auf die Hafennutzer umzulegen. In der Praxis gestaltet sich dies allerdings als schwierig, weil die deutschen Häfen in einem harten Wettbewerb mit anderen Häfen in und außerhalb der EU stehen und in vielen anderen Ländern offensichtlich der Staat die Kosten für die Sicherheitsmaßnahmen übernommen hat.60 Die Doppelbelastung mit Kosten für aufwändige Maßnahmen zur Eigensicherung und Gebühren lässt sich mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kaum vereinbaren. Das endgültige Verdikt hängt von den Details des Sachverhaltes, insbesondere der tatsächlichen Kostenbelastung und der Benachteiligung im Wettbewerb ab. Grundsätzlich gilt, dass die vollständige Abwälzung der Kosten für eine Maßnahme, die der Sicherheit aller Bürger und der öffentlichen Infrastruktur dient, auf eine bestimmte Gruppe nicht angemessen ist. Verfassungsrechtlich bedenklich ist auch die Hamburger Regelung zur Erhebung von Hafensicherheitsgebühren. Diese kann nicht mit dem Veranlasserprinzip gerechtfertigt werden. Weder die gebührenpflichtigen Reeder noch die Passagiere, die die Gebühr letztlich tragen müssen, sind Veranlasser dieser Maßnahmen. Wie oben für die Ausgleichsabgabe nach § 3 Abs. 2 BPolG dargelegt, kann ihnen die Gefahr von Terroranschlägen nicht zugerechnet werden. Das eigenverantwortliche Handeln der Terroristen unterbricht den Zurechnungszusammenhang. Die Erhebung einer solchen Gebühr lässt sich aber auch nicht auf das Vorteilsprinzip stützen. Selbst wenn man den großzügigen Maßstab anlegt, den die Rechtsprechung in den Entscheidungen zur Luftsicherheitsgebühr angewandt hat, lässt sich eine solche Gebühr nicht rechtfertigen.61 Die Passagiere der Fahrgastschiffe erlangen 58 BVerwGE 81, 185 zur auf § 7 Abs. 2 Nr. 5 AtomG gestützte Verpflichtung des Betreibers eines Kernkraftwerkes, (auf eigene Kosten) einen Werkschutz einzurichten; ähnlich OVG Lüneburg, Urt. v. 08.03.2006, 7 KS 128/02, abrufbar unter www.dbovg.niedersachsen.de. 59 Kritisch zu dieser Doppelbelastung Ordemann, Umsetzung der IMO-Regelungen (Fn. 53), S. 15 f. 60 Vgl. Pressemitteilungen der Arbeitsgemeinschaft der Schleswig-Holsteinischen Häfen, abrufbar unter www.haefen-schleswig-holstein.de.

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durch die baulichen und organisatorischen Vorkehrungen, die nichts mit der Einzelabfertigung zu tun haben, keinen konkreten Sicherheitsvorteil. Die Hafensicherheitsgebühr ist nicht Entgelt für eine konkrete Sicherheitsleistung (Fahrgastkontrolle), sondern dient der Finanzierung von allgemeinen Maßnahmen (Sicherheitszäune, Bestreifung) zum Schutz des Hafens und der dort ankernden Schiffe. III. Resümee und Ausblick Die Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung ist eine originäre Aufgabe des Staates. Sie gehört zu den Kernpflichten und -kompetenzen und ist besonderes virulent, wenn die Sicherheit des Staates und seiner Bürger abstrakt oder auch konkret gefährdet ist. Das ist heute besonders aktuell durch den ubiquitären Terrorismus und radikale Ideologien, zumal in einer globalisierten Welt. Der Staat muss dieser Aufgabe nachkommen. Und der Steuerstaat des Grundgesetzes hat sie grundsätzlich über das Steueraufkommen zu finanzieren. Der Bürger erwartet als (eine) Gegenleistung für seine Steuerlast die der Bedrohung adäquate Gewährleistung der Sicherheit. Nur und erst diese Sicherheit setzt ihn in die Lage, seinen durch die Grundrechte gewährleisteten Freiraum zu nutzen und – unter anderem – steuerpflichtige Einnahmen zu generieren und damit zum Steueraufkommen beizutragen. Die Finanzierung über die Steuern entspricht auch dem Gebot der Lastengleichheit. Die Sicherheit des Gemeinwesens ist unteilbar. Dieser Zusammenhang gerät leicht aus dem Blick, wenn der Staat als Garant für die Sicherheit besondere Gebühren für Sicherheitsmaßnahmen erhebt. Staatliche Sicherheit ist geschuldet und grundsätzlich keine entgeltpflichtige Dienstleistung. Sie unterscheidet sich insoweit von anderen staatlichen Leistungen etwa im Bereich Gesundheit, Bildung, Kultur, Infrastruktur etc; hier vermittelt der Staat positiv Leistungen oder er leistet selbst und gestaltet, er fördert und trägt individuell und aktiv zur Entwicklung der Persönlichkeit wie auch des Gemeinwesens bei. Die Sicherheit ist hingegen die Grundvoraussetzung für die Entwicklung von Individuum und Gesellschaft. Grundsätzlich kann für diese Leistung durch die Schaffung gesetzlicher Gebührentatbestände keine Gebühr verlangt werden. Nur ausnahmsweise ist dies möglich. Eine solche Ausnahme gilt nach der Entscheidung des BVerwG zur Luftsicherheitsgebühr, wenn der Einzelne die Sicherheitsmaßnahme unmittelbar veranlasst oder er einen individuell zurechenbaren Vorteil hat. Diese Kriterien sind eng auszulegen. Denn grundsätzlich ist die Sicherheit eine Gemeinlast, die über das Steueraufkommen finanziert wird. Eine faktische Doppelbelastung kann der Gesetzgeber nur dann einführen, wenn Einzelne 61

Anders wohl Rengeling, Sicherheit der Seehäfen (Fn. 32), S. 589, 593 f.

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individuell und konkret begünstigt werden. Vor diesem Hintergrund ist die geplante Einführung gesetzlicher Gebührentatbestände für beispielsweise die Bahnpolizei durchaus kritisch zu sehen. Das gilt in gleicher Weise für Gesetze, die durch den Oktroy aufwändiger Eigensicherungsmaßnahmen im Zusammenspiel mit der Gebührenerhebung – wie beispielsweise bei den neuen Hafensicherheitsgebühren – zu einer faktischen Doppelbelastung bei gleichzeitiger Einschränkung und damit Einsparung staatlicher Sicherheitsmaßnahmen führen. Dies ist nicht nur ein Thema des Steuerstaates und der Gewährleistung staatlicher Sicherheit, sondern auch der Verhältnismäßigkeit des Eingriffes in die berufliche Betätigung und damit der Grundrechte. Jede Belastung durch Gebühren oder die Aufgabe der Eigensicherung muss verhältnismäßig sein. Bei dieser Prüfung sind die Staatlichkeit der Aufgabe, die Steuerlast und der Steuerstaat einerseits, wie auch die Veranlassung und das Ausmaß eines individuellen und zurechenbaren Vorteiles andererseits zu berücksichtigen. Der Staat darf originäre hoheitliche Aufgaben nicht als aufgezwungene Dienstleistung zu einer parafiskalischen Einnahmequelle machen.62

62 Auf den Zusammenhang mit dem parlamentarischen Budgetrecht und dem Gebot der Vollständigkeit des Haushaltsplanes kann hier nicht weiter eingegangen werden. Dazu BVerfGE 82, 159 (178 f.); BVerfGE 108, 186 (218). Selmer, Die sogenannte Gruppennützigkeit der Sonderabgabe – eine Zulässigkeitsvoraussetzung im Wandel, in: Grupp, Klaus und Hufeld, Ulrich (Hrsg.), Recht – Kultur – Finanzen, Festschrift für R. Mußgnug, Heidelberg 2005, S. 217 (221, 226 ff.).

Grundweichenstellungen des deutschen Eisenbahnverfassungsrechts Von Markus Möstl Herzstück des deutschen Eisenbahnverfassungsrechts1 und zugleich Grundlage der tiefgreifenden Bahnreform der 1990er Jahre2 ist der 1993 in das Grundgesetz aufgenommene Art. 87e GG3. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages4 zu dem Gesetzentwurf, mit dem der neue Art. 87e in das Grundgesetz aufgenommen werden sollte, tragen die Unterschrift des mit dieser Festschrift zu ehrenden Jubilars, Rupert Scholz, der als Berichterstatter fungierte. Dem Rechtsausschuss mit Rupert Scholz als Berichterstatter war es gelungen, in dem Ringen um die neue Eisenbahnverfassung einen Text des Art. 87e zu formulieren und zur Entschließung zu empfehlen, der in Bundestag und Bundesrat die notwendige 2/3-Mehrheit zu finden in der Lage war und dann auch tatsächlich nahezu unverändert5 in das Grundgesetz einging. Diesen Durchbruch zu schaffen, war sicherlich nicht einfach gewesen. Zu weit waren die Vorstellungen von Regierung/Regierungsmehrheit einerseits und Opposition/Bundesrat andererseits auseinandergelegen.6 Die Regierung hatte einen schlanken Entwurf vorgelegt, der in materieller Hinsicht im wesentlichen bestimmte, die Eisenbahnen des Bundes würden als Wirtschaftsunternehmen in privatrechtlicher Form geführt, und ansonsten allein kompetenzielle Fragen regelte; kennzeichnend waren die Entscheidungen für die Organisationsprivatisierung der Bundeseisenbahnen, für eine volle Aufgabenpriva1

Schmidt-Aßmann/Röhl, Grundpositionen des neuen Eisenbahnverfassungsrechts (Art. 87e GG), DÖV 1994, S. 577; Steiner, Recht der Verkehrswirtschaft, in: Schmidt (Hrsg.), Öffentliches Wirtschaftsrecht, Besonderer Teil 2, 1996, § 10, S. 186. 2 Gesetz zur Neuordnung des Eisenbahnwesens (Eisenbahnneuordnungsgesetz – ENeuOG) vom 27.12.1993 (BGBl. I S. 2378). 3 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 20.12.1993 (BGBl. I S. 2089), in Kraft getreten am 23.12.1993. Gleichzeitig und flankierend wurden geändert oder ergänzt: Art. 73 Abs. 1 Nr. 6 und 6a, Art. 74 Abs. 1 Nr. 23, Art. 80 Abs. 2, Art. 87 Abs. 1 Satz 1, Art. 106a, Art. 143a GG. 4 BT-Drucks. 12/6280 vom 30.11.1993. 5 Abgesehen von der nur klarstellenden Ergänzung „als eigene Angelegenheit“ in Abs. 1 S. 2. 6 Siehe die BT-Drucks. 12/5015 (Regierungsentwurf, Stellungnahme des Bundesrates, Gegenäußerung der Bundesregierung).

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tisierung im Sinne einer Freistellung der „als Wirtschaftsunternehmen“ zu führenden Eisenbahnen des Bundes von besonderen Gemeinwohlpflichten sowie die uneingeschränkte Zulässigkeit einer (späteren) Kapitalprivatisierung. Der Bundesrat hingegen sah – in deutlicher Ablehnung voller Aufgaben- und möglicher Kapitalprivatisierung – jedenfalls die Vorhaltung des Schienennetzes als eine dauerhaft „staatliche Aufgabe des Bundes“ an, so dass der Bund Eigentümer der Schienenwege zu bleiben habe; und auch darüber hinaus pochte er auf einen Sicherstellungsauftrag des Bundes zur Erfüllung „gemeinwirtschaftlicher Aufgaben im Schienenverkehr“, der dem Bund auch „Vorgaben für die Ausfüllung seiner Eigentümerfunktion“ bei den Eisenbahnen des Bundes mache. Vor allem zwei Weichenstellungen sind es, mit denen die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses den Knoten durchschlagen und einen Kompromiss erreichen konnte: Zum einen der Schienenwegevorbehalt des Abs. 3 S. 3, der den Bund dauerhaft verpflichtet, die Anteilsmehrheit an Eisenbahnen des Bundes zu halten, soweit ihre Tätigkeit den Bau, die Unterhaltung und das Betreiben von Schienenwegen umfasst (der Bericht des Rechtsausschusses bezeichnet diese Lösung als Ausgleich zur weitergehenden Forderung des Bundesrates, das Eigentum an den Schienenwegen unmittelbar bei Bund zu belassen7). Zum anderen der Gewährleistungsauftrag des Abs. 4 Satz 1, der den Bund verpflichtet zu gewährleisten, dass dem Wohl der Allgemeinheit, insbesondere den Verkehrsbedürfnissen, beim Ausbau und Erhalt des Schienennetzes der Eisenbahnen des Bundes sowie bei deren Verkehrsangeboten auf diesem Netz Rechnung getragen wird (der Vorschlag des Bundesrates hatte sich noch auf alle Verkehrsangebote, nicht nur diejenigen der Eisenbahnen des Bundes bezogen; überdies spricht der Bericht des Rechtsausschusses abschwächend von einer „politischen Verantwortung des Bundes“8). Beide Weichenstellungen bleiben auf die Grundentscheidung zur Führung der Bundeseisenbahnen „als Wirtschaftsunternehmen in privat-rechtlicher Form“ (Abs. 3 S. 1) bezogen, die bereits der Regierungsentwurf enthalten hatte und nicht verändert wurde. So begrüßenswert es ist, dass ein Kompromiss erzielt werden konnte, so sehr liegt andererseits auf der Hand, dass dieser Kompromiss nur um den Preis einer kompliziert9 geratenen Norm zu erzielen gewesen ist, die die ursprünglich eindeutigen Reformziele in einer weitaus halbherzigeren Weise verwirklicht, vielfach gegenläufige Aussagen miteinander verspannt und auf diese Weise eine Fülle von Auslegungsschwierigkeiten aufwirft.10 Vor allem 7

BT-Drucks. 12/6280, S. 8. BT-Drucks. 12/6280, S. 8. 9 Zur Technizität (auch) des Art. 87e: Brenner, AöR 120 (1995), S. 248 ff. 10 Gersdorf, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Auflage 2001, Art. 87e, Rdnr. 37; Vesting, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stein (Hrsg.), 8

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drei Problemkreise sind es, die nach wie vor als nicht wirklich geklärt angesehen werden müssen: (1) Erstens die Frage, inwieweit Art. 87e, der allein die Eisenbahnen des Bundes zum Gegenstand hat, eine Grundentscheidung zugunsten des Wettbewerbs auf der Schiene enthält und wie dieser Wettbewerb ggf. zu regulieren ist. (2) Zweitens die Frage, wie die Eisenbahnen des Bundes zwischen den Polen Privatwirtschaftlichkeit und Gemeinwohlbindung zu verorten sind, wie weit also die durch Art. 87e angeordnete Aufgabenprivatisierung reicht. (3) Drittens die Frage, inwieweit Art. 87e dem Netz (im Verhältnis zum Verkehr auf dem Netz) einen Sonderstatus zuspricht und welche Konsequenzen sich aus dem Schienenwegevorbehalt des Abs. 3 Satz 3 ergeben. Die das Jahr 2006 beherrschende Diskussion um einen Börsengang der Deutschen Bahn AG „mit oder ohne Netz“11 belegt beispielhaft, dass die so umrissenen Unsicherheiten noch keineswegs ausgestanden sind. Der vorliegende Beitrag möchte den aufgeworfenen Fragen in drei Abschnitten nachgehen: I. Wettbewerb und Regulierung Art. 87e GG ist in Bezug auf die Ausgestaltung des Eisenbahnwesens durch einen eher fragmentarischen Regelungscharakter geprägt.12 Der Regelungsanlass – Privatisierung der vormals als Sondervermögen in bundesunmittelbarer Verwaltung geführten Bundeseisenbahnen – hat es mit sich gebracht, dass nur ein Teilbereich des Eisenbahnwesens, nämlich die Eisenbahnen des Bundes, einer ausdrücklichen Regelung zugeführt wird, während der Status etwaiger Wettbewerber weitgehend ausgeklammert bleibt. Art. 87e GG unterscheidet sich darin insbesondere von Art. 87f GG, der für den Postund Telekommunikationsbereich die verfassungsrechtliche Intention eines Wettbewerbs sehr deutlich zum Ausdruck bringt (Art. 87f Abs. 2 S. 1 GG: „und durch andere private Anbieter“).13 Aus dieser einseitigen Fokussierung auf die Eisenbahnen des Bundes ist zum Teil geschlossen worden, Art. 87e GG lasse sich – anders als Art. 87f GG – gerade keine Grundentscheidung zugunsten des Ordnungsprinzips Wettbewerb entnehmen.14 Die Frage, inAlternativkommentar Grundgesetz, Art. 87e, Rdnr. 18; Schmidt-Aßmann/Röhl, Grundpositionen (Fn. 1), S. 577 ff.; Lerche, Infrastrukturelle Verfassungsaufträge (zu Nachrichtenverkehr, Eisenbahnen), in: Festschrift Friauf, 1996, S. 251. 11 BMV/BMF, Privatisierungsvarianten der Deutschen Bahn AG „mit und ohne Netz“, 2006, im Folgenden PRIMON-Gutachten. 12 Gersdorf, Art. 87e, (Fn. 10), Rdnr. 37. 13 Gersdorf, Art. 87f (Fn. 10), Rdnr. 60 f.; Möstl, Grundrechtsbindung öffentlicher Wirtschaftstätigkeit, 1999, S. 153 ff.; zu den Grenzen des prinzipiell gewollten Wettbewerbsprinzips im Postbereich: BVerfGE 108, S. 392 ff. 14 Gersdorf, Art. 87e (Fn. 10), Rdnr. 37, 50; Brosius-Gersdorf, Wettbewerb auf der Schiene?, DÖV 2002, S. 275 (281 ff.); Uerpmann, in: v. Münch/Kunig, Grund-

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wieweit ein funktionstüchtiger Wettbewerb auf der Schiene (zu den Schienenwegen selbst siehe unten III.) von Art. 87e GG gewollt und wie dieser ggf. zu regulieren ist, ist bei alledem eine Schlüsselfrage für das Verständnis des Art. 87e GG insgesamt: Nur von ihr her nämlich lässt sich erschließen, inwieweit den Eisenbahnen des Bundes zwischen den Polen Privatwirtschaftlichkeit und Gemeinwohlbindung im Vergleich zu etwaigen Wettbewerbern noch eine Sonderstellung zukommen soll (dazu unten II.) und inwieweit insbesondere das staatlich vorzuhaltende (vgl. Abs. 3 S. 3) Schienennetz besonderen Bindungen in Bezug auf die Herstellung eines funktionierenden Wettbewerbs auf der Schiene (Stichwort Netzzugang) unterliegt (dazu unten III.). Art. 87e GG lässt sich – so die hier vertretene These – sehr wohl eine implizite Grundentscheidung zugunsten einer prinzipiell wettbewerblichen Marktöffnung dergestalt entnehmen, dass Wettbewerbern der Deutschen Bahn AG, die aus eigener Kraft auf den Markt drängen wollen, der Marktzutritt nicht verwehrt bleiben oder unnötig erschwert werden darf; ausschließliche oder besondere Rechte der Deutschen Bahn AG (Sondervorteile im Wettbewerb) soll es grundsätzlich nicht geben.15 Für diese Sichtweise spricht schon die Entstehungsgeschichte; bereits die Entwurfsbegründung bekannte sich ausdrücklich zu einer Angleichung des Eisenbahnwesens an andere Verkehrsbereiche, in denen die Dienstleistungen – „dem Grundsatz des Wettbewerbs in einer der sozialen Marktwirtschaft verpflichteten Wirtschaftsordnung entsprechend“ – freien und unabhängigen Unternehmen vorbehalten seien.16 Beleg ist zum zweiten die begleitende Bahnreformgesetzgebung zu Art. 87e, die von Beginn an auf den diskriminierungsfreien Netzzugang gesetzt und sich damit für den Wettbewerb auf der Schiene entschieden hat.17 Es wäre verwunderlich, wenn die praktisch in einem Atemgesetz-Kommentar, Band 3, 5. Auflage 2003, Art. 87e, Rdnr. 10; Kühling, Sektorspezifische Regulierung in den Netzwerken. Typologie, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Wirtschaftsverfassungsrecht, 2004, S. 563 f. 15 Windthorst, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 2003, Art. 87e, Rdnr. 1; Gramm, Privatisierung und notwendige Staatsaufgaben, 2001, S. 138 f.; Hommelhoff/Schmidt-Aßmann, Die Deutsche Bahn AG als Wirtschaftsunternehmen. Zur Interpretation des Art. 87e Abs. 3 GG, ZHR 1996, S. 521 (533); Schmidt-Aßmann/Röhl, Grundpositionen (Fn. 1), S. 577 (581); Gaupp, Der Netzzugang im Eisenbahnwesen, 2004, S. 80; Fehling, Zur Bahnreform. Eine Zwischenbilanz im Spiegel erfolgreicherer „Schwesterreformen“, DÖV 2002, S. 793 (794); Wilkens, Wettbewerbsprinzip und Gemeinwohlorientierung bei der Erbringung von Eisenbahndienstleistungen. Zum Verhältnis von Art. 87e Abs. 3 und 4 GG, 2006, S. 173. Siehe auch BVerwG vom 17.5.2006, Az.: 6 C 22/04, Rz. 44. 16 BT-Drucks. 12/5015, S. 7. 17 § 14 AEG, Fromm, Die Reorganisation der deutschen Bahnen. Voraussetzungen für eine Neubestimmung des Standorts der Eisenbahnen in der Verkehrspolitik, DVBl. 1994, S. 187 (194).

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zug beschlossene Verfassungsänderung, durch die eben diese Bahnreform ermöglicht werden sollte, von einer gegenläufigen Grundentscheidung geprägt wäre.18 Von Bedeutung ist drittens die große Nähe und Verwandtschaft mit dem nur wenige Monate danach beschlossenen Art. 87f GG, die eher die Ziehung von Analogie- als von Umkehrschlüssen nahe legt; Art. 87e und Art. 87f GG wurzeln bei aller Unterschiedlichkeit im Detail doch in einem gemeinsamen Verfassungsboden,19 sie sind in grundsätzlich vergleichbarer Weise beide der Idee der Überführung eines von staatlicher und monopolistischer Leistungserbringung geprägten Daseinsvorsorgebereichs in das neue Ordnungsmodell eines unter staatlicher Regulierung und Gewährleistungsverantwortung stehenden Wettbewerbs verpflichtet.20 Entscheidender textlicher Anknüpfungspunkt ist viertens das ausdrückliche Bekenntnis zur privatwirtschaftlichen, gewinnorientierten Führung der Eisenbahnen des Bundes (Abs. 3 S. 1: „als Wirtschaftsunternehmen“); in einer marktwirtschaftlichen Ordnung kann das Bekenntnis zur Privatwirtschaftlichkeit grundsätzlich nur so gedeutet werden, dass damit zugleich ein Bekenntnis zu einer marktmäßigen, wettbewerblichen Leistungserbringung verknüpft ist;21 Privatwirtschaftlichkeit und Wettbewerb erscheinen als zwei Seiten ein und derselben Medaille.22 Das soeben Gesagte lässt sich fünftens auch grundrechtlich untermauern: Monopole oder sonstige Sondervorteile im Wettbewerb sind vor Art. 12 GG nur zu rechtfertigen, soweit sie von entsprechend gewichtigen Gemeinwohlgründen getragen sind;23 ein öffentliches 18 Zu den Grenzen einer interpretatorischen Anlehnung an die einfache Begleitgesetzgebung freilich Schmidt-Aßmann/Röhl, Grundpositionen (Fn. 1), S. 577 (578). 19 Lerche, Infrastrukturelle Verfassungsaufträge (Fn. 10), S. 251 f. 20 Berringer, Regulierung als Erscheinungsform der Wirtschaftsaufsicht, 2004, S. 51 ff., 63 ff.; Gaupp, Netzzugang (Fn. 15), S. 1 ff.; kennzeichnend ist jeweils, dass Wettbewerb insbesondere durch Netzzugang verwirklicht wird: Masing, Grundstrukturen eines Regulierungsverwaltungsrechts, Die Verwaltung 2003, S. 1 (10); Fehling, Mitbenutzungsrechte Dritter bei Schienenwegen, Energieversorgungs- und Telekommunikationsleitungen vor dem Hintergrund staatlicher Infrastrukturverantwortung, AöR 121 (1996), S. 59 ff. 21 Hommelhoff/Schmidt-Aßmann, Deutsche Bahn AG (Fn. 15), S. 521 (533); BTDrucks. 12/5015, S. 7; Ruge, Diskriminierungsfreier Netzzugang im liberalisierten Eisenbahnmarkt in Deutschland, AöR 131 (2006), S. 1 (12); Wilkens, Wettbewerbsprinzip (Fußn. 15), S. 173. 22 Dies gilt jedenfalls, soweit es an einer entgegenstehenden gesetzlichen Anordnung fehlt. Begrifflich und kraft spezieller Anordnung ist es freilich denkbar, sich eine privatwirtschaftliche, gewinnorientierte Tätigkeit auch in einem Monopol vorzustellen, vgl. BVerfGE 108, S. 370 (393). 23 Zum früheren Verwaltungsmonopol des Bundes: Badura, Das Verwaltungsmonopol, 1963, S. 217; Langer, Monopole als Handlungsinstrumente der öffentlichen Hand, 1998, S. 323. Zum „Eingriff durch Konkurrenz“: Scholz, in Maunz/ Dürig, Art. 12, Rdnr. 104, 401 ff.; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Art. 2 Abs. 1, Rdnr. 119 ff.; Möstl, Renaissance und Rekonstruktion des Daseinsvorsorgebegriffs

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Unternehmen indes, das im vollen Sinne privatwirtschaftlich agiert, jede eingestiftete besondere Gemeinwohlbindung verloren hat und sich insofern von potentiellen privaten Wettbewerbern in keiner Weise mehr unterscheidet, trägt auch keinerlei Legitimation für eine Sonderstellung im Wettbewerb (oder gar ein Monopol) mehr in sich. Etwas anderes folgt schließlich nicht daraus, dass Art. 87e im Sonderfall Schienennetz, wie der Schienenwegevorbehalt des Abs. 3 S. 3 zeigt, trotz Privatwirtschaftlichkeit offenbar nicht auf Wettbewerb, sondern auf eine im wesentlichen öffentliche Vorhaltung setzt; ganz im Gegenteil wird unter III. zu zeigen sein, dass der Schienenwegevorbehalt – durch den bei einem öffentlichen Netzbetreiber weitaus unproblematischer realisierbaren diskriminierungsfreien Netzzugang für jedermann – gerade den Zweck hat, einen funktionstüchtigen Wettbewerb auf der Schiene zu ermöglichen. Die bis hierher begründete Grundentscheidung für eine wettbewerbliche Marktöffnung besagt allein, dass der Staat – in Abkehr von den vormals monopolistischen Strukturen – die Pflicht hat, Wettbewerb dort, wo er lukrativ ist und aus eigener Kraft funktionieren kann, auch tatsächlich (insbesondere durch Gewährleistung entsprechender Netzöffnung, siehe unten III.) möglich zu machen; dies ist gleichsam die erste Dimension des Wettbewerbsprinzips, die von Art. 87e erfasst ist). Eine hiervon zu unterscheidende24 zweite – eher daseinsvorsorgerische – Frage ist es, ob der Staat dort, wo Wettbewerb (weil die entsprechenden Dienste nicht lukrativ sind) gerade nicht aus eigener Kraft entsteht oder nicht von sich aus die gewünschte Leistung erbringt und wo daher ein staatliches Eingreifen erforderlich wird, gehalten ist, seinen Gewährleistungsauftrag (Abs. 4) durch möglichst wettbewerbsfördernde oder -konforme Mittel einzulösen; dies ist die zweite Dimension des Wettbewerbsprinzips, die Frage nach einer Gewährleistung im und durch Wettbewerb. Die Antwort auf die Frage nach dieser zweiten Dimension des Wettbewerbsprinzips kann nicht darüber hinwegsehen, dass Art. 87e Abs. 4 S. 1 GG seinem insoweit eindeutigen Wortlaut nach den Gewährleistungsauftrag des Bundes ausschließlich auf die Eisenbahnen des Bundes (auf „deren Verkehrsangebote“ auf dem Schienennetz) bezieht und den Aspekt eines möglichen Wettbewerbs völlig ausklammert. Die so getroffene Weichenstellung kann nach hier vertretener Ansicht nur so verstanden werden, dass Art. 87e Abs. 4 sich nicht auf eine Einlösung des staatlichen Gewährleistungsauftrags gerade im und durch Wettbewerb festlegt, die zweite Dimension einer wettbewerbsorientierten Regulierung in strukunter dem Europarecht, in: Brenner/Huber/Möstl, Der Staat des Grundgesetzes – Kontinuität und Wandel, Festschrift für Peter Badura, 2004, S. 951 (963, 966). 24 Zur Unterscheidung dieser beiden Aspekte des Wettbewerbsprinzips (Marktöffnung durch Netzzugangsrechte auf lukrativen Strecken, Ausschreibungswettbewerb o. ä. in defizitären Bereichen: Fehling, Zur Bahnreform, (Fn. 15), S. 793 (794).

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turell defizitären Dienstleistungsbereichen also gerade nicht enthält. Art. 87e unterscheidet sich darin von Art. 87f, dessen allgemein gehaltener und auf den Wettbewerb nach Abs. 2 S. 1 bezogener Gewährleistungsauftrag des Abs. 1 zumindest in der Zielprojektion sehr deutlich das Ordnungsmodell eines gleichmäßig regulierten Wettbewerbs aufrichtet.25 Art. 87e lässt sich eine solche Zielprojektion nicht entnehmen, vielmehr erlaubt der insoweit allein auf die Eisenbahnen des Bundes zugeschnittene Gewährleistungsauftrag des Abs. 4 auch eine Einlösung gerade durch und mithilfe der Eisenbahnen des Bundes. Das Grundgesetz verpflichtet so z. B. nicht dazu, gemeinwirtschaftliche Leistungen, die nicht von alleine erbracht werden, auszuschreiben und so einen Markt zu schaffen, wo er nicht von alleine entsteht; vielmehr erlaubt er die Direktvergabe an die Deutsche Bahn AG.26 Ebenso wenig schließt es das Grundgesetz aus, die Eisenbahnen des Bundes, solange ihre prinzipielle Privatwirtschaftlichkeit des Abs. 3 S. 1 nur gewahrt bleibt, ggf. stärker für öffentliche Zwecke in Dienst zu nehmen als ihre privaten Konkurrenten. Die Eisenbahnen des Bundes genießen unter Art. 87e GG nach alledem keinen Schutz vor Wettbewerb, wo dieser aus eigener Kraft entstehen kann, sie sind im Wettbewerb insoweit nicht privilegiert. Einer besonderen Einbindung der Eisenbahnen des Bundes in gemeinwirtschaftliche Pflichten steht Art. 87e umgekehrt indes nicht prinzipiell entgegen; zu derartigen besonderen Belastungen greifen zu können, ist vielmehr eine Option, in der die Vorhaltung gerade eines öffentlichen Unternehmens ihre sachliche Rechtfertigung findet und die von Art. 87e Abs. 4 bewusst offen gehalten wird. II. Privatwirtschaftlichkeit und Gemeinwohlbindung Was den Status der Eisenbahnen des Bundes im Allgemeinen (die Besonderheiten des Netzbetreibers bleiben einstweilen ausgeklammert, dazu unten III.) anbelangt, wirft Art. 87e GG zuallererst die Frage auf, wie weit die von ihm intendierte Aufgabenprivatisierung reicht. Der Streit um die richtige Verortung der Eisenbahnen des Bundes zwischen den Polen Privatwirtschaftlichkeit und Gemeinwohlbindung, Staatsferne und -nähe wird seit der 25 Gersdorf, (Fn. 10), Art. 87f, Rdnr. 34, 61; Möstl, Grundrechtsbindungen (Fn. 13), S. 153 ff.; Brosius-Gersdorf, Wettbewerb auf der Schiene? (Fn. 14), S. 275 (276 ff.). 26 Auch § 15 Abs. 2 AEG verlangt dies nicht. Etwas anderes mag aus dem Europarecht folgen (zur Problematik der In-house-Vergabe im ÖPNV-Bereich z. B.: EuGH vom 6.4.2006, Az. C-410/04, NZB 2006, 326); auch hier will die Kommission die Direktvergabe als weiterhin zulässig ausgestalten (Vorschlag für eine Verordnung über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Schiene und Straße, KOM (2005) S. 319 endg.).

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Bahnreform geführt, ohne dass ein klarer Konsens erreicht worden wäre.27 Vor allem die Problemkreise „Grundrechtsbindung oder -berechtigung der Deutschen Bahn AG?“ sowie „Zulässigkeit/Gebotenheit einer gemeinwohlorientierten Eigentümereinwirkung?“ sind Streitfragen, in denen sich diese Unsicherheit manifestiert. Ausgangspunkt der Überlegungen hat die Weichenstellung des Art. 87e Abs. 3 S. 1 GG zu sein, nach der die Eisenbahnen des Bundes „als Wirtschaftsunternehmen“ zu führen sind. Diese zu dem formalen Kriterium „in privatrechtlicher Form“ hinzutretende materielle Maßgabe für die Unternehmensführung macht deutlich, dass über die bloße Organisationsprivatisierung hinaus auch eine Aufgabenprivatisierung intendiert ist: Die Erbringung von Eisenbahndiensten soll keine unmittelbar gemeinwohlgebundene Verwaltungsaufgabe des Bundes mehr sein (die dieser mittels eines öffentlichen Unternehmens erfüllt), sondern eine privatwirtschaftliche, d.h. nach Marktgesetzen, ohne besondere Gemeinwohlbindung und mit dem Ziel der Gewinnerzeilung betriebene Aufgabe privatrechtlicher Unternehmen (und mag an dem Unternehmen auch der Bund beteiligt sein).28 Dass mit der Festlegung „als Wirtschaftsunternehmen“ tatsächlich eine Entscheidung für eine prinzipiell ungeschmälerte Privatwirtschaftlichkeit der Eisenbahnen des Bundes beabsichtigt war, macht vor allem der Vergleich mit der vormaligen Rechtslage deutlich: Die alte Bundesbahn war nach § 28 Abs. 1 BbG nur „wie ein Wirtschaftsunternehmen“ zu führen und hatte in diesem Rahmen ihre „gemeinwirtschaftliche Aufgabe“ zu erfüllen. In deutlichem Kontrast hierzu sind die Eisenbahnen des Bundes nunmehr – ohne Abstriche und irgendeinen Verweis auf eine bleibende Gemeinwirtschaftlichkeit – „als Wirtschaftsunternehmen“ zu führen; den Primat soll die gewöhnliche, privatwirtschaftliche, auf Gewinnerzielung ausgerichtete Handlungsrationalität haben.29 Diese Zielsetzung war bereits in der Begründung des Regierungs27

Schmidt-Aßmann/Röhl, Grundpositionen (Fn. 1), S. 577. Gersdorf, (Fn. 10), Art. 87e, Rdnr. 45 ff.; Windthorst (Fn. 15), Art. 87e, Rdnr. 31, 37 ff.; Uerpmann, (Fn. 14), Art. 87e, Rdnr. 10; Schmidt-Aßmann/Röhl, Grundpositionen (Fn. 1), S. 577 (581); Ruge, Netzzugang (Fn. 21), S. 1 (12); Hommelhoff/Schmidt-Aßmann, Deutsche Bahn AG (Fn. 15), S. 521; Burger, Zuständigkeit und Aufgaben des Bundes für den öffentlichen Personennahverkehr nach Art. 87e GG, 1998, S. 66 f.; Kramer, Das Recht der Eisenbahninfrastruktur. Von der Staatsbahn zu privatwirtschaftlichen Wirtschaftsunternehmen, 2002, S. 70 ff.; Pommer, Bahnreform und Enteignung. Die Rückkehr der privatbegünstigenden Enteignung im Eisenbahnwesen, 2002, S. 89 ff. 29 Menges, Die Rechtsgrundlagen für die Strukturreform der Deutschen Bahnen, 1997, S. 62 f.; Wolf, Abschied von der Staatsbahn. Zur Reform der institutionellen Rahmenbedingungen für die Eisenbahnen in der europäischen Gemeinschaft, KJ 2003, S. 192 (203); Pommer, Bahnreform (Fn. 28), S. 90 f.; Reinhardt, Die Deutsche Bahn AG – Von der öffentlich-rechtlichen zur privatrechtlichen Zielsetzung in Unternehmen der öffentlichen Hand, ZGR 1996, S. 374 (376). 28

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entwurfs zum Ausdruck gekommen, der betont hatte, das Erbringen von Eisenbahnverkehrsdienstleitungen solle keine Verwaltungsaufgabe des Bundes mehr sein30 und auf diese Weise ein Konzept der strikten Unterscheidung und Trennung von Unternehmens- und Verwaltungsaufgaben verfolgte.31 Diese Grundentscheidung konnte auch im weiteren Gesetzgebungsverfahren nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt werden, namentlich auch nicht durch die Hinzufügung des Gewährleistungsauftrags des Abs. 4, der, indem er zwischen Gewährleistungspflicht des Bundes und Verkehrsangeboten der Unternehmen trennt, seinerseits diesem Prinzip der Unterscheidung verpflichtet ist. Für die Eisenbahnen des Bundes bedeutete diese Grundentscheidung einen fundamentalen Wechsel der Entscheidungsrationalität, einen prinzipiellen Wechsel im Primärziel:32 An die Stelle des Primats dominierender Leistungsstaatlichkeit und einer von vornherein eingestifteten Gemeinwirtschaftlichkeit tritt nunmehr das Primärziel der Erwerbswirtschaftlichkeit und Gewinnerzielung. Weder kraft Verfassung unterliegen die Eisenbahnen einer von vornherein eingestifteten Gemeinwohlbindung, noch darf ihnen eine derartige prinzipielle Gemeinwohlbindung durch Gesetz oder Unternehmenssatzung auferlegt werden.33 In einem zweiten Schritt ist die Grundentscheidung für die Privatwirtschaftlichkeit der Unternehmen ins Verhältnis zu setzen mit der Weichenstellung des Abs. 4 Satz 1 zugunsten eines fortbestehenden Gewährleistungsauftrags des Bundes, der den Eisenbahnsektor – trotz Wechsel zur Privatwirtschaftlichkeit – jedenfalls nicht vollständig aus der staatlichen Verantwortung entgleiten lässt und hierbei – trotz der Betonung der aus ihm folgenden „politischen Verantwortung“ in dem Bericht des Rechtsausschusses34 – von der Literatur einhellig als eine Festlegung mit auch rechtlicher Bindungskraft angesehen wird.35 Freilich wird man zwischen Privatwirt30

BT-Drucks. 12/5015, S. 6 f. Schmidt-Aßmann/Röhl, Grundpositionen (Fn. 1), S. 577 (578); Hommelhoff/ Schmidt-Aßmann, Deutsche Bahn AG (Fn. 15), 521 (525); Fehling, Zur Bahnreform (Fn. 15), S. 793 (795 f.); Pommer, Bahnreform (Fn. 28), S. 86 ff.; Knauff, Der Gewährleistungsstaat: Reform der Daseinsvorsorge. Eine rechtswissenschaftliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung des ÖPNV, 2004, S. 237. 32 Hommelhoff/Schmidt-Aßmann, Deutsche Bahn AG (Fn. 15), S. 521 (532 ff.); Fehling, Zur Bahnreform (Fn. 15), S. 793 (796). 33 Wilkens, Wettbewerbsprinzip (Fn. 15), S. 169. 34 BT-Drucks. 12/6880, S. 8. 35 Gersdorf (Fn. 10), Art. 87e, Rdnr. 69; Windthorst (Fn. 15), Art. 87e, Rdnr. 50; Pieroth, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 8. Auflage 2006, Art. 87e, Rdnr. 7; Sommer, Staatliche Gewährleistung im Verkehrs-, Post- und Telekommunikationsbereich. Zur Interpretation der Gewährleistungsnormen der Art. 87e Abs. 4 und 87f Abs. 1 GG im System verfassungsrechtlicher Leistungspflichten, 2000, S. 68 ff.; Lerche, Infrastrukturelle Verfassungsverträge (Fn. 10), S. 251 31

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schaftlichkeit (Abs. 3 S. 1) und Gewährleistungsauftrag (Abs. 4 S. 1) keinen prinzipiellen Gegensatz erblicken können. Der Gewährleistungsauftrag ist, wie bereits erwähnt, seinerseits dem Prinzip der Unterscheidung von Verwaltungs- und Unternehmensaufgaben verpflichtet; er folgt, nicht anders als die Parallelnorm des Art. 87f GG, dem für den modernen „Gewährleistungsstaat“ typisch gewordenen Leitbild staatlicher Gewährleistung eines privatwirtschaftlichen Diensteangebots; nicht dagegen hat er zum Zweck, die prinzipielle Leistungsstaatlichkeit der Eisenbahnen des Bundes gleichsam durch die Hintertür wieder einzuführen36 und die als Bundesaufgabe gedachte Gewährleistungspflicht unversehens zu einer Unternehmensaufgabe zu machen. Und dennoch: Der Bund kann seinem Gewährleistungsauftrag in all den Fällen, in denen der privatwirtschaftliche Markt das gewünschte Leistungsniveau nicht erbringt, nur dadurch nachkommen, dass er auf die Unternehmen einwirkt und sie im Gemeinwohlinteresse mit Pflichten betraut (einseitig oder konsensual, mit oder ohne Entschädigung/Vergütung), die diese von sich aus nicht erfüllen. Jede Maßnahme der Einlösung des Gewährleistungsauftrags trägt in diesem Sinne unweigerlich ein Element der Modifikation reiner Privatwirtschaftlichkeit in sich; reine Privatwirtschaftlichkeit wird um ein Element der Indienstnahme für öffentliche Zwecke ergänzt. Mit der Grundentscheidung des Abs. 3 S. 1 zugunsten prinzipieller Privatwirtschaftlichkeit kann dies, will man die innere Stimmigkeit des Art. 87e GG nicht aufbrechen, nicht von vornherein unvereinbar sein; aber wo liegen die Grenzen, wie weit dürfen die Eisenbahnen des Bundes für öffentliche Zwecke instrumentalisiert werden? Als zulässig müssen zunächst solche Gemeinwohlbindungen der Eisenbahnen des Bundes angesehen werden, die (über das bloße Faktum staatlicher Veranlassung und die schon in ihm liegende Ergänzung reiner Privatwirtschaftlichkeit hinaus) im Ergebnis keine substantielle Abweichung vom Privatwirtschaftlichkeitsprinzip bedeuten und in diesem Sinne als „privatwirtschaftlichkeitskonform“ bezeichnet werden können. Gemeint sind zum einen Bindungen, denen rein private (d.h. ganz unstreitig privatwirtschaftliche) Unternehmen in gleicher Weise unterliegen oder unterworfen werden können, denn Bindungen, die im Allgemeinen gelten und auch bei rein privaten Akteuren zulässig sind, ohne deren Privatwirtschaftlichkeit in Frage zu stellen, können auch bei öffentlichen Unternehmen nicht als Verletzung des Grundsatzes privatwirtschaftlicher Führung angesehen werden. Gemeint sind zum anderen Bindungen, die vom Staat angemessen entgolten oder entschädigt werden und aus diesem Grund keinen substan(256 ff.); Burger, Zuständigkeit (Fn. 28), S. 100 f.; Kühling, Sektorspezifische Regulierung (Fn. 14), S. 558; Wilkens, Wettbewerbsprinzip (Fn. 15), S. 47 ff. 36 Ähnlich für den Postbereich: Lerche in: Maunz/Dürig, Art. 87f, Rdnr. 66.

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tiellen Abstrich von einer Handlungsrationalität gewinnorientierter Privatwirtschaftlichkeit bedeuten. Im Einzelnen sind folgende Fallgruppen zu unterscheiden: – Ohne weiteres zulässig sind (sich in den allgemeinen grundrechtlichen Grenzen haltende) Maßnahmen der allgemeinen Indienstnahme des Marktes für öffentliche Zwecke, denen die Eisenbahnen des Bundes in gleicher Weise unterliegen wie ihre privaten Konkurrenten.37 Mit Art. 87e Abs. 3 Satz 1 vereinbar ist daher die gesamte Palette unterschiedslos geltender Steuerungstechniken modernen Regulierungsverwaltungsrechts, wie es zur Einlösung staatlicher Gewährleistungsaufträge üblich geworden ist. – Zulässig ist des weiteren die im Eisenbahnrecht besonders wichtige Steuerungstechnik der Vereinbarung oder Auferlegung gemeinwirtschaftlicher Leistungen gemäß § 15 AEG, VO (EWG) Nr. 1191/69.38 Diese Form des staatlichen „Leistungseinkaufs“ erfolgt stets gegen Entgelt oder angemessenen Ausgleich und sprengt so gesehen in keiner Weise den Grundgedanken erwerbsorientierter Eigenwirtschaftlichkeit. – Als privatwirtschaftlichkeitskonform und zulässig müssen schließlich auch Maßnahmen der gemeinwohlorientierten Eigentümereinwirkung des Bundes auf seine Eisenbahnen angesehen werden, die sich in den allgemeinen Grenzen des Gesellschafts- und Konzernrechts halten (und halten müssen). Die Frage nach gemeinwohlorientierten Einwirkungsrechten und -pflichten des Bundes im Rahmen des Art. 87e ist in hohem Maße streitig.39 Richtigerweise wird man im Ausgangspunkt nicht bestreiten können, dass Einwirkungsmöglichkeiten kraft Eigentümerstellung (soweit sie existieren) ein legitimes Mittel zur Einlösung des Gewährleistungsauftrags nach Abs. 4 darstellen.40 Andererseits wird man daran festhalten müssen, dass der Bund nach geltender Rechtslage im Bahnbereich über keine gesteigerten Einwirkungsrechte auf seine Unternehmen verfügt, als dies das allgemeine Gesellschafts- und Konzernrecht zulässt.41 Hieraus 37

Hierzu allgemein: Möstl, Grundrechtsbindung (Fn. 13), S. 118 ff. Wilkens, Wettbewerbsprinzip (Fn. 15), S. 152 ff.; Hommelhoff/Schmidt-Aßmann, Deutsche Bahn AG (Fn. 15), 521 (552). 39 Zum Streitstand mit weiteren Nachweisen: Wilkens, Wettbewerbsprinzip (Fn. 15), S. 120 ff.; Menges, Rechtsgrundlagen (Fn. 29), S. 58 ff., 154 ff.; Burger, Zuständigkeit (Fußn. 28), S. 71 ff. 40 Windthorst (Fn. 15), Art. 87e, Rdnr. 54. Der Bundesrat sah den Gewährleistungsauftrag auch als Maßgabe für die Ausübung der Eigentümerrechte (BT-Drucks. 12/5015, S. 11). 41 Ein Verwaltungsgesellschaftsrecht (dazu v. Danwitz, Vom Verwaltungsprivatzum Verwaltungsgesellschaftsrecht – Zur Begründung und Reichweite öffentlichrechtlicher Ingerenzen in der mittelbaren Kommunalverwaltung, AöR 120 [1995], S. 595), das generell zu einer Überlagerung zivilrechtlicher Grenzen führte, ist ab38

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folgt eine entscheidende Grenze: Zu nachteiligen Maßnahmen darf das herrschende Unternehmen (hier der Bund) das abhängige Unternehmen nach Konzernrecht nicht veranlassen, ohne den Nachteil auszugleichen (§ 311 AktG) oder Schadensersatz zu leisten (§ 317 AktG). Was ein Nachteil ist, bestimmt sich wiederum nach dem Unternehmenszweck, wobei es hier von ganz elementarer Bedeutung ist, dass, wie oben dargelegt, der Unternehmenszweck der Eisenbahnen des Bundes gerade nicht mehr mit einer prinzipiellen, d. h. von vornherein eingestifteten Gemeinwohlbindung belastet sein darf. Gemeinwohlorientierte Eigentümereinwirkung, die sich – gemessen am Primärziel der Erwerbs- und Privatwirtschaftlichkeit – als für das Unternehmen nachteilig herausstellt, ist demnach allein gegen entsprechende „Entschädigung“ zulässig. Erneut wird der Grundgedanke der Privatwirtschaftlichkeit auf diese Weise im Ergebnis nicht gesprengt. Über die bis hierher dargestellten „privatwirtschaftlichkeitskonformen“ Mittel der Einlösung des Gewährleistungsauftrags hinaus sollte es nach hier vertretener Ansicht auch nicht als von vornherein unzulässig angesehen werden, den Eisenbahnen des Bundes ggf. auch einmal Sonderlasten ohne entsprechenden Nachteilsausgleich aufzuerlegen, soweit dies (dies allerdings wäre nachzuweisen) zur Einlösung des Gewährleistungsauftrags erforderlich ist und das Grundgepräge der Privatwirtschaftlichkeit (d.h. die Möglichkeit eines insgesamt rentablen Betriebs) nicht in Frage gestellt wird. Derartige Abweichungen vom Privatwirtschaftlichkeitsprinzip werden zum Teil als selbstverständlich unzulässig angesehen;42 in der Tat spielen sie in der gegenwärtigen Gesetzgebungspraxis (namentlich in dem um gleichmäßige Regulierung bemühten AEG) auch keine besondere Rolle. Und doch erscheint eine kategorische Ablehnung vorschnell. Im Sinne praktischer Konkordanz ist es durchaus denkbar, dass der Gewährleistungsauftrag auch zu einem echten Ausgleich mit dem (insofern Einbußen erleidenden) Privatwirtschaftlichkeitsprinzip gebracht werden muss; das Privatwirtschaftlichkeitsprinzip kann in dem strukturell gegenläufigen Gewährleistungsauftrag an Grenzen stoßen.43 Auch ist unter I. gezeigt worden, dass der Gewährleistungsauftrag zulehnen (dazu Möstl, Grundrechtsbindung (Fn. 13), S. 25 ff.); die entsprechende Lehrmeinung hat sich nicht durchgesetzt. Auch Art. 87e lässt nicht erkennen, dass gesteigerte Einwirkungsrechte von Verfassungs wegen existieren müssten (vielmehr gibt es genügend andere Möglichkeiten der Einlösung der Gewährleistungspflicht); im Gegenteil legt die Formulierung des Abs. 3 S. 1 („in privat-rechtlicher Form“) nahe, dass grundsätzlich die zivilrechtlichen Grenzen gelten. 42 Wilkens, Wettbewerbsprinzip (Fn. 15), S. 176, 190; Pommer, Bahnreform (Fn. 28), S. 138. 43 Bzgl. Art. 87f GG hat das BVerfG etwa formuliert, das Ziel privatwirtschaftlichen Wettbewerbs stehe „unter dem Vorbehalt“ des Gewährleistungsauftrags; BVerfGE 108, S. 370 (392 f.).

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des Abs. 4 ausschließlich auf die Eisenbahnen des Bundes zugeschnitten ist und den Gesetzgeber deswegen nicht zu einer gleichmäßigen Regulierung verpflichtet, sondern die Eisenbahnen des Bundes mit einer potentiell besonderen Pflichtigkeit belegt, die der Gesetzgeber durch Auferlegung entsprechender Sonderlasten konkretisieren darf. Die sehr umstrittene Frage nach Grundrechtsberechtigung oder -bindung der Eisenbahnen des Bundes44 ist im Lichte des bis hierher Gesagten zu beantworten. Geht man davon aus, dass öffentliche (d.h. staatlich beherrschte) Unternehmen nur insoweit grundrechtsgebunden/nicht grundrechtsfähig sind, als sie in einer das Niveau der der allgemeinen Indienstnahme des Marktes hinausgehenden Weise durch Gesetz, Satzung oder Vertrag an öffentliche Zwecke gebunden sind und in diesem Sinne durch einen entsprechenden Betrauungsakt in die staatliche Aufgabenwahrnehmung eingeschaltet wurden,45 so ergibt sich folgendes Bild: Im Ausgangspunkt kann die Grundentscheidung zugunsten einer aufgabenprivatisierten Privatwirtschaftlichkeit nur als gleichzeitige Grundentscheidung zugunsten eines prinzipiellen Wegfalls der Grundrechtsbindung und korrespondierenden Hineinwachsens in die Grundrechtsfähigkeit verstanden werden.46 Zu partiellen Grundrechtsbindungen kann es indes kommen, soweit die Eisenbahnen des Bundes mit einer besonderen Bindung an öffentliche Zwecke belegt worden sind, die ihre Konkurrenten so nicht trifft, sei es im Wege der besonderen Vereinbarung oder Auferlegung gemeinwirtschaftlicher Pflichten (§ 15 AEG), sei es im Wege der ausgleichspflichtigen Eigentümereinwirkung (§ 311 AktG) oder sei es durch sonstige, nicht ausgleichspflichtige Sonderbindungen, soweit diese, wie gezeigt, zulässig sein können.

44 Für Grundrechtsberechtigung: Lang, Die Grundrechtsberechtigung der Nachfolgeunternehmen im Eisenbahn-, Post- und Telekommunikationswesen, NJW 2004, S. 3601; Uerpmann (Fn. 14), Art. 87e, Rdnr. 10; Vesting (Fn. 10), Art. 87e, Rdnr. 40; Ruge, Netzzugang (Fn. 21), S. 1 (15 f.); Pommer, Bahnreform (Fn. 28), S. 150 ff.; für Grundrechtsbindung: Jochum, Die Grundrechtsbindung der deutschen Bahn, NVwZ 2005, S. 779; Battis/Kersten, Die Deutsche Bahn AG als staatliches Wirtschaftsunternehmen zwischen Grundrechtsverpflichtung, Gemeinwohlauftrag und Wettbewerb, WuW 2005, S. 493; differenzierend: Gersdorf (Fn. 10), Art. 87e, Rdnr. 52 ff.; Wilkens, Wettbewerbsprinzip (Fn. 15), S. 141 ff., 180 ff.; Windthorst, (Fn. 15), Art. 87e, Rdnr. 52a; Kühling, Regulierung (Fn. 14), S. 470 ff.; Menges, Rechtsgrundlagen (Fn. 29), S. 145 ff. 45 Diese Kriterien habe ich in Möstl, Grundrechtsbindung (Fn. 13) entwickelt und näher dargelegt. 46 So für den Parallelfall Telekommunikation: BVerwGE 114, S. 160 (189); BVerwG, DVBl. 2004, S. 62 (65 [hier zu Recht vor allem auf funktionale Kriterien – Privatwirtschaftlichkeit – abstellend]); s. a. BVerfG v. 14.3.2006, Az. 1 BvR 2087/03 und 2111/03, Rz. 72, DVBl. 2006, S. 694.

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III. Netz und Verkehr Die Fragen einer Unterscheidung und Trennung von Netz und Verkehr sowie die Anschlussfrage, inwieweit Art. 87e GG dem Netz einen besonderen Status zuweist und es mit einer besonderen Pflichtenbindung versieht, sind derzeit besonders virulent. Sie stellen sich etwa, wenn es um die Zulässigkeit der intensiv ausgeprägten Netzzugangsregulierung (§§ 14–14f AEG) geht, wenn Fragen der organisatorischen Trennung und Unabhängigkeit des Betreibers der Schienenwege im Raum stehen (§§ 9, 9a AEG; Art. 6 Abs. 3 Richtlinie 91/440/EWG; Art. 4 Abs. 2, 14 Abs. 2 Richtlinie 2001/14/EG) oder wenn – wie im Jahr 2006 – darüber gestritten wird, ob die Deutsche Bahn AG mit oder ohne Netz (d. h. als integriertes Unternehmen oder auf der Basis eines Trennungsmodells) an die Börse gehen soll. Anders als das alte Verfassungsrecht (Art. 87 Abs. 1 a. F. GG), das die Materie „Bundeseisenbahnen“ noch als einen einheitlichen Regelungsgegenstand begriffen hatte, liegt dem neuen Verfassungsrecht, namentlich den Art. 73 Abs. 1 Nr. 6a und 87e Abs. 3 und 4 GG, das Prinzip einer Unterscheidung der Dienstleistungsbereiche Netz und Verkehr zugrunde.47 Zumindest der prinzipiellen Stoßrichtung nach aufgegriffen wird damit ein Grundgedanke des Europarechts, das in der Separierung von Netz und Verkehr und in der Gewährleistung eines diskriminierungsfreien Netzzugangs einen zentralen Reglungsansatz sieht. Das Grundgesetz mag diesen Gedanken nicht mit derselben Schärfe und Konsequenz verfolgen wie das Europarecht, die grundlegende Weichenstellung, dass das Betreiben von Schienenwegen eine von den Verkehrsdienstleistungen auf diesen Schienenwegen zu unterscheidende Dienstleistung darstellt, die – auch im Falle der Beibehaltung integrierter Unternehmensstrukturen aus Netz und Verkehr – grundsätzlich gesondert entgolten werden muss (siehe auch Art. 73 Abs. 1 Nr. 6a GG: „Erhebung von Entgelten“) und als eigenständige Dienstleistung grundsätzlich auch anderen Verkehrsanbietern offenzustehen hat, kommt auch bereits im Grundgesetz mit seiner klar ausgesprochenen Unterscheidung von Netz und Verkehr zum Ausdruck. Art. 87e GG unterscheidet Netz und Verkehr nicht nur, es weist dem Netz auch eine Sonderstellung zu. Wesentlich ist hierbei zum einen der Schienenwegevorbehalt des Abs. 3 S. 3, der den Bund zwingt, dauerhaft die Anteilsmehrheit an seinen Eisenbahnen zu halten, soweit deren Tätigkeit den Bau, die Unterhaltung und das Betreiben von Schienenwegen umfasst, sowie zum anderen die Tatsache, dass hieraus im Infrastrukturbereich 47 Wilkens, Wettbewerbsprinzip (Fn. 15), S. 35; Uerpmann (Fn. 14), Art. 87e, Rdnr. 11; Windthorst (Fn. 15), Art. 87e, Rdnr. 3.

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(anders als im Verkehrsbereich, wo mit der mehrheitlichen Kapitalprivatisierung auch der Gewährleistungsauftrag wegfällt) mittelbar auch ein dauerhafter, d. h. unaufgebbarer, auf „Ausbau und Erhalt des Schienennetzes“ gerichteter Gewährleistungsauftrag des Bundes gemäß Abs. 4 folgt. Insgesamt bringt Art. 87e auf diese Weise eine Grundentscheidung für ein dauerhaft durch ein öffentliches Unternehmen, d. h. mittelbar staatlich vorzuhaltendes hinreichend funktionstüchtiges Schienennetz zum Ausdruck.48 Die so umrissene Sonderstellung des Netzes besteht nicht ohne Grund, sondern findet ihre sachliche Rechtfertigung in entsprechenden tatsächlichen Eigenarten des Netzes: einer Sonderfunktion, die dem Netz innerhalb des Eisenbahnwesens tatsächlich und unweigerlich zukommt. Der Schienenwegevorbehalt mag auf verschlungenem Wege Eingang in das Grundgesetz gefunden haben, mit seiner dem Netz zugebilligten Sonderfunktion fügt er sich nichtsdestoweniger stimmig in das Gesamtsystem des von Art. 87e konstituierten Eisenbahnwesens ein.49 Vor allem zwei Aspekte, die je einen spezifischen Bezug zum Wettbewerbsprinzip umreißen, sind es, die die Sonderstellung des Netzes ausmachen: – Zum einen die Erkenntnis, dass ein funktionierender privatwirtschaftlicher Wettbewerb im Netzbereich selbst (Stichwort „natürliches Monopol“;50 Abhängigkeit von öffentlichen Geldern51) nicht möglich sein wird. – Zum anderen die Schlüsselstellung, die der Netzbewirtschaftung für einen funktionierenden Wettbewerb auf dem Netz zukommt. Es ist die übereinstimmende Erkenntnis jeglichen modernen Rechts der Regulierung von Netzwirtschaften, dass nur durch Gewährleistung eines diskriminierungsfreien Netzzugangs für alle Anbieter (für integrierte Unternehmen bedeutet dies eine nicht vorrangig privatnützige Netznutzung!) ein funktionierender Wettbewerb auf dem Netz hergestellt werden kann.52 Im Falle integrierter Unternehmen kann dies Vorschriften organisatorischer Separierung, ein Regime intensiver Regulierung bis hin zur Auslagerung 48

Uerpmann (Fn. 14), Art. 87e, Rdnr. 16. Hermes, in: Deutscher Bundestag, Verkehrsausschuss, Protokoll Nr. 16/14, S. 17. 50 Wilkens, Wettbewerbsprinzip (Fn. 15), S. 101 ff.; Gersdorf, Marktöffnung im Eisenbahnsektor, in: Schmidt-Aßmann/Dolde (Hrsg.), Beiträge zum öffentlichen Wirtschaftsrecht: Verfassungsrechtliche Grundlagen, Liberalisierung und Regulierung, öffentliche Unternehmen, 2005, S. 131 (156); Masing, Grundstrukturen (Fn. 20), S. 1 (11). 51 Wilkens, Wettbewerbsprinzip (Fn. 15), S. 31; Hermes, in Deutscher Bundestag (Fn. 49), S. 17. 52 Gersdorf, Marktöffnung (Fn. 50), S. 131 (156); Kühling/Ernert, Das neue Eisenbahnwirtschaftsrecht – Hochgeschwindigkeitstrasse für den Wettbewerb?, NVwZ 2006, S. 33; Masing, Grundstrukturen (Fn. 20), S. 1 (6, 10); Fehling, Mitbenutzungsrechte (Fn. 20), S. 59 ff. 49

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zentraler unternehmerischer Entscheidungen auf unabhängige Stellen zur Folge haben, die einen schweren Eingriff in die unternehmerische Freiheit bedeuten. Während derartige Eingriffe gegenüber echten Privatunternehmen zwar nicht von vornherein unzulässig, aber doch stets problematisch sein werden, liegt es auf der Hand, dass es für den Wettbewerb ein erheblicher Vorteil sein kann, wenn ein von vornherein dem freien Wettbewerb gewidmetes Netz öffentlich, d. h. vom Staat bzw. einem öffentlichen Unternehmen vorgehalten wird (vgl. paradigmatisch das dem Gemeingebrauch gewidmete Straßennetz). Was folgt aus dem bis hierher Gesagten für die Frage nach Privatwirtschaftlichkeit und Gemeinwohlbindung des Netzbetreibers? Sind Eisenbahnen des Bundes als Netzbetreiber im gleichen Maße voll privatwirtschaftlich wie als Verkehrsunternehmen oder aber unterliegen sie – dem Sonderstatus des Netzes entsprechend – einer irgendgearteten besonderen Gemeinwohlbindung? Ausgangspunkt der Überlegungen kann hierbei nur sein, dass Art. 87e Abs. 3 S. 1 GG sein Gebot der Führung „als Wirtschaftsunternehmen“, d. h. einer prinzipiell privatwirtschaftlichen Entscheidungsrationalität ohne Unterschied für Verkehrs- und Netzbetriebe des Bundes statuiert. Auch der Schienenwegevorbehalt der Sätze 2 und 3 soll diese Grundweichenstellung nicht in Frage stellen, vielmehr bekräftigt er die Eigenschaft eines „Wirtschaftsunternehmens“ noch einmal ausdrücklich. In der Tat dürfte der kompromisshafte Ausgleich53 zur weitergehenden Forderung des Bundesrates, das Schieneneigentum ganz beim Bund zu belassen und als staatliche Aufgabe zu bewirtschaften, genau darin liegen, dass der eigentumsrechtliche Vorbehalt eben nicht auf die Schienenwege an sich oder auf ein bloß „verwaltendes“ (d. h. verwaltungsmäßig operierendes) Unternehmen, sondern gerade auf ein privatwirtschaftlich agierendes Infrastrukturunternehmen des Bundes bezogen wurde. Wenn demnach die Vermutung für die Privatwirtschaftlichkeit spricht, so fragt sich andererseits natürlich, ob es der gewollten Privatwirtschaftlichkeit nicht schlichtweg an den hierzu erforderlichen Voraussetzungen mangelt. Was bedeutet „Privatwirtschaftlichkeit“, wenn Netzausbau und Netzbewirtschaftung in so hohem Maße von öffentlichen Geldern abhängig sind; wird der finanziell vom staatlichen Zuwendungen abhängige Netzbetreiber jemals ein „echter Unternehmer“ sein können?54 Fehlt es nicht auch am notwendigen oder zumindest natürlichen Pendant jeglicher Privatwirtschaftlichkeit, dem Wettbewerb; muss es nicht als zumindest problematisch erscheinen, dass ein „privatwirtschaftliches“ Unternehmen mit faktischem Monopol55 in den Markt entlas53 54 55

Vgl. BT-Drucks. 12/6280, S. 8; zuvor BT-Drucks. 12/5015, S. 11, 16. Zweifelnd: Hermes, in Deutscher Bundestag (Fn. 49), S. 17. Wilkens, Wettbewerbsprinzip (Fn. 15), S. 91.

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sen wird? Hinzu kommt ein Zweites: Der Schienenwegevorbehalt, d. h. die Entscheidung dafür, das Netz dauerhaft mittelbar staatlich, durch ein öffentliches Unternehmen vorzuhalten, muss irgendeinen Sinn haben. Worin aber kann dieser Sinn staatlichen Eigentums bestehen, als darin, dass man sich durch die staatliche Eigentümerstellung im Vergleich zu einem rein privaten Unternehmen einen sichtbaren Mehrwert in den Bezug auf eine gemeinwohlverträgliche Aufgabenerfüllung durch das Unternehmen erwartet?56 Muss daher nicht doch von irgendeiner besonderen, dem Unternehmen eingestifteten immanenten Gemeinwohlbindung ausgegangen werden, die sich von jenen Methoden externer Regulierung abhebt, wie sie gegenüber jedem privaten Unternehmen zulässig wären? Eine Antwort auf die so aufgeworfenen Fragen57 kann nach hier vertretener Ansicht nur gelingen, wenn man zwei Aspekte der Unternehmenstätigkeit des Netzbetreibers auseinander hält, in denen die Prinzipien Privatwirtschaftlichkeit und Gemeinwohlbindung in unterschiedlicher Weise verwirklicht sind: Der eine – unter Daseinsvorsorgegesichtspunkten zentrale – Aspekt betrifft die grundsätzliche Frage, in welchem Umfang und zu welchen allgemeinen Bedingungen das bundeseigene Infrastrukturunternehmen ein funktionstüchtiges Netz erhält oder vorhalten muss. Hinsichtlich dieser Frage – der eigentlichen Grundfrage nach der Privatwirtschaftlichkeit oder Gemeinwohlbindung der Netzbereitstellung – sind nach hier vertretener Ansicht keine prinzipiellen Abstriche von dem in Art. 87e Abs. 3 Satz 1 normierten Privatwirtschaftlichkeitsprinzip zu machen.58 Der öffentliche Netzbetreiber soll grundsätzlich allein nach Rentabilitätsgesichtspunkten, und ohne dass er von vornherein an eine irgendgeartete Daseinsvorsorgeaufgabe oder besondere Gemeinwohlverantwortung gebunden wäre, über Fragen der Leistungsbereitstellung, insbesondere über Fragen des Zuschnitts des Netzes (Instandhaltung, Ausbau, Stilllegung etc.) entscheiden. Will der Bund in 56 In diese Richtung z. B. Menges, Rechtsgrundlagen (Fn. 29), S. 152, 195; Kühling, Regulierung (Fn. 14), S. 555 (letztlich verneinend); a. A. z. B. Gersdorf (Fn. 10), Art. 87e, Rdnr. 49; Pommer, Bahnreform (Fn. 28), S. 97 ff. 57 Vgl. den Überblick über den Meinungsstand bei Wilkens, Wettbewerbsprinzip (Fn. 15), S. 119 ff. 58 Für Privatwirtschaftlichkeit trotz Schienenwegevorbehalts: Gersdorf (Fn. 10), Art. 87e, Rdnr. 49, 75; Wilkens, Wettbewerbsprinzip (Fn. 15), S. 119 ff.; Hommelhoff/Schmidt-Aßmann, Deutsche Bahn AG (Fn. 15), S. 521 (528, 534); Pommer, Bahnreform (Fn. 28), S. 122 ff.; Brosius-Gersdorf, Wettbewerb auf der Schiene? (Fn. 14), S. 275 (280); für besondere Gemeinwohlbindungen: Windthorst (Fn. 15), Art. 87e, Rdnr. 3, 39, 47, 52, 54; Menges, Rechtsgrundlagen (Fn. 29), S. 58 ff.; Knauff, Gewährleistungsstaat (Fn. 31), S. 240; undeutlich Stender-Vorwachs, Staatliche Verantwortung für gemeinverträglichen Verkehr auf Straße und Schiene nach deutschem und europäischem Recht, 2005, S. 195 f.

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Einlösung der ihn (und nicht das Unternehmen!) treffenden Infrastrukturverantwortung nach Art. 87e Abs. 4 eine dem wirtschaftlichen Eigeninteresse des Netzbetreibers widersprechende Leistungsbereitstellung sicherstellen, so muss er dies in den allgemein bestehenden Grenzen (siehe oben unter II.), d. h. zumeist gegen entsprechenden finanziellen Ausgleich (wie er im Infrastrukturbereich vor allem im SchWAbG geregelt ist) gesondert gegenüber dem Unternehmen durchsetzen. Für diese Lösung sprechen nicht allein die bereits genannten Wortlautargumente, sondern auch die Entstehungsgeschichte.59 Die Bundesregierung/Regierungsmehrheit hatte gegenüber dem Bundesrat noch einmal betont, der Netzbetreiber dürfe kein bloß „verwaltendes“, sondern müsse ein wirtschaftlich handelndes Unternehmen sein. Hiermit hat sie sich auch durchgesetzt, da der vom Bundesrat geforderte eigentumsrechtliche Vorbehalt, wie bereits erwähnt, eben nicht auf die Schienenwege an sich oder einen verwaltungsmäßigen Betreiber, sondern ausdrücklich auf ein „Wirtschaftsunternehmen“ bezogen wurde. Der andere – unter Wettbewerbsgesichtspunkten zentrale – Aspekt betrifft die speziellere Frage, inwieweit der öffentliche Netzbetreiber sein Netz, falls er zugleich Verkehrsdienstleistungen anbietet (integriertes Unternehmen), vorrangig für eigene Nutzungen reservieren darf oder aber verpflichtet ist, dieses diskriminierungsfrei auch konkurrierenden Diensteanbietern zur Verfügung zu stellen. Zu dieser Frage soll die These aufgestellt werden, dass der staatliche Netzbetreiber in der Tat einer verfassungsimmanenten Pflicht zur diskriminierungsfreien Netzöffnung unterliegt. Hält man sich erstens vor Augen, dass die Entscheidung für ein dauerhaft staatliches Eigentum am Netzbetreiber einen bestimmten Sinn haben muss, nimmt man zweitens hinzu, welch herausragende Bedeutung dem Netz und einem diskriminierungsfreien Netzzugang für die Schaffung eines funktionierenden Wettbewerbs auf der Schiene zukommt, und vergegenwärtigt man sich drittens, dass Art. 87e, wie unter I. gezeigt, den Wettbewerb auf der Schiene will, so kann der spezifische Sinn öffentlicher Vorhaltung des Netzes nur darin liegen, dass das Netz von vornherein allen Anbietern (und nicht allein dem Netzeigentümer) offen stehen soll. Freilich ist es nicht etwa von vornherein unmöglich, Netzzugangsregulierung auch gegenüber echt privaten Netzbetreibern auszuüben; Netzeigentum unterliegt stets einer besonderen Sozialpflichtigkeit.60 Dennoch wird eine effektive Netzzugangsregulierung gegenüber Privaten stets eine grundrechtliche Gratwanderung sein: So muss es als eine noch nicht wirklich geklärte Frage angesehen werden, ob die Aberkennung des Rechts zur vorrangig privatnützigen Netznutzung in Kon59

BT-Drucks. 12/5015, S. 11, 14, 16; 12/6280, S. 8; vgl. dazu Wilkens, Wettbewerbsprinzip (Fn. 15), S. 119 f.; Gersdorf (Fn. 10), Art. 87e, Rdnr. 49. 60 Kühling, Regulierung (Fn. 14), S. 490 ff.; Fehling, Mitbenutzungsrechte (Fn. 20), S. 59 (88 ff.).

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fliktlagen (hier: Trassennutzungskonflikt61) verfassungsrechtlich zulässig ist oder nicht eine zumindest ausgleichspflichtige Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums darstellt.62 Auch können die Erfordernisse effektiver Netzzugangsregulierung Vorschriften über eine organisatorische und funktionale Separierung von Netz und Verkehr bis hin zur organisatorischen Auslagerung zentraler unternehmerischer Entscheidungen auf unabhängige Stellen63 erforderlich machen, die die gewöhnlichen Maßstäbe für Eingriffe in die unternehmerische Freiheit bis aufs Äußerste anspannen. Die Erfordernisse effektiven Rechtsschutzes konkurrierender Dritter in Fragen der Zugangs- und Entgeltregulierung schließlich können, wie die Praxis gezeigt hat, mit dem grundrechtlichen Schutz von Geschäftsgeheimnissen des Netzbetreibers in Konflikt geraten.64 Die hier befürwortete verfassungsimmanente Pflicht des öffentlichen Netzbetreibers zur diskriminierungsfreien Netzöffnung räumt alle diese schwierigen Konfliktfelder von vornherein aus dem Wege: Sie stellt klar, dass der ansonsten privatwirtschaftliche öffentliche Netzbetreiber im Punkt der diskriminierungsfreien Netzöffnung von vornherein einer kraft Verfassung eingestifteten besonderen öffentlichen Zweckbindung unterliegt, die seine Privatwirtschaftlichkeit modifiziert und ihn insoweit als ein Instrument öffentlicher Zweckerfüllung qualifiziert. Nach den oben dargelegten Maßstäben ist der öffentliche Netzbetreiber im Punkt der Pflicht zur diskriminierungsfreien Netzöffnung von vornherein nicht grundrechtsberechtigt (er kann sich demnach insoweit gegenüber staatlichen Maßnahmen der Netzzugangsregulierung insbesondere nicht auf Art. 12 und 14 GG berufen), sondern im Gegenteil von vornherein gegenüber den auf diskriminierungsfreien Netzzugang pochenden privaten Konkurrenten an Art. 3 GG gebunden. Die hier gefundene Lösung modifiziert das Privatwirtschaftlichkeitsprinzip zwar, aber stellt sie letztlich nicht substantiell in Frage (was ein weiteres Argument für sie ist). Denn der Netzbetreiber wird ja in keiner Weise daran gehindert, seine Netzangebote mit Gewinnerzielungsabsicht am Markt anzubieten. Gehindert wird er vielmehr ausschließlich daran, Sondervorteile daraus zu ziehen, dass er – falls er ein integriertes Unternehmen ist – zugleich Verkehrsanbieter ist und sich auf seinem Netz dadurch Sonderkonditionen einräumen könnte. In diesem Zusammen61 Vgl. dazu die Eisenbahninfrastruktur-Benutzungsverordnung vom 3.6.2005, BGBl. I S. 1566; Ruge, Netzzugang (Fn. 21), S. 1 (48 ff.). 62 Für das Beispiel des Netzzugangs im Gassektor: Badura, Netzzugang und Mitwirkungsrecht Dritter bei der Energieversorgung mit Gas?, DVBl. 2004, S. 1189 ff.; siehe auch Kühling, Regulierung (Fn. 14), S. 497 f.; Ruge, Netzzugang (Fn. 21), S. 1 (14 ff. [„erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit“]); Fehling, Mitbenutzungsrechte (Fn. 20), S. 59 (90 ff.). 63 Berschin, Zur Trennung von Netz und Betrieb der Deutschen Bahn AG aufgrund des europäischen Eisenbahnpakets, DVBl. 2002, S. 1079 (1081). 64 BVerfG v. 14.3.2006, 1 BvR 2087/03 und 2111/03, DVBl. 2006, S. 694.

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hang fällt nun ins Gewicht, dass Art. 87e, wie oben dargelegt, vom Grundsatz der Unterscheidung von Netz und Verkehr geprägt ist, der Netz- und Verkehrsdienstleistungen als gesondert anzubietende und abzugeltende Dienstleistungen qualifiziert. Legt man dies zugrunde, wird deutlich, dass Art. 87e Abs. 3 Satz 1 das Attribut der Privatwirtschaftlichkeit nicht einem integrierten Unternehmen als solchem (mit all seinen wettbewerbsbeeinträchtigenden Verbundvorteilen) gewährleisten kann; gewährleistet wird den Eisenbahnen des Bundes allein die Privatwirtschaftlichkeit des Netzbetriebs einerseits und des Verkehrsbetriebs andererseits. Die Privatwirtschaftlichkeit des isoliert zu betrachtenden Netzbetriebs wird durch die immanente Pflicht zur Gewährleistung diskriminierungsfreien Netzzugangs indes nicht in Frage gestellt. Es ist eines der Hauptaugenmerke des EG-Rechts (Art. 6 Richtlinie 91/440/EWG), die Gewährleistung eines diskriminierungsfreien Netzzugangs dadurch institutionell abzusichern, dass zwischen Infrastrukturund Verkehrsanbietern ein Mindestmaß an organisatorischer Trennung und Unabhängigkeit eingefordert wird (hierzu nunmehr §§ 9, 9a AEG). Diese Stoßrichtung des Gemeinschaftsrechts wird in Art. 87e GG nicht abgebildet. Dieser unterscheidet Netz und Verkehr zwar und weist dem Netz, wie geschildert, eine funktionale Sonderstellung zu, nicht jedoch finden sich Aussagen zur organisatorischen Trennung dieser beiden Bereiche. Dies ist keine planwidrige Regelungslücke (organisatorische Fragen sind ja durchaus geregelt); vielmehr ist die grundsätzliche Zulässigkeit65 integrierter Eisenbahnunternehmen bewusst gewollt oder in Kauf genommen und entspricht von Beginn an der Praxis, ist die Deutsche Bahn AG doch als integriertes Unternehmen in die Privatisierung entlassen worden. Das Grundgesetz setzt sich damit auch nicht in Widerspruch zu Europarecht, denn es verfolgt, wie soeben gezeigt, seine eigene Lösung zur Bewältigung der Problematik integrierter Unternehmen in Bezug auf die Schaffung funktionierenden Wettbewerbs: Es unterwirft den öffentlichen Netzbetreiber, gerade wenn er als integriertes Unternehmen operiert, hinsichtlich des diskriminierungsfreien Netzzugangs einer besonderen öffentlichen Zweckbindung, die den Netzbetreiber insoweit als nicht grundrechtsfähig, sondern grundrechtsgebunden kennzeichnet. Das Grundgesetz erlaubt deswegen sowohl die Auslagerung wesentlicher unternehmerischer Entscheidungen in Bezug auf den Netzzugang auf unabhängige Stellen, wie sie das Europarecht fordert (wenn es sie auch nicht selbst anordnet), auch gestattet es ein Maß an konsequenter Wettbewerbsaufsicht durch eine Regulierungsbehörde, mithilfe dessen sich das Ziel diskriminierungsfreien Netzzugangs 65 Burger, Zuständigkeit (Fn. 28), S. 41; Gersdorf, Marktöffnung (Fn. 50), S. 131 (149).

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auch ohne organisatorische Separierung von Netz und Verkehr erreichen lassen dürfte.66 Die Zulässigkeit integrierter Unternehmensmodelle für die Eisenbahnen des Bundes gilt nicht nur, solange der Bund das Alleineigentum an diesen Unternehmen hält, sondern auch, wenn er diese (in den Grenzen des Schienenwegevorbehalts des Abs. 3 S. 3) einer partiellen Kapitalprivatisierung zuführt.67 So verwundert es nicht, dass die große Streitfrage des Jahres 2006 – Privatisierung der Deutschen Bahn AG mit oder ohne Netz68 – vom Grundgesetz nur geringe Impulse bekam. Die Frage, ob ein integriertes oder ein getrenntes Modell zu bevorzugen ist, wird von Art. 87e als eine politisch zu entscheidende, nicht aber rechtlich determinierte Frage konzipiert. Freilich bedeutet dies nicht, dass sich aus dem Grundgesetz für die einzelnen diskutierten Privatisierungsmodelle nicht bestimmte Maßgaben ergäben. Dies gilt namentlich für die im Sommer und Herbst 2006 zuletzt im Zentrum der Diskussion stehenden Kompromissmodelle, die in unterschiedlicher Form danach trachten, bei (zumindest vorläufiger) Beibehaltung eines im Prinzip integrierten Modells das Netzeigentum als solches von der Deutschen Bahn AG abzutrennen und beim Bund anzusiedeln bzw. diesem wenigstens ein Rückhol- oder Heimfallrecht bzgl. des Netzeigentums vorzubehalten. Es mag als eine überraschende Wendung der Dinge angesehen werden, dass, nachdem 1993 die Idee eines beim Bund anzusiedelnden Netzeigentums verworfen wurde, diese nunmehr in anderem Gewande wiederkehrt. Nichtsdestoweniger sind auch solche Lösungen verfassungsrechtlich zulässig; zu beachten sind indes zum einen die Anforderungen des Schienenwegevorbehalts sowie zum anderen die Grundentscheidung des Art. 87e Abs. 3, auch den Netzbetreiber nicht als „verwaltendes“, d. h. eine Verwaltungsaufgabe erfüllendes, sondern als ein prinzipiell privatwirtschaftliches Unternehmen auszugestalten. Hieraus folgt: – Ein integriertes Modell durch entsprechende eigentumsrechtliche Rückhol- oder Heimfallrechte abzumildern, um sich in Zukunft die Option für ein Trennungsmodell offenzuhalten, ist verfassungsrechtlich nicht ge66 An der Notwendigkeit der Separierung zweifelnd: Fehling, Zur Bahnreform (Fn. 15), S. 793 (799). 67 Insoweit nicht überzeugend: Hermes, in: Deutscher Bundestag (Fn. 49), S. 17. 68 Zu den Modellen und zum Stand der Diskussion: BMV/BMF, PRIMON-Gutachten; Öffentliche Anhörung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung vom 10.5.2006, Deutscher Bundestag, Verkehrsausschuss, Protokoll Nr. 16/14; SZ vom 23.6.2006, S. 17, vom 24./25.6.2006, S. 21, vom 1./2.7.2006, S. 17, vom 20.7.2006, S. 21; Der Spiegel 27/2006, S. 72 f.; BT-Drucks. 16/2727, 16/3263 (zum zwischenzeitlich vertretenen sog. Eigentumssicherungsmodell); zuletzt – nach politischer Einigung der Großen Koalition – der Entschließungsantrag die Koalitionsfraktionen vom 24.11.2006 (BT-Drucks. 16/3493), der Elemente des integrierten Modells und des Eigentumsmodells miteinander kombiniert.

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boten, aber zulässig. Unzulässig wäre es jedoch, wenn sich der Bund das Netzeigentum in der Weise zurückholte, dass er dieses selbst verwaltete, nicht aber durch ein privatrechtliches und privatwirtschaftliches Unternehmen betriebe. Zulässig ist es auch, das integrierte Unternehmen durch Leistungs- und Finanzierungsvereinbarungen an ein bestimmtes Niveau der Netzbereitstellung zu binden und die Einhaltung dieses Leistungsniveaus mittels eines eigentumsrechtlichen Heimfallrechts zu sanktionieren. In dem Maße, in dem der Unternehmensgegenstand durch derartige Leistungs- und Finanzierungsvereinbarungen einer Sonderbindung an öffentliche Zwecke unterworfen würde, müsste das Unternehmen freilich als grundrechtsgebundenes (nicht mehr grundrechtsberechtigtes) Instrument öffentlicher Aufgabenerfüllung angesehen werden (siehe oben II.). – Prinzipiell zulässig sind auch die in verschiedenen Varianten diskutierten Eigentumsmodelle, nach denen eine bundeseigene Netzgesellschaft das Netzeigentum hält, die Netzbewirtschaftung in unterschiedlich weit reichender Weise jedoch der Deutschen Bahn AG übertragen wird (ggf. mit Rückholoption bei Schlechterfüllung). Für die Deutsche Bahn AG bedeutet dies, dass sie, sobald ihr nur irgendwelche über Aufgaben bloß technisch-durchführender Art69 hinausgehende Entscheidungsrechte in Bezug auf Bau, Unterhaltung und Betrieb eingeräumt werden, nur teilprivatisiert werden darf, weil sie dann – auch ohne Netzeigentum – als ein „Betreiber der Schienenwege“ anzusehen wäre, der dem Schienenwegevorbehalt unterliegt. Das bloße Netzeigentum des Bundes genügt dem Schienenwegevorbehalt jedenfalls nicht, da dieser nicht das Eigentum an einer Sache, sondern die Anteilsmehrheit an einem bestimmte Funktionen ausübenden Unternehmen verlangt. Für die bundeseigene Netzgesellschaft dagegen gilt, dass sie, soweit ihr ihrerseits irgendwelche Entscheidungsrechte in Bezug auf Bau, Unterhaltung und Betrieb zukommen sollen, sie also nicht allein das nackte Eigentum halten soll,70 „als Wirtschaftsunternehmen“, d. h. privatwirtschaftlich und nicht als „bloß verwaltendes“ Unternehmen zu führen ist. Eine prinzipielle Gemeinwohlbindung darf ihr nicht (weder durch Gesetz noch durch Unternehmenssatzung) eingestiftet werden.

69 Die Weitergabe rein technisch-durchführender Aufgaben ist dem öffentlichen Netzbetreiber auch bereits jetzt möglich: Hommelhoff/Schmidt-Aßmann, Deutsche Bahn AG (Fn. 15), S. 521 (550); Gersdorf (Fn. 10), Art. 87e, Rdnr. 75; Vesting (Fn. 10), Art. 87e, Rdnr. 46. 70 Eine reine Eigentumsgesellschaft ohne jegliche operative Aufgaben wäre wohl kein Netzbetreiber und auch keine „Eisenbahn“ des Bundes, für die das Privatwirtschaftlichkeitsgebot gilt.

Regulierung der europäischen Kapitalmärkte durch die Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten Von Rainer Pitschas* I. Die Steuerungsaufgabe des Verwaltungsrechts im europäischen „Regulierungsstaat“ 1. Auf dem Weg zu einem Regulierungsverwaltungsrecht Schon längst hat sich die Europäische Gemeinschaft von dem ursprünglichen Leitbild einer unternehmensgesteuerten freien Wettbewerbsordnung für den Binnenmarkt verabschiedet. An die Stelle dessen ist unter dem Einfluss der Globalisierung ihr wirtschaftsregulierender Staatenverbund in der Wirkung eines „Regulierungsstaates“ getreten.1 Mein Lehrer Rupert Scholz hat diese Entwicklung mit ihren Vorläufern und Auswirkungen auf die Gestaltung des deutschen Wirtschaftsrechts aus verfassungs- und verwaltungsrechtlicher Perspektive schon frühzeitig aufmerksam und durchaus kritisch begleitet.2 Er hat dabei immer wieder die Notwendigkeit betont, die Reaktionen des (europäischen) Verfassungs- und Wirtschaftsprozesses auf ein gewandeltes Staatsaufgabenverständnis in den Gemeinschaftsstaaten, auf neue Handlungsformen und auf die Einwirkungen der Internationalisierung sorgsam in die freiheitliche Architektur unseres Grundgesetzes einzupassen.3 Parallel dazu standen die Anstrengungen, den Steuerungsanspruch der europäischen Ebene im Zuge supranationaler Staatswerdung mit den Freiheitsgarantien und Legitimationsvoraussetzungen des Gemeinschaftsrechts bzw. des nationalen Verfassungsrechts kompatibel zu halten. Dieses Bemühen galt * Der Beitrag geht zurück auf einen Vortrag, den ich in Shanghai/P. R. China vor der „China Banking Regulatory Commission/Shanghai Branch“ gehalten habe. Meiner wissenschaftlichen Mitarbeiterin Frau Katrin Schoppa danke ich herzlich für ihre Hilfe. 1 Grande, Edgar, Entscheidet Europa alles Wesentliche? Der Regulierungsstaat im europäischen Mehrebenensystem, in: Hill, Hermann (Hrsg.), Die Zukunft des öffentlichen Sektors, Baden-Baden 2006, S. 81 ff. 2 Vgl. etwa Scholz, Rupert/Friauf, Karl-Heinrich, Europarecht und Grundgesetz, Berlin 1990; Scholz, Rupert/Langer, Stefan, Europäischer Binnenmarkt und Energiepolitik, Berlin 1992; s. ferner das abgedruckte Schriftenverzeichnis. 3 Scholz, Rupert, Deutschland – In guter Verfassung?, Heidelberg 2004, S. 42 ff.

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auch und vielfältig der Entwicklung des europäischen Verwaltungsrechts.4 Die Aufgabe, Neues und Ungewohntes darin in die nationale verwaltungsrechtliche Systematik zu integrieren, steht allerdings vor stetig wechselnden Herausforderungen, die ihrerseits zur Fortsetzung der rechtsdogmatischen Arbeit des Jubilars aufrufen. Anlass hierzu gibt der im europäischen MehrEbenen-System von der Gemeinschaft unternommene Versuch, öffentliche Leistungserwartungen und -ansprüche mit neuen Mitteln, eben durch wettbewerbslenkende „Regulierung“ zu erreichen und dabei rechtliche Hindernisse bzw. Zweifel hintanzustellen. Im Folgenden gilt es daher, die institutionelle Architektur der Regulierung in Deutschland und in der Europäischen Union am Beispiel des Wirtschaftsrechts nachzuzeichnen und auf Probleme ihrer rechtlichen Tragfähigkeit in den europäischen Kapitalmärkten hinzuweisen. Nun ist allerdings „Regulierung“ sowohl ein neues als auch ein altbekanntes „Phänomen“.5 In den USA, wo das Regulierungsrecht als regulated industries „geboren“ wurde6, werden etwa Grund und Rechtfertigung für das staatliche Eingreifen in die Rechte der Bürger – namentlich in die Berufsfreiheit der Unternehmer – im „Marktversagen“ gesehen.7 Der Begriff der „Regulierung“ wurde unter Bezugnahme hierauf vom deutschen Gesetzgeber zum ersten Mal im Telekommunikationsrecht verwandt. Entstanden ist er jedoch in der Wirtschaftswissenschaft aus der Auseinandersetzung mit den Folgen der „natürlichen Monopole“.8 Die Wirtschaftswissenschaft empfand dabei Regulierung lange Zeit vornehmlich als kontraproduktiv, weil es sich um „wettbewerbshemmende Staatsintervention“ handele.9 Doch ist die4 Vgl. etwa Scholz, Rupert, Grundrechtsprobleme im europäischen Kartellrecht – Zur Hoechst-Entscheidung des EuGH, WuW 1990, 99 ff.; ders., Zum Verhältnis von europäischem Gemeinschaftsrecht und nationalem Verwaltungsverfahrensrecht – Zur Rechtsprechung des EuGH im Fall „Alcan“, DÖV 1998, S. 261 ff. 5 Ruthig, Josef/Storr, Stefan, Öffentliches Wirtschaftsrechtsrecht, Heidelberg 2005, § 6 Rn. 366; dazu auch Pitschas, Rainer, Stabilitätspolitik durch staatliche Lohn- und Preisdirigismen?, ZHR 143 (1979), S. 433 ff.; Stober, Rolf, Zum Leitbild des modernen Regulierungsverwaltungsrechts, s. in dieser Festschrift. 6 Dazu statt vieler Ruge, Reinhard, Diskriminierungsfreier Netzzugang im liberalisierten Eisenbahnmarkt in Deutschland, AöR 131 (2006), S. 1, 22 ff.; Storr, Stefan, Soll das Recht der Regulierungsverwaltung übergreifend geregelt werden?, DVBl 2006, 1017. 7 Breyer/Stewart/Sunstein/Spitzer, Administrative Law and Regulatory Policy, 5. Auflage 2002, S. 5; Döhler, Marian, Das Modell der unabhängigen Regulierungsbehörde im Kontext des deutschen Regierungs- und Verwaltungssystems, Die Verwaltung 34 (2001), S. 59, 64. Dass reines Marktversagen jedoch als Rechtfertigung nicht ausreicht sieht auch Storr, Recht der Regulierungsverwaltung (Fn. 6), S. 1017, 1018. 8 Näher dazu Hermes, Georg, Staatliche Infrastrukturverantwortung, Tübingen 1998, S. 316 ff. 9 Döhler, Modell (Fn. 7), S. 59, 65.

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ser Sichtweise zu widersprechen. Ordnungspolitik ist für die sozialverträgliche Funktionsweise von Märkten unerlässlich. Zutreffend wird daher heute Regulierung als legitimer „Zentral- und Sammelbegriff für alle notwendigen staatlichen Steuerungsmaßnahmen hinsichtlich der privatwirtschaftlichen Leistungserbringung“ verstanden.10 Daraus wird bereits ersichtlich, dass es sich beim Regulierungsrecht nicht um reines Privatisierungsfolgenrecht handelt, wie verschiedentlich angenommen worden ist.11 Hinzu treten vielmehr die Elemente der Wirtschaftsaufsicht und anderer klassischen Aufgaben des Staates wie z. B. der Gefahrenabwehr. Denn es wird nicht nur der Zugang zum Markt, sondern auch das Verhalten am Markt kontrolliert.12 Regulierungsrecht unterliegt insoweit im europäischen Binnenmarkt als eine Teilmenge des Wirtschaftsverwaltungs- und damit des Verwaltungsrechts13 in besonderer Weise den Einflüssen des Gemeinschaftsrechts.14 Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass Stimmen laut werden, die das Regulierungsverwaltungsrecht übergreifend regeln wollen. Als Motiv wird die „Abstrahierung und Systembildung zur stärkeren und schärferen Dogmatisierung des Regulierungsverwaltungsrechts als einem Sonderrecht der öffentlich-rechtlichen Wirtschaftsüberwachung“ angegeben.15 Unverzichtbare Voraussetzung für die Rechtsintegration wäre jedoch, dass die verschiedenen Sektoren gemeinsame Regelungsziele bzw. „Regelungsstrukturen“ aufwiesen, um sie in einem übergreifenden Gesetz regeln zu können; ein solches Gesetz muss notwendig und verfassungsgemäß sowie mit den europarechtlichen Vorgaben in Einklang zu bringen sein.16 Zuzugeben ist 10 Schliesky, Utz, Öffentliches Wirtschaftsrecht, Heidelberg, 2. Auflage 2003, S. 251 m. w. N. 11 So aber Ruffert, Matthias, Regulierung im System des Verwaltungsrechts, AöR 124 (1999), S. 237, 239, 246; Trute, Hans-Heinrich, Regulierung – am Beispiel des Telekommunikationsrechts, in: Eberle, Carl-Eugen/Ibler, Martin/Lorenz, Dieter (Hrsg.), Der Wandel des Staates vor den Herausforderungen der Gegenwart, Festschrift für Winfried Brohm zum 70. Geburtstag, München 2002, S. 169, 171; näher zum Begriff des Privatisierungsfolgenrechts Döhler, Modell (Fn. 7), S. 59, 65; anders und wie hier auch Storr, Recht der Regulierungsverwaltung (Fn. 6), 1017, 1018. 12 Ruthig/Storr, Öffentliches Wirtschaftsrechtsrecht (Fn. 5), § 6 Rn. 368, 371. Regulierung erscheint deshalb als „Steuerungsmix“, vgl. Storr, Recht der Regulierungsverwaltung (Fn. 6), S. 1017, 1019. 13 Grundlegend Schmidt-Aßmann, Eberhard, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Auflage, Berlin/Heidelberg 2004, S. 134 ff., 139 ff. 14 Trute, Regulierung (Fn. 11), S. 169, 170. 15 Storr, Recht der Regulierungsverwaltung (Fn. 6), S. 1017, 1019. 16 Storr, Recht der Regulierungsverwaltung (Fn. 6), S. 1017, 1019. Zu Kodifikationsfähigkeit und -bedürftigkeit s. ferner Burgi, Martin, Übergreifende Regelung des Rechts der Regulierungsverwaltung – Realisierung der Kodifikationsidee?, NJW 2006, 2439, 2442.

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den Befürwortern einer übergreifenden Regelung jedenfalls, dass sektorübergreifend die „Sicherstellung eines funktionsfähigen Wettbewerbs“ Ziel des Regulierungsrechts sein sollte.17 Aber es sind gerade die verschiedenen Sektoren mit ihren unterschiedlichen Regulierungsbedarfen, die heute – wie im folgenden zu zeigen sein wird – das Regulierungsrecht prägen und einer Kodifikation widersprechen.18 2. Sektorspezifische Herausforderungen Geht man dem im Einzelnen nach, so erhellt, dass der Staat schon seit dem 16. Jahrhundert wichtige Wirtschaftszweige – zunächst als Leistungserbringer und jetzt im Rahmen seiner „Gewährleistungsverantwortung“ – für die sozialstaatlich erforderliche und in Art. 16 EGV europarechtlich vorausgesetzte Daseinsvorsorge steuert.19 Das Bundesverfassungsgericht hat für einen dieser Bereiche einen dessen Bedeutung und Sonderheit treffenden Vergleich gefunden; es verweist darauf, „das Interesse an einer Stromversorgung (sei) heute so allgemein wie das Interesse am täglichen Brot“.20 Dementsprechend verlangt etwa das „Lebensmittel“ Wasser einen besonderen staatlichen Schutz. Nicht von ungefähr heißt es z. B. im Erwägungsgrund Nr. 1 der Europäischen Wasserrahmenrichtlinie: „Wasser ist keine übliche Handelsware, sondern ein ererbtes Gut, das geschützt, verteidigt und entsprechend behandelt werden muss“.21 Wasser ist daher ein natürliches Monopol.22 Aus dieser spezifischen Eigenart folgen genuine Heraus17 Storr, Recht der Regulierungsverwaltung (Fn. 6), S. 1020; Burgi, Übergreifende Regelung (Fn. 16), S. 2439. 18 Dazu näher und mit weiteren Beispielen Masing, Johannes, Soll das Recht der Regulierungsverwaltung übergreifend geregelt werden?, in: Verhandlungen des 66. DJT (hrsg. von der Ständigen Deputation des DJT), Band I, 2006, Gutachten D 1, 9 ff., 13 ff. Masing hält eine übergreifende Regelung für die „notwendige Konsequenz der heute übergreifenden Zuständigkeit der Bundesnetzagentur“, vgl. ebenda D 189. Doch stellt sich die (rechtsstaatliche) Frage, ob Organisationspolitik die Rechtskodifikation und -integration leiten sollte. 19 Fehling, Michael, Regulierung als Staatsaufgabe im Gewährleistungsstaat Deutschland – Zu den Konturen eines Regulierungsverwaltungsrechts, in: Hill, Hermann (Hrsg.), Die Zukunft des öffentlichen Sektors (Fn. 1), S. 91 ff.; Pieroth, Bodo, in: Jarass/Pieroth, GG, 8. Auflage, München 2006, Art. 87f Rn. 4. 20 BVerfGE 91, 186, 206 – Kohlepfennig; ähnlich BVerfGE 30, 292, 323 f. – Erdölbevorratung; in diesem Zusammenhang auch Schmidt-Preuß, Matthias, Regulierung – Reflexionen aus Anlass der Liberalisierung im Strom- und Gassektor, in: Bauer, Hartmut/Czybulka, Detlef et al. (Hrsg.), Wirtschaft im offenen Verfassungsstaat, Festschrift für Reiner Schmidt zum 70. Geburtstag, München 2006, S. 547 ff. 21 RL 2000/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2000 (ABl. EG Nr. L 327/1 v. 22.12.2000) zur Schaffung eines Ordnungsrahmens für Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich der Wasserpolitik.

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forderungen an die Regulierung des Wassersektors. Ähnliches gilt für den öffentlichen Personennahverkehr. Für beide Sektoren bedarf es eines je eigengearteten Regulierungsrechts, weil Wasser und Personenbeförderung zu den öffentlichen Gütern rechnen, „auf welche das Volk lebenswichtig angewiesen ist“ und wofür der Staat die Daseinsvorsorgeverantwortung trägt.23 3. Sektorspezifische Regulierungskonturen Vor diesem Hintergrund genießt in Deutschland die sektorspezifische Regulierung richtigerweise einen Vorrang. Wichtige Sektoren des Wirtschaftsverwaltungsrechts, die in diesem Sinne durch Regulierung gekennzeichnet sind, bilden neben anderen einerseits das Telekommunikationsrecht und das Energierecht, andererseits aber auch und gleichrangig das Kapitalmarktrecht. Das Telekommunikationsgesetz (TKG) beendete das Fernmeldemonopol des Staates, das bis 1996 galt. Damit begann die Marktregulierung, die allerdings erst durch das neue TKG 2004 – das derzeit wiederum weiterentwickelt wird24 – rechtsstaatlich entfaltet wurde. Ein Instrument der Regulierung in diesem Sektor ist der Einsatz des Handels mit Frequenznutzungsrechten.25 Das Energierecht ist durch das Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) im Jahr 1998 umgestaltet worden. Seit dem 13. Juli 2005 ist das EnWG 2005 in Kraft.26 Für beide Sektoren ist die jetzige Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen als Regulierungsbehörde zuständig. Beim Energierecht kommt als ein Marktinstrument der Regulierung der Emissionshandel zum Einsatz.27 22 Hennies, Godehard, (Ab-)Wasserwirtschaft der Kommunen im europäischen Kontext, in: Pitschas, Rainer/Ziekow, Jan (Hrsg.), Kommunalwirtschaft im Europa der Regionen, Berlin 2004, S. 137, 139. 23 So bereits Forsthoff, Ernst, Die Verwaltung als Leistungsträger, 1938, S. 5 f.; zur heutigen Rechtslage näher Pitschas, Rainer, Kommunalrechtliche Daseinsvorsorge im europäischen Binnenmarkt, in: Pitschas/Ziekow (Hrsg.), Kommunalwirtschaft im Europa der Regionen (Fn. 22), S. 33 ff. 24 Das TKG wurde zuletzt am 7. Juli 2005 geändert. 25 Siehe dazu Ritgen, Klaus, Versteigerung von Funkfrequenzen und Vergabe von Telekommunikationslizenzen, AöR 127 (2002), S. 351 ff. 26 Grundsätzlich dazu Bauch, Camilla/Rufin, Julia, Ein neues Energierecht – ein weiterer Schritt zur Liberalisierung, ZUR 2005, 471 ff.; Kurth, Matthias, Energiewirtschaftsgesetz seit 13.07.2005 in Kraft, emw 2005, 26 ff. 27 Dazu Fuhr, Thomas, Ein Jahr Emissionshandel – eine Zwischenbilanz aus rechtlicher Sicht, IR 2006, 2 ff.; Rebentisch, Manfred, Rechtsfragen der kostenlosen Zuteilung von Berechtigungen im Rahmen des Emissionshandelsrechts, NVwZ 2006, 747 ff.

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Das Kapitalmarktrecht wird schließlich in geradezu „unübersichtlicher“28 Weise geregelt. Als organisatorische Klammer dient das Gesetz zur Regelung der Finanzdienstleistungsaufsicht (FinDAG); hinzu kommen das KWG, das VAG, das WphG und das WpÜG mit den darin verankerten Aufsichtsbefugnissen über das Kreditwesen, den Versicherungssektor und den Wertpapierhandel.29 Die zuständige Aufsichtsbehörde ist für alle Teilbereiche die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BAFin). 4. Sektorspezifische Regulierung der Finanzmärkte als Besonderheit Damit der Staat seine Aufgaben effektiv erfüllen kann, muss vor allem die Wirtschaft funktionieren. Dazu braucht es statt einer hoheitlichen Wirtschaftslenkung eine flexible Wirtschaftsaufsicht, deren Funktionsanpassung an die Märkte der Jubilar frühzeitig kritisch gewürdigt hat.30 Diese heute als Gewährleistungsaufsicht verstandene Steuerung der Wirtschaft umschließt auch die sektorspezifische Regulierung der Finanz- und Kapitalmärkte. Neben dem Versicherungs- und Wertpapiersektor bildet insoweit namentlich das Bankensystem eine Schlüsselbranche in dem staatlich-gesellschaftlichen Zusammenspiel der Aufsicht.31 Ein wichtiger Unterschied zur Wasserversorgung als Regulierungssektor besteht allerdings. Die Frage, wann und wo man Wasser benötigt, ist nicht nur eine Frage der Lebensqualität, sondern der menschlichen Existenz, weshalb dem Wasser eine ganz besondere Bedeutung zukommt. Zum Bankwesen besteht somit eine Abstufung im Erfordernis der Regulierungstiefe und -dichte: Das Gemeinschaftsrecht setzt im Bereich der (Ab-)Wasserwirtschaft weniger auf wettbewerbliche Öffnung, während es im Bereich des öffentlichen Finanzwesens bereits zu einheitlichen Märkten und grenzüberschreitendem Wettbewerb geführt und dadurch einen tiefgestaffelten Regulierungsbedarf erzeugt hat.32

28 Weber, Martin, Die Entwicklung des Kapitalmarktrechts im Jahre 2004, NJW 2004, 3674 ff.; Ruthig/Storr, Öffentliches Wirtschaftsrechtsrecht (Fn. 5), § 6 Rn. 374. 29 Es wird insoweit von einer Dreigliedrigkeit der Kapitalmarktaufsicht gesprochen. 30 Scholz, Rupert, Kartellrechtliche Preiskontrolle als Verfassungsfrage, in: ZHR 141 (1977), S. 520 ff. 31 Pitschas, Rainer/Gille, Stefanie, Rechtliche und institutionelle Entwicklungen der Finanzmarktaufsicht in der EU und in Deutschland, VerwArch 2003, 68, 70; Schuppert, Gunnar Folke, Verwaltungswissenschaft, Baden-Baden 2000, S. 905 ff. 32 Pitschas, Kommunalrechtliche Daseinsvorsorge (Fn. 23), S. 33, 42 f.

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II. Aktuelle Entwicklungslinien der Regulierung europäischer Finanz- und Kapitalmärkte 1. Auf dem Weg zu einem einheitlichen europäischen Finanzmarktrecht Ungeachtet aller Hindernisse auf dem Weg zur europäischen Integration befindet sich dementsprechend das europäische Finanzmarktrecht in stetiger Fortentwicklung. Aufbauend auf dem „Aktionsplan für Finanzdienstleistungen“ (FSAP), den die Europäische Kommission am 11. Mai 1999 verabschiedet hatte,33 wird unbeirrt das Ziel verfolgt, in allernächster Zeit alle rechtlichen Voraussetzungen für einen vollständig integrierten Finanzbinnenmarkt der Europäischen Union (EU) zu schaffen. Dabei werden nach wie vor unterschiedliche Strategien sichtbar. So wird ein Schwerpunkt der Entwicklung des EU-Finanzmarktrechts bislang im Aufsichtsrecht gelegt.34 Andererseits und nach wie vor wird die materielle Rechtsharmonisierung im Kapitalmarktrecht für alle Mitgliedstaaten der EU angestrebt. Dabei sieht sich gegenwärtig und als Alternative zum Konzept der Mindestharmonisierung die Überlegung einer Maximalharmonisierung diskutiert.35 Diese könnte zu einer Verbesserung der Marktintegration und der Markteffizienz führen, ist freilich auch mit der Gefahr der Überregulierung und des Verstoßes gegen das freiheitliche Gemeinschaftsrecht verbunden. Neben diese auf materiell-rechtliche und prozedurale Fragen zielenden Aspekte kommt für die Schaffung des einheitlichen europäischen Finanzmarktrechts der Suche nach effizienten Regulierungsstrukturen eine besondere Bedeutung zu. Denn ohne diese wird es nicht gelingen, im Zuge der Globalisierung der Finanzmärkte einen einheitlichen und effizienten europäischen Kapitalmarkt zu schaffen und seine globale Wettbewerbsfähigkeit zu sichern.

33 KOM 1999 (232); dazu näher Hübner, Ulrich, in: Dauses (Hrsg.), Hdb. des EU-WirtschaftsR, E. IV. Rn. 42 ff.; Pitschas/Gille, Entwicklungen der Finanzmarktaufsicht (Fn. 31), S. 68, 86. 34 Dazu im Ganzen Schlag, Martin, Grenzüberschreitende Verwaltungsbefugnisse im EG-Binnenmarkt, Baden-Baden, 1998. Von großer Bedeutung ist der transnationale Verwaltungsakt, dessen Hauptbereich das harmonisierte Binnenmarktrecht der EU ist; dazu Ruffert, Matthias, Der transnationale Verwaltungsakt, Die Verwaltung 34 (2001), S. 453 ff. 35 Zur Mindestharmonisierung in diesem Bereich, zu der sich die Kommission im Ergebnis zunächst entschlossen hatte, vgl. Boos, Karl-Heinz/Stein, Björn Christian, Finanzmarktintegration und Aufsichtskonvergenz in der Europäischen Union, Kreditwesen 2006, 325 f.

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2. Der „Aktionsplan für Finanzdienstleistungen“ und seine Umsetzung im „Lamfalussy“-Verfahren Maßgeblich hierfür ist wiederum der bereits erwähnte Aktionsplan für Finanzdienstleistungen, mit dem verschiedene politische Ziele und spezielle Maßnahmen zur Verbesserung des Binnenmarktes für Finanzdienstleistungen von der EU vorgegeben wurden. Er enthält drei strategische Ziele, nämlich die Gewährleistung eines einheitlichen Firmenkundenmarktes für Finanzdienstleistungen, die Bildung offener und sicherer Privatkundenmärkte sowie die Modernisierung der Aufsichtsregeln wie der Überwachung allgemein.36 Die politische Priorität dieses Plans wurde mit der Einführung des Euro als gemeinschaftlicher Währung, der immer rascheren Umstrukturierung im Finanzdienstleistungssektor und mit der Verpflichtung zu einem zunehmend stärkeren kundenorientierten Denken begründet.37 Im Geflecht der europäischen und mitgliedstaatlichen Rechtsetzung für Finanzdienstleistungen erweist sich der eingeschlagene Weg als außerordentlich zeitraubend. Nötig wird deshalb die Flexibilisierung des entsprechenden europäischen Gesetzgebungsprozesses durch die Ausweisung „technischer Regelungen“, also des Erlasses von Durchführungsrechtsakten durch die Kommission mit Hilfe von Ausschüssen im sog. Komitologieverfahren.38 Diese Verfahrensmaßgabe trägt den Namen des früheren belgischen Notenbankchefs Baron Alexandre Lamfalussy39, der damit den bestehenden administrativen, regulatorischen und anderen Hemmnissen sowohl bei grenzüberschreitenden Wertpapiertransaktionen in der EU als auch bei der Marktintegration entgegentreten wollte. Für den Wertpapiersektor ist das Verfahren bereits in Kraft getreten; seit Ende 2002 wird seine Anwendung auch 36 Dazu Asmussen, Jörg/Mai, Stefan/Nawrath, Axel, Zur Weiterentwicklung der EU-Finanzmarktintegration, Kreditwesen 2004, 198 ff.; Lehnhoff, Jochen, Europäische Rechtsetzung und Interessenvertretung – der Aktionsplan für Finanzdienstleistungen, Kreditwesen 2003, 1183 ff. 37 Für eine stärkere Kundenorientierung soll vor allem die Transparenzrichtlinie vom 15. Dezember 2004 (RL 2004/109/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. EG Nr. L 390/38 vom 31.12.2004) sorgen, die bis zum 20. Januar 2007 umgesetzt worden sein muss. Dazu auch Rodewald, Jörg/Unger, Ulrike, Zusätzliche Transparenz für die europäischen Kapitalmärkte – die Umsetzung der EU-Transparenzrichtlinie in Deutschland, BB 2006, 1917 ff. 38 Dazu Balzer, Peter, Der Vorschlag der EG-Kommission für eine Wertpapierdienstleistungsrichtlinie, ZBB 2003, 177 ff.; für die Missbrauchsrichtlinie s. auch Spindler, Gerald/Christoph, Fabian L., Die Entwicklung des Kapitalmarktrechts in den Jahren 2003/2004, BB 2004, 2197 ff.; siehe auch Hildebrandt, Mathias, Das Grünbuch der Europäischen Finanzdienstleistungspolitik (2005–2010), VersR 2006, 167 ff. 39 Zum Verfahren: Claßen, Ruth/Heegemann, Volker, Das Lamfalussy-Verfahren – Bestandsaufnahme, Bewertung und Ausblick, Kreditwesen 2003, 1200 ff.

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auf den Versicherungs- und Bankenbereich diskutiert. Eine zentrale Rolle kommt in diesem System dem Europäischen Wirtschafts- und Finanzausschuss (EFC, vgl. Art. 114 Abs. 2 EGV) zu, in dem die Vertreter der nationalen Aufsichtsbehörden „technische“ Detailregelungen ausarbeiten und deren spätere einheitliche Anwendung sicherstellen – bei „weicher“ Regulierung des materiellen Rechts im Übrigen. Deutlich werden in alledem die Grundzüge eines exekutivischen Musters sektorenspezifischer Regulierung des Kapitalmarktes durch die Gemeinschaft, mit dem das Kapitalmarktrecht der Mitgliedstaaten überformt wird. Rechtsstaatliche Bedenken hiergegen liegen auf der Hand; die nationalen Parlamente werden ihrer Verantwortung entkleidet. Bei diesem Steuerungsgeflecht („europäische Finanzgovernance“) für die europäischen Kapitalmärkte handelt es sich im Übrigen und einerseits um die rechtliche Ordnung von finanziellen Privatisierungsfolgen. Man könnte von einem Privatisierungsfolgenrecht sprechen, doch erweist sich der Zusammenhang zwischen Privatisierung und Regulierung gerade im Kapitalmarkt nicht als zwingend. Vielmehr geht es auch und andererseits darum, mit den „klassischen“ Funktionen einer Wirtschaftsaufsicht, die durch moderne Governance-Strukturen angereichert und möglicherweise gleichzeitig delegitimiert wird, den marktlichen Finanzwettbewerb funktionsfähig und sozialverträglich zu halten. Das Regulierungsrecht im Finanzsektor ist jedenfalls mehrfunktional und zugleich ein unverzichtbares Instrument der sektoriellen Wirtschaftsentwicklung in der EU. 3. Europäische Kapitalmarktregulierung als „normierende“ Wirtschaftssteuerung Mit dieser Entwicklung gehen tiefergreifende Auswirkungen auf das nationale Verwaltungsrecht einher. Die Regulierung des europäischen Finanzmarktrechts erlegt dem nationalen Gesetzgeber sowie den Aufsichtsbehörden auf, durch „normierende“, also über die Einzelfallentscheidung hinausgehende Regulierung in ein Verfahren des „Rulemaking“, d. h. der untergesetzlichen Normgebung durch Verwaltungshandeln überzuwechseln. Darüber hinaus geben sich verwaltungsorganisatorische Besonderheiten zu erkennen: Notwendig wird die Einrichtung einer nationalen und unabhängigen Regulierungsbehörde 40, die in netzwerkartiger europäischer Zu40 Vgl. auch Masing, Johannes, Die Regulierungsbehörde im Spannungsfeld von Unabhängigkeit und parlamentarischer Verantwortung, in: Festschrift für Reiner Schmidt (Fn. 20), S. 521 ff.; in Frankreich existiert seit 2003 eine solche bereits, nämlich die „Autorité des Marchés Financiers“ (AMF), die für den Schutz der am

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sammenarbeit sowohl dem Regulierungsanspruch des europäischen Finanzmarktrechts zu entsprechen sucht wie auch nationale Regulierungsziele durchzusetzen geeignet ist. Damit ist die Ausdifferenzierung und Enthierarchisierung der Verwaltungstätigkeit verbunden, die zur Nutzung spezifischer Organisationsmodelle zwingt. III. Die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs als Fundament der europäischen Finanzwirtschaft Die Reichweite solcher und weiterer Änderungen wird allerdings mit der Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs sowie mit den weiteren Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarktrechts konfrontiert. So wird etwa besonderes Augenmerk auf die Bedeutung der europarechtlich garantierten Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit bei der Regulierung grenzüberschreitender Bankdienstleistungen in der EU sowie ihrer Beaufsichtigung gelegt. 1. Europäische Integration und Kapitalverkehrsfreiheit Ein einheitliches europäisches Finanzmarktrecht zu schaffen, stößt auf die Garantie des freien Kapitalverkehrs in Art. 56 EGV: Hiernach sind alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern verboten. Der dadurch garantierte „freie“ Kapitalverkehr erfasst den Vermögensverkehr, der regelmäßig zugleich Investitionen (Sachkapital, z. B. Direktinvestitionen und Immobilien; Geldkapital) umschließt. Der Umgang mit Geldmitteln (Bargeld, Giralgeld, Schecks, Wechsel u. a.) im Rahmen der Erbringung von Leistungen im Waren-, Personen- und Dienstleistungsverkehr wird dagegen vom freien Zahlungsverkehr (Art. 56 Abs. 2 EGV) erfasst. Allerdings hat die Abgrenzung zwischen Kapital- und Zahlungsverkehr wegen der weitgehenden Angleichung der beiden Freiheiten ihre frühere Bedeutung verloren.41 Die Garantie eines freien Kapital- und Zahlungsverkehrs gilt in der gesamten EU, die sich mittlerweile von anfänglich sechs Mitgliedern zu einer französischen Kapitalmarkt investierten Finanzmittel, die Überwachung der an die Kapitalgeber vermittelten Informationen sowie die Gewährleistung des ordnungsgemäßen Funktionierens des Kapitalmarktes zuständig ist. Näher dazu Wüstemann, Jens/Kierzek, Sonja, Das europäische Harmonisierungsprogramm zur Rechnungslegung: Endorsement und Enforcement von IFRS, BB-Special 2006, Nr. 4, 14 ff., 19. In Deutschland übernimmt als „Anstalt“ die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht diese Funktion, vgl. unten zu Fn. 47 ff.; 79 ff.; ihr fehlt freilich die Unabhängigkeit einer „Regulierungsagentur“. 41 Ress/Ukrow, in: GH/Hilf, Art. 56 EGV, Rn. 1 ff. (19. EL Feb. 2002).

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Union von 27 Staaten im Jahr 2007 entwickelt hat. Die Erweiterung um weitere zwei Mitglieder – Bulgarien und Rumänien – auf insgesamt 27 Mitgliedstaaten erfolgte zum 1.1. 2007. Damit wächst nicht nur die Notwendigkeit, in eine politische Diskussion über die geographischen Grenzen der EU einzutreten, um den Integrationsprozess insgesamt nicht zu gefährden. Ebenso bedeutsam wird in gesamteuropäischer Perspektive das künftige Verhältnis zwischen Gewährleistung der Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit einerseits und der Regulierung, d. h. der Zulassung von Freiheitsbeschränkungen und freiheitssteuernden Maßnahmen zur Rechtsangleichung in den zahlreichen Mitgliedstaaten. Darüber hinaus sieht der EU-Vertrag in Art. 57 Abs. 2 EGV vor, dass „der Rat auf Vorschlag der Kommission mit qualifizierter Mehrheit Maßnahmen für den Kapitalverkehr mit dritten Ländern im Zusammenhang mit Direktinvestitionen einschließlich Anlagen in Immobilien, mit der Niederlassung, der Erbringung von Finanzdienstleistungen oder der Zulassung von Wertpapieren zu den Kapitalmärkten beschließen“ kann. Die noch fortbestehenden Hemmnisse für einen Binnenmarkt des Kapitals sind dagegen nur durch Rechtsangleichung oder durch gegenseitige Anerkennung zu beseitigen. Dies bedingt die Konzentration auf horizontale Harmonisierung.

2. Anwendungsbereich weiterer Grundfreiheitsgarantien Eine vollständige Harmonisierung wird freilich im Finanzsektor nicht angestrebt, weil dieser zu den empfindlichsten Bereichen der Volkswirtschaft eines Landes gehört und die Mitgliedstaaten hier am ehesten ihrem eigenen, über Jahre entwickelten System vertrauen. Zur Zurückhaltung rät auch die notwendige Abgrenzung der Kapitalverkehrsfreiheit zu den anderen europarechtlichen Grundfreiheiten. Gerade bei der Kapitalverkehrsfreiheit ist nämlich häufig die Berührung desselben wirtschaftlichen Sachverhalts durch andere Grundfreiheiten festzustellen. Dies gilt etwa für die Niederlassungsfreiheit gem. Art. 43 EGV, wonach die Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen und Tochtergesellschaften gewährleistet bleibt. Die zweite im Bereich der Kapitalmärkte einschlägige Grundfreiheit ist die Dienstleistungsfreiheit gem. Art. 49 EGV. Im Unterschied zur Niederlassungsfreiheit ist hier die Freiheit gemeint, grenzüberschreitend vom Sitzland aus in einem anderen Mitgliedstaat gegen Entgelt tätig zu werden, ohne dass diese Tätigkeit den Vorschriften über den freien Waren- und Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit von Personen unterliegt. Es handelt sich hier um eine Negativabgrenzung, wobei die Unterscheidung zwischen der Freiheit für Dienstleistungen und der Freiheit für Kapitalverkehr bei Tätigkeiten im Bankbereich nicht immer sauber möglich

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ist.42 Deshalb ist für die Dienstleistungen im Kapitalverkehr in Art. 51 EGV normiert, dass die Liberalisierung der mit dem Kapitalverkehr verbundenen Dienstleistungen der Banken und Versicherungen im Einklang mit der Liberalisierung des Kapitalverkehrs durchgeführt wird. 3. Die sekundärrechtliche Verwirklichung des Binnenmarktes Die primärrechtlichen Gewährleistungen der Grundfreiheiten alleine vermögen einen wirklich grenzenlosen Markt nicht schon herbeizuführen. Hemmnisse für den grenzüberschreitenden Finanzverkehr haben deshalb auch in der EU lange fortbestanden. Sie resultierten aus der Unterschiedlichkeit der mitgliedstaatlichen Herangehensweise beim Schutz legitimer Interessen der Kapitalmärkte bzw. der Verbraucher. Erst die Entwicklung des Binnenmarktkonzepts Ende der 70er Jahre gab Anlass, auch den Kapitalverkehr zu liberalisieren. Frühestens seit Mitte der 80er Jahre ist deshalb eine allgemeine Tendenz zur Liberalisierung überhaupt erkennbar. Der Erlass der Richtlinie zur Liberalisierung des Kapitalverkehrs im Jahr 198843 hat dann die Kapitalverkehrsfreiheit grundsätzlich durchgesetzt. Mittlerweile gibt es ein grundsätzliches Verbot aller Beschränkungen (Art. 56 EGV). Darunter sind alle staatlichen Maßnahmen zu verstehen, die für den grenzüberschreitenden Kapital- und Zahlungsverkehr in der EU eine gegenüber den Inlandsgeschäften formell oder materiell abweichende Regelung vorsehen. Die Dassonville-Formel des EuGH44 wird entsprechend angewandt.45 Eine Einschränkung wird ausdrücklich für die unerlässlichen Maßnahmen bei Zuwiderhandlungen gegen innerstaatliche Rechts- und Verwaltungsvorschriften insbesondere auf dem Gebiet der Aufsicht über Finanzinstitute zugelassen (Art. 58 Abs. 1b) EGV), wobei auch diese Ermächtigung restriktiv zu handhaben ist. Gleichzeitig wird die Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit zusätzlich zum Prinzip „erga omnes“ erhoben, gilt also auch gegenüber Drittländern. Damit wird dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb Rechnung getragen. Einer vollständigen Kapitalverflechtung werden dadurch zugleich Grenzen gesetzt. Doch sollen zumindest vergleichbare Rahmenbedingungen für den innergemeinschaftlichen Kapitalverkehr geschaffen werden. Dieses Ziel eines einheit42

Zur Abgrenzung allgemein Ress/Ukrow, Art. 56 EGV (Fn. 41), Rn. 18 ff. Richtlinie 88/361/EWG des Rates vom 24. Juni 1988 zur Durchführung von Artikel 67 des Vertrages, ABl. Nr. L 178/1 vom 8.7.1988, die bis zum 1. Juli 1990 umgesetzt werden musste. 44 EuGH, Urteil vom 11. Juli 1974, Rs. 8/74, Dassonville, Slg. 1974, 837. 45 Geiger, Rudolf, EUV/EGV, München 4. Auflage 2004, Art. 56 EGV, Rn. 6; Ress/Ukrow, Art. 56 EGV (Fn. 41), Rn. 35. 43

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lichen Finanz- und Kapitalmarktes lässt sich sowohl aus den Grundfreiheiten als auch aus der Konzeption eines Gemeinsamen Marktes unmittelbar ableiten. IV. Mitgliedstaatliche Regulierung am Beispiel Deutschlands Die sekundärrechtliche Verwirklichung des Binnenmarktes durch die europäische Kapitalmarktregulierung tritt mit den freiheitlichen Grundrechten der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) sowie der Berufsfreiheit und des Eigentumsschutzes in Deutschland insofern in Konflikt, als sie Reglementierungen für den freien Kapitalverkehr vorsieht. Gleiches gilt für die mitgliedstaatliche Regulierung des nationalen Kapitalmarktes. Gleichwohl erweist sie sich als gerechtfertigt. Reglementierungen des freien Kapitalverkehrs dienen zum einen dem Schutz der Anleger. Darüber hinaus und andererseits soll die Funktionsfähigkeit des Marktes und die Stabilität des Kapitalverkehrs gewährleistet werden. Freilich muss die Einschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit grundsätzlich rechtsstaatlichen Prinzipien entsprechen und verhältnismäßig sein. Das bedeutet, dass (auch) die Steuerung des Finanzmarktes nicht außer Verhältnis zu dem erreichten Zweck stehen darf. Zugleich unterliegt die Wirtschaftsaufsicht einem Optimierungsverbot: Sie darf keine Erfolgssteuerung unternehmerischer Tätigkeit herbeiführen; ihr ist lediglich die Gefahrenabwehr übertragen.46 Die Verflechtung der Finanzmärkte in der EU und weltweit führt überdies dazu, dass auch die Risiken der internationalen Finanzdienstleistungsgeschäfte abgedeckt werden müssen. 1. Finanzdienstleistungen und Bankenaufsicht a) Besonderheiten der Banken für die Volkswirtschaft In diesem Entwicklungsumfeld gilt es namentlich für die Bankwirtschaft, die eigene Marktposition zu behaupten bzw. auszubauen. Zur Sicherung der Konkurrenzfähigkeit werden zunehmend Fusionen mit ausländischen Partnern angestrebt, um sich international zu vernetzen und durch die wachsende Größe mehr Durchschlagskraft auf dem Markt zu gewinnen.47 Denn 46

Dazu für das Kreditwesen Pitschas, Rainer, Grenzen der Bindungswirkung von Verlautbarungen des Bundesaufsichtsamtes für das Kreditwesen, WM 2000, 1121, 1223. 47 Unlängst hat z. B. die italienische Unicredito die viertgrößte deutsche Bank, die HypoVereinsbank, übernommen. Allgemein auch Pitschas/Gille, Entwicklungen der Finanzmarktaufsicht (Fn. 31), S. 68 f.

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im Bankensektor ist nicht zuletzt die Kapitalausstattung für die Konkurrenzfähigkeit entscheidend, so dass externes Wachstum auch zu einer besseren Eigenmittelausstattung und nicht nur zu Preisvorteilen beim Angebot führt. Allerdings erhöht die Verknüpfung der Finanzmärkte das Geschäftsrisiko der Bankenwirtschaft zugleich erheblich. Finanzkrisen lassen sich nicht auf einen singulären Markt eingrenzen, sondern sie können die ganze Welt erfassen.48 Wegen dieser Besonderheiten inmitten einer Volkswirtschaft ist der Bankensektor auch in Deutschland durch weitgehende regulatorische Eingriffe des Gesetzgebers geprägt. Sie sollen den Anleger schützen und die Funktionsfähigkeit des Marktes ebenso wie die Stabilität des Systems gewährleisten.49 Das reibungslose Arbeiten des Kreditwesens ist eine entscheidende Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit der Gesamtwirtschaft. Und wie kaum ein anderer Wirtschaftszweig muss das Kreditgewerbe für seine Tätigkeit auf das uneingeschränkte Vertrauen der Öffentlichkeit in die Sicherheit der Bankgeschäfte und in ein solides Geschäftsgebaren zählen dürfen. b) Bankenaufsicht als „Gewerbeaufsicht“? Diese Besonderheit der Kreditwirtschaft innerhalb der Volkswirtschaft zeigt sich vor allem in der Einrichtung einer Bankenaufsicht in Verbindung mit Rechnungslegungs-, Offenlegungs- und Bewertungsvorschriften. Diese Aufsicht wird in Deutschland auf der Grundlage des Kreditwesengesetzes (KWG)50 geführt. Die Bankenaufsicht erteilt die Erlaubnis, Bankgeschäfte zu betreiben, sie versagt diese Erlaubnis in spezifizierten Fällen, und sie kann Geschäftsleiter abberufen, Prüfungen anordnen, Maßnahmen bei unzureichendem Eigenkapital oder unzureichender Liquidität treffen. Darüber hinaus stellt sie im Einvernehmen mit der Deutschen Bundesbank für die 48 Dabei wird die Aufsicht – auch wenn einzelne Unternehmen von Konzernen in unterschiedlichen Mitgliedstaaten sitzen (vgl. § 10a KWG) – von der Aufsichtsbehörde des Heimatlandes des Institutes geführt. 49 Vor allem der Verbraucherschutz ist ausdrückliches Ziel eines großen Teils der erlassenen Richtlinien, die das deutsche KWG in den jeweiligen Novellen beeinflussten. Ca. 80% der Regelungen im Finanzdienstleistungsbereich gehen auf europäische Vorgaben zurück, siehe Claßen, Ruth/Heegemann, Volker, Lamfalussy-Verfahren (Fn. 39), S. 1200 ff.; zum Verlauf der Koordinierung siehe Hübner, Ulrich, in: Dauses (Hrsg.), Hdb. des EU-WirtschaftsR (Fn. 33), E. IV., Rn. 5 ff. (EL 13); zur Bankenaufsicht auch Träm, Michael, Neue Entwicklungen der staatlichen Bankenaufsicht in Deutschland und den USA sowie der Einfluß von Basel II, Frankfurt et al. 2006. 50 Gesetz vom 10. Juli 1961, BGBl. I 1961, 881, neugefasst durch Bek. v. 9.9.1998, I 2776, zuletzt geändert durch Art. 4a G v. 22.9.2005, BGBl. I 2809.

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Geschäftsführung Grundsätze auf, denen die Kreditinstitute zu folgen haben. Gleiches gilt zur Frage der ausreichenden Liquiditätsausstattung. Vor dem Hintergrund der internationalen Verflechtung der Finanzmärkte gewinnt die nationale Bankenaufsicht schließlich gesteigerte Auslandswirkungen. Sie ergeben sich im Hinblick auf neue Produkte und neue Verhaltensweisen der Marktteilnehmer, wie sie sich im Feld der strukturierten Anlageprodukte (z. B. Futures, Derivate u. a.), bei der Verlängerung der Bindungsfristen im Kreditbereich und im Hinblick auf das „Electronic Banking“ ergeben. Gerade letzteres bringt für die Banken gestiegene operationale Risiken mit sich. Was die Bindungsfristen im Kreditbereich anbelangen, so resultieren aus unterschiedlichen zeitlichen Optionen Risiken durch Veränderung der Zinsstruktur bzw. der Zinsänderungen. Offenkundig wird dadurch der Bereich bloßer Gewerbeaufsicht verlassen; Bankenaufsicht ist regulierende und zugleich partnerschaftliche „Wirtschaftsaufsicht“. c) Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht Vor dem Hintergrund der internationalen Verflechtung der Kapitalmärkte kann sich allerdings auch die Kapitalmarktaufsicht 51 nicht mehr nur mit den klassischen Mitteln einer „Wirtschaftsaufsicht“ der Regulierung des Finanzdienstleistungssektors annehmen. Denn die Eigenart der Entwicklung des Finanzsektors verlangt nach neuen Instrumenten bzw. verwaltungsorganisatorischen Änderungen. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die Zusammenführung verschiedener Finanzdienstleistungen wie der Kreditgewährung, dem Abschluss von Versicherungspolicen und der Vorhaltung von Wertpapierangeboten in einer Hand. Kreditinstitute, Versicherungsunternehmen und Wertpapiere, die sich auf diese Weise zu Finanzkonglomeraten oder Allfinanzgruppen zusammenschließen,52 unterlagen nach herkömmlicher gewerberechtlicher Überwachung keiner gruppenweiten Beaufsichtigung. Nunmehr bedarf auch dieser Trend von Zusammenschlüssen der Unternehmen der Finanzdienstleistungsbranche eines angemessenen aufsichtsrechtlichen Rahmens. Denn es gilt, eine angemessene Eigenkapitalausstattung für Finanzkonglomerate, die Einführung von Methoden für die Berechnung ihrer 51 Die Aufsicht über den Kapitalmarkt ist als Marktaufsicht nicht mit der Unternehmensaufsicht gleich zu setzen, vgl. Weber, Stefan, in: Dauses (Hrsg.), Hdb. des EU-WirtschaftsR, F. III., Rn. 100 (EL 1). 52 Vgl. auch Neumann, Kerstin, Die Aufsicht über Finanzkonglomerate, Berlin – New York 1998; Pitschas, Rainer/Gille, Stefanie, Allfinanzaufsicht in der EU und in Deutschland, in: Pitschas, Rainer (Hrsg,), Integrierte Finanzdienstleistungsaufsicht – Bankensystem und Bankenaufsicht vor den Herausforderungen der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, S. 219 ff.; Pitschas/Gille, Entwicklungen der Finanzmarktaufsicht (Fn. 31), S. 68 ff.

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Solvenz, Regelungen für gruppeninterne Transaktionen und Risikokonzentrationen sowie zur Zuverlässigkeit und fachlichen Eignung der Geschäftsleitung sicherzustellen. In der Bundesrepublik Deutschland53 ist dies durch die Neuschöpfung der selbständigen Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BAFin) im Jahr 2002 geschehen.54 In ihr wurden die Aufsichtskompetenzen des ehemaligen Bundesaufsichtsamtes für das Kreditwesen, des Bundesaufsichtsamtes für das Versicherungswesen und des Bundesaufsichtsamtes für den Wertpapierhandel in einem Errichtungsgesetz organisatorisch zusammengeführt. Diese integrierte staatliche Aufsicht umfasst nunmehr sektorübergreifend den gesamten deutschen Finanzmarkt. Sie passt vor dem Hintergrund der skizzierten Veränderungen auf den Einzelmärkten die institutionelle Struktur ihrer Kontrolltätigkeit daran an. Ihr Ziel ist die integrierte, proaktive Aufsicht, die gebündelt und ggf. präventiv eingesetzt werden soll, um ihre Effizienz zu stärken, Synergieeffekte zu nutzen sowie insgesamt das Kosten-Nutzen-Verhältnis der Aufsicht zu verbessern. Klar erkennbar ist die Entwicklung zu einer qualitativ höherwertigen „Aufsicht“, die sich als Instrument politisch-gestaltender Wirtschaftssteuerung ausweist. Allerdings bleibt die bisherige Dreigliedrigkeit der Kapitalmarktaufsicht (Bankdienstleistungen, Versicherungsleistungen und Wertpapierhandel) nicht nur organisatorisch in der Behördenstruktur, sondern auch normativ erhalten.55 Umfasst wird die weiterhin im Kreditwesengesetz geregelte Aufsicht über das Kreditwesen einschließlich der Finanzdienstleistungsinstitute, die dem Versicherungsaufsichtsgesetz unterfallende Versicherungsaufsicht und die Wertpapieraufsicht.

53 In anderen europäischen Ländern geschah dies bereits früher: Norwegen (1986), Dänemark (1988), Schweden (1991), Finnland (1993), Großbritannien (2000), Österreich und Irland (2001); vgl. ferner Fn. 40. 54 Für die Zeit nach der Gründung s. näher Fricke, Martin, Versicherungsaufsicht integriert – Versicherungsaufsicht unter dem Gesetz über die integrierte Finanzdienstleistungsaufsicht, NVersZ 2002, 337 ff.; auch Pitschas/Gille, Entwicklungen der Finanzmarktaufsicht (Fn. 31), S. 68, 92. 55 Ruthig/Storr, Öffentliches Wirtschaftsrechtsrecht (Fn. 5), § 6 Rn. 388; zur Behördenstruktur vgl. Hagemeister, Hans-Otto, Die neue Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, WM 2002, 1773, 1776; Caspari, Karl-Burkhard, Allfinanzaufsicht in Europa, Bonn 2003, S. 9 (Vorträge und Berichte/Zentrum für Europäisches Wirtschaftsrecht; 137); Sanio, Jochen, Notwendigkeit und Problemfelder einer umfassenden Finanzaufsicht, in: Baxmann, Ulf G. (Hrsg.), Financial Services – Allfinanzkonzepte, Frankfurt am Main 2002, S. 109, 117; Dienstsitze der Behörde sind Bonn (Banken- und Versicherungsaufsicht) und Frankfurt am Main (Wertpapieraufsicht), vgl. § 1 Abs. 2 FinDAG.

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2. Wertpapierhandel und Börsengeschäfte Eine wachsende Bedeutung für den deutschen Kapitalmarkt kommt im Hinblick hierauf dem Wertpapierhandel und der ihn unterfangenden Börsenstruktur zu. Denn hier findet sich in partieller Abänderung der skizzierten Aufsichtsstruktur das Beispiel einer staatlich beaufsichtigten Selbstverwaltung: Der Wertpapierhandel wird an einer Börse als organisierter Markt betrieben.56 Nach dem Handelsobjekt kann man insofern zwischen der Wertpapierbörse (Börse im engeren Sinne), Devisenbörse und Warenbörse unterscheiden.57 Im Folgenden wird der börsliche Wertpapierhandel ins Auge gefasst; hier werden börsennotierte Wertpapiere zwischen Börsenteilnehmern unter Einschaltung einer öffentlich-rechtlich organisierten Einrichtung übertragen. a) Wertpapierhandel in Deutschland Börsengeschäfte und Wertpapieraufsicht sind keine stabilen Gebilde, insofern sich ihre Dimension im Zuge der Entwicklung von Wertpapieren und Wertpapiermärkten stetig verändert. Im Mittelpunkt steht dabei das Wertpapierhandelsgesetz (WpHG) vom 1. August 2002.58 Es reguliert nicht allein den Wertpapierhandel einschließlich der Festlegung eines Insider-Handelsverbots, sondern ordnet auch das 1995 eingerichtete Bundesamt für den Wertpapierhandel (BAWe) neu. Zum 1. Mai 2002 ist das BAWe mit den damaligen Bundesaufsichtsämtern für das Kreditwesen (BAKred) und das Versicherungswesen (BAV) zur Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) verschmolzen worden.59 Eine zentrale Rolle für den Wertpapierhandel spielen darüber hinaus die Börsengesetznovellen von 1986 und 1989 sowie die bislang erlassenen vier Finanzmarktförderungsgesetze. Diese bezwecken, die Attraktivität des deutschen Finanzplatzes zu steigern und dessen Rahmenbedingungen an internationale Standards anzugleichen. Partiell setzen sie zugleich die europäische Regulierung im Wertpapierbereich um. Dazu zählt insbesondere die Europäische Insider-, Transparenz- und Wertpapierdienstleistungsrichtlinie. Durch das Gesetz zur Umsetzung von EG-Richtlinien zur Harmonisierung bank56

Breitkreuz, Tilman, Ordnung der Börse, Berlin 2000, S. 27. § 1 Abs. 7 und 8 BörsG. 58 Gesetz vom 26. Juli 1994, BGBl. I 1994, 1749, neugefasst durch Bek. v. 9.9.1998, BGBl. I 2708; zuletzt geändert durch Art. 10a G v. 22.5.2005, BGBl. I 1373. 59 Vgl. hierzu ausführlich Kümpel, Siegfried, Bank- und Kapitalmarktrecht, 3. Auflage, Köln 2004, S. 2456, Rn. 18, 20 ff.; Hopt, Klaus J., in: Baumbach/Hopt, Handelsgesetzbuch – BörsG, 31. Auflage 2003, Einl. Rn. 8. 57

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und wertpapierrechtlicher Vorschriften vom 22.10.199760 wurde die Wertpapierdienstleistungsrichtlinie einschließlich der Kapitaladäquanz-Richtlinie endgültig umgesetzt. Zudem setzte das Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz vom 20.12.200161 erstmals für Deutschland notwendige Rahmenbedingungen für das Angebot von Wertpapieren, für Übernahmeangebote und ein geordnetes und faires Verfahren. Ihm schloss sich das Vierte Finanzmarktförderungsgesetz (FMFG) ebenfalls aus dem Jahr 2002 an,62 das höhere Transparenzanforderungen an den Wertpapierhandel einführte, dessen Anpassung an internationale Standards vorschrieb sowie Marktintegrität und Anlegerschutz verbesserte, um die Position des deutschen Finanzmarktes im internationalen Handel zu verstärken. Gegenstand der voraufgehend skizzierten Regulierungen ist jeweils die allokative, institutionelle und operationale Funktionsfähigkeit des deutschen Wertpapiermarktes. Dieser soll institutionell funktionsfähig sein, d. h. einen reibungslosen Marktzugang für die Teilnehmer am Wertpapierhandel gewährleisten, um die Marktallokation sicherzustellen und die Transaktionskosten und -hindernisse auf dem Markt zu minimieren. Die herausgestellte Funktionsfähigkeit des Wertpapiermarktes tritt allerdings in einen Zielkonflikt mit dem Anlegerschutz.63 Anlagebetrug64 soll durch Kapitalanlegerschutz verhindert werden. Deshalb setzt die Funktionsfähigkeit des Wertpapiermarktes die Transparenz des Wertpapierhandels 65 voraus: Nur wenn die Anleger auf die ihnen zur Verfügung stehenden Informationen vertrauen dürfen, werden sie den Markt nutzen und in Wertpapieranlagen investieren. Namentlich Publizitätsanforderungen ziehen daraus ihre Bedeutung. Diese Überlegungen leiteten auch den Erlass des Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetzes im Jahre 2002. Der Gesetzgeber hatte sich das Ziel gesetzt, ein faires und geordnetes Angebotsverfahren zu schaffen, um dadurch 60

BGBl. I, 2518; Begleitgesetz, BGBl. I, 2567. Gesetz vom 20. Dezember 2001, BGBl. I 2001, 3822, zuletzt geändert durch Art. 1 G v. 8.7.2006, BGBl. I 1426. 62 Siehe dazu Kugler, Stefan/Rittler, Thomas, Viertes Finanzmarktförderungsgesetz – Aufbruch zu neuen Ufern im Investmentrecht?, BB 2002, 1001 ff.; Rudolf, Bernd, Viertes Finanzmarktförderungsgesetz – Ist der Name Programm?, BB 2002, 1036 ff. 63 Dazu Möller, Andreas, Das Vierte Finanzmarktförderungsgesetz, WM 2001, 2405 ff. 64 Vgl. Hildner, Claus, Aspekte des Anlagebetruges im staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren, WM 2004, 1068 ff. 65 Caspari, Karl-Burkhard, Anlegerschutz in Deutschland im Lichte der Brüsseler Richtlinien, NZG 2005, 98 ff.; Beiersdorf, Kati/Buchheim, Regine, Entwurf des Gesetzes zur Umsetzung der EU-Transparenzrichtlinie: Ausweitung der Publizitätspflichten, BB 2006, 1674 ff. 61

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die Information der Wertpapierinhaber und Arbeitnehmer zu verbessern und die rechtliche Stellung von Minderheitsaktionären bei Unternehmensübernahmen zu stärken. Dafür enthält das Gesetz bestimmte Regeln hinsichtlich des Verfahrens der Übernahme, deren Anwendung durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht beaufsichtigt wird. Im Übrigen entspricht das Gesetz in seiner Struktur den weiteren regulierungsrechtlichen Normierungen im Wertpapierhandel. b) Börslicher Wertpapierhandel Das Wertpapierhandelsgesetz stellt darüber hinaus neben dem Börsengesetz den Rechtsrahmen für Börsengeschäfte, also für den börslichen Wertpapierhandel dar. Vor allem aber das Börsengesetz 66 enthält allgemeine Bestimmungen für eine Börse und ihre Organe sowie für die Börsenaufsichtsbehörde. Es macht die Einrichtung einer Börse von einer Genehmigung der Börsenaufsichtsbehörde abhängig, und es enthält ferner den Rechtsrahmen für den Wertpapierhandel. Konkretisiert wird dieser Rechtsrahmen durch die von der jeweiligen Börse erlassene Börsenordnung.67 Im Gegensatz zu Großbritannien und Frankreich wird Deutschland von einer regionalen Börsenstruktur geprägt. Derzeit existieren sieben Wertpapierbörsen in Deutschland.68 Außerdem bestehen die gemeinsam mit der Schweiz geführte Terminbörse Eurex69 und verschiedene Warenbörsen.70 Eine weitere Besonderheit im europäischen Kontext stellt die Rechtsform der Börse in Deutschland dar. Das Börsengesetz selbst definiert zwar den Begriff der Börse nicht, doch herrscht heute weitgehend Übereinstim66 Gesetz vom: 21. Juni 2002, BGBl. I 2002, 2010, zuletzt geändert durch Art. 8 G v. 16.8.2005, BGBl. I 2437 (3095). 67 Die Börsenordnung der Frankfurter Wertpapierbörse ist abrufbar unter: http://www1.deutsche-boerse.com/INTERNET/EXCHANGE/zpd.nsf/KIR+Web+ Publikationen/HAMN-52CDY7/$FILE/FWB01_06-10-16.pdf?OpenElement (Stand: 16. Oktober 2006, Abrufdatum: 18. Oktober 2006). 68 Siehe Groß, Wolfgang, Kapitalmarktrecht, 2. Auflage, München 2002, BörsG, Vorbem. Rn. 15. Börsenplätze sind Stuttgart, München, Hamburg, Düsseldorf, Hannover, Frankfurt und der Platz Berlin-Bremen nach Fusion. 69 Die EUREX ging 1998 aus dem Zusammenschluss der DTB (Deutsche Terminbörse) und der zur SWX Swiss Exchange gehörenden SOFFEX (Swiss Options and Financial Futures Exchange) hervor. Die Muttergesellschaft der Eurex Frankfurt AG ist die Eurex Zürich AG, die 100% der Anteile hält und an der die Deutsche Börse AG und die SWX Swiss Exchange zu gleichen Teilen beteiligt sind. Tochtergesellschaften der Eurex Frankfurt AG sind die U. S. Exchange Holdings, Inc., Eurex Clearing AG, Eurex Repo GmbH und die Eurex Bonds GmbH. Die Eurex Deutschland AG ist der privatrechtliche Teil der Eurex; vgl. auch Groß, Kapitalmarktrecht (Fn. 68), BörsG, Vorbem. Rn. 14, 16. 70 Warenbörsenplätze sind Mannheim, Stuttgart, Frankfurt, Worms.

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mung, dass es sich bei ihr um eine teilrechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts 71 handelt, diese also zur mittelbaren Staatsverwaltung gehört. Allerdings führt die amtliche Begründung zum BörsG i. d. F. des 4. FMFG ausdrücklich aus, dass Börsen unselbstständige öffentlich-rechtliche Anstalten seien.72 Ihre Aufgabe besteht in der Beaufsichtigung und Überwachung des Börsenhandels im Rahmen ihrer Börsenselbstverwaltung.73 Seit dem 2. Finanzmarktförderungsgesetz hat sich allerdings die staatliche Aufsicht über den Wertpapierhandel zu einer echten Wertpapieraufsicht entwickelt, die nach und nach in einen Gegensatz zur Selbstverwaltungsautonomie der Börsen gerät und diese zunehmend überlagert bzw. verdrängt. Die Folge ist ein latenter Bund-/Länderkonflikt. Darüber hinaus ist die Struktur von Anstalt und Trägerschaft auf den großen Kapitalmärkten der Welt einzigartig. Denn die Teilrechtsfähigkeit der Anstalt „Börse“ bedingt, dass sie eines Trägers bedarf, der Zurechnungssubjekt für die Rechte und Pflichten im privatrechtlichen Rechtsverkehr ist. Die Rechtsfigur des Trägers der Börse hat im Lauf der Zeit ihre Gestalt verändert. Erwachsen aus einer Korporation der Kaufmannschaft wurden die deutschen Börsen in der Vergangenheit von öffentlich-rechtlichen Industrie- und Handelskammern, sodann von einem eingetragenen Verein gem. § 55 BGB – dem „Börsenverein“ – betrieben74, wie dies heute noch bei der Schweizer Börse der Fall ist. Seit dem 4. Finanzmarkt-Förderungsgesetz (FMFG) wird der Träger der Börse nunmehr in § 1 Abs. 2 BörsG ausdrücklich als Normadressat mit eigenen Rechten und Pflichten erwähnt. Er tritt förmlich neben die öffentlich-rechtliche Anstalt. Dementsprechend besteht seit dem Jahr 1993 an der größten deutschen Börse, der Frankfurter Wertpapierbörse, die „Deutsche Börse AG“, deren Aktien ebenfalls an der Frankfurter Börse gehandelt werden. Nach ähnlichen Modellen führen die Börsen in Stuttgart und Bremen ihre Geschäfte. Überregionale Bedeutung haben freilich, wie sich in der Debatte zu transatlantischen Börsenkooperationen und am Einstieg der Nasdaq bei der Londoner Börse (LSE) An71

Dass ihr zumindest Teilrechtsfähigkeit zukommt, kann aus § 13 Abs. 6 BörsG geschlossen werden. Dem genau hieraus teilweise abgeleiteten Umkehrschluss (z. B. Claussen, Carsten Peter/Erne, Roland, Bank- und Börsenrecht, 3. Auflage 2003, S. 363 Rn. 1; a. A. auch Groß, Wolfgang, Kapitalmarktrecht (Fn. 68), BörsG, Vorbem. Rn. 17) kann entgegengehalten werden, dass die Rechtsfähigkeit der Börsen sich nur auf den öffentlich-rechtlichen Bereich beschränkt. § 13 Abs. 6 BörsG hat Ähnlichkeit mit § 124 Abs. 1 HGB, der als Argument für die (Teil-)Rechtsfähigkeit der OHG und der Außen-BGB-Gesellschaft diente. 72 Vgl. BR-Drs. 936/01, S. 198. 73 Dazu ausführlich Breitkreuz, Tilmann, Ordnung der Börse (Fn. 56), zweites Kapitel. 74 Es besteht insoweit eine Betriebspflicht, vgl. Groß, Wolfgang, Kapitalmarktrecht (Fn. 68), BörsG, Vorbem. Rn. 16a, §§ 1–2c, Rn. 1 ff.

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fang April 2006 gezeigt hat, allein die Frankfurter Wertpapierbörse bzw. die „Deutsche Börse AG“. Insgesamt ist die skizzierte Struktur von Anstalt und Trägerschaft im Wertpapierhandel an den Börsen für die großen Kapitalmärkte einzigartig. Sie weist freilich gewisse Vorteile auf. Wenn das oberste Ziel nachhaltiges Wachstum des Wertpapiermarktes ist, wäre eine aktiennotierte private Trägerschaft der Börse wohl eher von Nachteil. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Handel mit Wertpapieren und vor allem Clearing und Settlement in nationalen Händen bleiben sollen. Insofern käme ggf. auch die Vereinslösung noch zum Zuge.75 Ein weiterer Vorteil besteht in der Neutralität der Aufsichtsführung, wie man gerade am Negativbeispiel der New Yorker Börse („Nyse“) gesehen hat. Freilich gibt es auch Nachteile, wie die mittlerweile in die Wege geleitete Fusion von Nyse und Euronext belegen. Dieser gelungene Coup lässt mit Blick auf die nicht zum Zuge gekommene Deutsche Börse AG befürchten, dass man sich von der Idee eines europäischen Finanzmarktes als Gegengewicht zu den USA wohl verabschieden kann. Eine solche Entwicklung schwächt Europa auch im Konkurrenzkampf mit den Wirtschaftsgiganten der Zukunft, mit Indien und der Volksrepublik China. c) Staatliche Aufsicht über Wertpapierhandel und Börsenaufsicht Die staatliche Aufsicht über den Wertpapierhandel hat sich seit dem 2. FMFG aus einer für die mittelbare Staatsverwaltung typischen Gewerbeaufsicht über die Rechtmäßigkeit des Handelns der Börsenorgane zu einer echten Wertpapieraufsicht entwickelt. Es ist eine Regulierungsinstanz entstanden, von der die nahezu hundertjährige Selbstverwaltungsautonomie der Börsen in Deutschland zunehmend überlagert bzw. verdrängt wird. Denn bis zum Inkrafttreten des 2. FMFG bestand die staatliche Überwachungstätigkeit der Börsenaufsichtsbehörden der Länder im Wesentlichen als Aufsicht über die Selbstverwaltung der Börse.76 Das 3. und 4. FMFG haben sodann die Intensität der an die Stelle dessen nunmehr getretenen staatlichen Marktaufsicht zu Lasten der Selbstverwaltungskompetenz der Börsen weiter ausgebaut. Es kommt zu Zentralisierungseffekten i. S. internationaler Finanzakteure, die grundgesetzlicher Legitimation entbehrt. Fallen also die staatliche Aufsicht über den Wertpapierhandel und die Börsenaufsicht dergestalt ineinander, lassen sich im Einzelnen drei Auf75

Zum Verein Breitkreuz, Ordnung der Börse (Fn. 56), erstes Kapitel D. I. Kümpel, Siegfried/Hammen, Horst/Ekkenga, Jens, Kapitalmarktrecht, Handbuch für die Praxis, Stand: Februar 2005, S. 108, Rn. 393. 76

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sichtsebenen unterscheiden bzw. voneinander abgrenzen77: Der Aufsicht über die Börse selbst durch ihre Handelsüberwachungsstellen, die das 2. FMFG als Börsenorgane zur Beaufsichtigung der Börse geschaffen hat, steht die Aufsicht durch die Börsenaufsichtsbehörden der Länder gegenüber. Diese haben nach § 1 Abs. 1 BörsG die Markt- und Rechtsaufsicht über die Börsentätigkeit auszuüben. Auf einer dritten Ebene handelt die Wertpapieraufsicht der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BAFin), deren Vorgänger das Bundesaufsichtsamt für den Wertpapierhandel war. Das BAFin beaufsichtigt auch, ob die Regeln hinsichtlich des Verfahrens der Übernahme von Unternehmen durch Erwerb von Wertpapieren der Aktiengesellschaften mit Sitz in Deutschland und Börsennotierung (Übernahmeangebot, Angebotsunterlagen, Verhaltenspflichten) ordnungsgemäß beachtet worden sind. 3. Integrierte Kapitalmarktaufsicht als „Regulierung“ Die rechtlichen Grundlagen für die Wertpapieraufsicht stellt neben dem WpÜG (Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz) das Wertpapierhandelsgesetz (WpHG) bereit. Es umschreibt zunächst in der Tradition einer polizeirechtlichen Generalklausel die Aufgabe der BAFin (Missbrauchsbekämpfung im Anwendungsbereich des Gesetzes), wobei diese zu Anordnungen ermächtigt wird, Missstände im Wertpapierhandel zu beseitigen oder zu verhindern.78 Das Gesetz gestattet zu diesem Zweck behördliche Maßnahmen bis hin zu einer Aussetzung des börslichen oder außerbörslichen Handels (§ 4 Abs. 2 WpHG). Hinsichtlich ihrer Funktionen und Struktur fügt sich dadurch die Wertpapieraufsicht in den Kanon der sektorspezifischen Regulierungsvorschriften des Kapitalmarktrechts ein. Diese dokumentieren die ungeachtet des privatrechtlichen Rahmens für den nationalen Finanzmarkt bestehende besondere Verantwortung des Staates für den Finanzsektor, die als Gewährleistungsverantwortung bezeichnet wird.79 Dieser geht es um den Verbraucherschutz, etwa der Bankkunden oder Wertpapiererwerber, um die Sicherung eines funktionsfähigen Wettbewerbs (auch supra- und international) auf den Wertpapiermärkten sowie um den Einsatz von Marktinstrumenten i. S. der Regulierung. Zu diesem Zweck sehen sich die Aufsichtsbehörden 77 Siehe auch Ruthig/Storr, Öffentliches Wirtschaftsrechtsrecht (Fn. 5), § 6 Rn. 391. 78 Dazu auch Wittich, Georg, Aktuelle Probleme der Wertpapieraufsicht in Deutschland und Europa, Die Bank 2001, 278; Kurth, Ekkehard, Problematik grenzüberschreitender Wertpapieraufsicht, WM 2000, 1521, 1525. 79 Allgemein zur Gewährleistungsverantwortung: Schuppert, Verwaltungswissenschaft (Fn. 31), S. 933 ff., 941.

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zu Steuerungsinstanzen hinsichtlich der privatwirtschaftlichen Leistungserbringung ausgebaut, ohne dabei aber die „klassischen“ Funktionen der Wirtschaftsaufsicht in den Hintergrund zu rücken. Parallel zu diesem „Funktionenmix“ lässt sich bei der Aufsichtstätigkeit – ähnlich wie bei dem Handeln der Bundesagentur für Arbeit80 – eine zunehmende Verschränkung von Zivilrecht und öffentlichem Recht beobachten, in deren Folge der privatrechtsgestaltende Verwaltungsakt zu neuer Bedeutung gelangt. Zugleich kommt es hinsichtlich der staatlichen Kontrolle zu einem noch nicht abschließend geklärten Nebeneinander kartell- und wirtschaftsverwaltungsrechtlicher Strukturen. Die skizzierte Entwicklung gilt für den Bereich der Kapitalmarktaufsicht insgesamt. Sie agiert auf der Grundlage eines sektorspezifischen materiellen Regulierungsrechts. Mögen auch die Rechtsgrundlagen für die Kapitalmarktaufsicht „extrem unübersichtlich“ sein, so wird doch deutlich, dass regulatives Wirtschaftsrecht den einst engen Bezug zu den traditionellen Materien des Wirtschaftsverwaltungsrechts zugunsten der Ausformung regulatorischer Innovationen und eines spezifischen Regulierungsverwaltungsrechts geöffnet hat. Die sektoriellen Aufsichtsbefugnisse für den Bankbereich, für das – hier nicht näher behandelte – Versicherungswesen81 sowie für den Wertpapierhandel finden sich zwar in den weiter bestehenden bzw. neu hinzugekommenen Spezialgesetzen wie dem Kreditwesengesetz, dem Versicherungsaufsichtsgesetz, dem WpHG und dem WpÜG ausgestaltet. Doch ist der übergreifende gewerberechtliche Zusammenhang dieser Rechtsetzung aufgegeben. Stattdessen verkörpert die „bewegliche Vielfalt von Rechtsnormen“ (Badura)82 das moderne regulative Wirtschaftsrecht. Es bedarf keiner besonderen Erinnerung daran, dass zu diesem auch andere Sektoren der wirtschaftsrechtlichen Ordnung gehören wie z. B. das Energierecht oder auch das Telekommunikationsrecht.

80 Pitschas, Rainer, Das sozialrechtliche Verwaltungsverfahren im „aktivierenden“ Sozialstaat, FS 50 Jahre Bundessozialgericht, Köln-Berlin-München 2004, S. 765, 781. 81 Dazu näher Weber-Rey, Daniela/Baltzer, Corinna, Aktuelle Entwicklungen im Versicherungsaufsichtsrecht, WM 2006, 205 ff.; Fricke, Martin, Versicherungsaufsicht integriert – Versicherungsaufsicht unter dem Gesetz über die integrierte Finanzdienstleistungsaufsicht, NVersZ 2002, 337 ff. 82 Badura, Peter/Huber, Peter M., in: Schmidt-Aßmann, Eberhard (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 13. Auflage, Berlin 2005, 3. Kapitel – Öffentliches Wirtschaftsrecht, S. 277, 339 Rn. 76 m. w. N.; vgl. ferner Badura, Peter, Die Daseinsvorsorge als Verwaltungszweck der Leistungsverwaltung und der soziale Rechtsstaat, DÖV 1966, 624 ff.

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4. Regulierung als institutionelle Ausdifferenzierung Die Eigenheit des regulativen Finanz- und Kapitalmarktrechts besteht nicht nur in der materiell-rechtlichen Ausweitung exekutivischer Spielräume, die in der Praxis föderalistische „Brechungen“ aufweisen. Spezifisches Regulierungsrecht zeigt sich im Finanzsektor auch als institutionelle Ausdifferenzierung spezieller Regulierungsbehörden. In diesem Sinne steht auch im Bereich der Kapitalmarktaufsicht eine Bundesbehörde im Mittelpunkt, nämlich die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BAFin). Auf der Grundlage des Gesetzes über die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Finanzdienstleistungsaufsichtsgesetz-FinDAG) fasst die BAFin erstmals sektorenübergreifend und in Zusammenführung verschiedener Finanzdienstleistungen in einer Hand die Aufsichtsbefugnisse als „Allfinanzaufsicht“ zusammen. Die Aufsicht über Banken und Versicherungen einerseits, über den Wertpapierhandel andererseits wird auf diese Weise einer einheitlichen Behörde übertragen. Dabei erstreckt sich die staatliche Aufsicht auch auf Finanzdienstleistungsinstitute. Organisatorisch ist die BAFin keine „Agentur“ (agency), sondern eine rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts.83 Sie untersteht der Rechtsund Fachaufsicht des Bundesministeriums der Finanzen.84 Ihre Organe sind der Präsident und Vizepräsident sowie der Verwaltungsrat.85 Die dreigliedrig angelegte Aufsicht erfasst in einzelnen Säulen die Bankenaufsicht, die Versicherungsaufsicht und die Wertpapieraufsicht. Diese Säulenstruktur spiegelt aber nicht nur organisatorisch, sondern auch normativ die materiellrechtliche Regulierung wider.86 Erfasst wird die weiterhin im KWG geregelte Aufsicht über das Kreditwesen einschließlich der Finanzdienstleistungsinstitute, die dem VAG unterfallende Versicherungsaufsicht und die Wertpapieraufsicht. In der Ausgestaltung als „rechtsfähige Anstalt“ erweist sich die BAFin organisatorisch als durchaus eigenständig. Während für die Aufsicht im Bereich des Energiewirtschaftsrechts eine „Bundesnetzagentur“ zur Regulierung des Energie-, Strom- und Gassektors geschaffen wurde, ist im Bereich der Kapitalmarktaufsicht die „Anstalt“ als Organisationsform für die Verfolgung politisch-regulatorischer Ziele errichtet worden. Interessant ist daran die „Öffnung“ gegenüber der Wirtschaftsgesellschaft durch den „Verwaltungsrat“ der BAFin. Ihm gehören u. a. fünf Vertreter der Kreditinstitute, vier 83 84 85 86

§ 1 Abs. 1 FinDAG. § 2 FinDAG. § 5 Abs. 1 FinDAG. Siehe Fn. 55.

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Vertreter von Versicherungsunternehmen und ein Vertreter der Kapitalanlagegesellschaften an.87 Es besteht also eine ganz erhebliche Mitsprachemöglichkeit seitens der Vertreter der Kreditinstitute gegenüber den Vertretern der anderen Säulen. Insofern die Aufgabe des Verwaltungsrates in der Überwachung der Geschäftsführung der Bundesanstalt sowie in der Unterstützung des Präsidenten besteht, kommt es ferner zu einer institutionellen Ausdifferenzierung der Regulierungsaufgabe. Auf diese Weise wird die sektorenspezifische Wirtschaftssteuerung im Finanzsektor durch das Modell einer „regulierten Selbstregulierung“ sowie einer „Verwaltungspartnerschaft“ gekennzeichnet.88 Allerdings wird dabei die Selbstregulierung durch die staatliche Aufsicht überformt. Auf diese Weise ist durch Verzicht auf vollständig unabhängige Regulierungstätigkeit ein Traditionsbruch mit dem deutschen Modell einer weitgehend abhängigen Verwaltungseinheit vermieden worden; die Kapitalmarktaufsicht in Gestalt einer Anstalt folgt eben nicht der Konzeption der US-amerikanischen „independent agency“, deren weitreichende Autonomie ein Charakteristikum des amerikanischen Verwaltungsrechts darstellt. Gleichwohl kollidiert dieses Modell mit demjenigen des deutschen Verwaltungsrechts, was insbesondere an den rechtsstaatlich-demokratischen Grundlagen des deutschen Verwaltungsrechts liegt. Denn die Institutionalisierung privater Regulierungselemente führt in die Entwicklung einer GovernancePerspektive mit deren Legitimationsdefiziten hinein. V. Sektorspezifische Regulierung der mitgliedstaatlichen Kapitalmärkte durch die Europäische Union Grenzüberschreitender Wettbewerb bei erhöhtem Kostendruck und die weltumspannende Informatisierung der Finanzdienstleistungen wirken heute als zentrale Faktoren der Internationalisierung von Finanzmärkten. Diese Entwicklung vollzieht sich auch und gerade im europäischen Raum. Dadurch, dass im Sog der EU-Integration die Finanzmärkte nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch immer mehr zusammenwachsen, muss die gemeinschaftliche Marktentwicklung nicht mehr nur koordiniert, sondern konkreter Harmonisierung unterworfen werden. Auch für Finanzdienstleistungen entsteht auf diese Weise ein einheitlicher supranationaler (und globaler) Markt, auf dem sich die Marktteilnehmer gegenseitig als direkte Kon87

§ 7 Abs. 3 Nr. 2 lit. e) bis g) FinDAG. Pitschas, Rainer, Neues Verwaltungsrecht im partnerschaftlichen Rechtsstaat?, DÖV 2004, 231 ff.; private Vereinbarungen haben in diesem Zusammenhang Vorrang vor staatlicher Anordnung, vgl. Ruthig/Storr, Öffentliches Wirtschaftsrechtsrecht (Fn. 5), § 6 Rn. 394. 88

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kurrenten sehen. Der Marktdruck einerseits und der Wille, gegenüber anderen Weltregionen als Wettbewerber aufzutreten, brechen die bislang relativ geschützten nationalen Finanzmärkte auf; es kommt zur Reorganisation veralteter Sektorstrukturen. 1. Governance-Strukturen der europäischen Kapitalmarktregulierung Verwaltungswissenschaftlich gesehen bedingt dieser Übergang zu einem einheitlichen europäischen Finanzmarkt eine zunehmend komplexere supranationale Regulierung kraft Verantwortungspartnerschaft sowie ein Zusammenwirken staatlicher und privater Institutionen i. S. der „regulierten Selbstregulierung“. Staatliche Finanzaufsicht wandelt in diesem Zusammenhang ihren Charakter, indem sie dazu übergeht, in komplexen Regulierungssituationen Marktinstrumente wie z. B. Standardsetzung und Lizenzierung einzusetzen. Zugleich gründet die politisch-gestaltende Finanzmarktregulierung in besonderem Maße auf einem europäisierten Verwaltungsrecht, das vor allem auf gemeinschaftsrechtliches Verordnungsrecht und auf entsprechende Richtlinien zurückgreift.89 Sie bedient sich der Kooperation transnationaler privater Akteure mit traditionell gegensätzlichen oder gegnerischen Interessen. Zunehmend bilden sich in diesem supranationalen Kontext private Regulierungsregime.90 Auf nationaler Ebene bildet die BAFin ein Beispiel dafür, was kooperatives Zusammenwirken zwischen unterschiedlichen Akteuren und Institutionenbildung für private Normsetzung zur Folge haben kann und wie auf europäischer Ebene die Entwicklung zu einer europäischen Allfinanzaufsicht begonnen hat. Zur Debatte steht das Design eines europäischen Aufsichtssystems als Bestandteil europäischer Governance, das in seinen organisatorischen wie auch materiell-rechtlichen Bauformen sowohl in Übereinstimmung mit den mitgliedstaatlichen Anforderungen als auch mit denen der Gemeinschaft und den Grundfreiheiten der EU stehen muss.91 Innerhalb 89 Für den Bankbereich begann dies etwa seit den 70er Jahren. Bereits die 4. Novelle des KWG, die am 1. Januar 1993 in Kraft trat, setzte die Bankrechts-Koordinierungsrichtlinie (89/646/EWG des Rates G vom 15. Dezember 1989, ABl. Nr. L 311/42 vom 14.11.1997), die Eigenmittelrichtlinie (89/299/EWG des Rates vom 17. April 1989, ABl. Nr. L 124/16 vom 5.5.1989) und die Solvabilitätsrichtlinie (89/647/EWG des Rates vom 18. Dezember 1989, ABl. Nr. L 386/14 vom 30.12.1989) um. 90 Für den Bankbereich sei hier nur auf den Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht verwiesen, der 1975 von den Präsidenten der Zentralbanken der G-10-Länder errichtet wurde, vgl. Deutsche Bundesbank, Monatsbericht April 2001, S. 16 Fn. 1. 91 Für Deutschland und seine Finanzkonglomerate s. etwa Deutsche Bundesbank, April 2005, S. 39 ff. Auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene hat die Finanzkonglomeratsrichtlinie (2002/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. De-

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dieser Rahmenbedingungen wird künftig eine europäische Finanzdienstleistungsaufsicht als Gewährleistungsaufsicht gerade zur Realisierung der Grundfreiheiten (Verbraucherschutz u. a.) unter den Bedingungen der Globalisierung von Finanzmärkten notwendig. 2. Kapitalverkehrsfreiheit und Bankenregulierung in der EU Auch ein funktionierender europäischer Bankenmarkt erfordert einheitliche aufsichtsrechtliche Mindeststandards. Der europäische Gesetzgeber hat sich deshalb im Grundsatz für das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung nationaler Regelungen entschieden und sich auf eine Harmonisierung des aufsichtsrechtlichen Rahmens in den Grundzügen beschränkt.92 Dagegen erwies sich der Versuch, alternativ ein einheitliches Bankenaufsichtssystem zu schaffen, bislang als nicht praktikabel.93 Überlegungen, i. S. der vorerwähnten Initiative zu einer europäischen Allfinanzaufsicht eine übergeordnete europäische Bankaufsichtsbehörde einzurichten, hat die EU-Kommission erst jüngst zurückgestellt. Gleichwohl ist es in der Zwischenzeit zu einer Harmonisierung der Zulassungsbedingungen für Kreditinstitute gekommen. Danach ist es Kreditinstituten mit Sitz in einem EU-Mitgliedsstaat gestattet, ohne (zusätzliche) Genehmigung grenzüberschreitende Bankdienstleistungen in der EU anzubieten oder Zweigniederlassungen zu gründen – wobei die allgemeine Erlaubnis durch die Heimatlandbehörde vorausgesetzt wird („Europäischer Pass“).94 Neben dieser Bankrechtskoordinierung seit dem Jahr 1989 legt die zember 2002, ABl. Nr. L 35/1 vom 11.2.2003) im Bereich der Aufsichtsstandards die Harmonisierung gefördert; dazu näher Pitschas/Gille, Entwicklungen der Finanzmarktaufsicht (Fn. 31), S. 68, 87 m. w. N. 92 Dazu Pitschas/Gille, Entwicklungen der Finanzmarktaufsicht (Fn. 31), S. 68, 72 ff.; vgl. ferner Boos, Karl-Heinz/Stein, Björn Christian, Finanzmarktintegration und Aufsichtskonvergenz in der Europäischen Union, Kreditwesen 2006, 325 f. 93 Zur Kooperation vgl. Kuntze, Wolfgang, Zusammenarbeit der Bankaufsichtsbehörden, Kreditwesen 1993, 18 ff. Immerhin lässt sich ein Trend in Europa beobachten – vor allem in Deutschland und Großbritannien –, eine einheitliche Aufsicht über den Finanzbereich einzusetzen, obwohl dies nicht vorgeschrieben ist. Allerdings betont die Konglomeratsrichtlinie in ihrem Grund 12 (2002/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2002, ABl. Nr. L 35/1 vom 11.2.2003), dass eine verstärkte Kooperation notwendig sei. Dazu ausführlich Heinrich, Tobias A., Die EG-Richtlinie 2002/87/EG über die zusätzliche Beaufsichtigung von Finanzkonglomeraten, ZBB 2003, 230 ff. 94 Dazu Hanten, Matthias, Der europäische Paß für Zweigniederlassungen von Kredit- und Finanzinstituten aus deutscher Sicht, ZBB 2000, 245 ff.; vgl. auch § 10a KWG sowie Pitschas/Gille, Entwicklungen der Finanzmarktaufsicht (Fn. 31), S. 68, 83.

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EG-Eigenmittelrichtlinie95 – durch die Solvabilitätsrichtlinie96 ergänzt – einheitliche Eigenkapitalkomponenten für Banken fest. Diese gehen letztlich auf das Regelwerk des sog. Baseler Ausschusses zurück.97 Weitere Richtlinien folgten in den 90er Jahren. Sie wurden in der sog. Bankenrichtlinie aus dem Jahr 2000 zusammengefasst, um die Übersichtlichkeit des europäischen Bankenaufsichtsrechts zu wahren.98 Eine weitere Harmonisierung im Bereich der Eigenkapitalunterlegung von Risikoaktiva sowie i. S. einer verstärkt qualitativ ausgerichteten Bankenaufsicht steht durch die europäischen Richtlinien zur Umsetzung des Beschlusses des Baseler Ausschusses zur internationalen Konvergenz der Eigenkapitalmessung und der Eigenkapitalanforderungen (Basel II) im Jahr 2006 bevor.99 Dennoch kann von einer vollständigen Angleichung nicht die Rede sein. Für einen bedeutenden Kreis von Vorschriften findet das Herkunftslandprinzip in bezug auf das materielle Aufsichtsrecht Anwendung: Grundsätzlich gelten auch nicht harmonisierte Vorschriften des nationalen Aufsichtsrechts für inländische Kreditinstitute bei Aktivitäten im EU-Ausland einschließlich ihrer dortigen Zweigniederlassungen. Schließlich existieren im Bankenaufsichtsrecht Normen, die bislang keiner europäischen Harmonisierung unterliegen und die innerhalb der jeweiligen Landesgrenzen uneingeschränkt für alle aus- und inländischen Kreditinstitute gelten (Territorialitätsprinzip). Dazu zählt etwa das Kontoabrufverfahren.100

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RL 89/299/EWG des Rates vom 15. Dezember 1989, ABl. Nr. L 124/16 vom 5.5.1989. 96 RL 89/647/EWG des Rates vom 18. Dezember 1989, ABl. Nr. L 386/14 vom 30.12.1989. 97 Hier sind besonders zu beachten das Baseler Konkordat (Basel Committee of Banking Supervision, Grundsätze für die Beaufsichtigung der ausländischen Niederlassung von Banken, 1983) und die Core Principles (Basel Committee of Banking Supervision, Grundsätze für eine wirksame Bankenaufsicht, 1997). 98 RL 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. März 2000, ABl. Nr. L 126/1 vom 26.5.2000. 99 Dazu Deutsche Bundesbank, Monatsbericht April 2001. Das Inkrafttreten war allerdings für Anfang 2004 vorgesehen, vgl. auch Cluse, Michael/Cremer, Andreas, Die Umsetzung von Basel II in deutsches Recht, Kreditwesen 2006, 329 ff.; Boos, Karl-Heinz/Stein, Björn Christian, Finanzmarktintegration und Aufsichtskonvergenz in der Europäischen Union, Kreditwesen 2006, 325 f.; Jungmichel, Tim, Basel II und die möglichen Folgen, WM 2003, 1201 ff.; zu Basel II siehe auch Träm, Neue Entwicklungen der staatlichen Bankenaufsicht (Fn. 49), S. 104 ff. 100 Es erlaubt der Finanzverwaltung, Stammdaten in einem automatisierten Verfahren abzurufen, vgl. dazu Schneider, Jürgen, Das Kontoabrufverfahren, AGS 2006, 50 ff.

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3. Europäische Regulierung des börslichen Wertpapierhandels Auch das Wertpapiergeschäft wurde schon 1993 durch die Wertpapierdienstleistungsrichtlinie 101 in ein europäisches Regelungsgefüge eingepasst. Mit ihm wurden auch aufsichtsrechtliche Regelungen für diesen Bereich harmonisiert.102 Dies wurde durch die unterschiedlichen Bankenstrukturen in den europäischen Mitgliedstaaten notwendig, weil in einem reinen Universalbankensystem gesonderte Vorschriften nicht erforderlich wären. Da dieses aber nicht existiert, sind nunmehr Regelungen zur Zulassung, über die laufende Beaufsichtigung und die Eigenkapitalforderungen entstanden. In der Wertpapierdienstleistungsrichtlinie werden die Voraussetzungen für die Sitzlandkontrolle und die Gleichstellung von Wertpapierunternehmen und Kreditinstituten im Sinne des schon erwähnten „Europäischen Passes“ festgeschrieben. Die Kapitaladäquanzrichtlinie 103 ergänzt diese Anforderungen; sie stellt überdies aufsichtsrechtliche Rahmenbedingungen für Kreditinstitute und Wertpapierhäuser auf. Welche Schwierigkeiten allerdings der Versuch der Harmonisierung bereitet, zeigt der Blick auf die Geschäftstätigkeit im Internet am Beispiel des Wertpapierhandels. Als bedeutendste Herausforderung für Recht und Rechtswissenschaft steht das Internet geradezu für die Überschreitung nationaler Grenzen einerseits und die dabei entstehenden Schwierigkeiten staatlicher Regulierung andererseits.104 So beschränkt § 58 BörsG die Anzeigepflicht elektronischer Handelssysteme auf die im Inland betriebenen. Doch bedürfen ausländische organisierte Märkte oder ihre Betreiber der schriftlichen Erlaubnis der BAFin, wenn sie Handelsteilnehmern mit Sitz im Inland über ein elektronisches Handelssystem einen unmittelbaren Marktzugang gewähren (vgl. § 37i Abs. 1 S. 1 WpHG). Allerdings erfasst diese Erlaubnispflicht nicht Anbieter aus Mitgliedstaaten der EU (Abs. 4 der Vor101

RL 2004/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004, ABl. Nr. L 45/18 vom 16.2.2005. Diese ist die Basis für grenzüberschreitende Wertpapiertransaktionen in der EU, vgl. Seitz, Jochen, Die Integration der europäischen Wertpapiermärkte und die Finanzmarktgesetzgebung in Deutschland, BKR 2002, 340, 346. 102 In einem richtungsweisenden Weißbuch verabschiedete sich die Kommission von dem ursprünglichen Ziel, eine Vollrechtsharmonisierung zu erreichen; sie strebt nunmehr lediglich eine Mindestharmonisierung, eine wechselseitige Anerkennung der nationalen Regelungen und eine Aufsicht durch die zuständige Behörde des Herkunftsmitgliedstaates an (Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Weißbuch zur Vollendung des Binnenmarktes, KOM (1985) 310 vom 29. Juni 1985, abrufbar unter http://ec.europa.eu/comm/off/pdf/1985_0310_f_de.pdf). 103 RL 93/6/EWG des Rates vom 15. März 1993, ABl. Nr. L 141/1 vom 11.6.1993. 104 Ruthig/Storr, Öffentliches Wirtschaftsrechtsrecht (Fn. 5), § 6, Rn. 396.

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schrift). Hier kommt das Herkunftslandprinzip der daneben bestehenden E-Commerce-Richtlinie 105 zum Tragen.106 Es handelt sich um kollisionsrechtliche Fragen i. S. des internationalen öffentlichen Rechts, die ebenso der Vertiefung bedürfen wie jene nach einer gemeinschaftsrechtlichen Reform des Fernabsatzes von Finanzdienstleistungen. VI. Finanzdienstleistungen im Spannungsfeld des Welthandelsrechts Die künftige europäische Entwicklung der Aufsicht über die Kapitalmärkte und ihrer Regulierung liegt nach alledem klar zutage. Die EU befindet sich auf dem Weg zu einem einheitlichen europäischen Finanzmarkt, der mit den Kapitalmärkten anderer Weltregionen wettbewerbsfähig sein soll. Hierfür ist ein ausreichendes Maß an einheitlicher Marktregulierung erforderlich. Allerdings verursacht diese auch Kosten: Es kommt supranational zu Konflikten mit der Kapitalverkehrsfreiheit und anderen Freiheitsgewährleistungen. Dies gilt auch für die Rolle der Kapitalmarktaufsicht im weltweiten Finanzdienstleistungsangebot, das seinerseits dem internationalen Wettbewerbsschutz durch die „World Trade Organization (WTO)“ unterliegt. Trans- und supranationale Regulierung des europäischen Finanzmarktes drohen Wettbewerbsschranken zu errichten. Daraus erwächst die Frage nach deren internationaler Zulässigkeit, d. h. nach ihrer Vereinbarkeit mit dem Welthandelsrecht. 1. Das WTO-Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS) Im Mittelpunkt der Antworten auf diese Frage steht das WTO-Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen, das „General Agreement on Trade in Services (GATS)“.107 Es erstreckt sich auf den internationalen Handel mit Dienstleistungen zugunsten der Liberalisierung dieses Sektors und ist seit Januar 1995 in Kraft. Als völkerrechtliche Rahmenregelung für den internationalen Handel mit Dienstleistungen108 bezieht sich das Abkommen auch auf Regelungen zur innerstaatlichen und europäisierten Aufsicht über die Wirtschaft einschließlich der Finanzmärkte. Allgemein gel105 RL 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000, ABl. Nr. L 178/1 vom 17.7.2000. 106 Ruthig/Storr, Öffentliches Wirtschaftsrechtsrecht (Fn. 5), § 6, Rn. 396. 107 Siehe dazu ausführlich Hilf, Meinhard/Oeter, Stefan (Hrsg.), WTO-Recht, Baden-Baden 2005, §§ 23 und 24. 108 Näher zur WTO und ihren Aufgaben Beise, Marc, Die Welthandelsorganisation (WTO), Baden-Baden 2001, S. 16 ff.

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tende Maßnahmen, die den Handel mit Finanzdienstleistungen betreffen, müssen hiernach „angemessen, objektiv und unparteiisch angewendet werden“ (Art. VI Abs. 1 GATS). 2. Finanzdienstleistungen als Abkommensgegenstand Das in das GATS eingefügte Abkommen über die Finanzdienstleistungen (FDL) ist zum 1.3.1999 in Kraft getreten.109 Die unbefristete und auf Meistbegünstigung beruhende Vereinbarung sieht einen weltweiten Abbau der wesentlichen Handelsschranken für den Finanzdienstleistungshandel vor. Es erklärt den endgültigen Verzicht auf das Instrument der Reziprozität in diesem Sektor.110 Allerdings ist mit dem Abkommen keineswegs die volle Liberalisierung der Finanzdienstleistungen verbunden: Die nationalen aufsichtsrechtlichen Maßnahmen bleiben unangetastet. Immerhin wird aber der Verkehr mit Dienstleistungen dem Prinzip der Meistbegünstigung unterstellt. So umfassen die von den OECD-Staaten eingegangenen Verpflichtungen in der Regel freie Inanspruchnahme von Finanzdienstleistungen im Ausland, freie Niederlassung für ausländische Unternehmen sowie die grenzüberschreitende Erbringung von Transport- und Rückversicherung neben Finanzberatung und Verarbeitung von Finanzdaten.111 Was die Aufsichtsmaßnahmen über den Finanzdienstleistungshandel anbelangt, so sieht das Finanzdienstleistungsabkommen vor, dass ein Mitglied bei der Festlegung, wie seine Regulierung in bezug auf diese Leistungen gestaltet werden soll, aufsichtsrechtliche Maßnahmen eines anderen Mitgliedsstaats anerkennen kann.112 Jedes Land ist somit de facto berechtigt, allein oder im Zusammenwirken mit anderen spezifische Maßnahmen zur Erhaltung eines gesunden und stabilen Finanzmarktes zu ergreifen.

109

Fünftes Protokoll zum GATS vom 14.11.1997, WTO-Dokument S/L/44. Von Interesse ist im Besonderen die Anlage 1 FDL und das Understanding on Commitments in Financial Services, vgl. Hernekamp, Juliane, in: Hilf, Meinhard/Oeter, Stefan (Hrsg.), WTO-Recht, Baden-Baden 2005, § 23 Rn. 8. 110 Pitschas/Gille, Entwicklungen der Finanzmarktaufsicht (Fn. 31), S. 68, 95 m. w. N. 111 Hernekamp, WTO-Recht (Fn. 109), § 23 Rn. 12. 112 Art. VII GATS i. V. m. Ziffer 3 Anlage 1 FDL; vgl. Hernekamp, WTO-Recht (Fn. 109), § 23 Rn. 13; dazu näher Kokott, Juliane, Liberalisierung der Finanzdienstleistungen im Rahmen der WTO – Auswirkungen auf Deutschland, Österreich und die Schweiz, RIW 2000, 401, 403.

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3. Regulierung des Kapitalmarktes als Handelsbeschränkung/-hemmnis Nicht zu leugnen ist jedoch, dass die Kapitalmarktaufsicht in diesem Gefüge einen wettbewerbshemmenden Faktor darstellen kann. Dies gilt zumal dann, wenn sie – wie derzeit in der EU – mit der zunehmenden Liberalisierung des Finanzdienstleistungsbereichs eine eigene umfassende Regulierung verbindet. Die von der EU angestrebte Harmonisierung der Aufsichtsregeln führt deshalb zu der Frage, ob diese „nicht belastender als nötig sind, um die Qualität der Dienstleistungen zu gewährleisten“ (vgl. Art. VI Abs. 4 lit. b GATS). Diese Frage stellt sich allerdings nicht nur für den Handelsblock der EU. Die Antwort darauf hat davon auszugehen, dass die europäische Regulierung der nationalen Kapitalmärkte in einem Spannungsverhältnis zu den Liberalisierungstendenzen der WTO steht.113 Dessen Abbau vermag selbst der Baseler Akkord nur begrenzt zu fördern, weil zumindest die Entwicklungsstaaten daran nicht beteiligt sind. VII. Zusammenfassung mit Thesen Ziehen wir Bilanz: Der „Aktionsplan für Finanzdienstleistungen“ der EU hat den Weg zu einem einheitlichen europäischen Finanzmarktrecht jedenfalls partiell bereitet. Ein Meilenstein auf diesem Weg ist die ausgreifende europäische Kapitalmarktregulierung. Diese folgt der Bildung supra- und internationaler Finanzkonglomerate sowie der Zunahme der „Allfinanzentwicklung“. Die vertiefte materiellrechtliche und institutionelle Regulierung gerät dabei in ein Spannungsverhältnis mit den Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts und binnenstaatlichen Verfassungsgarantien. Diese bilden einerseits eine Grenze der Verschärfung von Aufsichtshandeln, erfordern aber andererseits i. S. von Schutzpflichten den Ausbau der supranationalen Regulierung des europäischen Finanzmarktes. Diese überformt ihrerseits die mitgliedsstaatliche Regulierung der nationalen Kapitalmärkte, wie sich – am Beispiel Deutschlands – sowohl im Bankensektor als auch für den Wertpapierhandel und andere Börsengeschäfte erweist. Einzubeziehen ist auch der nationale Versicherungsmarkt. Der nähere Blick auf die Entwicklung der Regulierung ergibt, dass es zur Ausformung eines „kapitalindustriellen“ Finanzsektors kommt. Eine besondere Rolle spielt dabei die Regulierung durch die einheitliche Kapitalmarktaufsicht und ihre institutionelle Ausdifferenzierung. 113 Vgl. hierzu Heintzeler, Frank, Auch die Industriestaaten sollten in einem zweiten WTO-Abkommen weitere Liberalisierungszusagen eingehen, Kreditwesen 2001, 344, 345.

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Diese sektorspezifische Regulierung der mitgliedsstaatlichen Kapitalmärkte wird durch die „Europäisierung“ der Kapitalmarktregulierung nicht nur überlagert. Deren Kennzeichen ist vielmehr die Ausformung spezifischer „Governance-Strukturen“ als Ausdruck einer finanzpolitischen Verantwortungspartnerschaft von Gemeinschaft, Mitgliedstaaten und privaten Unternehmen. Auch hier zeigen sich unterschiedliche Entwicklungslinien. Zum einen kommt es zur Ausprägung einheitlicher aufsichtsrechtlicher Mindeststandards im Wege partieller Rechtsangleichung. Doch kann von einer vollständigen Harmonisierung nicht die Rede sein. Zum anderen kommt es zu einer „regulierten Selbstregulierung“; die Eigenregulierung des werdenden europäischen Finanzmarktes ist gefragt. Noch undeutlich offenbart sich schließlich eine dritte Entwicklungslinie. Sie betrifft die Auswirkungen der Kapitalmarktaufsicht in der EU auf das weltweite Finanzdienstleistungsangebot. Denn die wachsende Harmonisierung der Finanzaufsicht droht entgegen dem internationalen Wettbewerbsschutz durch das WTO-Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen neue Wettbewerbsschranken zu errichten. Zu bestehen ist deshalb darauf, dass Finanzdienstleistungen als Abkommensgegenstand weltweit stärker noch als bisher liberalisiert werden. Doch ist das Verfahren der Aufstellung einer Verpflichtungsliste wenig geeignet, hier die Gestaltungsspielräume für den liberalisierten Finanzdienstleistungsverkehr zu erweitern.

Die Ordnung des Marktes durch Recht Von Reiner Schmidt I. Einleitung Moderne Gesellschaften werden durch Freiheit und Autonomie geordnet. Der Staat als Zwangsordnung steht der Gesellschaft gegenüber. Der Markt ist dem gesellschaftlichen Bereich zuzuordnen. Staat und Markt sind aufeinander angewiesen. Die Metaphorik von der „unsichtbaren Hand“ des Marktes darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Staat für die Wirtschaft verantwortlich, ja unverzichtbar ist. Er kann dieser Verantwortung dadurch gerecht werden, dass er selbst wirtschaftet oder aber dadurch dass er die Wirtschaft den Privaten überlässt. Die grundsätzlichen Optionen bestehen in der Zentralwirtschaft oder der Marktwirtschaft. Das Recht ist in beiden Fällen notwendig. Auch die Entscheidung für die grundsätzliche Autonomie bedarf rechtlicher Grundlegung und normativer Absicherung. Im Übrigen: selbst in einem freiheitlichen System reguliert der Staat die gesamte Volkswirtschaft. Er nimmt auf die wirtschaftlichen Prozesse Einfluss und korrigiert erforderlichenfalls das Marktergebnis direkt. Anders als in der Zentralverwaltungswirtschaft muss er das Individualprinzip, die Planträgerschaft des Wirtschaftssubjekts und die Koordination der Einzelpläne durch den Markt, die Preisorientierung und das Privateigentum prinzipiell sichern und respektieren.1 II. Die deutsche Lösung Das Grundgesetz enthält kein Wirtschaftsordnungsmodell, keine bestimmte Wirtschaftsverfassung. Zwar hat der Verfassungsgeber im Jahr 1949 durchaus die Wichtigkeit der Wirtschaftsordnung für den Staat erkannt. Die Meinungsverschiedenheiten über die Gestaltung einer Wirtschaftsverfassung waren aber zu groß. Es konnte kein regelungsfähiger Gesamtkonsens erzielt werden. Immerhin wurden wirtschaftsrelevante Bauund Ecksteine für den Markt gesetzt. Mit der Gewährleistung der Vertragsfreiheit und anderer Grundrechte wird der Markt ermöglicht, mit dem Ge1 Zum Ganzen vgl. Schmidt, Reiner, Staatliche Verantwortung für die Wirtschaft, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. IV, 3. Aufl., 2006, § 92.

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setz gegen Wettbewerbsbeschränkungen werden Selbstgefährdungen der privatwirtschaftlichen Freiheit durch wettbewerbsschädliches Verhalten, durch Kartelle und Monopole verhindert. Die verfassungsrechtlichen Garantien des Privateigentums, die Berufs-, Gewerbe- und Unternehmensfreiheit, die Möglichkeiten der freien Wahl des Arbeitsplatzes und das Recht zur Gründung von Handelsgesellschaften zeigen, dass für das Grundgesetz der Koordinationstyp der Zentralverwaltungswirtschaft ausgeschlossen wurde. Die durch Grundrechte geprägte Wirtschafts- und Sozialgestaltung schließt die absolute Herrschaft des politischen Systems über die Wirtschaft aus. Die Abschaffung des Marktes und des Wettbewerbs wäre deshalb rechtlich nicht möglich. Im Grundgesetz ist keine bestimmte in sich verfestigte Wirtschaftsordnung, also keine Wirtschaftsverfassung, enthalten. Andererseits garantiert es dezentrales Wirtschaften. Eine Folge dieser Sicht ist die Legitimationsbedürftigkeit jedes staatlichen Eingriffes in den Markt. Nach der friedlichen Revolution des Jahres 1989 war es deshalb eine Selbstverständlichkeit im Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion die „soziale Marktwirtschaft als gemeinsame Wirtschaftsordnung“ beider Vertragsparteien festzuschreiben. III. Die gewandelte Situation Die soziale Marktwirtschaft war der wirtschaftswissenschaftliche und politische Versuch, die Freiheit der Wirtschaft mit dem Anspruch des Staates zu versöhnen, ein gesellschaftliches Leitbild zu definieren und umzusetzen.2 Mit dem Verlust des nationalen Horizonts durch die Globalisierung wird das Verhältnis zwischen einem bestimmten politischen Selbstverständnis und der Welt der Wirtschaft auf eine neue Grundlage gestellt. Globalisierung ist mehr als Internationalisierung. Globalisierung bedeutet schlicht Irrelevanz des Standortes. An die Stelle geschlossener Staaten tritt die Wirtschaft der einen Welt. Das Zeitalter der territorial festgelegten Verfassungsstaaten scheint zu Ende zu gehen. Die neue Epoche findet ihre Einheit mehr in der Wirtschaft als in der Politik. Inzwischen spielt, zumindest im Bewusstsein, die Welt des unbegrenzten Wirtschaftens eine, vielleicht die entscheidende Rolle. Die Weltwirtschaft setzt auf den Wettbewerb als neues Leitbild und überwindet auch die Mobilitätsbarrieren zwischen den Mitgliedsstaaten der EU.3 Die offene Marktwirtschaft wird zur Gründungsidee des sich einigenden Europas. Mit ihr taucht am Horizont ein noch ferner globaler Staat auf. Ein internationales einheitliches Privatrecht ist in Sicht.4 2

Vgl. Di Fabio, Udo, Der Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, 2001, S. 16. Vgl. Siebert, Horst, Weltwirtschaft, 1997, S. 186 f. 4 Vgl. Berger, Klaus Peter, Formalisierte oder „schleichende“ Kodifizierung des transnationalen Wirtschaftsrechts, 1996, S. 2. 3

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Die neue Weltwirtschaftsgesellschaft wird noch nicht durch einen Weltstaat zusammengebunden. Das Modell des Nationalstaats des 19. Jahrhunderts scheint mit seinen Systemvorgaben selbst auf der europäischen Ebene nicht mehr zu passen. „Regieren“ findet heute jedenfalls teilweise „jenseits der Staatlichkeit“ statt. Die weltweit vernetzte Geldwirtschaft und entsprechende Marktbedingungen könnten dem Verfassungsstaat allmählich die Grundlage entziehen. Trotzdem besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass weiterhin das Ensemble von Nationalstaaten die wesentliche Gestaltungseinheit für die Zukunft ist. Das weltweite politische System basiert auf dem Zusammenwirken von Nationalstaaten, deren Handlungsvoraussetzungen immer mehr von bilateralen und supranationalen Bindungen bestimmt werden. Bevor die Frage vertieft werden kann, wie es um diesen Nationalstaat im einzelnen steht, ist ein Blick auf den Versuch des Grundgesetzes zu werfen, die internationale Verflechtung der Bundesrepublik juristisch zu organisieren. IV. Die internationale Zusammenarbeit Das Grundgesetz hat sich für eine internationale Zusammenarbeit entschieden. Schon in der Präambel werden das vereinte Europa und der Frieden der Welt beschworen. Die Bundesrepublik unterwirft sich den allgemeinen Regeln des Völkerrechts, denen im internen Rechtsraum unmittelbare Wirksamkeit zuerkannt wird (Art. 25 GG). Das geltende Völkerrecht wird nicht nur hingenommen, sondern die verantwortlichen Staatsorgane werden zur aktiven Mitwirkung bei der Bewältigung internationaler Probleme aufgerufen. Verstärkt und konkretisiert werden diese Bestimmungen durch die Möglichkeit zur Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen, insbesondere auf die Europäische Union. Auch lassen sich im Verfassungswerk des Grundgesetzes Strukturelemente finden, die über die Konzeption eines Staatswesens als festgefügtem Verband hinausgehen. Die menschliche Würde kommt dem Deutschen und dem Ausländer zu, staatsübergreifende Solidarität wird durch die Möglichkeit der Gewährung von Asyl ausgedrückt. Die grundgesetzlich eingeräumte Option für die internationale Integration hat Verfassungsänderungen materieller Art mit sich gebracht. Es ist nicht zu übersehen, dass die Bedeutung der wirtschaftlichen Außenbeziehungen und deren Auswirkungen auf den Markt rechtlich kaum eingefangen wird. Zwar müssen Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln, etwa der Beitritt der Bundesrepublik zur Welthandelsorganisation vom Parlament abgesegnet werden. Internationale Wirtschaftsorganisationen entfalten aber eine Eigendynamik, die vom nationalen Gesetzgeber kaum ge-

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bremst werden kann. Der enormen quantitativen Vermehrung wirtschaftlicher internationaler Interaktionen steht kein adäquates rechtliches Instrumentarium gegenüber. Ein großer Teil des Wirtschaftsverkehrs findet ohne staatliche Kontrolle statt.5 Die Möglichkeit einer rechtlichen Ordnung des Marktes durch den Staat hat hier ihre Binnengrenze. Der völkerrechtliche Rahmen ist noch weitmaschiger. Für die „neue Weltwirtschaftsordnung“ fehlt eine gemeinsame rechtliche Ordnung. Anstehende weltweite Wirtschaftsprobleme werden im Wesentlichen über offene universalökonomische Prinzipien und souveränitätseinschränkende Kooperationspflichten gelöst, noch nicht jedoch über eine in sich geschlossene kodifizierte Ordnung. Da die nationale Gestaltung der Wirtschaftsordnung an rechtliche und an faktische Grenzen stößt und eine geschlossene weltweite Marktordnung noch nicht in Sicht ist, befinden wir uns in einem interessanten staatsfreien Raum. Diese Situation lässt sich durch das Schlagwort vom globalen Recht ohne Staat kennzeichnen. Als Beispiel kann die Verwaltung der Domain Names durch die ICANN dienen. Die Bildung technischer Standards im Internet hat sich weitgehend vom nationalen Gesetzgeber gelöst.6 Es ist zu fragen, inwieweit der Nationalstaat überhaupt noch Gestaltungsmöglichkeiten hat. V. Nationalstaat und Marktordnung In der Staatlichkeit des 20. Jahrhunderts waren vier Dimensionen auf einer Ebene gebündelt, nämlich die Ressourcendimension, d. h. die Kontrolle über Militär und Steuern, die Rechtsdimension, in der die Herrschaft über das Recht etabliert werden sollte, die Legitimationsdimension, d. h. die Anerkennung der Herrschaftsbeziehungen und schließlich die Interventionsdimension, d. h. die Ermöglichung von Wachstum und sozialem Ausgleich.7 Die Staatsgewalt erstreckte sich auf das Gebiet in dem das Volk lebt. Die so konstituierten territorialen Einheiten werden heute durch die Globalisierung in Frage gestellt. Es gehört inzwischen schon fast zum Ritual von Festvorträgen zu konstatieren, dass es diesen Nationalstaat nur noch in der Erinnerung gibt. 5 Zu den Regelansätzen vgl. Schmidt-Aßmann, Eberhard, Internationalisierung des Verwaltungsrechts, in: Bauer/Czybulka/Kahl/Voßkuhle (Hrsg.), FS für Reiner Schmidt, Wirtschaft im offenen Verfassungsstaat, 2006, S. 149 ff. Zum Ganzen Tomuschat, Christian/Schmidt, Reiner, Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, VVDStRL 36 (1978), S. 8 ff. 6 Vgl. Vesting, Thomas, Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes, VVDStRL 63 (2004), S. 41 ff. (58). 7 Vgl. Zürn, Michael, Die Zukunft des Nationalstaates, FAZ Nr. 165 v. 19.7.2005, S. 8.

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Ein Bedeutungsverlust herkömmlicher Staatlichkeit besteht schon in der Erosion der inneren Souveränität. Staatliche Funktionen werden zunehmend in Kooperation mit gesellschaftlichen Akteuren und vor allem unter Verzicht auf spezifisch staatliche Hoheitsmittel erfüllt. Wenn der Staat seine Aufgaben in zunehmendem Maße privaten Akteuren überlässt, delegiert er seine Gemeinwohlverantwortung wenigstens partiell an von ihm nicht beherrschbare Verhandlungspartner, die in keinem öffentlich-rechtlich organisierten Verantwortungszusammenhang stehen. An Norm- und Regelbildung sind heute staatliche und nichtstaatliche Akteure, Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Verbände und dgl. beteiligt.8 Dies wird von manchen Autoren, etwas überzogen, als „Auslieferungs-Szenario“ bezeichnet.9 Sicherlich behält der Staat weiterhin die Pflicht, das Gemeinwohl zu sichern, d. h. die Aufgabenerfüllung durch Dritte hinreichend zu kontrollieren und zu überwachen, die den privaten Anbietern auferlegten Gemeinwohlverpflichtungen durchzusetzen und schließlich die ausgelagerte Aufgabenwahrnehmung notfalls in die staatliche Obhut zurückzuholen. Trotzdem ist im innerstaatlichen Bereich der Souveränitätsschwund nicht zu übersehen. Es bleibt zwar bei der eingangs festgestellten Differenzierung von Staat und Gesellschaft. Der Staat bedient sich zunehmend privater Mittel und gefährdet seine Vormachtstellung. Statt unmittelbar Aufgaben zu erfüllen, beschränkt er sich auf die Aufgabenregulierung. Man könnte dies als Rückbesinnung auf die eigentlichen staatlichen Aufgaben verstehen. Doch anders als im 19. Jahrhundert steht der Staat heute einer höchst komplexen Gesellschaft gegenüber, die an die Grenzen ihrer Selbstregulierungsfähigkeit stößt und einer ausgleichenden Instanz bedarf. Nehmen wir als Beispiel das Eisenbahnwesen und die Energieversorgung. Durch die Privatisierung einer ehemals staatlichen Funktion wurde ein neuer Markt geschaffen. Zieht sich der Staat aus der aktiven Versorgung der Bevölkerung mit Verkehrsangeboten und Telekommunikationseinrichtungen zurück, bleibt er verpflichtet für Mobilität und Kommunikation der Bevölkerung zu sorgen.10 Werden auch die Wasserversorgung und die Abfallentsorgung privatisiert, dann kann nur der Gesetzgeber Verteilungsgerechtigkeit und flächendeckende Versorgungssicherheit garantieren. Auch der Markt bedarf neuer Instrumente zu seiner Gestaltung. Staatlichkeit und Marktordnung befinden also sich im Wandel.

8 Vgl. Vesting, Staatsrechtslehre (Fn. 6), S. 56. Die verfassungsrechtlichen Grenzen kooperativer und konsensualer Normsetzung werden zu Recht hervorgehoben von Becker, Florian, Parlamentarische Gesetzgebung im „kooperativen Staat“, in: Der Staat (Bd. 44), 2005, S. 433 ff. 9 So Schuppert, Gunnar Folke, Staatswissenschaft, 2003, S. 329. 10 Siehe näheres bei Kämmerer, Jörn Axel, Privatisierung, 2001, S. 495 ff.

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Das Recht, die Notwendigkeit der Legitimation von Macht und die staatliche Interventionskapazität werden zentraler Bestandteil postnationaler Staatlichkeit bleiben. Sie sind aber von der nationalstaatlichen teilweise auf die supranationale und internationale Ebene gewandert. VI. Das Gemeinschaftsrecht Die Ordnung des Marktes wird heute vor allem durch Gemeinschaftsrecht bestimmt. Dieses geht dem nationalem Recht vor. Die Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes ist ein Schlüsselziel der Europäischen Gemeinschaft. Kern dieses Gemeinsamen Marktes ist die Beseitigung der Handelshemmnisse zwischen den Mitgliedstaaten als Grundlage eines einzigen Marktes. Zu den konstituierenden Elementen gehört die Verwirklichung des freien Verkehrs von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital. Eine übergreifende Wettbewerbsordnung soll Störungen des Marktgeschehens durch wettbewerbsverzerrende Einflüsse der öffentlichen Hand und privater Unternehmer sichern. Ein aktiv einschreitendes Kartellamt und leistungsfähige Regulierungsbehörden sind zur Bewahrung eines unverfälschten Wettbewerbs unerlässlich. Mit der Wirtschafts- und Währungsunion wurde ein Integrationsgrad erreicht, der sich sonst nur in einer einheitlichen Staatsordnung findet. Vom Montansektor und von der Landwirtschaft abgesehen, gelten marktwirtschaftliche Ordnungsprinzipen, die durch ein striktes Effektivitätsgebot abgesichert werden. Als Beispiel mag die Rückforderung europarechtswidrig gewährter staatlicher Beihilfen dienen, die nach der Rechtsprechung des EuGH unter Zurückstellung der im deutschen Recht verankerten Vertrauensgrundsätze zu erfolgen hat. Nationale Vorschriften können insoweit nicht mehr oder nur noch modifiziert angewandt werden. Weitergehend noch ist das Beispiel des Staatshaftungsrechts. Im deutschen Recht existiert keine Staatshaftung für sogenanntes legislatives Unrecht. Der EuGH entwickelte einen über das nationale Recht hinausgehendes gemeinschaftsrechtliches Haftungsinstitut, das beispielsweise dann greift, wenn die Bundesrepublik eine Richtlinie verspätet oder fehlerhaft umsetzt. Die Rigorosität dieser Rechtsprechung, die Liberalisierungspolitik der Kommission, vor allem aber der vergebliche Kampf der Mitgliedstaaten gegen den Wildwuchs der Subventionen zeigen, dass die Ordnung und Sicherung des Marktes in Brüssel besser aufgehoben ist als in der Bundesrepublik Deutschland. Hier stehen die Lippenbekenntnisse zur sozialen Marktwirtschaft in deutlichem Kontrast zur praktizierten Wirtschaftspolitik.11 Die grundsätzliche ordnungspolitische Entscheidung der Europäischen Union für einen freien Markt wird flankiert durch Bestimmungen, in denen

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die Wirtschaftspolitik als eine Angelegenheit von gemeinsamem Interesse genannt und in welchem die Koordinierung der Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten instrumentalisiert wird (Art. 98, 99 EGV). Zwar verbleibt die Wirtschaftspolitik grundsätzlich im Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten. Sie soll aber auch in den Dienst des Kollisionsziels gestellt werden, d. h. eines Ziels das den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt verfolgt, um eine harmonische Entwicklung der Gemeinschaft als Ganzes zu fördern. Außerdem wird ein sogenanntes Konvergenzziel genannt, wonach der Unterschied im Entwicklungsstand der verschiedenen Regionen ausgeglichen werden soll (Art. 158 Abs. 2 EGV). Sie soll nur koordiniert werden. Trotzdem ist der Spielraum für nationale Ordnungs-, Prozess- und Strukturpolitik gering geworden. Dies vor allem deshalb, weil die Geld- und Wechselkurspolitik vergemeinschaftet und auf das vorrangige Ziel der Preisstabilität festgelegt wurde. Mit der Errichtung eines Europäischen Systems der Zentralbanken und der Festschreibung der Weisungsfreiheit der Europäischen Zentralbank ist klargestellt, dass die Mitgliedstaaten keine Wirtschaftspolitik betreiben dürfen, welche der Preisstabilität zuwider läuft. Dies ändert nichts daran, dass die Vorstellungen über das richtige Verhältnis zwischen der Währungspolitik einerseits und der Wirtschaftspolitik andererseits in den Mitgliedstaaten unterschiedlich sind. Das Fehlen einer gemeinsamen „Stabilitätskultur“ wurde von deutscher Seite immer wieder beklagt. Inzwischen ist es leider gerade die Bundesrepublik, die den von ihr ursprünglich so forcierten Stabilitäts- und Wachstumspakt entwertet hat.12 Das normative Geflecht zur Konstituierung des Marktes und zur Sicherung von dessen Funktionen ist vielschichtig. Es reicht von den grundsätzlichen Festlegungen im EG-Vertrag selbst, über die Bestimmungen des Grundgesetzes, etwa über die Deutsche Bundesbank und über die Haushaltswirtschaft, über das sekundäre EG-Recht, wie etwa die Verordnungen, mit denen die Haushaltsdisziplin innerhalb der EU erreicht werden soll und dem Protokoll über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit. Die entscheidenden Bestimmungen zur Ordnung des Marktes werden in Brüssel getroffen. Dies lässt sich pragmatisch an einem Vergleich der Gutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung der letzten 20 Jahre zeigen. Lag deren Schwerpunkt ur11 Zum Auseinanderklaffen zwischen Recht und praktizierter Wirtschaftspolitik, vgl. Huber, Joseph, GG-Szenario. 159 Artikel für einen neuen Gesellschaftsvertrag, 2005. 12 Vgl. zur Position der Bundesregierung Kempen, Bernhard, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Kommentar, 2003, Art. 104 EGV, Rn. 12.

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sprünglich in einer Darstellung der deutschen Wirtschaftspolitik, so stehen jetzt längere Abschnitte über die Weltwirtschafts- und die Europäische Politik im Mittelpunkt. In Bezug auf Deutschland werden eher nur nachrichtlich dessen außenwirtschaftliche Stärke und dessen Probleme im Bereich des Arbeitsmarktes, der öffentlichen Finanzen, der sozialen Sicherung, des deutschen Bankensystems und der wirtschaftlichen Lage in den neuen Bundesländern dargestellt.13 Die Veränderung der Situation schlägt sich auch in der wirtschaftswissenschaftlichen und in der juristischen Diskussion nieder. Ende der 60er Jahre stand noch das nationale konjunkturpolitische Instrumentarium im Mittelpunkt. Die Haushaltswirtschaft und deren Ausrichtung auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht, die Instrumentalisierung der Konjunkturpolitik durch das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz, die Gemeinschaftsaufgabe zur Förderung der regionalen Wirtschaftsstruktur wie überhaupt die gesamte regionale und sektorale Strukturpolitik waren Gegenstand intensiver wissenschaftlicher Arbeiten. All diese Themen sind weitgehend in den supranationalen Bereich abgewandert. Das nationale Interesse gilt inzwischen vor allem der Wirtschaftsaufsicht, d. h. der Überwachung der vorhandenen Wirtschaftsgesetze durch Aufsichtsbehörden und die sogenannte Wirtschaftsregulierung. Bei dieser geht es um die Herstellung und Sicherung des Wettbewerbs im Bereich der Telekommunikation, der Energie und der Bahn, die richtige Ausgestaltung von Vergabeverfahren, um den diskriminierungsfreien Zugang zu Versorgungsnetzen und dergleichen mehr. Dies sind wichtige, teils heikle Fragen, die hier nur genannt, nicht behandelt werden können.14 Sie haben die ökonomischen Probleme des Vergleichsmarktprinzips, die Preis-Kosten-Schere und dergleichen einzubeziehen. Auch hat der EG-Vertrag die Festlegung des richtigen Verhältnisses zwischen privatem und öffentlichem Wirtschaften nationaler Regelung überlassen. Die grundsätzliche Weichenstellung aber befindet sich im Vertrag selbst. Dort wird gesagt, dass die sogenannten Daseinsvorsorgeunternehmen (z. B. Energie-, Wasserversorgung) den Wettbewerbsregeln auszusetzen sind. Die Grenze ist erst dann erreicht, wenn dadurch die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgaben rechtlich oder tatsächlich verhindert würde (Art. 86 Abs. 2 EGV). 13 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2004/2005, S. 127 ff. 14 Grundsätzlich zum Regulierungsverwaltungsrecht vgl. Wissmann, Hinnerk, Stichworte „Regulierung, Deregulierung“, in: Heun/Honecker/Morlok/Wieland (Hrsg.) Ev. Staatslexikon, 2006, Sp. 1978 ff.; Eifert, Martin, Regulierungsstrategien, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.) Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 2006, S. 1237 ff. und Voßkuhle, Andreas, Beteiligung Privater an der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und staatliche Verantwortung, VVDStRL 62 (2003), S. 268 ff.

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Obwohl der EG-Vertrag nur eine Koordinierung der Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten vorsieht, obwohl die Mitgliedstaaten das Recht behalten sollen, ihre wirtschafts-, finanz- und ordnungspolitischen Vorstellungen über den Umfang der öffentlichen Wirtschaftstätigkeit zu verwirklichen (Art. 295 EGV), werden die großen Bereiche der Ordnungs-, der Struktur- und der Prozesspolitik von der Europäischen Union dominiert. Als Beispiel mag die Währungsunion dienen. Von der einst stolzen Deutschen Bundesbank bleibt rechtlich gesehen folgendes: Durch das Grundgesetz ist im Wesentlichen nur noch der Bestand der Bundesbank als Institution und als Teil des Europäischen Systems der Zentralbanken gewährleistet. Die Aufgaben der nationalen Zentralbanken beschränken sich nunmehr auf die Notenausgabe und die Bankenaufsicht, auf Kunden- und Vollzugsgeschäfte. Die bisherige Rolle der Bundesbank als Haus- oder Geschäftsbank des Staates wird durch den Vertrag sogar ausdrücklich ausgeschlossen (Art. 101 EGV).15 Es steht außer Frage, dass mit der zunehmenden Integration der Finanzmärkte der Europäischen Union die nationalen Zentralbanken auch als Vermittler besonderer nationaler Interessen und Anliegen immer weniger gefragt sind. VII. Wirtschaftsordnungsmodelle Die Ordnung des Marktes wird in Deutschland durch ein von supranationalem Recht überlagertes nationales Recht bewirkt, dessen Ziel die soziale Marktwirtschaft ist, während das Recht der EU auf den Binnenmarkt abzielt. „Soziale Marktwirtschaft“, „Binnenmarkt“ – es handelt sich hierbei nicht nur um unterschiedliche Begrifflichkeiten, sondern auch um inhaltliche Unterschiede. Das Schwergewicht der theoretischen Beschäftigung mit der sozialen Marktwirtschaft liegt bei der Qualität der korrigierenden Eingriffe. Sie müssen marktkonform sein, d. h. sie dürfen die Preismechanik und die Selbststeuerung des Marktes nicht aufheben.16 Nach der Verfassungsordnung der Europäischen Union ist die Akzentsetzung zur Herstellung des Binnenmarktes insofern eine andere als dort deutlicher auf die wirtschaftspolitischen Ziele abgestellt wird und weniger auf die Mittel. Angestrebt wird eine harmonische, ausgewogene und nachhaltige Entwicklung des Wirtschaftslebens, wobei sozialpolitische, umweltpolitische und integrationspolitische Ziele mit einbezogen werden. Verkürzt gesagt kommt es zur Herstellung des Gemeinsamen Marktes auf die richtige Kom15 Näheres bei Theißen, Annette, Die Wirksamkeit des Subsidiaritätsprinzips im Europäischen System der Zentralbanken, 2005. 16 Vgl. Starbatty, Joachim, Ordoliberalismus, in: Issing (Hrsg.), Geschichte der Nationalökonomie, 4. Aufl., 2002, S. 262; Schmidt, Reiner, Wirtschaftspolitik und Verfassung, 1971, S. 66.

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bination innerhalb eines Zielvierecks an, während nach der Lehre von der sozialen Marktwirtschaft der Schwerpunkt auf der Abwehr von dirigistischen Einzelmaßnahmen liegt.17 Gehen wir von der supranationalen Ebene eine höher, auf die Ebene des internationalen Rechts, begegnen wir als Wirtschaftsordnungsmodell dem Neoliberalismus. In ihm wird alles Unbehagen gegenüber der Moderne konzentriert. Im Kampf um begriffliche Besetzungen ist es gelungen, ihn zum Gegenteil dessen zu machen, was er ist. Heben wir ihn aus dem Bierdunst und dem Qualm der Stammtische und blicken in die Geschichte: 1938 formierte sich der Neoliberalismus als eine internationale Gemeinschaft von Wirtschafts-, Sozialwissenschaftlern und Philosophen. Ausgangspunkt war die Schrift „The Good Society“ des Neoliberalen Walter Lippmann, die sich ausdrücklich gegen die Entwürdigung der menschlichen Person durch den Nationalsozialismus wandte. Ziel war die Bewahrung der Werte einer freien Gesellschaft, einer sogenannten Zivilgesellschaft, in welcher der Familie, aber auch der örtlichen Lebensgemeinschaft eine besondere Bedeutung zukam. Die wirtschaftsverfassungsrechtliche Konzeption des Neoliberalismus wurde auch entwickelt aus der Auseinandersetzung mit dem Laissez-faire-Liberalismus eines Adam Smith. Dieser hatte nach Ansicht der Neoliberalen in der „Theory of Moral Sentiments“ und in seinem „Wealth of Nations“ die ethischen Grundlagen vernachlässigt. Ethik, Recht und Wirtschaftverfassung auf nationaler und internationaler Ebene standen im Vordergrund neoliberalen Gedankenguts. Angesichts des Zusammenbruchs des internationalen Handels seit 1914 bzw. 1929, des Aufkommens des Sowjetkommunismus, des Faschismus und des Nationalsozialismus versuchten die Neoliberalen eine dauerhafte Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft auf nationaler und internationaler Ebene zu gestalten. Als Beispiel mag das Vorwort Walter Euckens und Franz Böhms zum ersten Band von „ORDO, Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft“ aus dem Jahr 1948 dienen. Im Gegensatz zum sogenannten Manchester-Liberalismus wollte man nicht auf gestaltende Handelspolitik verzichten. Zwar galt der Nationalstaat als eigene kulturelle Größe; sein unmittelbares Interesse sollte aber hinter das Wohlergehen der ganzen Welt zurücktreten. Der wirtschaftliche Nationalismus und die absolute nationalstaatliche Souveränität auf wirtschaftlichem Gebiet waren mit dem Internationalismus und Kosmopolitismus der Neoliberalen unvereinbar. Die ORDO-Gruppe um Eucken, die frühen Chicago-Neoliberalen und der jün17 Zu den wirtschaftspolitischen Zielen der EU vgl. Müller-Graff, Peter-Christian, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU Wirtschaftsrecht, Loseblattausgabe, Stand August 2006, Bd. 1, A I, Rn. 117 ff.

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gere Friedrich von Hayek betonten vor allem die Bedeutung der Wettbewerbspolitik, die das Patent- und Gesellschaftsrecht, die Währungs-, Kredit-, Steuer-, Verkehrs- und Agrarpolitik mit einbezog. Anders als ein Adam Smith (1723–1790) entwickelte man einen ganzheitlichen Ansatz, der alle Probleme der Wirtschaftspolitik und der Gesellschaftspolitik im Gesamtzusammenhang lösen wollte. Im Unterschied zum Keynesianismus sollte antizyklische Konjunkturpolitik mit der liberalen Ordnungspolitik des Staates und einer ebensolchen Außenwirtschaftspolitik verbunden werden. Insgesamt gesehen konnten sich die neo- und ordoliberalen Prinzipien in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in grundsätzlichen Fragen durchsetzen. Quantitativ wirken sie sich im Rahmen der weltweiten Integration und Liberalisierung des Welthandels noch stärker aus als im Bereich der regionalen Begrenzung des EU-Raumes.18 Angesichts dieser unbestreitbaren Erfolge erstaunt es, dass es zur Mode werden konnte, dem Neoliberalismus alle Fehlentwicklungen dieser Welt in die Schuhe zu schieben.19 VIII. Die Transnationalisierung Verlassen wir die Welt der Wirtschaftsordnungsmodelle und kehren zurück in das feste Gehäuse des Rechts. Hier stockt man schon. Kann von einem festen Gehäuse noch die Rede sein, wenn sich die Identität von öffentlicher Gewalt und Staat immer mehr auflöst? Wirkt das Recht überhaupt, wenn global handelnde private Akteure ihrer eigenen Systemlogik folgen, ohne dass sie den Gemeinwohlanforderungen der Verfassungen unterworfen sind? An die Stelle nationaler Gesetzgeber sind doch inzwischen längst internationale Regelungsinstanzen wie die Welthandelsorganisation, die Weltbank oder der internationale Währungsfonds getreten.20 Diese Akteure setzen ein anderes Recht, weil sie im Gegensatz zum nationalen Gesetzgeber kein Gesetzgebungsmonopol haben und weil ihnen keine staatlichen Gerichte zur Durchsetzung zur Verfügung stehen. Es sind weiche Strategien (soft law z. B. codes of conduct), die hier eingesetzt werden.21 18 Vgl. zum Ganzen Wegmann, Miléne, Früher Neoliberalismus und europäische Integration, 2002. 19 Bekenntnisse zum Neoliberalismus wie die des stellvertretenden Parteivorsitzenden der FDP Rainer Brüderle „Ich bin stolz ein Neoliberaler zu sein“ (in: Kapital 2005, Heft 9, S. 112 ff.), und die des peruanischen Schriftstellers Mario Vargas Llosa, bleiben die Ausnahme. 20 Vgl. zum Ganzen Grimm, Dieter, Zur Rolle des Rechts im Prozeß der Globalisierung, Vortrag, gehalten auf dem rechtspolitischen Kongreß der Friedrich-EbertStiftung in Karlsruhe am 26. April 2002, Manuskript, S. 4. 21 Vgl. zum Ganzen Schuppert, Staatswissenschaft (Fn. 9), 2003, S. 914.

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Außer Zweifel steht, dass die Welthandelsorganisation und ihr Recht einen Markstein in der Entwicklung des internationalen Wirtschaftsrechts darstellen. Hauptmotiv für die Schaffung war der Wunsch, „ein integriertes, funktionsfähigeres und dauerhafteres multilaterales Handelssystem zu entwickeln“ (Präambel). Das Recht dieser Welthandelsorganisation ist in Sonderabkommen geregelt, wie in dem allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen GATT, dem allgemeinen Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS), dem Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte am geistigen Eigentum (TRIPS) und vielen anderen mehr.22 Mit der Regulierung eines Streitbeilegungsmechanismus im Jahr 1995 wurde ein entscheidender Schritt zur rechtlichen Etablierung getan. Durch das neue, zweistufige Verfahren ist mit dem ständigen Berufungsgremium so etwas ähnliches wie ein oberstes Gericht der Welthandelsorganisation geschaffen worden. Einseitige Interpretationen und „politische Lösungen“ sind deshalb nur noch schwer möglich, ja man kann sogar vom Beginn der Konstitutionalisierung einer Welthandelsordnung sprechen.23 Für die Frage, welches Recht den Markt bestimmt, ist festzuhalten, dass die Welthandelsorganisation nicht nur eigenes Recht geschaffen hat, sondern bestehende Standards aus anderen internationalen Institutionen importiert und marktkorrigierende Schutzregulierungen übernimmt.24 Unversehens sind wir in einen neuen Bereich geraten, in den des transnationalen Rechts. Wir können von einer dritten Ebene, einer Rechtsordnung sprechen, die neben staatlichem und Völkerrecht entstanden ist. Hier findet sich eine ganze Reihe von Akteuren, die auch an der Rechtsetzung beteiligt sind. Es handelt sich um Normunternehmer, die Standards formulieren, deren Einhaltung auf freiwilliger Basis erfolgt.25 „Formulating agen22

Siehe die Vereinbarung über Regeln und Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten, dem Mechanismus zur Überprüfung der Handelspolitik (TPRM) und weiteren Abkommen über das öffentliche Beschaffungswesen, dem Handel mit zivilen Luftfahrzeugen, Milchprodukten und Rindfleisch; vgl. Deutsche Bundesbank (Hrsg.), Weltweite Organisationen und Gremien im Bereich von Währung und Wirtschaft, 2003, S. 153 ff. 23 So Nettesheim, Martin, Von der Verhandlungsdiplomatie zur internationalen Verfassungsordnung: Überlegungen zum Entwicklungsstandard des internationalen Wirtschaftsrechts, in: Karl-Heinz Schenk u. a. (Hrsg.), Globalisierung der Weltwirtschaft, Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, 2000, S. 48 ff. 24 Vgl. Gehring, Thomas, Schutzstandards in der WTO? Die schleichende Verknüpfung der Welthandelsordnung mit standardsetzenden internationalen Organisationen, in: Knott/Jachtenfuchs (Hrsg.), Regieren in internationalen Organisationen, 2002, S. 112. 25 Vgl. Börzel, Tanja A./Risse, Thomas, Die Wirkung internationaler Institutionen. Von der Normanerkennung zur Normeinhaltung, in: Knodt/Jachtenfuchs (Hrsg.), Regieren in internationalen Organisationen, 2003, S. 141 ff.

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cies“ dagegen entwickeln bindende allgemeine Rechtsgrundsätze, Regeln und Standards. Zu nennen sind etwa die Haager Konferenz über die Vereinheitlichung des internationalen Privatrechts, die internationale Handelskammer (ICC) und andere Institutionen. Mit den geschaffenen Regeln wie etwa mit den „Investment Guidelines“ der Weltbank26 befinden wir uns im Bereich des erwähnten soft law, das heißt also noch im unverbindlichen Vorfeld27 der Gesetzgebung. Insgesamt agieren auf dem Gebiet der Rechtsetzung unterschiedliche Akteure, internationale Organisationen, Nichtregierungsorganisationen, sich selbst verpflichtende transnationale Unternehmen oder private Institutionen.28 Die Staaten haben also auch in ihrer Kernmaterie, der Rechtsetzung, Konkurrenz bekommen.29 Die Wirkungsbedingungen und Mechanismen dieser weltweiten Problemlage werden heute unter dem Sammelbegriff der global governance untersucht; bislang befindet man sich hierbei aber noch weitgehend im Bereich politisch-thematischer Beliebigkeit, weniger in dem der Theoriebildung.30 IX. Schluss Das Recht ordnet den Markt – welches Recht? Sind es die großen transnationalen Unternehmen oder allgemeiner noch, ist es eine entfesselte globale Wirtschaft mit einer unbändigen Eigendynamik, welche inzwischen die Politik entmachtet haben? Wir sollten nüchtern feststellen: auch heute noch sind die Staaten wichtige Akteure des internationalen Systems neben den internationalen Organisationen, Nichtregierungsorganisationen und multinationalen Unternehmen. Gewiss hat der Staat inzwischen erhebliche Souveränitätseinbußen in Kauf nehmen müssen. Er hat aber andererseits als offener Verfassungsstaat durch zwischenstaatliche Kooperation auch Handlungsspielräume hinzugewonnen. Der Prozess der Privatisierung der Rechtserzeugung, der Entterritorialisierung der Rechtssetzung sowie der Rechtsangleichung und Rechtsvereinheit26

Zum Ganzen Berger, Kodifizierung (Fn. 4). Zu den Legitimationsproblemen vgl. Bauer, Hartmut, Internationalisierung des Wirtschaftsrechts: Herausforderung für die Demokratie, in: Bauer/Czybulka/Kahl/ Voßkuhle (Hrsg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht, 2002, S. 69 ff. 28 Vgl. zum Ganzen Schuppert, Staatswissenschaft (Fn. 9), S. 914. 29 Zur Governance ohne Government vgl. Rosenau, James N., Governance, Order and Change in Worlds Politics, in: ders./Czempiel, Governance without Government: Order and Change in World Politics, 1992, S. 1 ff. 30 Vgl. etwa Deutscher Bundestag, Schlussbericht der Enquete-Kommission Globalisierung der Weltwirtschaft – Herausforderungen und Antworten, BT-Drucks. 14/9200. Der Bericht spricht vom Klimaschutz bis zur organisierten Kriminalität alle großen Probleme dieser Welt an. 27

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lichung zeigen, dass wir uns auf dem Weg einer Konstitutionalisierung außerhalb der Staaten befinden. Beobachtungen, wonach, weltweit gesehen, das Rechtsprinzip (rule of law) zunehmend das demokratische Prinzip dominiert,31 scheinen richtig zu sein. Wenn es drei Prinzipen sind, die das 21. Jahrhundert regieren, – das Recht, die Marktwirtschaft und die nationalen Kulturen,32 dann wird die abschließende Bemerkung wichtig: die Erfolge des nationalen, des rechtsstaatlichen und des marktwirtschaftlichen Prinzips beruhen darauf, dass sie Mechanismen des kollektiven Lernens sind. Nicht mit festgelegten Lösungen, sondern mit Alternativen lenken sie die Gesellschaft in die Welt hinein. Am Markt wird ein Angebot an Gütern, Kapital oder Arbeit von den Wirtschaftsbürgern versuchsweise konzipiert, angenommen oder verworfen und daraufhin verändert. Das Recht ist hierbei unverzichtbar. Entscheidend hierbei ist die Bewahrung von dessen Grundstruktur. Es kommt aber nicht darauf an, woher dieses Recht stammt. Seine Wirksamkeit gründet sich vor allem in den kollektiven Gefühlen. Sie sind es, welche die Stabilität allen sozialen Lebens und damit der Gesellschaft und deren Markt ausmachen. Man könnte sogar noch einen Schritt weitergehen und wie der Philosoph Richard Rorty pragmatisch feststellen, dass die Gefühlsbindung an das eigen Land notwendig ist, wenn das politische Denken fantasievoll und fruchtbar sein soll. Aber das gehört eigentlich nicht mehr hierher.

31

Vgl. Zürn, Zukunft des Nationalstaates (Fn. 7), FAZ Nr. 165 v. 19.7.2005, S. 8. Vgl. Hondrich, Karl Otto, Ausblick auf das 21. Jahrhundert, NZZ Nr. 16 v. 20./21. Januar 2001, S. 49. 32

Europäische Energiepolitik Aktuelle Entwicklungen und rechtliche Aspekte Von Matthias Schmidt-Preuß I. Energie als Bedingung für Wohlstand und Stabilität In den derzeit 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft mit ihren rund 493 Mio. Unionsbürgerinnen und -bürgern wird eine wirtschaftliche Leistung von 10.948 Mrd. Euro (BIP) erwirtschaftet. Es handelt sich um den größten Binnenmarkt der Welt. Güter und Dienstleistungen in dieser Größenordnung in hochentwickelten Volkswirtschaften zu generieren, setzt einen immensen Input von Energie voraus. Dass sie ausreichend zur Verfügung steht, ist von essentieller Bedeutung. Engpässe und Störungen der Energieversorgung würden Wachstum und Beschäftigung empfindlich hemmen oder gar gefährden. Letztlich stünden Wohlstand, ja die Stabilität des Gemeinwesens auf dem Spiel. In diesem Sinne hat der EuGH1 treffend davon gesprochen, dass Energie eine Existenzvoraussetzung des Staates und eine Überlebensbedingung der Bevölkerung ist. Die Bedeutung der Energie als Schlüssel für gesellschaftliche Wohlfahrt und Stabilität kann somit kaum überschätzt werden.2 Damit sind zugleich offene Fragen gestellt. Wie das Spannungsverhältnis zwischen Gemeinschaften und Mitgliedstaaten im Energiesektor zu lösen ist, welche Optionen sich bei der Bewältigung des Problems der Importabhängigkeit bieten oder wie die energiepolitischen Gewichte zwischen Staat und Markt verteilt werden sollen – all dies bedarf der Klärung. Möglichkeiten und Grenzen der Energiepolitik der Gemeinschaft gehören zu den Fragen, zu denen sich der Jubilar immer wieder mit grundlegenden sowie aktuell veranlassten Beiträgen nachhaltig zu Wort gemeldet hat.3 Die künftige Europäische Energie1 EuGH, Slg. 1984, 2727 Tz. 34 – Campus Oil; bestätigt durch EuGH, Slg. 2002, I-4809 Tz. 46 – Kommission/Belgien. 2 Dazu Schmidt-Preuß, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR IV, 3. Aufl., 2006, § 93, Rn. 1 ff. 3 Vgl. z. B. Scholz/Langer, Europäischer Binnenmarkt und Energiepolitik, 1992; Scholz, Gemeindliche Gebietsreform und regionale Energieversorgung, 1977; ders., et 1995, 600 ff.; ders., et 2001, 678 ff.; ders., in: Schwarze (Hrsg.), Instrumente zur

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politik wird ihm Gelegenheit bieten, auch in Zukunft seine Stimme zu erheben und in die Diskussion einzubringen. II. Versorgungssicherheit als nationale Aufgabe? 1. Importabhängigkeit der Gemeinschaft Als „optimal“ mag es erscheinen, wenn ausreichende Energiequellen im jeweiligen eigenen Land existieren würden. Von einem solchen „AutarkieZustand“ sind aber die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft weit entfernt. Über beachtliche eigene Ölquellen verfügen das Vereinigte Königreich, auf das 70% der EU-Produktion entfallen, und Dänemark. An der Importabhängigkeit bei Öl als wichtigstem Primärenergieträger für alle EG-Mitgliedstaaten von ca. 90% ändert dies allerdings nichts. Ebenfalls an der Spitze steht – gefolgt von den Niederlanden (32%) – das Vereinigte Königreich bei Erdgas mit 44%, das insoweit aber bereits Nettoimporteur geworden ist. Steinkohle und Braunkohle sind in der Gemeinschaft – namentlich in Deutschland sowie im Falle der Steinkohle in Polen – umfangreich vorhanden, sehen sich aber klimapolitischen Einwänden und – bei deutscher Steinkohle – fiskalpolitischer Kritik ausgesetzt. Insgesamt ist die Importabhängigkeit der Gemeinschaft fast schon besorgniserregend. Hierauf hat die Kommission in ihrem Grünbuch zur Energieversorgungssicherheit4 mit Nachdruck aufmerksam gemacht. Danach beträgt die Abhängigkeit der Gemeinschaft von Energieimporten insgesamt derzeit ca. 50%. Geschehe nichts, werde sie bis 2030 auf 70% anwachsen. In ihrem Grünbuch von 20065 hat die Kommission diesen Befund bestätigt und dringende Abhilfe gefordert. Es überrascht, dass die Problematik der Energieversorgungssicherheit verhältnismäßig „spät“ zum öffentlichen Thema geworden ist. Dabei haben bereits die Ölpreiskrisen von 1973 und 1979/80 gezeigt, wie fragil die Energieversorgung ist. Aktuell wurde die Diskussion sicherer Energielieferungen durch die Anpassungen der Lieferpreise an das Weltmarktniveau ausgelöst, die Gasprom gegenüber der Ukraine vorgenommen hat. Allgemein gilt eine Diversifikation der Energielieferanten als das richtige Mittel, um eine zu starke Importabhängigkeit zu verhindern. Ob diese Schwelle bei dem ca. 25% betragenden Anteil der Öl- bzw. Gasversorgung der Mitgliedstaaten, der auf Russland entfällt, erreicht ist, wird unterschiedlich beurteilt. Durchsetzung des europäischen Wettbewerbsrechts, 2002, S. 11 ff.; ders., GWA 2002, 681 ff.; Scholz/Hildebrandt, et 2006, Heft 7, S. 6 ff. 4 Europäische Kommission, Grünbuch „Hin zu einer europäischen Strategie für Energieversorgungssicherheit“, 2001, S. 10 ff. 5 „Eine europäische Strategie für nachhaltige, wettbewerbsfähige und sichere Energie“, KOM (2006) 105 endgültig (8.3.2006), S. 3.

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2. Energiepolitik und Außenpolitik Damit rückt immer stärker in das Bewusstsein, dass Energiepolitik auch eine außenpolitische Dimension hat.6 Das Bemühen um Zugang zu verlässlichen und kostengünstigen Bezügen von Primärenergie erscheint als die natürliche Folge der Importabhängigkeit. In letzter Konsequenz würde dies weltweit zu einem Wettlauf um den Zugang zu Energiequellen und Konditionen führen. Dem entspricht es, dass Importstaaten am Erfolg „ihrer“ Unternehmen auf den internationalen Beschaffungsmärkten ein vitales Interesse haben. In diesem Sinne ist die bisherige bevorzugte bilaterale Strategie der begleitenden Förderung in Gestalt informeller Kontakte bis hin zu völkerrechtlichen Vereinbarungen zu würdigen. Insofern lässt sich von einer regelrechten „Energiediplomatie“ sprechen. Außenpolitik ist insoweit in den Sog der Energiepolitik geraten. Das gilt auch für die Mitglieder der Gemeinschaft. All dies ist schon bisher etablierte Praxis. Ein solches Vorgehen reflektiert das zentrale Interesse der importabhängigen (Mitglied-)Staaten an der Sicherung der Energieversorgung. Problematisch könnte dieser nationale, isolierte Ansatz werden, wenn er sich zu einem unsolidarischen Wettlauf um knappe Energiekapazitäten zuspitzen sollte. Im Extremfall wären die Loyalität zwischen den Mitgliedstaaten und die Kohärenz innerhalb der Gemeinschaft gefährdet. Zusätzlich ist zu erwägen, dass die Bündelung von Bezugsinteressen die Verhandlungsposition stärkt und auf diese Weise die Aussichten auf Zugang zu den Beschaffungsmärkten verbessert werden. 3. Gemeinsame Interessenwahrung – die Rolle von Vorsitz, Kommission und Hohem Vertreter a) Formulierung und Durchführung einer externen Energiepolitik Damit hat die Diskussion um die Sicherung der Energieversorgung eine neue Perspektive erhalten. Hierfür gibt es gute Gründe. So ist es richtig, dass der einheitliche Energiebinnenmarkt angesichts der ökonomischen Interdependenzen nur funktioniert, wenn alle Mitgliedstaaten über die notwendigen Importmengen verfügen. Versorgungsengpässe in einem Mitgliedstaat führen sofort zu negativen Kettenreaktionen bei den anderen. Damit liegt es nahe, die gemeinsamen Interessen an einer stabilen Energieversorgung und der Absicherung von Lieferströmen für alle Importstaaten der Gemeinschaft gegenüber den Lieferanten „gebündelt“ zur Geltung zu bringen. Dieses kooperative Konzept hat einen ersten Anstoß durch den Europäi6

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schen Rat vom 23./24.3.2006 in Brüssel7 erhalten, auf dem die Kommission und der Generalsekretär/Hohe Vertreter der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (im Folgenden: der Hohe Vertreter), Javier Solana Madariaga, aufgefordert wurden, „in der wichtigen Frage der Außenbeziehungen im Energiebereich eng zusammenzuarbeiten“. Hierauf baute der Brüsseler Europäische Rat vom 15./16.6.2006 auf. Dort wurden Vorsitz, Kommission und der Generalsekretär und Hohe Vertreter ersucht, „die Arbeiten zur Entwicklung und Durchführung einer externen Energiepolitik unter Einsatz aller verfügbaren Instrumente einschließlich der GASP und der ESVP voranzubringen“.8 In dem vom Europäischen Rat gebilligten gemeinsamen Papier der Kommission und des Hohen Vertreters9 werden Ziele einer externen „Energie-Außenpolitik“ formuliert. Die deutsche Präsidentschaft will diese Thematik aktiv aufgreifen. Am 12.10.2006 hat die Kommission10 vorbereitend eine Mitteilung an den Europäischen Rat verfasst, in der die Eckpunkte einer europäischen „Energie-Außenpolitik“ sichtbar werden. b) Hoher Vertreter, Kommission und Energiekommissar Dass der Hohe Vertreter auf dem Feld der Energiepolitik tätig werden soll, mag auf den ersten Blick verwundern. Das gilt einmal unter quasi-„organkompetentiellem“ Aspekt. So fällt auf, dass – wenn auch „nur“ auf der Basis der Harmonisierungskompetenz – Europäische Energiepolitik praktisch als ein eigenständiger Sektor etabliert ist. Dies wird durch die Konstituierung des hierfür zuständigen Kommissars und „seiner“ Generaldirektion manifestiert. Wenn nunmehr der Hohe Vertreter energiepolitische Anliegen gegenüber Lieferländern artikulieren soll, könnte dies ein Stück weit als „Einbuße“ auf Seiten des Energiekommissars erscheinen. Dies würde noch stärker zu Buche schlagen, da es sich beim Hohen Vertreter um eine Einrichtung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik – der intergouvernemental konstruierten zweiten Säule – handelt.11 Durchgreifende Beden7 Europäischer Rat von Brüssel, Schlußfolgerungen des Vorsitzes, CONCL 1 7775/1/06 REV1 (23./24.3.2006), S. 16, Ziff. 48. 8 Europäischer Rat von Brüssel, Schlußfolgerungen des Vorsitzes, CONCL 2 10633/1/06 REV 1 (15./16.6.2006), S. 10, Ziff. 24. 9 „An External Policy to Serve Europe’s Energy Interest“, Paper from Commission/SG/HR for the European Council. 10 Kommission, „Energiepolitische Außenbeziehungen – Grundsätze – Maßnahmen“, Mitteilung der Kommission an den Europäischen Rat, KOM (2006) 590 endgültig (12.10.2006). 11 Zur Doppelrolle des Generalsekretärs und Hohen Vertreters (Art. 18 III, 26, 27d EUV; Art. 207 II EG) Cremer, H.-J., in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 3. Aufl., 2006, Art. 18 EUV Rn. 4; Regelsberger/Kugelmann, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 26 EUV, Rn. 1 ff.

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ken bestehen aber letztlich nicht. Der Hohe Vertreter unterstützt als Generalsekretär des Rates den Vorsitz bzw. den Rat (Art. 18 III, 26 EUV). In diesem Rahmen kann er selbstverständlich in informellen Gesprächen mit Repräsentanten von Lieferländern gebündelte Interessen der EG-Mitgliedstaaten zum Ausdruck bringen. Dies schließt ein, dass er in dem von ihm geführten Dialog auf energiepolitische Wünsche und Standpunkte hinweist. Dass Themen auch anderer „Ressorts“ mit außenpolitischen Bezügen vom Hohen Vertreter angesprochen werden können, ist damit vom Unterstützungs„mandat“ des Art. 18 III EUV abgedeckt. Insoweit bestehen auch keine Bedenken hinsichtlich der Zuständigkeiten der Kommissarin für Außenbeziehungen, Frau Benita Ferrero-Waldner. Ebensowenig wird in Kompetenzen der Kommission eingegriffen, die ihr namentlich im Bereich der Handelspolitik zustehen (Art. 133 EG).12 So führt sie als Ganzes – ggf. unter bestimmten Vorgaben – die Verhandlungen. Dem kann der Hohe Vertreter naturgemäß nicht vorgreifen. Da es bei seinen Kontakten lediglich um einen energiepolitischen Dialog geht, bestehen keinerlei tatsächliche Anhaltspunkte für Bedenken.

c) Keine Beeinträchtigung der Mitgliedstaaten durch Dialog Auch im Hinblick auf die Kompetenzen der EG-Mitgliedstaaten bestehen gegen die ins Auge gefasste Aktivierung des Hohen Vertreters im Schnittfeld von Energie- und Außenpolitik keine Bedenken. Erneut schlägt zu Buche, dass es sich lediglich um die Führung eines Dialogs handelt. Ein Eingriff in die mitgliedstaatlichen Kompetenzen ist ausgeschlossen. Das „Ersuchen“ des Europäischen Rates an Kommission, Vorsitz und Hohen Vertreter bezieht sich – selbstverständlich – in keiner Weise auf irgendeine konkrete Maßnahme zugunsten oder zu Lasten der Mitgliedstaaten. Zu Recht unterstreicht der Europäische Rat, dass eine „Energiepolitik für Europa . . . die Hoheit der Mitgliedstaaten über die primären Energiequellen uneingeschränkt wahren“13 sollte. Was speziell den Hohen Vertreter angeht, so schließen seine Kompetenzen ganz wesentlich den Dialog ein.14 Dies betrifft thematisch auch das Feld der Energiepolitik. Nicht dagegen ist er befähigt, Maßnahmen mit 12 Vgl. z. B. den Vertrag zur Gründung der Energiegemeinschaft vom 25.10.2005, ABl. L 198 (vom 20.7.2006), S. 18; ferner den Vertrag über die Energiecharta, ABl. L 380 (vom 31.12.1994), S. 24 (Anhang 1). 13 Europäischer Rat, Schlußfolgerungen (Fn. 7), S. 16, Ziff. 47. 14 Vgl. Cremer, H.-J., in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV (Fn. 11), Art. 18 EUV, Rn. 4; Regelsberger/Kugelmann, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV (Fn. 11), Art. 18 Rn. 4; vgl. auch Grunwald, Das Energierecht der Europäischen Gemeinschaften, 2003, S. 550 f.

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rechtlicher Relevanz für die Mitgliedstaaten oder die Gemeinschaft selbst zu treffen. Wie erwähnt, stehen solche aber auch tatsächlich nicht zur Debatte. d) Dialog zur Förderung der Energieversorgungssicherheit Unabhängig von der rechtlichen Bewertung mag offen bleiben, inwieweit im Fall einer echten Energieversorgungskrise die Solidarität zwischen den EG-Mitgliedstaaten reicht. Dennoch wäre es falsch, das Ersuchen an Kommission, Vorsitz und Hohen Vertreter gering zu achten. Vielmehr kann sie ein erster Schritt in die Richtung einer – die Kompetenzen der Mitgliedstaaten wahrenden – kooperativen Energiepolitik sein. Ihr Hauptziel ist die Vermeidung eines für alle schädlichen Wettlaufs der Mitgliedstaaten um den Zugang zu Energiequellen. Ein solcher Rückfall in nationale Egoismen würde den inneren Zusammenhalt der Gemeinschaft gefährden. Damit wäre der Integrationsgewinn durch Schaffung eines gemeinsamen Energiebinnenmarktes wieder aufgehoben. Stattdessen dürften Energiepartnerschaften und Gesprächsforen wichtige Instrumente sein, um das Bewusstsein für eine gemeinsame Verantwortung für die Energieversorgung im Binnenmarkt zu stärken und zugleich im Dialog mit den Lieferstaaten ein förderliches Klima zu schaffen. III. Die Bestimmung des Energiemix als Entscheidung souveräner (Mitglied-)Staaten 1. Staatliche Souveränität und Energie Staatliche Souveränität15 manifestiert sich traditionell in den Bereichen Außenpolitik und Verteidigung einerseits sowie Strafverfolgung und innere Sicherheit andererseits. Dem entspricht es, dass es in der zweiten und dritten Säule bei einem intergouvernementalen Gestaltungsmodus geblieben ist. Um nichts anderes als die Souveränität geht es aber auch bei der Gestaltung der Energiepolitik. Nationale Unabhängigkeit und Handlungsfähigkeit stehen auf dem Spiel, wenn ein Staat die Sicherstellung der Energieversorgung nicht gewährleisten kann. 2. Die Bestimmung des Energiemix Die Bestimmung des Energiemix betrifft ein Herzstück moderner Staatlichkeit. Hierbei handelt es sich um eine Entscheidung, die nach wie vor 15 Dazu Randelzhofer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR II, 3. Aufl., 2004, § 17, Rn. 1 ff.; zur Souveränität als Rechtsbegriff Hillgruber, ibid., § 32, Rn. 46 ff.

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mitgliedstaatlicher Kompetenz unterliegt. Im Primärrecht ergibt sich dies besonders deutlich aus Art. 175 II lit. c) EG. Danach trifft der Rat – in Abweichung von Art. 175 I EG – auf Vorschlag der Kommission einstimmig Maßnahmen, welche die „Wahl eines Mitgliedstaats zwischen verschiedenen Energiequellen und die allgemeine Struktur seiner Energieversorgung erheblich berühren“. Hierunter ist die Bestimmung des Energiemix zu verstehen. Sie ist damit in die Kompetenz der Mitgliedstaaten gelegt. An dieser Rechtslage soll sich – aus guten Gründen – nichts ändern. So hat der Europäische Rat16 vom 23./24.3.2006 in Brüssel ausdrücklich klargestellt, dass die „Energiepolitik für Europa . . . die Mitgliedstaaten bei der Wahl des Energiemixes voll respektieren“ werde. Gleiches gilt für die Kommission. In diesem Sinne hat Energiekommissar Piebalgs17 erklärt, dass neue Kompetenzen der Gemeinschaft auf dem Energiesektor nicht angestrebt würden. 3. Die friedliche Nutzung der Kernenergie Staatliche Souveränität spielt eine besondere Rolle, wenn die friedliche Nutzung der Kernenergie zur Diskussion steht. Zweifellos geht der EURATOM-Vertrag davon aus, dass in den Mitgliedstaaten die friedliche Nutzung der Kernenergie betrieben wird (Art. 1, 2 EURATOM-Vertrag). Eine rechtliche Verpflichtung hierzu enthält er aber nicht. Vielmehr lässt er den Mitgliedstaaten der Atomgemeinschaft die Freiheit, selbst hierüber zu entscheiden.18 Als Beispiel sei die von Österreich im Rahmen der damaligen Beitrittsverhandlungen geforderte ausdrückliche Zusicherung der Gemeinschaft genannt, über die friedliche Nutzung der Kernenergie allein entscheiden zu können. Dieser Bitte hat die Gemeinschaft entsprochen. So wurde in der damaligen Beitrittsakte bestätigt, dass die Mitgliedstaaten die Grundentscheidung über die friedliche Nutzung der Kernenergie selbst treffen können.19 Dies ist Bestandteil des acquis communautaire.

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Europäischer Rat, Schlußfolgerungen (Fn. 7), S. 16, Ziff. 47. Piebalgs, ew 2005, S. 16 (19). 18 Schmidt-Preuß, in: Rengeling (Hrsg.), Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht, Bd. II/1, 2. Aufl., 2003, § 60, Rn. 42. 19 Schlussakte zu dem Vertrag vom 24.6.1994 über den Beitritt des Königreichs Norwegen, der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden zur Europäischen Union, ABl. C Nr. 241 (vom 29.8.1994), S. 371 (382). 17

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IV. Gemeinschaftskompetenz im Energiesektor? 1. Europäische Energiepolitik ohne Kompetenztitel a) Harmonisierungs-Kompetenz Die Europäische Energiepolitik hat sich in den letzten Jahren auf vielen Feldern geradezu rasant entwickelt. Dabei gibt es im geltenden EG-Vetrag keinen energiepolitischen Kompetenztitel.20 Bislang findet sich das Sujet „Energie“ nur an einer Stelle – im Aufgabenkatalog – erwähnt, nämlich neben Katastrophenschutz und Fremdenverkehr (Art. 3 I lit. u) EG). Eine operative Kompetenzgrundlage für die Gestaltung der Energiepolitik durch die Gemeinschaft ist dies nicht. Dass sich eine Europäische Energiepolitik entfalten konnte, die inzwischen zu massiven Veränderungen der Rahmenbedingungen in einzelnen Mitgliedstaaten geführt und damit eine zuvor kaum für möglich gehaltene Wirkkraft entfaltet hat, liegt daran, dass sich ein kompetentieller Hebel fand, den die Kommission zielstrebig und entschlossen nutzte: die Harmonisierungskompetenz des Art. 95 EG.21 Diese – der Rechtsvereinheitlichung im Interesse des Binnenmarktes gewidmete – Kompetenznorm ist allerdings an beachtliche materielle Voraussetzungen gebunden.22 Dies hat der EuGH23 im Tabakwerberichtlinie-Urteil eindrucksvoll unterstrichen. Auch möglicherweise zurückhaltende spätere Entscheidungen24 können die Signalwirkung dieses Urteils nicht Frage stellen. Die „kopernikanische Wende“ durch die Liberalisierung der Strom- und Gasmärkte auf der Grundlage der sog. Beschleunigungs-Richtlinie Strom bzw. Gas25 hat es freilich nicht aufhalten können.26 Anders sähe es allerdings aus, 20

Schmidt-Preuß, in: Säcker (Hrsg.), Berliner Kommentar zum EnWG, 2007, Einleitung II A. V. 2 (erscheint demnächst); übereinstimmend Baur, in: Ders./Pritzsche/ Simon (Hrsg.), Unbundling in der Energiewirtschaft, 2006, 1. Kap., Rn. 44 f. 21 Dazu Baur, in: Ders./Pritzsche/Simon (Hrsg.), Unbundling (Fn. 20), 1. Kap., Rn. 52 ff.; Schmidt-Preuß, in: Säcker (Hrsg.), Berliner Kommentar zum EnWG (Fn. 20) Einleitung II A. V. 5; allg. Ludwigs, Rechtsangleichung nach Art. 94, 95 EG-Vertrag, 2004, S. 184 ff. 22 Vgl. hierzu frühzeitig bereits Scholz/Langer, Binnenmarkt und Energiepolitik (Fn. 3), S. 212 ff. 23 EuGH, Slg. 2000, I-8419, Tz. 81 ff. – Tabakwerberichtlinie. 24 Z. B. EuGH, Slg. 2002, I-11453, Tz. 179 – Tabakprodukt-Richtlinie; hierzu und zu den weiteren Urteilen des EuGH aus jüngster Zeit Ludwigs, EuZW 2006, 417: „Die nachfolgenden Judikate stellen sich als ambivalent dar.“ 25 Richtlinie 2003/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2003 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 96/92/EG, ABl. L 176 (vom 15.7.2003), S. 37; Richtlinie 2003/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2003 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richt-

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wenn in einem dritten Liberalisierungspaket das ownership unbundling eingeführt würde.27 Ein Zwangsverkauf der Kapitalanteile28 würde gravierende Probleme aufwerfen, weil zum einen die Kompetenzausübungssperre des Art. 295 EG Enteignungen mitgliedstaatlich konstituierter Eigentumspositionen entgegensteht.29 Zum anderen stieße ein solcher flächendeckender Eingriff in das Eigentum an den Kapitalanteilen auf die Grenzen der Eigentumsgarantie.30 b) Umwelt-Kompetenz Eine zweite kompetenzielle Ankervorschrift energierelevanter Sekundärrechtsetzung stellt die Umweltkompetenz des Art. 175 EG dar. Auf ihr basiert etwa die Regenerative-Energien-Richtlinie,31 nach der die Mitgliedstaaten das Ziel eines Anteils erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung in Höhe von 22,1% bis zum Jahr 2010 anstreben. Gleiches gilt für die ebenso im Schnittfeld von Energie- und Umweltrecht angesiedelten Materien der Kraft-Wärme-Kopplungs-Richtlinie32 und der EmissionshandelsRichtlinie.33 Bemerkenswerterweise ist Art. 175 EG schließlich auch als linie 98/30/EG, ABl. L 176 (vom 15.7.2003), S. 57 (im Folgenden: BRL Strom bzw. Gas). 26 Vgl. Schmidt-Preuß, in: Säcker (Hrsg.), Berliner Kommentar zum EnWG (Fn. 20), Einleitung II A. V. 5. und 9. 27 Dazu Hennemann, CEPMLP, CAR Vol. 8 (2003/2004), Art. 25, S. 22, http://www.dundee.ac.uk/cepmlp/car/html/car 8_article 25.pdf.: „. . . the European Union still holds a wildcard in her pocket: ‚ownership unbundling‘.“ 28 Zu geringer einschneidenden Regelungsvarianten Baur/Pritzsche/Klauer, Ownership Unbundling, 2006, S. 26 ff. 29 Schmidt-Preuß, in: Baur/Pritzsche/Simon (Hrsg.), Unbundling in der Energiewirtschaft (Fn. 20), 1. Kap., Rn. 77 ff. 30 Ibid. (hinsichtlich der gemeinschaftsrechtlichen Ebene); zur verfassungsrechtlichen Lage 2. Kap., Rn. 31 ff. 31 Richtlinie 2001/77/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27.9.2001 zur Förderung der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen im Elektrizitätsbinnenmarkt, ABl. L Nr. 283 (vom 27.10.2001), S. 33. 32 Richtlinie 2004/8/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.2.2004 über die Förderung einer am Nutzwärmebedarf orientierten Kraft-WärmeKopplung im Energiebinnenmarkt und zur Änderung der Richtlinie 92/42/EWG, ABl. L 52 (vom 21.2.2004), S. 50. 33 Richtlinie 2003/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.10.2003 über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft und zur Änderung der Richtlinie 96/61/EG des Rates, ABl. L Nr. 275 (vom 25.10.2003), S. 32; dazu nunmehr Richtlinie 2004/101/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27.10.2004 zur Änderung der Richtlinie 2003/87/EG über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft im Sinne der projektbezogenen Mechanismen des Kyoto-Protokolls, ABl. L 338 (vom 13.11.2004), S. 18 („linking directive“).

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Kompetenzgrundlage der Endenergieeffizienz-Richtlinie34 herangezogen worden, mit der die Gemeinschaft der Importabhängigkeit durch Mobilisierung der Energieeinsparpotentiale auf der Nachfrageseite entgegenwirken will. Mit demselben Ansatz geht es um Effizienz bei der Hauswärmedämmungs-Richtlinie.35 c) Wirtschaftspolitischer Kompetenztitel Ein dritter Titel mit energiepolitischer Relevanz ist die wirtschaftspolitische Kompetenznorm des Art. 100 EG. Danach kann der Rat auf Vorschlag der Kommission mit qualifizierter Mehrheit außergewöhnliche Maßnahmen (ohne Mitentscheidung des Europäischen Parlaments) beschließen, falls „gravierende Schwierigkeiten in der Versorgung mit bestimmten Waren auftreten“. Hierauf ist z. B. die – jetzt konsolidierte – neue Richtlinie zur Krisenvorsorge durch Erdölbevorratung gestützt, die einen Vorrat von 90 Tagen bei Rohöl bzw. Produkten verlangt.36 Ebenfalls basiert die Gasversorgungsrichtlinie37 – die keine Mindestbevorratungspflicht vorsieht – auf der Notkompetenz des Art. 100 EG. Grundlage des Pendants im Strombereich38 ist Art. 95 EG. d) EURATOM-Vertrag Anders liegen die Dinge im EURATOM-Vertrag. Hier verfügt die Atomgemeinschaft insbesondere mit den Art. 30, 31 EURATOM-Vertrag über wichtige Kompetenzen im Bereich des Strahlenschutzes.39 Dagegen bleibt die Sicherheit als solche Sache der Mitgliedstaaten. Allerdings kann es „Berührungspunkte“40 zwischen Gesundheitsschutz und technischer Sicherheit 34 Richtlinie 2006/32/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5.4.2006 über Endenergieeffizienz und Energiedienstleistungen und zur Aufhebung der Richtlinie 93/76/EWG des Rates, ABl. L 114 (vom 27.4.2006), S. 64. 35 Richtlinie 2002/91/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.2002 über die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden, ABl. L 1 (vom 4.1.2003), S. 65. 36 Richtlinie 2006/67/EG des Rates vom 24.7.2006 zur Verpflichtung der Mitgliedstaaten, Mindestvorräte an Erdöl und/oder Erdölerzeugnissen zu halten (konsolidierte Fassung), ABl. L Nr. 217 (vom 8.8.2006), S. 8. 37 Richtlinie 2004/67/EG des Rates vom 26.4.2004 über Maßnahmen zur Gewährleistung der sicheren Erdgasversorgung, ABl. L 127 (vom 29.4.2004), S. 92. 38 Richtlinie 2005/89/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18.1.2006 über Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit der Elektrizitätsversorgung und von Infrastrukturinvestitionen, ABl. L 33 (vom 4.2.2006), S. 22. 39 Hierzu Schmidt-Preuß, in: Rengeling (Hrsg.), Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht (Fn. 18), § 60, Rn. 112 ff. 40 Schmidt-Preuß, in: Rengeling (Hrsg.), Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht (Fn. 18), § 60, Rn. 3, 13.

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geben. Nur in diesem Sinne ist das Urteil des EuGH41 vom 10.12.2002 zu verstehen. Diesen Maßgaben genügten die seinerzeitigen Richtlinien-Vorschläge einer Anlagensicherheits-Richtlinie42 ebenso wenig wie der gleichfalls im Rahmen des „nuclear package“ präsentierte Vorschlag einer Entsorgungs-Richtlinie,43 der weitreichende Vorgaben für die Schaffung von Endlagerstandorten durch die Mitgliedstaaten (auch in zeitlicher Hinsicht) enthielt. Damit waren die Kompetenzen der Art. 30, 31 EURATOM-Vertrag überschritten.44 2. Der Verfassungsvertrag a) Energietitel Der – nach dem negativen Ausgang der Referenden in Frankreich und in den Niederlanden einstweilen gescheiterte – Verfassungsvertrag sieht einen Kompetenztitel für die Energiepolitik vor. Nach Art. III-256 II VV werden die für die Verwirklichung der Energiepolitik erforderlichen Maßnahmen durch Europäisches Gesetz oder Rahmengesetz festgelegt. Art. III-256 II UAbs. 2 VV behält einem Mitgliedstaat ausdrücklich das Recht vor, „die Bedingungen für die Nutzung seiner Energieressourcen, seine Wahl zwischen verschiedenen Energiequellen und die allgemeine Struktur seiner Energieversorgung zu bestimmen“. Damit bleibt die Festlegung des Energiemix – wie nach geltendem Recht45 – den Mitgliedstaaten vorbehalten. b) Balancierung und Grenzen Des Weiteren weist Art. I-14 II lit. i) VV46 den Sektor „Energie“ den Bereichen mit geteilter Zuständigkeit der EU zu. Damit gilt das Subsi41

EuGH, Slg. 2002, I-11221, Tz. 73 ff. – Sicherheitskonvention; dazu SchmidtPreuß, in: Pelzer (Hrsg.), Brennpunkte des Atomrechts, 2003, S. 209 (221 ff.). 42 Vorschlag für eine Richtlinie (EURATOM) des Rates zur Festlegung grundlegender Verpflichtungen und allgemeiner Grundsätze im Bereich der Sicherheit kerntechnischer Anlagen, COM (2003) 32 endgültig. 43 Vorschlag für eine Richtlinie (EURATOM) des Rates über die Entsorgung abgebrannter Brennelemente und radioaktiver Abfälle, COM (2003) 32 endgültig. 44 Dazu Schmidt-Preuß, in: Pelzer (Hrsg.), Brennpunkte (Fn. 41), S. 221 ff., 227 ff.; zum Vorschlag eines Stillegungsfonds ibid., S. 229 ff. sowie von Danwitz, Fragen vertikaler Kompetenzabgrenzung nach dem EURATOM-Vertrag, 2003, S. 34 ff., jeweils mit dem Ergebnis, dass der EURATOM-Vertrag hierfür keinerlei Ermächtigungsgrundlage bietet. In dem geänderten Vorschlag vom 8.9.2004 (KOM [2004] 526 endgültig), findet sich der „decomissioning fund“ nicht mehr. 45 Näher Schmidt-Preuß, et 2003, 776. 46 Hierzu und zum Folgenden auch Calliess, in: Ders./Ruffert (Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union, 2006, Art. I-14, Rn. 18.

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diaritätsprinzip als Kompetenzausübungsschranke. So wird die Union nach Art. I-11 III VV im Bereich der geteilten Kompetenzen nur tätig, „sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind.“ Nach Art. 5 Satz 4 des Subsidiariäts- und Verhältnismäßigkeits-Protokolls47 bedarf es qualitativer und – soweit möglich – quantitativer Kriterien, um den Vorrang der Unionsregelung zu belegen. Zusätzlich sieht Art. I-11 IV VV die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips vor. Somit ist eine weitere Kompetenzausübungsschranke zu respektieren. Gemeinwohlziel, Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit sind daher Barrieren, die auch bei Anerkennung eines – allerdings keineswegs grenzenlosen – Beurteilungsspielraums relevant bleiben. Damit weist der Energie-Kompetenztitel des Art. III-256 VV rechtliche Grenzen auf, die einen pauschalen Zugriff der Gemeinschaft nicht zulassen. Es bedarf vielmehr der balancierenden Auslegung. Jede Maßnahme muss sich „im Rahmen der Verwirklichung oder des Funktionierens des Binnenmarkts“ halten. Als Ziel nennt Art. III-256 I VV die „Sicherstellung des Funktionierens des Energiemarkts, (die) Gewährleistung der Energieversorgungssicherheit in der Union und (die) Förderung der Energieeffizienz und von Energieeinsparungen sowie (die) Entwicklung neuer und erneuerbarer Energiequellen“. Damit bewegt sich diese Ermächtigungsgrundlage der Sache nach im Rahmen des derzeitigen status quo.48 Schon bisher hat die Gemeinschaft diesen Spielraum aktiv genutzt. c) Wiederbelebung des Verfassungsprozesses und Energietitel Nach dem Scheitern der Referenden in Frankreich und in den Niederlanden ist die Zukunft des Verfassungsvertrages offen. Die deutsche Präsidentschaft beabsichtigt, den Verfassungsprozess wiederzubeleben. Auf dem informellen Gipfel vom 24./25.3.2007 soll hierzu eine „road map“ beschlossen werden mit dem Ziel, bis zu den nächsten Europawahlen (2009) eine Einigung über die künftige Verfassung herbeizuführen. Sollte es zu einer Neuformulierung des Vertragstextes – einerlei ob in einer großen oder kleinen Lösung – kommen, wäre ggf. auch über den Energietitel neu zu befinden. Es spräche einiges dafür, den austarierten Text des Art. III-256 beizubehalten. 47

Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (2. Protokoll zum VV), ABl. C Nr. 310 (vom 16.12.2004), S. 207. 48 Dazu Schmidt-Preuß, et 2003, 776; s. auch Oppermann, Europarecht, 3. Aufl., 2005, § 20, Rn. 39 f. sowie – z. T. weitergehend – Neveling, et 2004, 340 (342 f.).

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V. Grundrechte als Restriktion der Energiepolitik Die Gemeinschaften sind rechtlich gebunden. Ihre Organe müssen u. a. die Gemeinschaftsgrundrechte beachten. Der EuGH49 entnimmt sie als ungeschriebene Rechtsgrundsätze den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten sowie der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die GrundrechteCharta 2000 ist nicht verbindlich, sondern nur Gegenstand einer feierlichen Proklamierung.50 Neuerdings zieht auch der EuGH51 sie als Auslegungshilfe heran. Auch die im Verfassungsvertrag enthaltene Grundrechte-Charta 2004 entbehrt der Verbindlichkeit, nachdem die Referenden in Frankreich und in den Niederlanden negativ ausgegangen sind. Die Gemeinschaftsgrundrechte haben den Charakter von Primärrecht. Sie binden daher den Richtlinien- und Verordnungsgeber der Gemeinschaft. Das gilt namentlich auch für die Energiepolitik. So müssen sich z. B. die Beschleunigungs-Richtlinien Strom und Gas an den EG-Gemeinschaftsgrundrechten der Eigentumsfreiheit52 und der Berufsfreiheit53 messen lassen. Im Ergebnis wird man für alle vier Formen des unbundling – die buchhalterische, informatorische, operationelle und gesellschaftsrechtliche Entflechtung – einen Verstoß insbesondere gegen die Gemeinschaftsgrundrechte der Eigentums- und Berufsfreiheit nicht annehmen können.54 Maßgeblich dafür sind zahlreiche übermaßvermeidende Bestimmungen wie z. B. die de minimis-Klausel,55 ausnahmsweise Freistellungsmöglichkeiten oder die Fristverlängerung für das legal unbundling auf der Verteiler-Ebene bis zum 1.7.2007. Anders sähe es dagegen beim ownership unbundling aus, das sich bereits als Gegenstand eines etwaigen 3. Liberalisierungspakets in der Diskussion befindet. Würde es als Zwangsverkauf durchgesetzt, dürfte eine solche massive Maßnahme als Enteignung zu qualifizieren sein.56 Abgesehen von der Kompetenzproblematik würde sich damit u. a. das Problem der Entschädigung stellen.57 Auch bei einer Qualifizierung als Inhaltsbestimmung 49

EuGH, Slg. 1979, 3727, Tz. 15 – Hauer. Schmidt-Preuß, in: FS f. Schiedermair, 2001, S. 705 (730 ff.). 51 EuGH, NVwZ 2006, 1033, Rn. 38, 58 – Familienzusammenführung; zuvor bereits EuG, Slg. 2003, II-1, Rn. 122 – Philip Morris International Inc. 52 EuGH, Slg. 1979, 3727, Tz. 15 ff. – Hauer; zur weiteren Judikatur des EuGH Schmidt-Preuß, EuR 2006, 463 (465 ff.). 53 EuGH, Slg. 1974, 491, Tz. 14 – Nold; Slg. 1979, 3727, Tz. 31 f. – Hauer. 54 Näher Schmidt-Preuß, in: Baur/Pritzsche/Simon (Hrsg.), Unbundling in der Energiewirtschaft (Fn. 20), 1. Kap, Rn. 63 ff. 55 Dazu Tödtmann/Setz, in: Baur/Pritzsche/Simon (Hrsg.), Unbundling in der Energiewirtschaft (Fn. 20), 3. Kap., Rn. 64 ff. 56 Schmidt-Preuß, in: Baur/Pritzsche/Simon (Hrsg.), Unbundling in der Energiewirtschaft (Fn. 20), 1. Kap., Rn. 77; ebenso Baur/Pritzsche/Klauer, Ownership Unbundling (Fn. 28), S. 48 f. 50

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bestünde eine Ausgleichspflicht. Der Veräußerungserlös könnte nur dann als Ausgleich fungieren, wenn er nicht unter den Bedingungen eines Käufermarktes unter die Verhältnismäßigkeitsgrenze absinkt.58 VI. Kartellrecht und Energiepolitik 1. Fusionskontrolle und Energiebinnenmarkt a) Der Markt für Unternehmensbeteiligungen Im Energie-Binnenmarkt soll der Kunde seine Lieferanten frei wählen können. Spiegelbildlich steht jedem Strom- und Gasanbieter der diskriminierungsfreie Netzzugang in der Gemeinschaft und damit eine uneingeschränkte Marktpräsenz offen. Mit der Überwindung der Grenzen in der europäischen Strom- und Gasversorgung zugunsten eines einheitlichen Energiebinnenmarktes wurden Marktkräfte ausgelöst, die sich dynamisch entfalten und Folgewirkungen generieren. Dies gilt auch für Unternehmensakquisitionen.59 So ist der Markt für Unternehmensbeteiligungen im Energiesektor nachhaltig in Bewegung geraten. Dass dieser Prozess nicht auf den nationalen Bereich beschränkt bleibt, sondern sich grenzüberschreitend in der Gemeinschaft insgesamt entfaltet, liegt in der Logik des EG-Energiebinnenmarktes. Synergieeffekte, Kostenoptimierung und marktstrategische Präsenz definieren sich im europäischen Rahmen. Rechtliche Grenzen setzt auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene die EG-Fusionskontrolle, sofern die Schwellenwerte des Art. 1 der EG-Fusionskontrollverordnung60 (FKVO) erreicht werden. Zusammenschlüsse, durch die wirksamer Wettbewerb – insbesondere durch Begründung oder Verstärkung einer beherrschenden Stellung – erheblich behindert würde, hat die Kommission gem. Art. 2 III FKVO für unvereinbar mit dem Gemeinsamen Markt zu erklären.61 Sie ver57 Dazu EGMR, EuGRZ 1983, 525 Tz. 69 – Sporrong/Lönroth; EGMR, NJW 2002, 45, Tz. 89 – früherer König von Griechenland; s. auch Meyer-Ladewig, EMRK, 2. Aufl., 2006, Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls, Rn. 28 ff. 58 Schmidt-Preuß, in: Baur/Pritzsche/Simon (Hrsg.), Unbundling in der Energiewirtschaft (Fn. 20), 1. Kap., Rn. 77; ders., EuR 2006, 463 (485). 59 Vgl. Hennemann, OGEL 2006, Vol. 4 – Issue 1 (May 2006), S. 1 ff. = www. gasandoil.com/ogel/. 60 Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20.1.2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen („EG-Fusionskontrollverordnung“), ABl. L 24 (vom 29.1.2004), S. 1. 61 Zur Frage, ob hiermit der SLC-Test („substantial lessening of competition“) oder ein zwischen diesem und dem Marktbeherrschungs-Kriterium angesiedelter mittlerer Standard gilt, vgl. Zenke/Neveling/Lokau, Konzentration in der Energiewirtschaft, 2005, S. 171 ff.

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fügt damit über einen Aktionsparameter von größter Relevanz für die Energiemärkte. b) Die Problematik der Auflagen Die verhältnismäßig geringe Zahl von „Untersagungen“ durch die Kommission bedeutet keineswegs, dass die europäische Fusionskontrolle auf dem Energiesektor nicht wirksam wäre. Neben der Zahl der von vornherein oder in Gesprächen mit der Kommission aufgegebenen Vorhaben schlägt zu Buche, dass Bedingungen und Auflagen als flexible Instrumente eingesetzt werden,62 um wettbewerbsschädliche Effekte auszuschließen und mit dieser Maßgabe eine Fusion zulassen zu können.63 In diesem Sinne dient die Auflage im Rahmen der EG-Fusionskontrolle dazu, insbesondere dem Verhältnismäßigkeitsprinzip Ausdruck zu verleihen. Es wäre übermäßig, den Zusammenschluss zur Gänze zu verbieten, wenn durch Auflagen Wettbewerbsbeeinträchtigungen in neuralgischen Bereichen ausgeräumt werden können und damit das Vorhaben ohne wettbewerbliche Bedenken realisiert werden kann. Dass ein totales Verbot unter diesen Umständen nicht zu billigen ist, hat frühzeitig bereits der Jubilar für den nationalen Geltungsbereich des GWB erkannt.64 Dieser positiven Funktion der Auflage stehen jedoch auch Risiken gegenüber. So besteht die Gefahr, dass von diesem Instrument nicht aus wettbewerblichen, sondern im Gegenteil aus protektionistischen Motiven Gebrauch gemacht wird. Auflagen müssen gem. Art. 8 II Uabs. 2 FKVO mit dem Gemeinsamen Markt übereinstimmen, d. h. strikt wettbewerbsbezogen sein. Andere Zwecke – etwa industriepolitischer Provenienz – dürfen nicht verfolgt werden. Insbesondere ist jede Art des Protektionismus zu vermeiden. Ferner muss auch das gemeinschaftsrechtlich verankerte Verhältnismäßigkeitsprinzip strikt beachtet werden. Namentlich darf der unternehmerische Spielraum nicht über Gebühr beeinträchtigt werden. Dies ist bedeutsam, weil das EGFusionskontrollrecht auch verhaltensbezogene Auflagen zulässt. Nicht nur hier kommen damit auch die Gemeinschaftsgrundrechte des Eigentums und der Berufsfreiheit zur Geltung. c) Kapitalverkehrs- und Niederlassungsfreiheit Soweit dagegen die Schwellenwerte des Art. 1 FKVO nicht erreicht werden, unterliegt das Zusammenschlussvorhaben den Fusionskontrollbestim62 Vgl. z. B. Entscheidung der Kommission vom 13.6.2000 (Sache COMP/M.1673 – VEBA/VIAG), ABl. L 188 (vom 10.7.2001), S. 1 (43 ff.). 63 Art. 6 II UAbs. 2 sowie Art. 8 II UAbs. 2 FKVO; dazu Jara Ronda, Die Fusionskontrolle in der Energiewirtschaft, 2006, S. 344 ff. 64 Scholz, in: FS f. Günther, 1976, S. 223 (230).

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mungen der Mitgliedstaaten. Diese sind bei ihren Entscheidungen strikt an die Grundfreiheiten gebunden. Das gilt im vorliegenden Kontext insbesondere für die Wahrung der Kapitalverkehrs- und der Niederlassungsfreiheit. Hierbei geht es um die Freiheit, grenzüberschreitend Kapitalanteile an einem Unternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat zu erwerben bzw. dort unternehmerisch tätig zu werden. Die Grundfreiheiten zielen auf die Förderung offener Märkte und die Begründung eines wettbewerblich strukturierten gemeinsamen Wirtschaftsraums in der Gemeinschaft ab. Damit sind protektionistische Marktzutrittsbarrieren und Marktabschottungen unvereinbar. Auflagen dürfen daher nicht dazu dienen, die Übernahme durch einen Erwerber aus einem anderen Mitgliedstaat zum Schutz des „nationalen“ Marktes bzw. inländischer Energieversorgungsunternehmen zu verhindern. Dies verstieße gegen Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 56 EG)65 und Niederlassungsfreiheit (Art. 43 EG).66 Weder die geschriebenen Schranken gem. Art. 46 I bzw. 58 EG noch die ungeschriebenen Schranken im Sinne der zwingenden Erfordernisse der Cassis-de-Dijon-Doktrin67 lassen eine Berücksichtigung protektionistischer Motive zu. Das gilt für offene wie versteckte Restriktionen. Die Entscheidungen nationaler Behörden müssen damit die Grundfreiheiten des EG-Vertrages achten. Dies hat Folgen auch für die Ausgestaltung von Auflagen. Sie dürfen nicht protektionistischen Zielen dienen und auf die abschottende Verhinderung des Anteilserwerbs ausgerichtet sein. Dies würde die Ziele des Energiebinnenmarktes konterkarieren und die Kapitalverkehrs- und Niederlassungsfreiheit aushöhlen. Marktöffnung im Energiesektor und grenzüberschreitender Wettbewerb in der Gemeinschaft sind nicht teilbar. Im Fall E.ON/ENDESA hat die Kommission in den von der spanischen Energiebehörde erteilten 19 Auflagen einen Verstoß gegen die Kapitalverkehrs- und die Niederlassungsfreiheit gesehen und im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens unter Fristsetzung die Aufhebung verlangt.68 In 17 Fällen kam die spanische Regierung den Forderungen der Kommission nach. Nachdem das zuständige Ministerium vier neue Auflagen erließ, drohte die Kommission die Einleitung eines weiteren Vertragsverletzungsverfahrens an. 65 Dazu Rohde, Freier Kapitalverkehr in der Europäischen Gemeinschaft, 1999, S. 88 ff. sowie S. 98 ff. zum Verhältnis von Kapitalverkehrs- und Niederlassungsfreiheit. 66 Lackhoff, Die Niederlassungsfreiheit des EGV – nur ein Gleichheits- oder auch ein Freiheitsrecht?, 2000, S. 399 ff., 419 f. 67 EuGH, Slg. 1979, 649, Tz. 8 – Cassis de Dijon; für den Bereich der Kapitalverkehrsfreiheit Rohde (Fn. 65), S. 138 f. 68 EU-Kommission, Entscheidung vom 18.10.2006, IP/06/1426; s. zuvor die Freigabe vom 25.4.2006, Case No COMP/M.4110 – E.ON/ENDESA, SG-Greffe(2006) D/202193; s. auch Mitteilung der Kommission, ABl. C 114 (vom 16.5.2006), S. 4.

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2. Missbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen Die Missbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen gehört zu den zentralen Instrumenten des Kartellrechts. Das gilt für Art. 82 EG ebenso wie für die §§ 19, 20 GWB. Die Handhabung dieser Normen hat sich seit jeher als schwierig erwiesen. Dies gilt auch im Blick auf die „neue Welt“ liberalisierter Strom- und Gasmärkte. Insoweit wurde die dezentrale Anwendung des Art. 82 EG durch die mitgliedstaatlichen Kartellbehörden bereits akut. So hat das BKartA bei seiner Untersagung bestimmter Vereinbarungen in langfristigen Gaslieferverträgen (auch) einen Verstoß gegen Art. 82 II lit. b) EG geltend gemacht.69 Art. 82 EG umfasst auch das Instrumentarium der Preishöhenkontrolle. Dies hat der EuGH70 frühzeitig bejaht. Im Energiesektor prüft das BKartA derzeit, ob die Einpreisung der Zertifikatskosten in die Strompreise als Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung zu qualifizieren ist.71 Angesichts des einschneidenden Charakters wiegt es schwer, dass die Bestimmung des Preishöhenmissbrauchs erhebliche Auslegungs- und Anwendungsprobleme in sich birgt. Eine kartellrechtliche Missbrauchsaufsicht muss sich stets ihrer Möglichkeiten, aber auch der Grenzen bewusst sein, die ein wettbewerblicher Ordnungsrahmen setzt. Ginge sie den Weg in eine umfassende Kosten- und Gewinnkontrolle, würde aus marktwirtschaftlicher Missbrauchsabwehr dirigistische Lenkung.72 Sowohl die Gemeinschaftsgrundrechte der Eigentums- und Berufsfreiheit als auch die entsprechenden nationalen Grundrechtsgarantien gebieten einer solchen Entwicklung Einhalt. Der Jubilar hat im Kontext der kartellrechtlichen Preiskontrolle hierauf nachdrücklich aufmerksam gemacht und eingefordert, dass Rentabilität und Liquidität der Unternehmen unangetastet bleiben.73 Dem ist beizupflichten. In der Tat gilt das Substanzerhaltungsgebot.74 Betriebswirtschaftliche Ineffizienz wird allerdings hierdurch nicht honoriert. Festzuhalten ist, dass die kartellrechtliche Missbrauchsaufsicht ihr wettbewerbliches Ziel wahren 69 Vgl. z. B. BKartA – WuW/E DE-V 1147 (1156 f.) – E.ON/Ruhrgas; dazu Schmidt-Preuß, EuR 2006, 463 (478 ff.). 70 EuGH, Slg. 1978, 207, Tz. 235 ff., 250 – Chiquita. 71 Vgl. Bundeskartellamt, Sachstandspapier zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung in Sachen Emissionshandel und Strompreisbildung (20.3.2006), S. 50 ff. Krit. hierzu aus ökonomischer Sicht von Weizsäcker, C. C., F. A. Z. vom 20.9.2005, S. 20. 72 Vgl. Möschel, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), GWB, 3. Aufl., 2001, § 19, Rn. 150 f., der vor einer übermäßigen Kostenkontrolle durch die Kartellbehörden warnt. 73 Scholz, ZHR 141 (1977), 520 (543 ff.); s. auch Ipsen, H.-P., Kartellrechtliche Preiskontrolle als Verfassungsproblem, 1976, S. 51 ff.; Schmidt-Preuß, Verfassungsrechtliche Zentralfragen staatlicher Lohn- und Preisdirigismen, 1977, S. 234 ff.

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und den wirtschaftsverfassungsrechtlichen Rahmen75 im Auge behalten muss, innerhalb dessen sie agiert. 3. Kartellverbot Das Kartellverbot des Art. 81 EG ist nach dem Inkrafttreten der neuen EG-Kartell-Verordnung76 (auch) zum Gegenstand des dezentralen Vollzugs durch die Mitgliedstaaten geworden. Ein aktuelles Beispiel im Energiesektor ist der bereits erwähnte E.ON/Ruhrgas-Beschluss des BKArtA.77 In seiner Untersagungsverfügung hat das Amt – neben einem Missbrauch gem. Art. 82 EG – auch einen Verstoß gegen das Kartellverbot des Art. 81 EG bejaht. Dies wurde mit einer „Marktverschließung“ zu Lasten von Konkurrenten begründet, die sich – so das BKartA – aus den langfristigen Bezugsbindungen ergeben würden („Marktabschottung“). Derzeit ist abzuwarten, ob die Entscheidung vor dem OLG Düsseldorf in der Hauptsache bestand hat. VII. Europäisierung der Energiepolitik auf administrativer Ebene 1. Europäisierung auf der Vollzugsebene Der scheinbar unaufhaltsame Prozess faktischer „Europäisierung“ auf der Vollzugsebene hat auch vor dem Energiesektor nicht Halt gemacht.78 Dies ergibt sich zum einen aus der Vernetzung von Zuständigkeiten, wofür vor allem die Erteilung von Ausnahmen bei neuen Erdgasinfrastrukturen gem. Art. 22 BRL Gas oder bei take-or-pay-Verpflichtungen gem. Art. 27 BRL Gas beispielhaft zu nennen ist. Zum zweiten ist die Europäisierung Folge eines Informations- und Kommunikationsprozesses zwischen Kommission und mitgliedstaatlichen Regulierungsbehörden wie auch unter diesen, der zu einer Assimilierung der nationalen Vollzugspraxis führen dürfte. Beispiele hierfür sind ERGEG (European Regulators Group for Electricity and Gas) und CEER (Council of European Energy Regulators). Auch das 74 Schmidt-Preuß, Substanzerhaltung und Eigentum, 2003, S. 41 ff., 61 ff.; ebenso Baur/Pritzsche/Garbers, Anreizregulierung nach dem Energiewirtschaftsgesetz 2005, 2006, S. 58 ff. 75 Vgl. Schmidt-Preuß, DVBl. 1993, 257 (239 ff.); s. auch Kluth, in: SchmidtAßmann/Dolde (Hrsg.), Wirtschaftsrecht, Verfassungsrechtliche Grundlagen, Liberalisierung und Regulierung öffentlicher Unternehmen, 2005, S. 11 (15). 76 Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16.12.2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrages niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl. L Nr. 1 (vom 4.1.2003), S. 1. 77 BKartA, WuW/E DE-V 1147 (1149 ff.) – E.ON/Ruhrgas. 78 Vgl. grundsätzlich Schmidt-Aßmann, in: Ders./Schöndorf/Haubold, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 1 (2 ff.).

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Florenz- und das Madrid-Forum als Gesprächsplattformen unter Beteiligung von Vertretern der Kommission, der mitgliedstaatlichen Regulierungsbehörden, der Industrie und der Verbraucherverbände sind hier zu nennen. 2. Keine gemeinschaftliche Regulierungsbehörde im Energiesektor Für die nationalen Regulierungsbehörden bedeutet diese „Vollzugs-Harmonisierung“ sicherlich auch ein Stück weit einen „Rechtfertigungszwang“, dem zugleich tendenziell eine Einflussstärkung zugunsten der Kommission entspricht. Bei aller notwendigen Kooperation ist allerdings darauf zu achten, dass es nach geltendem Gemeinschaftsrecht keine supranationale Regulierungsbehörde im Energiesektor gibt. Gründe, hieran etwas zu ändern, sind nicht erkennbar. Insbesondere spricht nichts dafür, dass die mitgliedstaatlichen Regulierungsbehörden nicht in der Lage wären, ihre Aufgaben sachgerecht zu erfüllen. Dass hierbei auch die gebotene Kommunikation mit der Kommission und den Regulierungsbehörden der anderen Mitgliedstaaten ein wichtiges Element darstellt, ist selbstverständlich. VIII. Ausblick Die Europäische Energiepolitik vollzieht sich mit Rasanz. Hierzu ist es gekommen, ohne dass der Gemeinschaft ein besonderer Energietitel zur Verfügung stünde. So wurde die Liberalisierung der Strom- und Gasmärkte auf der Basis der Harmonisierungskompetenz realisiert. Eine neue Herausforderung stellt die Importabhängigkeit der Mitgliedstaaten dar. Daraus hat der Europäische Rat von Brüssel im Juni 2006 Konsequenzen gezogen und den Vorsitz, die Kommission sowie den Hohen Vertreter ersucht, Ansatzpunkte einer externen europäischen Energiepolitik zu entwickeln. Dabei könnte dem Hohen Vertreter die Rolle zukommen, energiepolitische Interessen der Mitgliedstaaten gebündelt im Dialog mit Lieferstaaten zur Sprache zu bringen. Mitgliedstaatliche Belange werden hierdurch nicht berührt. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung kanalisiert auch die weitere Entwicklung Europäischer Energiepolitik. Insofern steht den Mitgliedstaaten die genuine Gestaltungskompetenz im Energiesektor zu. So können sie über ihren Energiemix und die Beziehungen zu ihren Lieferstaaten befinden. Ein eigenständiger Energietitel wäre erst wieder bei der Belebung des UnionsVerfassungsprozesses aktuell. Insgesamt lässt sich damit resümieren, dass es Spielräume, aber auch Grenzen für eine sich entfaltende Europäische Energiepolitik gibt. Auch auf diesem Felde gilt es, den Primat des Rechts zu wahren. Damit ist zugleich einem Anliegen Rechnung getragen, um das es dem Jubilar stets ging. Auch für die künftigen energiepolitischen Herausforderungen behält dies seine Gültigkeit.

Das neue deutsche Energiewirtschaftsrecht* Von Klaus Stern Rupert Scholz gehört zu den Rechtswissenschaftlern, die sich nie in den Elfenbeinturm der Wissenschaft zurückgezogen haben. Von Beginn seiner Karriere an nahm er öffentliche Funktionen wahr. Seit den 80er Jahren wurden sie gekrönt durch die Ämter des Senators für Justiz und Bundesangelegenheiten in Berlin, des Bundestagsabgeordneten und des Bundesministers der Verteidigung. Seine Fachkompetenz umfasst weite Teile des Staats- und Verwaltungsrechts sowie des Wirtschafts- und Finanzrechts, nicht zuletzt, wie seine Schriften „Gemeindliche Gebietsreform und regionale Energieversorgung“ (1977) sowie „Europäischer Binnenmarkt und Energiepolitik“ (1992 zusammen mit Stefan Langer) ausweisen, auch des Energiewirtschaftsrechts. Dieses Rechtsgebiet steht wie kaum ein zweites im Schnittpunkt von Recht, Wirtschaft und Politik, nationalem und europäischen, ja globalem Interesse – Aktionsbereiche, die auch das Leben und Wirken von Rupert Scholz charakterisieren. Zu einem Zeitpunkt, da eine sichere Energieversorgung für Deutschland erneut1 zu einem höchst aktuellen Thema avanciert ist und die Energiewirtschaft angesichts knapper Rohstoffe, steigender Preise, ökologischer Notwendigkeiten vor riesigen Problemen steht, die nicht zuletzt die Frage nach einem Comeback der Kernkraft aufwerfen, passt ein Beitrag über das neue deutsche Energiewirtschaftsrecht in eine Festschrift für einen Mann, dem in seiner wissenschaftlichen und politischen Tätigkeit eine Recht und Wirtschaftlichkeit ausgewogen berücksichtigende Wirtschaftsverwaltung stets am Herzen lag. Immer ist ihm bewusst gewesen, wie verwundbar Deutschland energiepolitisch ist. I. Entstehung und wesentliche Ziele des neuen deutschen Energiewirtschaftsgesetzes Bereits zum dritten Mal seit 1998 wurde das deutsche Energierecht, das seine erste Regelung 1935 (RGBl. I, S. 1571) erhielt, mit dem am 13. Juli * Die Ausführungen beruhen auf einem Vortrag, den der Verfasser am 11. April 2006 beim Japan Energy Law Institute in Tokyo gehalten hat. 1 Für frühere Zeiten vgl. Lecheler, H., Energiewirtschaft und Energierecht im Wandel, Festschrift für K. Stern, 1997, S. 529 ff. mit weit. Nachw.

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Klaus Stern

2005 in Kraft getretenen „Zweiten Gesetz zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts“ reformiert.2 Ziel der Neuordnung ist es, „durch Entflechtung und Regulierung des Netzes die Voraussetzungen für funktionierenden Wettbewerb auf den vor- und nachgelagerten Märkten bei Elektrizität und Gas zu schaffen.“ Der Engpassfaktor Netz soll in der Energiewirtschaft ebenso wie in der Telekommunikation aufgebrochen werden. Im Wesentlichen ist das erneute Tätigwerden des Gesetzgebers auf Vorgaben der Europäischen Gemeinschaft zurückzuführen. Maßgebliche Neuerungen liegen insbesondere in der Einführung des regulierten Netzzugangs und regulierter Netzzugangsentgelte, in der Entflechtung der jeweiligen Netzbetreiber, in der Errichtung von Regulierungsbehörden und in der Sicherung der Grundversorgung. Damit soll der jahrzehntelang monopolistisch strukturierte deutsche Energiemarkt aufgelockert werden, in dem die Versorgungsgebiete durch Demarkationsverträge voneinander abgeschirmt waren und durch Konzessionsverträge den letztverteilenden Versorgungsunternehmen das Recht zur Versorgung mittels Wegenutzung eingeräumt war.3 Die europarechtlichen Vorgaben für die Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts finden sich namentlich in den Richtlinien 2003/54/EG und 2003/55/EG vom 26. Juni 2003 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitäts- und den Erdgasbinnenmarkt.4 Ihnen waren vorausgegangen die Richtlinien über den Transit von Elektrizitätslieferungen über große Netze vom 29. Oktober 1990 (Transit-RL)5 und über Preistransparenz bei indus2 Vgl. Gesetz zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts vom 24.4.1998 (BGBl. I, S. 370); Erstes Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts vom 20.5.2003 (BGBl. I, S. 686); Zweites Gesetz zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts vom 7.7.2005 (BGBl. I, S. 1970). 3 Das Thema Konzessionsverträge und die Stellung der Gemeinden in der Energieversorgung ist allerdings nicht abgeschlossen. Vgl. Tettinger, P-J., in: Schmidt, R. (Hrsg.), Öffentliches Wirtschaftsrecht, Bd. 1, 1995, S. 709; Theobald/Theobald, Grundzüge des Energiewirtschaftsrechts, 2001, S. 294 ff.; Hermes, G., Kommunale Energieversorgung zwischen hoheitlicher Aufgabenwahrnehmung und wirtschaftlicher Betätigung Privater, Der Staat 1992, 281 (286 f.); Leidinger, T., Energiewirtschaftsgesetz contra kommunale Selbstverwaltungsgarantie, DÖV 1999, 861 ff. Zu den Konzessionsverträgen vgl. §§ 46, 113 EnWG 2005, früher § 13 EnWG 1998. Zum Fortbestand von Konzessionsverträgen vgl. Pippke/Gaßner, Neuabschluss, Verlängerung und Änderung von Konzessionsverträgen nach dem neuen EnWG, RdE 2006, 33 ff. Eine ältere Darstellung der Konzessionsverträge bei Stern, K., Zur Problematik des energiewirtschaftlichen Konzessionsvertrags, AöR Bd. 84 (1959), S. 137 ff., 273 ff. 4 Richtlinie 2003/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2003 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 96/92/EG, ABl. 2003 L 176, 37; Richtlinie 2003/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2003 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie98/30/EG, ABl. 2003 L 176, 57.

Das neue deutsche Energiewirtschaftsrecht

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triellen Endverbrauchern vom 29. Juni 1990 (Preistransparenz-RL).6 Am 19. Dezember 1996 wurde die Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über gemeinsame Vorschriften des Elektrizitätsbinnenmarktes (Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie – EltRL)7 erlassen. Zentrales Ziel dieser Vorschriften war die Förderung des Wettbewerbs und die Öffnung des europäischen Strommarktnetzes.8 Dementsprechend lag der Schwerpunkt der Marktöffnung in der Ausgestaltung eines freien Netzzugangs, da ein konkurrierender Leitungsbau aus technischen, wirtschaftlichen und ökologischen Gründen nicht zu mehr Wettbewerb führen würde. Die Art und Weise der Ausgestaltung der Netzzugangsregulierung blieb dabei den Mitgliedstaaten überlassen, wobei die Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie mit dem verhandelbaren und regulierten Netzzugang sowie dem Alleinabnehmersystem verschiedene Optionen vorgegeben hatte (Art. 16 i. V. m. Art. 17 und 18 EltRL). Schließlich enthielt die Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie Vorschriften zur Entflechtung und zur Transparenz der Elektrizitätsversorgung, nach denen integrierte Energieversorgungsunternehmen in ihrer internen Buchführung getrennte Konten für ihre Erzeugungs-, Übertragungs- und Verteilungsaktivitäten führen mussten (Art. 7 und Art. 14 Abs. 3 EltRL). Den gleichen Regelungsinhalt hatte die Gasbinnenmarktrichtlinie (GasRL) vom 22. Juni 1998 für den Gassektor.9 Einen weiteren Impuls zu einem erneuten Gesetzgebungsverfahren gab der sog. Monitoring-Bericht, den das Bundeswirtschaftsministerium dem Deutschen Bundestag im September 2003 erstattet hatte. Ziel dieses Berichts war es, die energiewirtschaftlichen und wettbewerblichen Wirkungen der überkommenen Verbändevereinbarungen10 aufzuzeigen und Vorschläge 5

ABl. EG 1990, Nr. L 313, S. 30 ff. ABl. EG 1990, Nr. L 185, S. 16 ff. 7 ABl. EG 1996, Nr. L 27, S. 20 ff. 8 Vgl. Schneider/Prater, Das europäische Energierecht im Wandel, RdE 2004, 57 (58); Salje, P., Energiewirtschaftsgesetz, 2006, Einführung, Rn. 4 ff.; Allwardt, C., Europäisches Energierecht in Deutschland, 2006, S. 39 ff. u. 123 ff.; ferner SchmidtPreuß, M., Energierecht zwischen Umweltschutz und Wettbewerb, in: Hendler, R./ Marburger, P./Reinhardt, M./Schröder, M. (Hrsg.), Umwelt- und Technikrecht, Bd. 61, 2002, S. 27 ff.; Brattig/Kahle, Die Entwicklung des Energierechts 2003 bis 2004, NVwZ 2005, 642 ff. Zur Bochumer Fachtagung über das neue Energiewirtschaftsgesetz vgl. Hümmert, K., DVBl. 2006, 489 ff. 9 Richtlinie 96/92/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 22.06.1998 betreffend gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt, ABl. EG L 204 v. 21.07.1998, S. 1. 10 Da in den Energiewirtschaftsgesetzen von 1935 und 1998 die Ausgestaltung der Netzzugangsbedingungen nicht geregelt war, haben der Verband der Elektrizitätswirtschaft e. V. (VDEW), der Bundesverband der deutschen Industrie e. V. (BDI) und der Verband der industriellen Energie- und Kraftwirtschaft e. V. (VIK) in Form von sog. Verbändevereinbarungen Rahmenrichtlinien für die Gestaltung des Netz6

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eines verbesserten Netzzugangs sowie einer verbesserten Überwachung vorzubereiten. Das Bundeswirtschaftsministerium stellte in dem Bericht fest, dass sich die Verbändevereinbarungen im Stromsektor und die Missbrauchsaufsicht durch die Kartellbehörden grundsätzlich bewährt haben. Die bisherigen Reformen hätten zu einem funktionsfähigen Markt und gesunkenen Strompreisen für industrielle Kunden und private Verbraucher geführt. Weiter wurde hervorgehoben, dass sich die Entwicklung des Wettbewerbs auf dem Gassektor langsamer vollzieht. (Er kommt bekanntlich erst langsam in Gang). Maßgeblich für die Behinderung des Wettbewerbs sei ein nicht praxistaugliches Netzzugangssystem sowohl im Strom- als auch im Gasbereich. Der Monitoring-Bericht ist auf große Zustimmung gestoßen und hat die weitere Diskussion über das Gesetzgebungsverfahren sowohl in der juristischen Literatur als auch in der Praxis, insbesondere unter den betroffenen Unternehmen und Branchenverbänden, nachhaltig gefördert.11 Am 27. Februar 2004 wurde schließlich der Referentenentwurf für ein neues Energiewirtschaftsgesetz vorgelegt, der am 7. Juli 2005 endlich verabschiedet werden konnte (BGBl. I, S. 1970). An die Stelle der schlanken Energiewirtschaftsgesetze von 1935 und 1998 tritt nun ein Energiewirtschaftsgesetz, das 118 Paragraphen umfasst. Hinzu kommen noch vier Verordnungen zum Strom-12 und Gaszugang13 und der jeweiligen Entgeltregulierung14 mit insgesamt noch einmal 142 Paragraphen, die seit dem 29. Juli 2005 gelten. Schon diese Fülle an Vorschriften macht deutlich, dass die Energiewirtschaft von nun an eine normgeprägte, regulierte Wirtschaft darstellt. Ohne Zweifel beginnt durch das Energiewirtschaftsgesetz 2005 eine neue Ära des Energierechts in Deutschland, die von mancher Seite als „revolutiozugangs und der Netzzugangsentgelte erarbeitet. Sie stellten eine rechtlich unverbindliche Musterregelung der Berechnungsgrundlagen für die Entgeltermittlungen und die damit zusammenhängenden Konditionen dar und sind daher als außergesetzliche Übergangsregelungen zu bewerten. Vgl. Theobald/Theobald, Grundzüge (Fn. 8), S. 183 ff. 11 Staebe, E., Zur Novelle des Energiewirtschaftgesetzes (EnWG), DVBL. 2004, 853 (854). Tettinger/Pielow, Zum neuen Regulator für den Netzzugang in der Energiewirtschaft aus Sicht des öffentlichen Rechts, RdE 2003, 289 (291); Säcker, F. J., Ex-Ante-Methodenregulierung und Ex-Post-Beschwerderecht, RdE 2003, 300 ff. 12 Verordnung über den Zugang zu Elektrizitätsversorgungsnetzen (Stromnetzzugangsverordnung), BGBl. I, 2005, S. 2243. 13 Verordnung über den Zugang zu Gasversorgungsnetzen (Gasnetzzugangsverordnung), BGBl. I, 2005, S. 2210. 14 Verordnung über die Entgelte für den Zugang zu Elektrizitätsversorgungsnetzen (Stromnetzentgeltverordnung), BGBl. I, 2005, S. 2225; Verordnung über die Entgelte für den Zugang zu Gasversorgungsnetzen (Gasnetzentgeltverordnung), BGBl. I, 2005, S. 2197.

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när“ bezeichnet wird.15 Eine Regulierungsbehörde wird nunmehr vor allem die Höhe der Netzentgelte, den Netzzugang und die Investitionspflichten maßgeblich bestimmen. Die bisherige Selbstregulierung durch Verbändevereinbarungen findet nicht mehr statt. Die Netzentgelte müssen jetzt vorab genehmigt werden; eine Anreizregulierung soll einen effizienten Netzbetrieb sicherstellen und für fallende Netzentgelte sorgen. Der deutsche Gesetzgeber hat sich bei der Neuregelung des Energiewirtschaftsgesetzes streng an die europäischen Vorgaben gehalten. Dementsprechend ging schon der Regierungsentwurf davon aus, dass „zur Umsetzung des Binnenmarktpaketes aufgrund der gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen keine Alternative bestehe“.16 Als inhaltliche Schwerpunkte des Gesetzes lassen sich festhalten: • Die operationelle und rechtliche Entflechtung („Unbundling“); • die Sicherung der Grundversorgung; • die Regulierung des Netzbetriebes; • der Netzzugang und die Netzentgeltregulierung. Diese Ziele sollen im Dienste des Gesetzeszwecks stehen, der in § 1 EnWG folgendermaßen umschrieben ist: Eine „möglichst sichere, preisgünstige, verbraucherfreundliche, effiziente und umweltverträgliche leitungsgebundene Versorgung der Allgemeinheit mit Elektrizität und Gas zu gewährleisten“. Durch § 1 Abs. 2 EnWG wird die Regulierung der Netze mit dem Ziel „ der Sicherstellung eines wirksamen und unverfälschten Wettbewerbs bei der Versorgung mit Elektrizität und Gas und der Sicherung eines langfristig angelegten leistungsfähigen und zuverlässigen Betriebs von Energieversorgungsnetzen“ umschrieben. Die Energieversorgungsunternehmen werden in § 2 EnWG zur Versorgung im Sinne dieser Vorgaben verpflichtet, wobei die Verpflichtungen nach dem Erneuerbaren-Energien-Gesetz vom 21. Juni 200417 und nach dem Kraft-Wärme-Koppelungsgesetz von 19. März 200218 grundsätzlich unberührt bleiben. § 3 EnWG schließlich enthält einen umfassenden Katalog zur Erläuterung der im Gesetz verwendeten Begriffe und erinnert damit an eine auf europäischer Ebene verbreitete Gesetzgebungsmethodik.19 15 Eine umfassende Literaturzusammenstellung findet sich bei Salje, Energiewirtschaftsgesetz (Fn. 8), S. XIX ff. 16 BT-Drs. 15/3917, S. 51. 17 BGBl. I, S. 1918, zuletzt geändert durch Gesetz v. 07.07.2005, BGBl. I, S. 1970. 18 BGBl. I, S. 1092, zuletzt geändert durch Gesetz v. 22.09.2005, BGBl. I, S. 2826. 19 Kühne/Brodowski, Das neue Energiewirtschaftsrecht nach der Reform 2005, NVwZ 2005, 849 (850); zum Normzweck Salje, Energiewirtschaftsgesetz (Fn. 8), § 3, Rn. 1 ff.

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II. Die Schwerpunkte des Gesetzes 1. Die Gebote zur Entflechtung („Unbundling“) Die Entflechtung, das sog. „Unbundling“, ist ein Schwerpunkt der Energierechtsreform. Der Gesetzgeber stellt den einzelnen Entflechtungsmaßnahmen in § 6 EnWG eine grundsätzliche Zielbestimmung der im 2. Teil des EnWG behandelten Entflechtung vorweg: Hiernach sind vertikal integrierte Energieversorgungsunternehmen zur Gewährleistung von Transparenz sowie zur diskriminierungsfreien Ausgestaltung und Abwicklung des Netzbetriebes verpflichtet. Ergänzend hierzu führt die Regierungsbegründung aus, dass die Entflechtungsbestimmungen dazu beitragen sollen, dass „Ausgestaltung und Abwicklung des Netzbetriebes in diskriminierungsfreier Weise geschehen und sie keine Grundlage für mögliche verdeckte Quersubventionen bieten darf“.20 Die bisher aus den §§ 9 und 9a EnWG 1998 bekannte Form einer informationellen und rechnungstechnischen Entflechtung wurden unter Berücksichtigung der Einflüsse der europäischen Richtlinien nunmehr umfassender ausgestaltet. Zur Gewährleistung von Transparenz und besserer Vergleichbarkeit sind Energieversorgungsunternehmen zur Aufstellung, Prüfung und Offenlegung von Jahresabschlüssen gemäß § 10 EnWG 2005 nach den maßgeblichen Vorschriften des Handelsgesetzbuches für Kapitalgesellschaften verpflichtet;21 ferner sind jeweils getrennte Konten für Tätigkeiten des Netzbetriebes zu führen. Hinsichtlich der Verwendung von Informationen sind Energieversorgungsunternehmen und Netzbetreiber verpflichtet, die Vertraulichkeit wirtschaftlich sensibler Informationen, von denen sie bei der Ausübung ihrer Tätigkeit Kenntnis erlangen, zu wahren (§ 9 Abs. 1 EnWG 2005). Offen gelegte Informationen, die wirtschaftliche Vorteile bringen können, sind in nichtdiskriminierender Weise zur Verfügung zu stellen (§ 9 Abs. 2 EnWG 2005). Noch wesentlich weiter – sowohl in ihrer wirtschaftlichen als auch in ihrer juristischen Bedeutung – gehen die Regeln über die operationelle Entflechtung („Management Unbundling“) und die rechtliche Entflechtung („Legal Unbundling“), die die §§ 7 und 8 EnWG normieren. 20

Vgl. § 6 Abs. 1 EnWG; BT-Drs. 15/3917 S. 51; dazu näher Salje, Energiewirtschaftsgesetz (Fn. 8), § 6 Rn. 2; Kühne/Brodowski, Das neue Energiewirtschaftsrecht (Fn. 19), S. 849 (853). 21 Näher Salje, Energiewirtschaftsgesetz (Fn. 8), § 10 Rn. 16; Scholtka, B., Das neue Energiewirtschaftsgesetz, NJW 2005, 2421 (2423); Kühne/Brodowski, Das neue Energiewirtschaftsrecht (Fn. 19), S. 849 (854); Kühling/el-Barudi, Das runderneuerte Energiewirtschaftsgesetz – Zentrale Neuerungen und erste Probleme –, DVBl. 2005, 1470 (1473).

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Die operationelle Entflechtung enthält Vorgaben zur Gestaltung der Organisation und Entscheidungsgewalt in vertikal integrierten Energieversorgungsunternehmen. Die Unabhängigkeit der für den Netzbetrieb verantwortlichen Leitungspersonen soll dadurch gesichert werden, dass sie keiner betrieblichen Einrichtung im vertikal integrierten Unternehmen angehören, die für den laufenden Betrieb der Bereiche Erzeugung, Verteilung und Versorgung zuständig sind. In diesem Zusammenhang sind geeignete Maßnahmen zu treffen, damit die berufsbedingten Interessen der mit Leitungsfunktionen betrauten Personen gesichert werden. Darüber hinaus ist den Netzbetreibern auch die erforderliche tatsächliche Entscheidungsbefugnis zur Nutzung des Netzanlagevermögens in den Bereichen Betrieb, Wartung oder Ausbau zuzuweisen. Die Ausübung gesellschaftsrechtlicher Leitungs- und Aufsichtsbefugnisse ist zur Wahrung berechtigter wirtschaftlicher Interessen jedoch zulässig, solange die Unabhängigkeit des Netzbetreibers gerade im laufenden Betrieb gewahrt bleibt. Schließlich ist ein Energieversorgungsunternehmen verpflichtet, für die mit Tätigkeiten des Netzbetriebs befassten Personen des Unternehmens ein verbindliches Maßnahmenprogramm zur Gewährleistung diskriminierungsfreier Ausübung des Netzbetriebes in Form eines sog. „Gleichbehandlungsprogramms“ aufzustellen (§ 8 Abs. 5 EnWG). Die rechtliche Entflechtung umfasst für vertikal integrierte Energieversorgungsunternehmen die grundsätzliche Verpflichtung, Netzbetrieb und sonstige Tätigkeitsbereiche in rechtlich getrennter und unabhängiger Rechtsform auszuüben (§ 7 Abs. 1 EnWG). Dagegen ist es nicht zur Einführung einer zwischenzeitlich ebenfalls diskutierten Entflechtung des Eigentums gekommen („Ownership Unbundling“).22 Darunter ist eine Trennung in Bezug auf das Eigentum eines vertikal integrierten Unternehmens an den Vermögenswerten des Netzes zu verstehen. Von dieser umfassendsten Form der Entflechtung wurde Abstand genommen. Danach wird weder durch die Beschleunigungsrichtlinie noch durch das Energiewirtschaftsgesetz die Aufgabe von Netzeigentum durch die Energieversorgungsunternehmen verlangt. Daraus folgt, dass Netzbetriebsgesellschaften konzernrechtlich mit anderen Unternehmen im Elektrizitäts- oder Gasbereich verbunden bleiben können.23 Schließlich hat der Gesetzgeber gem. §§ 7 Abs. 2 und 8 Abs. 6 EnWG von sog. De-Minimis-Optionen Gebrauch gemacht und stellt Unternehmen, an deren Elektrizitäts- und Gasversorgungsnetz weniger als 100.000 Kunden angeschlossen sind, von den Verpflichtungen der rechtlichen und operationellen Entflechtung frei.24 22 Hierzu Salje, Energiewirtschaftsgesetz (Fn. 8), § 7 Rn. 6; Kühne/Brodowski, Das neue Energiewirtschaftsrecht (Fn. 19), S. 849 (850) m. w. N. 23 Hierzu Schneider/Prater, Das europäische Energierecht (Fn. 8), S. 57 (59).

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Die rechtlichen Vorgaben zur Entflechtung werfen nicht nur vielfältige gesellschafts-, steuer- und arbeitsrechtliche Fragen auf. Daneben bieten sie auch in öffentlich-rechtlicher Hinsicht Probleme.25 So ist es vor allem verfassungsrechtlich problematisch, den Netzeigentümer und seine Konkurrenten „im oder auf dem Netz“ rechtlich gleichzustellen.26 Neben der Frage grundsätzlicher Verfassungskonformität der Entflechtung müssen die Netzöffnungstatbestände namentlich mit Rücksicht auf Art. 14 Abs. 1 GG verfassungskonform ausgelegt werden. Die sich aus § 19 Abs. 1 und Abs. 4 Nr. 4 GWB, § 20 Abs. 1 EnWG ergebenden Netzöffnungspflichten sind gesetzliche Eingriffe in den Schutzbereich der Eigentumsgewährleistung nach Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG, da hierdurch die ausschließliche Verfügungsbefugnis der Netzbetreiber über ihr Netzeigentum eingeschränkt wird. Einschränkungen der Rechte des Netzeigentümers zugunsten eines Wettbewerbers müssen sich streng an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz halten. Zentrales Problem der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung eines derartigen Eingriffs ist die Frage der Angemessenheit des Durchleitungsentgeltes. Führt eine Inhalts- oder Schrankenbestimmung nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG – als solche sind § 19 Abs. 1 und Abs. 4 Nr. 4 GWB, § 20 Abs. 1 EnWG wohl zu qualifizieren – zu einer Belastung eines Netzbetreibers, verlangt Art. 14 Abs. 1 GG einen Ausgleich. Daher ist bei der Bestimmung der angemessenen Höhe der Netznutzungsentgelte auch der verfassungsrechtliche Hintergrund zu beachten.27 Eine unentgeltliche Netzzugangsberechtigung wäre mit der Eigentumsgewährleistung nicht vereinbar. 2. Die Sicherung der Grundversorgung Ein zweiter zentraler Punkt im neuen Energiewirtschaftsrecht ist die Grundversorgung. Danach sind Energieversorgungsunternehmen verpflichtet, in dem Gemeindegebiet, in dem sie die Grundversorgung von Privatund Kleingewerbekunden durchführen, zu veröffentlichten Allgemeinen Bedingungen und Allgemeinen Preisen zu versorgen (§ 36 Abs. 1 EnWG). Mit der Pflicht zur Grundversorgung ist aber nicht verbunden, dass der 24

Hierzu Salje, Energiewirtschaftsgesetz (Fn. 8), § 7 Rn. 9 ff., § 8 Rn. 70; Scholtka, Das neue Energiewirtschaftsgesetz (Fn. 21), S. 2421 (2423); Kühne/ Brodowski, Das neue Energiewirtschaftsrecht (Fn. 19), S. 849 (854); Kühling/ el-Barudi, Das runderneuerte Energiewirtschaftsgesetz (Fn. 21), S. 1470 (1472). 25 Vgl. Kühne/Brodowski, Das neue Energiewirtschaftsrecht (Fn. 19), S. 849 (854). 26 Vgl. BGHZ 128, 17 (37 ff.); Depenheuer, O., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar, 5. Aufl. 2005, Art. 14, Rn. 364. 27 Dazu näher Schmidt-Preuß, M., Verfassungskonflikt um die Durchleitung?, RdE 1996, 1 (6 ff.); ders., Substanzerhaltung und Eigentum – Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Bestimmung von Netzzugangsentgelten im Stromsektor, 2003; Papier, H.-J., Die Regulierung von Durchleitungsrechten 1997.

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Grundversorger zugleich auch das örtliche Netz betreibt.28 Unter einem Grundversorger im Energiewirtschaftsrecht versteht man gemäß § 36 Abs. 2 Satz 1 EnWG das Energieversorgungsunternehmen, das in dem betreffenden Netzgebiet die meisten Haushaltskunden beliefert. Dies wird alle drei Jahre, erstmals zum 1. Juli 2006, durch den lokalen Netzbetreiber festgestellt. Kommt es zu einem Wechsel des Grundversorgers, so gehen die mit dem bisherigen Grundversorger geschlossenen Lieferverträge nicht auf den neuen Grundversorger über, sondern bleiben unverändert mit dem bisherigen Vertragspartner bestehen (§ 36 Abs. 3 EnWG). Haben Kunden in einem Gemeindegebiet keinen Liefervertrag mehr, dann gilt die Energie gemäß § 38 Abs. 1 EnWG als vom Grundversorger geliefert (sog. Ersatzversorgung).29 Eine Ausnahme von der Grundversorgungspflicht besteht, wenn jemand zur Deckung des Eigenbedarfs eine Anlage zur Erzeugung von Energie betreibt oder sich von einem Dritten versorgen lässt (§ 37 Abs. 1 Satz 1 EnWG). Dies gilt nicht für sog. Notstromaggregate, die ausschließlich der Sicherstellung des Energiebedarfs bei Notfällen dienen (§ 37 Abs. 1 Satz 3 EnWG). 3. Die Regulierung des Netzbetriebs und die Errichtung einer Netzagentur Die Regulierung der Energieversorgung ist als neue selbständige Aufgabe bei der nach § 66 Telekommunikationsgesetz vom 25. Juli 1996 errichteten „Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post“ (RegTP) angesiedelt. Diese Behörde wird durch das „Gesetz über die Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen“ – REGTPG (BGBl. I 2005, S. 2009) – in „Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen“ umbenannt.30 Die Bundesnetzagentur ist eine selbständige Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft (§ 1 Satz 2 REGTPG). Sie bündelt jetzt 28

Scholtka, Das neue Energiewirtschaftsgesetz (Fn. 21), S. 2421 (2425). Näher Salje, Energiewirtschaftsgesetz (Fn. 8), § 38 Rn. 6 ff.; Scholtka, Das neue Energiewirtschaftsgesetz (Fn. 21), S. 2421 (2425). 30 Allgemein zur Bundesnetzagentur siehe Neveling, S., Die Bundesnetzagentur – Aufbau, Zuständigkeiten und Verfahrensweisen, ZNER 2005, 263 ff.; Schmidt, C., Von der RegTP zur Bundesnetzagentur: Der organisationsrechtliche Rahmen der neuen Regulierungsbehörde, DÖV 2005, 1025 ff.; Kühne/Brodowski, Das neue Energiewirtschaftsrecht (Fn. 19), S. 849 (855); Antweiler/Nieberding, Rechtsschutz im neuen Energiewirtschaftsrecht, NJW 2005, 3673; Pielow, J.-Chr., Wie „unabhängig“ ist die Netzregulierung im Strom- und Gassektor? DÖV 2005, 1017 ff. Zur Einpassung in den europäischen Regulierungsverbund vgl. Arndt, F., Vollzugssteuerung im Regulierungsverbund, Verwaltung 39 (2006), S. 100 ff. 29

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alle Regulierungsaufgaben auf den Gebieten Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahninfrastruktur (§ 2 REGTPG). Finanziert wird die Bundesnetzagentur gemäß § 92 EnWG zu einem großen Teil durch Beiträge der Energieversorgungsunternehmen. Als Zugeständnis an die einzelnen Bundesländer wurden im Vermittlungsverfahren die Regulierungskompetenzen zwischen dem Bund und den Ländern aufgeteilt. Danach beaufsichtigen die Energieaufsichtsbehörden der Länder Netzbetreiber, an deren Netze weniger als 100.000 Kunden unmittelbar oder mittelbar angeschlossen sind und das Elektrizitäts- oder Gasverteilungsnetz nicht über das Gebiet eines Landes hinausreicht (§ 54 Abs. 2 EnWG). In diesen Fällen treffen die Landesenergieaufsichtsbehörden z. B. die Entscheidungen über Genehmigungen und Untersagungen individueller Entgelte für den Netzzugang, den Netzanschluss, die Missbrauchskontrolle und die Entflechtung (§ 54 Abs. 2 EnWG).31 Im Rahmen der Regulierungstätigkeit hat die Bundesnetzagentur intensive Einwirkungsmöglichkeiten hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt des Netzzugangs und der sicheren Energieversorgung. Nach § 54 Abs. 3 EnWG kommt ihr eine Auffangzuständigkeit im Bereich des gesamten Energiewirtschaftsgesetzes zu. Für den Bereich der ex-ante-Regulierung des Netzbetriebes entscheidet die Bundesnetzagentur über die Bedingungen und Methoden des Netzanschlusses und des Netzzugangs durch Festlegung oder durch Genehmigung.32 Sie fällt alle Entscheidungen – wie schon die RegTP – durch Beschlusskammern, die mit einem Vorsitzenden und zwei Beisitzern besetzt sind, die die Befähigung zum Richteramt oder zum höheren Dienst besitzen müssen (§ 59 EnWG). Die Bundesnetzagentur soll neben der Überwachung der Entgelte im Einzelfall auch den gesamten Energiemarkt beobachten und dadurch für die nötige Markttransparenz sorgen. Für dieses in § 35 EnWG ausführlich geregelte Monitoring sammelt sie unter anderem umfassende netz-, unternehmens- und wettbewerbsbezogene Informationen.33 Neben den Aufgaben und Befugnissen der Bundesnetzagentur und der Landesenergiebehörden regelt das neue Energiewirtschaftsgesetz in § 111 auch das Verhältnis zwischen den Regulierungsbehörden und den Kartell31 Ausführlich zur Abgrenzung der Zuständigkeiten der Bundesnetzagentur zu anderen Behörden siehe Neveling, S., Die Bundesnetzagentur (Fn. 30), S. 263 ff. Zur Übertragung von Landesregulierungsaufgaben s. Holznagel/Göge/Schumacher, Die Zulässigkeit von Landesregulierungsaufgaben im Energiesektor auf die BNetzA, DVBl. 2006, 471 ff. 32 Kühling/el-Barudi, Das runderneuerte Energiewirtschaftsgesetz (Fn. 21), S. 1470 (1480); Kühne/Brodowski, Das neue Energiewirtschaftsrecht (Fn. 19), S. 849 (855). 33 Kühling/el-Barudi, Das runderneuerte Energiewirtschaftsgesetz (Fn. 21), S. 1470 (1480).

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behörden.34 Danach hat die Regulierungsbehörde die ausschließliche Aufsicht über den Netzbetrieb. In diesen Fällen ist daher die Missbrauchskontrolle nach dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (§§ 19, 20 GWB) ausgeschlossen. Anwendung finden allein die inhaltlich vergleichbaren Vorschriften §§ 30, 31 EnWG. Dies betrifft insbesondere die Fälle missbräuchlichen Verhaltens eines Netzbetreibers bezüglich des Netzzugangs und der Netzentgelte (§ 30 Abs. 1 Nr. 2, 5 und 6 EnWG). Dagegen bleiben die Zuständigkeiten der Kartellbehörden für die nicht regulierten Aktivitäten der Energieversorgungsunternehmen bestehen.35 So können diese im Bereich der Erzeugung von Energie und dem Vertrieb weiterhin Verträge auf Kartellrechtsverstöße hin überprüfen. Bei ihren Prüfungen sind Kartellbehörden jedoch an die nach dem Energiewirtschaftsrecht genehmigten Netzentgelte gebunden (§ 111 Abs. 3 EnWG). Die behördliche ex-post-Regulierung ist in den §§ 65 ff. EnWG geregelt. Gemäß § 65 Abs. 1 EnWG kann die Regulierungsbehörde Unternehmen verpflichten, ein Verhalten abzustellen, das den Bestimmungen des Energiewirtschaftsgesetzes und den auf Grund dieses Gesetzes ergangenen Rechtsvorschriften entgegensteht. Als Regelungsinstrument steht der Regulierungsbehörde dabei nach § 65 Abs. 2 EnWG die „Anordnung“ zu, deren Nichtachtung mit Zwangsgeld in einer Höhe von 1000,– bis 10 Millionen Euro geahndet werden kann (§ 94 EnWG). Bei Verstößen gegen bestimmte gesetzliche Vorschriften können Bußgelder in noch größerer Höhe verhängt werden (§ 95 EnWG). Der Regulierungsbehörde steht ein umfassendes Auskunftsrecht zu, das sie dazu berechtigt, Untersuchungen durchzuführen und alle erforderlichen technischen und wirtschaftlichen Informationen einzuholen (§ 69 EnWG). Ebenso besitzt die Regulierungsbehörde die Befugnis, Gegenstände, die als Beweismittel für die Ermittlung von Bedeutung sein können, zu beschlagnahmen und auf richterliche Anordnung hin auch Durchsuchungen durchzuführen (§ 70 i. V. m. § 69 Abs. 4 EnWG). Die neue Regulierungsbehörde ist danach eine überaus machtvolle Behörde, die nicht ohne gerichtliche Kontrolle tätig sein darf. Gegen die Entscheidungen der Regulierungsbehörde ist deshalb die Beschwerde an das nach dem Sitz der Regulierungsbehörde zuständige Oberlandesgericht zulässig (§ 75 EnWG). Aus § 76 Abs. 1 EnWG ergibt sich, dass die Beschwerde, mit Ausnahme für Anordnungen gemäß §§ 7, 8 EnWG, keine aufschiebende Wirkung hat. Insgesamt lässt sich sagen, dass sich der Gesetzgeber bei dem in den §§ 75 ff. EnWG normierten Rechtsschutzverfahren eng an dem Rechtsschutzsystem des Gesetzes gegen Wett34 35

Neveling, S., Die Bundesnetzagentur (Fn. 30), S. 263 (268 f.). Vgl. Antweiler/Nieberding, Rechtsschutz (Fn. 30), S. 3673 (3675).

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bewerbsbeschränkungen orientiert hat. Parallel hierzu hat er deshalb auch die ordentlichen Gerichte für zuständig erklärt und nicht – wie im Telekommunikationsgesetz – die Verwaltungsgerichte. Verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz kommt nur noch in Fällen in Betracht, in dem dieser auch nach dem alten Energiewirtschaftsgesetz eingeräumt war. So bedarf z. B. nach § 4 EnWG die Aufnahme des Betriebes eines Energieversorgungsnetzes der Genehmigung durch die nach Landesrecht zuständige Behörde. Die Aufspaltung des Rechtsweges im Telekommunikationsrecht und im Energiewirtschaftsrecht kann nicht als glücklich bezeichnet werden, da die zu erwartenden Fragestellungen auch im Energiewirtschaftsrecht einen prononciert öffentlich-rechtlichen Charakter besitzen.36 So sind etwa die Entscheidungen der Bundesnetzagentur im Bereich der Netznutzungsentgelte als Verwaltungsakte in der Form einer Allgemeinverfügung zu qualifizieren (§ 35 Satz 2 VwVfG). Außerdem dürfte durch die neuen Zuständigkeiten eine Überlastung der Kartellsenate drohen. Laut Begründung des Gesetzesentwurfs dient die Zuweisung an die Kartellsenate der Oberlandesgerichte der Verfahrensbeschleunigung.37 Ob diese Verfahrensbeschleunigung in Anbetracht der Erwartung zahlreicher Verfahren erreicht wird, muss abgewartet werden. Die Regulierungsbehörde muss sich daher auf zwei verschiedene Gerichtsbarkeiten einstellen. Divergierende rechtliche Beurteilungen ähnlicher Fragen dürften unvermeidlich sein. Das neue Energiewirtschaftsrecht gibt den Betroffenen bei einem Verstoß des Netzbetreibers gegen seine Pflichten betreffend den Netzzugang und den Netzanschluss einen Unterlassungsanspruch gegen den Netzbetreiber. Der Netzbetreiber ist den Betroffenen in diesen Fällen zu Schadensersatz verpflichtet (§ 32 EnWG). Ebenso kann ein Antrag auf die Einleitung eines Missbrauchsverfahrens gem. § 31 Abs. 1 EnWG bei der Regulierungsbehörde gestellt werden. Adressat dieses Verfahrens kann nur ein Energieversorgungsnetzbetreiber sein. Die Regulierungsbehörde kann im Falle eines Missbrauchs den Betreiber des Netzes verpflichten, den Missbrauch abzustellen.38 4. Der Netzzugang und die Netzentgeltregulierung Als das Herzstück der Regulierung der Netzwirtschaft ist der Zugang zu den Netzwirtschaftsleistungen und insbesondere der Netzzugang selbst zu 36 So auch Tettinger, P. J., Anmerkungen zur Regulierungsdebatte aus öffentlichrechtlicher Sicht, Die Energiewirtschaft in der Regulierung, Veröffentlichungen des Instituts für Energierecht an der Universität zu Köln, Band 114 (2004), S. 59 (71). 37 BT-Drs. 15/3917 S. 71. 38 Antweiler/Nieberding, Rechtsschutz (Fn. 30), S. 3673 f.

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sehen (§§ 20 ff. EnWG).39 Dabei hat der Gesetzgeber die Zugangsregulierung und die Entgeltregulierung der Zugangsgewährung in einem Gesetzesabschnitt verknüpft und nicht – wie etwa im Telekommunikationsgesetz (§§ 35 ff. bzw. §§ 23 ff.) – getrennt behandelt. Gemäß § 20 Abs. 1 EnWG haben die Betreiber von Energieversorgungsnetzen jedermann „nach sachlich gerechtfertigten Kriterien diskriminierungsfrei den Netzzugang zu gewähren“. Die genauen Details des Zugangs sind nicht im Energiewirtschaftsgesetz selbst geregelt, sondern in jeweils besonderen Rechtsverordnungen für den Zugang zum Strom- und Gasnetz. Die Ermächtigungsgrundlage für den Erlass dieser „Zugangsverordnungen“ findet sich in § 20 Abs. 1a (Strom)40 und § 20 Abs. 1b (Gas)41 EnWG. Die Umsetzung des Zugangsanspruchs erfolgt – wie schon im Energiewirtschaftsgesetz 1998 – durch Verträge.42 Der Transportkunde muss für den Zugang zum Stromnetz einen „Nutzungsvertrag“ mit den Betreibern der Netze abschließen, in die die Ein- oder Ausspeisung erfolgen soll (§ 20 Abs. 1a Satz 1 EnWG), während der Transportkunde im Gasbereich einen Einspeise- und einen Ausspeisevertrag für den Netzzugang mit unterschiedlichen Netzbetreibern abschließen muss (§ 20 Abs. 1b Satz 2 und 3 EnWG).43 Die näheren Details zur Ausgestaltung der Verträge finden sich in den vorgenannten Rechtsverordnungen. Für den Bereich Strom gewährt der Netznutzungsvertrag einen Anspruch auf den Zugang zum gesamten Elektrizitätsnetz. Nach § 20 Abs. 2 EnWG darf ein Netzbetreiber den Abschluss eines Netznutzungsvertrags nur dann verweigern, wenn er nachweist, dass ihm die Gewährung des Netzzugangs aus betriebsbedingten Gründen oder sonstigen Gründen unter Berücksichtigung des Ziele des § 1 nicht möglich oder nicht zumutbar ist.44 Die Regulierungsbehörde muss davon unterrichtet werden. 39

So Kühling/el-Barudi, Das runderneuerte Energiewirtschaftsgesetz (Fn. 21), S. 1470 (1473); Salje, Energiewirtschaftsgesetz (Fn. 8), § 35, Rn. 5 ff.; Scholtka, Das neue Energiewirtschaftsgesetz (Fn. 21), S. 2421 (2424). 40 Verordnung über den Zugang zu Elektrizitätsversorgungsnetzen v. 25.07.2005, BGBl. I, S. 2243. 41 Verordnung über den Zugang zu Gasversorgungsnetzen v. 25.07.2005, BGBl. I, S. 2210. 42 Vgl. Salje, Energiewirtschaftsgesetz (Fn. 8), § 111 Rn. 6 ff.; Kühne/Brodowski, Das neue Energiewirtschaftsrecht (Fn. 19), S. 849 (850); Scholtka, Das neue Energiewirtschaftsgesetz (Fn. 21), S. 2421 (2424). 43 Vgl. Kühling/el-Barudi, Das runderneuerte Energiewirtschaftsgesetz (Fn. 21), S. 1470 (1474); Kühne/Brodowski, Das neue Energiewirtschaftsrecht (Fn. 19), S. 849 (850 f.) 44 Vgl. Kühling/el-Barudi, Das runderneuerte Energiewirtschaftsgesetz (Fn. 21), S. 1470 (1475); Kühne/Brodowski, Das neue Energiewirtschaftsrecht (Fn. 19), S. 849 (851).

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Die neue Zugangsregelung im Gasbereich vollzieht einen Wandel vom Punkt-zu-Punkt-Modell zum Entry-Exit-System (§ 20 Abs. 1b EnWG).45 Dieses System sieht vor, dass Betreiber von Fernleitungsnetzen verpflichtet sind, die Rechte an gebuchten Kapazitäten so auszugestalten, dass sie den Transportkunden berechtigen, Gas an jedem Einspeisepunkt, für die Ausspeisung an jedem Ausspeisepunkt ihres Netzes oder, bei dauerhaften Engpässen, eines Teilnetzes bereitzustellen (§ 20 Abs. 1b Satz 10 EnWG). Der konkrete Transportweg des Gases durch die Leitungen ist dabei irrelevant, da ein spezifischer Transportweg zugrunde gelegt wird.46 Das gleiche gilt für die Berechnung des Zugangspreises.47 Der Gesetzgeber verpflichtet daher gem. § 21 Abs. 1b Satz 1 EnWG die Gasversorgungsnetzbetreiber, dementsprechende Einspeise- und Ausspeisekapazitäten anzubieten, um „den Netzzugang ohne Festlegung eines transaktionsabhängigen Transportpfades zu ermöglichen und unabhängig voneinander nutzbar und handelbar“ zu machen. Ebenso wie der Netzzugang müssen auch die Netzentgelte angemessen, diskriminierungsfrei und transparent gebildet werden (§ 21 Abs. 1 EnWG). Im Rahmen der Energierechtsreform hat sich gezeigt, dass die Bestimmung der Kriterien zur Ermittlung angemessener Netznutzungsentgelte einer der umstrittensten Punkte war, gelten sie doch als Schlüssel für einen funktionierenden Wettbewerb. § 24 Abs. 1 Nr. 1 EnWG ermächtigt die Bundesregierung durch eine Rechtsverordnung, Methoden für die Bestimmung der Entgelte für den Netzzugang festzulegen. Die angeführten Methoden geben ein Preisbildungssystem vor und legen somit ein spezifisches Vorgehen bei der Ermittlung der Nutzungsentgelte fest. Die Methodenregulierung wird inhaltlich durch materielle Kriterien geprägt, die in den §§ 21, 21a EnWG näher geregelt sind.48 Zu diesen Bestimmungen sieht das Energiewirtschaftsgesetz zwei Regulierungsmethoden vor: Nach dem Inkrafttreten des Gesetzes erfolgt zunächst eine Kostenregulierung mit vorheriger (ex ante) Genehmigung der Entgelte. Diese kostenorientierte Entgeltbildung gemäß § 21 EnWG wird durch die 45

Kühling/el-Barudi, Das runderneuerte Energiewirtschaftsgesetz (Fn. 21), S. 1470 (1475); Kühne/Brodowski, Das neue Energiewirtschaftsrecht (Fn. 19), S. 849 (851); Scholtka, Das neue Energiewirtschaftsgesetz (Fn. 21), S. 2421 (2424). 46 Vgl. Kühling/el-Barudi, Das runderneuerte Energiewirtschaftsgesetz (Fn. 21), S. 1470 (1474); Kühne/Brodowski, Das neue Energiewirtschaftsrecht (Fn. 19), S. 849 (851). 47 Vgl. Kühling/el-Barudi, Das runderneuerte Energiewirtschaftsgesetz (Fn. 21), S. 1470 (1474). 48 Vgl. dazu Büdenbender, U., Das System der Netzentgeltregulierung in der Elektrizitäts- und Gaswirtschaft, DVBl. 2006, 197 (200); Kühne/Brodowski, Das neue Energiewirtschaftsrecht (Fn. 19), S. 849 (852).

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Stromnetzentgeltverordnung und die Gasnetzentgeltverordnung näher ausgestaltet.49 Frühestens ein Jahr nach Inkrafttreten des Energiewirtschaftsgesetzes soll die „kostenorientierte Entgeltbildung“ durch eine in § 21a EnWG geregelte „Anreizregulierung“ abgelöst werden. Nach dem Ansatz der kostenorientierten Entgeltbildung darf ein Netzbetreiber nur solche Kosten auf die Netzentgelte umlegen, die denen eines effizienten und strukturell vergleichbaren Netzbetreibers entsprechen (§ 21 Abs. 2 Satz 1 EnWG). Darunter versteht man Kosten, die bei effizienter Leistungserbringung eines Netzbetreibers entstehen.50 Ferner hat die Bildung eines angemessenen Entgeltes unter Berücksichtigung von Anreizen für eine effektive Leistungserbringung sowie einer angemessenen, wettbewerbsfähigen und risikoangepassten Verzinsung des eingesetzten Kapitals zu erfolgen. Um die Angemessenheit des Kostenansatzes zu überprüfen, führt die Regulierungsbehörde in regelmäßigen Abständen einen Vergleich der Entgelte für den Netzzugang, der Erlöse oder der Kosten der Betreiber von Energieversorgungsnetzen durch (§ 21 Abs. 3 Satz 1 EnWG). Bei der Entgeltbildung nach einer Anreizregulierung werden Obergrenzen für die Netzentgelte oder die Gesamterlöse aus Netzentgelten, die ein Netzbetreiber für die Dauer einer Regulierungsperiode verlangen kann, festgelegt (§ 21a Abs. 2 EnWG). Der dem Netzbetreiber entstehende Anreiz zu Kostensenkung ist darin zu sehen, dass die Obergrenzen während der gesamten Regulierungsperiode nicht der tatsächlichen Kostenentwicklung angepasst werden. Der Netzbetreiber kennt somit seine Preis- und Erlösentwicklung für die nächsten Jahre und kann durch eigene Anstrengungen und Einsparungen die Differenz zwischen dem als Obergrenze festgelegten Entgelt einsparen und als zusätzlichen Gewinn verbuchen.51 Die Anreizregulierung steht unter dem Vorbehalt der Schaffung einer Rechtsverordnung, die die einzelnen Kriterien der Anreizregulierung näher bestimmt. Im Rahmen der Anreizregulierung sind aber auch potentielle Gefahren von festen Preisen in langen Regulierungsphasen zu bedenken. Eine mangelnde Differenzierung bei den Preissenkungsmöglichkeiten und eine feh49 Verordnung über die Entgelte für den Zugang zu Elektrizitätsversorgungsnetzen (Stromnetzentgeltverordnung) v. 25.07.2005, BGBl. I, S. 2225; Verordnung über die Entgelte für den Zugang zu Gasversorgungsnetzen (Gasnetzentgeltverordnung) v. 25.07.2005, BGBl. I, S. 2197. 50 Vgl. Salje, Energiewirtschaftsgesetz (Fn. 8), § 20, Rn. 45; Büdenbender, Das System der Netzentgeltregulierung (Fn. 48), S. 197 (199); Kühne/Brodowski, Das neue Energiewirtschaftsrecht (Fn. 19), S. 849 (852). 51 Vgl. Salje, Energiewirtschaftsgesetz (Fn. 8), § 20, Rn. 34; Büdenbender, Das System der Netzentgeltregulierung (Fn. 48), S. 197 (209); Kühne/Brodowski, Das neue Energiewirtschaftsrecht (Fn. 19), S. 849 (852).

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lende Qualitätsregulierung der Netze könnte dazu führen, dass mit Blick auf den „Regulierungsphasen-Gewinn“ notwendige Investitionen und Instandhaltungsmaßnahmen zurückgestellt werden.52 III. Energieversorgung zwischen Markt und Regulierung Der Wettbewerb auf dem Energiesektor in Deutschland hat sich seit der Liberalisierung 1998, insbesondere bei den Großkunden, stetig entwickelt. Dies gilt vor allem für den Strom-, weniger für den Gasmarkt. Mittlerweile haben fast alle Großkunden entweder den Stromanbieter gewechselt oder neue Verträge mit den bisherigen Versorgern abgeschlossen und dabei Preisnachlässe von bis zu 50% ausgehandelt. Nur ca. 10–20% der Gewerbeund Haushaltskunden haben jedoch den gleichen Weg beschritten.53 Das zeigt, dass sich der Wettbewerb bei den Haushaltskunden noch kaum entwickelt hat und weiterhin 90% der Haushaltskunden von den örtlichen Versorgern versorgt wird.54 Indessen findet ein reger Wettbewerb zwischen den Energieversorgungsunternehmen um Beteiligungserwerbe statt, wobei auf diesem Feld nicht nur deutsche Unternehmen, sondern besonders auch ausländische Gesellschaften aktiv sind.55 Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Vielfalt in der deutschen Strom- und Gaswirtschaft mit fast 1200 inund ausländischen Unternehmen erhalten geblieben ist.56 Eine preisgünstige, verbraucherfreundliche, sichere und unweltverträgliche Versorgung mit Elektrizität und Gas ist für die Wettbewerbsfähigkeit, für Wachstum und Beschäftigung in Deutschland unverzichtbar. Da der Wettbewerb bei Strom und Gas aufgrund der leitungsgebundenen Versorgung trotz der Marktöffnung 1998 an Grenzen gestoßen ist, hat sich der europäische Gesetzgeber für eine staatliche Regulierung in den Mitgliedstaaten entschieden. Auf diese Weise soll der diskriminierungsfreie Zugang zu den Netzen gewährleistet werden. Damit hat sich die Rechtslage im Energiewirtschaftsrecht erneut grundlegend verändert. Zunächst war die Energiewirtschaft durch ein System der vertraglich begründeten Versorgungsmonopole aufgrund von Demarkations- und Konzessionsverträgen organisiert. Diese Organisationsform war die Basis des Ener52 So Salje, Energiewirtschaftsgesetz (Fn. 8), § 20, Rn. 35; Kühne/Brodowski, Das neue Energiewirtschaftsrecht (Fn. 19), S. 849 (852). 53 So Kuhnt, D., ehemals Vorstandsvorsitzender der RWE AG, in: Oberender, P. (Hrsg.), Wettbewerb in der Versorgungswirtschaft, 2004, S. 23. 54 Böge, U., Wettbewerb im Bereich der leitungsgebundenen Energien, GewArch 2004, 363 (367). 55 Kuhnt, D., in: Oberender (Hrsg.), Wettbewerb in der Versorgungswirtschaft (Fn. 53), S. 24. 56 Kuhnt, s. Fn. 55.

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giewirtschaftsgesetzes von 1935. Dieses System hat einen Wettbewerb zwischen Energieversorgungsunternehmen nahezu völlig ausgeschlossen. Erst 1998 wurde die Phase des Monopolsystems durch das neue Energiewirtschaftsgesetz beendet. Das Energiewirtschaftsgesetz von 1998 basierte dabei auf dem Gedanken der Selbstregulierung. Der Netzzugang sollte vertraglich ausgehandelt werden. Dadurch sollte die Organisation der Energieversorgung dem freien Spiel der Wirtschaft überlassen werden.57 Durch die Beschleunigungsrichtlinien der Europäischen Gemeinschaft und jetzt das neue Energiewirtschaftsgesetz wurde die Phase der Selbstregulierung in Deutschland beendet und auf ein öffentlich-rechtliches Modell mit starken Befugnissen einer Regulierungsbehörde zurückgegriffen. Besonders deutlich wird dieser Systemwechsel, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Energiewirtschaft, im Gegensatz zu den anderen Netzwirtschaften Telekommunikation, Post und Eisenbahn, in ihrer Mehrzahl privatwirtschaftlich organisiert ist. Diese Struktur charakterisierte die Energiewirtschaft als traditionell „selbstregulatives“ Rechtsgebiet.58 Das Energiewirtschaftsgesetz 2005 brachte jetzt den Wandel zur Fremdregulierung. Regulierung hat sich in neuester Zeit in Deutschland und weiten Teilen Europas zu einem beliebten Instrument der Ordnung liberalisierter Wirtschaftszweige entwickelt.59 Unter Regulierung ist allgemein jede staatliche oder staatlich sanktionierte Beschränkung der Handlungs- bzw. Verfügungsmöglichkeit der Privatrechtssubjekte zu verstehen.60 Die eingerichteten Regulierungsbehörden sind daher Verwaltungsinstanzen, die Eingriffe in Marktmechanismen vornehmen, um die Wettbewerbsförderung und gleichzeitig die Grundversorgung sicherzustellen. Die Notwendigkeit einer Regulierung bei der Umstellung der monopolistisch geprägten Energiewirtschaft ergibt sich aus den Eigentümlichkeiten der Energieversorgung. Da sich die Versor57 Baur, J., Der Regulator, Befugnisse, Kontrollen – Einige Überlegungen zum künftigen Regulierungsrecht, ZNER 2004, 318; Salje, Energiewirtschaftsgesetz (Fn. 8), § 21, Rn. 31. 58 Pielow, J.-C., Wie „unabhängig“ ist die Netzregulierung im Strom- und Gassektor? (Fn. 30), S. 1017 (1018). 59 So Bullinger, M., Regulierung als modernes Instrument zur Ordnung liberalisierter Wirtschaftszweige, DVBl. 2003, 1355. Ferner Kitagawa, Z./Murakami, J./ Nörr, K. W./Oppermann, Th./Shiono, H. (Hrsg.), Regulierung – Deregulierung – Liberalisierung. Tendenzen der Rechtsentwicklung in Deutschland und Japan zur Jahrhundertwende, 2001; Pielow, J.-Chr., Grundstrukturen öffentlicher Versorgung, 2001; Hermes, G., Staatliche Infrastrukturverantwortung, 1998; Tettinger, P. J., Verwaltungsrechtliche Instrumente des Sozialstaates, VVdStRL Heft 64 (2005), S. 199 ff. 60 Vgl. Schmidt, Von der RegTP zur Bundesnetzagentur (Fn. 30), S. 1025 (1026); Schebstadt, A., Die Aufsicht über Netznutzungsentgelte zwischen Kartellrecht und sektorspezifischer Regulierung, RdE 2004, 181 (184); ferner Bullinger, Regulierung (Fn. 59), S. 1355 ff.

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gungsnetze in der Hand der bisherigen Monopolisten befinden, ist es notwendig, sie für die Wettbewerber zugänglich zu machen. Darin liegt eine Hauptaufgabe der Regulierungsbehörde. Zugleich muss auch die staatliche Verpflichtung zur Sicherung einer Grundversorgung einkalkuliert werden. Deshalb bedarf die Spannung zwischen Wettbewerbsoptimierung und Versorgungssicherheit im Rahmen der Regulierung ausgewogener Lösungen. Dass sich der deutsche Gesetzgeber für eine Regulierungsbehörde in Form der Bundesnetzagentur als selbständiger Bundesoberbehörde mit weitgehender Unabhängigkeit entschieden hat, war aufgrund der Beschleunigungsrichtlinien nicht zwingend und ist in der deutschen Rechtswissenschaft auch auf Kritik gestoßen. So sprach der unlängst verstorbene Kollege Peter J. Tettinger im Rahmen eines energierechtlichen Vortrags an der Universität zu Köln 2003 von einem „Energie-Regulator“ als „Horrorvorstellung“.61 Ähnlich kritisierte Ulrich Büdenbender den Aufbau einer neuen Bürokratie als überflüssig.62 Bei der Errichtung der Regulierungsbehörde für den Energiesektor konnte sich der deutsche Gesetzgeber auf die Erfahrungen mit bereits unabhängig ausgestalteten Regulierungsinstanzen aus dem Bereich von Telekommunikation und Post stützen. Zugleich diente die selbständige Aufgabenwahrnehmung durch das Bundeskartellamt als Modell für eine weitgehend unabhängige Regulierung. Eine vollständige Übertragung der Energieregulierung auf die Kartellbehörden wurde aber aufgrund der Besonderheiten einer notwendigerweise auch präventiven Regulierung gegenüber einem rein wettbewerbsrechtlich geprägten Aufgabenbereich abgelehnt.63 Die Zukunft wird lehren, ob die vom deutschen Gesetzgeber gewählte Konstruktion der Regulierung einem funktionierenden Wettbewerb, der Transparenz und der Versorgungssicherheit und vor allem der Effektivität dient.64 Die Gefahr einer Überregulierung, die das unternehmerische Handeln behindert, ist nicht von der Hand zu weisen, fasst man die Machtbefugnisse der Regulierungsbehörde ins Auge. Insbesondere bei der Anreizregulierung ist darauf zu achten, dass die Regulierungschraube nicht überdreht wird und den Unternehmen ein möglichst großer Handlungsspielraum belassen wird. Die Entgeltregulierung stellt den Schlüssel zum Wettbewerb 61 Tettinger, P. J., Das neue Energiewirtschaftsrecht im Kontext der deutschen und europäischen Wirtschaftsverfassung, S. 23 (Manuskript). 62 Büdenbender, U., Den Aufbau einer neuen Bürokratie vermeiden, ET 2003, 288. 63 Baur, Der Regulator (Fn. 57), S. 318 (319). 64 Zur Sicherung der Energieversorgung in Deutschland siehe die Denkschrift der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Die Energieversorgung sichern. Politische, technologische und wirtschaftliche Implikationen, 2006, S. 6 ff.

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auf dem Energiesektor dar. Dabei dürfen die Regulierungsbehörden aber nicht aus den Augen verlieren, dass zu geringe Entgelte nicht zu Lasten der Sicherung und des Ausbaus der Netze eingeführt werden dürfen oder die Netzbetreiber auf den benachbarten Märkten Nachteile erleiden.65 Regulierung auf dem Energiesektor würde ad absurdum geführt, wenn ihre Kosten den Nutzen überstiegen.66

65 Kühling/el-Barudi, Das runderneuerte Energiewirtschaftsgesetz (Fn. 21), S. 1470 (1476). 66 Schebstadt, Die Aufsicht über Netznutzungsentgelte (Fn. 60), S. 181 (184).

Zum Leitbild eines modernen Regulierungsverwaltungsrechts Stand und Perspektiven des öffentlich-rechtlichen Privatisierungsfolgenrechts Von Rolf Stober1 I. Rupert Scholz als Rechtsmodernisierer Rupert Scholz ist nicht nur ein herausragender Staatsrechtslehrer und versierter Interpret des Grundgesetzes. Daneben hat er auf vielfältige Weise die Rechts- und Ordnungspolitik der Bundesrepublik Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten beeinflusst. Er gehört deshalb zu der kleinen Gruppe der Rechtsgelehrten, die sich als kreative Modernisierer verstehen, die mit juristischem Weitblick handeln und denen die Weiterentwicklung der Rechtsordnung am Herzen liegt. Vor diesem persönlich-fachlichen Hintergrund liegt es sehr nahe, Rupert Scholz mit einem Beitrag zu ehren, der diesem Forschungsziel entspricht. Das trifft insbesondere auf das Regulierungsrecht zu, auf das sich die weiteren Ausführungen konzentrieren.

II. Regulierung als Ausdruck der Pluralität des Rechts Otto Mayer, ein maßgeblicher Schöpfer des heutigen deutschen Verwaltungsrechts, hat im Vorwort zur ersten Auflage seines Verwaltungsrechtslehrbuches im Jahre 1895 ausgeführt: „Vielleicht war es doch das Richtige, mutig das Ganze anzufassen, um es einheitlich nach gemeinsamen großen Gesichtspunkten aufzubauen“. 1 Der Autor ist Geschäftsführender Direktor des Instituts für Recht der Wirtschaft der Universität Hamburg. Der Beitrag basiert auf einem Vortrag anlässlich der ersten internationalen wissenschaftlichen Tagung im Rahmen des von Prof. Dr. Won Woo Lee gegründeten „Center for Law and Public Utilities“ an der National Universität Seoul am 26.5.2006. Da das Manuskript zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen wurde, konnten Beiträge zum öffentlich-rechtlichen Thema des 66. Juristentages 2006 „Soll das Recht der Regulierungsverwaltung übergreifend geregelt werden?“ nicht mehr berücksichtigt werden.

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Otto Mayer meinte damit die Ordnungs- und Systematisierungsaufgabe des Verwaltungsrechts, die im vergangenen Jahrhundert im Mittelpunkt stand. Vor einer ähnlich großen Herausforderung steht heute das Regulierungsrecht, dessen juristische Bewältigung ebenfalls eine Mutprobe ist. Denn die rechtswissenschaftliche Erforschung dieses modernen Schlüsselbegriffs2 und seiner Ausformungen befindet sich aus vielen Gründen noch am Anfang. So ist die Materie Regulierungsrecht terminologisch, definitorisch, konzeptionell und inhaltlich gleichermaßen umstritten. Diese Unsicherheit ist entwicklungsgeschichtlich bedingt. Der Ausdruck Regulierung hat sich zunächst in den Wirtschafts- und Gesellschaftswissen etabliert und wurde dann – unbeschadet gelegentlich geäußerter Kritik – von den Rechtswissenschaften rezipiert.3 In dem zuletzt genanten Kontext erfasst Regulierung wegen der unterschiedlichen Verwendungszusammenhänge zwischen Rechtsetzung und Regelung,4 Gesetzgebung und Verwaltung, Verwaltungsrecht und Verwaltungswissenschaft,5 Öffentlichem Recht und Privatrecht6, Nationalem und Internationalem Recht,7 Allgemeinem und Besonderem Recht8 sowie Materiellem Recht und Verfahrensrecht die gesamte Bandbrei2

s. Spoerr/Deutsch, DVBl. 1997, 380 ff. s. Ruffert, AöR 124 [1999], 237 ff.; Bullinger, DVBl. 2003, 1355 ff.; Marcou, in: Benz/Siedentopf/Sommermann (Hg.), FS für K. König, 2004, 127; Schneider, J-P., in: Schmidt-Aßmann/Dolde (Hg.), Beiträge zum öffentlichen Wirtschaftsrecht, 2005, 39 ff.; v. Danwitz, DÖV 2004, 977 ff.; Ruge, Die Gewährleistungsverantwortung des Staates und der Regulatory State, 2004. 4 s. etwa Kämmerer, Privatisierung, 2000, S. 624; den Buchtitel von Greß/ Niebuhr/Wasem, Regulierung des Marktes für verschreibungspflichtige Arzneimittel, 2005; Wimmer/Mederer, Regulierung und Deregulierung zur Herstellung eines offenen und funktionsfähigen Marktes, Gutachten III/1 zum 12. Österreichischen Juristentag 1994, 1993, passim; Masing, Verw 36 [2003], 1 ff.; Stober, DÖV 2004, 221, 223. 5 Schuppert, Verwaltungswissenschaft, 2000, S. 407, ders. Staatswissenschaft, 2003, S. 445 ff.; Empter/Frick/Vehrkamp (Hg.), Auf dem Weg zu moderner Regulierung, 2005; Städtler, DVBl. 2006, 92 ff. und Mehde, DÖV 2006, 338 ff., Bericht über die verwaltungswissenschaftliche Tagung „Public Administration and Private Enterprise: Co-operation, Competition and Regulation“; Franc, M., in: Deutsche Sektion des Internationalen Instituts für Verwaltungswissenschaften (Hg.), Verwaltungswissenschaftliche Informationen, Sonderheft 2006 zum Thema Public Administration and Private Enterprise; Voßkuhle (Hg.), Entbürokratisierung und Regulierung, 2006. 6 BVerwGE 120, 263, 267. 7 Das Weißbuch Europäisches Regieren der EG-Kommission v. 25.7.2001, KOM (2001) 428 endg., ABl. C Nr. 287, S. 1 ff., S. 26, spricht allgemein von „Regulierungsmaßnahmen“ und auf S. 30 f. von „Regulierungsagenturen“. 8 Z. B. als Kapitalmarkt- und Verkehrsrecht, s. Holoubek/Potacs (Hg.), Öffentliches Wirtschaftsrecht I, Wien 2002, S. 611 ff.; Gellhorn/Pierce, Regulated Industries, 2. Aufl. 1987, St. Paul Minnesota. 3

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te der Pluralität des Rechts9 sowie des „Regulatory State“10 und entpuppt sich zunächst als konturenloser, offener Brücken- und Verbundbegriff.

III. Bedeutung der Regulierung und Regulierungskonzepte 1. Regulierung im weiteren und im engeren Sinne Gleichwohl besitzt der Ausdruck Regulierung nicht nur heuristische Bedeutung. Er ist zugleich von beträchtlicher rechtstheoretischer, rechtspolitischer und rechtspraktischer Relevanz11 und kann inhaltlich durchaus konkretisiert werden.12 Denn zum einen hat das Thema Regulierung gegenwärtig Hochkonjunktur. Und zum anderen gehört es substantiell zu den Kernfragen der Jurisprudenz sowie zu den Grundlagen der Rechtsordnung, dessen Konkretisierung sich erst über das jeweilige Verfassungs-, Rechts-, Wirtschafts- und Sozialsystem oder den gewählten Regulierungsansatz erschließt. Insoweit ist Regulierung sowohl eine Frage der historisch gewachsenen Rechtskultur als auch eine Daueraufgabe der Ordnungs- und Rechtspolitik, die sich auf dem Weg vom paternalistischen zum partnerschaftlichen Staat13 permanent wechselnden Normierungsbedürfnissen stellen muss. Aus dieser Perspektive kann man von Regulierung im weiteren Sinne sprechen, die Auskunft über das Ob, das Wie und den Umfang der Regulierung und damit den Aufbau und die Ausgestaltung jedes Rechtssystems gibt.14 Bezieht sich die Regulierung auf die Wirtschaft oder auf einzelne Wirtschaftszweige, dann handelt es sich um eine Regulierung im engeren Sinne.15 9 Bauschke u. a. (Hg.), Pluralität des Rechts – Regulierung im Spannungsfeld der Rechtsebenen, 2003; Ruge, AöR 131 [2006], 1, 22. 10 Ruge, Die Gewährleistungsverantwortung (Fn. 3). 11 s. auch Eisenblätter, Regulierung in der Telekommunikation, 2000, S. 19 ff. 12 Skeptisch Voßkuhle, VVDStRL 62 [2003], 268 ff. 13 Kim, Sung-Soo/Nishihara, Hiroshi (Hg.), Vom paternalistischen zum partnerschaftlichen Rechtsstaat, 2000. 14 s. aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht Oppermann, in: Kitagawa/Murakami u. a. (Hg.), Regulierung, Deregulierung, Liberalisierung, 2001, 336 ff.; EG-Kommission, Weißbuch (Fn. 7), S. 31. 15 s. dazu Eisenblätter, Regulierung (Fn. 11), S. 22; Schuppert, Staatswissenschaft (Fn. 5), 2003, S. 445 ff.; Bullinger, DVBl. 2003, 1355, 1357; Masing, AöR 128 [2003], 558 ff.; Schneider, in: Schmidt-Aßmann/Dolde (Hg.), Beiträge zum Öffentlichen Wirtschaftsrecht (Fn. 2), S. 41 ff.; s. auch die von Masing und M. J. Möllers herausgegebene Schriftenreihe des „Augsburg Center for Global Economic Law and Regulation“, die sich mit Themen des Internationalen Wirtschaftsrechts und der Wirtschaftsregulierung befasst; s. ferner Ruge, AöR 131 [2006], 1, 22 ff.

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2. Regulierung als rereguliertes Privatisierungsfolgenrecht In beiden Varianten hat Regulierung die Funktion der Bereitstellung von Rechtsregeln16 oder verstanden als Deregulierung die Aufgabe zur Beseitigung von Rechtsregeln bei Wegfall des Regelungsbedürfnisses oder im Falle von Überregulierung17. Regulierung ist also nicht mit staatlicher Erfüllungsverantwortung identisch, weil der Staat etwa zur Umsetzung von Good Governance Konzepten18 klassische öffentliche Daseinsvorsorge- und Infrastrukturaufgaben privatisieren kann. Damit verändert sich zugleich der Regulierungsauftrag, weil anstelle der öffentlichen Hand Private als Regulierungsadressaten treten. In diesen Fällen kommt es zu einer Reregulierung, die auch als Privatisierungsfolgenrecht19 qualifiziert wird. Die Reregulierung ist spezifischer Auftrag des Regulierungsstaates, der als Gewährleistungsstaat für die fortdauernde Funktionsfähigkeit des Rechtssystems und seiner Einrichtungen unter veränderten Ausgangsbedingungen sorgen muss. Auf diese spezifische Regulierung der Netzwirtschaft, des Netzwirtschaftsrechts20 oder der Marktregulierung (§ 9 TKG)21, die als public utility regulation22 ein Unterfall der Wirtschaftsregulation ist, konzentrieren sich gegenwärtig Gesetzgebung, Wissenschaft23 und Rechtspraxis24. Sie bedeutet die Verantwortung für eine wettbewerbs- und gemeinwohlorientierte Optimierung multipolarer Interessen zur Gewährleistung einer funktionsfähigen Grundversorgung mit Gütern und Dienstleistungen durch Regulierungsrechtsetzung, Regulierungsverwaltung25 und Regulierungsstreitbeilegung. Vor diesem Hintergrund trägt das Hauptgutachten 2000/2001 der Monopol16

Schuppert, Staatswissenschaft (Fn. 5), S. 445 ff. Sachverständigenrat „Schlanker Staat“, Abschlussbericht, Band 1, 2. Aufl. 1998 passim, Voßkuhle, VerwArch 92 [2001], 184, 207 ff.; Stober, Allgemeines Wirtschaftsverwaltungsrecht, 15. Aufl. 2006, § 3 III 2. 18 World Bank (Hg.), Sub Saharan Africa, 1989; EU-Kommission, Weißbuch (Fn. 7); König, K., DÖV 2001, 617 ff.; Stober, in: FS Bartlsperger, 2006, 1 ff. 19 Säcker, AöR 130 [2005], 180, 186. 20 Kühne/Brodowski, NVwZ 2005, 849; s. auch Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, S. 139; Bullinger, DVBl. 2003, 1355 ff.; Burgi, DVBl. 2006, 269, 271 f. 21 s. auch BVerwG, NVwZ 2004, 1352, 1354, 1355 ff. 22 s. dazu Pielow, Grundstrukturen öffentlicher Versorgung, 1999, S. 281. 23 Colson, Droit public économique, 3. édition, 2001, S. 359; Ruffert, AöR 124 [1999], 237 ff.; Kühling, Sektorspezifische Regulierung der Netzwirtschaft, 2004; Badura, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, 2. Aufl. 2005, S. 106 und 130; Ruthig/Storr, Öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 10; Marcou, in: FS König (Fn. 3), S. 126. 24 Kritisch zu diesem Verständnis wegen des „Abwicklungs“charakters; Masing, Verw. 36 [2003], 1 f. 25 Stober, DÖV 2004, 221, 223 m. w. N. 17

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kommission zu Recht die Überschrift „Netzwettbewerb durch Regulierung“. Allerdings erfasst dieser komplexe und dynamische Rechtsausschnitt, der einer doppelten Schutzrichtung (Wettbewerb und öffentliche Interessen) verpflichtet ist,26 eine Fülle unterschiedlich strukturierter Erscheinungsformen, die sich nicht auf eine Netzregulierung beschränken. Vielmehr reicht die Privatisierung von Staatsaufgaben weit über typische wirtschaftliche Tätigkeiten staatlicher Unternehmen hinaus, die jedoch primär einer detaillierten Reregulierung zugeführt wurden (Telekommunikation, Post, Elektrizität, Gas, Eisenbahn, s. auch § 116 TKG und § 34 EnWG) und hier im Vordergrund stehen.27 Regulierungslücken existieren insbesondere bei der Zusammenarbeit von öffentlicher Hand und Privaten (Public Private Partnership) sowie in folgenden Sektoren: Wasserversorgung,28 Abwasserentsorgung, öffentlicher Personennahverkehr, Marktzugang zu Hafendiensten (Port Package für Schlepp-, Lotsen-, Fahrgastdienste und Containerterminalnutzung), Strafvollzug, öffentliche Sicherheit und Ordnung (Luftverkehrs- und Hafensicherheit), Straßenverkehr (Zugang zum Mautsystem).29 Hier sind allenfalls punktuelle Regulierungen als Reaktion auf spezielle Fragestellungen30 und Rechtsunklarheiten (§ 5 LuftSiG als Klarstellung des Status für Personenkontrolleure) erfolgt. Es ist jedoch geplant, die Überwachung der materiellen Privatisierung der Flugsicherung (Art. 87d I GG) einer Regulierungsbehörde zu übertragen.31 3. Externes und internes Regulierungsrecht Regulierungsrecht betrifft als Privatisierungsfolgenrecht nicht nur das soeben skizzierte Außenverhältnis zwischen Staat und privaten Akteuren. Darüber hinaus bedürfen auch die Rechtsbeziehungen innerhalb der Verwaltung sowie die Kooperation mit anderen Verwaltungsträgern einer Novellierung, die sich nach der erwähnten doppelten Zielsetzung des Regulierungsrechts richtet. Hier kommt vornehmlich die Zusammenarbeit zwischen Wettbewerbsbehörden und Regulierungsbehörden in den Blick. Vor diesem Hintergrund ist es gerechtfertigt, zwischen Regulierungsrecht im externen und im internen Sinne zu unterscheiden, bei dem der Status der beteiligten 26 s. auch Marcou, in: FS König (Fn. 3), S. 126; Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht (Fn. 20), S. 139. 27 s. auch das Gesetz über die Bundesnetzagentur v. 7.7.2005, BGBl. I, S. 2009. 28 s. dazu Frenz, ZHR 2002, 307 ff. 29 MautsystemG v. 22.12.2005, BGBl. I, S. 3692. 30 Vergabe- und steuerrechtliche Aspekte der Public Private Partnership, s. PPPBeschleunigungsgesetz v. 7.9.2005, BGBl. I, S. 2676 ff. und dazu Fleckenstein, M., DVBl. 2006, 75 ff. 31 FAZ v. 14.11.2005 Nr. 265, S. 17; s. auch Scherer, J., in: FS Zuleeg, 2005, S. 456, 469.

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Behörden und die Ausgestaltung der Rechtsverhältnisse zwischen Verwaltungsstellen im Mittelpunkt stehen.32 IV. Regulierung als intra- und interdisziplinäre Querschnittsmaterie Die Reduzierung des Erkenntnisgegenstandes auf Regulierung als Privatisierungsfolgenrecht bedeutet jedoch keine Verengung auf die juristische Perspektive. Das wäre schon deshalb problematisch, weil das moderne Regulierungsrecht im engeren Sinne eine Querschnittsmaterie ist, die nur intradisziplinär und interdisziplinär unter Heranziehung nachbarwissenschaftlicher Erkenntnisse durchdrungen werden kann. Denn Regulierungsrecht ist Steuerungsrecht, das reale Prozesse lösen sowie ökonomische und technische Lagen berücksichtigen muss und das die Rechtsordnung als wechselseitige Auffangordnung von Teilrechtssystemen begreift,33 die auch Privatrechtsverhältnisse gestalten kann.34 Diese Vernetzung schlägt auch auf das interne Regulierungsrecht durch, weil Regulierungs- und Wettbewerbsbehörden unterschiedliche hoheitliche und privatrechtliche Ziele unter Berücksichtigung wirtschaftlicher und naturwissenschaftlicher Gesetzmäßigkeiten verfolgen müssen.35 Hinzu tritt die komparative Seite. Sie gestattet im Wettbewerb konkurrierender Normkomplexe einen Vergleich der Regulierungssysteme mit dem Ziel, andere Rechtsmodelle besser zu verstehen und die eigene Rechtsordnung durch die Übernahme geeigneter Institute zu optimieren. Sie ist für das Regulierungsverwaltungsrecht schon wegen seiner US-amerikanischen Herkunft36 und des erwähnten unterschiedlichen Regulierungsverständnisses von entscheidender Bedeutung. Langfristig ist es die Aufgabe dieser rechtsinterkulturellen Parallelbetrachtung, möglichst viele universal, unionsweit oder sektorübergreifend akzeptierte Grundsätze herauszufinden, die zu einer Liberalisierung, Harmonisierung und Überwachungsregulierung führen können.37 32 s. zu dieser Differenzierung Wolff/Bachof/Stober/Kluth, Verwaltungsrecht, § 4 II 1. 33 s. allg. Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, 1996. 34 BVerwGE 120, 263, 267 zu einer öffentlich-rechtlich angeordneten Netzzusammenschaltung, die wegen des Verwaltungsaktcharakters auf den privatrechtlichen Vertrag einwirkt. 35 s. zu den Folgen für das Personalmanagement Jahresbericht 2004 der Regulierungsbehörde, S. 133 und Jahresbericht 2005, S. 146. 36 s. dazu Masing, Verw 36 [2003], 1 ff.; Ruge, AöR [131], 2006, S. 1, 22 ff. 37 s. allgemein Vollmöller, Die Globalisierung des öffentlichen Wirtschaftsrechts, 2001, 141 ff.

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V. Regulierungsrecht als Ausprägung des Wirtschaftsverwaltungsrechts Dieser Beitrag kann die dargestellte Herkulesaufgabe nicht leisten. Stattdessen richtet sich das Augenmerk auf den Entwurf des Leitbildes eines zukunftsfähigen Regulierungsrechts, das auch verwaltungswissenschaftlichen Maßstäben genügt und Ideen des New Public Management aufgreift.38 Als Privatisierungsfolgenrecht ist es primär eine Ausprägung des Öffentlichen Rechts und speziell des Wirtschaftsverwaltungsrechts,39 die den vielfältigen Funktionswandel moderner Staatlichkeit widerspiegelt. An diesem nachfolgend stichwortartig umschriebenen Regelungsschwerpunkt ändert auch die wettbewerbsrechtliche Komponente der Regulierung nichts, weil sowohl die Wettbewerbsverfahren als auch die Zusammenarbeit zwischen Regulierungs- und Wettbewerbsbehörde öffentlich-rechtlich verfasst sind. Die Entwicklung eines Leitbildes als Therapievorschlag setzt die Ermittlung des Regulierungsbefundes als Diagnose voraus. Sie lässt sich nach folgenden Gegenständen ordnen, die Basisrepertoire jeder strukturierten Rechtsmasse sind: • • • • • • • • •

Regulierungsgrundlagen Regulierungsziele Regulierungsaufgaben Regulierungsinstrumente Regulierungshandeln Regulierungsorganisation Regulierungsfinanzierung Regulierungsrechte Regulierungskontrolle VI. Regulierungsverwaltungsrecht als Befundgegenstand 1. Regulierungsgrundlagen

Der Handlungsrahmen der Regulierungsverwaltung folgt aus den Regulierungsgrundlagen. Sie bestehen in einem rechtsstaatlich-demokratischen 38 s. zu den Kriterien der Rechtsfindung Park, Jeong Hoon, Rechtsfindung im Verwaltungsrecht, 1999; Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaften, 2004, S. 209, 214; Stober, in: FS Bartlsperger, 2006, S. 1 ff. 39 Badura, in: Beck’scher PostG Kommentar, 2000, § 2, Rn. 1; Fehling, DÖV 2002, 793, 795; Weigel, W., Rechtsökonomik, 2004, S. 120; Bullinger, DVBl. 2003, 1355 ff.; BVerwG, NVwZ 2004, 1352, 1354; Ruthig/Storr, Öffentliches Wirtschaftsrecht (Fn. 23), § 6.

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System aus einem hierarchisch aufgebauten Geflecht aus Verfassungsnormen, Gesetzen, Regierungsverordnungen und Verwaltungsvorschriften, die in supra- und internationale Vorgaben eingebunden sind. Sie beeinflussen und dirigieren das nationale Regulierungsrecht in erheblichem Maße, um etwa transeuropäische Netze als Bestandteil des Binnenmarktes zu verwirklichen (Art. 154 I EGV), den grenzüberschreitenden Netzzugang zu eröffnen oder das Netzrecht zu harmonisieren.40 So dient etwa das Energiewirtschaftsgesetz nach § 1 III EnWG u. a. der Umsetzung und Durchführung des Europäischen Gemeinschaftsrechts auf dem Gebiet der leitungsgebundenen Energieversorgung. Diese Verschränkung führt zu einem Regulierungsverbund.41 Daneben sind unbeschadet der garantierten regulatorischen Autonomie der Mitgliedstaaten42 bestimmte Verpflichtungen des WTO-Rechts zu beachten.43 Über die Einhaltung der Regulierungsnormen wacht im Rahmen der Wettbewerbskontrolle die Europäische Kommission (Art. 81 ff. EGV), die sich mit der Bundesnetzagentur abstimmt. Auf internationaler Ebene existiert ein informell agierendes „International Competition Network“44. In Deutschland sind die Regulierungsgrundlagen in unterschiedlichen Gesetzen (TKG45, PostG, AEG, EnWG, GWB, BundesnetzagenturG) als Bundesrecht normiert. 2. Regulierungsziele Die Regulierungsziele sind der Nukleus jeder Regulierung, die – einer Forderung der modernen Gesetzgebungslehre46 entsprechend – ausdrücklich in den jeweiligen Fachgesetzen festgelegt sind. Sie bilden zugleich die Quelle für die Regulierungsaufgaben, die Regulierungsinstrumente und das Regulierungshandeln. In diesem Kontext umschreiben die Zweckbestimmungen die generelle Regelungsabsicht, während die einzeln aufgeführten Ziele spezielle Regulierungsbedürfnisse hervorheben.47 Deshalb sind Zwecke und Ziele zwar in einem inneren Zusammenhang zu sehen; sie sind 40 s. etwa das Telekommunikationsrecht und dazu Stober, Besonderes Wirtschaftsverwaltungsrecht, 13. Aufl. 2004, § 51 III 5c und zum Energierecht Herrmann, J., Europäische Vorgaben zur Regulierung der Energienetze, 2005; Kühne/Brodowski, NVwZ 2005, 849 f. 41 Arndt, F., Verw 39 [2006], 100 ff. 42 Michaelis, in: Hilf/Oeter, WTO-Recht, 2005, S. 404. 43 s. näher Vollmöller, Globalisierung (Fn. 37), S. 160 ff. 44 s. Böge, GewArch. 2005, 441 ff. 45 s. zum neuen Regulierungsrecht Röger, DVBl. 2005, 143 ff. 46 s. Stober, Allgemeines Wirtschaftsverwaltungsrecht (Fn. 17), § 29. 47 Badura, in: Beck’scher PostG Kommentar (Fn. 39), § 2, Rn. 20; Scheurle, in: Scheurle/Mayen (Hg.), Telekommunikationsgesetz, Kommentar, 2002, § 2, Rn. 1; Schuster, in: Beck’scher TKG-Kommentar, 2. Aufl., 2000, § 2, Rn. 3; A. M. Trute, in: Trute/Spoerr/Bosch, Telekommunikationsgesetz, 2001, § 2, Rn. 6.

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aber nicht deckungsgleich. Als Privatisierungsfolgenrecht wollen Netzregulierungen übereinstimmend einen wirksamen und unverfälschten Wettbewerb sicherstellen (§ 1 TKG, § 1 PostG, § 1 I AEG, § 1 II EnWG). Dieser Generalzweck wird durch den Zweck ergänzt, im Interesse einer Grundversorgung flächendeckend angemessene und ausreichende Dienstleistungen zu gewährleisten (Art. 87f II i. V. m. § 1 TKG, § 1 PostG, § 1 I EnWG, § 1 II AEG), der partiell sektorspezifisch ausgeformt wird (§ 1 II EnWG). Die dritte Schutzrichtung folgt aus dem gewerberechtlich motivierten Überwachungsauftrag, der jedes Privatunternehmen betrifft.48 Diese Zwecke werden teilweise in den Regulierungszielen wiederholt, präzisiert und ergänzt, wie die nachfolgende exemplarische Übersicht zeigt: • Wahrung der Nutzer- und Verbraucherinteressen; • Wahrung des Post- und Fernmeldegeheimnisses; • Sicherstellung und Förderung eines funktionsfähigen Wettbewerbs auch in der Fläche; • Sicherstellung einer flächendeckenden Grundversorgung zu erschwinglichen Preisen (Universaldienstleistungen); • Wahrung der öffentlichen Sicherheit; • Förderung der Entwicklung des Binnenmarktes. 3. Regulierungsaufgaben a) Regulierungsrecht als gemeinwohlorientiertes Infrastrukturrecht Aus diesen Regulierungszwecken und Zielen lassen sich mehrere typische, als „hoheitliche Aufgaben“ qualifizierte (§ 2 I, PostG, § 2 I TKG) wirtschaftsverwaltungsrechtliche Aufgaben ableiten.49 Regulierungsrecht ist neben dem an dieser Stelle vernachlässigten Planungsrecht (§§ 18 ff. AEG, §§ 52 ff. TKG, §§ 43 ff. EnWG) zunächst Infrastrukturrecht. Denn Fundament jeder öffentlichen Verwaltungstätigkeit ist die Existenz bzw. Schaffung, Unterhaltung und Weiterentwicklung einer wirtschaftlichen Infrastruktur, die selbst im System der freien Marktwirtschaft als vorhanden unterstellt wird.50 Deshalb verwundert es nicht, dass die noch nicht abschließend geklärte Bezeichnung Infrastruktur mehrfach Niederschlag in regulierungs48

Stober, Allgemeines Wirtschaftsverwaltungsrecht (Fn. 17), § 29. s. Stober, DÖV 2004, 221, 224 f.; ders., Allgemeines Wirtschaftsverwaltungsrecht (Fn. 17), §§ 25 ff.; ders., Besonderes Wirtschaftsverwaltungsrecht (Fn. 40), § 51 V 1. 50 Hoffmann-Riem, DVBl. 1999, 125 ff.; König/Theobald, in: FS Blümel, 1999, S. 277 ff.; BVerfGE 97, 228, 257 f.; Vallender, Skizze des Wirtschaftsverfassungs49

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relevanten Gesetzen gefunden hat. So spricht Art. 154 I EGV vom Aufund Ausbau transeuropäischer Netze in den Bereichen der Verkehrs-, Telekommunikations- und Energieinfrastruktur, während §§ 1 ff. AEG den Begriff Eisenbahninfrastruktur benutzen und § 28a EnWG den Ausdruck „Neue Infrastrukturen“ verwendet. Entsprechend den aufgezeigten Regulierungszwecken hat der Gesetzgeber eine klare Entscheidung dahin getroffen, dass die Infrastruktur grundsätzlich im Wettbewerb privater Unternehmer oder im Zusammenwirken der öffentlichen Hand mit Privaten erbracht wird. Dabei agiert der Staat weniger als Leistungsverwaltung, sondern vielmehr als Gewährleistungsverwaltung,51 deren Verantwortung sich auf die Bereitstellungsgarantie und die gemeinwohlorientierte Funktionsfähigkeit der jeweiligen Grundversorgung mit Gütern und Dienstleistungen konzentriert.52 b) Regulierung als Wirtschaftsüberwachungsrecht Dieser Aufgabenwandel wirkt sich in mehrfacher Hinsicht auf die wirtschaftsverwaltungsrechtliche Schutzrichtung aus. Zwar weist das Regulierungsrecht wirtschaftslenkende Züge auf (s. etwa § 55 i. V. m. § 142 II Satz 4 TKG für Frequenznutzungsrechte).53 Der Schwerpunkt liegt jedoch in der Wirtschaftsüberwachung, die allenfalls vom herkömmlichen Recht abweicht, das klassisch als Korrektiv der Gewerbefreiheit fungiert. Demgegenüber schafft der ordnungspolitisch und fiskalisch motivierte Rückzug des Staates durch weitgehende Privatisierung der Infrastruktur einen neuen wirtschaftsverwaltungsrechtlichen Überwachungstyp,54 den man als Gewährleistungsüberwachung oder als Regulierungsüberwachung charakterisieren kann (s. dazu § 14b AEG). Er tritt zum großen Teil an die Stelle der ursprünglichen verwaltungsinternen Staatsaufsicht über öffentliche Unternehmen, die nur noch in reduzierter Form als Aufsicht über die Regulierungsbehörde fortbesteht. Die veränderte Schutzrichtung folgt aus den zu schützenden Rechtsgütern. Dabei geht es zum einen um die klassische gewerberechtliche Gefahrenabwehr durch Aufrichtung von Zulassungs- und und Wirtschaftsverwaltungsrechts, Zeitschrift des Bernischen Juristenverbandes, Sonderband Nr. 135, Bern, 1999, S. 55 ff.; Säcker, AöR 130 [2005], 180, 187. 51 Cannivé, Infrastrukturgewährleistung in der Telekommunikation zwischen Staat und Markt, 2001. 52 s. näher Stober, Allgemeines Wirtschaftsverwaltungsrecht (Fn. 17), § 26 II; ders. Besonderes Wirtschaftsverwaltungsrecht (Fn. 40), § 51 I 2; ders., DÖV 2004, 221 ff. m. w. N. 53 Schneider, J. P., in: Schmidt-Aßmann/Dolde (Hg.), Beiträge (Fn. 3), S. 42. 54 Ähnlich Kloepfer, Informationsrecht, 2002, § 11, Rn. 235; Berringer, Regulierung als Erscheinungsform der Wirtschaftsaufsicht, 2003; Ruthig/Storr, Öffentliches Wirtschaftsrecht (Fn. 23), S. 10 und S. 196; BVerwG, NVwZ 2004, 1352, 1354; Burgi, DVBl. 2006, 269, 271 f.

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Ausübungsschranken auch im Interesse des Verbraucherschutzes. Die Besonderheit des Regulierungsrechts liegt jedoch in der Schaffung von Wettbewerb sowie dem Schutz früher gegen den Staat gerichteter Grundrechte (Post- und Fernmeldegeheimnis, Datenschutz) gegenüber privaten Unternehmen55 durch eine besondere Regulierungsbehörde, die ebenfalls Nutzerinteressen verfolgt (§ 1 I EnWG). In dieser gemischten Ausrichtung des Regulierungsrechts liegt auch der Grund für denkbare Zuständigkeitskonflikte zwischen der Wettbewerbs- und der Regulierungsbehörde. Sie entfallen, wenn es um die Überwachung neuer Märkte geht, die nicht mehr dem Privatisierungsfolgenrecht zugeordnet werden können. Deshalb ist es konsequent, wenn der Entwurf zur Novelle des TKG klarstellt, dass neue Märkte regulierungsfrei sind.56 Sie unterfallen nur der Wettbewerbsaufsicht durch die Kartellbehörde. 4. Regulierungsinstrumente a) Regulierung als Aufnahmeüberwachung Zur Erledigung der Regulierungsaufgaben stehen der Regulierungsbehörde Regulierungsinstrumente zur Verfügung, die auf Regulierungsbefugnissen beruhen57. Sie ermächtigen im Interesse des Gemeinwohls und der Funktionsfähigkeit der Infrastruktureinrichtungen zum konkreten Handeln und zu Eingriffen in die Wirtschaftsfreiheiten bei der Aufnahme und Ausübung der regulierten Unternehmenstätigkeit.58 Dieses klassische Instrumentarium belegt erneut den engen Sachzusammenhang und die fachlichen Überschneidungen zwischen Wettbewerbs- und Regulierungsrecht.59 Eine relativ geringe Eingriffsschwelle weisen Anzeige- und Meldepflichten auf (§ 6 TKG), die – ebenso wie gewerberechtliche Anzeigepflichten – eine gezielte Überwachung ermöglichen sollen.60 Teilweise besteht neben einer Anzeigepflicht bestimmter Tätigkeiten eine Zulassungskontrolle in Form einer Genehmigung etwa zur Erbringung von Eisenbahnverkehrsleistungen (§ 6 AEG)61 oder zur Aufnahme des Betriebes eines Versorgungsnetzes (§ 4 EnWG),62 die auch die Prüfung gewerberecht55

Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht (Fn. 20), S. 139. HB v. 1.2.2006, Nr. 23. 57 s. zur Energiewirtschaft Kühne/Brodowski, NVwZ 2005, 849 ff. 58 s. zur Systematik auch Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht (Fn. 20), S. 139. 59 s. auch Kühling/Ernert, NVwZ 2006, 33. 60 s. näher Stober, Besonderes Wirtschaftsverwaltungsrecht (Fn. 40), § 51 VI 1 und 2. 61 s. Kramer, U., NVwZ 2006, 26 ff. 62 s. näher Kühne, NVwZ 2005, 849 ff. 56

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licher Voraussetzungen wie etwa die Zuverlässigkeit der Geschäftsleitung einschließt. Lediglich im Post- und Telekommunikationssektor ist eine kontinuierliche Deregulierung festzustellen.63 So bedarf lediglich die Beförderung bestimmter Briefsendungen einer Lizenz (§ 5 PostG). Und selbst hier handelt es sich um Übergangsrecht, da die gesetzliche Exklusivlizenz der Deutschen Post AG nur noch befristet gilt (§ 51 PostG). Nach einer vollständigen Öffnung des Briefmarktes wird auch das staatliche Monopol zur Ausgabe von Wertzeichen praktisch obsolet (§ 43 i. V. m. § 54 PostG). Im Telekommunikationssektor ist das Genehmigungserfordernis bereits aufgrund der EG-Genehmigungsrichtlinie entfallen, die im Interesse der Entwicklung und Förderung neuer elektronischer Telekommunikationsdienste und gesamteuropäischer Kommunikationsnetze eine fiktive Allgemeingenehmigung eingeführt hat und sich im übrigen auf die erwähnte Meldepflicht beschränkt (§ 6 TKG).64 Darüber hinaus bleibt das Wettbewerbsrecht unberührt, das beispielsweise das Bundeskartellamt dazu berechtigt, marktbeherrschend wirkende Unternehmenszusammenschlüsse zu untersagen (§ 24 GWB). b) Regulierung als Ausübungsüberwachung Gefahren für regulierungsgeschützte Rechtsgüter drohen vornehmlich während des Netzbetriebes, weshalb hier der Schwerpunkt der Regulierungsüberwachung liegt. Im Vordergrund stehen Marktregulierungen aufgrund von Marktanalysen mit dem gefundenen Ergebnis, dass ein wirksamer Wettbewerb fehlt (§ 9 TKG). Sie sind wegen der Grundversorgungsaufgabe auf diskriminierungsfrei anzubietende Zugangsrechte und Zugangsverpflichtungen gerichtet (§§ 16 und §§ 20 ff. TKG, § 14 AEG).65 Kommt eine Zugangsvereinbarung nicht zustande, dann kann der Netzanschluss im Sinne eines Kontrahierungszwanges angeordnet werden (§ 30 II Nr. 2 EnWG). Das Bundeskartellamt kann ferner langfristige Lieferverträge untersagen, wenn dadurch Wettbewerber keinen Marktzutritt erhalten können.66 Ähnlich verhält es sich mit den flankierend vorgesehenen Entgeltregulierungen, der zweiten Achillesferse des Netzregulierungsrechts. Sie zielen ebenfalls darauf ab, eine missbräuchliche Ausbeutung, Behinderung oder Diskriminierung von Endnutzern oder Wettbewerbern zu verhindern. Zu diesem Zweck steht die Rechtsfigur der Entgeltgenehmigung zur Ver63

Schütz/Attendorn/König, Elektronische Kommunikation, 2003, S. 29 ff. s. ferner Jürgens, U., Marktzutrittsregulierung elektronischer Informations- und Kommunikationsdienste, 2005. 65 Ruge, AöR 131 [2006], 1 ff., 33 ff.; Kramer, U., NVwZ 2006, 26 ff.; Kühling/ Ernert, NVwZ 2006, 33 ff. 66 s. zu Gaslieferverträgen HB v. 18.1.2006 Nr. 13, S. 2. 64

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fügung (§ 31, § 39 TKG, § 23a EnWG).67 Aber auch im Tarifbereich sind sukzessive Entregulierungen zu beobachten. So markiert die auf einer Marktanalyse beruhende Entscheidung der Bundesnetzagentur, die Tarife für Auslandstelefongespräche nicht länger zu kontrollieren, eine Zäsur. Denn die Behörde hat ihr Regulierungsziel erreicht und sich deshalb auf diesem Teilmarkt überflüssig gemacht.68 Ein weiteres typisches Regulierungsinstrument ist die Auferlegung einer Universaldienstleistungspflicht. Sie wird in § 78 TKG als Vorhaltung eines Mindestgebotes an Diensten für die Öffentlichkeit definiert, für die eine bestimmte Qualität festgelegt ist und zu denen wegen der unabdingbaren Grundversorgungsaufgabe alle Endnutzer zu einem erschwinglichen Preis Zugang haben müssen. Diese Dienstleistungspflicht wird relevant, wenn die Leistung vom Markt nicht ausreichend und angemessen erbracht wird. Sie schließt sowohl eine Betriebspflicht (§ 85 TKG, §§ 11 ff. EnWG) als auch sektorspezifisch Vorratspflichten ein (§ 50 EnWG). Es leuchtet ein, dass diese Kernpflichten der Versorgungsunternehmer eine regulierungsspezifische, besondere Indienst- oder Inpflichtnahme sind,69 die nur mit der infrastrukturellen Bedeutung der Netze für die Versorgung der Bevölkerung und der Wirtschaft und nur so lange gerechtfertigt werden kann, wie die Marktbedingungen keine andere Option gestatten.70 Vor diesem Wettbewerbshintergrund ist auch das ausgeprägte System von Transparenzverpflichtungen zu sehen, die sonst im Wirtschaftsüberwachungsrecht nicht üblich sind. Das etwa in Art. 3 der europäischen Rahmenrichtlinie Kommunikationsnetze und -dienste niedergelegte Transparenzprinzip dient sowohl der Wahrnehmung behördlicher Berichtspflichten (§ 4 TKG) als auch der Information der Öffentlichkeit über die Marktteilnahme und die jeweilige Marktsituation in den regulierten Sektoren (§ 20, § 26 und § 36 TKG, § 5 und § 42 EnWG). Darüber hinaus bestehen umfassende Auskunftspflichten (§ 127 TKG) sowie Meldepflichten (§ 52 EnWG), die zur Beobachtung und Herstellung von Markttransparenz durch das neuartige Institut des behördlichen Monitoring zu einem Dauerüberwachungsinstrument verdichtet werden können (§ 35 und 51 TKG i. V. m. § 12a und § 69 EnWG). Verstößt ein Unternehmen gegen Regulierungsvorschriften oder Regulierungsverfügungen, dann bestehen unterschiedliche Sanktionen, die strikt am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ausgerichtet sind. Im Allgemeinen werden 67

Büdenbender, DVBl. 2006, 197 ff. HB v. 23.11.2005, Nr. 227, S. 15; Bünder, FAZ v. 24.11.2005, Nr. 274, S. 11. 69 Ebenso Pielow, Grundstrukturen öffentlicher Versorgung, 2001, S. 17 und S. 614 ff.; Ruthig/Storr, Öffentliches Wirtschaftsrecht (Fn. 23), S. 208. 70 s. auch Stober, DÖV 2004, 221, 226. 68

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die Unternehmen zunächst aufgefordert, das rechtswidrige Verhalten abzustellen (§ 65 I EnWG). Schärfste Maßnahmen bei der Missachtung von Anordnungen sind – wie im Gewerberecht üblich – Untersagungen (§ 126 TKG, § 45 EnWG) sowie die Festsetzung von Zwangs- und Bußgeldern (§§ 94 f. EnWG). Abweichend vom Gewerberecht ist als Folge der Einbindung in eine infrastrukturelle Grundversorgungsaufgabe bei Missbrauch eine Vorteilsabschöpfung gestattet (§ 43 TKG, § 33 EnWG). Das klassische Instrumentarium wird durch marktwirtschaftlich orientierte Regulierungsinstitute ergänzt. Sie markieren den Übergang vom hierarchischen Eingriffsstaat zum partnerschaftlichen Gewährleistungsstaat, der als Regulierungsstaat auch mit Privaten kooperiert und sie zur Selbstregulierung und Selbstverpflichtung animiert.71 Ein Anwendungsfall ist der Zugang zu knappen Ressourcen wie etwa Frequenzen, die statt in einem hoheitlichen Zuteilungsverfahren in einem Ausschreibungs- oder Versteigerungsverfahren (§ 55 IX TKG)72 vergeben oder sogar für den Handel freigegeben werden können (§§ 61 f. TKG). Ein weiteres Beispiel ist die in § 21a und 112a EnWG verankerte sog. Anreizregulierung, die dem Unternehmen Anreize zur Kostensenkung und Preisfestsetzung gibt, ohne durch eine explizite Kostenbewertung oder strikte Preisvorgaben Einfluss auf die Produktion zu nehmen.73 5. Regulierungshandeln Da Regulierungsbefugnisse und Regulierungsinstrumente grundsätzlich Ausübung von Hoheitsverwaltung im Sinne von § 2 I TKG sind, werden sie durch öffentlich-rechtliches Handeln in verwaltungsrechtlichen Verfahren umgesetzt. Standardhandlungsform ist der Verwaltungsakt, der als Regulierungsverfügung oder als Allgemeinverfügung gekennzeichnet (§ 13, § 55 II, § 117 TKG, § 60a II, 61 EnWG) und durch bereichsspezifische Widerrufsvorschriften flankiert wird (§ 63 TKG, § 29 II 2 EnWG). Abgesehen von den hier vernachlässigten Sonderverfahren zur Frequenzvergabe (§ 61 TKG) und mangels Spezialbestimmungen findet das VwVfG Anwendung. Die dafür maßgeblichen regulierungsrelevanten Verwaltungsgrundsätze werden ebenso publiziert (§ 122 III TKG) wie die Verwaltungsentscheidungen selbst. Dadurch wird das hervorgehobene Transparenzgebot erneut bekräftigt (§ 28a IV, § 74 EnWG, § 55 IX TKG), weil die Betroffenen und die Öffentlichkeit einen Einblick in die Verwaltungspraxis erhalten. 71 72 73

Voßkuhle, VVDStRL 62 [2003], 266, 268. Leist, Versteigerungen als Regulierungsinstrument, 2004. Monopolkommission, Hauptgutachten 2000, 2001, S. 373.

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6. Regulierungsorganisation Die Durchführung der Regulierungsaufgaben obliegt im Wesentlichen der Bundesnetzagentur74 und dem Bundeskartellamt (§ 123 TKG; § 58 EnWG). Die Bundesnetzagentur ist aus der Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post hervorgegangen (§ 1 BNetzagenturG). Sie ist eine Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie, die zugleich für die leitungsgebundene Versorgung mit Elektrizität und Gas sowie den Zugang zur Eisenbahninfrastruktur zuständig ist (§ 2 BNetzagenturG). Im Zusammenhang mit dem Status der Bundesnetzagentur wird häufig diskutiert, ob und inwieweit die Bundesnetzagentur über ihre organisatorisch herausgehobene Stellung hinaus unabhängig ist. Da dieses Merkmal weder in den einschlägigen Fachgesetzen noch im Organisationsstatut erwähnt oder erläutert wird, ist unklar, was unter Unabhängigkeit zu verstehen ist. Auskunft gibt das Gesetz zur Umsetzung des Vierten Protokolls vom 15.4.1997 zum Allgemeinen Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen,75 das den Begriff „unabhängig regulierende Stelle“ konkretisiert. Danach müssen Regulierungsbehörden von jedem Anbieter von Telekommunikationsdienstleistungen getrennt werden und sie dürfen diesem nicht verantwortlich sein. Ferner müssen die Entscheidungen und Verfahren der regulierenden Stellen unparteiisch sein. Dieses Erfordernis, das den Vorstellungen der von der Europäischen Kommission im Weißbuch Europäisches Regieren entwickelten Regulierungsagenturkonzeption76 und der Rahmenrichtlinie für Telekommunikationsnetze und -dienste entspricht,77 soll wettbewerbsschädliche Interessenkollisionen („regulatory capture“)78 vermeiden. Dabei handelt es sich aber um keine besondere Anforderung an die Regulierungsbehörde, sondern um einen allgemeinen Maßstab jeder Verwaltungstätigkeit, der beispielsweise in § 35 I BRRG und in § 20 f. VwVfG seinen positivrechtlichen Ausdruck gefunden hat.79 Diese sog. funktionelle Unabhängigkeit wird durch eine personelle Unabhängigkeit flankiert, die sich aus den Ernennungsverfahren, Inkompatibilitätsregelungen und der Schaffung von Kollegialorganen ergibt.80 Darüber hinaus sehen die einschlägigen 74 s. näher Pielow, DÖV 2005, 1017 ff.; Schmidt, C., DÖV 2005, 1025 ff.; Augenendt/Gramlich/Pawlik, LKV 2006, 49 ff. 75 G. v. 20.11.1997, BGBl. 1997 II, 1990, 2002. 76 EG-Kommission, Weißbuch (Fn. 7), S. 31. 77 RL 2002/21/EG v. 7.3.2002, ABl. Nr. L 108 v. 24.4.2002, S. 33 ff., Erwägungsgrund Nr. 11 und Art. 3. 78 s. dazu Masing, AöR 128 [2003], 558, 591. 79 Wolff/Bachof/Stober/Kluth, Verwaltungsrecht Band 1, 12. Aufl. 2006 (Fn. 32), § 30 II 2c.

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Fachgesetze vor, dass das Ministerium Weisungen für den Erlass oder die Unterlassung von Verfügungen erteilen kann (§ 117 TKG), wobei § 61 EnWG ausdrücklich von allgemeinen Weisungen spricht, die publiziert werden müssen. Das Veröffentlichungsgebot schließt jedoch Einzelweisungen nicht zwingend aus, da die Publikationspflicht lediglich der Transparenz des ministeriellen Grundsatzhandelns dient.81 Diese Ausgestaltung belegt, dass die Regulierungsbehörde Teil der hierarchisch gegliederten Verwaltung bleibt, die neben der Rechtsaufsicht auch der Fachaufsicht unterfällt. Das stellt der neu gefasste § 4 des Bundeseisenbahnverkehrsverwaltungsgesetzes82 ausdrücklich für die Eisenbahnaufsicht klar, indem er die Fachaufsicht des Bundesministeriums für Verkehr anordnet. Dass die Regulierungsbehörde nicht selbst reguliert, sondern reguliert wird, trifft auch für die kollegial und sachkundig verfassten Beschlusskammern zu, weil eine gerichtsähnliche Unabhängigkeit wegen fehlender durchgehender demokratischer Legitimation und dem prinzipiellen Verbot weisungsfreier Verwaltungsräume verfassungswidrig sei.83 Die Unabhängigkeit der Bundesnetzagentur ist ferner dadurch eingeschränkt, dass sie verwaltungsintern aus gemeinschaftsrechtlichen, föderalen, internationalen und diversen sachlichen Gründen mit anderen Behörden zusammenarbeiten muss (§ 2, § 27 III, § 123, § 140 TKG, §§ 54 ff. EnWG). Dementsprechend gibt es unterschiedliche Kooperationsintrumente. Sie reichen von einer Anhörung (§ 60a II EnWG) über eine Gelegenheit zur Stellungnahme (§ 58 I 2 EnWG) oder einen Informationsaustausch bis zu Entscheidungen, die im Einvernehmen mit dem Bundeskartellamt zu treffen sind (§ 29 III 2, § 58 EnWG, § 123 I TKG). Diese Ausgestaltung gibt noch keine Auskunft über das grundsätzliche Verhältnis zwischen der Bundesnetzagentur und dem Bundeskartellamt. Die Regulierungsgesetze gehen von einer Parallelzuständigkeit aus, weil die Zuständigkeiten der Kartellbehörde unberührt bleiben (§ 111 I EnWG, § 2 III TKG, § 14b AEG). Dafür sprechen auch § 58 III EnWG und § 123 I 4 TKG, wonach beide Behörden auf eine einheitliche, den Zusammenhang mit dem GWB wahrende Auslegung hinzuwirken haben. Die Organisation der Regulierung wird noch dadurch kompliziert, dass auch die Bundesländer in die Wahrnehmung von Regulierungsaufgaben eingeschaltet sind, die jedoch teilweise ihre Zuständigkeiten auf die Bundesnetzagentur übertragen wollen.84 80

s. auch Schmidt, C., DÖV 2005, 1025, 1028 f. A. M. Oertel, Die Unabhängigkeit der Regulierungsbehörde, 2000, S. 397, 432 ff. zur alten Rechtslage; unklar Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht (Fn. 20), S. 142. 82 G. v. 27.4.2005, BGBl. I, S. 1147. 83 Mayen, in: Scheuerle/Mayen, TKG Kommentar (Fn. 47), § 73 Rn. 10. 84 Holznagel/Göge/Schumacher, DVBl. 2006, 471 ff. 81

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7. Regulierungsfinanzierung Die Tätigkeit der Bundesnetzagentur muss auch finanziert werden. Die Kosten der Aufgabenwahrnehmung im Wirtschaftsverwaltungsrecht werden nicht nach einem einheitlichen Muster getragen. Vielmehr handelt es sich um ein Mixtum aus Steuermitteln, Gebühren für konkrete Verwaltungsleistungen, Beiträge für Mitgliedschaften und Sonderabgaben. Dieses Abgabenmodell erfährt in jüngerer Zeit einen Paradigmenwechsel durch Umstellung auf eine wirtschaftszweigbezogene Nutzerfinanzierung. Vorreiter war die Finanzierung der Banken- und Kreditaufsicht, deren Kosten nach § 15 FinDAG anteilig auf Kreditinstitute, Versicherungsunternehmen, Finanzdienstleistungsinstituten usw. umgelegt werden. Dabei handelt es sich um eine Selbstfinanzierung der betroffenen Wirtschaftsbranche auf der Basis des Verursacherprinzips. Die Lösung ist für die öffentliche Hand in Zeiten knapper Haushaltskassen sehr attraktiv. Deshalb verwundert es nicht, dass diese Finanzierungsmethode auch bei dem Regulierungsrecht Pate stand. Beispielhaft ist an §§ 142 ff. TKG zu erinnern, dessen Ausgestaltung letztlich auf Gemeinschaftsrecht zurückgeht.85 Die Vorschriften ermächtigen insbesondere zur Erhebung einer Umlage, um die Kosten der Regulierungsbehörde für die Verwaltung, Kontrolle und Durchsetzung der Pflichten zu decken, die anteilig als Jahresbeitrag auf die Telekommunikationsunternehmen umgelegt werden, sofern die Kosten nicht anderweitig durch Gebühren oder Auslagen gedeckt sind. Eine vergleichbare Regelung enthält § 92 EnWG für die Regulierung des Strom- und Gasmarktes. Die Beitragspflicht umfasst jeweils auch die Kosten für die internationale Zusammenarbeit (§ 92 I 2 EnWG). 8. Regulierungsrechte Bei den bisherigen Ausführungen standen die Wahrnehmung öffentlicher Regulierungsinteressen und subjektiver Regulierungspflichten im Vordergrund. Davon ist die Frage nach der subjektivrechtlichen Stellung der regulierten Unternehmer86 und Nutzer zu unterscheiden. Subjektive Rechte spielen im Regulierungsverwaltungsrecht in unterschiedlichen Zusammenhängen eine wichtige Rolle. Hinsichtlich der allgemeinen ökonomischen Bedeutung verhelfen sie zunächst der Rechtsfigur der mittelbaren Drittwirkung zu neuer Bedeutung. Denn die Privatisierung staatlicher Aufgaben hat – wie dargelegt – die Schutzrichtung der Grundrechte geändert. Der klassische Grundrechtsschutz läuft leer, weil der Staat nicht mehr Adressat des Post- und Fernmeldegeheimnisses ist.87 Als Kompensation verlangt deshalb 85 86

s. näher Stober, Besonderes Wirtschaftsverwaltungsrecht (Fn. 40), § 51 VI 6. s. näher Burgi, DVBl. 2006, 269 ff. zu den Unternehmensrechten.

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die staatliche Gewährleistungsverantwortung, dass die privaten Nachfolgeunternehmen im Post- und Telekommunikationssektor zur Einhaltung dieser Grundrechte verpflichtet werden (§ 88 TKG, § 39 PostG).88 Hinzu treten der Schutz von Daten und der Privatsphäre vor unerwünschter Belästigung89 sowie diskriminierungsfrei zu gewährende Zugangsrechte zu Infrastrukturleistungen, die auf Private übergegangen sind (§ 20 und § 36 EnWG, §§ 16 ff. TKG, § 14 AEG). Jenseits dieser verfassungsrechtlich gebotenen Mindesterfordernisse ist das geltende Regulierungsverwaltungsrecht grundsätzlich objektivrechtlich orientiert. So umschreiben die Worte „Verbraucherinteresse“ oder „verbraucherfreundlich“ lediglich öffentliche Interessen und sind allenfalls als Reflexschutz konstruiert. 9. Regulierungskontrolle a) Einzelne Kontrollinstrumente Der subjektivrechtliche Status wirkt sich auch auf die Regulierungskontrolle aus, die der Überprüfung von Regulierungsmaßnahmen und der Streitbeteiligung dient. Sie ist zunächst eine verwaltungsinterne Aufsichtskontrolle,90 die ausschließlich im öffentlichen Regulierungsinteresse erfolgt. Demnach besteht kein Anspruch auf Einschreiten der Bundesnetzagentur für Regulierungsbetroffene. Kontrollfunktionen übt auch die Monopolkommission aus, die zweijährlich ein Gutachten zur Entwicklung des Wettbewerbs auf den regulierten Märkten erstellt und in diesem Zusammenhang die Anwendung der Regulierungsgesetze würdigt (§ 121 II TKG, § 62 EnWG). Die Vorschläge und Anregungen dieses Beratungsorgans müssen aber nicht umgesetzt werden. Gegen die Entscheidungen der Bundesnetzagentur auf dem Sektor Energiewirtschaftsrecht oder gegen die Unterlassung einer beantragten Entscheidung ist die Beschwerde vor dem Oberlandesgericht zulässig (§ 75 IV EnWG), während bei telekommunikationsrechtlichen Streitigkeiten der Verwaltungsrechtsweg gegeben ist (§ 137 TKG).91 Als Alternative zum Ge87 Hoffmann-Riem, DVBl. 1999, 657, 663; Groß, JZ 1999, 326 ff.; Kämmerer, Privatisierung, 2001, 449 ff. 88 Stern, Beck’scher Postkommentar (Fn. 39), § 39, Rn. 4 ff.; Hadamek, Art. 10 GG und die Privatisierung der Deutschen Bundespost, 2002; BVerfG, DVBl. 2003, 131 f. 89 s. näher Stober, DÖV 2004, 221 ff. 90 s. zur verwaltungsinternen Kontrolle Stober, in: Merten/Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte, 2007, § 77. 91 Geppert, in: Beck’scher TKG-Kommentar (Fn. 47), § 80, Rn. 1.

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richtsschutz sieht das TKG die Anrufung einer bei der Regulierungsbehörde eingerichteten Schlichtungsstelle (§ 51 TKG) sowie die Möglichkeit eines Mediationsverfahrens (§ 124 TKG) bei einer Gütestelle vor. b) Regulierungsgerichte und Regulierungsspielraum Bei der gerichtlichen Überprüfung von Regulierungsentscheidungen wird die für das Verhältnis von Regulierungsverwaltung und Regulierungsjudikative zentrale Frage diskutiert, ob und inwieweit der Regulierungsbehörde in bestimmten Fällen auf der Tatbestandseite ein sog. Beurteilungsspielraum als Regulierungsspielraum mit der Folge zusteht, dass nur noch eine beschränkte gerichtliche Überprüfung möglich ist.92 Aus Gründen der Funktionenteilung und der Rechtschutzgarantie (Art. 19 IV GG) ist ein Regulierungsspielraum nur in engen Grenzen vertretbar. Ob er auch für das Regulierungsrecht angenommen werden kann, ist Gegenstand des Leitbildes. VII. Leitbild eines Regulierungsverwaltungsrechts als Privatisierungsfolgenrecht 1. Regulierungsverwaltungsrecht als Optionenrecht Das Leitbild eines modernen, reformorientierten Regulierungsverwaltungsrechts verstanden als Privatisierungsfolgenrecht zur Schaffung von Marktbedingungen bei gleichzeitiger Verfolgung pluraler öffentlicher Interessen93 reduziert sich auf die Komplexe Regulierungsverantwortung, Regulierungsziele und Regulierungsverwaltungsgrundsätze. Da das Regulierungsleitbild auf optimale Ressourcenallokation und Verwaltungstätigkeit,94 ökonomische Effizienz und wirtschaftlichen Fortschritt gerichtet sein95 und Regulierungsversagen vermeiden muss, ist es als optionelles Modell zu entfalten, das Regulierungsalternativen im Sinne von „regulatory choice“96 für Instrumente, Verfahren, Organisationen usw. eröffnet und sich nicht ausschließlich entlang des existierenden Rechtsrahmens bewegt.

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s. näher Wolff/Bachof/Stober/Kluth, Verwaltungsrecht Band 1 (Fn. 79), § 31 III. s. auch Marcou, in: FS König (Fn. 3), S. 126; Säcker, AöR 130 [2005], 180 ff. 94 Würtenberger, VVDStRL 58 [1999], 139 ff. 95 Weber, R. H., Wirtschaftsregulierung in wettbewerbspolitischen Ausnahmebereichen, 1986, S. 77. 96 s. dazu Schuppert, Staatswissenschaft (Fn. 5), S. 593; s. auch du Marais, B., Droit public de la régulation économique, Paris, 2004, S. 236 ff. 93

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2. Regulierungsverantwortung An der Spitze der Leitbildüberlegungen steht die Frage nach der Regulierungsverantwortung97 und dem damit verbundenen Regulierungsbedarf. Maßgeblich für die Antwort ist der ordnungs- und rechtspolitisch gewählte sowie von Good-Governance-Konzepten beeinflusste Regulierungsansatz, der als Ergebnis einer sorgfältigen Interessenabwägung (Abwägungsstaat) nach drei Richtungen ausgestaltet sein kann:98 Der Selbstregulierung als Ausdruck der Eigenverantwortung von Unternehmen und Verbrauchern für den Markt und die Grundversorgung,99 der Mit- und Koregulierung als Ausdruck der gemeinsamen Verantwortung von Gesellschaft und Staat für die Rechtsordnung sowie die Staatsregulierung als Ausdruck der Legislativ-, Regierungs- und Exekutivverantwortung für das Gemeinwohl100 einschließlich der Regulierungsverantwortung für eine vernetzte, globalisierte Welt. Auf dieser optionellen Skala ist jeder Regulierungsentwurf Spiegelbild privater, kooperativer oder staatlicher Aufgabenerledigung und jede Änderung ein neues Austarieren der Grenzen staatlicher Regulierungsverantwortung.101 Bekanntlich entfällt staatlicher Regulierungsbedarf, wenn sich Unternehmer und Verbraucher im Wirtschaftsleben an bestimmte, allgemein akzeptierte ethische Grundregeln halten und insbesondere die unter anderem von Konfuzius entwickelte interkulturell und interkonfessionell gültige „Goldene Regel“ beachten. Sie besagt, dass man anderen nichts antue, was man sich selbst nicht antun will.102 Allerdings lehrt die Erfahrung, dass diese Grundregel häufig nicht befolgt oder weil die Befolgung der Norm – um mit Kant zu sprechen – nicht aus Einsicht in die Norm selbst – also aus Pflicht erfolgt, sondern sogar absichtlich missbraucht wird. In diesen Fällen liegt ein Marktversagen vor, das staatlichen Regulierungsbedarf produziert.103 Allerdings ist zwischen Public Utility- und Public Interest-Konzepten zu differenzieren.104 Denn nicht jedes Unternehmen, das für die Daseins- und Zu97 Schuppert, Verwaltungswissenschaft (Fn. 5), S. 407; ders., Staatswissenschaft (Fn. 5), S. 447. 98 Lee, Won-Woo, Privatisierung als Rechtsproblem, 1997, 35 ff.; Stober, DÖV 2004, 221 ff. 99 Pielow, Grundstrukturen öffentlicher Versorgung (Fn. 22), S. 17 und 610 ff.; Weiß, Privatisierung von Staatsaufgaben, 2002, 304 ff.; Voßkuhle, VerwArch 92 [2001], 184, 213 f. 100 s. zu Zwischenformen Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, 1998, 153; Schuppert, Staatswissenschaft (Fn. 5), S. 447. 101 s. näher Stober, in: FS Bartlsperger, 2006, S. 1 ff. 102 Konfuzius, Gespräche des Meisters Kung, 6. Aufl., 1994, Kapitel 15.23; v. Wedemeyer, Inge, Konfuzius, Meister der Güte und Mitmenschlichkeit, 2. Aufl., 1992, S. 28 f. 103 Ruge, AöR 131 [2006], S. 1, 25 ff.

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kunftsvorsorge wichtig ist, muss staatlich reguliert werden (Lebensmittel, Wohnraum). Diese Voraussetzung ist vielmehr nur dann gegeben, wenn eine staatliche Regulierung aus Gemeinwohlgründen zur kontinuierlichen Sicherung der Grundversorgung notwendig ist. Das kann für den Netzbereich aufgrund der Vermutung bejaht werden, dass neue Wettbewerber bei einer Aufhebung oder Lockerung staatlicher Monopole ohne Regulierung keine Chancen gegenüber marktdominierenden Anbietern haben.105 Deshalb ist es Hauptaufgabe der Regulierung, privaten Wettbewerb zu schaffen, Remonopolisierungen zu verhindern und andere öffentliche Interessen abzusichern. Dabei ist die für das Regulierungsrecht typische wettbewerbsbedingte zeitliche Komponente zu beachten. Regulierungsrecht kann Übergangsrecht sein, weil der Regelungsbedarf entfällt, soweit der Markt funktioniert und keine Gefahren für die Versorgung bestehen. Hier kommt es zu einer regulierungsspezifischen Deregulierung, wobei sich der Staat auf seine Gewährleistungsund Kontrollfunktion zurückzieht und sich lediglich auf die allgemeine gewerberechtliche und wettbewerbsrechtliche Überwachung beschränkt.106 Besondere Regulierungsbehörden verlieren dann ihren Sinn, können aber in Reserve gehalten werden, um bei Markt- und Funktionsdefiziten aktiviert zu werden.107 Diese Regulierungsstrategie liegt nicht nur § 3 Nr. 12 TKG zugrunde, der von einem Markt spricht, „auf dem der Wettbewerb so abgesichert ist, dass er auch nach einer Rückführung der sektorspezifischen Regulierung fortbesteht“. Sie ist auch in Berichtspflichten der Regulierungsbehörde und der Monopolkommission angelegt, die eine regelmäßige parlamentarische Kontrolle über die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung regulatorischer Maßnahmen gestatten sollen.108 Musterbeispiel für diese temporäre Wettbewerbsregulierung ist die seit längerem völlig in den Markt entlassene Funkanlagen- und Endgerätesparte (§§ 58 ff. TKG a. F.), die zugleich ein Beleg für die Zurückgewinnung telekommunikationsrechtlicher Eigenverantwortung der Unternehmer und Verbraucher ist.109 Umgekehrt ist das geltende Regulierungsrecht zersplittert. Es ist in mehreren Fachgesetzen normiert, die weder nach einheitlichen Gesichtspunkten 104

Säcker, AöR 130 [2005], S. 180, 192 ff. BT-DS 13/3609, S. 33; Grande, Entlastung des Staates durch Liberalisierung und Privatisierung?, in: Voigt (Hg.), Abschied von Staat – Rückkehr zum Staat?, 1993, S. 371, 388; Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, 1998, S. 153; Weiß, Privatisierung (Fn. 99), S. 301; Schneider, J. P., in: Schmidt-Aßmann/Dolde (Hg.), Beiträge (Fn. 3), S. 43; Kämmerer, Privatisierung (Fn. 87), S. 492. 106 s. Tätigkeitsbericht 2004/2005 der Bundesnetzagentur, Dezember 2005, S. V und Jahresbericht 2005 der Bundesnetzagentur, Vorwort, S. 7. 107 Pielow, Grundstrukturen (Fn. 22), S. 18. 108 Monopolkommission, Hauptgutachten Netzwettbewerb durch Regulierung (Fn. 73), 2000/2001, S. 371 ff. 109 s. dazu auch Stober, DÖV 2004, 221 f. 105

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konzepiert noch inhaltlich aufeinander abgestimmt sind. Diese Regulierungsvielfalt lässt sich einerseits mit den sektorspezifischen Gegebenheiten rechtfertigen. Andererseits wird zutreffend ein eigenständiges Netzinfrastrukturgesetz gefordert,110 das sozusagen als Allgemeiner Teil des Regulierungsrechts (régulation sectorielle ou horizontale)111 fungiert. Nukleus dieser Teilkodifikation könnte das Organisationsrecht sein, das bereits heute in dem Gesetz über die Bundesnetzagentur vorliegt, das die Regulierung für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahn unter einem Verwaltungsdach vereint. Für eine derartige Lösung als Mantel- oder Rahmengesetz für sektorübergreifende Regulierungsgegenstände spräche nicht nur die inzwischen gewonnene Erfahrung mit sektorspezifischen Regulierungen. Sie hätte vor allem den Vorteil eines die Rechtsanwendung erleichternden Deregulierungs-, Entbürokratisierung- und Standardisierungseffekts, da hinsichtlich der Regulierungsziele, der Regulierungsinstrumente und Regulierungsverfahren eine partielle Übereinstimmung besteht, die auf diese Weise gebündelt und synchronisiert werden könnte, ohne dass die sektorspezifischen Besonderheiten dadurch verloren gingen. Rechtsdogmatisch hätte der Kodifikationsweg den Charme, dass er ein Stammgesetz für weitere – bereits genannte – noch nicht regulierte Sektoren sein könnte.112

3. Regulierungsziele Der staatliche Regulierungsbedarf orientiert sich letztlich an den Regulierungszielen, die Auskunft über die zu verfolgenden Regulierungsanliegen geben. Dabei handelt es sich um vom Gesetzgeber gewählte Optionen, die der Regulierungsverwaltung einen Rahmen für die Gesetzesanwendung und die Gesetzesinterpretation liefern sollen. Die Festlegung der Ziele ist ein rechtsstaatliches Gebot der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit. Aufgabe eines Leitbildes ist es, sektorenübergreifende Ziele herauszupräparieren, die jeweils um sektorspezifische Ziele zu ergänzen sind. Übereinstimmende Ziele sind die Schaffung von Wettbewerb und die Versorgung mit Gütern und Diensten, während die gewerbliche Seite (siehe etwa § 3 AEG) nur im Regulierungsinstrumentarium zum Vorschein kommt.113 Der Verbraucherschutz als Kunden- und Nutzerschutz wird nicht einheitlich als Ziel ausgewiesen (§ 2 II PostG; § 2 II TKG). Teilweise wird lediglich eine „verbraucherfreundliche“ Versorgung gefordert (§ 1 I EnWG) und teilweise der Verbraucherschutz überhaupt nicht erwähnt (§ 1 II AEG). Diese Negierung 110 111 112 113

Säcker, AöR 130 [2005], S. 180, 189 ff. Du Marais, Droit public de la régulation économique (Fn. 96), S. 496 ff. s. auch Säcker, AöR 130 [2005], 182 f. s. zu diesem Aspekt Masing, Verw 36 [2003], S. 1, 31 ff.

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ist schon deshalb problematisch, weil der Verbraucherschutz eine Querschnittsklausel ist, die innerhalb der Politiken der Europäischen Gemeinschaft auf hohem Niveau zu gewährleisten ist (Art. 153 EGV, Art. 38 EUGR Charta). Ähnlich verhält es sich mit dem netzrelevanten Umweltschutz, der nur unter dem Aspekt der Umweltverträglichkeit in § 1 II EnWG Aufnahme gefunden hat (Art. 6, 174 EGV, Art. 37 EUGR Charta). Nachhol- und Präzisionsbedarf besteht auch bei anderen Zielen, die allenfalls rudimentär oder selektiv in den Fachgesetzen aufgeführt sind. Exemplarisch seien die Förderung des Binnenmarktes sowie der Schutz diverser netzbezogener Grundrechte genannt. So enthalten die §§ 91 ff. TKG zwar einen Abschnitt über den Datenschutz. Dieses Grundrecht kommt jedoch bei den Regulierungszielen nicht vor. 4. Regulierungsverwaltungsgrundsätze Während Regulierungsverantwortung und Regulierungsziele eine Grobsteuerung vornehmen, erfolgt die Feinsteuerung durch Regulierungsverwaltungsgrundsätze. Dafür steht eine Auswahl von Lösungsoptionen zur Verfügung. Sie orientieren sich an zahlreichen Grundanforderungen moderner Regulierungstätigkeit, die prinzipiell mit allgemeinem Verwaltungshandeln korrespondieren und nachfolgend exemplarisch an folgenden Prinzipien festgemacht werden: Flexibilisierung, Effizienz, Optimierung, Qualitätssicherung, Transparenz, Standardisierung und Verhältnismäßigkeit.

a) Flexibilisierung Das Regulierungsrecht ist ein besonders junges und dynamisches Rechtsgebiet. Es besitzt nicht den Reifegrad des Polizei- oder Baurechts und muss auf den raschen technischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Wandel reagieren. Demgegenüber zeigt eine Durchsicht der Fachgesetze, dass die der Regulierungsbehörde zur Verfügung stehenden Instrumente und Verfahren relativ starr formuliert und von einer „command and control“ – Kultur geprägt sind. Deshalb liegt es im öffentlichen Interesse, zur Flexibilisierung des Regulierungsrechts in Anlehnung an gewerberechtliche Vorbilder (§ 13 GewO, § 32 GastG) eine Experimentierklausel aufzunehmen, die zur Erprobung etwa kooperativer Handlungsformen oder alternativer Streitbeilegungsmechanismen Abweichungen vom geltenden Recht ermöglicht. Derartige Klauseln hätten den Vorteil, dass neue Regulierungstypen getestet und bei Bewährung in bestehende Gesetze als Dauerrecht übernommen werden könnten. Auf diese Weise könnten Regulierungsverfahren entbürokratisiert und beschleunigt werden.

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b) Effizienz aa) Regulierungsbehörde und ministerielle Weisungen Gleichzeitig könnten Experimentierklauseln zur Effizienz beitragen, die ausweislich der Regulierungsziele im Regulierungsrecht eine herausgehobene Rolle spielt (§ 2 II TKG, § 1 I EnWG). Die Effizienz, begriffen als möglichst ressourcenschonenden Mitteleinsatz,114 betrifft nicht nur die Leistungserstellung115 und die Ressourcennutzung, die Instrumenten- und Verfahrensebene, sondern auch die Organisation der Regulierung. Das neue Gesetz über die Bundesagentur trägt diesem Gedanken dadurch Rechnung, dass es die sachliche und funktionelle Zuständigkeit auf weitere Sektoren ausdehnt. Dadurch ergeben sich erhebliche Synergieeffekte, die der Verwaltungstätigkeit und der einheitlichen Rechtsanwendung zugute kommen. Deshalb bietet es sich auch aus diesen Gründen an, dass künftige Privatisierungskandidaten bislang staatlicher Monopole gleichfalls von der Bundesnetzagentur verwaltet werden. Das erspart den Aufbau neuer Regulierungsinstanzen wie sie in Gestalt eines „Bundesaufsichtsamtes für Flugsicherung“ nach einer Privatisierung der Flugsicherung angedacht ist.116 Dieser Effizienzgewinn wird aber möglicherweise durch institutionelle Nachteile relativiert, die sich aus der aufgezeigten schwachen Unabhängigkeit der Regulierungsbehörde und der notwendigen Zusammenarbeit der Landesregulierungsbehörden mit dem Bundeskartellamt ergeben können. So ist aus der Perspektive der institutional choice zweifelhaft, ob die Steuerung des Regulierungshandelns durch ministerielle Weisungen nicht im Widerspruch zu ihrem Regulierungsauftrag steht, wonach das komplexe Privatisierungsfolgenrecht sachgerecht und punktgenau zu gestalten ist.117 Einerseits sind allgemeine Weisungen als Verwaltungsvorschriften sinnvoll, um eine einheitliche Aufgabendurchführung sicherzustellen. Dieses Argument zieht jedoch nicht, weil die Bundesnetzagentur – wie schon der Name zeigt – für die ganze Bundesrepublik zuständig ist, weshalb behördeninterne Abweichungen ausscheiden (s. auch § 60a I EnWG). Darüber hinaus ist das Entscheidungsfindungsverfahren der Regulierungsbehörde anders als im übrigen Wirtschaftsverwaltungsrecht normiert. Zum einen wirkt ein speziell berufener Beirat auf unterschiedliche Weise an den Entscheidungen mit (§ 120 TKG) oder besitzt Beratungsfunktion (§ 60 EnWG). Zum anderen 114 Voßkuhle, VerwArch 92 [2001], S. 184, 197; Stober, Allgemeines Wirtschaftsverwaltungsrecht (Fn. 17), § 10 IV. 115 s. dazu Säcker, AöR 130 [2005], S. 180, 197. 116 FAZ v. 14.11.2005, Nr. 265, S. 17. 117 s. zu dieser Frage Schmidt, C., DÖV 2005, 1025, 1030; und aus französischer Sicht du Marais, Droit public de la régulation économique (Fn. 96), S. 507 ff.

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kann sich die Regulierungsbehörde wissenschaftlichen Sachverstandes versichern, um neben rechtlichen, volks- und betriebswirtschaftliche, sozialpolitische und technologische Erfahrungen einzubeziehen (§ 125 TKG). Dieser unabhängige ergänzende Sachverstand kann durch das ministerielle Weisungsrecht unterlaufen werden. Zudem besteht die Gefahr, dass Weisungen nicht fachbezogen, sondern politisch motiviert sind. Insoweit kann auch nicht auf die vergleichbare Ausgangslage bei dem Kartellamt (§ 44 II 2, 49 GWB) rekurriert werden, weil die Tätigkeit der Bundesnetzagentur angesichts der dargelegten Vielschichtigkeit der zu beachtenden Regulierungsziele weit über den Wettbewerbsschutz hinausgeht.118 Dieser Überlegung könnte man aber entgegenhalten, dass es keine weisungsfreie Verwaltung geben darf. Dieser Grundsatz wiederum muss sich an der in Wissenschaft und Rechtsprechung anerkannten Effizienzaussage messen lassen, dass die staatliche Funktionenteilung darauf abzielt, dass staatliche Entscheidungen möglichst richtig, d. h. von den Organen getroffen werden, die nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise die besten Voraussetzungen hierfür bieten.119 In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass der Gesetzgeber in Abweichung vom üblichen Verwaltungsorganisationsrecht sachkundig besetzte Beschlusskammern eingerichtet hat (§§ 132 ff. TKG, § 47 PostG). Aus diesen Gründen ist zu prüfen, ob zur Stärkung der Unabhängigkeit der Regulierungsbehörde im Interesse einer effizienten Aufgabenerledigung das ministerielle Weisungsrecht entfallen muss. Gegebenenfalls wäre diese Ausnahme eines sog. ministerialfreien Raumes verfassungsrechtlich festzuschreiben. bb) Regulierungsbehörde und Regulierungsspielraum Die Unabhängigkeitsproblematik betrifft außer dem Verhältnis zwischen Ministerium und Regulierungsbehörde unter dem Aspekt des Regulierungsspielraumes120 und der Suche nach der best practise-Lösung auch das Verhältnis zwischen Regulierungsbehörde und Rechtsprechung. Hinsichtlich der Netzregulierung geht die Monopolkommission ohne nähere Begründung davon aus, dass der Rahmen für Regulierungsentscheidungen durch ein hierarchisch aufgebautes System von Gesetzen, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften abgesteckt werde. Deshalb müsse sich die gerichtliche Prüfung zum einen auf die Frage beschränken, ob die Entscheidung als 118

Ebenso Monopolkommission, Hauptgutachten 2000/2001 (Fn. 73), S. 376. BVerfGE 90, 286, 364; Stern, Staatsrecht II, § 41 III 3 und IV 4a; Wolff/ Bachof/Stober/Kluth, Verwaltungsrecht (Fn. 32), § 20 II 3; Voßkuhle, VerwArch 92 [2001], S. 184, 196. 120 s. dazu aus französischer Sicht zur pouvoir discrétionnaire du Marais, Droit public de la régulation économique (Fn. 96), S. 525 ff. 119

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adäquate Anwendung der übergeordneten Regulierungsgrundsätze unter Berücksichtigung der allgemeinen kartellrechtlichen Rahmenbedingungen anzusehen sei und zum anderen darauf, ob die den Einzelentscheidungen übergeordneten Regulierungsgrundsätze mit den maßgeblichen Gesetzesund Verordnungsbestimmungen vereinbar sei.121 Als Beispiel wird die Wahl eines Preisregulierungssystems zwischen dem Kostenregulierungsmodell oder dem bereits vorgestellten Anreizregulierungsmodell angeführt. Zwar hat der Gesetzgeber der Bundesregierung die nähere Ausgestaltung der Methode einer Anreizregulierung und ihrer Durchführung durch Rechtsverordnung vorbehalten (§ 21a VI EnWG). Die konzeptionelle Umsetzung obliegt jedoch der Regulierungsbehörde (§ 112a EnWG), deren Beschlussorgane über besonderen ökonomischen und technischen Sachverstand verfügen und die den Sachverhalt im Verfahren umfassend untersuchen. Ferner handelt es sich bei der Anreizregulierung um einen komplexen Sachverhalt, dem ein Gestaltungsauftrag und prognostische Bewertungen zugrunde liegen,122 wie sich aus den detaillierten Erläuterungen der Monopolkommission entnehmen lässt. Eine ähnliche Situation existiert im Telekommunikationssektor für die Wahl von Verfahrensarten bei der Frequenzzuteilung.123 Zusammengenommen lässt sich daher festhalten, dass Einschätzungsprärogativen und Abwägungsentscheidungen durchaus zu den Standardtätigkeiten der Bundesnetzagentur gehören.124 Am effizientesten kann die Bundesnetzagentur diese und andere Gestaltungsaufträge zur Schaffung von Wettbewerb erledigen. Diese Erwägungen sprechen für einen gerichtsfreien Beurteilungsspielraum, dessen endgültige Anerkennung aber noch detaillierter Untersuchungen bedarf.125 cc) Regulierungsbehörde und Bundeskartellamt Mit dieser Feststellung ist nur noch offen, wie die Zusammenarbeit zwischen der Bundesnetzagentur, der Landesregulierungsbehörde und dem Bundeskartellamt unter Effizienzgesichtspunkten zu beurteilen ist. Der Gesetzgeber hat es sich einfach gemacht, indem er die Zuständigkeit der Kartellbehörde weitgehend belassen (§ 2 III TKG)126 und teilweise eine einver121 122

Monopolkommission, Hauptgutachten 2000/2001 (Fn. 73), S. 369. s. auch Schneider, J. P., in: Schmidt-Aßmann/Dolde (Hg.), Beiträge (Fn. 3),

S. 50. 123 Spoerr, in: Trute/Spoerr/Bosch, TKG Kommentar, (Fn. 47) § 11, Rn. 16 zu § 61 TKG n. F.; s. ferner VGH München, NJW 1997, 1385 für die Frequenzzuteilung durch Landesmedienanstalten. 124 Ebenso Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht (Fn. 20), S. 139; ähnlich Bullinger, DVBl. 2003, 1355, 1358. 125 s. auch Pielow, DÖV 2005, 1017, 1023 f. 126 s. auch Säcker, AöR 130 [2005], S. 180, 189 ff.

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nehmliche Entscheidung vorgesehen hat. Insoweit ist eine Überschneidung mit Zielen des Kartellrechts offensichtlich127 und eine Doppelprüfung unvermeidlich. Die geltende Regelung ist entwicklungsgeschichtlich nachvollziehbar. Das Bundeskartellamt ist eine etablierte, kompetente Einrichtung, weshalb es nahe lag, bei wettbewerbsrelevanten Regulierungen der neu geschaffenen Regulierungsbehörde auch die Kartellbehörde einzubinden. Gleichwohl sprechen gewichtige Argumente für eine Aufgabentrennung. Während sich das Bundeskartellamt ausschließlich mit der wirtschaftsprivatrechtlich fundierten Wettbewerbsaufsicht befasst, ist die Bundesnetzagentur umfassend wirtschaftsverwaltungsrechtlichen Zielen verpflichtet. Netzregulierung hat einen ausgeprägt interventionistischen Charakter, statuiert Richtnormen für eine gemeinwohlorientierte Ausübung128 und unterscheidet sich wegen dieser Inpflichtnahme und der gewerberechtlichen Überwachung konzeptionell deutlich von der ausschließlichen Wettbewerbspolitik, deren Schwerpunkt bei der reaktiven Beseitigung von Störungen in einem grundsätzlich funktionierenden Markt liegt.129 Deshalb schadet es der Regulierungspolitik, wenn ausschließlich wettbewerbsorientiertes Denken das Handeln der Regulierungsbehörde bestimmen würde.130 Um eine Vermischung dieser Politikansätze zu vermeiden, wird deshalb angeregt, dass die Bundesnetzagentur ausschließlich auch für die wettbewerbsrechtliche Seite ihres Zuständigkeitsbereiches mindestens so lange verantwortlich zeichnet, bis die Regulierung zurückgeführt und als allgemeine Wettbewerbsaufsicht auf die Kartellbehörde übertragen werden kann. Diese Lösung ist auch deshalb vertretbar, weil die Bundesnetzagentur mehrere Sektoren reguliert. Der Anlass für die Übertragung der Regulierungsaufgaben im Bereich Energie und Eisenbahn war die umfassende Erfahrung in ähnlichen Wirtschaftszweigen bei der Öffnung ehemaliger Monopolunternehmen für mehr Wettbewerb. Hierdurch hat sich die Bundesnetzagentur ein großes Know how erworben, das sie für ihre Wettbewerbsaufgabe nutzen kann. Auf diese Weise ist vornehmlich eine vom Gesetzgeber gewünschte und sachlich notwendige einheitliche Rechtsanwendung in den regulierten Sektoren garantiert. Diese prinzipielle Zuständigkeitstrennung zwischen Bundesnetzagentur und Bundeskartellamt dient der Entbürokratisierung und der Verfahrensbeschleunigung, ohne eine Zusammenarbeit im Interesse der Einheitlichkeit der Wettbewerbspolitik auszuschließen, die sich auf informelle und informationelle Maßnahmen erstrecken kann.

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Kloepfer, Informationsrecht (Fn. 54), § 11, Rn. 69. Säcker, AöR 130 [2005], S. 180, 190; Masing, Verw 36 [2003], S. 1, 5, 30; Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht (Fn. 20), S. 139. 129 Kahl, Staatsaufsicht, 2000, S. 392 f. 130 s. auch Monopolkommission, Hauptgutachten 2000/2001 (Fn. 73), S. 376. 128

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dd) Bundesnetzagentur und Landesregulierungsbehörden Diese Gesichtspunkte sind auch für das Verhältnis zwischen Bundesnetzagentur und Landesregulierungsbehörden relevant. So wird das Nebeneinander zu Recht als „äußerst unglückliche Konstruktion für die Regulierungspraxis“ angesehen, das zu Abstimmungskollisionen, Ressourcendoppelungen und zu Rechtsunsicherheit führen kann.131 Darüber hinaus ist die Unabhängigkeit der Landesbehörden fraglich, weil wegen der Nähe der Landesministerien zu den kommunalen Gebietskörperschaften Interessenkollisionen denkbar sind.132 Aus diesen und anderen Gründen ist die von einigen Bundesländern favorisierte Lösung sinnvoll, die Landesregulierungsaufgaben im Interesse einer Regulierung aus einer Hand auf die Bundesnetzagentur zu übertragen.133 c) Optimierung aa) Monitoring und Evaluierung Eine effiziente Verwaltung ist stets auch auf Optimierung gerichtet,134 der eine verfahrensrechtliche und eine materiellrechtliche Seite innewohnt. Sie kann verfahrensrechtlich durch verschiedene Rechtsinstitute erreicht werden. So gestattet das Monitoring eine permanente Überwachung, während die Evaluierung135 eine nachträgliche Bewertung auf der Grundlage von gewonnenen Erfahrungen, durchgeführten Prüfungen und gewonnenen Ergebnissen ermöglicht. Sie soll gesetzliche Auswirkungen aufzeigen und Verbesserungsvorschläge präsentieren. Beide Institute sind bislang nur im Energiewirtschaftsrecht verankert (§ 35, § 51 und § 112 EnWG). Sie sind jedoch nicht nur für das verwaltungsintern notwendige Benchmarking, sondern auch für eine verbesserte Gesetzgebung Voraussetzung. Daher ist zu überlegen, ob diese Instrumente nicht in sämtliche Regulierungsgesetze übernommen bzw. Gegenstand eines Regulierungsrahmengesetzes werden sollen. bb) Transparenz Wettbewerb lebt von Transparenz. Deshalb ist die Einhaltung des Transparenzgebotes im Privatisierungsfolgenrecht auf dem Weg zum funktions131

Kühling/Barudi, DVBl. 2005, 1470, 1481. Kritisch auch Pielow, DÖV 2005, 1017, 1020. 133 Holznagel/Göge/Schumacher, DVBl. 2006, 269 ff. 134 s. auch Voßkuhle, VerwArch 92 (2001), S. 184, 197. 135 s. dazu aus französischer Sicht zum „modèle d’évaluation“ du Marais, Droit public de la régulation économique (Fn. 96), S. 548. 132

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fähigen Wettbewerb ein zentrales Leitbildelement. Denn nur die Offenlegung gibt Auskunft über den Stand des Wettbewerbs und die Maßnahmen, die zur Zielerreichung ergriffen werden. Deshalb ist für alle Marktteilnehmer auch wichtig, einen Einblick in die Verwaltungsgrundsätze der Regulierungsbehörde zu haben. Das gilt umso mehr, als der Öffentlichkeitsgrundsatz durch einen Paradigmenwechsel inzwischen mit der Schaffung von Informationsfreiheitsgesetzen prinzipiell auch im Bereich der öffentlichen Verwaltung anerkannt ist.136 Angesichts dieser Grundidee ist es kontraproduktiv, dass eine weitgehende Transparenz wegen der Nichtanwendbarkeit des Informationsfreiheitsgesetzes auf Regulierungsbehörden scheitert. Unabhängig davon sollte die Transparenzverpflichtung auf sämtliche Regulierungssektoren erstreckt werden.

cc) Einheitlicher Rechtsschutz Verfahrensrechtlich relevant ist ferner die Frage, ob der zweigleisig aufgebaute Regulierungsrechtsschutz optimal ausgestaltet ist oder ob nicht ein einheitlicher Rechtsweg zweckmäßiger wäre. Unbeschadet der sektorübergreifend agierenden Bundesnetzagentur als Regulierungsbehörde ist – wie dargelegt – im Bereich des TKG und des AEG der Verwaltungsrechtsweg (§ 13 ff. TKG, § 37 AEG) und im Bereich des EnWG der ordentliche Rechtsweg (§ 75 IV EnWG) einschlägig. Zwar lässt sich eine Sonderzuweisung an Kartellsenate auf den ersten Blick mit der wettbewerbsrechtlichen Ausrichtung des Regulierungsrechts und den dazu vorhandenen Spezialkenntnissen der Gerichte rechtfertigen. Die Aufteilung der Verfahren bringt jedoch eine Zersplitterung des Regulierungsrechts mit sich, die angesichts der Schutzzwecke und Regulierungsziele nicht optimal und sachlich kaum argumentierbar ist. Zum einen ist auch bei Verwaltungsgerichten offensichtlich die erforderliche Fachkompetenz vorhanden, wie die ausdrückliche Zuweisung im Telekommunikationsrecht zeigt. Zum anderen haben die Gerichte bei regulierungsrelevanten Entscheidungen den herausgearbeiteten dreifachen Auftrag zu erfüllen, der neben dem Wettbewerbsrecht und dem Infrastrukturrecht auch das Gewerberecht umfasst. Demnach stehen wettbewerbsrechtliche Fragen bei Regulierungsmaßnahmen nicht zwingend im Vordergrund137. Stellt man deshalb auf das Gepräge des Regulierungsrechts ab, dann bietet sich als Option ein einheitlicher Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten an, der expressis verbis in einem Regulierungsrahmengesetz festgeschrieben werden kann. 136 s. auch Voßkuhle, VerwArch 92 [2001], S. 184, 200 m. w. N.; Bröhmer, Transparenz als Verfassungsprinzip, 2004. 137 s. auch Marcou, in: FS König (Fn. 3), S. 145 ff.

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dd) Stärkung des Verbraucherschutzes Materiellrechtlich ist das Optimierungsgebot u. a. ein Grundrechtsproblem, das an dieser Stelle aus Verbrauchersicht beleuchtet werden soll. Der Verbraucherschutz ist bislang objektivrechtlich als öffentliches Interesse ausgeformt, dem keine subjektrechtliche Entsprechung gegenüber steht. Das bedeutet, dass Verbraucher ihre Interessen kaum gegenüber der Bundesnetzagentur durchsetzen können.138 Vielmehr ist der Rechtsschutz einseitig zivillastig mit der Folge, dass die Risiken auf die Nutzer verlagert werden. Zwar sieht sich die Regulierungsbehörde auch als Anwalt der Verbraucher (§ 2 II Nr. 1 und § 122 I TKG).139 Diese Servicerolle reicht jedoch nicht aus. Sie entspricht weder dem modernen Grundrechtsstandard noch den grundgesetzlichen Schutzpflichten140 im Gewährleistungsstaat, der seiner Regulierungsverantwortung intensiver als bisher nachkommen muss. Das zeigt schon die Anfrage- und Beschwerdeentwicklung im Bereich Telekommunikation/Post, die kontinuierlich steigt und im Berichtsjahr 2004/2005 77814 Vorgänge umfasst.141 Nutzergefahren drohen ausweislich der Tätigkeits- und Jahresberichte der Regulierungsbehörde weniger durch die Verletzung fernmelderechtlicher oder datenschutzrechtlicher Bestimmungen, als vielmehr durch die Blockierung von Endgeräten. Dabei handelt es sich um empfindliche Eingriffe in das in Art. 7 EU-GR-Charta geschützte Recht auf Achtung der Kommunikation und das Ungestörtsein der Privatsphäre. Dieser Tatbestand ist verletzt, wenn unerwünschte Werbung die freie Verfügungsbefugnis über Endgeräte beeinträchtigt und deren Funktionsbereitschaft stört und wenn der Adressat gezwungen wird, sich mit der Werbung zu befassen.142 Zivilrechtliche Instrumente sind unzureichend, zumal sie – abgesehen von der Kosten-, Darlegungs- und Beweislast – wenig erfolgsversprechend sind.143 Hier hat die grundrechtlich fundierte Gewährleistungsverantwortung durch Schaffung subjektiv-öffentlichrechtlicher Positionen gegenüber der Regulierungsbehörde anzusetzen, die auch durchsetzbare Amtspflichten im Sinne von Art. 34 GG begründen. Um dem dargelegten Missbrauch zu begegnen, muss das Recht auf Privatheit als eigenständiges Recht in den Grundrechtsschutz des TKG aufgenommen und ferner den 138

s. schon Stober, DÖV 2004, 221, 226 f. s. Tätigkeitsbericht 2002/2003 der Regulierungsbehörde BT-Drs. 15/2220, S. 113 ff. 140 s. auch BVerwG, NVwZ 2003, 605 und 608 sowie BVerfG, DVBl. 2003, 131 zu Art. 10 GG. 141 s. Tätigkeitsbericht 2004/2005 der Bundesnetzagentur, S. 231 f. 142 s. näher Tätigkeitsbericht 2004/2005 der Bundesnetzagentur (Fn. 141), S. 242 sowie Jahresbericht 2005 der Bundesnetzagentur, S. 53 jeweils zum Spam. 143 s. auch Gounalakis, Gutachten C zum 64. DJT, 2002, 77; Baetge, NJW 2006, 1036 f. 139

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Nutzern im Abschnitt „Kundenschutz“ ein volles subjektives Recht gegenüber der Regulierungsbehörde dahin eingeräumt werden, dass sie bei Nutzerbeschwerden einschreiten muss. Komplementär ist die Regulierungsbeschwerde als neues Institut aufzunehmen, das kürzlich in das novellierte Energiewirtschaftsgesetz eingeführt wurde (§§ 31 f. EnWG). Es berechtigt u. a. Verbraucherzentralen und Verbraucherverbände, bei der Regulierungsbehörde die Überprüfung des Verhaltens eines Betreibers von Energieversorgungsnetzen zu beantragen und ist als Einstieg in ein umfassendes Verbraucherbeschwerdemanagement zu qualifizieren. Die individualrechtliche Stärkung der Verbraucher ist auch vor dem Hintergrund notwendig, dass das seit dem Inkrafttreten des Informationsfreiheitsgesetzes (IFG) eingeführte Transparenzprinzips gegenüber der Verwaltung grundsätzlich nicht gegenüber den Kontroll- und Aufsichtsaufgaben der Regulierungsbehörden gilt. Denn nach 3 lit. d IFG besteht kein Anspruch auf Informationszugang, wenn das Bekanntwerden der Information nachteilige Auswirkungen auf die Arbeit der Regulierungsbehörde haben kann. Sie ist lediglich gehalten, in den Jahresberichten auf Fragen des Verbraucherschutzes einzugehen (§ 122 TKG). ee) Qualitätssicherung Die Qualität der Leistungseinbringung wird in den Regulierungsgesetzen nicht ausdrücklich angesprochen. Sie ist allenfalls versteckt in Zweck – und Zielbestimmungen enthalten, die etwa eine sichere Versorgung vorschreiben. Gleichzeitig ist die Qualität Teil des Instrumentariums, das die Einhaltung bestimmter Mindeststandards, Betriebs- und Wartungspflichten gebietet. Das Qualitätserfordernis ist deshalb ein essentielles Element des Regulierungsrechts, weil es die funktionale Äquivalenz gegenüber der Leistungseinbringung durch ehemals staatliche Monopolunternehmen sicherstellen soll. Denn nur bei dieser Garantie kann sich die öffentliche Hand von der Erfüllungsverantwortung und Leistungsverwaltung auf die Gewährleistungsverantwortung und die Ausprägung der Regulierungsverwaltung zurückziehen. Vor diesem Hintergrund ist es angebracht, das Element der funktionalen Äquivalenz in ein Rahmenregulierungsgesetz oder in einem Abschnitt „Allgemeine Vorschriften“ der jeweiligen Regulierungsgesetze aufzunehmen. ff) Standardisierung Eine einheitliche Anwendung des Regulierungsrechts gelingt am ehesten, wenn die Instrumente, Handlungsformen und Verfahren standardisiert sind. Diese Synchronisierung ist nicht nur für die Tätigkeit der Bundesnetzagen-

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tur, sondern auch für Unternehmen und Verbraucher wichtig. Sie ist ferner ein Gebot der Systemgerechtigkeit sowie der Einheit der Rechtsordnung. Die Analyse hat jedoch ergeben, dass unbeschadet der identischen Ausgangslage, nämlich der Privatisierung ehemals staatlicher oder kommunaler Wirtschaftszweige, das Privatisierungsfolgenrecht die Rechtsinstitute des Regulierungsrechts nicht aufeinander abgestimmt hat. Vielmehr stehen unterschiedliche Konzeptionen isoliert nebeneinander, die einer Harmonisierung harren. Bislang werden die Befugnisse nur teilweise erkennbar gekennzeichnet (s. etwa § 126 TKG) und sie befinden sich verstreut in verschiedenen Gesetzesabschnitten (s. § 67 TKG). Folglich ist es Aufgabe eines reformbezogenen Regulierungsrechts, institutionelle Gemeinsamkeiten festzustellen, zu ordnen und damit die Grundlage für ein einheitliches, kodifizierungsfähiges Regulierungsverwaltungsrecht zu schaffen, von dem auch hinzukommende Regulierungssektoren wie z. B. das Luftverkehrsrecht profitieren können. Das gilt auch für die Begrifflichkeit. Diese moderne Variante der Wirtschaftsüberwachung wird teilweise auch als Wirtschaftsaufsicht bezeichnet. So ist etwa in § 42, 64 TKG, § 54 EnWG von Missbrauchsaufsicht die Rede. Teilweise wird statt des Ausdrucks Wirtschaftsüberwachung auch generell das Wort Wirtschaftsaufsicht benutzt. Diese Vermengung trägt zur Verunklarung bei, weil der Aufsichtsbegriff besetzt ist. Während im Regulierungsverwaltungsrecht Überwachung Unternehmenskontrolle meint (s. § 64 TKG), steht Aufsicht für Staatsaufsicht als behördeninterne Kontrolle über Verwaltungsträger. Anders ausgedrückt: Überwachung ist Freiheits- und Wettbewerbskorrelat und Aufsicht Verwaltungskorrelat.144 gg) Verhältnismäßigkeit und Befristung Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Generalschranke jedes staatlichen Handelns ist nicht nur eine rechtsstaatliche, sondern verstanden als Subsidiaritätsprinzip auf der Erforderlichkeitsstufe eine ordnungspolitische Konstante. Gefragt sind wirksame Alternativen, die Unternehmer und Verbraucher möglichst wenig in ihren Freiheitsrechten beeinträchtigen. Erkenntnisgegenstand der Verhältnismäßigkeitsprüfung sind u. a. die Wahl zwischen Selbstregulierung und Staatsregulierung,145 hoheitlichen und marktwirtschaftlichen Instrumenten, Dauerregulierung und befristeter Regulierung. Beispiel für eine schonende kooperative Regulierung ist die Grundsatzver144

Stober, Allgemeines Wirtschaftsverwaltungsrecht (Fn. 17), § 29 I; a. M. BVerwG, NVwZ 2004, 1352, 1354. 145 s. zum Energiewirtschaftsrecht auch Kühling/Barudi, DVBl. 2005, 1470 f. und allgemein Bullinger, DVBl. 2003, 1355, 1358 f.

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einbarung zwischen Gasnetzbetreibern und der Bundesnetzagentur über den Netzzugang für die Durchleitung von Gas für Kunden, die ihren Gaslieferanten frei wählen können. Der Kern der Vereinbarung besteht darin, dass für die Durchleitung nur noch zwei Verträge für die Ein- und Ausspeisung (Entry/Exit) erforderlich sind und alle weiteren Fragen die Netzbetreiber untereinander abwickeln.146 Ähnlich verhält es sich mit der neu in § 32b GWB eingeführten Verpflichtungszusage von Unternehmen mit dem Ziel, dass die Kartellbehörde von ihren Befugnissen keinen Gebrauch macht. Dieses Instrument könnte bei entsprechender Bewährung den Kanon von Standardhandlungsformen des Regulierungsverwaltungsrechts ergänzen. Danach sind Regulierungsmaßnahmen nur solange zulässig, bis ihr Regulierungszweck erreicht ist. Deshalb sind nach dieser zeitlichen Grenze, die teilweise in anderen Rechtsmaterien auch positiviert ist (§ 2 IV AWG, § 4 III LuftSiG), Regulierungen aufzuheben oder zurückzufahren, wenn der Markt geschaffen ist und keine Gefahr einer privaten Remonopolisierung besteht. Insbesondere ist zu berücksichtigen, dass regulierte Unternehmen einer intensiven Inpflichtnahme oder Indienstnahme unterfallen, die weit über die übliche Gewerbeüberwachung hinausreicht. Denn es bestehen zur Gewährleistung der Grundversorgung nicht nur zahlreiche regulierungsbezogene Pflichten (Betriebs-, Wartungs-, Vorratspflicht). Darüber hinaus sind die Unternehmen – wie dargelegt –, auch zur Finanzierung der Regulierungsverwaltung verpflichtet, die durch eine Umlage erfolgt. Einerseits handelt es sich dabei um eine konsequente Fortsetzung der bereits im Bereich der wirtschaftlichen Selbstverwaltung durch Kammern üblichen Beitragsfinanzierung. Andererseits ist zweifelhaft, ob diese Methode zu einer effizienten Verwaltung beiträgt und damit dem Haushaltsgrundsatz der Wirtschaftlichkeit und dem Kostendeckungsprinzip entspricht oder eher eine zweifelhafte Variante zur versteckten Haushaltssanierung ist. Sie ist aber auch aus Gründen der Verhältnismäßigkeit bedenklich, denn die Bedingungen für die Umlage werden von der Bundesnetzagentur im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Finanzen festgelegt, wobei bei beiden Einrichtungen Eigeninteressen im Vordergrund stehen. Daran ändert auch nichts, dass die Bundesnetzagentur verpflichtet ist, einen Überblick über ihre Verwaltungskosten und die eingenommenen Abgaben zu veröffentlichen (§ 93 EnWG, § 147 TKG), weil sie es allein in der Hand hat, in welchem Umfange sie überwacht und dementsprechend Kosten in Rechnung stellt. Es versteht sich von selbst, dass etwa der jüngste Jahresbericht der Bundesnetzagentur nur sehr zurückhaltend Auskunft über die Finanzsituation gibt. Immerhin belaufen sich die Einnahmen aus Gebühren und Beiträgen im Jahre 2005 auf ca. 155 Millionen Euro, während die Ausgaben 146

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129 Millionen Euro betragen.147 Diese Selbstbedienung zur Organisationsfinanzierung bedarf wegen der Begrenzungs- und Schutzfunktionen der Finanzverfassung148 einer besonderen sachlichen Rechtfertigung, die aber angesichts der aufgezeigten komplexen Zielsetzungen nicht ersichtlich ist.149 Unklar ist ferner, was mit den aus der Vorteilsabschöpfung (§ 43 TKG, § 33 EnWG) eingenommenen Geldbeträgen geschieht. Dienen sie der Finanzierung der Regulierungsbehörde oder gehen sie in die Staatskasse? Eine besondere Finanzierungsvariante ist ferner der Erlös aus Versteigerungsverfahren (§ 55 IX i. V. m. § 142 II 5 TKG), dessen Verwendung ebenfalls nicht ausdrücklich geregelt ist. Vor diesem Hintergrund ist es zur Schonung der regulierten Unternehmen erforderlich, dass sämtliche Einnahmen in die Kostenkalkulation einbezogen, bei der Festlegung der Umlage in Anrechnung gebracht und offen gelegt werden. VIII. Fazit Zusammengenommen zeigen Befund und Therapie: Die Mutprobe hat sich gelohnt. Das Regulierungsverwaltungsrecht verstanden als Privatisierungsfolgenrecht ist ein moderner Repräsentant des Verwaltungsrechts. Zwar befindet sich diese Ausprägung des Rechtssystems noch mitten in der dogmatischen Entwicklung und sie erfasst längst noch nicht sämtliche potentielle Regulierungskandidaten. Gleichzeitig verbindet sie klassische und innovative Institute, Instrumente, Handlungs- und Organisationsformen. Jedenfalls leistet das Regulierungsrecht auf diese Weise einen essentiellen Beitrag zur Verwaltungsmodernisierung, der durch ein Leitbild gefördert werden kann.

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Jahresbericht 2005 der Bundesnetzagentur (Fn. 142), S. 147. BVerfG, NVwZ 2005, 1171. Burgi, DVBl. 2006, 269, 276 f.

Die dienende Funktion der Verfahrensrechte – eine dogmatische Figur mit Aussagekraft und Entwicklungspotential Von Heinrich Amadeus Wolff I. Die Funktionen des Verwaltungsverfahrensrechts Das Verwaltungsverfahrensrecht regelt die Art und Weise des Zustandekommens der Verwaltungsentscheidung, während das materielle Verwaltungsrecht die inhaltlichen Rechtsbeziehungen zwischen Behörde und Bürger festlegt.1 Die dadurch bedingten Unterschiede rechtfertigen es, die beiden Normtypen insbesondere in ihren Fehlerfolgen unterschiedlich zu behandeln.2 Die Funktionen der Verfahrensrechte sind oft herausgearbeitet worden,3 nicht bei allen Verfahrensrechten gleich und etwas pauschaliert mit fünf Fallgruppen zu beschreiben. Das Verfahrensrecht soll (1) eine richtige Sachentscheidung erleichtern, hauptsächlich indem es der Verwaltung den Weg zu ihr zeigt sowie eine möglichst vollständige Sachverhaltsermittlung begünstigt (Verwaltungsverfahrensrecht als Verwirklichungsmodus des Verwaltungsrechts)4, und schließlich bei der Ausfüllung von Beurteilungs- und Gestaltungsspielräumen zusätzlich einen Diskurs über die richtige Wertung erzwingt; 1 Wolff, Heinrich Amadeus, Verfahrensrecht und materielles Recht, JR 1996, 367, 368; s. zur Trennung von Verfahrensrecht und materiellem Recht Gößwein, Christoph, Allgemeines Verwaltungs(verfahrens)recht der administrativen Normsetzung?, 2001, S. 41 f. 2 Pietzcker, Jost, Verwaltungsverfahren zwischen Verwaltungseffizienz und Rechtsschutzauftrag, VVDStRL 41 (1983), 193, 201, 221. 3 Siehe nur von Mutius, Albert, Gerichtsverfahren und Verwaltungsverfahren, in: Festschrift für Christian-Friedrich Menger, 1983, 575, 588 f.; Ossenbühl, Fritz, Verwaltungsverfahren zwischen Verwaltungseffizienz und Rechtsschutzauftrag, NVwZ 1982, 465, 466; Holznagel, Bernd, Verfahrensbezogene Aufgabenkritik und Änderungen von Verfahrensstandards als Reaktion auf die staatliche Finanzkrise, in: Hoffmann-Riem/Schmit-Aßmann, Effizienz als Herausforderung an das Verwaltungsrecht, 1998, 205, 227; allgemein Pitschas, Rainer, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, S. 315 ff. 4 Wahl, Rainer, Verwaltungsverfahren zwischen Verwaltungseffizienz und Rechtsschutzauftrag, VVDStRL 41 (1983), 151, 171.

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(2) Steuerungsschwächen im materiellen Recht ausgleichen, welche entweder aufgrund der konkreten Sachmaterie (Planungs-, Technik- und Umweltbereich5), der konkreten Aufgaben (Einzelfallgerechtigkeit) oder aufgrund der Eigengesetzlichkeit der parlamentarischen Gesetzgebung (Kompromissgesetzgebung)6 auftreten;7 (3) die Akzeptanz und die Realisierung der Entscheidung erhöhen;8 (4) die Persönlichkeit des Betroffenen schützen und gleichzeitig verhindern, dass er zum reinen Objekt des Verfahrens wird;9 (5) schließlich Eingriffe in Rechtsgüter, die nicht durch die Entscheidung selbst, aber durch das Verfahren, insbesondere durch die Sachverhaltsaufklärung verwirklicht werden, ermöglichen und begrenzen (z. B. Betretungsrechte, Einsichtsrechte in Bücher etc.). II. Die dienende Funktion als Besonderheit vieler Verfahrensrechte 1. Dienende oder selbständige Funktion Das Verfahrensrecht besitzt – wie aus den ersten beiden Punkten ersichtlich wird – eine dienende, daneben aber auch eine selbständige Funktion.10 Dienend ist das Verfahrensrecht, sofern es die materielle Richtigkeit einer Entscheidung absichern will. Selbständig ist es, wenn es davon getrennte Zwecke verfolgt. Der selbständige Charakter wiederum kann sich zum einen als Annex aus der dienenden Funktion ergeben – wie an den Fallgruppen 3 und 4 erkennbar ist, oder zum anderen eine von der Sachentscheidung unabhängige Funktion haben, wie in Fallgruppe 5. Die letztgenannte dienende Funktion bildet einen wesentlichen Unterschied des Verfahrensrechts im Vergleich zum materiellen Recht.11 Auf5 Vgl. nur Wolff, H. A., in: Sodan/Ziekow, VwGO, 2. Aufl. 2006, § 114, Rn. 192 u. 357; Ossenbühl, Verwaltungsverfahren (Fn. 3), S. 465, 466. 6 Hoffmann-Riem, Wolfgang, Gesetz und Gesetzesvorbehalt im Umbruch, AöR 130 (2005), S. 5, 35 f. 7 Hoffmann-Riem, Gesetz und Gesetzesvorbehalt (Fn. 6), AöR 130 (2005), S. 5, 35 f. m. w. N. 8 Pitschas, Rainer (Fn. 3), NVwZ 2004, 396, 398 f.; Würtenberger, Thomas, Akzeptanz durch Verwaltungsverfahren, NJW 1991, 257 ff.; Püttner, Günter/Guckelberger, Annette, Beschleunigung von Verwaltungsverfahren, JuS 2001, 218, 223. 9 Ossenbühl, Verwaltungsverfahren (Fn. 3), S. 465 f. 10 Siehe dazu Ossenbühl, Verwaltungsverfahren (Fn. 3), S. 465 f. 11 Wolff, Hans-Julius/Bachof, Otto/Stober, Rolf, Verwaltungsrecht Band 1, 11. Aufl. 1999, § 21, Rn. 10; Kluth, Winfried, in: Wolff, Hans-Julius/Bachof, Otto/ Stober, Rolf, Verwaltungsrecht Band 2, 6. Aufl. 2000, § 58, Rn. 12.

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grund dieses Charakters lassen sich spezifische Aussagen über das Verfahrensrecht treffen. Erstens darf die dienende Funktion nicht mit einer Geringwertigkeit gleichgesetzt werden12 – eine Erkenntnis, die mitunter dazu führt, dass versucht wird, die dienende Funktion des Verfahrensrechts begrifflich zu verschleiern.13 Zweitens sind Verfahrensregeln überhaupt notwendige Voraussetzung für jede Sachentscheidung. Des Weiteren besitzt die Qualität des Verfahrensrechts einen enormen Einfluss auf die Qualität der Sachentscheidung.14 Dies wird besonders deutlich, wenn man sich die Folgen eines fehlerhaft geführten oder fehlerhaft geregelten Verwaltungsverfahrens vergegenwärtigt. Fehlende Verfahrensregeln führen dazu, dass der Umfang der Sachermittlung oder die Transparenz des Verfahrens weitgehend von der Sachkompetenz und dem guten Willen der konkreten Verwaltungsbeamten abhängt. Aber nicht nur fehlende Verfahrensregeln sind schlecht für die Sachentscheidung. Auch bestehende Verfahrensregeln können sich nachteilig auf die Sachentscheidung auswirken. Eine Verfahrensregelung, die eine unausgewogene Einbeziehung gleichwertiger Interessen vorsieht, die Betroffenen zu früh unterrichtet und dadurch verunsichert oder eine zu lange Verfahrensdauer verursacht, kann für die Gemeinwohlverwirklichung nachteiliger sein als ein nur rudimentär geregeltes Verfahren. Eine angemessene Verfahrensausgestaltung muss daher einen sachbezogenen, rational nachprüfbaren und grundsätzlich offenen Informationsverarbeitungsprozess bei gleichzeitig möglichst geringem Zeit-, Personal- und Organisationsaufwand ermöglichen.15 2. Die dienende Funktion als sachlicher Grund der Fehlerfolgenbegrenzung Die dienende Funktion des Verwaltungsverfahrensrechts rechtfertigt nach deutschem Verständnis sachlich eine Relativierung der Folgen von Verfahrensfehlern.16 Als Regelfolgen einer Rechtsverletzung lassen sich allgemein formulieren: Grundsätzlich führt ein Rechtsverstoß zur Rechtwidrigkeit der entsprechenden Entscheidung, die Rechtswidrigkeit grundsätzlich zu deren Nichtigkeit.17 Weiter kann derjenige, der durch eine nichtige Entscheidung 12 Maurer, Hartmut, Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2004, § 19, Rn. 8; Jochum, Heike, Verwaltungsverfahrensrecht und Verwaltungsprozessrecht, 2004, S. 83. 13 Jochum, Verwaltungsverfahrensrecht (Fn. 12), 2004, S. 83. 14 Kluth, in: Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht Bd. 2 (Fn. 11), 2000, § 58, Rn. 16 f. 15 Siehe nur v. Mutius, Gerichtsverfahren und Verwaltungsverfahren (Fn. 3), 1983, 575, 588. 16 s. o. Fn. 2 (Pietzcker, Verwaltungsverfahren, S. 193, 201, 221).

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in seinen Rechten betroffen ist, die Aufhebung der Entscheidung oder die Feststellung der Nichtigkeit verlangen. Diese Regelfolgen einer Rechtsverletzung werden im deutschen Recht beim Verfahrensrecht wegen der dienenden Funktion relativiert, und zwar aus folgendem Grund: Das Verfahrensrecht besteht – sofern es dienende Funktion hat – nicht als Selbstzweck, sondern zur Ermöglichung einer Entscheidung, die dem materiellen Recht entspricht (Ordnungsfunktion).18 Wird eine Entscheidung unter Verletzung des Verfahrensrechts gefasst und lässt sich gleichzeitig sagen, dass die Entscheidung auch bei Beachtung des Verfahrensrechts nicht anders hätte ausfallen können, hat die Verletzung des Verfahrensrechts zu keinem Schaden geführt und kann sanktionslos bleiben, d. h. die Entscheidung wird wegen der Verletzung einer Verfahrensvorschrift mit dienender Funktion nicht aufgehoben.19 Besitzt die Verfahrensvorschrift aber auch selbständigen Charakter, kann die Verletzung nicht allein durch Berufung auf die inhaltliche Richtigkeit der Sachentscheidung unbeachtet bleiben. Dennoch bleibt nach dem VwVfG und anderen speziellen Verfahrensnormen die Verletzung des Verfahrensrechts auch bei Verfahrensrechten mit selbständigem Charakter unbeachtlich, sofern die Entscheidung materiell rechtmäßig ist. Ist etwa in einem konkreten gebundenen Verwaltungsverfahren die Anhörung eines Beteiligten objektiv nicht erforderlich, da die Behörde den gesamten Sachverhalt kennt und daher nur aus Achtung der Person erforderlich und unterbleibt die Anhörung verfahrensfehlerhaft, ist diese Verletzung des § 28 VwVfG wegen § 46 VwVfG unbeachtlich, obwohl die sachlich zutreffende Sachentscheidung nicht die Missachtung der Subjektstellung des Betroffenen heilen oder ausgleichen kann.20 Die materielle Begründung, die der gesetzlichen Regelung zugrunde liegt, besteht in der Wertung, nach der die selbständige Funktion des Anhörungsrechts nur ein Annex zur dienenden Funktion bildet und dieser somit untergeordnet ist (daher ist der Name „selbständige Funktion“ insoweit auch nicht ganz treffend, aber dennoch geläufig). Schützt das Verfahrensrecht allerdings andere materielle Rechtsgüter als diejenigen, die durch die Sachentscheidung betroffen sind, kann eine richtige Sachentscheidung eine Verletzung des Verfahrensrechts nicht ausgleichen. Betreten etwa Beamte der zuständigen Behörde im Rahmen eines Gewerbeuntersagungsverfahrens in unzulässiger Weise das Betriebsgelände des 17 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht (Fn. 12), § 10, Rn. 20; auf die Rechtsquellen bezogen Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht Bd. 1 (Fn. 11), 1999, § 28, Rn. 16 ff. 18 Kluth, in: Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht Bd. 2 (Fn. 11), § 58, Rn. 16. 19 Vgl. nur Kahl, Wolfgang, Grundrechtsschutz durch Verfahren in Deutschland und in der EU, VerwArch 95 (2004) 1, 5 f.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht (Fn. 12), § 10, Rn. 38 (auf den VA bezogen). 20 Ziekow, Jan, VwVfG, 2006, § 46, Rn. 5.

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Betroffenen,21 so wird die Verletzung des § 29 Abs. 2 GewO nicht durch eine spätere sachlich richtige Entscheidung der Gewerbeuntersagung unbeachtlich; § 46 VwVfG greift nicht.22 Zumindest die rechtswidrige Verfahrenshandlung selbst kann angegriffen werden. Bei den Verfahrensrechten mit selbständiger Funktion kommt der Charakter der dienenden Funktion nicht zum Tragen. Somit kann diese im Folgenden außer Betracht bleiben. Die dienende Funktion des Verfahrensrechts rechtfertigt eine Relativierung der Verletzungsfolgen, soweit aufgrund des Ausgangs des Verfahrens rückblickend ein Einfluss des Fehlers auf das Ergebnis ausgeschlossen werden kann, nicht weiter. Die dienende Funktion des Verfahrensrechts legitimiert nicht nur ein eigenständiges Fehlerfolgenregime, sondern begrenzt es auch in seiner Reichweite. Der Gesetzgeber hat mit seiner Fehlerfolgenregelung in den §§ 44a VwGO, 45 VwVfG und 46 VwVfG diese Begrenzung nicht deutlich genug beachtet, wie ein genauer Blick verdeutlicht. 3. Die dienende Funktion als Grenze der Fehlerfolgenbegrenzung a) Heilung – § 45 VwVfG So ist etwa die Erstreckung des Zeitraums einer möglichen Heilung durch § 45 Abs. 2 VwVfG auf den Zeitabschnitt nach der Beendigung des Widerspruchsverfahrens mit der dienenden Funktion nicht mehr zu rechtfertigen und daher änderungsbedürftig.23 § 45 VwVfG normiert grundsätzlich die Heilung von Verfahrensfehlern. Von einer Heilung kann man nur sprechen, wenn die in Frage kommende Handlung annähernd die gleiche Funktion besitzt wie die Verfahrenshandlung, deren Voraussetzungen nicht eingehalten wurden. Verfahrenshandlungen mit dienender Funktion können ihre Aufgaben nur erfüllen, wenn deren Ergebnisse einen Einfluss auf die verfahrensbeendende Handlung haben können, d. h. die Sachentscheidung noch nicht abgeschlossen ist. Verwaltungsentscheidungen sind aber spätestens dann abgeschlossen, wenn das Widerspruchsverfahren beendet ist. Eine später hinzutretende Verfahrenshandlung kann eine unterbliebene Verfahrenshandlung, die den Zweck besessen hätte, die Entscheidungsfindung zu steuern, nicht mehr ersetzen.24 21

Siehe dazu Marcks, in: Landmann/Rohmer, GewO, § 29 (Januar 1999), Rn. 14. Vgl. Kopp, Ferdinand/Ramsauer, Ulrich, VwVfG, 9. Aufl. 2005, § 46, Rn. 15. 23 Statt vieler Kopp/Ramsauer, VwVfG (Fn. 22), § 45, Rn. 34 f.; Sachs, Michael, in: Selkens/Bonk/ders., VwVfG, 6. Aufl. 2001, § 45, Rn. 113 ff.; s. a. Martin, Marco, Heilung von Verfahrensfehlern im Verwaltungsverfahren, 2004, S. 29 ff. u. S. 279. 24 Nachsichtiger Ziekow, VwVfG (Fn. 20), § 45, Rn. 17. 22

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b) Unbeachtlichkeitserklärung – § 46 VwVfG Mit der Funktion der Verfahrensrechte ist die Erklärung der Unbeachtlichkeit einer Verletzung nur dann vereinbar, wenn sich die Verletzung der Verfahrensvorschrift auf die dienende Funktion beschränkt und zudem im konkreten Fall die Auswirkung der Verletzung auf den Inhalt der Entscheidung nach menschlichem Ermessen ausgeschlossen werden kann. Die Verletzung einer Verfahrensvorschrift kann durch den Hinweis, auch bei deren Beachtung wäre das Ergebnis nicht anders ausgefallen, nur dann nivelliert werden, wenn diese Prognose mit keinen Unsicherheiten verbunden ist. Bei Entscheidungen, die rechtlich nicht gebunden sind, kann aber niemand mit Sicherheit sagen, wie die Entscheidung ausgefallen wäre, wenn das Verfahren rechtmäßig durchgeführt worden wäre. Da die Erstreckung des § 46 VwVfG im Jahr 1996 auch bestimmte nicht gebundene Entscheidungen erfasst, ist daher mit der dienenden Funktion nur vereinbar, wenn man von einer Regelvermutung zu Gunsten der Auswirkung einer Verfahrensrechtsverletzung auf eine nicht vollständig gebundene Sachentscheidung ausgeht.25 Erforderlich ist eine klare Beweislast zu Lasten desjenigen, der behauptet, die Verletzung sei konkret ohne Kausalitätswirkung gewesen. c) Ausschluss der isolierten Anfechtbarkeit – § 44a VwGO In besonderem Maße korrekturbedürftig erscheint dabei die Regelung des § 44a VwGO. Nach dem Normtext ist der selbständige Rechtsschutzantrag gegen Verfahrenshandlungen ausgeschlossen und nur in den Fällen des S. 2 möglich. Dieser weite Normtext ist – in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung und der Literatur – schon von seinem Zweck her in erheblichem Umfang einzuschränken.26 § 44a VwGO will den dienenden Charakter des Verfahrensrechts in das Prozessrecht hinein erstrecken. Daher ist die Norm unanwendbar, sofern die gerügte Verfahrensrechtsverletzung bei der gerichtlichen Kontrolle der Sachentscheidung nicht wirksam mitkontrolliert werden könnte bzw. entstandene Nachteile nicht mehr vollständig auf diese Weise zu beseitigen wären.27 Das Gleiche gilt, wenn die Verfahrenshandlung einen über die Sachentscheidung hinausgehenden und von ihr unabhängigen Zweck verfolgt oder das Verfahrensrecht andere subjektive Rechte, als die von der Sachent25 Kopp/Ramsauer, VwVfG (Fn. 22), § 46, Rn. 5 u. 37 ff.; Sachs, in: Selkens/ Bonk/ders., VwVfG (Fn. 23), § 46, Rn. 86. 26 So methodisch zutreffend Geiger, Harald, in: Eyermann, VwGO, 11. Aufl. 2000, § 44a, Rn. 5. 27 Ziekow, Jan, Von der Reanimation des Verfahrensrechts, NVwZ 2005, 263, 265; Hill, Hermann, Rechtsbehelfe gegen behördliche Verfahrenshandlungen, Jura 1985, 61, 65.

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scheidung berührten, verletzt. Im Bereich von Verpflichtungsbegehren scheidet eine Anwendbarkeit auch aus, wenn der Bürger mit der Verfahrenshandlung die Sachlage zu seinen Gunsten verbessern will und dies noch Einfluss auf die endgültige Sachentscheidung haben könnte. So ist der Anspruch eines wegen Alkoholabhängigkeit Fahruntüchtigen, der die Wiedererteilung seiner Fahrerlaubnis betreibt, auf Bewilligung eines seitens der Gutachter empfohlenen Besuches eines Kurses nach § 70 FeV trotz § 44a VwGO isoliert einklagbar, obwohl die Bewilligung eine Verfahrenshandlung ist.28 Erhebliche Friktionen wirft der weite Normtext von § 44a VwGO zudem dann auf, wenn die Verfahrenshandlung Verwaltungsaktcharakter besitzt. Verweigert etwa die Gemeinde in einem Baugenehmigungsverfahren das erforderliche Einvernehmen nach § 36 BauGB und wird dieses von der Rechtsaufsichtsbehörde nach Maßgabe des Landesrechts in einem selbständigen Verfahren ersetzt – also anders als in Bayern (Art. 74 BayBO) – ist diese Ersetzung gegenüber der Gemeinde ein Verwaltungsakt, den sie nach überwiegender Ansicht wegen § 44a VwGO nicht anfechten kann.29 Eine Rechtsbehelfsbelehrung hinsichtlich des Ersetzens bedarf es daher nicht.30 Wie aus dem Beispiel zu ersehen ist, verändert § 44a VwGO die Bestandskraft des Verwaltungsaktes.31 Die Bestandskraftlehre des Verwaltungsaktes und § 44a VwGO verfolgen entgegengesetzte Ziele. Während die Figur der Anfechtbarkeit des Verwaltungsaktes den Betroffenen zum Ergreifen des Rechtsschutzes drängt, verlangt § 44a VwGO das Abwarten bis zur Überprüfbarkeit der Hauptsacheentscheidung.32 Hier führt die unnötige Überdehnung der dienenden Funktion des Verfahrensrechts zu Verwerfungen mit Instituten des allgemeinen Verwaltungsrechts, wie der Bestandskraftlehre. Systemgerechter wäre daher an Stelle des § 44a VwGO eine Bestimmung gewesen, die wie im Prozessrecht die Aufhebbarkeit einer Sachentscheidung davon abhängig macht, ob der Verfahrensfehler frühzeitig gerügt wurde.33 Diese Spannungen zwischen Bestandskraftlehre und Stillhalte28 VG Neustadt, NJW 2005, 2471, 2473 – unter etwa „weitgreifender“ Heranziehung des Art. 1 Abs. 1 GG. 29 Ausführlich Möstl, Markus, § 44a VwGO und der Rechtsschutz gegen die Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens (§ 36 Abs. 2 S. 3 BauGB i. V. m. Art. 74 BayBO), BayVBl 2003, 225, 227 ff.; Kopp, Ferdinand/Schenke, Wolf-Rüdiger, VwGO, 14. Aufl. 2005, § 44a, Rn. 6; Ziekow, Jan, in: Sodan/ders., VwGO, 2. Aufl. 2006, § 44a, Rn. 52; a. A. Horn, Hans-Detlef, Das gemeindliche Einvernehmen unter städtebaulicher Aufsicht, NVwZ 2002, 406, 415. 30 Möstl, § 44a VwGO und der Rechtsschutz (Fn. 29), S. 225, 228. 31 Eichberger, Michael, Die Einschränkung des Rechtsschutzes gegen behördliche Verfahrenshandlungen, 1986, S. 91; Ziekow, in: Sodan/ders., VwGO (Fn. 29), § 44a, Rn. 39; Möstl, § 44a VwGO und der Rechtsschutz (Fn. 29), S. 225, 228, Fn. 25. 32 Ebenso, wenn auch mit positiverer Wertung Möstl, § 44a VwGO und der Rechtsschutz (Fn. 29), S. 225, 227.

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pflicht sind aufzulösen, indem § 44a VwGO entgegen der überwiegenden Ansicht34 nicht auf Verfahrenshandlungen angewendet wird, die den Charakter eines Verwaltungsakts besitzen.35 Die Friktionen, die diese Auslegung mit dem Begriff der Vollstreckbarkeit in § 44a S. 2 VwGO aufwirft, welcher auf Verfahrenshandlungen mit Verwaltungsaktcharakter hinweist, sind hinzunehmen. III. Kodifikationsabhängigkeit Ist selbst die Verletzung von normierten Verfahrensrechten oft folgenlos, so ist es umso schwerer, die Geltung ungeschriebener Verfahrensvorschriften durchzusetzen. Wegen der dienenden Funktion des Verfahrensrechts bedarf es erheblichen Begründungsaufwands, weshalb die Einhaltung bestimmter Verfahrensstandards, die nicht ausdrücklich formuliert sind, rechtlich geboten sein sollte, da das Verfahrensrecht in besonderer Weise auf eine gesetzliche Ausgestaltung angewiesen ist. Lücken im Verfahrensbereich können nur beschränkt durch ungeschriebenes Recht oder durch Konkretisierungen von Verfassungsnormen ausgeglichen werden. Die verfassungsrechtlichen Vorgaben für das Verfahrensrecht sind, entgegen anders lautender Beteuerung,36 gering und können eine Kodifikation nicht ersetzen. Unbestritten stellt das Verfassungsrecht in Teilbereichen Mindestvorgaben auf; zu nennen wären folgende Punkte: (a) Art. 19 Abs. 4 GG kann verfahrensrechtliche Vorwirkungen entfalten, wie insbesondere im Bereich der Ankündigung eingreifender Akte.37 (b) Dem Rechtsstaatsprinzip und der Menschenwürdegarantie lassen sich eine Reihe von Verfahrensgarantien entnehmen, die vergleichbar mit den Garantien sind, die die europäische Grundrechtecharta mit dem Grundrecht auf eine gute Verwaltung in Art. 41 festlegt.38 (c) Noch rudimentärer sind die Vor33

Wahl, Verwaltungsverfahren (Fn. 4), S. 151, 181. Ziekow, in: Sodan/ders., VwGO (Fn. 29), § 44a, Rn. 39; VGH München, 1988, 1054; Eichberger, Einschränkung (Fn. 31), 1986, S. 140 f. 35 Wie hier BayVGH NVwZ 1988, 1054; Jarass, H., BImSchG, 6. Aufl. 2005, § 10, Rn. 131; in diese Richtung tendierend BVerwGE 71, 63, 72; Grünning, Klaus/ Ludovisy, Michael, Der Rechtscharakter der MPU-Anordnung, DAR 1993, 53, 56 f.; offen gelassen von VGH München, NVwZ 1990, 775, 777 = BayVBl 1990, 622 ff. 36 Etwas einseitig daher v. Mutius, Gerichtsverfahren und Verwaltungsverfahren (Fn. 3), S. 575, 589. 37 BVerfG (Kammer), NJW 1990, 501 f. = BayVBl 1990, 110 f. m. Anm. von Busch, Jost-Dietrich, DVBl 1990, 107 f.; Hufen, Friedhelm, JuS 1990, 756 f.; Schnellenbach, Helmut, NVwZ 1990, 637 f. 38 Streinz, Rudolf, in: ders., EGV/EUV, 2003, Art. 41 GR-Charta, Rn. 4; Magiera, Siegfried, in: Jürgen Meyer (Hg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003, Art. 41, Rn. 5; s. nur – in der Sache großzügig auf 34

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gaben, die das Verfassungsrecht für das administrative Normsetzungsverfahren aufstellt. Sie beschränken sich regelmäßig auf die Vorgaben der Wesentlichkeitstheorie hinsichtlich der Rechtssetzungsermächtigung, das Zitiergebot und auf Grundformen der Ausfertigung und Veröffentlichung.39 Auch die Figur der allgemeinen Rechtsgrundsätze hilft nur beschränkt weiter, da diesen selbst kein Rechtsquellencharakter zukommt. Daher können die stützenden Elemente des Verfahrensrechts, die nicht primär dem Schutz des Betroffenen dienen, ohne Einbindung in das materielle Recht nicht zu ihrer Entfaltung kommen, und selbst dann nicht, wenn sie eine höhere Absicherung der Sachentscheidung ermöglichen würden. Trotz der besonderen Kodifikationsabhängigkeit der Verfahrensnormen ist der Stand der Kodifikation gering. Im deutschen Verwaltungsrecht ist das Verwaltungsverfahren – zumindest sofern es um eine allgemeine Normierung geht – nur selektiv kodifiziert.40 Nennenswerte Regelungen allgemeiner Natur bestehen bekanntlich hinsichtlich der Handlungsformen des Verwaltungsvertrages und des Verwaltungsaktes. Aber auch diese werden mit gewichtigen Gründen hinsichtlich der förmlichen Genehmigungsverfahren für unvollständig gehalten.41 Daneben treten die bereichsspezifischen Ausformungen des Satzungserlasses in den jeweiligen Regelungswerken über die relevanten Selbstverwaltungsverbände und über den Erlass von Rechtsverordnungen, wie etwa bei der Polizeiverordnung. Eine Besserung dieses fragmentarischen Zustandes ist kaum zu erwarten. Ein Interesse an der Fortbildung des allgemeinen Verwaltungsverfahrensrechts durch den parlamentarischen Gesetzgeber ist nicht erkennbar – ganz im Gegenteil.42 Gern wird den Grundrechtsschutz durch Verfahren rekurrierend – Laubinger, Hans-Werner, Grundrechtsschutz durch Verwaltungsverfahren, VerwArch 83 (1982), 60, 74 ff. 39 Ziegler, Wolfgang, Die Ausfertigung von Rechtsvorschriften, insbesondere gemeindlichen Satzungen, DVBl 1987, 280, 282 ff.; s. schon Pietzcker, Verwaltungsverfahren (Fn. 2), S. 193, 218 f.; s. zum jüngsten Versuch, den Vorgaben des Art. 80 GG wieder zu einer stärkeren Bedeutung zu verhelfen bei Saurer, Johannes, Die Funktionen der Rechtsverordnung, Berlin, 2005. 40 Vgl. Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht Bd. 1 (Fn. 11), § 1, Rn. 4 ff.; Kluth, in: Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht Bd. 2 (Fn. 11), § 58, Rn. 2. Einen instruktiven Überblick bietet die Gesetzesbegründung zum Entwurf der unabhängigen Sachverständigenkommission zum Umweltgesetzbuch beim Bundesministerium für Umweltschutz, Naturschutz und Reaktorsicherheit, herausgegeben vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Hg.), UGB-KomE, 1998, S. 464. 41 Wahl, Rainer, Kodifizierung der förmlichen Genehmigungsverfahren im Verwaltungsverfahrensgesetz, NVwZ 2002, 1192 f.; für das Gewährleistungsverwaltungsrecht s. Voßkuhle, Andreas, Beteiligung Privater an der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und staatliche Verantwortung, VVDStRL 62 (2003), 266, 327 f. 42 Ausführlich Kahl, Wolfgang, Das Verwaltungsverfahrensgesetz zwischen Kodifikationsidee und Sonderrechtsentwicklungen, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang/

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gerade das Verwaltungsverfahrensrecht in seiner Bedeutung eingeschränkt, und zwar immer dann, wenn es im Verdacht steht, die Effizienz des Verfahrens zu beeinträchtigen.43 Als Beleg mag der Verweis auf das „Genehmigungsverfahrensbeschleunigungsgesetz“ v. 12.09.1996 (BGBl I, 1354) genügen.44 Die Fortbildung des allgemeinen Verwaltungsrechts wird durch die bereichsspezifische Differenziertheit des deutschen Verwaltungsrechts, die durch die bundesstaatlich bedingte Kompetenzverteilung noch einmal verstärkt wird, erheblich beeinträchtigt.45 Anpassungsdruck aus der Praxis besteht faktisch nur bei Regelungen im Bereich des besonderen Verwaltungsrechts oder bei aktuellen Fragen, wie denen des elektronischen Rechtsverkehrs46 oder des Kooperationsvertrags.47 Diese Anpassungsleistungen an die aktuellen Probleme dürfen nicht als gering erachtet werden und sind keine Selbstverständlichkeit. Dennoch unterliegen die strukturellen Überlegungen des allgemeinen Verwaltungsrechts keinem vergleichbaren von der Praxis her kommenden Reformdruck. Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass sich die Kurzatmigkeit der heutigen Gesetzgebung zum Nachteil des allgemeinen Rechts auswirke.48 Die Unvollständigkeit der Kodifikation des Verfahrensrechts ist keine neue Erkenntnis.49 Die Hinnehmbarkeit des schon lange andauernden ZuSchmidt-Aßmann, Eberhard, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsverfahrensgesetz, 2002, 67, 72 ff. 43 Siehe dazu Wahl, Verwaltungsverfahren (Fn. 4), S. 151, 162 ff.; Ossenbühl, Verwaltungsverfahren (Fn. 3), NVwZ 1982, 465, 468 ff.; Steiner, Udo, Verwaltungsverfahren und Grundrechte, NZS 2002, 113, 115; Kahl, Grundrechtsschutz (Fn. 19), S. 1, 6. 44 Änderungen der § 45 Abs. 2 VwVfG, § 46 VwVfG und des § 75 Abs. 1a VwVfG; s. dazu Schmitz, Heribert/Wessendorf, Franz, Das Genehmigungsverfahrensbeschleunigungsgesetz, NVwZ 1996, 955 ff.; Stuer, Bernhard, Die Beschleunigungsnovellen 1996, DVBl 1997, 326 ff.; Bonk, Heinz Joachim, Strukturelle Änderungen des Verwaltungsverfahrens durch das Genehmigungsverfahrensbeschleunigungsgesetz, NVwZ 1997, 320 ff. 45 Ausführlich Kahl, Verwaltungsverfahrensgesetz, in: Hoffmann-Riem/SchmidtAßmann, Verwaltungsverfahren (Fn. 42), 2002, 67 ff. 46 Schmitz, Heribert, Die Regelung der elektronischen Kommunikation im Verwaltungsverfahrensgesetz, DÖV 2005, 885 ff. 47 „Die Verträge sollen sicherer werden“ – Zur Novellierung der Vorschriften über den öffentlich-rechtlichen Vertrag, DVBl 2005, 17 ff. 48 Ziekow, Jan, Strategien zur Umsetzung der Arhus-Konvention in Deutschland, in: Wolfgang Durner/Christian Walter (Hg.), Rechtspolitische Spielräume bei der Umsetzung der Arhus-Konvention, 2005, 39. 49 v. Mutius, Gerichtsverfahren und Verwaltungsverfahren (Fn. 3), S. 575, 583; Wahl, Kodifizierung (Fn. 41), S. 1192, Pietzcker, Verwaltungsverfahren (Fn. 2), S. 193, 214; Kluth, in: Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht Bd. 2 (Fn. 11), § 58,

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standes wird aber mit zunehmender Zeit immer schwerer zu begründen und ist fast dreißig Jahre nach Erlass des VwVfG bei gleichzeitig reger gesetzlicher Tätigkeit in vielen Bereichen des Verfahrensrechts nicht mehr zu rechtfertigen und bedarf der Änderung. Zumindest das Verfahren, das auf andere als die in § 9 VwVfG genannten Handlungsformen gerichtet ist, bedarf einer Kodifikation (am einfachsten durch Ergänzung des VwVfGs).50 Der Gewinn, der in einer weitergehenden Kodifikation des allgemeinen Verwaltungsrechts liegt, ist unbestritten.51 Die dienende Funktion des Verfahrensrechts darf weder mit der Entbehrlichkeit des Verfahrens noch mit der Entbehrlichkeit der Verfahrensnormierung verwechselt werden.52 Ein nennenswerter Versuch, von §§ 53 ff. des Allgemeinen Verwaltungsgesetzes für das Land Schleswig-Holstein abgesehen, existiert – wiederum bereichsspezifisch – nur in Form der Entwürfe für ein allgemeines Umweltgesetzbuch.53 1. Kodifikationswürdige Fragen a) Einzelakte Nähert man sich dem Gedanken der Entfaltung der dienenden Funktion des Verfahrens durch Kodifikation, so eröffnet sich ein ganzer Kanon von Gestaltungsmöglichkeiten, die interessante Verfahrensfragen aufwerfen: Schon ein Blick auf Regelungslücken im Bereich der Einzelakte offenbart, Rn. 25 ff.; Kahl, Verwaltungsverfahrensgesetz, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann, Verwaltungsverfahren (Fn. 42), S. 67, 85; s. a. Hufen, Friedhelm, Fehler im Verwaltungsverfahren, 3. Aufl. 1998, Rn. 426. 50 Kahl, Verwaltungsverfahrensgesetz, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann, Verwaltungsverfahren (Fn. 42), S. 67, 131 ff.; bezogen auf administrative Rechtsnormen Möstl, Markus, Normative Handlungsformen, in: Ehlers, Dirk, Allgemeines Verwaltungsrecht, 13. Aufl. im Erscheinen, Siebenter Abschnitt, § 1, Rn. 18 (zitiert nach dem Typoskript) und Trips, Marco, Das Verfahren der exekutiven Rechtssetzung, 2006, S. 102 ff. 51 Kahl, Verwaltungsverfahrensgesetz, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann, Verwaltungsverfahren (Fn. 42), S. 67, 89 ff. und 127 ff. 52 s. a. Hufen, Fehler (Fn. 49), Rn. 5. 53 UGB-KomE, Entwurf der unabhängigen Sachverständigenkommission zum Umweltgesetzbuch beim Bundesministerium für Umweltschutz, Naturschutz und Reaktorsicherheit, herausgegeben vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Hg.), Umweltgesetzbuch, 1998 und Kloepfer, Michael/Rehbinder, Eckard/Schmidt-Aßmann, Eberhard/Kunig, Philip, Umweltgesetzbuch – Allgemeiner Teil, Berichte des Umweltbundesamtes, 1990; zu dessen Vorbildwirkung für allgemeine administrative Verwaltungsverfahren – Gößwein, Verwaltungs(verfahrens)recht (Fn. 1), S. 133 ff. Einen Entwurf von wissenschaftlicher Seite legte jüngst Trips, Verfahren (Fn. 50), S. 277 ff. vor.

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welche Rückwirkungen auf die Handlungsformenlehre entstehen. Die Handlungsformenlehre ist außerhalb des Bereichs des Verwaltungsaktes und des öffentlich-rechtlichen Vertrags in einem unvollendeten Zustand.54 Schon die einfachen Fragen der Notwendigkeit einer Begründung oder einer Anhörung bei Akten ohne Verwaltungsaktqualität belegt, dass weitere Differenzierungen geboten sind. Möglich wäre eine Trennung der Entscheidungen mit Regelungswirkung ohne Außenwirkung (inneradministrative Rechtsakte)55 von den sonstigen Einzelakten. Auch eine Abgrenzung der Realakte von den Informationsakten und den Emissionsakten läge nahe. Regelungswürdig wären bei den Akten ohne Verwaltungsaktqualität und ohne vertraglichen Charakter etwa: • die Anhörungspflicht für die Vornahme eingreifender Realakte, Innenrechtsakte und Informationsakte; • eine Ankündigungspflicht oder Informationspflicht, sofern die Anhörungspflicht entfällt (Umsetzung);56 • eine Begründungspflicht bei Innenrechtsakten; • die Verfahrensgrundsätze (insb. Untersuchungsgrundsatz); • sowie die Formpflicht als Regelvorgabe bei eingreifenden Innenrechtsakten und Informationsakten mit komplexem Inhalt. Anschließen ließen sich weitere spezielle Verfahrensfragen (Antragserfordernisse/Befangenheitsregelungen/Akteneinsichtsrechte und Beratungsregelpflichten).57 b) Untergesetzliche Normgebung Eine noch bedeutendere Fundgrube regelungsbedürftiger Fragen eröffnet sich, wenn man einen Blick auf die untergesetzlichen Rechtsnormen wirft.58 So heißt es zu recht: „Das deutsche Verfahrensrecht exekutivischer Normsetzung steckt noch in den Kinderschuhen“59. Gerade im Normsetzungsverfahren gilt mit besonderer Dringlichkeit die Aufforderung, die Rollenverteilung zwischen allgemeinem und bereichsspezifischem Verfahrensrecht ernst 54 Siehe nur Hufen, Fehler (Fn. 49), Rn. 478; s. nur zur Vielfalt der vorkommenden Handlungsformen Jochum, Verwaltungsverfahrensrecht (Fn. 12), S. 499. 55 Siehe dazu Wolff, Heinrich Amadeus, in: ders./Decker, Andreas, Studienkommentar VwGO/VwVfG, 2005, § 35 VwVfG, Rn. 82; § 39 VwVfG, Rn. 7. 56 Hufen, Fehler (Fn. 49), Rn. 478. 57 Hufen, Fehler (Fn. 49), Rn. 483; Hill, Hermann, Das fehlerhafte Verfahren und seine Folgen im Verwaltungsrecht, 1986, S. 475 f. 58 Ausführlich Gößwein, Verwaltungs(verfahrens)recht (Fn. 1), 2001. 59 Möstl, Handlungsformen (Fn. 50), Siebenter Abschnitt, § 1, Rn. 16.

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zu nehmen.60 Das administrative Verwaltungsverfahren ist aufgrund der ungerechtfertigten Verengung auf die Rechtsquellenlehre zu schlecht durchdrungen und unzureichend, bzw. unausgewogen detailliert kodifiziert.61 Im Bereich des modernen Planungs- und Technikrechts bestehen detaillierte Verfahrensregeln (deutlich im Bauleitplanverfahren), während in klassischen Bereichen, wie etwa bei den Rechtsverordnungen nur vereinzelt allgemeine Normierungen zu finden sind. Im bayerischen Recht wären die Art. 42 ff. LStVG zu nennen.62 Als Regelungsformen kommen dabei je nach Sachbereich drei Formen in Betracht. Erstens kann die Verfahrensregel eine Vollregelung sein, die entsprechend den allgemeinen Kollisionsregeln durch eine andere gleichrangige gesetzliche Vorschrift verdrängt werden kann. Möglich – und für manche Sonderbereiche unumgänglich – wären zweitens Soll-Bestimmungen, die nur die Grundregel normieren, von der der untergesetzliche Normgeber dann ohne ausdrückliche spezialgesetzliche Ermächtigung bei ausreichendem Grund abweichen kann. Sinnvoll wären schließlich, drittens, auch in bestimmten Bereichen Typen- oder Vorratsregelungen. Gemeint sind Regelungen, die erst zur Anwendung kommen, wenn die jeweiligen Fachgesetze auf diese Normen verweisen und diesen somit einen Anwendungsbefehl erteilen; entsprechend dem Charakter des allgemeinen Verwaltungsrechts als Angebotsordnung.63 Dabei kann der Gesetzgeber zugleich verschiedene Institute parallel zum Abruf für den Gesetzgeber, der das konkrete Verfahren normiert, bereitstellen. Blickt man auf die potentiellen Regelungsgegenstände, ist man von deren Vielfältigkeit überrascht.64 Regelungsbedürftig – und auch nicht durch die gängige Rechtsförmlichkeitsprüfung ersetzbar – wären etwa folgende Themen: 60 Ziekow, Strategien (Fn. 48), S. 39, 55; ausführlich jüngst Trips, Verfahren (Fn. 50), S. 28 ff. 61 Schmidt-Aßmann, Eberhard, Rechtsformen des Verwaltungshandelns, DVBl 1989, 533, 535 f.; Schmidt-Aßmann, Eberhard, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2004, S. 327 f., Gößwein, Verwaltungs(verfahrens)recht (Fn. 1), S. 52; Möstl, Handlungsformen (Fn. 50), Siebenter Abschnitt, § 1, Rn. 16 ff.; von Bogdandy, Armin, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 380 ff.; Pünder, Hermann, Exekutive Normsetzung in den Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland, 1995, S. 276 ff.; rechtsvergleichend auf die Öffentlichkeitsbeteiligung bezogen Frankenberger, Anke, Umweltschutz durch Rechtsverordnung, 1998, S. 249 ff. 62 Zum LVwVG Schleswig-Holstein s. Gößwein, Verwaltungs(verfahrens)recht (Fn. 1), S. 111 ff. 63 Ziekow, Strategien (Fn. 48), S. 39, 51; Wahl, Kodifizierung (Fn. 41), S. 1192, 1194; s. a. Schmidt-Preuß, Matthias, in: FS f. Hartmut Maurer, 2001, 777, 781. 64 Ausführlich dazu Trips, Verfahren (Fn. 50), S. 118 ff.

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• die Normierung von Verfahrensgrundsätzen für die Normsetzung (Transparenz, verfahrensmäßige Gleichheit);65 • die Pflicht und/oder die Berechtigung zur Beteiligung anderer öffentlicher Stellen, der Öffentlichkeit, von Interessensgruppen (Verbände) oder der Betroffenen;66 eine generelle Pflicht wäre dabei sachunangemessen. Vielmehr böten sich Soll-Vorschriften oder Vorratsregelungen auch zu Einzelfragen (Ankündigung der Auslegung, auszulegende Unterlagen, Beteiligungsfristen und Beteiligungskreis) an;67 • eine Normierung des Normsetzungsermessens,68 das offen für spezialgesetzliche Konkretisierungen ist und auch zur Frage der Vorabbindung69 Stellung nimmt; • die Einführung einer Begründungspflicht70 in Form einer Sollbestimmung; • Normierung der Beachtlichkeit, der Heilbarkeit und der Folgen bei der Verletzung von Verfahrensvorschriften (v. a. Wahl zwischen den Unbeachtlichkeits-, Rüge-, Heilungs- und Kausalitätsvarianten);71 • die konstitutive Pflicht der Einführung einer Publikation der vollständigen Norm auch nach Einzeländerungen, zumindest in elektronischer Form; • die Regelung einer zeitabhängigen Überprüfungspflicht72 oder eines Außerkrafttretens in Form einer Vorratsnormierung; • zur Frage des Verweises auf spezielle Rechtsgrundlagen, insbesondere auf private Normkomplexe.73 65

Hufen, Fehler (Fn. 49), Rn. 452. Möstl, Handlungsformen (Fn. 50), Siebenter Abschnitt, § 1, Rn. 19; Pünder, Normsetzung (Fn. 61), S. 276 ff. 67 Möstl, Handlungsformen (Fn. 50), Siebenter Abschnitt, § 1, Rn. 21; SchmidtAßmann, Ordnungsidee (Fn. 51), S. 328. 68 Herdegen, Matthias, Gestaltungsräume bei administrativer Normgebung – Ein Beitrag zu rechtsformabhängigen Standards für die gerichtliche Kontrolle von Verwaltungshandeln, AöR 114 (1989), 607; Möstl, Handlungsformen (Fn. 50), Siebenter Abschnitt, § 1, Rn. 26; Wolff, Heinrich Amadeus, in: Gallwas, Hans-Ullrich/ ders., Polizeirecht, 2004, S. 247, Rn. 903. 69 Siehe dazu Hufen, Fehler (Fn. 49), Rn. 458. 70 Siehe dazu nur von Danwitz, Thomas, Rechtsverordnungen, Jura 2002, 93, 100. 71 Siehe dazu Hill, Verfahren (Fn. 57), S. 66 ff.; Ossenbühl, Fritz, Eine Fehlerlehre für untergesetzliche Normen, NJW 1986, 2805 ff.; nur Hufen, Fehler (Fn. 49), Rn. 474. 72 Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee (Fn. 51), 2004, S. 328; Möstl, Handlungsformen (Fn. 50), Siebenter Abschnitt, § 1, Rn. 25. 73 Gößwein, Verwaltungs(verfahrens)recht (Fn. 1), S. 179 ff. 66

Die dienende Funktion der Verfahrensrechte

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Sollten diese Beispiele als Beleg der Notwendigkeit nicht reichen, können weitere Stichpunkte nachgeschoben werden, wie etwa die Pflicht zur Nennung der Eingriffsgrundlage (über die bestehenden Regeln hinaus), die Zurückverweisung auf die Norm bei bewehrten Verwaltungsakten (vgl. Art. 4 Abs. 2 LStVG), das Regelinkrafttreten, die Beschlussfassungsformen (Umlaufverfahren/Mehrheitsverhältnisse/Vertretungsregeln), ggf. eine Eilnormsetzung mit beschränkter Geltungsdauer oder Bestätigungspflichten in regulären Genehmigungsfragen. Materielle Fragen, wie die des Ermächtigungsadressaten oder der Rückwirkungsmöglichkeiten, des Bestimmtheitsund Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes könnten als Annexregelungen aufgenommen werden. Einige Fragen ließen sich normtypenübergreifend regeln, andere wiederum nicht.74 IV. Schluss Das Verwaltungsverfahrensrecht ist in seinem Wirken auf den Abschluss des Verwaltungsverfahrens hin ausgerichtet. Diese Funktion vermittelt dem Verfahrensrecht aber nicht den Status des Rechts eines minderen Werts. Ein sachgerecht ausgestaltetes Verfahren bedeutet keine unnötige Bürokratie, sondern erleichtert das Erreichen eines sachlich richtigen Ergebnisses. Dem eigenen Charakter der Verfahrensrechte ist einerseits durch die Ausweitung der verwaltungsverfahrensrechtlichen Kodifikationen und andererseits durch eine sachgerechte teleologische Auslegung bestehender Verfahrensvorschriften, insbesondere der Fehlerfolgenregelungen gerecht zu werden.

74 Selbst im Bereich der Verwaltungsvorschriften kämen einige allgemeine Regelungen in Betracht (Definition, Beteiligungsmöglichkeiten, Bekanntgabeformen) – vgl. Möstl, Handlungsformen (Fn. 50), Siebenter Abschnitt, § 1, Rn. 28.

VII. Steuer-, Arbeits- und Wirtschaftsrecht

Verbandsautonomie und Gemeinschaftsrecht im Sport Zur Anwendung des primärrechtlichen Wirtschaftsrechts am Beispiel der Transfer-, Vertrags- und Anti-Dopingbestimmungen Von Ulrich Becker I. Einführung 1. Mit seiner berühmten Bosman-Entscheidung1 hat der EuGH die Welt des Sports, so lassen viele Reaktionen vermuten, erschüttert.2 Er sorgte nicht nur für eine durchgreifende Änderung der Regelungen, die bis dahin für Spielertransfers im Profisport galten.3 Sondern er sah sich zugleich der Kritik ausgesetzt, die Eigenheiten des Sports zu missachten, um einseitig die wirtschaftlichen Freiheiten zu betonen, die dem europäischen Integrationsprozess zugrundeliegen. Man warf ihm vor, die Verwüstung eines bis dahin weitgehend gesellschaftlicher Selbststeuerung überlassenen Feldes achtlos in Kauf zu nehmen. Auch der Jubilar hat sich kritisch geäußert und zu dem Bosman-Urteil angemerkt, es stelle „die gesellschaftliche und juristische Bedeutung des Fußballsports gleichsam, auf den Kopf“.4 Diese und weitere ablehnende Stellungnahmen waren schon deshalb verständlich, weil die Entscheidung die ganz grundsätzliche Einschätzung, ein Lebensbereich solle seinen eigenen Gesetzlichkeiten folgen, in Frage gestellt hat. Sie kam, angesichts der fehlenden sportrechtlichen Kompetenzen der EG, für viele unerwartet.5 Sie erinnert damit an ein Phänomen, das Ökonomen als einen externen Schock 1

EuGH v. 15.12.1995, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg.1995, S. I-4921. Arens, Der Fall Bosman – Bewertung und Folgerungen aus Sicht des nationalen Rechts, SpuRt 1996, S. 39 ff.; Fischer, EG-Freizügigkeit und bezahlter Sport, Inhalt und Auswirkungen des Bosman-Urteils des EuGH, SpuRt 1996, S. 34 ff.; Gramlich, Grundfreiheiten contra Grundrechte im Gemeinschaftsrecht, Überlegungen aus Anlaß der EuGH-Entscheidung „Bosman“, DÖV 1996, S. 801 ff.; Hilf, Das Bosman-Urteil des EuGH – Zur Geltendmachung der EG-Grundfreiheiten für den Berufsfußball, NJW 1996, S. 1169 ff.; Palme, Das Bosman-Urteil des EuGH: Ein Schlag gegen die Sportautonomie?, JZ 1996, S. 238 ff. 3 Vgl. unten, III. 1. a). 4 Scholz/Aulehner, Die „3+2“-Regel und die Transferbestimmungen des Fußballsports im Lichte des europäischen Gemeinschaftsrechts, SpuRt 1996, S. 44. 2

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bezeichnen,6 ein plötzlich von außen einwirkendes Ereignis, das die Grundlagen eines Systems in Erschütterung geraten lässt. Dass der EuGH auch in anderen Materien ähnlich durchgreifende Entscheidungen getroffen und lange bestehenden Überzeugungen den Boden entzogen hat,7 vermag dabei vermutlich die Kritiker wenig zu trösten. Mittlerweile sind rund zehn Jahre vergangen, die Schockwirkung ist verflogen. Die Transferbestimmungen wurden geändert. Der EuGH hat einige weitere Entscheidungen zum Sportrecht getroffen,8 deutsche Gerichte haben die Rechtsprechung aufgenommen.9 Es ist damit Zeit, sich nicht nur die Auswirkungen der Rechtsprechung noch einmal vor Augen zu halten,10 sondern auch etwas grundsätzlicher der Bedeutung der Verbandsautonomie im Gemeinschaftsrecht nachzugehen. Dies soll nachfolgend in einem ersten Schritt (unten II.) geschehen, um in einem zweiten auf neuere Entwicklun5 Die vorangegangenen Entscheidungen des EuGH mit sportrechtlichen Bezügen waren nicht nur im Ergebnis weitaus weniger spektakulär, sondern möglicherweise auch etwas in Vergessenheit geraten, vgl. EuGH v. 12.12.1974, Rs. 36/74 (Walrave), Slg. 1974, S. 1405; v. 14.7.1976, Rs. 13/76 (Dona), Slg. 1976, S. 1333. 6 Vgl. Baker/Schmitt, Die makroökonomischen Wurzeln der hohen Arbeitslosigkeit in Europa, WSI-Mitteilungen 1999, S. 839, 841 ff. 7 Als Parallele sei auf die Rechtsprechung des EuGH zu grenzüberschreitenden Gesundheitsleistungen hingewiesen; diese betrifft zwar nicht die gesellschaftliche Selbstregulierung, sondern die Bedeutung mitgliedstaatlicher Zuständigkeiten, entfaltet aber ähnliche Wirkungen. Vgl. EuGH v. 28.4.1998, Rs. C-158/96 (Kohll), Slg. 1998, S. I-1931, und Rs. C-120/95 (Decker), Slg. 1998, S. I-1831; v. 12.7.2001, Rs. C-157/99 (Smits und Peerbooms), Slg. 2001, S. I-5473; v. 13.5.2003, Rs. C-385/99 (van Riet und Müller-Fauré), Slg. 2003, S. I-4509; v. 16.5.2006, Rs. C-372/04 (Watts), n. v. (im Internet unter http://curia.europa.eu). Dazu nur Becker, Gesetzliche Krankenversicherung im Europäischen Binnenmarkt, NJW 2003, S. 2272 ff. m. w. N.; ferner jetzt ausführlich Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip im europäischen Verfassungsverbund, 2003, S. 508 ff.; Harich, Das Sachleistungsprinzip in der Gemeinschaftsrechtsordnung, 2005, S. 43 ff. und Fahlbusch, Ambulante ärztliche Behandlung in Europa, 2006, S. 253 ff. 8 EuGH v. 11.4.2000, Rs. C-51/96 u. C-191/97 (Deliège), Slg 2000, S. I-2549 ff., und EuGH v. 13.04.2000, Rs. C-176/96 (Lehtonen), Slg. 2000, S. I-2681 m. Anm. Becker, RIW 2000, S. 554; v. 8.5.2003, Rs. C-438/00 (Deutscher Handballbund), Slg. 2003, S. I-4135; v. 12.04.2005, Rs. C-265/03 (Simutenkow), n. v.; zuletzt v. 18.7.2006, Rs. C519/04 P (Meca-Medina), n. v. (im Internet unter http://curia. europa.eu oder http://europa.eu.int/eur-lex/). Vgl. dazu Streinz, Die Rechtsprechung des EuGH nach dem Bosman-Urteil, in: Tettinger (Hrsg.), Sport im Schnittfeld von europäischem Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht, 2001, S. 27 ff. 9 Vgl. BAGE 84, 344 (Kienass); BGH, NJW 2000, S. 1028. Dazu Arens, Der deutsche Bosman, SpuRt 1997, S. 126 ff.; Stopper, Deutsche Rechtsprechung zu Transfer-Zahlungen seit „Bosman“ – Übersicht und Kritik, SpuRt 2000, S 1 ff. 10 Vgl. dazu auch Streinz, Die Auswirkungen des EG-Rechts auf den Sport, SpuRt 1998, S. 1 ff. und 45 ff.; Krogmann, Sport und Europarecht, 2001; Summerer, Die neue Struktur des Profi-Fußballs, SpuRt 2001, S. 263 ff.; Fees, Bosman und die Folgen, ZEuP 2005, S. 365 ff.

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gen hinsichtlich der Regelungen von Spielertransfers, des Spielerkaders und der Dopingbekämpfung einzugehen (unten III.). II. Grundfragen 1. Zur Verrechtlichung und Verwirtschaftlichung des Sports a) Wer die Sportberichterstattung in den Medien verfolgt, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass dort zunehmend rechtliche Fragen behandelt werden: Welcher Sportler wie lange unter welchen Voraussetzungen wegen Dopings gesperrt werden soll oder darf, ob Dopingverstöße zu vertragsrechtlichen Konsequenzen oder ungerechtfertigte Sperren zu Schadensersatzansprüchen führen können, wer überhaupt zuständig sein soll für die Bekämpfung des Dopings, wie Sportveranstaltungen vermarktet werden und die Rechte an ihnen geschützt werden können etc. Parallel dazu wächst die sportrechtliche Literatur an,11 unabhängig von der Frage, ob man Sportrecht als eigenständiges juristisches Fach ansehen mag oder nicht. Nicht alle sind von der Entwicklung beglückt.12 Wenn man aber eine Verrechtlichung befürchtet oder eher schon bedauert, dann bleibt die Frage, welche negativen Effekte damit gemeint sein sollen.13 Man mag insofern zunächst einwenden, dass zunehmend der Versuch unternommen wird, für alle anfallenden Entscheidungen Regeln zu formulieren, deren Anwendung in einem vorher bestimmten Verfahren überprüfbar sein soll – ähnlich der Klage, dass ein ständig weiter wucherndes Normendickicht nicht unbedingt der Gerechtigkeit dient, die Balance zwischen der notwendigerweise kleinteiligen Konkretisierung von Gerechtigkeitsvorstellungen im Einzelfall und dem dabei gefundenen Ergebnis nicht mehr stimmt.14 Da aber eben über 11

So sind in den letzten Jahren sowohl im Privatrecht als auch im öffentlichen Recht Habilitationsschriften zum Sportrecht erschienen, vgl. Adolphsen, Internationale Dopingstrafen, 2003; Nolte, Staatliche Verantwortung im Bereich Sport, 2004. 12 Vgl. das Eingangszitat bei Streinz, Die Auswirkungen des EG-Rechts auf den Sport, SpuRt 1998, S. 1, wonach die „Juristen alles umhauen“ (so der damalige UEFA-Generalsekretär). 13 Vgl. zu der oft weiten, dann aber wenig aussagefähigen Begriffsverwendung Teubner, Verrechtlichung – Begriffe, Merkmale, Grenzen, Auswege, in: Kübler (Hrsg.), Verrechtlichung von Wirtschaft, Arbeit und sozialer Solidarität, 1985, S. 289 ff. 14 Vgl. Schlink, Der Preis der Gerechtigkeit, in: Dreier (Hrsg.), Rechts- und staatstheoretische Schlüsselbegriffe: Legitimität, Repräsentation, Freiheit; Symposion für Hasso Hofmann zum 70. Geburtstag, 2005, S. 9 ff. Dabei ist die Erkenntnis, dass mit der Auflösung sozialer Beziehungen der Bedarf rechtlicher Regelungen ansteigt, weil Entscheidungen nicht mehr aufgrund rollengerechter Machtunterschiede, sondern auf der Grundlage universelle Gleichheit anerkennender Zuständigkeiten getroffen werden müssen, keineswegs neu; vgl. Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Bd. 2, 5. Aufl. 1894, S. 141 ff.

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das, was gerecht sein soll, nicht unbedingt Konsens besteht, ist dafür eine Lösung nicht in Sicht. Festlegungen inhaltlicher und prozeduraler Art bleiben erforderlich. Das werden natürlich auch Sportler nicht bestreiten, denn schließlich ist gerade dem Sport das Handeln nach Regeln alles andere als fremd.15 Unbehagen weckt deshalb auch weniger die Annahme, es würde zunehmend regelhaft entschieden, als eher die, den Entscheidungen lägen andere als sportimmanente Motive zugrunde.16 b) Die Gefahr, das dem Sport Eigene zu übersehen, liegt aber vor allem in dessen Professionalisierung. Sie wird durch die im Sport beteiligten Akteure selbst vorangetrieben. Ohne mit ihr bereits allgemein Kritik verbinden zu wollen, hat sie doch Folgen. Denn einerseits erhöht sie den Bedarf an Streitentscheidungen, gerade weil Sport nun zunehmend die Funktion hat, den Lebensunterhalt zu sichern. Mit anderen Worten, es führt kein Weg an professioneller Streitentscheidung mehr vorbei und damit an den Eigenheiten des Rechtssystems, die in erster Linie in Verkürzungen und Formalisierungen der Realität liegen. Zugleich bedingt die Professionalisierung inhaltlich gesehen eine Berücksichtigung ökonomischer Zusammenhänge und Motive, gerade weil wirtschaftlich gehandelt wird. Anders wären im Übrigen die Gehälter für manche Profisportler nicht zu legitimieren: Sie sind Folge der Vermarktung des Sports, und auch zumindest zum Teil zulässigerweise aus Rundfunkgebühren zu finanzieren, weil insoweit der Zuschauer durch Einschalten des Empfangsgeräts sein Interesse bekunden und seine Akzeptanz zum Ausdruck bringen kann.17 Ihre Aufrechterhaltung aber durch die Übernahme von Bürgschaften der öffentlichen Hand sichern zu wollen, wie es – mit dem Argument, nur bei Zahlung hoher Spielergehälter könne in Deutschland angesichts des internationalen Wettbewerbs ein hohes Niveau sportlicher Veranstaltungen aufrechterhalten werden – ernsthaft gleich von mehreren Politikern großer Parteien gefordert worden war, zeigt, zu welchen Absurditäten es führen kann, wenn die wirtschaftlichen Zusammenhänge ausgeblendet werden. 15 Max Weber (R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 3. Aufl. 1968, S. 291, 337) hatte übrigens zum Skat (der allerdings weithin nicht als Sport angesehen wird) gemeint, dessen Regeln ließen sich – dem staatlich gesetzten Recht entsprechend – verschieden betrachten, etwa im Sinne einer „allgemeinen Skatrechtslehre“, wie es auch Fragen gebe, die der „Skatjurisprudenz“ angehören. 16 Systemtheoretisch gesehen geht es also um die Frage, inwieweit Recht, das mit gesellschaftlicher Wirklichkeit entsprechend seinen eigenen Funktionszusammenhängen verfährt, gesellschaftsadäquat ist, vgl. im Hinblick auf die Rechtsbegriffe Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, 1974, S. 49 ff. 17 Ohne übersehen zu wollen, dass bei zwangsweise erhobenen Gebühren nicht nur ein Minderheitenschutz erforderlich ist, sondern angesichts eines umfassenden Programmauftrags auch die Finanzierung anderer Sendungen gesichert bleiben muss.

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c) Grundsätzlich schließen sich also die Beachtung ökonomischer und sportlicher Regeln keineswegs gegenseitig aus. Es wird vielmehr im Sport auch nach wirtschaftlichen Maximen gehandelt. Soll aus diesem Umstand auf die Anwendbarkeit oder auf die Nichtanwendbarkeit des Wirtschaftsrechts geschlossen werden? Diese Frage nach der Bedeutung bereichsspezifischer Eigenheiten stellt sich im Übrigen auch für andere Betätigungen bzw. Regelungsmaterien – etwa im Zusammenhang mit dem Kulturgüterschutz18 oder medizinischen Behandlungen19. aa) Natürlich wird nach wie vor Sport ohne wirtschaftliche Interessen betrieben. Im Bereich des Breiten- oder Amateursports zeigen sich zwar heute durchaus Wirkungen der Professionalisierung. So sinkt etwa im Fußball das Interesse der Öffentlichkeit an unterklassigen Spielen wegen der Fülle von Übertragungen hochklassiger Begegnungen.20 Das ändert aber nichts daran, dass Amateure den Sport aus anderen Gründen als Profis betreiben und dass mangels wirtschaftlichen Handelns das Wirtschaftsrecht insofern keine Anwendung findet. Nicht immer einfach zu sagen ist allerdings, wann dies der Fall ist, wo die Grenzen zu ziehen sind.21 Richtigerweise werden auch die Wettkämpfe der Nationalmannschaften vom Anwendungsbereich des Wirtschaftsrechts ausgenommen,22 und zwar völlig ungeachtet der Frage, welchen wirtschaftlichen Wert diese Wettkämpfe haben.23 Denn deren Zielsetzung ist, wie sich am Beispiel der Fußballweltmeisterschaft 2006 belegen lässt, eine eigene,24 und soweit diese reicht, sind wirtschaftliche Motive zurückgedrängt.25 18 EuGH v. 10.12.1968, Rs. 7/68 (Kommission gg. Italien), Slg. 1968, S. 634; vgl. auch Schwarze, Der Schutz nationalen Kulturguts im Binnenmarkt, JZ 1994, S. 111 ff. 19 Dazu bereits EuGH v. 7.2.1984, Rs. 238/82 (Duphar), Slg. 1984, S. 523. 20 Nachweisen ließe sich das durch eine Erhebung, wie sich die sog. Entschädigung für Spieler in den Verbands- und Landesligen in den letzten Jahren verändert hat, wobei hier allerdings ein Grenzbereich zwischen Amateur- und Profisport betroffen ist. 21 Unsicherheiten prägen insofern gerade auch die Entscheidung des EuGH Rs. C-51/96 (Deliège) (Fn. 8), Slg 2000, S. I-2549, Rdnr. 36 ff.; dazu Becker, RIW 2000, S. 554 ff. 22 So schon EuGH Rs. C-415/93 (Bosman) (Fn. 1), Slg.1995, S. I-4921. 23 Dass auch hier wirtschaftliche Motive einen immer stärkeren Einfluss gewinnen, ließ sich unlängst einer Zeitungsmeldung entnehmen, wonach dem Vermarkter der Spiele der argentinischen Nationalmannschaft zugesichert wurde, dass aus einer Liste von 30 Spielern mindestens sieben auf dem Platz stehen müssen, FAZ v. 5.9.2006, S. 32. 24 Unzutreffend deshalb Thöny, Keine Zukunft für Nationalmannschaften?, SpuRt 1999, S. 177 ff.; dagegen auch Streinz, EG-Freizügigkeit für Sportler, in: Studiengesellschaft für Wirtschaft und Recht (Hrsg.), Sport und Recht, 2005, S. 71, 80 f.

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bb) Wenn Sport (semi-)professionell betrieben oder vermarktet wird, ist die Lage eine andere. Je mehr sportliche Aktivitäten nicht mehr selbstbezogen sind, der Befriedigung sozialer Bedürfnisse und eigener körperlicher Ertüchtigung dienen, sondern einen eigenen Markt schaffen, desto stärker sind sie wirtschaftlich ausgerichtet und desto weniger können sie dann der Anwendung von Vorschriften, die zur Regelung wirtschaftlicher Aktivitäten erlassen worden sind, entzogen bleiben. Man könnte zwar fordern, der Gemengelage durch die Schaffung von Sportsonderrecht Rechnung zu tragen. Sehr viel näher liegt aber die Anwendung der Rechtsnormen, die zur Regulierung wirtschaftlichen Handelns erlassen worden sind. Denn diese sind grundsätzlich auf entsprechende Tätigkeiten abgestimmt.26 Das schließt die Berücksichtigung des Sportlichen nicht aus. Daran geäußerter Kritik ist entgegenzuhalten, dass die Anwendung des Wirtschaftsrechts Folge der staatlichen Zurückhaltung ist, die grundsätzlich respektiert, wie Vereine und Verbände den sportlichen Wettbewerb organisieren, also auch, ob wirtschaftliche Aspekte dabei eine Rolle spielen oder nicht.27 2. Grundfreiheitsbindung der Verbände a) In einer relativ frühen, aus dem Jahre 1974 stammenden Entscheidung hat der EuGH bekanntlich bereits zu der Grundrechtsbindung von Sportverbänden Stellung genommen.28 Die dort angenommen Erstreckung der Bindung auf „kollektive Regelungen“29 wurde später mehrfach bestätigt, unter anderem auch durch die Bosman-Entscheidung.30 Zur Begründung verwies der Gerichtshof darauf, dass die Durchsetzung der Grundfreiheiten gefährdet wäre, wenn anstelle des Staates privatrechtliche Einrichtungen Hemmnisse für die Freizügigkeit aufstellten und dies nicht untersagt werden könnte;31 nähere oder grundlegendere Ausführungen fehlen. 25

Genauer gesagt schließt das nicht das Wirtschaftsrecht bei der Vermarktung, sondern bei den Zugangsregelungen aus, vgl. zu dieser Differenzierung unten, II. 3. a) bb). 26 So ist es z. B. auch sachgerecht, Profifußballer unabhängig von der Höhe des Entgelts als Arbeitnehmer anzusehen, vgl. dazu BAG, NJW 1980, 470; LAG Hamm, DB 1990, 739; BSGE 16, 98; Hilf/Pache, Das Bosman-Urteil des EuGH, NJW 1996, S. 1169, 1176; vgl. auch Philipp, Rechtliche Schranken der Vereinsautonomie und der Vertragsfreiheit im Einzelsport, 2004, S. 94 ff. 27 Während umgekehrt der Sport nicht staatlich vor der Vermarktung geschützt werden kann oder gar muss, vgl. Steiner, Sport und Freizeit, in: HStR IV, 3. Aufl. 2006, § 87 Rdnr. 6. 28 EuGH Rs. 36/74 (Walrave) (Fn. 5), Slg. 1974, S. 1405. 29 EuGH, a. a. O., Rdnr. 16/19. 30 EuGH Rs. C-415/93 (Bosman) (Fn. 1), Slg.1995, S. I-4921, Rdnr. 10.

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b) Nicht anders als im nationalen Verfassungsrecht wurde und wird im Gemeinschaftsrecht über die Frage, ob und wie Private durch die Grundfreiheiten gebunden werden,32 gestritten.33 Das betrifft sowohl die Herleitung einer Adressatenstellung wie auch deren Wirkung.34 aa) Zum Teil wird, zumindest hinsichtlich einzelner Freiheiten, eine unmittelbare Bindung Privater aus dem effet utile-Gedanken abgeleitet.35 Aber abgesehen davon, dass mit diesem Auslegungstopos fast grenzenlos argumentiert werden kann, sprechen die besseren Argumente dafür, grundsätzlich nur Staaten und deren Einrichtungen als Adressaten der Grundfreiheiten anzusehen. Denn die im EGV enthaltenen Grundfreiheiten sind schon nach ihrem Wortlaut staatengerichtet. Diese Formulierung entspricht ihrer Funktion, Räume für wirtschaftliche Betätigungen zu öffnen. Die funktionale Sicht erfordert im Übrigen auch, alle Grundfreiheiten im Hinblick auf 31 EuGH Rs. 36/74 (Walrave) (Fn. 5), Slg. 1974, S. 1405, Rdnr. 16/19: „Das Verbot der unterschiedlichen Behandlung gilt nicht nur für Akte der staatlichen Behörden, sondern erstreckt sich auch auf sonstige Maßnahmen, die eine kollektive Regelung im Arbeits- und Dienstleistungsbereich enthalten. Denn die Beseitigung der Hindernisse für den freien Personen- und Dienstleistungsverkehr – eines der in Artikel 3 Buchstabe c des Vertrages aufgeführten wesentlichen Ziele der Gemeinschaft – wäre gefährdet, wenn die Beseitigung der staatlichen Schranken dadurch in ihren Wirkungen wieder aufgehoben würde, dass privatrechtliche Vereinigungen oder Einrichtungen kraft ihrer rechtlichen Autonomie derartige Hindernisse aufrichteten.“ 32 Die weiterhin immer aktuelle Frage ist die nach der horizontalen Direktwirkung von Richtlinien, vgl. zuletzt nur EuGH v. 22.11.2005, Rs. C-144/04 (Mangold), n.v; Gas, Die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien zu Lasten Privater im Urteil „Mangold“, EuZW 2005, S. 737 ff.; Herrmann, Die negative unmittelbare Wirkung von Richtlinien in horizontalen Rechtsverhältnissen, EuZW 2006, S. 69 ff. 33 Zuletzt im Nachgang zu der Entscheidung des EuGH v. 6.6.2000, Rs. C-281/98 (Angonese), Slg. 2000, S. I-4139 Rdnr. 30 ff.; vgl. dazu Forsthoff, Drittwirkung der Grundfreiheiten: Das EuGH-Urteil Angonese, EWS 2000, S. 389 ff.; Frenz, Verpflichtungen Privater durch Richtlinien und Grundfreiheiten, EWS 2005, S. 104 ff.; Streinz/Leible, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, EuZW 2000, S. 459 ff.; Michaelis, Unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten – Zum Fall Angonese, NJW 2001, S. 1841 f. 34 Wobei beides nicht verwechselt werden sollte mit der Bindung des Privatrechtsgesetzgebers, vgl. dazu Roth, Drittwirkung der Grundfreiheiten?, in: FS für Everling, 1995, S. 1231 ff. 35 Vgl. Schaefer, Die unmittelbare Wirkung des Verbots der nichttarifären Handelshemmnisse (Art. 30 EWGV) in den Rechtsbeziehungen zwischen Privaten, S. 154 ff., allerdings unter Annahme von Durchbrechungen wegen der den Privaten zustehenden Grundrechte, S. 210 ff.; noch enger Steindorff, Drittwirkung der Grundfreiheiten im europäischen Gemeinschaftsrecht, in: FS für Lerche, 1993, S. 575, 581 ff.; vgl. auch Parpart, Die unmittelbare Bindung Privater an die Personenverkehrsfreiheiten im europäischen Gemeinschaftsrecht, 2003 (unter dem Vorbehalt einer umfassenden Gesamtabwägung).

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die Bestimmung ihrer Adressaten einheitlich auszulegen.36 Das schließt eine Bindung Privater nicht aus, macht sie aber begründungsbedürftig. Sie kann vor allem in Betracht kommen bei der staatlichen Lenkung privater Stellen37 oder aufgrund einer Sonderstellung des Privaten38. Ein anderer Begründungsstrang ist die Herleitung einer Bindung Privater über Schutzpflichten,39 wie sie mittlerweile vom EuGH aus einzelnen Grundfreiheiten abgeleitet worden sind.40 Allerdings unterscheidet sich dieser Ansatz von einer Drittwirkung insofern, als konsequenterweise auf dessen Grundlage nur ein Anspruch gegen einen Hoheitsträger auf Schutz – sei es durch Gesetz, sei es durch Einzelakte – begründet werden kann. bb) Wenn Private gebunden sein sollen, ist weiterhin die Reichweite dieser Bindung zu klären. Das Erfordernis ist aus dem nationalen Verfassungsrecht bekannt, und es wird in Deutschland vor allem unter den Stichwörtern unmittelbare oder mittelbare Bindung diskutiert.41 Wenn auch im Gemeinschaftsrecht die Bezeichnung als mittelbare Bindung deshalb weniger passt, weil die im Privatrechtsverkehr anwendbaren Rechtsnormen den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen entstammen, bleibt doch die dahinter stehende Frage ohne weiteres relevant, nämlich die, wie der Grundsatz der Privat36 Wie sich ohnehin zu Recht die Erkenntnis durchsetzt, dass die Herausarbeitung einer allgemeinen Grundfreiheitsdogmatik geboten ist, vgl. dazu nur Jarass, Elemente einer Dogmatik der Grundfreiheiten, EuR 1995, S. 202 ff., und (als II) EuR 2000, S. 705 ff.; Classen, Auf dem Weg zu einer einheitlichen Dogmatik der EGGrundfreiheiten?, EWS 1995, S. 97 ff.; zum Stand Ehlers, Allgemeine Lehren, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2. Aufl. 2005, § 7. 37 Dazu Becker, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2000, Art. 28 EGV, Rdnr. 86 f. 38 Vgl. zu quasistaatlichen Funktionen intermediärer Gewalten Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, S. 263 ff. 39 In diesem Sinn Kingreen, Grundfreiheiten, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 631, 678 ff. 40 EuGH v. 9.12.1997, Rs. C-265/95 (Kommission/Frankreich), Slg. 1997, S. I-6959. Vgl. dazu Barnard/Hare, MLR 1997, S. 406 ff.; Dubouis, RFD admin. 1998, S. 120 f.; Meurer, Verpflichtung der Mitgliedstaaten zum Schutz des freien Warenverkehrs, EWS 1998, S. 196 ff.; Schwarze, Zum Anspruch der Gemeinschaft auf polizeiliches Einschreiten der Mitgliedstaaten bei Störungen des grenzüberschreitenden Warenverkehrs durch Private, EuR 1998, S. 53 ff.; Szczekalla, Grundfreiheitliche Schutzpflichten – eine „neue“ Funktion der Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts, DVBl. 1998, S. 219 ff. 41 Vgl. nur Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, 2. Aufl. 1997; zum gegenwärtigen Stand der Diskussion Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Vorb. Rdnr. 96 ff. Aktuelle Bedeutung gewinnt die Diskussion im Zusammenhang mit den neuen, weitgehend auf Gemeinschaftsrecht (jedenfalls vollständig auf Gemeinschaftspolitik) beruhenden Antidiskriminierungsregelungen, dazu nur Jestaedt und Britz, Diskriminierungsschutz und Privatautonomie, VVDStRL H 64 (2005), S. 299 ff.

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autonomie mit einer Bindung an die Grundfreiheiten vereinbart werden kann. So wurde vorgeschlagen, dass Private nur an das Diskriminierungs-, nicht aber an ein Beschränkungsverbot gebunden sind.42 Das wäre eine Differenzierung nach der Stärke des Eingriffs. Überzeugender ist aber, je nach Stellung des Privaten zu unterscheiden und damit für die konkret zu beurteilenden Sachverhalten auf die Begründung für die Bindung selbst zurückzukommen. c) Eine allgemeine Erklärung für diese Bindung lautet Ausgleich „sozialer Macht“. Dahinter verbergen sich allerdings verschiedene Phänomene, wie überhaupt nicht nur die rechtliche Bewältigung einer solchen Machtposition umstritten ist, sondern auch die Unterstellung, diese läge in bestimmten Konstellationen quasi naturgegeben vor und erfordere deshalb Korrekturen des rechtsgeschäftlichen Handelns der innerhalb entsprechender Machtbeziehungen agierender Personen. aa) Zunächst lässt sich ein Korrekturbedarf aus der Eigenheit bestimmter Privatrechtsbeziehungen ableiten. Das BVerfG hat insofern mit einem strukturellen Ungleichgewicht innerhalb solcher Beziehungen argumentiert.43 Den wohl praktisch wichtigsten Unterfall stellen die Arbeitsverhältnisse dar,44 wobei eine Drittwirkung auch in anderen europäischen Ländern bekannt ist.45 Denkbar ist aber auch eine nichtwirtschaftliche Begründung, so vor allem bei Beziehungen zwischen Ehegatten und Familienmitgliedern.46 Zumindest dann, wenn Außenbeziehungen mit wirtschaftlicher Relevanz in Rede stehen, kann die besondere familiäre Verbundenheit zu Situationen führen, in denen durch eine Bindung an Grundrechte der privatautonomen Gestaltung Grenzen gezogen werden. Dass darin eine besondere Problematik steckt, soweit die freiheitliche Bedeutung individueller Willensentschlüsse anerkannt werden soll, liegt auf der Hand. bb) Für die Bindung von Sportvereinen und Sportverbänden liegen die Dinge aber durchaus anders. Ähnlich wie bei der Unterscheidung von indi42 Das wäre eine mögliche Erklärung für EuGH v. 6.6.2000, Rs. C-281/98 (Angonese), Slg. 2000, I-4139; vgl. aber auch Schweitzer, Angonese und die Privatautonomie, in: FS für Musielak, 2004, S. 523 ff. 43 BVerfGE 81, 242 (Handelsvertreter). 44 BAG, NZA 1998, S. 207; NZA 1990, S. 144; Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, 5. Aufl. 1998, § 7 I; Richardi, in: Richardi/Wlotzke (Hrsg.), Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Bd. 1, 2. Aufl. 2000, § 10 Rdnr. 8 ff. 45 Vgl. etwa Nießen, Die Wirkung der Grundrechte im deutschen und italienischen Privatrecht, 2005. 46 BVerfGE 89, 214 (Bürgschaftsentscheidung); BVerfGE 103, 89 (Eheverträge); vgl. dazu von Westphalen, Das Recht des Stärkeren und seine grundsätzliche Beschränkung, MDR 1994, S. 5 ff.; Röthel, Richterliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen, NJW 2001, S. 1334 f.; vgl. auch Canaris, Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, 1997.

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viduellen und kollektiven Arbeitsbeziehungen wird nämlich im Sport der gesellschaftlichen Selbstregulierung eine besondere Stellung eingeräumt. Aus guten Gründen verzichtet der Staat weitgehend auf Regulierung. Er überlässt den Verbänden, die nicht nur über besonderes Fachwissen verfügen, sondern genuin gesellschaftliche Betätigungen organisieren, im umfassenden Maße die Regelung aller Angelegenheiten, die mit der Durchführung sportlicher Wettbewerbe verbunden sind. Zwar unterwirft sich der Sportler diesen verbandsautonomen Regelungen aufgrund eines eigenen Willensentschlusses, wobei hier nicht darauf eingegangen werden soll, wie dies im einzelnen privatrechtlich konstruiert werden kann.47 Es gilt aber das Ein-Verbands-Prinzip (oft als Ein-Platz-Prinzip bezeichnet)48: Nur wenn für alle Beteiligten einheitlich geltende Regelungen anerkannt werden, lässt sich der sportliche Wettbewerb geordnet durchführen. Praktisch gesehen wird damit der Sportler gezwungen, sich den Verbandsregeln zu unterwerfen; individuelle Verhandlungsprozesse sind ausgeschlossen. Die Verbände besitzen insofern zugleich das Recht zu einer Quasi-Gesetzgebung. Diese kann inhaltlich ebenso wenig wie ihre Anwendung im Einzelnen staatlich überprüft werden, wenn die Vereinsautonomie nicht ausgehöhlt werden soll. Konsequenterweise scheidet deshalb auch eine volle inhaltliche Kontrolle sportgerichtlicher Entscheidungen durch staatliche Gerichte aus, gefordert werden in erster Linie nur prozedurale Sicherungen.49 Damit erweist sich der Sport als ein Betätigungsfeld, das weitgehend frei von staatlicher Gesetzgebung bleibt. Ähnlich wie das Internet50 wird der Sport in einem Raum betrieben, in dem die Rechtsbeziehungen privatrechtlich geformt sind. Das ist in Zeiten der zunehmenden internationalen Verflechtung, in denen die Regelungsmöglichkeiten der Staaten faktisch abnehmen, internationaler Ersatz aber zum Teil nicht möglich, in jedem Fall schwerer durchzusetzen ist, zugleich ein wieder an Bedeutung gewinnendes Regelungsmodell. Der Anspruch des Verfassungsstaats, eine Freistellung von grundlegenden rechtlichen Vorgaben in keinem Raum zu dulden, bleibt aber bestehen. Grundrechte und Grundfreiheiten haben die Funktion, die freiheitliche Entfaltung der Individuen gegenüber Hoheitsgewalten zu schützen, weil diese nur gemeinwohlbezogen begründbar und damit an die Beachtung 47 Vgl. dazu etwa Prokop, Grenzen der Dopingverbote, 2000, S. 38 ff., insb. S. 43 f. 48 Vgl. Vieweg, Zur Einführung: Sport und Recht, JuS 1983, S. 825, 826; ders., Normsetzung und -anwendung deutscher und internationaler Verbände, 1990, S. 61. 49 Vgl. dazu näher Hantke, Brauchen wir eine Sport-Schiedsgerichtsbarkeit?, SpuRt 1998, S. 186 ff.; Vieweg, Normsetzung und -anwendung (Fn. 48), S. 81 ff.; Adolphsen, Internationale Dopingstrafen (Fn. 11), S. 484 ff. 50 Dazu Lessig, Code and other laws of cyberspace, 1999.

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grundlegender individueller Rechte rückgebunden sind. Der Schutzbedarf der Sportler gegenüber den Sportvereinen ist vergleichbar. Das rechtfertigt eine Bindung dieser Vereine an die Grundrechte und Grundfreiheiten, und zwar auch dann, wenn es nicht um direkte bzw. offene Diskriminierungen geht. Gerade weil der Sport zunehmend internationalisiert wird, ist eine Bindung an Normen, die in einem weiten Sinne „über“-staatlich sind, also räumlich über die Grenzen der Nationalstaaten hinaus wirken können, wichtig. Damit ist allerdings keineswegs gesagt, dass bei deren Anwendung in sportrechtlichen Zusammenhängen keine Besonderheiten zu beachten wären. 3. Berücksichtigung sportspezifischer Besonderheiten im Prüfungsprogramm des Gemeinschaftsrechts a) Das rechtsdogmatisch zu bewältigende Problem besteht, zusammenfassend zugespitzt, darin, die Eigenheiten des Sports bei der Anwendung von Rechtsnormen, die eine wirtschaftliche Entfaltung schützen, angemessen zu berücksichtigen. Regelmäßig kann dieses Problem in zweierlei Hinsicht relevant werden: zum einen bei der Anwendung der Grundfreiheiten, zum anderen bei der des Wettbewerbsrechts. aa) Was die Grundfreiheiten angeht, so sind vor allem jene von Bedeutung, welche die Personenfreizügigkeit schützen. Auch wenn die allgemeine Freizügigkeit (Art. 18 EGV) gegenwärtig an Bedeutung gewinnt, genießen Arbeitnehmerfreizügigkeit sowie Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit Vorrang, soweit wirtschaftliche Betätigungen den Hintergrund des Aufenthaltswechsels bilden.51 Nur am Rande interessiert hier hingegen die Warenverkehrsfreiheit, weil zwar Sportgeräte in ihren Anwendungsbereich fallen, Regeln über deren Beschaffenheit aber keinen Eingriff in den grenzüberschreitenden Warenverkehr darstellen.52 Die Strukturen der Grundfreiheiten sind ähnlich:53 Sie schützen nach der Rechtsprechung des EuGH nicht nur vor Diskriminierungen, sondern auch vor Beschränkungen,54 wobei grundsätzlich die Möglichkeit besteht, zumin51

Vgl. dazu nur Becker, Freizügigkeit in der EU – auf dem Weg vom Begleitrecht zur Bürgerfreiheit, EuR 1999, S. 522 ff. 52 Das soll hier nicht näher begründet werden; es folgt aus der sog. Keck-Rechtsprechung des EuGH, weil nicht der Zugang zu Märkten, sondern nur eine Verwendung in bestimmten Tätigkeitsfeldern betroffen ist, vgl. nur Becker, Von „Dassonville“ über „Cassis“ zu „Keck“ – Der Begriff der Maßnahmen gleicher Wirkung in Art. 30 EGV, EuR 1994, S. 162 ff. 53 Vgl. zu dem Prüfungsprogramm Becker, in: Schwarze, EU-Kommentar (Fn. 37), Art. 28 EGV Rdnr. 9 ff. 54 Zur Arbeitnehmerfreizügigkeit war die Bosman-Entscheidung zumindest klarstellend, vgl. EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman) (Fn. 1), Slg 1995, S. I-4921,

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dest die letztgenannten Eingriffe durch sog. zwingende Interessen des Allgemeinwohls zu rechtfertigen. Für die Rechtfertigung selbst kommt der Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wesentliche Bedeutung zu. Damit müssen sich verschiedenste Handlungen an den Grundfreiheiten messen lassen: etwa die schon mehrfach angesprochenen Regelungen über die Zulässigkeit und die Modalitäten eines Spielerwechsels, ebenso über die Voraussetzungen zur Teilnahme an sportlichen Wettbewerben55 oder zur Ausübung von Berufen im Sport wie auch umgekehrt der Ausschluss entsprechender Betätigungen. Dem Sport verdankt das Gemeinschaftsrecht im Übrigen neben Walrave und Bosman eine weitere Entscheidung mit grundlegender Bedeutung für die allgemeine Grundfreiheitsdogmatik, nämlich zur gegenseitigen Anerkennung von Ausbildungsnachweisen. Sie bezog sich auf die Bedeutung der Arbeitnehmerfreizügigkeit für die grenzüberschreitende Tätigkeit eines Fußballtrainers.56 bb) Das gemeinschaftliche Wettbewerbsrecht verbietet Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, die eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezwecken oder bewirken (Art. 81 EGV), ferner die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung, soweit dies dazu führen kann, den Handel zu beeinträchtigen (Art. 82 EGV). Für die Anwendbarkeit der genannten Vertragsvorschriften ist die Unternehmenseigenschaft des Handelnden von zentraler Bedeutung.57 Dafür kommt es drauf an, ob das Handeln in der relevanten Rechtsbeziehung als wirtschaftliches anzusehen ist, nicht ob eine Gewinnerzielungsabsicht besteht.58 Sportverbände sind als Unternehmensvereinigungen anzusehen, Rdnr. 94 ff.; zuvor bereits EuGH v. 31.3.1993, Rs. C-19/92 (Kraus), Slg 1993, S. I-1663, Rdnr. 32 ff. Für die Dienstleistungsfreiheit angedeutet bereits in EuGH v. 3.12.1974, Rs. 33/74 (van Binsbergen), Slg. 1974, S. 1299, Rdnr. 10/12. Auf Einzelheiten und die Kritik an der Rechtsprechung kann hier nicht eingegangen werden, vgl. nur Kingreen, in: v. Bogdandy, Europ. Verfassungsrecht (Fn. 39), S. 631, 653 ff. 55 Nicht ausreichend klar allerdings EuGH Rs. C-51/96 u. C-191/97 (Deliège) (Fn. 8), Slg. 2000, S. I-2549 ff., Rdnr. 64. 56 EuGH v. 15.10.1987, Rs. 222/86 (Heylens), Slg. 1987, S. 4097; in der Entscheidung wird neben dem Recht auf effektiven Rechtsschutz der Grundrechtscharakter der Grundfreiheit betont (Rdnr. 14). 57 Auf die übrigen Voraussetzungen, insbesondere die spürbare Beeinträchtigung des grenzüberschreitenden Handels, soll hier nicht eingegangen werden. 58 Eine wirtschaftliche Tätigkeit ist jede Tätigkeit, die darin besteht, Güter oder Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt anzubieten, so EuGH v. 16.6.1987, Rs. 118/85 (Kommission/Italien), Slg. 1987, S. 2599, Rdnr. 7; v. 18.6.1998, Rs. C-35/96 (Kommission/Italien), Slg. 1998, S. I-3851 Rdnr. 36.

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wenn die in ihnen zusammengeschlossenen Vereine wirtschaftlich handeln; sie können zudem eigene wirtschaftliche Tätigkeiten ausführen.59 Sie sind dann selbst Adressaten des Wettbewerbsrechts. Auch das Wettbewerbsrecht erfasst damit möglicherweise das Handeln von Vereinen und Verbänden in verschiedenster Hinsicht. So berühren etwa Zwangslizenzen den Zugang zu einem Markt und damit zugleich den freien Wettbewerb,60 ebenso die Regeln über die Vermarktung von Sportereignissen. Aber auch andere Maßnahmen, die zunächst vor allem als potentielle Eingriffe in Grundfreiheiten erscheinen, wie etwa die Zulassung und der Ausschluss von Sportlern, können sich auf den Zugang und das Marktverhalten auswirken und damit auch einer wettbewerbsrechtlichen Überprüfung unterliegen. b) Die dogmatische Bewältigung des Spannungsfeldes zwischen Drittwirkung und Verbandsautonomie wird für noch unbefriedigend gehalten.61 Geht man nach den vorstehenden Ausführungen davon aus, dass Sportvereine und -verbände an die Grundfreiheiten gebunden und zudem Adressaten des Wettbewerbsrechts sind, liegt dies in erster Linie an der Schwierigkeit, die sportspezifischen Besonderheiten näher zu konturieren und dann in das Prüfungsprogramm des Gemeinschaftsrechts einzupassen. Immerhin lassen sich aber einige Leitlinien erkennen. Sie sollen hier in aller Kürze zusammengefasst werden. aa) Die Vereinigungsfreiheit genießt auch auf europäischer Ebene Schutz,62 wobei sich der Schutz auf die Freiheit der Vereinigung insgesamt bezieht.63 Für seine Reichweite kommt es nicht auf eine mögliche „Doppelqualität“ der Freiheit,64 sondern auf die von dieser erfassten Betätigungen an. Das ist neben der Gründung eines Vereins deren Selbstorganisation so59 Vgl. zur Vermarktung EuG v. 9.11.1994, Rs. T-46/92 (Scottish Football), Slg. 1994, S. II-1039. 60 EuG v. 26.1.2005, Rs. T-193/02 (Piau), Slg. 2005, S. II-209, Rdnr. 101 (zur Zulässigkeit der Freistellung von Zwangslizenzen für Spielervermittler). 61 So Streinz, EG-Grundfreiheiten und Verbandsautonomie, SpuRt 2000, S. 221, 227. Vgl. auch Röthel/Vieweg, Verbandsautonomie und Grundfreiheiten, ZHR 166 (2002), S. 6 ff. 62 Art. 11 Abs. 1 EMRK; vgl. auch Art. 12 Abs. 1 der EU Grundrechte-Charta (ABl. C 364/2000, S. 1); zur grundrechtlichen Gewährleistung EuGH v. 8.7.1999, Rs. C-235/92 P. (Montecatini Spa), Slg. 1999, S. I-4539; EuG v. 2.10.2001, verb. Rs. T-222/99, T-327/99 u. T-329/99 (Martinez, de Gaulle u. a.), Slg. 2001, S. II-2823; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, 2004, § 18 Rdnr. 33 ff. 63 Vgl. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 2005, § 23 Rdnr. 63; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union (Fn. 62), § 18 Rdnr. 738; Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2006, Art. 12, Rdnr. 15.

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wie auch deren Betätigung (sog. externe Vereinigungstätigkeit)65, wobei sich in der letztgenannten Hinsicht die Reichweite des Schutzes nur schwer abstrakt bestimmen lässt. bb) Für die Sportvereine führt die nähere Suche nach dem Schutzumfang zu der Frage, was das Sportliche ausmacht.66 Es ist der Wettkampf. Dessen Voraussetzungen und dessen Durchführung bedürfen der Regelung. Ohne solche Regelungen kann ein Wettkampf nicht stattfinden, und ohne Sicherstellung fairer Wettkampfbedingungen kann er sich nicht auf den Vergleich derjenigen Kräfte oder Fähigkeiten konzentrieren, der nach Intention der Beteiligten Ziel des Wettkampfes sein soll. Die Festlegung des Ziels und der zulässigen Möglichkeiten, dieses Ziel zu erreichen, entzieht sich staatlichen Vorgaben. Sie ist alleinige Aufgabe der in einem Verein zusammengeschlossenen Sportler. Denn hier geht es um den Zweck und die Grundbedingungen eines Handelns, das Ausdruck individueller Freiheit ist. Man kann insoweit von wettkampfkonstituierenden Regeln sprechen. Nichts anderes gemeint ist mit einer Differenzierung zwischen Sportregeln und Rechtsregeln67 bzw. Spielregeln und sonstigen Regeln.68 Dieser Innenbereich der Vereinsbetätigung wird dann verlassen, wenn es um die Zulassung zum sportlichen Wettbewerb geht. Zwar ist gerade auch der Zusammenschluss von Vereinsmitgliedern grundrechtlich geschützt, und insofern ist grundsätzlich Vereinen die Freiheit zuzugestehen, über ihre Mitglieder eine Auswahl zu treffen. Schon die Bedeutung der nur in einem Verein möglichen Betätigung für die tatsächliche Freiheitsentfaltung kann aber diskriminierungsfreie Entscheidungen über die Mitgliedschaft fordern. Und wenn ein Verein aufgrund einer Monopolstellung über den Zugang zu bestimmten wirtschaftlichen Tätigkeiten entscheiden kann, ergibt sich die Notwendigkeit, Vereinsfreiheit und wirtschaftliche Betätigungsfreiheit zum 64 Vgl. zu Art. 9 GG dazu nur Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 9, Rdnr. 21 ff.; Kemper, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Bd. 1, 5. Aufl. 2005, Art. 9 Rdnr. 61 ff. 65 Näher zu Art. 9 GG Scholz, in: Maunz/Dürig, Stand: März 2006, Art. 9, Rdnr. 78 ff.; Bauer, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 9 Rdnr. 45. Ähnliches gilt, wenn die EMRK neben dem Entstehen das Bestehen sichern soll, wobei sich die Rechtsprechung aber in erster Linie auf Parteien und Gewerkschaften bezieht, vgl. Bernsdorff, in: Meyer, Charta der Grundrechte der EU (Fn. 63), Art. 12, Rdnr. 15 ff. 66 Vgl. dazu auch in konkreten Ausprägungen Krogmann, Umfang und Grenzen der Vereinigungsfreiheit von Sportorganisationen in europäischen Rechtsordnungen, in: Vieweg (Hrsg.), Spektrum des Sportrechts, 2003, S. 35 ff. 67 Pfister, Autonomie des Sports, sport-typisches Verhalten und staatliches Recht, FS für Werner Lorenz, 1991, S. 171, 174 f. 68 Streinz, in: Studiengesellschaft für Wirtschaft und Recht, Sport und Recht (Fn. 24), S. 71, 84.

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Ausgleich zu bringen.69 Das ist der Preis, der (in Abhängigkeit von der gesellschaftlichen Bedeutung des Vereins) für die Vereinsautonomie zu zahlen ist: Die weitgehende Freiheit von staatlicher Regulierung verlangt eine Beachtung der Grundrechte zunächst Außenstehender, von denen allerdings verlangt werden darf, dass sie die wettbewerbskonstituierenden Regelungen einhalten. Und schließlich begründet ein Sportverein für die Durchführung des Wettbewerbs Rechtsbeziehungen nach außen, etwa durch Anmietung von Wettbewerbsstätten oder die Vermarktung von Wettbewerbsereignissen. Auch hier steht der Sport im Mittelpunkt und kann Bedeutung für die inhaltliche Gestaltung der Rechtsbeziehungen erlangen; ein besonderer Schutz aus der Vereinsfreiheit selbst folgt daraus jedoch nicht.70 c) Das Prüfungsprogramm sowohl der Grundfreiheiten als auch des Wettbewerbsrechts sieht Stufungen vor: Zunächst die Anwendbarkeit und die Annahme eines Eingriffs, bei deren Verneinung eine Sachprüfung ausscheidet; dann die Rechtfertigung von Ausnahmen, die auf bestimmte Gründe gestützt werden muss; schließlich die Verhältnismäßigkeit zwischen der konkreten Ausnahme und dem dadurch erreichten Schutz eines Rechtsguts, die letztendlich einer Abwägung im Einzelfall bedarf. aa) Akzeptiert man dies im Grundsatz,71 erweist sich vor allem die Überschreitung der ersten Schwelle als bedeutsam. Denn diese löst einen Rechtfertigungsbedarf aus, und institutionell gesehen verschiebt sich jedenfalls im Konfliktfall die Beurteilung, ob eine Maßnahme als rechtmäßig anzusehen ist, von der eigenen Bewertung durch den Handelnden hin zu einer Kontrolle durch ein Gericht. Im Falle des Gemeinschaftsrechts ist damit zugleich eine weitere Verschiebung verbunden: von der nationalen auf die supranationale Beurteilungsebene. Bei einer Zusammenführung der Prüfungsschritte mit einem nach Betätigungssphären abgestuften Schutz der Vereinsautonomie ergibt sich als Folgerung: Die Anwendbarkeit von Grundfreiheiten und Wettbewerbsrecht scheidet nicht nur dann aus, wenn die sportliche Betätigung nichtwirtschaftlichen Charakter hat,72 sondern auch dann, wenn es um wettkampfkonsti69 Vgl. zum Aufnahmezwang bei Dachverbänden und zur Situation bei Vereinen Krogmann, Grundrechte im Sport, 1998, S. 90 ff. 70 Vgl. dazu Scholz, in: Maunz/Dürig (Fn. 65), Art. 9, Rdnr. 86. 71 Vgl. zu Überlegungen, dieses Programm bzw. dessen einzelne Stufen neu zu konturieren, Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, Beiträge zur Ordnungstheorie und Ordnungspolitik Nr. 170, 2004; Volkmann, Veränderungen der Grundrechtsdogmatik, JZ 2005, S. 261 ff.; vgl. aber auch zu den Möglichkeiten, Abwägungsentscheidungen zu konturieren: Jansen, Die Abwägung von Grundrechten, Der Staat 1997, 27 ff. 72 Vgl. oben, II. 1. c) aa).

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tuierende Regelungen geht. Sobald die Zulassung zum Wettbewerb streitig ist, ergeben sich hingegen Grundrechtskollisionen, die nur auf Rechtfertigungsebene angemessen aufgelöst werden können. Damit wird ermöglicht, für jede Regelung deren Geeignetheit und Erforderlichkeit, zudem das Verhältnis zwischen Schwere des Eingriffs einerseits und Gefährdung des legitimen Schutzgutes andererseits zu berücksichtigen. Nichts anderes gilt schließlich für die nach außen hin gerichtete Tätigkeit des Sportvereins, wobei hier aber sportspezifischer Rechtfertigungsgründe besonders nachzuweisen sind. bb) Zur Umsetzung bedarf es noch einiger Ergänzungen. Zunächst ergibt sich aus der Erkenntnis, dass die wirtschaftliche Betätigung des Einzelnen bzw. der Schutz des freien Wettbewerbs mit der grundrechtlich geschützten Vereinsautonomie kollidieren kann, das Erfordernis, die Rechtfertigungsgründe entsprechend anzupassen. Wenn Grundrechte allgemein zu beachten sind, dann auch bei der Einschränkung von Freiheiten.73 Das bedeutet zunächst, dass der Schutz der sportlichen Selbstorganisation – ebenso wie der des Sports als objektivem Gemeinschaftsinteresse74 – als zwingendes Allgemeininteresse anzuerkennen ist, womit es zugleich der Ausdehnung75 des Schutzguts öffentliche Ordnung76 nicht bedarf.77 Dieser Rechtfertigungs73 Vgl. zur Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte bei der Einschränkung von Grundfreiheiten EuGH v. 26.6.1997, Rs. C-368/95 (Familiapress/Bauer), Slg. 1997, S. I-3689; dazu Becker, La recente giurisprudenza della Corte di Giustizia della Comunità Europea sulla libertà di circolazione delle merci e la sua importanza per la dogmatica delle libertà fondamentali, Studium Iuris 2000, S. 767 f.; näher zur Grundrechtecharta der EU in diesem Zusammenhang BrosiusGersdorf, Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, 2005, S. 42 ff. m. w. N. und mit Bejahung der Bindung bei Eingriffen, die ihrerseits auf Gemeinschaftsgrundrechte gestützt sind. 74 Das wird von der Rspr. des EuGH offensichtlich angenommen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass im Verfassungsvertrag (Fn. 62) eine Bestimmung über den Sport enthalten war, Art. III-282 Abs. 1 Uabs. 2: „Die Union trägt unter Berücksichtigung der besonderen Merkmale des Sports, seiner auf freiwilligem Engagement basierenden Strukturen und seiner sozialen und pädagogischen Funktion zur Förderung der europäischen Aspekte des Sports bei.“ Zuvor hatte schon die Regierungskonferenz in ihrer 29. Erklärung zum Amsterdamer Vertrag (ABl. EG Nr. C 340 v. 10.11.1997) „die Rolle, die dem Sport bei der Identitätsfindung und der Begegnung der Menschen zukommt“, unterstrichen. 75 So aber wohl Streinz, in: Studiengesellschaft für Wirtschaft und Recht, Sport und Recht (Fn. 24), S. 71, 84. 76 Dazu nur Becker, in: Schwarze, EU-Kommentar (Fn. 37), Art. 28 EGV Rdnr. 107 ff. 77 Grundsätzliche dogmatische Einwände gegen die Anerkennung von Allgemeininteressen ließen sich zwar vorbringen, sind aber wenig überzeugend, ohne dass dies hier näher ausgeführt werden könnte. Zugegebenermaßen ergeben sich Unterschiede auf dem Boden der Rspr. des EuGH deshalb, weil unmittelbar diskriminierende Maßnahmen nicht durch zwingende Allgemeininteressen gerechtfertigt werden

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grund umfasst auch die Sicherstellung eines den konstituierenden Regeln entsprechenden Wettbewerbs. In welcher Form der vorgenannte Schutz festgelegt wird, ist – entsprechend der Kompetenz der Mitgliedstaaten zur Bestimmung des Schutzniveaus im Verbraucherschutz- und Umweltrecht – Sache der Sportverbände.78 Ungeachtet dessen muss die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben, wobei es allerdings sachangemessen ist, den Sportverbänden hinsichtlich der Geeignetheit von Maßnahmen einen Einschätzungsspielraum zu überlassen. III. Einzelfragen 1. Neue Transfer- und Vertragsregelungen a) Mit der bereits mehrfach angesprochenen Bosman-Entscheidung war klar, dass der Transfer von Profisportlern ohne Vertrag nicht mehr von der Zahlung einer Ablösesumme abhängig gemacht werden durfte. Im Anschluss stellte sich vor allem die Frage, wie künftig der Tatsache Rechnung getragen werden konnte, dass die Ausbildung von Sportlern einen (auch) materiellen Aufwand erfordert. Daraus entwickelte sich im Profifußball eine doppelte Strategie: Zum einen, Spielerverträge mit ausgebildeten Spielern möglichst langfristig zu schließen und durch die Vereinbarung hoher Entschädigungszahlungen im Falle vorzeitiger Vertragsbeendigung die Spieler an den Verein zu binden. Zum anderen, für den Wechsel nach Abschluss der Ausbildung eine Aufwandsentschädigung (Ausbildungs- und Förderungsentschädigung) vorzusehen. aa) Naturgemäß wurden auch die geänderten Praktiken kritisch betrachtet. Insbesondere die lange Laufzeit von Verträgen zwischen Vereinen und Profisportlern stieß auf Vorbehalte der Europäischen Kommission. Diese stützte sich dabei sowohl auf die Grundfreiheiten als auch auf das Wettbewerbsrecht,79 mit dem Argument, eine langfristige Vertragsbindung behindere nicht nur die Freizügigkeit der Sportler, sondern auch den Wettbewerb, weil sie zu Lasten der andern, mit dem vertragsschließenden Verein im Wettbewerb stehenden Vereine gehe.80 Im Ergebnis einigten sich Komkönnen sollen; diese Differenzierung ist aber nicht nur praktisch wenig relevant, sondern sollte ohnehin aufgegeben werden, zumal die Rspr. nicht frei von Widersprüchen ist, vgl. Becker, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (Fn. 36), § 9 Rdnr. 50. 78 EuGH Rs. C-51/96 (Deliège) (Fn. 8), Slg 2000, S. I-2549, Rdnr. 67 f. 79 Vgl. dazu auch Weiß, Transfersysteme und Ausländerklauseln unter dem Licht des EG-Kartellrechts, SpuRT 1998, S. 97 ff.; Egger/Stix-Hackl, Sports and Competition Law: A Never-ending Story?, ECLR 2002, S. 81 ff. 80 Dazu Streinz, Der Fall Bosman: Bilanz und neue Fragen, ZEuP 2005, S. 349 f.

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mission und FIFA auf einen Kompromiss, der durch ein neues FIFA-Transferreglement aus dem Jahre 200181 umgesetzt wurde. Dieses sieht im wesentlichen vor, dass Spielerverträge eine Mindestdauer von einem und eine Höchstdauer von fünf Jahren haben müssen,82 die Einhaltung der Verträge durch wirtschaftliche und sportliche Sanktionen abgesichert wird83 und bei dem Transfer von Spielern bis zu einem Alter von 23 Jahren eine Ausbildungsentschädigung zu zahlen ist.84 Das Reglement wurde mit Wirkung zum 1. Juli 2005 erneut geändert,85 ohne aber die zuvor verfolgten Prinzipien aufzugeben. Die Mindestlaufzeit von Verträgen wurde verkürzt,86 der Schutz Minderjähriger verstärkt, und die Ausbildungsentschädigung ist nunmehr abhängig von den Trainingskosten, die der aufnehmende Verein gehabt hätte.87 bb) Ob die neuen Regelungen gemeinschaftsrechtskonform sind, wird unterschiedlich beurteilt. Die Absprachen, die zwischen Verbänden und Kommission getroffen und den neuen Reglements vorangegangen waren, sind für die Beurteilung nicht ausschlaggebend.88 Die Grundfreiheiten stehen ohnehin nicht unter einem Verwaltungsvorbehalt, und im Wettbewerbsrecht existierte zwar mit der Möglichkeit der Freistellung (Art. 81 Abs. 3 EGV) eine Entscheidungsbefugnis der Kommission.89 Eine Freistellung ist aber an bestimmte Voraussetzungen geknüpft90 und erfasst im Übrigen den Miss81 FIFA-Reglement bezüglich Status und Transfer von Spielern 2001 (http://fifa. com/fifa/handbook/regulations/player_transfer/2003/Status_Transfer_DE.pdf; abgedruckt in SpuRT 2002, S. 148 ff.). 82 Art. 4 Abs. 2 FIFA-Transferreglement 2001. Für Spieler bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres höchstens drei Jahre, Art. 35 FIFA-Transferreglement 2001. 83 Art. 21 ff. FIFA-Transferreglement 2001. 84 Art. 13 FIFA-Transferreglement 2001 85 FIFA-Reglement bezüglich Status und Transfer von Spielern 2005 (http://fifa. com/documents/static/regulations/Status_Transfer_DE.pdf; abgedruckt in SpuRT 2005, S. 99 ff.). Vgl. dazu näher Binder/Quirling, Das neue FIFA-Transferregelement, SpuRT 2005, S. 184 ff. 86 Bei Beibehaltung der übrigen Regelungen, Art. 18 Abs. 2 FIFA-Transferreglement 2005. 87 Art. 20 und 21 FIFA-Transferreglement 2005 mit Anhängen 4 und 5. 88 Dass die Absprache zwischen Kommission und Verbänden keine das gemeinschaftsrechtliche Primärrecht derogierende Wirkung haben kann, ist unstreitig; vgl. schon, wenn auch sehr pauschal, EuGH Rs. C-415/93 (Bosman) (Fn. 1), Slg. 1995, S. I-4921, Rdnr. 136. 89 Vgl. zur aktuellen Entwicklung (Art. 1 VO 1/03) und zum Streit um die unmittelbare Anwendbarkeit des Art. 81 Abs. 3 EGV nur Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 2. Aufl. 2004, § 13 Rdnr. 9 ff. m. w. N. Nach der neuen Rechtslage kann der Kommission kein Beurteilungsspielraum mehr zukommen; ob die Unternehmen stattdessen einen entsprechenden Spielraum haben, ist fraglich, in diesem Sinne Mäger, in: Schulze/Zuleeg (Hrsg.), Europarecht, 2006, § 16 Rdnr. 80.

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brauchstatbestand des Art. 82 EGV nicht.91 Ganz unabhängig davon hätten die abschließenden Entscheidungen der Kommission im Freistellungsverfahren selbständig angefochten werden können, wie auch ein Beispiel aus dem Sportrecht zeigt, nämlich die Zurückweisung einer Beschwerde eines Betroffenen gegen das FIFA-Reglement betreffend Spielervermittler.92 In der Sache richten sich die meisten Einwände gegen die Ausbildungsentschädigung, und zwar mit dem Argument, das dadurch angestrebte Ziel sei zwar legitim,93 die Entschädigung aber nicht erforderlich, weil weniger belastende Instrumente zur Zielerreichung zur Verfügung stünden.94 Das ist aber deshalb wenig überzeugend, weil die Vereine im Hinblick auf die Schwierigkeiten der Organisation von Ersatzmodellen einen Entscheidungsspielraum haben müssen, um über die Form einer funktionierenden Abgeltung von Ausbildungskosten selbst zu entscheiden.95 b) Noch jüngeren Datums und deshalb von besonderem Interesse sind einige Regelungen, die gemäß Satzungsrecht für den Einsatz von Profifußballern in Deutschland gelten. aa) Die Klausel für lokal ausgebildete Spieler ist in der Lizenzordnung Spieler (LOS) enthalten.96 Danach müssen Vereine und Kapitalgesellschaften im deutschen Fußball eine Mindestzahl lokal ausgebildeter Spieler als 90 Vgl. dazu nur Brinker, in: Schwarze, EU-Kommentar (Fn. 37), Art. 81 EGV, Rdnr. 70 ff. 91 Wenn auch vielfach bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 81 Abs. 3 EGV zugleich der Missbrauch einer möglicherweise gegebenen marktbeherrschenden Stellung ausscheiden wird, weil die Freistellung einen gesamtwirtschaftlichen Nutzen erfordert. 92 EuG Rs. T193/02 (Piau) (Fn. 60), Slg. 2005, S. II-209; dabei spielte eine Rolle, dass die FIFA ihr ursprünglich 1994 erlassenes Reglement in der Zwischenzeit geändert hatte. Das EuG ging in seiner Entscheidung (nicht zuletzt allerdings mangels gegenteiligem Vorbringen) davon aus, dass die von Spielervermittlern zu beachtenden FIFA-Transferreglements keine Beeinträchtigung des Wettbewerbs darstellen, a. a. O., Rdnr. 92. 93 Das ist auch ökonomisch wenig umstritten, vgl. dazu Berthold/Neumann, Der gemeinsame Europäische Fußballmarkt – benötigt Deutschland eine Ausländerklausel?, Wirtschaftswissenschaftliche Beiträge des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre, Wirtschaftsordnung und Sozialpolitik, Nr. 75/2005, S. 16 ff. 94 So Groß, Eine unendliche Geschichte: Transferregelungen im lizenzierten Fußballsport, 2004, S. 432 ff. 95 Im Ergebnis wie hier Streinz, Die Freizügigkeit des Athleten, in: Scherrer/Del Fabro (Hrsg.), 2002, Freizügigkeit im europäischen Sport, S. 99, 112 f. 96 Lizenzordnung Spieler v. 21.12.2005 (http://bundesliga.de/media/native/dfl/ ligastatut/lizenzordnung_spieler_los_05-12-22_stand_.pdf.). Vgl. für Pokalspiele § 11 Nr. 1 lit. c) Uabs. 3 der Spielordnung des Ligaverbandes (SpOL) v. 30.9.2005 (http://bundesliga.de/media/native/dfl/ligastatut/spielordnung_spol_05-12-22_stand_ .pdf) und § 53a der DFB-Spielordnung v. 1.1.2002 (http://dfb.de/dfb-info/interna/ statuten/spielordnung.pdf).

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Lizenzspieler unter Vertrag haben,97 wobei zwischen zwei Kategorien („vom Club ausgebildet“ und „vom Verband ausgebildet“) unterschieden wird.98 Die Klausel kann höchstens eine mittelbare Diskriminierung begründen.99 Das würde aber voraussetzen, dass von ihr faktisch überwiegend oder zumindest mehr100 Spieler ausländischer Staatsangehörigkeit betroffen wären. Das lässt sich jedoch schon nicht belegen. Im Übrigen wäre die Klausel auch ohne weiteres gerechtfertigt. Denn sie verfolgt, wie die Regelungen über die Ausbildungsentschädigung, mit der Förderung der Nachwuchsarbeit101 ein legitimes Ziel mit verhältnismäßigen Mitteln. bb) Vereine und Kapitalgesellschaften müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllen, um eine Lizenz zur Teilnahme an den Lizenzligen zu erhalten.102 Sie müssen sich u. a. verpflichten, „zu jedem Pflicht-Bundesspiel mindestens zwölf Lizenzspieler deutscher Staatsangehörigkeit unter Vertrag zu halten“.103 Bei dieser Klausel ist die Beurteilung schwieriger. Unklar ist bereits, ob sie unmittelbar oder mittelbar diskriminierend ist. Denn selbst wenn die Höchstzahl der Vertragsspieler unbegrenzt ist und deshalb nicht von einer zahlenmäßigen Beschränkung ausgegangen werden kann,104 knüpft die Klausel doch unmittelbar an der Staatsangehörigkeit an. Zumindest eine faktische Diskriminierung ist jedenfalls deshalb anzunehmen, weil sich die Vereine ökonomischen Regeln entsprechend verhalten müssen. In jedem Fall bedarf es deshalb einer Rechtfertigung.105 Grundsätzlich ließe sich zwar als besonderer sportlicher Aspekt der Schutz von Nationalmannschaf97 § 5a Abs. 2 LOS: „In der Spielzeit 2006/2007 müssen mindestens vier, in der Spielzeit 2007/2008 mindestens sechs und in der Spielzeit 2008/2009 mindestens acht lokal ausgebildete Spieler bei dem Verein/der Kapitalgesellschaft als Lizenzspieler unter Vertrag stehen.“ 98 Nicht mehr als die Hälfte der lokal ausgebildeten Spieler dürfen vom Verband ausgebildet sein, § 5a Abs. 1 S. 3 LOS. 99 Vgl. dazu und unterschiedlichen Bezeichnungen Ehlers, in: ders. Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (Fn. 36), § 7 Rdnr. 22. 100 Zu der uneinheitlichen Rspr. des EuGH nur Becker, Die Bedeutung des gemeinschaftsrechtlichen Diskriminierungsverbots für die Gleichstellung von Sachverhalten im koordinierenden Sozialrecht, VSSR 2000, S. 221 ff. 101 § 5a LOS. 102 Grundlage ist die Lizenzierungsordnung (LO) v. 21.12.2005 (http://bundesliga. de/media/native/dfl/ligastatut/lizenzierungsordnung_lo_05-12-22_stand_.pdf). 103 § 5 Nr. 4 LO. 104 Mit der Folge einer Öffnung zugunsten von Unionsbürgern gemäß Art. 4 Abs. 1 VO 1612/68, so aber zu entsprechenden Klauseln Heidersdorf, Ausländerklauseln im Profisport, 1997, S. 1 ff. 105 Nach der bisherigen Rspr. des EuGH stehen allerdings bei den unterschiedlichen Formen der Diskriminierung unterschiedliche Rechtfertigungsmöglichkeiten zur Verfügung; vgl. dazu oben, Fn. 77.

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ten anführen;106 jedoch sprechen die besseren Gründe dafür, Deutschenklauseln insofern für ungeeignet zu halten.107 2. Maßnahmen der Dopingbekämpfung a) In den letzten Jahren hat die Bekämpfung des Dopings im Sport einige wichtige Fortschritte zu verzeichnen. Der World Anti Doping Code108 brachte eine allgemein anerkannte Grundlage für die Definition des Dopings; mit den Anti-Doping-Agenturen109 wurden Einrichtungen zur Verfolgung von Dopingverstößen im Sport errichtet. Die FIFA hat sich weitgehend diesem mittlerweile global agierenden und durch die Sportgerichtsbarkeit kontrollierten System110 angeschlossen.111 Dennoch bleiben offensichtlich Probleme bestehen. Verwiesen sei nur darauf, dass sowohl der vermeintliche Favorit wie auch der vermeintliche Sieger der Tour de France 2006 in Dopingaffären verwickelt sind. Und die Praxis in der ehemaligen DDR sowie der Balco-Skandal in der Leichtathletik sind augenfällige Beispiele für Lücken, die zum Teil mangels Interesse, zum Teil mangels der erforderlichen Mittel bei der Dopingbekämpfung existieren. Gegenwärtig stehen zwei Fragen im Vordergrund: Zum einen inwiefern die Dopingbekämpfung eine staatliche Aufgabe darstellt,112 d.h. im Hinblick auf die Strafbarkeit (nicht zuletzt auch des Sportlers) ein Schutzgut anzuerkennen ist, der Staat ohne Beeinträchtigung sportlicher Sanktionen113 Strafverfolgung betreiben kann und diese angesichts der Un106

Vgl. oben, II. 1. c) aa). Das kann hier nicht näher ausgeführt werden; vgl. Berthold/Neumann, Der gemeinsame Europäische Fußballmarkt – benötigt Deutschland eine Ausländerklausel? (Fn. 93); Krogmann Grundrechte im Sport (Fn. 69), S. 223 f. 108 World Anti Doping Code vom März 2003 (im Internet unter http://wadaama.org/rtecontent/document/code_v3.pdf). 109 WADA, eine privatrechtliche Stiftung nach schweizerischem Recht mit Sitz in Lausanne, Hauptgeschäftsstelle in Montreal, gegründet durch Statut [Constitutive Instrument of Foundation] vom 10.11.1999, in der aktuellen Fassung vom 11.4.2005 (http://wada-ama.org/rtecontent/document/constitutive_instrument_foundation.pdf); NADA, privatrechtliche Stiftung des deutschen Rechts, Sitz und Geschäftsstelle in Bonn, gegründet durch Statut vom 15.7.2002, vgl. http://nada-bonn.de/haupt.html 110 Näher dazu Adolphsen, Internationale Dopingstrafen (Fn. 11), S. 362 ff.; Krieger, Vereinsstrafen im deutschen, englischen, französischen und schweizerischen Recht, 2003, S. 165 ff. 111 Rechtsgutachten des CAS, Rs. CAS 2005/C/976 & 986, FIFA & WADA (im Internet unter http://tas-cas.org/en/juris/frmjur.htm). 112 Abschlußbericht der Rechtskommission des Sports gegen Doping (ReSpoDo) v. 15.6.2005, BT-Sportausschuss, Ausschussdrucks. Nr. 15 v. 26.1.2006, S. 22 ff. 113 Wieweit und mit welcher rechtlichen Begründung Sanktionen als Ausfluss der Vereinsautonomie angesehen werden können, ist umstritten; vgl. nur Segerer, 107

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terschiede zwischen staatlichen und verbandlichen Befugnissen mehr oder weniger effektiv ist.114 Zum anderen ist auch innerhalb der Sportgerichtsbarkeit zu Recht erneut die Frage aufgeworfen worden, ob eine feste zeitliche Sperre als Folge von Dopingverstößen, die nach dem strict liabilityGrundsatz festgestellt werden, rechtsstaatlichen Anforderungen genügt, oder ob die Sanktionshöhe nicht auch von dem Maß der individuellen Vorwerfbarkeit bestimmt sein muss.115 b) Im Gemeinschaftsrecht ist allgemein anerkannt, dass Verbände Sanktionen aussprechen dürfen, diese aber verhältnismäßig sein müssen.116 Mit Dopingverboten hat sich in einer jüngst ergangenen Entscheidung der EuGH auseinandergesetzt,117 und zwar deshalb, weil Sanktionen Maßnahme darstellen, die zur Beschränkung des Wettbewerbs geeignet sind. Zunächst hat der Gerichtshof zu Recht die vorangegangene Entscheidung des EuG118 insofern korrigiert, als eine Ausnahme vom Anwendungsbereich der Wettbewerbsvorschriften nicht anzuerkennen ist.119 Denn Sanktionen wegen Dopings beschränken dem Zugang zum Wettbewerb und sind deshalb, entsprechend den allgemeinen Grundsätzen und ungeachtet davon, dass sie sportlichen Zwecken dienen, rechtfertigungsbedürftig.120 Der EuGH überprüft in diesem Zusammenhang sowohl die Definition des Dopings als auch die Höhe der Sanktion.121 Während im erstgenannten Punkt auf internationale medizinische Erkenntnisse verwiesen wird, die auch den Dopingregeln zugrundeliegen,122 fehlen Aussagen zum zweiten Punkt in der Sache, weil die Wirkung der Grundrechte zwischen Sportler, Sportvereinigungen und Staat, 1999, S. 156 ff. m. w. N. 114 Weil der Staat einerseits über strafprozessuale Ermittlungsbefugnisse verfügt, andererseits strafrechtliche Sanktionen verschuldensabhängig sind, vgl. zur Diskussion Otto, Zur Strafbarkeit des Doping – Sportler als Täter und Opfer, SpuRt 1994, 10 ff.; Vieweg, Staatliches Anti-Doping-Gesetz oder Selbstregulierung des Sports?, SpuRT 2004, S. 194 ff.; Dury, Kann das Strafrecht die Doping-Seuche ausrotten, SpuRt 2005, 137 ff.; ders., Lösung des Dopingproblems durch den Staatsanwalt?, in: FS für Röhricht, 2005, S. 1097 ff.; Nolte, Staatliche Verantwortung zur Bestrafung des Dopings?, in: Vieweg (Hrsg.), Perspektiven des Sportrechts, 2005, S. 127 ff.; Steiner, Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Sport in Deutschland, in: FS für Röhricht, 2005, S. 1225 ff.; ders., in: HStR IV (Fn. 27), § 87 Rdnr. 14 ff. 115 Vgl. dazu schon Steiner, Doping aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: Tettinger/Vieweg (Hrsg.), Gegenwartsfragen des Sportrechts, 2004, S. 177 ff. 116 Vgl. EuG Rs. T193/02 (Piau) (Fn. 60), Slg. 2005, S. II-209, Rdnr. 94 (zur Verhältnismäßigkeit von Sanktionen). 117 EuGH Rs. C519/04 P (Meca-Medina) (Fn. 8), n. v. 118 EuG v. 30.9.2004, Rs. T-313/02 (Meca-Medina), n. v. 119 So auch schon Streinz, (Fn. 24), S. 71, 82 ff. 120 Vgl. oben, II. 3. c) aa). 121 EuGH Rs. C519/04 P (Meca-Medina) (Fn. 8), n. v. Rdnr. 48. 122 EuGH Rs. C519/04 P (Meca-Medina) (Fn. 8), n. v. Rdnr. 52 f.

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Sanktionshöhe nicht angegriffen worden war. Bedenkt man aber, dass im entschiedenen Fall eine Sperre von zwei Jahren verhängt worden war,123 dürften die aktuellen Dopingregeln gemeinschaftsrechtlich nicht angreifbar sein. Das gilt jedenfalls dann, wenn es zukünftig entsprechend den vorstehend angesprochenen Reformbestrebungen ausreichende Möglichkeiten geben wird, bei der Sanktion im Einzelfall nach dem Maß des Verschuldens zu differenzieren. Auf eine spürbare, der Dopingbekämpfung dienenden Strafe muss dann nicht verzichtet werden. IV. Schluss Entscheiden sich Sportler und ihre Vereine dafür, die sportliche Betätigung mit wirtschaftlichen Motiven zu verbinden, ist die Anwendbarkeit des Wirtschaftsrechts eine sachgerechte Konsequenz. Gerade weil Sportverbänden die Regelung eines mittlerweile auch wirtschaftlich relevanten Gesellschaftsbereichs überlassen wird, ist deren unmittelbare Bindung an die Grundrechte zu bejahen. Wird eine professionelle sportliche Betätigung innerhalb der Europäischen Union grenzüberschreitend ausgeübt, ist die weitere Konsequenz die Bindung der Verbände an die Grundfreiheiten. Allerdings steht nicht nur eine nichtwirtschaftliche Tätigkeit außerhalb des Anwendungsbereichs von Grundfreiheiten und Wettbewerbsrecht, sondern auch die Festlegung wettkampfkonstituierender Regelungen. Das folgt aus dem Grundrechtsschutz zugunsten von Vereinen und Verbänden. Bei Regelungen, welche die Zulassung zum (professionellen) Wettkampf betreffen, bedarf es hingegen einer Rechtfertigung. Dabei können sich Vereine auf einen eigenen Rechtfertigungsgrund des Schutzes sportspezifischer Betätigung und Organisation stützen, der wiederum aus der Selbstregulierung des sportlichen Wettkampfes ableitbar ist. Werden durch Maßnahmen der Verbände Außenbeziehungen betroffen (wie bei der Vermarktung), kann dieser Rechtfertigungsgrund nur relevant sein, wenn eine Verbindung zwischen der Regelung nach außen hin und der Regulierung des Wettkampfes nachweisbar ist. Daraus ergibt sich insgesamt ein abgestuftes Prüfprogramm, das ermöglicht, die Interessen des Sports mit der Anwendung des Wirtschaftsrechts zu vereinbaren. Natürlich bleibt das Erfordernis, im Einzelfall einen angemessenen Ausgleich herzustellen. Dass der EuGH dazu außerstande wäre, lässt sich durch seine bisherige sportrechtliche Praxis schwerlich belegen. Dabei darf nicht übersehen werden, dass die verfasste Gemeinschaft die 123 D.h. zunächst von vier Jahren, einer Sperrzeit, die entsprechend der anwendbaren Verbandsregeln immer auszusprechen war, wobei die Regelstrafe bei geringer individueller Vorwerfbarkeit allerdings herabgesetzt werden konnte.

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Aufgabe hat, die Rechte des Einzelnen zu schützen, wenn sie Verbänden gesellschaftliche Regulierung ermöglicht. Der Sportler bedarf des Schutzes vor den Sportverbänden – und der grenzüberschreitende Sportler bliebe in Europa ohne Ergänzung des staatlichen Schutzes durch die Grundfreiheiten vielfach ungeschützt.

Grundrechtsschutz im dezentralen Vollzug europäischen Kartellrechts Von Thomas von Danwitz Obwohl das öffentliche Wirtschaftsrecht seit jeher zu den Kernmaterien der Praxis des Verfassungs- und Verwaltungsrechts gehört, hat es nur vergleichsweise geringen Einfluss auf die verwaltungsrechtliche Systembildung genommen.1 Namentlich die staatliche Kartellaufsicht gilt weithin als ausgesprochene Sondermaterie, deren öffentlich-rechtlicher Charakter oftmals verdrängt wird. Die Komplexität und Spezifizität dieses Rechtsgebietes hat dazu geführt, dass nur wenige Generalisten aus öffentlich-rechtlicher Schule sich den besonderen Herausforderungen stellen, die mit den Rechtsfragen dieses Bereichs verbunden sind. Das Oevre des Jubilars belegt jedoch nicht nur, in welch vorbildhafter Weise er sich vor allem um eine verfassungsrechtliche Durchdringung kartellrechtlicher Materien gekümmert hat.2 Vielmehr bezeugt es, welch unverzichtbaren Beitrag eine spezifisch öffentlichrechtliche Betrachtung der Kartellaufsicht leistet, vor allem wenn es um die grundrechtliche Einhegung hoheitlicher Aufsichts- und Untersagungsbefugnisse geht. Daher erscheint eine Abhandlung über einige Fragen des Grundrechtsschutzes im dezentralen Vollzug des europäischen Kartellrechts als notwendiger Beitrag zur Festschrift für Rupert Scholz. I. Besonderheiten der Grundrechtsgeltung im dezentralen Vollzug Mit der Verordnung Nr. 1/2003 ist im europäischen Kartellrecht ein grundlegender Paradigmenwechsel eingeleitet worden.3 Die materiellrechtliche Zentralisierung des Wettbewerbsrechts ist mit einer weitgehenden Dezentralisierung seiner Anwendung durch Behörden und Gerichte der Mit1 Siehe nur Schmidt-Aßmann, Eberhard, Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Auflage 2004, Rn. 14. 2 Siehe v. a. Scholz, Rupert, Wirtschaftsaufsicht und subjektiver Konkurrentenschutz. Insbesondere dargestellt am Beispiel der Kartellaufsicht, 1971, 206 Seiten; ders., Konzentrationskontrolle und Grundgesetz, 1971, 152 Seiten; ders., Entflechtung und Verfassung, 1981, 248 Seiten; ders., Kartellrechtliche Preiskontrolle als Verfassungsfrage, in: ZHR 141 (1977), 520–553. 3 Statt vieler siehe nur Mestmäcker, Ernst-Joachim/Schweitzer, Heike, Europäisches Wettbewerbsrecht, 2. Auflage 2004, § 19.

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gliedstaaten verbunden und abgemildert worden. Die verfahrensrechtliche Dezentralisierung nach Art. 5 der VO Nr. 1/2003 nähert das gemeinschaftliche Kartellrecht ungeachtet vielfältiger Formen der Zusammenarbeit im Netz europäischer Wettbewerbsbehörden dem Grundmodell des dezentralen Vollzuges materiellen Gemeinschaftsrechts an, das allgemein für die Durchführung des Gemeinschaftsrechts kennzeichnend ist.4 Die Zentralisierung der materiellen Rechtsgeltung gemeinschaftlicher Kartellvorschriften ist unter gleichzeitiger Einräumung beachtlicher verfahrensrechtlicher Freiräume zugunsten der Mitgliedstaaten erfolgt. Beide Anforderungen, die ein inhaltliches Spannungsverhältnis zwischen einheitlicher Rechtsgeltung und subsidiaritätsentprechender Rechtsanwendung5 bilden, sind zu einem System kommunizierender Röhren verbunden: Die strikte Rechtsbindung an das gemeinschaftliche Kartellrecht ermöglicht und bedingt einen Freiraum der mitgliedstaatlichen Rechtsanwendung in institutioneller und verfahrensrechtlicher Hinsicht.6 Damit erweist sich das System der VO 1/2003 als probater Ausdruck der vertikalen Gewaltenteilung, die in der Anwendung des gemeinschaftlichen Kartellrechts etabliert worden ist. Das Wesen der mitgliedstaatlichen Eigenverantwortung bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts7 und ihre vom Äquivalenz- und Effizienz4 Siehe von Danwitz, Thomas, Die Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten für die Durchführung von Gemeinschaftsrecht, DVBl. 1998, S. 421 (430 f.) m. w. N.; Stettner, Rupert, Verwaltungsvollzug, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, B. III., Rn. 11 ff. 5 Vgl. Jung, Subsidiarität im Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, 1995, S. 167 ff. 6 Zum Grundsatz der Verfahrensautonomie (autonomie institutionelle et procédurale) EuGH, Slg. 2004, I-723 (767 f., Rn. 65) – Wells; aus dem Schrifttum Simon, Denys, Le système juridique communautaire, 1997, Rn. 81 ff.; Rengeling, HansWerner, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationaler Rechtsschutz – unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und deutscher Gerichte, GS Sasse, 1981, S. 197 (198 f.); Kovar, Robert, Voies de droit overtes aux individus devant les instances nationales en cas de violation des normes et décisions du droit communautaire, in: ders., (Hrsg.), Les resours des individus devant les instances nationales en cas de violation du droit européen, 1978, S. 245 (248); kritisch Kakouris, C. N., Do member states possess judicial procedural „autonomy“, C. M. L. Rev. 34 (1997), S. 1389 (1394 f.); Werner Schroeder, Nationale Maßnahmen zur Durchführung von EG-Recht und das Gebot der einheitlichen Wirkung, AöR 129, (2004), S. 3 (22). 7 Zur Theorie des dédoublement fonctionell siehe bereits Ipsen, Hans Peter, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, Rn. 9/17 sowie seine Feststellung bei Rn. 9/26: Soweit die Mitgliedstaaten das Gemeinschaftsrecht durch ihre Exekutive vollziehen, sind sie zwar gebunden, stehen deshalb zur Gemeinschaft aber nicht in „hierarchischer Unterordnung“, als „untergeordnete Mechanismen“, als nachgeordnete Dienststellen. Allenfalls kann – in Anlehnung an staats- und kommunalrechtliche Terminologie – von „Auftragsverwaltung“ gesprochen werden. Wesentliche Analo-

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prinzip gezogenen Grenzen8 markieren indes nur eine grundlegende Facette der Rechtsunterschiede, die im Systems der dezentralen Durchführung gemeinschaftlicher Kartellvorschriften vorgesehen ist. Damit korrespondiert eine zweite, fraglos besonders bedeutsame Facette dieser Problematik, welche die Frage nach der Gewährleistung eines angemessenen Grundrechtsschutzes zwischen der mitgliedstaatlichen und der gemeinschaftsrechtlichen Ebene betrifft. Eine erste, praktisch bedeutsame Überlegung gilt der Frage nach der Grundrechtsbindung der mitgliedstaatlichen Kartellbehörden bei der dezentralen Durchführung der gemeinschaftlichen Wettbewerbsvorschriften zwischen den gemeinschaftlichen und den mitgliedstaatlichen Grundrechten (sub II. 1.). Über die prinzipielle, im Einzelfall durchaus schwierige Zuordnung ihrer Grundrechtsbindung zur gemeinschaftlichen bzw. zur mitgliedstaatlichen Verantwortungs- und Gewährleistungsebene hinaus geht es des Weiteren darum, das Verhältnis zwischen den jeweiligen Schutzgewährleistungen konkret zu beleuchten. Im Zusammenhang damit stehen wesentliche prozessuale und materiell-rechtliche Folgerungen, auf die es hinzuweisen gilt (sub II. 2. und II. 3.). Jenseits dieser grundlegenden Weichenstellungen, die im vorgegebenen Rahmen dieser Untersuchung nur skizziert werden können, soll abschließend die Frage beispielhaft behandelt werden, welche rechtspraktische Bedeutung dem Grundrechtsschutz im dezentralen Vollzug des gemeinschaftlichen Kartellrechts zukommen kann (sub III.). II. Grundrechtsschutz der verschiedenen Ebenen Auch ohne die rechtsverbindliche Geltung eines geschriebenen Katalogs von Grundrechten ist seit geraumer Zeit anerkannt, dass der Schutz der Grundrechte zum gesicherten Bestand des Verfassungsrechts der Europäischen Union gehört.9 Adressaten der gemeinschaftlichen Grundrechte sind primär die Organe der Gemeinschaft, gleichviel ob sie im Wege der Rechtgien (für Weisungsbefugnisse, Evokationsrechte, Rechtsschutzfragen) können hieraus nicht gezogen werden. 8 Siehe EuGH, Slg. 1995, 4599 (4621; Rn. 14) – Peterbroeck; Slg. 1995, 4705 (4738, Rn. 19) – van Schijndel; Slg. 1997, I-4025 (4046, Rn. 27) – Palmisani; Slg. 1997, I-7153 (7186, Rn. 37) – Magorrian and Cunningham; Slg. 1998, I-4951 (4990; Rn. 34) – Edis; Slg. 1998, I-7835 (7864, Rn. 18) – Levez; Slg. 2000, I-3201 (3256, Rn. 31) – Preston u. a.; Slg. 2001, I-1395 (1419, Rn. 21) – Camarotto und Vignone; Slg. 2002, I-3201 (5078, Rn. 52) – Sapod Audic; Slg. 2003, I-9375 (9402; Rn. 34) – Pflücke; Slg. 2004, I-723 (768, Rn. 67) – Wells; Urteil v. 16.3.2006, Rs. C-234/04, Rn. 22 (noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht) – Kapferer; Urteil v. 13.7.2006, Verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04, Rn. 62 (noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht) – Manfredi u. a. 9 Ständige Rechtsprechung seit EuGH, Slg. 1969, 419 (425, Rn. 7) – Stauder; Slg. 1970, S. 1125 (1135, Rn. 3 f.) – Internationale Handelsgesellschaft in Abkehr von Slg. 1960, S. 885 (920 f.) – Ruhrkohlen-Verkaufsgesellschaft Slg. 1965, 295

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setzung oder der Rechtsanwendung tätig werden.10 Dennoch sieht der Gerichtshof seit geraumer Zeit auch die Mitgliedstaaten und ihre Behörden als Verpflichtete der Gemeinschaftsgrundrechte an. In ständiger Rechtsprechung sind die Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden, wenn sie im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts handeln.11 Ein solches Handeln im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts liegt anerkanntermaßen nicht nur vor, wenn die Mitgliedstaaten das Gemeinschaftsrecht normativ umsetzen.12 Vielmehr fällt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes auch der mitgliedstaatliche administrative Vollzug gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften in den „Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“13. Für die prinzipielle Frage einer Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte macht es keinen Unterschied, ob es um die Durchführung sekundärrechtlicher Bestimmungen oder um die Anwendung primärrechtlicher Bestimmungen geht. Denn die Bindung beruht ganz wesentlich darauf, dass der nationale Vollzugsakt inhaltlich durch das Gemeinschaftsrecht determiniert wird.14 Im Vergleich zu verschiedenen Konstellationen, in denen die Grundrechtsverpflichtung der Mitgliedstaaten schwierige Beurteilungen erfordert,15 erscheint für das gemeinschaftliche Wettbewerbsrecht die Feststellung gleichsam selbstverständlich, dass die mitgliedstaatlichen Kartellbehörden bei seiner Anwendung an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden sind.16 (312) – Sgarlata; siehe jüngst Urteil vom 6.12.2005, Rs. C-453/03 u. a. – ABNA, Rn. 87 (noch nicht in amtl. Slg.). 10 Siehe dazu Wallrab, Annette, Die Verpflichteten der Gemeinschaftsgrundrechte, 2004, S. 21 ff. 11 Siehe etwa EuGH, Slg. 1991, I-2925 (2964, Rn. 42) – ERT; eingehende Analyse der Rechtsprechung bei Rengeling, Hans-Werner/Sczekalla, Peter, Grundrechte in der Europäischen Union, 2004, § 4, Rn. 278 ff. 12 Dazu jüngst Brosius-Gersdorf, Frauke, Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, 2005, S. 20 f.; Scheuing, Dieter, Zur Grundrechtsbindung der EU-Mitgliedstaaten, EuR 2005, S. 162 ff. 13 Siehe EuGH, Slg. 1986, 3477 (3507, Rn. 8) – Klensch; Slg. 1989, 2609 (2639 f., Rn. 19) – Wachauf; Slg. 1994, I-955 (983, Rn. 16) – Bostock; Slg. 1994, I-3361 (3379, Rn. 17) – Graff; Slg. 2000, I-2737 (2774, Rn. 37) – Karlsson; Slg. 2003, 12971 (13024, Rn. 84 ff.) – Lindqvist; Slg. 2004, 3025 (3070, Rn. 49 f.) – Karner. 14 Siehe Jarass, Hans D., EU-Grundrechte, 2005, § 4, Rn. 11; Borowsky, Martin, in: Meyer (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003, Art. 51, Rn. 25. Im dezentralen Vollzug des Kartellrechts verschwimmen die Unterschiede ohnedies, da die Zuweisung der Befugnis zur Anwendung der Art. 81, 82 EG an die mitgliedstaatlichen Kartellbehörden auf Art. 5 VO Nr. 1/2003 beruht. 15 Dazu eingehend Ladenburger, Clemens, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar der Europäischen Grundrechte-Charta, Art. 51, Rn. 36–51. 16 Siehe OLG Düsseldorf, Beschluss vom 20.6.2006, VI-2 Kart 1/06 (V), Umdruck, S. 55, IR 2006, 156; Weiß, Wolfgang, Grundrechtsschutz im EG-Kartellrecht nach der Verfahrensnovelle, EuZW 2006, S. 263 ff.

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1. Grundlegung eines Regimes der dualen Grundrechtsverpflichtung Angesichts des hohen Abstraktionsgrades vieler primärrechtlicher Vorschriften und namentlich der wettbewerbsrechtlichen Verbotsvorschriften in Art. 81 und 82 EG ist indes selbstverständlich, dass die normative Direktionskraft dieser Vorschriften von vornherein beschränkt ist und ihre behördliche Anwendung auf mitgliedstaatlicher Ebene in einem erheblichen Maße als Konkretisierungsvorgang anzusehen ist, der von beachtlichen Wertungs- und Gestaltungsfreiräumen geprägt wird. Die Vorstellung, eine Anwendung der wettbewerbsrechtlichen Verbotsvorschriften nach Art. 81, 82 EG durch die mitgliedstaatlichen Kartellbehörden sei als eine Ausübung genuin gemeinschaftsrechtlicher Hoheitsgewalt anzusehen, erscheint deshalb realitäts- und praxisfern. Zwar bleibt zu bedenken, dass die Mitgliedstaaten die Ausübung von Ermessens- oder sonstigen Gestaltungsspielermächtigungen, die ihnen bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts verbleiben, unter Berücksichtigung der Gemeinschaftsgrundrechte auszufüllen haben.17 Dennoch spricht der Dualismus von materiellrechtlicher Bindung und verfahrensrechtlich autonomer Konkretisierung durch mitgliedstaatliche Behörden im Ergebnis für die prinzipielle Annahme, dass der dezentrale Vollzug der gemeinschaftlichen Wettbewerbsvorschriften auch einem dualen Grundrechtsregime unterliegt. Dies gilt namentlich für die Bereiche, in denen die gemeinschaftsrechtliche Bindung nur unvollständig ist und die Ausübung der Befugnis daher wertend nicht als ein vollständig gemeinschaftsrechtlich determinierter Vollzugsakt erscheint, der als funktionelle Gemeinschaftsverwaltung angesehen werden kann.18 Für den Regelfall des dezentralen Vollzuges des gemeinschaftlichen Wettbewerbsrechts ist – wie bereits für die EMRK – also davon auszugehen, dass die Bindung der mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden an die Gemeinschaftsgrundrechte kumulativ zu der Bindung an die nationalen Grundrechte hinzutritt.19 17 So EuGH, Slg. 1994, I-955 (982 f., Rn. 14 ff.) – Bostock; im Schrifttum ebenso Brosius-Gersdorf, Bindung der Mitgliedstaaten (Fn. 12), S. 18; Kingreen, Thomas, in: Callies/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Kommentar, 2. Auflage 2002, Art. 6 EUV, Rn. 57; Dreier, in: ders., (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Art. 1 Abs. 3, Rn. 19. 18 Dabei geht es nicht um das Bestehen behördlicher Letztentscheidungsbefugnisse und einer damit korrespondierenden Beschränkung gerichtlicher Kontrolldichte. Vgl. zur Problematik insgesamt Hain, Karl E., Zur Frage der Europäisierung des Grundgesetzes, DVBl. 2002, S. 148 (1253); Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Band I, 3. Auflage 2004, Art. 1 III, Rn. 24; Herdegen, Matthias, in: Maunz/ Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Art. 1 Abs. 3, Rn. 86 (Loseblatt; Stand der Bearbeitung: Februar 2005); Jarass, EU-Grundrechte (Fn. 14), § 3, Rn. 14 f.; § 4, Rn. 13. 19 Siehe nur Grabenwarter, Christoph, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 290 (340 f.); Weiler, Joseph, The Constitution of Europe, 1999, S. 125 f.; Ladenburger, Clemens, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Grundrechte-Charta (Fn. 15), Art. 51, Rn. 30 f.

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Der allgemeine Grundsatz einer Parallelität sich ergänzender Grundrechtsordnungen, der zu einer Verdoppelung und im Hinblick auf die Grundrechtsgewährleistungen der EMRK sogar zu einer Verdreifachung des Grundrechtsschutzes führt, erscheint aus der Perspektive grundrechtlicher Verpflichtungen zweifelsohne zutreffend. Zudem tritt die Vorstellung paralleler Grundrechtsgeltung Befürchtungen20 entgegen, die das Schutzniveau der gemeinschaftlichen Grundrechtsgewährleistungen betreffen. Sie darf daher auch auf vielfache Sympathiebekundungen rechnen. Auf der konstruktiven Grundlage paralleler Grundrechtsgeltung ist zudem zu erwarten, dass sich die beteiligten Gerichtsbarkeiten um eine harmonisierende Auslegung unter Einräumung wechselseitiger Beurteilungsspielräume bemühen werden.21 2. Abgrenzungs- und Anwendungsfragen Diese Metaperspektive vermag jedoch die durchaus beachtlichen Anwendungsprobleme nicht zu offenbaren, die sich bei eingehender Betrachtung stellen. Vor allem könnte sie den Blick für die Notwendigkeit der Bemühungen um die Gewährleistung des grundrechtlichen Schutzniveaus verstellen. So darf die Vorstellung paralleler Grundrechtsgeltung von Gemeinschaftsgrundrechten und mitgliedstaatlichen Grundrechten nicht darüber hinwegtäuschen, dass damit die Frage nicht von vornherein beantwortet ist, ob und in welchem Umfang die Entscheidung einer mitgliedstaatlichen Behörde „in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ fällt. Stellt man für den dezentralen Vollzug der vertragsrechtlichen Wettbewerbsvorschriften auf die materielle Bindung der nationalen Kartellbehörden durch die Art. 81, 82 EG ab, wäre eine umfassende Verpflichtung auf die Einhaltung der Gemeinschaftsgrundrechte unabhängig davon anzunehmen, ob ihnen mehr oder weniger große Freiräume verbleiben. Gleiches dürfte auch für die Anwendung wettbewerbsrechtlicher Verfahrenspositionen gelten.22 Die 20 Diese Befürchtungen erklären die Regelung in Art. 53 der Grundrechtecharta, siehe von Danwitz, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Grundrechte-Charta (Fn. 15), Art. 53, Rn. 8–21 m. w. N. 21 Siehe dahingehend einerseits EuGH, Slg. 2003, I-5659 (Rn. 65 ff.) – Schmidberger; Slg. 2004, 9609 (9651 ff., Rn. 30, 33 f.) – Omega; dazu Skouris, Vassilios, Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten im europäischen Gemeinschaftsrecht, DÖV 2006, S. 89 (95) und andererseits EGMR, Urteil vom 30.6.2005, 45036/98 – Bosphorus, EuR 2006, S. 78 mit Besprechung von Lavranos, Nikolaos, ebenda, S. 79 ff.; dazu Hirsch, Günter, Schutz der Grundrechte im „Bermuda-Dreieck“ zwischen Karlsruhe, Straßburg und Luxemburg, EuR, Beiheft 1 2006, S. 7 (14 f.); Bröhmer, Jürgen, Die Bosphorus-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – Der Schutz der Grund- und Menschenrechte in der EU und das Verhältnis zur EMRK, EuZW 2006, S. 71. 22 Anders ist es jedoch zu beurteilen, wenn das Gemeinschaftsrecht nur ein bestimmtes Verfahren vorschreibt, ohne subjektive Rechte zu verleihen. So bspw. Um-

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Frage nach dem Bestehen von eigenverantwortlichen Verfahrens-, Durchführungs- und Konkretisierungsmaßnahmen der mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden ist demnach nur für das kumulative Hinzutreten einer Bindung an mitgliedstaatliche Grundrechtsgewährleistungen von Bedeutung. Die durchgängige Konkretisierungsbedürftigkeit der Rechtsmaßstäbe nach Art. 81 und 82 EG legt es indes nahe, ein Hinzutreten von mitgliedstaatlichen Grundrechtsbindungen nicht nur punktuell anzunehmen, sondern auch insoweit von einer umfassenden Verpflichtung der nationalen Wettbewerbsbehörden auszugehen.23 Ein solches Verständnis von einer umfassenden Überlagerung der gemeinschaftsrechtlichen und der mitgliedstaatlichen Grundrechtsverpflichtungen beim dezentralen Vollzug europäischen Wettbewerbsrechts weist fraglos den großen Vorzug auf, schwierige Abgrenzungen im Detail entbehrlich zu machen.24 Die Annahme einer umfassenden Überlagerung der beiden Grundrechtsebenen dürfte zudem die Notwendigkeit einer harmonisierenden Auslegung der jeweiligen Grundrechtsgewährleistungen besonders akzentuieren. Denn die Überlagerung der verschiedenen Grundrechtsregime ist in der Rechtspraxis nur unproblematisch zu verarbeiten, soweit es gelingt, Kollisionslagen zwischen unterschiedlichen Grundrechtsanforderungen zu vermeiden. Die Konstellation eines Kollisions- oder Konfliktfalles unterschiedlicher Grundrechtsanforderungen avanciert daher zum Lackmustest für den Grundsatz der parallelen Bindung mitgliedstaatlicher Wettbewerbsbehörden im dezentralen Vollzug des europäischen Kartellrechts an die gemeinschaftlichen und die mitgliedstaatlichen Grundrechte. Während „überschießende“ Grundrechtsgewährleistungen des Gemeinschaftsrechts sich kraft des ihnen zukommenden Anwendungsvorranges25 durchsetzen würden und deshalb unproblematisch erscheinen, bezeichnet die Möglichkeit einer weitergehenden Schutzgewährleistung auf Grund mitgliedstaatlicher Grundrechte die eigentliche Problematik für den Grundsatz der parallelen Geltung gemeinschaftlicher und mitgliedstaatlicher Grundrechte im dezentralen Vollzug europäischen Wettbewerbsrechts.26 Für die praktische Rechtsanwendung weltrecht für UVP-pflichtige Vorhaben, die materiell nicht von Gemeinschaftsbestimmungen geregelt werden, dazu Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Grundrechte-Charta, Art. 51, Rn. 36. 23 Für die dezentrale Durchführung von sekundärrechtlichen Gemeinschaftsbestimmungen dürfte es daran regelmäßig fehlen, so dass eine mitgliedstaatliche Grundrechtsbindung nur in dem Maße in Betracht kommt, in dem originär mitgliedstaatliche Hoheitsbefugnisse ausgeübt werden. 24 Für andere Bereiche siehe erneut Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Grundrechte-Charta (Fn. 15), Art. 51, Rn. 36–51. 25 Zum Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts siehe EuGH, Slg. 1991, 297 (321, Rn. 17) – Nimz; Slg. 1964, 1251 (1269 f.) – Costa/E. n. e. l. 26 Vgl. Weiß, Grundrechtsschutz im EG-Kartellrecht (Fn. 16), S. 263 (266) m. w. N.

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ist es daher von besonderer Bedeutung, die konkret relevanten Grundrechtsgehalte den jeweiligen Gewährleistungsebenen spezifisch zuzuordnen.27 Für die aus Sicht der Rechtsschutz suchenden Unternehmen praktisch bedeutsame Frage, ob bestimmte grundrechtliche Gewährleistungen (auch) gemeinschaftsrechtlich geschützt werden und wie die regelmäßig vorzunehmende Abwägung zu erfolgen hat, dürfte eine Klärung regelmäßig im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 234 EG in Betracht kommen.28 3. Zur Kollisionsproblematik Die Annahme von weitergehenden Garantiegehalten der mitgliedstaatlichen Grundrechtsgewährleistungen erscheint aus Sicht der Gemeinschaftsrechtsordnung jedenfalls problematisch, wenn sie im Ergebnis dazu führen würde, den Geltungsanspruch des Gemeinschaftsrechts zu vereiteln oder übermäßig zu erschweren.29 Im dezentralen Vollzug der gemeinschaftlichen Wettbewerbsbestimmungen wäre von einer solchen Konstellation namentlich auszugehen, wenn die Forderung nach mitgliedstaatlichem Grundrechtsschutz in der Konsequenz zur Einschränkung des Geltungsanspruchs der wettbewerbsrechtlichen Verbotsvorschriften des Vertrages nach Art. 81, 82 EG führen würde. Auf den ersten Blick drängt sich daher ein Rekurs auf die Kollisionsregel vom Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts auf, um auch der dezentralen Anwendung der gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln gegenüber den Geltungsansprüchen des mitgliedstaatlichen Grundrechtsschutzes im Ergebnis zur Durchsetzung zu verhelfen.30 So schneidig diese Lösung auch erscheinen mag, so nachdenklich stimmt die damit aufgemachte Gleichung, dass mitgliedstaatlich gewährleistete Grundrechtsgehalte prinzipiell gegenüber der dezentralen Anwendung der gemeinschaftlichen Wettbewerbsvorschriften zurückzutreten haben. Von der wohl klingenden Absicht einer parallelen Grundrechtsbindung der mitgliedstaatlichen Kartellbehörden im dezentralen Vollzug der gemeinschaftlichen Wettbewerbsvorschriften bliebe also im Ergebnis nicht viel übrig. Jedenfalls den Betroffenen würde das hehre Anliegen der parallelen Grundrechtsverpflichtung in praxi nur Steine statt Brot geben. 27 Dies vermischt hingegen OLG Düsseldorf, Beschluss vom 20.6.2006, VI-2 Kart 1/06 (V), Umdruck, S. 55, IR 2006, 156. 28 Vgl. jüngst Kokott, Juliane/Henze, Thomas/Sobotta, Christoph, Die Pflicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof und die Folgen ihrer Verletzung, JZ 2006, S. 633 ff.; Schmidt-Räntsch, Jürgen, Die Rechtsprechung des BGH, in: Europäische Methodenlehre, 2006, S. 428 (431 ff.). 29 Siehe erneut Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Grundrechte-Charta (Fn. 15), Art. 51, Rn. 31. 30 So aber OLG Düsseldorf, Beschluss vom 20.6.2006, VI-2 Kart 1/06 (V), Umdruck, S. 56, IR 2006, 156.

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Die gegenteilige Problematik stellt sich indes, wenn man zur Vermeidung dieser Kollisionslage zwischen den gemeinschaftlichen Wettbewerbsvorschriften und den mitgliedstaatlichen Grundrechtsgewährleistungen zu einer harmonisierenden Grundrechtsauslegung greifen und die dem mitgliedstaatlichem Grundrechtsschutz entsprechenden Schutzgehalte auch auf der Ebene des gemeinschaftlichen Grundrechtsschutzes verorten wollte. Denn in dieser Konstellation greift der Vorrang des Gemeinschaftsrechts nicht ein. Vielmehr ist zwischen den gleichrangigen Grundrechts- und Wettbewerbsbestimmungen des gemeinschaftlichen Primärrechts praktische Konkordanz herzustellen,31 die regelmäßig in eine Einschränkung des Geltungsanspruchs der gemeinschaftlichen Wettbewerbsvorschriften münden wird. In der praktischen Konsequenz dürfte die Verortung entsprechender Grundrechtsgehalte auf Gemeinschaftsebene also eine wesentliche Vorentscheidung für die Beschränkung der Anforderungen darstellen, die den gemeinschaftlichen Wettbewerbsvorschriften zu entnehmen sind. Immerhin hätte diese Lösung den Vorzug, dass sie nicht zu einer unvertretbaren Verkürzung des gemeinschaftlichen Wettbewerbsschutzes führen muss. 4. Die Abwägungslösung der jüngeren Rechtsprechung Welcher Weg könnte aber zwischen einer grundrechtlichen Scylla und einer drohenden wettbewerbsrechtlichen Charybdis gangbar sein? Die jüngere Rechtsprechung des Gerichtshofes zeigt, dass jedenfalls die schneidige Lösung über den Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber bedeutsamen grundrechtlichen Schutzpositionen nicht (mehr) als Methode der ersten Wahl angesehen werden kann. Für Kollisionslagen zwischen Grundrechten und Grundfreiheiten hat der Gerichtshof in den Rechtssachen Schmidberger32 und Omega33 sein Bestreben deutlich gemacht, auf eine Unterscheidung zwischen gemeinschaftlichem und mitgliedstaatlichem Grundrechtsschutz zu verzichten und unabhängig von dem formellen Rang interessengerechte Abwägungsentscheidungen im Einzelfall anzustreben.34 Ganz in diesem Sinne hat der Gerichtshof in der Entscheidung Schmidberger die 31 Siehe allgemein EuGH, Slg. 1992, I-4785 (4830, Rn. 30) – Associación Espanola de Banca Privada; Slg. 1989, 2859 (2923, Rn. 12) – Hoechst; zum Wettbewerbsrecht mit dem Eigentumsgrundrecht siehe EuG, Slg. 2003, II-4653 (4725 f., Rn. 170 ff.) – van den Bergh Foods; Schlussanträge von GA Georges Cosmas, Rs. C-344/98, Slg. 2000, I-11369 (11407 f., Rn. 103 ff.) – Masterfoods; vgl. ferner allgemein Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht (Fn. 3), § 3, Rn. 48. Zur Abwägung von Grundfreiheiten und Grundrechten siehe EuGH, Slg. 2003, I-5659 (5719 f., Rn. 78 ff.) – Schmidberger; Slg. I-2004, 9609 (9651 f., Rn. 30, 33 f.) – Omega. 32 EuGH, Slg. 2003, I-5659 (5719 f., Rn. 78 ff.) – Schmidberger. 33 EuGH, Slg. 2004, I-9609 (9651 f., Rn. 30, 33 f.) – Omega.

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Frage aufgeworfen, wie die Erfordernisse des Grundrechtsschutzes in der Gemeinschaft mit den aus einer im Vertrag verankerten Grundfreiheit fließenden Erfordernissen in Einklang gebracht werden müssen und welche Tragweite den Grundrechten einerseits und dem freien Warenverkehr andererseits zukommt.35 Da beide Rechtsgüter in der Gemeinschaftsrechtsordnung keine unbeschränkte Geltung verlangen können, unterliegen sie den Einschränkungen, die sich für die Grundfreiheiten aus zwingenden Erfordernissen des Allgemeininteresses und für die Grundrechte aus den Gemeinwohlzielen der Gemeinschaft ergeben.36 Demnach sind die bestehenden Interessen anhand sämtlicher Umstände des jeweiligen Einzelfalles abzuwägen und festzustellen, ob das rechte Gleichgewicht zwischen den betroffenen Interessen gewahrt worden ist.37 In der Rechtssache Omega ist der Gerichtshof noch einen wichtigen Schritt weitergegangen. Zunächst hat er bestätigt, dass Grundrechte sehr wohl geeignet sein können, die Beschränkung von Grundfreiheiten zu rechtfertigen, soweit die Anforderungen der Verhältnismäßigkeit gewahrt sind.38 Sodann fügt er jedoch hinzu, es sei insoweit nicht unerlässlich, „dass die von den Behörden eines Mitgliedstaates erlassene beschränkende Maßnahme einer allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Auffassung darüber entspricht, wie das betreffende Grundrecht oder berechtigte Interesse zu schützen ist“39. Insbesondere erteilt er der Notwendigkeit eine Absage, für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit von Beschränkungen der Grundfreiheiten sei ein allgemeines Kriterium erforderlich.40 Damit toleriert der Gerichtshof nicht nur Unterschiede im Schutzniveau der mitgliedstaatlichen Grundrechtsgewährleistungen, sondern hält es auch für zulässig, bei einer Gewichtung der betroffenen Belange die besonderen Ausprägungen zu berücksichtigen, die in den Mitgliedstaaten praktiziert werden. Diese zur Menschenwürdegarantie ergangene und ausdrücklich auf ihre besondere Bedeutung in der grundgesetzlichen Verfassungsordnung Bezug 34 Zu Recht hat Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Grundrechte-Charta (Fn. 15), Art. 51, Rn. 27 in Fn. 45 darauf hingewiesen, dass diese Rechtsprechung offen lässt, ob es sich bei dem kollidierenden Grundrecht um ein Gemeinschaftsgrundrecht handeln muss oder auch eine rein nationale Grundrechtsposition genügen könnte. 35 EuGH, Slg. 2003, I-5659 (5718 f., Rn. 77) – Schmidberger. 36 Ebenda, Rn. 80. 37 Ebenda, Rn. 81. 38 EuGH, Slg. 2004, I-9609 (9653, Rn. 36) – Omega; zur Abwägungsmethode siehe besonders GA Stix-Hackl, in: EuGH, Slg. 2004, I-9609 (9625 Rn. 53) – Omega. 39 Ebenda, Rn. 37. 40 Ebenda, Rn. 37 a. E.

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nehmende Entscheidung41 wird man fraglos nicht für jede beliebige Grundrechtsposition in Anspruch nehmen und gleichsam in kleiner Münze einfordern dürfen. Dennoch ist die Botschaft dieser Rechtsprechung nicht zu verkennen: Grundrechtliche Kollisionslagen sind ohne verkürzenden Rückgriff auf Rangverhältnisse anhand einer umfassenden Interessenabwägung aufzulösen, welche die abstrakte Wertigkeit der betroffenen Grundrechtsposition ebenso wie die konkreten Umstände und Konsequenzen des Einzelfalles zu berücksichtigen hat. Einstweilen sind keine Gesichtspunkte erkennbar, warum diese zu den Grundfreiheiten ergangene Rechtsprechung nicht in gleicher Weise für grundrechtliche Kollisionslagen mit den gemeinschaftlichen Wettbewerbsvorschriften Anwendung finden sollte.42 Insbesondere lässt sich ein prinzipieller Vorrang der gemeinschaftlichen Wettbewerbsvorschriften vor den Grundrechten ebenso wenig behaupten, wie dies für das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten gilt. Schließlich wird man aus der jüngeren Rechtsprechung des Gerichtshofes die prozessuale Konsequenz ziehen dürfen, dass der Freiraum der mitgliedstaatlichen Gerichte für die Vornahme einer interessengerechten Abwägungsentscheidung im Einzelfall eine gewisse Aufwertung erfahren hat. Solange diese Stärkung nicht als Einschränkung der Anforderungen missverstanden wird, die für eine Vorlage an den Gerichtshof gelten,43 liegt ihre Wahrnehmung durchaus im Sinn dieser Rechtsprechung.

III. Grundrechtliche Anforderungen im dezentralen Vollzug europäischen Kartellrechts Ungeachtet der grundlegenden Bedeutung, die der Grundrechtsbindung an gemeinschaftliche wie an mitgliedstaatliche Grundrechtsgewährleistungen für den gesamten dezentralen Vollzug des Gemeinschaftsrechts zukommt, werden im Folgenden einige Überlegungen zu den spezifischen Anforderungen der Grundrechte und ihrer rechtspraktischen Anwendungsprobleme in der Kartellrechtspraxis angestellt werden.

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Ebenda, Rn. 34 und 39. Dahingehend bereits für das Verhältnis von Wettbewerbsrecht und Eigentumsgrundrecht EuG, Slg. 2003, II-4653 (4725 f., Rn. 170 ff.) – van den Bergh Foods; Schlussanträge von GA Georges Cosmas, Rs. C-344/98, Slg. 2000, I-11369 (11407 f., Rn. 103 ff.) – Masterfoods; vgl. ferner allgemein Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht (Fn. 3), § 3, Rn. 48. 43 Siehe erneut Kokott/Henze/Sobotta, Pflicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof (Fn. 28), S. 633 ff.; Schmidt-Räntsch, Die Rechtsprechung des BGH (Fn. 28), S. 428 (431 ff.). 42

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1. Grundrechtsschutz im Kartellverfahrensrecht Besondere praktische Bedeutung kommt dem Grundrechtsschutz seit jeher im Kartellverfahrensrecht zu,44 dessen Verteidigungsrechte unter maßgeblicher Berücksichtigung der Grundrechte auszulegen sind. Entsprechend der objektiven Zielsetzung eines rechtlich geordneten Verfahrens hat der Gerichtshof anerkannt, dass den Betroffenen ein Anspruch auf rechtliches Gehör, Verteidigungsrechte, insbesondere auf Zuziehung eines Rechtsbeistandes, die Wahrung der Vertraulichkeit des Schriftverkehrs zwischen Rechtsanwalt und seinen Mandanten (legal privilege)45, das Recht auf Akteneinsicht, der Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen und die Verpflichtung zur Angabe von Gegenstand und Zweck der Nachprüfungen zustehen.46 Betroffene Unternehmen dürfen durch die Wahrnehmung von Auskunftsbefugnissen der Kommission zudem nicht gezwungen werden, eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln einzugestehen.47 Gegen Eingriffe in die Unverletzlichkeit der Wohnung sind Unternehmen nicht in gleicher Weise wie Privatpersonen geschützt. Die Durchsetzung im Einzelnen richtet sich indes nach dem Recht der Mitgliedstaaten, so dass in der deutschen Vollzugspraxis bisher keine Schutzlücken erkennbar geworden sind.48 2. Rechtsfragen des materiellen Grundrechtsschutzes In materieller Hinsicht steht die Bindung an den allgemeinen Rechtsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit im Vordergrund, unabhängig von der Frage seiner rechtsstaatlichen oder seiner grundrechtlichen Fundierung. Danach sind wettbewerbsrechtliche Durchführungsmaßnahmen nur rechtmäßig, wenn sie zur Erreichung der zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich sind. Unter verschiedenen Maßnahmen gleicher Eignung ist die am wenigsten belastende zu wählen. Insbesondere müssen die getroffenen Maßnahmen in einem angemessenen Verhältnis zum erstrebten Zweck stehen.49 In der Rechtsprechungspraxis erscheint die normative Direktionskraft 44 Grundlegend EuGH, Slg. 1989, 2589 (2923, Rn. 12) – Hoechst; Zusammenfassung bei Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht (Fn. 3), § 3, Rn. 52. 45 EuG, Beschluss des Präsidenten vom 30.10.2005, Slg. 4771 (4806 ff., Rn. 95 ff.) – Akzo Nobel Chemicals. 46 Zusammenfassend EuGH, Slg. 1989, 2589 (2923, Rn. 14–16) – Hoechst. 47 EuGH, Slg. 1989, 3283 (3351, Rn. 35) – Orkem. 48 Erneut EuGH, Slg. 1989, 2589 (2923, Rn. 17–19) – Hoechst; Slg. 2002, I-9011 (9055; Rn. 34) Roquette frères; Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht (Fn. 3), § 3, Rn. 53; § 19, Rn. 17. 49 Siehe EuGH, Slg. 1989, 2237 (2269, Rn. 21) – Schräder; Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht (Fn. 3), § 3, Rn. 54.

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des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes mitunter stark eingeschränkt und die gerichtliche Kontrolldichte unzureichend.50 Bei der Durchführung der gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln ist indes zu bedenken, dass in der Verhältnismäßigkeitsprüfung die zentrale Abwägung mit den Zielen und Erfordernissen der gemeinschaftlichen Wettbewerbspolitik und der zu ihrer Verwirklichung gebotenen Maßnahmen zu leisten ist. Insoweit ist der besonderen Bedeutung Rechnung zu tragen, die den gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln in der Rechtsordnung der Gemeinschaft und besonders für die Errichtung des Binnenmarktes zukommt.51

a) Eigentumsschutz im Wettbewerbsrecht Damit ist jedoch vor allem die Frage nach Art, Umfang und Bedeutung der prospektiven Wirkung des Grundrechtsschutzes im System der dezentralen Durchführung des Gemeinschaftsrechts angesprochen, die im Schutz der Unternehmer- und der Wettbewerbsfreiheit verwirklicht ist.52 Jenseits rechtsstaatlicher Vertrauensschutzerwägungen ist demgegenüber vor allem die Beachtlichkeit von Eigentumspositionen zu bedenken, die einer Anwendung der gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln entgegengehalten werden können. Unter maßgeblicher Zugrundelegung der Rechtsprechung des EGMR53 ist anerkannt, dass nicht nur dingliche Rechtspositionen, sondern auch Forderungen und Rechte aus Verträgen vom Schutz des gemeinschaftlichen Eigentumsrechtes erfasst werden, sofern sie tatsächlich entstanden sind.54 Dazu gehören namentlich Ansprüche aus Kaufverträgen, wenn sie so gesichert erscheinen, dass sie mit dem Sacheigentum vergleichbar sind.55 Insofern sind solche Rechtspositionen gegenüber Marktanteilen und bloßen 50 Siehe von Danwitz, Thomas, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Gemeinschaftsrecht, EWS 2003, S. 393 ff. 51 Vgl. EuGH, Slg. 1991, I-6097 (6106, Rn. 41) – Gutachten I/91. 52 Siehe EuGH, Slg. 1994, I-4973 (5066 f., Rn. 81 ff.) – Bananenmarktordnung; Slg. 1998, I-1953 (1980 f., Rn. 26 ff.) – Metronome Musik; Slg. 2004, I-8667 (8683, Rn. 49) – Springer; Urteil vom 6.12.2005, Rs. C-453/03 u. a. – ABNA, Rn. 87 (noch nicht in amtl. Slg.). 53 Siehe nur EuGH, Slg. 2002, I-8375 (8709, Rn. 274) – Limburgse Vinyl Maatschapnig; Slg. 2002, I-9011 (9054, Rn. 29) – Roquette Frères; allgemein von Danwitz, Thomas, Eigentumsschutz in Europa und im Wirtschaftsvölkerrecht, in: von Danwitz/Depenheuer/Engel, Bericht zur Lage des Eigentums, 2002, S. 260 ff. 54 EGMR, Urteil vom 30.11.1995, Pressos Compania Navierra, Serie A 332, Z. 31; Urteil vom 25.10.2001, Sagio, Nr. 41 879/98, Z. 24; Urteil vom 16.4.2002, Dangeville, RJD 2002-III, Serie A, Z. 48. 55 EGMR, Urteil vom 5.1.2002, Beyeler, NJW 2003, 654 (656), Z. 105; GA Lenz, Schlussanträge in der Rs. 232/81, in: EuGH, Slg. 1984, 3881 (3911 f.) – Agricola Commerciale Olio.

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Gewinnerwartungen abzugrenzen, die nach der gleichsinnigen Rechtsprechung des Gerichtshofs wie des BVerfG nicht von der Eigentumsgarantie geschützt werden.56 Solche gesicherten Vertragsrechtspositionen sind kürzlich erst in der Auseinandersetzung um die wettbewerbsrechtliche Zulässigkeit langfristiger Gaslieferverträge auch Gegenstand eigentumsrechtlicher Betrachtungen gewesen.57 b) Anwendungsfragen des Eigentumsschutzes im dezentralen Vollzug des Kartellrechts Trotz dieser eindrucksvollen dogmatischen Grundlegung lässt sich nicht gesichert beurteilen, welche reale Bedeutung der Grundrechtsbindung der Kartellbehörden an die Gewährleistungen des Eigentums auf mitgliedstaatlicher wie auf gemeinschaftlicher Ebene zukommt. So bieten Formulierungen aus der Rechtspraxis Anlass zur Sorge, ob dem Eigentumsschutz in der Kartellrechtspraxis tatsächlich der Stellenwert beigemessen wird, der ihm aus (gemeinschafts-)verfassungsrechtlicher Perspektive zukommt bzw. zukommen sollte. So heißt es im vorgenannten Beschluss des BKartA vom 13.1.2006, die Vertragsfreiheit werde „generell nur in den Grenzen des geltenden Rechts gewährt“58. Ebenso nachdenklich stimmt die Feststellung des OLG Düsseldorf, dass die in den Gasbezugsverträgen vereinbarten Rechtspositionen nicht dem Eigentumsschutz unterliegen, da sie nicht im Einklang mit der geltenden Rechtsordnung begründet worden seien. Zur Begründung wird auf die ex-tunc-Wirkung der Nichtigkeitsrechtsfolge aus Art. 81 Abs. 2 EG verwiesen, welche der Entstehung eigentumsrechtlich geschützter Forderungen entgegenstehe und die auch von der Freistellung durch §§ 103, 103a GWB a. F. nicht abgewendet wurde, da sie sich gegenüber dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts nicht durchsetzen könne.59 Auf die Problematik einer solchen Anwendung der Vorrangregel ist bereits vorstehend hingewiesen worden. Dieser Aspekt bedarf daher keiner weiteren Betrachtung, zumal er gegenüber der – fraglos zutreffenden – Bindung der mitgliedstaatlichen Kartellbehörden an die gemeinschaftliche Eigentumsgewährleistung keinerlei Beachtlichkeit zu entfalten vermag. 56 Siehe einerseits EuGH, Slg. 1974, 491 (507 f., Rn. 14) – Nold; Slg. 1980, 907 (1010 f., Rn. 89) – Valsabbia; Urteil vom 12.7.2005, verb. Rs. C-154/04 und C-155/04 – Alliance for Natural Health und andererseits BVerfGE 108, 370 (384); 105, 252 (277); 102, 197 (211) – std. Rspr. 57 Siehe BKartA, Beschluss vom 13.1.2006 – B 8 – 113/03 – 1; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 20.6.2006, VI-2 Kart 1/06 (V), Umdruck, S. 55 f., IR 2006, 156. 58 Siehe BKartA, Beschluss vom 13.1.2006 – B 8 – 113/03 – 1, Beschlussausfertigung, S. 31. 59 Siehe OLG Düsseldorf, Beschluss vom 26.4.2006, VI-2 Kart 1/06 (V), Umdruck, S. 55 f.

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Vielmehr geht es um die bedenkliche Eilfertigkeit, mit der ein dogmatisch unhaltbarer Zirkelschluss angebracht wird, um die Grundrechtsbindung der mitgliedstaatlichen Kartellbehörden bei der dezentralen Durchführung der gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln von der Beachtung der Eigentumsgarantie freizuzeichnen. Hatte doch bereits das BVerwG in seinem Urteil zur Diethylenglykol-Warnung entschieden, dass das Verbot einer bestimmten beruflichen Tätigkeit die Gerichte nicht von der grundrechtlichen Prüfung entbinde, welche Maßnahmen staatlicherseits gegen diese Tätigkeit ergriffen werden dürfen.60 In der Literatur herrscht in dieser Frage ohnehin ein eindeutiges Bild: Es geht nicht an, bestimmte Rechtspositionen aus dem Grundrechtstatbestand herauszudefinieren, denn damit würden entsprechende behördlichen Verbote in der Konsequenz einer Prüfung anhand der eingriffslegitimierenden Voraussetzungen der Grundrechte entzogen.61 Für die Anwendung des gemeinschaftsrechtlichen Kartellverbotes nach Art. 81 EG liegen ebendiese Zusammenhänge offen zu Tage. Denn die Nichtigkeitssanktion von Art. 81 Abs. 2 EG ist ersichtlich als Rechtsfolgenanordnung ausgestaltet, die lediglich auf Grund der vorgängigen Feststellung eingreift, ob und inwieweit der Verbotstatbestand von Art. 81 Abs. 1 EG vorliegt. Für die Frage der Tatbestandsmäßigkeit kann folglich nicht ein bestimmtes Ergebnis unterstellt und anhand der vorgesehenen Rechtsfolge außer Acht gelassen werden. Ob aber die Tatbestandsvoraussetzungen von Art. 81 Abs. 1 EG auf Grund einer grundrechtswahrenden Auslegung, wie sie der gemeinschaftlichen wie mitgliedstaatlichen Grundrechtsbindung der Kartellbehörden im dezentralen Vollzug der gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln entspricht, im Einzelfall gegeben sind und die Kartellbehörden zu einer bestimmten Anordnung ermächtigen, bleibt eine Frage der Tatbestandsauslegung, die nicht mit der Rückwirkung der Rechtsfolgenanordnung vermischt werden darf. Es kann daher sehr wohl möglich sein, dass eine bestimmte Verhaltensweise pro futuro kartellrechtlich verboten ist, in Ansehung des grundrechtlichen Eigentumsschutzes bereits vor geraumer Zeit begründeter Eigentumspositionen in der Vergangenheit aber kartellrechtlich nicht unzulässig war. Denkbar ist im Ergebnis natürlich auch, dass trotz Beachtung des eigentumsrechtlichen Schutzes begründeter Vertragspositionen eine Veränderung der wettbewerbsrechtlichen Beurteilung nicht in Betracht kommen kann. So ergebnisoffen sich die Beachtung der Grundrechte im Vollzug des gemeinschaftlichen Wettbewerbsrechtes auswirken kann, so unverzichtbar ist ihre 60

So BVerwGE 87, 37 (40); vgl. auch BVerwGE 96, 302 (307). Siehe v. a. Breuer, Rüdiger, Freiheit des Berufs, in: HStR, Bd. VI, 1989, § 147, Rn. 43 f.; Wieland, Joachim, in: Dreier (Hrsg.), Art. 12, Rn. 57; Berg, Wilfried, Berufsfreiheit und verbotene Berufe, GewArch 1977, S. 249 ff. 61

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behördliche und gerichtliche Prüfung. Denn die umfassende Grundrechtsbindung im dezentralen Vollzug des gemeinschaftlichen Wettbewerbsrechts verpflichtet die Kartellbehörden und vor allem die zuständigen Gerichte zur gewissenhaften Wahrnehmung der ihnen obliegenden Aufgabe, gemeinschaftlich wie mitgliedstaatlich gewährleistete Grundrechte zu achten. IV. Fazit Wie bereits vor geraumer Zeit für das Verwaltungs- und Verwaltungsverfahrensrecht festgestellt,62 erweist sich die dezentrale Durchführung des gemeinschaftlichen Wettbewerbsrechts auch für die Fragen der Grundrechtsbindung mitgliedstaatlicher Kartellbehörden an die gemeinschaftlichen Grundrechtsgewährleistungen als instruktives Referenzgebiet, dem vielfältige Lehren für die Rechtsentwicklungen entnommen werden können, die allgemein durch den dezentralen Vollzug des Gemeinschaftsrechts ausgelöst werden. Damit zeigt sich erneut, dass das Bedürfnis nach einer spezifisch verfassungsrechtlichen Durchdringung des Wettbewerbsrechts, dem das Werk des Jubilars in seiner hier aufgenommenen Facette so vorbildhaft entspricht, auch im Zuge der aktuellen europäischen Rechtsentwicklung nichts von ihrer Berechtigung verloren hat.

62 Siehe Sedemund, Jochim, Allgemeine Prinzipien des Verwaltungsverfahrensrechts – dargestellt am Beispiel des Verwaltungsverfahrensrechts in Kartellsachen, in: Schwarze (Hrsg.), Europäisches Verwaltungsrecht im Werden, 1982, S. 45 ff.

Neue Rechtsprechung zur negativen Tarifvertragsfreiheit Von Peter Hanau I. Begriff und Problematik Der Begriff mag neu sein, das Problem ist es nicht. Es geht um die Frage, ob die durch Art. 9 III GG geschützte negative Koalitionsfreiheit nur vor der Mitgliedschaft in einer fremden Koalition schützt, oder auch vor der Anwendung ihrer Tarifverträge. Die Alternative ist also, die negative Koalitionsfreiheit nur als Fernbleiberecht anzusehen, als Schutz vor Beitrittszwang und -druck, oder weitergehend als Schutz vor fremden Tarifverträgen, also als negative Tarifvertragsfreiheit. Im Schrifttum ist diese Alternative klar herausgearbeitet worden, während die Rechtsprechung sich bald für das eine, bald für das andere entscheidet, ohne die Alternative auch nur zu erwähnen. Besonders deutlich heißt es bei Gamillscheg, eine verbreitete Meinung in der Rechtslehre erweitere die negative Freiheit zum Beitritt um einen weiteren Bereich.1 Sie besage, es gehöre zum wesentlichen Inhalt der negativen Koalitionsfreiheit, dass der Außenseiter von Tarifnormen nicht berührt wird, die ein Verband aufgestellt hat, an dessen Willensbildung er nicht beteiligt ist. Gamillscheg hält dies in Bezug auf die Arbeitnehmer für verfehlt, da die Anwendung des Tarifvertrages in der Regel günstig für sie sei. Auch die zwangsweise Unterwerfung von Arbeitgebern unter einen Tarifvertrag sei zulässig, da sie keinen erheblichen Druck zum Beitritt ausübe und zum Schutz der Arbeitnehmer erforderlich sei.2 1 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Band 1, 1997, S. 376, unter Hinweis auf Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, 1964, S. 99 ff.; Heinze, NZA 1995, S. 5; Schwarze, Der Betriebsrat im Dienst der Tarifvertragsparteien, S. 195; Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, 1991, S. 141 (anders noch Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, 1969, S. 35 ff.); dezidiert Münch ArbR/Löwisch/Rieble, 2. Aufl 2000, § 244 Rn. 4 f., § 245 Rn. 3. 2 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht (Fn. 1), S. 888; a. M. u. a. Lieb, NZA 1994, S. 337 Kämmerer/Thüsing, Leiharbeit und Verfassungsrecht 2005, S. 26 ff. und May, Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Bindung von Außenseitern durch Tarifverträge, 1998. In der Staatsrechtswissenschaft wird im Anschluss an das BVerfG zum Schutzbereich anscheinend nur die Entscheidung gezählt, einer Koa-

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Anschließend hat Schubert die Alternative klar herausgearbeitet.3 Während die Rechtsprechung des BVerfG und des BAG den Schutz der negativen Koalitionsfreiheit auf ein Fernbleiberecht beschränken, mache die Gegenansicht geltend, dass ein bloßer Schutz des Fernbleibens zu kurz greife, da die Arbeitnehmer gerade wegen der Geltung der Tarifverträge in die Gewerkschaften einträten.4 Schubert selbst will den Schutzbereich der negativen Koalitionsfreiheit auf das Fernbleiberecht beschränken, während die Geltungserstreckung von Tarifverträgen auf Außenseiter am Maßstab des Art. 12 GG zu messen sei. Rupert Scholz geht in mehreren Veröffentlichungen von der engeren Auffassung (Fernbleiberecht) aus, lässt dieses aber weitgehend in Richtung auf eine allgemeine negative Tarifvertragsfreiheit wirken.5 Dieser Streitstand ist durch die zunehmende Europäisierung des Arbeitsrechts noch komplizierter geworden.6 So haben der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und der EuGH im gegensätzlichen Sinne Stellung genommen, letzterer, ohne den Gegensatz zu bemerken (dazu unten IV.). Verstärkte politische Brisanz hat das Thema dadurch bekommen, dass die Geltungserstreckung von Tarifverträgen zu einem wichtigen Instrument des Schutzes nationaler Mindestarbeitsbedingungen in der EU geworden ist. Keinen Schutz vor Tarifverträgen gibt es gegenüber rechtmäßigen gewerkschaftlichen Drohungen mit Arbeitskampf zur Erzwingung von Tarifverträgen. Allerdings entnimmt das BAG Art. 9 III GG und Art. 2 I GG in ihrer negativen Ausprägung, dass kein Rechtsanspruch von Gewerkschaften auf Teilnahme an Tarifvertragsverhandlungen besteht.7 Der EGMR hat die lition nicht beizutreten oder aus ihr auszutreten, so zuletzt Jarass/Pieroth, GG, 8. Aufl. 2006, Art. 9, Rn. 36. 3 Ist der Außenseiter vor der Normsetzung durch die Tarifvertragsparteien geschützt? Ein Beitrag zum sachlichen Schutzbereich der negativen Koalitionsfreiheit, RdA 2001, S. 199. 4 Außer den schon von Gamillscheg zitierten Auffassungen verweist Schubert u. a. auf Schlüter, Festschrift für Lukes, 1989, S. 559, 568; Wiedemann, RdA 1969, S. 321, 330; Zöllner, RdA 1962, S. 453, 458, und Die Rechtsnatur der Tarifnormen nach deutschem Recht, 1966, S. 22 ff.; für die engere Auffassung verweist Schubert auf Däubler, Das Grundrecht auf Mitbestimmung, 1975, S. 286. Zustimmend zu Schubert ErfK/Dieterich, 7. Aufl. 2007, Art. 9 Rn. 35. 5 Maunz-Dürig, GG, Stand 1999, Art. 9, Rn. 226 ff.; SAE 2000, S. 266; RdA 2001, S. 193 ff.; Anmerkung zu AP Art. 9 GG Nr. 47. 6 Gute Übersichten bei Schwarze, Legitimation kraft virtueller Repräsentation – ein gemeinschaftsrechtliches Prinzip? Zur Legitimation der Koalitionen gegenüber Nichtmitgliedern, RdA 2001, S. 208; Rebhahn, Rechtsvergleichendes zur Tarifbindung ohne Verbandsmitgliedschaft, RdA 2002, S. 214. 7 Seit einem Urteil vom 02.08.1963, AP Nr. 5 Art. 9 GG.

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negative Koalitionsfreiheit allerdings als Schranke für gewerkschaftliche Kampfmaßnahmen gegen Außenseiter-Arbeitgeber zur Erzwingung von Anschlusstarifverträgen in Betracht gezogen, im Ergebnis aber abgelehnt (unten II. 4.). Ganz im Vordergrund steht aber die Frage, inwieweit der Gesetzgeber den Tarifvertrag auf nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer erstrecken darf, wie es insbesondere durch das Tarifvertragsgesetz, das Arbeitnehmerentsendegesetz mit der hinter ihm stehenden Entsende-Richtlinie und die Tariftreuegesetzgebung einiger Bundesländer geschehen ist. Da der unbefriedigende Diskussionsstand vor allem darauf beruht, dass die Rechtsprechung die im Schrifttum herausgearbeitete grundlegende Alternative anscheinend nicht zur Kenntnis nimmt, soll die folgende Darstellung auf die Rechtsprechung beschränkt werden. Während es bei der negativen Tarifvertragsfreiheit vor allem um den Wunsch von Außenseitern geht, von fremden Tarifverträgen verschont zu werden, gibt es auf Seiten der Arbeitnehmer auch die umgekehrte Problematik, dass sie durch Differenzierungsklauseln von Tarifverträgen ferngehalten werden sollen. Der gemeinsame Nenner liegt in der Frage, wie weit sich ein Tarifvertrag in die Arbeitsbedingungen nicht unmittelbar tarifgebundener Arbeitgeber und Arbeitnehmer einmischen darf. II. Die Rechtsprechung zum Tarifvertragsrecht 1. Erstreckung von Tarifnormen durch Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) Hier geht es vor allem um die Allgemeinverbindlicherklärung gem. § 5 TVG. Ihre Vereinbarkeit mit der negativen Koalitionsfreiheit hat das BVerfG schon 1977 geprüft und bejaht.8 Die Freiheit, sich einer anderen als der vertragsschließenden oder keiner Koalition anzuschließen, werde durch die AVE nicht beeinträchtigt, Zwang oder Druck in Richtung auf eine Mitgliedschaft nicht ausgeübt. Hier ist also nur das Fernbleiberecht im Blick. In einem Beschluss vom 15.07.19809 hat das BVerfG dies für die AVE von Tarifverträgen über gemeinsame Einrichtungen bestätigt. Allerdings wird hier mit einem durch die AVE entstehenden Druck gerechnet, Mitglied einer Koalition zu werden, doch sei dieser nicht so erheblich, dass die negative Koalitionsfreiheit verletzt würde. Es könne überdies angenommen werden, dass zumindest die gegenseitige Kontrolle der Sozialpartner, die Mitglieder der gemeinsamen Einrichtungen sind, im Ergebnis auch Außenseitern zugute komme. 8 9

Beschluss vom 24.05.1977, BVerfGE 44, S. 322, 352 = AP Nr. 15 zu § 5 TVG. AP Nr. 17, a. a. O.

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Das BAG hat sich dem u. a. mit Urteil vom 28.03.199010 angeschlossen. Das Fehlen eines Mitgliedschaftsverhältnisses habe für die Außenseiter allerdings den Nachteil, dass sie die ordnungsgemäße Wahrnehmung ihrer Interessen durch die gemeinsamen Einrichtungen nicht mittelbar über die Berufsverbände kontrollieren könnten. Wiederum heißt es dazu, ein dadurch entstehender Beitrittsdruck sei unerheblich und die gegenseitige Kontrolle der Sozialpartner komme auch Außenseitern zugute. Durchweg wird hier die negative Koalitionsfreiheit nur als Fernbleiberecht aufgefasst. Besonders deutlich kommt dies in einer Kammerentscheidung des BVerfG vom 10.09.199111 zum Ausdruck. Der Außenseiter könne durch dieses Grundrecht nur in seiner Freiheit geschützt werden, sich keinem Verband anzuschließen. Freilich will auch das BVerfG keine beliebige Erstreckung von Tarifnormen auf Außenseiter zulassen, doch sieht es die Grenze nicht in der negativen Koalitionsfreiheit, sondern im Demokratieprinzip.12 Ein Beschluss des BVerfG vom 14.06.198313 fügt das Rechtsstaatsprinzip hinzu. Nur soweit der Inhalt der tarifvertraglichen Regelungen, auf die staatliche Rechtsnormen verweisen, im Wesentlichen feststeht, könne kein unzulässiger Verzicht des Gesetzgebers auf seine Rechtsetzungsbefugnisse angenommen werden. Im Ergebnis nimmt also auch das BVerfG eine begrenzte negative Tarifvertragsfreiheit an, abgeleitet aber nicht aus der negativen Koalitionsfreiheit, sondern aus Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip. Mögen sich die Begründungen auch im Ergebnis treffen, sind sie im Ganzen doch so verschieden, dass sich eine genauere Unterscheidung lohnt. 2. Erstreckung von Betriebsnormen auf Außenseiter Eine etwas weitergehende, die Alternative allerdings nicht formulierende Konzeption der negativen Koalitionsfreiheit findet sich in einem Urteil des BAG vom 26.04.199014 zur Erstreckung von Betriebsnormen auf Außenseiter-Arbeitnehmer gem. § 3 II TVG. Von einem Zwang oder Druck zum Beitritt ist hier nicht die Rede. Trotzdem heißt es, dass der Anwendungsbereich der Vorschrift im Hinblick auf die negative Koalitionsfreiheit der 10

AP Nr. 25, a. a. O. AP Nr. 27, a. a. O. Die Entscheidung beruft sich dazu auf das große Mitbestimmungsurteil des BVerfG vom 01.03.1979, in dem es allerdings nur beiläufig hieß, zu den Elementen des Art. 9 III GG zähle auch die Freiheit des Austritts und des Fernbleibens, BVerfGE 50, S. 290, 367. 12 Beschluss vom 24.05.1977, a. a. O. 13 BVerfGE 64, S. 208. 14 AP Nr. 57 zu Art. 9 GG. 11

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Außenseiter restriktiv auszulegen sei. Die Erstreckung der Rechtsnormen über betriebliche Fragen auf Außenseiter lasse sich nur damit rechtfertigen, dass die entsprechenden Bestimmungen nur einheitlich gelten können. Der Kernbereich der negativen wie der positiven Koalitionsfreiheit werde angetastet, wenn der gesetzgeberische Eingriff nicht zum Schutz anderer Rechtsgüter von der Sache her geboten sei. 3. Nachwirkung des Tarifvertrages Zu einer Erstreckung von Tarifverträgen auf Außenseiter kommt es auch durch die in § 3 III TVG angeordnete Nachbindung und die durch § 4 V TVG angeordnete Nachwirkung von Tarifverträgen auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die ihre Verbandsmitgliedschaft aufgegeben haben. Zu § 4 V TVG heißt es in einem Kammerbeschluss des BVerfG vom 03.07.200015 zunächst, Voraussetzung für eine Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit wäre, dass ein Zwang oder Druck auf die Nichtorganisierten ausgeübt wird, einer Organisation beizutreten. Dann wird aber doch erwogen, die negative Koalitionsfreiheit des ausgetretenen Arbeitgebers könne mittelbar dadurch betroffen sein, dass er sich von dem Verband gelöst hat, die von dem Verband ausgehandelten Verträge aber nach wie vor für ihn gelten. Der Arbeitgeber habe aber die Möglichkeit, die Geltung des nachwirkenden Tarifvertrages durch Arbeitsvertrag zu beseitigen. Nach diesem kurzen Blick auf eine mögliche weitergehende Bedeutung der negativen Koalitionsfreiheit wird dann am Schluss doch wieder darauf abgestellt, dass von der Nachwirkung des Tarifvertrages ein noch geringerer Druck zum Beitritt ausgehe als von der AVE. 4. Erstreckung von Tarifverträgen durch erzwungene Anschlusstarifverträge Mit dieser Materie war der EGMR in dem schwedischen Fall Gustafsson befasst.16 Hier ging es u. a. um die Frage, ob die durch Art. 11 EMRK gewährleistete negative Koalitionsfreiheit dadurch verletzt wurde, dass das schwedische Recht gewerkschaftliche Kampfmaßnahmen gegen einzelne 15

NZA 2000, S. 947. Urteile vom 25.04.1996, Amtliche Sammlung 1996-II, 637 (Gustafsson), und 30.07.1998. Die Entscheidungen sind in Deutschland wenig beachtet worden; die erste ist allerdings mit Anm. Lörcher, in AuR 1997, S. 408 veröffentlicht worden. Der englische Text findet sich u. a. in einer 1999 in Schweden erschienenen Schrift über das Urteil mit Beiträgen von Agell, Hanau, Källström, Schelin und Sigeman. Neuerdings ist die Entscheidung aber stärker in unser Blickfeld getreten, da sich die Werhof-Entscheidung des EuGH auf sie beruft, s. unten IV. 16

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Arbeitgeber zur Erstreckung von Tarifverträgen zulässt. Das Gericht ging davon aus, dass der Arbeitgeber der gewerkschaftlichen Forderung auf Tarifvertrag entweder durch Beitritt zum Arbeitgeberverband oder durch Abschluss eines Anschlusstarifvertrages nachkommen konnte. Damit stellte sich wieder die Frage, ob die negative Koalitionsfreiheit nur den Beitrittszwang oder auch den Zwang zur Unterwerfung unter einen fremden Tarifvertrag ausschließt. Der EGMR näherte sich dieser Frage vorsichtig mit der Feststellung, er akzeptiere bis zu einem gewissen Grade, dass die negative Koalitionsfreiheit dadurch betroffen war, dass der Arbeitgeber vor diese Alternative gestellt wurde. Weiter hieß es dann aber, die EMRK garantiere nicht das Recht, keinen Tarifvertrag abzuschließen. Anders das Minderheitsvotum mehrerer Richter. Sie wiesen das Argument zurück, dass die negative Koalitionsfreiheit nicht betroffen sei, weil es der Gewerkschaft nicht um einen Beitrittszwang ging, sondern nur um die Erstreckung des Tarifvertrages. Das Ziel der Kampfmaßnahme sei gleichgültig. Der Arbeitgeber sei unter Druck gesetzt worden, sich in das System der Kollektivverhandlungen zu integrieren, sei es durch Beitritt oder durch Anschlusstarifverträge, einschließlich zukünftiger Tarifverträge oder wenigstens des nächsten Tarifvertrages. Dies sei unvereinbar mit einem notwendigen Bestandteil der negativen Koalitionsfreiheit, nämlich der Freiheit, eigene „labour agreements“ zu schließen. Der Ansatz all dieser Überlegungen ist schief, weil die negative Koalitionsfreiheit einem Arbeitskampf um Tarifverträge grundsätzlich nicht entgegenstehen kann, soll es überhaupt Tarifautonomie und Arbeitskämpfe geben. Das Konzept einer vom Beitrittszwang unabhängigen negativen Koalitionsfreiheit ist hier also, kaum entstanden, gleich schief gegangen. Erwägenswert ist allenfalls, eine Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit darin zu sehen, dass, wie hier geschehen, eine ganz große Gewerkschaft einen ganz kleinen Arbeitgeber mit einer ganz großen Kampfmaßnahme (Lieferboykott) überzieht, so dass er als einzelner keine paritätische Verhandlungschance hat und sich zur Gewinnung von Kampfparität dem Arbeitgeberverband anschließen muss. Das wäre dann aber nicht mehr die negative Tarifvertragsfreiheit, sondern eine Auswirkung der Beitrittsfreiheit.

5. Ausschluss der Außenseiter-Arbeitnehmer von tariflichen Regelungen Wie eingangs schon bemerkt, stellt sich das Problem der negativen Tarifvertragsfreiheit in umgekehrter Richtung, wenn tarifliche Regelungen so gestaltet werden, dass Außenseiter daran gehindert werden, die tariflichen Arbeitsbedingungen durch Arbeitsvertrag zu übernehmen. Grundlegend ist hier immer noch der bekannte Beschluss des Großen Senats des BAG vom

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29.11.1967 zu tarifvertraglichen Differenzierungsklauseln.17 Das Urteil deutet die negative Koalitionsfreiheit ausschließlich als Schutz vor Beitrittsdruck und befasst sich deshalb nur mit der Frage, welcher Druck zulässig sein könne. Dabei komme es nicht auf die Intensität, sondern auf die Sozialadäquanz des Beitrittsdrucks an; heute würde man statt von Sozialadäquanz von Verhältnismäßigkeit reden. Dies führte dann zu der berühmtberüchtigten Aussage, das Gerechtigkeitsempfinden werde gröblich verletzt, wenn die Gewährung tariflicher Leistungen von Fragen der Organisationszugehörigkeit abhängig gemacht werde. Freilich hat der Große Senat keineswegs übersehen, dass schon die Ausstrahlung von Tarifverträgen auf nicht tarifgebundene Arbeitnehmer rechtlich problematisch sein kann, unabhängig von einem Beitrittsdruck. Dies wurde aber unter dem Aspekt der fehlenden Tarifmacht erörtert.18 Bei gleichem Verständnis von Art. 9 III GG als Schutz vor unzulässigem Beitrittsdruck kam ein Urteil des LAG Hamm vom 11.01.199419 zu einem anderen Ergebnis. Hier hatten die Tarifpartner bestimmt, dass eine zusätzliche Erholungsbeihilfe nur an tarifgebundene Arbeitnehmer durch einen als gemeinsame Einrichtung gegründeten Urlaubskassenverein geleistet wurde. Der dadurch ausgeübte Beitrittsdruck war nach Auffassung des LAG legitim. Um die Absperrung nicht tarifgebundener Arbeitnehmer von tariflichen Leistungen ging es auch in zwei Entscheidungen des BAG vom 21.01.1987.20 Danach verletzt die ausschließliche Berücksichtigung tarifgebundener Arbeitnehmer im Rahmen eines zahlenmäßig begrenzten Rechts auf Vorruhestand die negative Koalitionsfreiheit im Kern. Dem liegt wiederum die Auffassung zugrunde, dass die negative Koalitionsfreiheit (nur) vor Zwang und Druck zum Beitritt schütze, der hier vorliege. III. Die Rechtsprechung zur Erstreckung von Tarifverträgen durch Entsenderichtlinie und Entsendegesetz Zu einer weiteren Erstreckung von Tarifverträgen haben die Entsenderichtlinie 96/71 und das sie ausführende Entsendegesetz geführt. Nach Art. 3 I Entsenderichtlinie müssen die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass allgemeinverbindliche Tarifverträge im Bereich der Bauwirtschaft auch für alle aus dem Ausland entsandten Arbeitnehmer gelten. Art. 3 X ermächtigt die Mitgliedstaaten, Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, die in allgemeinverbindlichen Tarifverträgen festgelegt sind und Tätigkeiten außer17 18 19 20

AP Nr. 13 zu Art. 9 GG. Ebenso LAG Düsseldorf, 06.12.1985, LAGE Nr. 6 zu Art. 9 GG. LAGE Nr. 4 zu § 4 TVG. AP Nr. 46, 47 zu Art. 9 GG mit Anm. Scholz.

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halb der Bauwirtschaft betreffen, auf entsandte Arbeitnehmer zu erstrecken. Nach Art. 3 VIII der Richtlinie ist der Begriff der Allgemeinverbindlichkeit weit zu verstehen. Die Richtlinie verpflichtet und ermächtigt die Mitgliedstaaten also dazu, Tarifverträge auf alle im Inland tätigen Arbeitnehmer und ihre Arbeitgeber zu erstrecken, ohne Rücksicht darauf, ob sie den tarifschließenden Verbänden beitreten oder überhaupt beitreten können. Die umfangreiche einschlägige Rechtsprechung des EuGH hat daran anscheinend keinen Anstoß genommen, sondern das Problem nur in der Beeinträchtigung der Dienstleistungsfreiheit gesehen.21 Auch eine Studie Däublers über die Koalitionsfreiheit im EG-Recht hat zur negativen Koalitionsfreiheit nichts gefunden.22 Neuerdings geht der EuGH sogar so weit, die vom Entsenderecht vorausgesetzten allgemeinverbindlichen Tarifverträge gegen konkurrierende Tarifverträge abzuschotten, wiederum ohne die Problematik auch nur zu erwähnen.23 Das BAG hat sich dem angeschlossen, das Problem der Koalitionsfreiheit aber gesehen. So heißt es in einem Urteil vom 25.06.200224, § 1 AEntG greife nicht unzulässig in die negative Koalitionsfreiheit ein. Die Erstreckung von Tarifnormen durch das AEntG übe einen nur geringen Druck zum Beitritt aus. Auch die Verdrängung anderer Tarifverträge sei zulässig. Auf der gleichen Linie liegt ein Kammerbeschluss des BVerfG vom 18.07.200025, nach dem die Geltungserstreckung eines Tarifvertrages durch eine Verordnung nach § 1 Abs. 3a AEntG nicht gegen Art. 9 III GG verstößt. Ein erheblicher Druck zum Beitritt werde dadurch nicht ausgeübt, ebensowenig wie durch eine AVE. IV. Zwei Paukenschläge: Garantie der negativen Tarifvertragsfreiheit auch ohne Druck oder Zwang zum Beitritt Während die bisher behandelte Rechtsprechung bis heute an der engen Auslegung des Art. 9 III GG festhält, gibt es eine Entscheidung des BGH vom 18.01.200026 und ein Urteil des EuGH vom 09.03.200627, die deutlich weiter gehen, ohne dies allerdings klarzustellen. Der BGH hat eine Entscheidung des BVerfG zu der Frage eingeholt, ob die „Tariftreueregelung“ 21

s. Preis/Temming, Die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse im Kontext des Gemeinschaftsrechts, 2005. 22 Festschrift für Hanau, 1999, S. 489. 23 NZA 2002, S. 207. 24 AP Nr. 15 zu § 1 AEntG. 25 EzA Nr. 69 zu Art. 9 GG. 26 EzA Nr. 67 zu Art. 9 GG. 27 NZA 2006, S. 376; dazu Thüsing, NZA 2006, S. 473; Buschmann, AuR 2006, S. 204.

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in § 1 des Berliner Vergabegesetzes (u. a.) mit Art. 9 III GG vereinbar ist. In der Begründung wird zwar die Definition des BVerfG wiederholt, die negative Koalitionsfreiheit sei das Recht des einzelnen, einer Koalition fernzubleiben, doch wird im Übrigen nicht darauf, sondern schlechthin auf die Erstreckung der Tarifnormen abgestellt. Die durch Art. 9 III GG gewährleisteten Befugnisse der Koalitionen erstreckten sich grundsätzlich nur auf die Mitglieder der tarifvertragschließenden Parteien. Würden tarifvertragliche Bestimmungen für Außenseiter verbindlich, handelte es sich um einen Rechtssetzungsakt. Indem das Tarifvertragsgesetz die Tarifgebundenheit grundsätzlich auf die Mitglieder der Tarifparteien beschränke (§ 3 I TVG), trage es dem Grundsatz Rechnung, dass der Staat seine Normsetzungsbefugnis nicht in beliebigem Umfang außerstaatlichen Stellen überlassen und den Bürger nicht schrankenlos der normsetzenden Gewalt autonomer Gremien ausliefern darf, die ihm gegenüber nicht demokratisch bzw. mitgliedschaftlich legitimiert sind. Allerdings stehe Art. 9 III GG der Ausdehnung tarifvertraglicher Bestimmungen auf Außenseiter nicht in jedem Fall entgegen. So habe das BVerfG die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen nach § 5 TVG als mit Art. 9 III GG vereinbar angesehen. Maßgeblich hierfür war indessen u. a. die ausgewogene Regelung in § 5 TVG, die Gewähr dafür biete, dass die Interessen der betroffenen Außenseiter berücksichtigt werden und dass von der Möglichkeit der Allgemeinverbindlicherklärung zurückhaltend und verhältnismäßig, also nur bei entsprechend unabweisbaren Interessengeboten i. S. des § 5 TVG, Gebrauch gemacht werde. Die Regelung des § 1 I S. 2 VgG Bln mache die Ausdehnung der Verbindlichkeit tarifvertraglicher Bestimmungen auf ungebundene Dritte von keinen sachlichen Voraussetzungen abhängig. Auch das Verfahren biete keine Gewähr dafür, dass die Interessen der Außenseiter berücksichtigt werden. Nach Auffassung des Senats sei damit den strengen Anforderungen, die nach Art. 9 III GG an die Erstreckung tarifvertraglicher Bestimmungen auf unbeteiligte Dritte zu stellen sind, nicht genügt. Der BGH nimmt hier also den Gedanken des BVerfG auf, dass sich aus dem Demokratieprinzip Schranken für die Erstreckung von Tarifverträgen auf Außenseiter ergeben, verbindet dies aber mit der negativen Koalitionsfreiheit. Deren Inhalt wird gleichsam vom Demokratieprinzip her bestimmt und begrenzt. Das BVerfG hat die Vorlage des BGH mit Beschluss vom 11.06.2006 (1 BvL 4/00) brüsk zurückgewiesen. Allein dadurch, dass jemand den Vereinbarungen fremder Tarifvertragsparteien unterworfen wird, sei ein spezifisch koalitionsrechtlicher Aspekt nicht betroffen. Ein Urteil des EuGH vom 09.03.200628 leitet dagegen das Recht der Außenseiter, von Tarifverträgen verschont zu bleiben, unmittelbar aus der in

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Art. 11 EMRK gewährleisteten negativen Koalitionsfreiheit ab. Es ging um die Frage, ob der Übernehmer eines Betriebes an eine dynamische arbeitsvertragliche Bezugnahme auf die einschlägigen Tarifverträge gebunden ist, auch wenn er nicht durch Verbandsmitgliedschaft tarifgebunden ist. Der EuGH verneinte. Die Vereinigungsfreiheit, die auch das Recht umfasse, einer Gewerkschaft nicht beizutreten (der EuGH verweist hier auf die Urteile des EGMR Sigurjónsson/Island vom 30.06.1993, Amtliche Sammlung Serie A Nr. 264, § 35, und Gustafsson/Schweden vom 25.04.1996, oben Fn. 16), sei in Art. 11 der EMRK verankert und gehöre zu den Grundrechten, die nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs in der Gemeinschaftsrechtsordnung geschützt werden. Würde die vom Kl. vertretene „dynamische“ Auslegung der in Randnummer 18 des vorliegenden Urteils erwähnten vertraglichen Verweisungsklausel vorgenommen, so bedeute dies, dass künftige Kollektivverträge für den Erwerber gälten, der dem Kollektivvertrag nicht angehört, und dass sein Grundrecht der negativen Vereinigungsfreiheit beeinträchtigt werden könnte. Dagegen erlaube es eine „statische“ Auslegung dieser Klausel zu vermeiden, dass der Erwerber des Betriebs, der dem Kollektivvertrag nicht angehört, durch die künftigen Entwicklungen dieses Vertrags gebunden wird. Sein Recht auf negative Vereinigungsfreiheit werde somit umfassend gewährleistet. Hier wird also aus der negativen Koalitionsfreiheit unmittelbar das Recht abgeleitet, fremden Tarifverträgen nicht unterworfen zu werden. Eine Übereinstimmung mit dem Urteil des BGH liegt auch darin, dass sich das Bedenken vor allem gegen dynamische Verweisungen auf zukünftige Tarifverträge richtet. Im Übrigen steht aber diese weit vorgeschobene Position der negativen Tarifvertragsfreiheit auf schwacher Basis. Das vom EuGH zitierte Urteil des EGMR vom 30.06.1993 betrifft einen Fall, in dem es ausschließlich um Beitrittszwang ging. In dem oben schon behandelten Fall Gustafsson hat der EGMR in der Tat die negative Tarifvertragsfreiheit in Betracht gezogen, im Ergebnis aber abgelehnt. Im Anlassfall des EuGH kam hinzu, dass der frühere Arbeitgeber durch die dynamische arbeitsvertragliche Verweisung auf die negative Tarifvertragsfreiheit, wenn sie es denn gibt, verzichtet hatte, so dass die etwaigen Grenzen einer solchen Verzichtsmöglichkeit zu erörtern waren. V. Ergebnis Die negative Tarifvertragsfreiheit geistert wie ein Gespenst durch die rechtliche Landschaft. Ab und zu taucht sie auf, trägt dabei aber verschiedene rechtliche Gewänder, meist ist sie unsichtbar. Auch dem Verfasser fällt 28 C 499/04 (Werhof), NZA 2006, S. 376 = AuR 2006, S. 202 mit Anm. Buschmann.

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es schwer, sie zu stellen. Doch sei ein vorläufiges Ergebnis versucht. Die negative Koalitionsfreiheit kann nicht auf die Freiheit vom Beitrittszwang oder -druck beschränkt werden, denn das Belastende eines solchen Zwangs oder Drucks ist weniger die Beitragspflicht als die Unterwerfung unter die Rechtsetzung des Verbandes. Es wäre deshalb widersprüchlich, geradezu ein nudum ius, Schutz vor der Mitgliedschaft zu gewähren, aber nicht vor ihrer wichtigsten Konsequenz. Andererseits muss sich die negative Koalitionsfreiheit einschließlich der negativen Tarifvertragsfreiheit mit ihrem alter ego, der positiven Koalitionsfreiheit und der aus ihr abgeleiteten Tarifautonomie vertragen, ebenso mit den europarechtlichen Vorgaben. Die vereinheitlichende und sozial schützende Funktion des Tarifvertrages kann es verlangen, dass die negative Tarifvertragsfreiheit zurücktritt. Für die dadurch erforderliche Abwägung können die Kriterien der einschlägigen Rechtsprechung übernommen werden, soweit diese nicht ausschließlich auf den positiven oder negativen Aspekt der Koalitionsfreiheit blickt. Wesentliches zu dieser Abwägung haben Otto Rudolf Kissel29 und Rupert Scholz (Fn. 5) beigetragen.

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FS Hanau, 1999, S. 547.

Entwicklungslinien europäischer Steuerpolitik und Steuerrechtsprechung Von Moris Lehner I. Einführung Europarechtliche Probleme beschäftigen den Jubilar seit vielen Jahren mit sehr großem wissenschaftlichem Ertrag.1 Daran anknüpfend sei der Versuch unternommen, die Entwicklungslinien der europäischen Steuerpolitik und Steuerrechtsprechung nachzuzeichnen und nach den Schwierigkeiten zu fragen, die einer Harmonisierung in diesem Bereich entgegenstehen. Während die Steuerrechtsordnungen der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der indirekten Steuern, insbesondere auf dem Gebiet der Umsatzsteuer, trotz bestehender Harmonisierungslücken weitgehend angeglichen sind,2 bestehen im Bereich der direkten Steuern, insbesondere im Bereich der für den Binnenmarkt wichtigen Einkommen- und Körperschaftsteuer trotz der Umsetzung wichtiger Richtlinien3 und einer mittlerweile sehr umfangreichen 1

Scholz, SAE 1984, 250 ff.; ders., Europäische Einigung und deutsche Frage, in: Merten (Hrsg.), Föderalismus und Europäische Gemeinschaften unter besonderer Berücksichtigung von Umwelt und Gesundheit, Kultur und Bildung (1990), S. 283; ders., NJW 1990, 941 ff.; ders., WuW 1990, 99 ff.; ders., Europäisches Gemeinschaftsrecht und innerstaatlicher Verfassungsrechtsschutz, in: Friauf/Scholz (Hrsg.), Europarecht und Grundgesetz (1990); ders., Der europäische Rechtsstaat, in: Baur/ Hopt/Mailänder (Hrsg.), FS für Steindorff (1990), S. 1413 ff.; ders., NJW 1992, 2593 ff.; ders., NVwZ 1993, 817 ff.; ders., NJW 1993, 1690 ff.; ders., Das Subsidiaritätsprinzip im europäischen Gemeinschaftsrecht – ein tragfähiger Maßstab zur Kompetenzabgrenzung?, in: Letzgus/Hill (Hrsg.), FS für Helmrich (1994), S. 411 ff.; ders., Europäische Union und nationales Verfassungsrecht (1994); ders., Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Auswirkungen auf die Europapolitik, in: Bayer-Stiftung für deutsches und internationales Arbeits- und Wirtschaftsrecht (Hrsg.), Der Vertrag über die Europäische Union und seine Auswirkungen auf die deutsche Wirtschafts- und Arbeitsverfassung (1996), S. 27 ff.; ders., DÖV 1998, 261 ff.; ders., DÖV 2000, 417 ff.; ders., AöR 106 (1981), 79 ff.; ders./Hofmann, ZRP 1998, 295 ff.; ders./Aulehner, SpuRt 1996, 44 ff. 2 Vgl. Thiele, ZEuS 2006, 41 ff.; Stadie, in: Rau/Dürrwächter (Hrsg.), UStG, Losebl. Stand Sept. 2006, Einführung, Rdnr. 220 ff.; Reiß, in: Tipke/Lang (Hrsg.), Steuerrecht (2005)18, § 14, Rdnr. 6 ff.; Doboratz, Leistung und Entgelt im Europäischen Umsatzsteuerrecht (2005). 3 Dazu u. III.

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Rechtsprechung des EuGH4 nach wie vor große Unterschiede zwischen den einzelnen Steuersystemen.5 Aus diesen Unterschieden resultieren Wettbewerbshindernisse innerhalb der Gemeinschaft und binnenmarktschädliche Maßnahmen der einzelnen Mitgliedstaaten zum Schutz ihres Steueraufkommens in Gestalt von außensteuerrechtlichen Vorschriften über die Wegzugs-6 und Hinzurechnungsbesteuerung7 und in Gestalt von anderen Maßnahmen.8 Umfassende Lösungen, die über bereichsspezifische Maßnahmen hinausgehen, sind wegen unzureichender Gemeinschaftskompetenzen9 und wegen der territorialen Radizierung des Steuerrechts10 nicht in Sicht. II. Vorgaben im EG-Vertrag Für das Steuerrecht wird das Binnenmarktziel in erster Linie durch Vorgaben im Bereich der indirekten Steuern konkretisiert. Neben dem in den Art. 90–92 EG enthaltenen Verbot der steuerlichen Diskriminierung im innergemeinschaftlichen Warenverkehr11 ist vor allem die in Art. 93 EG vorgesehene Rechtsangleichungskompetenz des Rates zu nennen, die mit Ausnahmen u. a. im Bereich der noch enorm divergierenden Steuersätze12 zu einem stark harmonisierten Umsatzsteuerrecht geführt hat.13 Im Gegensatz 4

Dazu u. IV. Vgl. zur Unternehmensbesteuerung Hey, Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung in Europa (1997); zu den Einkommens- und Körperschaftsteuersystemen der einzelnen Länder siehe Kesti (Hrsg.), European Tax Handbook 2005; Mennel/Förster (Hrsg.), Steuern in Europa, Amerika und Asien, Losebl. Stand Juli 2006; BMF, Die wichtigsten Steuern im internationalen Vergleich, 2004, S. 4. 6 EuGH v. 11.3.2004 (Rs. C-9/02 De Lasteyrie du Saillant), Slg. 2004, I-2409 ff. = IStR 2004, 236; dazu Cordewener, sj 2004, Nr. 10, S. 10; Ismer/Reimer/Rust, EWS 2004, 207 ff.; Schnitger, BB 2004, 804 ff.; Lehner, JZ 2004, 730 ff. 7 EuGH v. 12.9.2006 (Rs. C-196/04 Cadbury-Schweppes), DStR 2006, 1686 ff. = IStR 2006, 670; dazu Wassermeyer, DB 2006, 2050 ff.; ders., GmbHR 2006, 1065 ff.; Sedemund, BB 2006, 2119 ff.; Hahn, IstR 2006, 667 ff.; Schönfeld, IWB F 3 Gr. 1, S. 2119 ff., v. 11.1.2006. 8 Vgl. Seer, IWB F 11 Gr. 2, S. 725 ff., v. 12.4.2006; Hey, JZ 2006, 851 ff.; Lang, J., NJW 2006, 2209 ff.; Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht (2002); Bolkestein, EC Tax Review 2000, 78 ff.; Malherbe, Intertax 2002, 219 ff.; Gross, RIW 2002, 46 ff.; Lehner, StuW 1998, 159 ff. 9 Dazu u. II. 10 Dazu u. V. 11 Vgl. Waldhoff, in: Callies/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV2; Niedobitek/Streinz, EUV/EGV, jeweils zu Art. 90–92 EG. 12 Belgien (21%), Dänemark (25%), Deutschland (16% (ab 2007 19%)), Finnland (22%), Frankreich (19,6%), Griechenland (19%), Großbritannien (17,5%), Irland (21%), Italien (20%), Luxemburg (15%), Niederlande (19%), Österreich (20%), Portugal (21%), Schweden (25%), Spanien (16%), Estland (18%), Lettland (18%), Litauen (18%), Malta (18%), Polen (22%), Slowakei (19%), Slowenien (20%), 5

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dazu enthält der EG-Vertrag für den Bereich der direkten Steuern, mit Ausnahme einer in Art. 175 Abs. 2 EG vorgesehenen Rechtsangleichungskompetenz des Rates zum Erlass von Lenkungsteuern14 und einer primärvertraglichen Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Beseitigung der Doppelbesteuerung nach näherer Maßgabe des Art. 293 EG,15 keine Vorgaben. Dieser Mangel hat zur Folge, dass die bislang auf dem Gebiet der direkten Steuern erlassenen und dem Gebot der Einstimmigkeit unterworfenen Richtlinien16 auf die Generalklausel des Art. 93 EG gestützt werden mussten. Bedeutsam ist jedoch eine seit dem Beginn der 90er Jahre äußerst umfangreiche Rechtsprechung des EuGH auf dem Gebiet der direkten Steuern, insbesondere der Einkommen- und der Körperschaftsteuer, die sich auf die Grundfreiheiten der Art. 39–56 ff. EG stützt.17 Von einer Ausnahmebestimmung im Bereich der Kapitalverkehrsfreiheit18 abgesehen, beziehen sich die Grundfreiheiten jedoch nach ihrem Wortlaut nicht ausdrücklich auf das Steuerrecht. Schließlich erlangen die nach ihrem Wortlaut für die direkten Steuern gleichfalls nicht spezifischen Vorschriften der Art. 87–89 EG über gemeinschaftswidrige Beihilfen, Bedeutung für subventive steuerliche Vorschriften der Mitgliedstaaten.19 III. Die Steuerpolitik der EG-Kommission Angesichts des kompetenzrechtlichen Befundes und der daraus resultierenden Beschränkungen überrascht es nicht, dass die Steuerpolitik der EGKommission auf dem Gebiet der direkten Steuern nicht konsistent und geradlinig sein konnte und dass ihr nur wenige, allerdings bedeutsame Erfolge beschieden waren. In der Entwicklung der europäischen Steuerpolitik20 lassen sich vier Abschnitte unterscheiden. Tschechien (19%), Ungarn (20%), Zypern (15%), Durchschnitt EU: 17,7%; Quelle: Wirtschaftskammern Österreichs: http://wko.at/statistik/eu/europa-steuersaetze.pdf. 13 Vgl. die Nachw. in Fn. 2. 14 Vgl. zur Unterscheidung zwischen Lenkungsteuern und Fiskalzwecksteuern: Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen (1983), S. 68 ff. 15 Vgl. dazu u. Lehner, in: Vogel/Lehner (Hrsg.), DBA (2003)4, Einl., Rdnr. 264 m. w. Nachw. 16 Dazu u. III. 17 Dazu u. IV. 18 Art. 58 Abs. 1 Buchst. a) EG. 19 Vgl. EuGH v. 10.1.2006 (Rs. C-222/04 Cassa di Risparmio di Firenze SpA), HFR 2006, 407 ff. = EuZW 2006, 306 ff.; Seer, IWB F 11 Gr. 2, S. 725 ff.; Gross, RIW 2002, 46 ff.; Jachmann/Meier-Behringer, BB 2006, 1823 ff.; Hüttemann, DB 2006, 914; Heskamp, Die Vereinbarkeit allgemeiner und horizontaler Beihilfen und Beihilferegelungen mit Art. 87 EGV (2000). 20 Vgl. dazu Lehner, Europarechtliche Perspektiven für das Internationale Steuerrecht, Münchener Schriften zum Internationalen Steuerrecht, Heft 19 (1994), S. 20 ff.

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1. Erste Harmonisierungsvorschläge Erste Bestrebungen beginnen in den 60er Jahren. Sie richten sich auf die Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Körperschaftsteuersysteme mit dem wichtigen, jedoch bis heute noch nicht vollständig verwirklichten Ziel, die Doppelbelastung der ausgeschütteten Gewinne mit der Körperschaftsteuer der Gesellschaft und mit der Einkommensteuer des Anteilseigners zu vermeiden. Zwei im Auftrag der Kommission erarbeitete Vorschläge stellen die Weichen für sehr unterschiedliche Wege. Während der Neumark-Bericht 21 aus dem Jahre 1962 ein Anrechnungssystem mit einem gespaltenen Körperschaftsteuersatz für einbehaltene und ausgeschüttete Gewinne vorschlägt, spricht sich der 1970 vorgestellte Tempel-Bericht 22 für eine Besteuerung der Gesellschaft und der Gesellschafter bei niedrig zu bemessender Körperschaftsteuer aus, wobei in- und ausländische Gesellschafter gleich behandelt werden sollten. Im Jahre 1975 unterbreitete die Kommission dann einen eigenen Richtlinienvorschlag zur Harmonisierung der Körperschaftsteuersysteme,23 der auf eine Körperschaftsteuer mit einer Spanne zwischen 45 v. H. und 55 v. H. und eine Quellensteuerbelastung der ausgeschütteten Gewinne in Höhe von 25 v. H.24 gerichtet war. Weitere Richtlinienvorschläge, die bereits aus dem Jahre 1969 stammen, betreffen die Umwandlungsbesteuerung25 und die Besteuerung im Verhältnis zwischen Mutter- und Tochtergesellschaften.26 Schließlich sind aus den Anfangsjahren der europäischen Steuerpolitik auf dem Gebiet der direkten Steuern zwei Vorschläge zu nennen, die das Doppelbesteuerungsproblem zum Ge21 Europäische Wirtschaftsgemeinschaft – Kommission, Bericht des Steuer- und Finanzausschusses (Neumark-Bericht), Brüssel 1962. 22 Van den Tempel, Impôt sur les sociétés et impôt sur le revenu dans les Communautés Européennes, Luxembourg 1970. 23 Vorschlag einer Richtlinie des Rates zur Harmonisierung der Körperschaftsteuersysteme und der Regelung der Quellensteuer auf Dividenden v. 1.8.1975, ABl. EG Nr. C 253, v. 5.11.1975, S. 2. 24 Nach dem geltenden deutschen KStG beträgt die Steuer auf einbehaltene und ausgeschüttete Gewinne 25 v. H., wobei die Dividende, soweit sie von körperschaftsteuerpflichtigen Anteilseignern empfangen wird, steuerfrei bleibt, während sie von der natürlichen Person zur Hälfte der Einkommensteuer zu unterwerfen ist (Halbeinkünfteverfahren), dazu: Hey, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 11, Rdnr. 10 ff.; Intemann/Nacke, in: Herrmann/Heuer/Raupach (Hrsg.), EStG und KStG, Losebl. Stand Sept. 2006, § 3, Nr. 40. 25 Vorschlag einer Richtlinie des Rates über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen und die Einbringung von Unternehmensteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen v. 16.1.1969, ABl. EG Nr. C 39, v. 22.3.1969, S. 1; dazu u. 2. 26 Vorschlag einer Richtlinie des Rates über das gemeinsame Steuersystem für Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten v. 16.1.1969, ABl. EG Nr. C 39, v. 23.3.1969, S. 7; dazu u. 2.

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genstand haben. Dies sind zum einen der Entwurf für den Abschluss eines multilateralen Doppelbesteuerungsabkommens aus dem Jahre 196827 und zum anderen ein Richtlinienvorschlag aus dem Jahre 1977 zur Ergänzung des in den Doppelbesteuerungsabkommen vorgesehenen Verständigungsverfahrens28 für den Sonderfall der Gewinnberichtigung zwischen verbundenen Unternehmen durch ein Schiedsverfahren.29 Dieser Vorschlag wurde im Jahre 1990 durch einen multilateralen völkerrechtlichen Vertrag zwischen den Mitgliedstaaten als Schiedsabkommen verwirklicht.30 Die erste Richtlinie, die auf dem Gebiet der direkten Steuern erlassen wurde, war die ebenfalls dem Verfahrensrecht zuzurechnende Amtshilferichtlinie aus dem Jahre 1977.31 Sie hatte, neben Auskünften auf Ersuchen im Einzelfall, einen automatischen und einen spontanen Auskunftsaustausch zum Ziel. In Deutschland wurde die Amtshilferichtlinie erst im Jahre 1985 durch das EG-Amtshilfegesetz umgesetzt.32 Die Bedeutung der Amtshilferichtlinie für die innergemeinschaftlichen Doppelbesteuerungsabkommen resultiert daraus, dass sie die in diesen Abkommen enthaltenen Bestimmungen über den Informationsaustausch überlagert.33 2. Spezielle Maßnahmen im Bereich der Unternehmensbesteuerung Nach erfolglosen Bemühungen um eine vollständige Harmonisierung der Körperschaftsteuersysteme der Mitgliedstaaten34 konnten zu Beginn der 27

Vorentwurf 1968 zu einem Europäischen Doppelbesteuerungsabkommen, Dok. 11.414/XIV/86-D v. 1.7.1968. 28 Vgl. dazu und zur deutschen Abkommenspraxis Lehner, in: Vogel/Lehner (Hrsg.), DBA (Fn. 15), Art. 25, Rdnr. 220 ff. 29 Richtlinienvorschlag über Bestimmungen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung für den Fall der Gewinnberichtigung zwischen verbundenen Unternehmen (Schiedsverfahren), KOM (76) 611 endg. = BT-Drucks. 8/740 v. 7.7.1977, dazu Lehner, Möglichkeiten zur Verbesserung des Verständigungsverfahrens auf der Grundlage des EWG-Vertrages, Münchener Schriften zum Internationalen Steuerrecht, Heft 4 (1982); ders., in: Vogel/Lehner (Hrsg.), DBA (Fn. 15), Art. 25, Rdnr. 220 ff. (Fn. 28). 30 Vgl. dazu Lehner, in: Vogel/Lehner (Hrsg.), DBA (Fn. 15), Art. 25, Rdnr. 220 ff. (Fn. 29); ders., in: Vogel/Lehner (Hrsg.), DBA (Fn. 15), Art. 25 Rdnr. 220 ff. 31 Richtlinie über die gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten Steuern, ABl. EG Nr. L 336, v. 27.12.1977, S. 15. 32 Die Umsetzung erfolgte durch § 117 AO, vgl. Art. 2 des Steuerbereinigungsgesetzes 1986 v. 19.12.1985 (Inkrafttreten: 25.12.1985). 33 Vgl. zu den späteren Ergänzungen der Amtshilferichtlinie (Fn. 31) und zu ihrer abkommensrechtlichen Bedeutung Engelschalk, in: Vogel/Lehner (Hrsg.), DBA (Fn. 15) Art. 26, Rdnr. 67 ff. 34 Dazu o. 1. sowie u. 5.

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90er Jahre wichtige Richtlinien im Teilbereich der Besteuerung grenzüberschreitend verbundener Unternehmen erlassen werden. Besonders bedeutsam ist die für die Doppelbesteuerungsproblematik relevante Mutter-Tochter-Richtlinie vom Juli 1990.35 Die bereits im Januar 1992 in das deutsche Recht umgesetzte Richtlinie36 stellt sicher, dass die von der Tochtergesellschaft an die Muttergesellschaft ausgeschütteten Dividenden nur mit der Körperschaftsteuer der Tochtergesellschaft belastet werden. Eine zusätzliche Steuerbelastung der Muttergesellschaft durch eine Besteuerung der Dividenden im Sitzstaat der Tochtergesellschaft oder im Sitzstaat der Muttergesellschaft wird weitgehend ausgeschlossen. Auch die auf einem Vorschlag aus dem Jahre 1990 beruhende, aber erst im Jahre 2003 erlassene Richtlinie zur Abschaffung der Quellensteuern und Lizenzgebühren bei verbundenen Unternehmen37 ist in diesem Zusammenhang zu nennen. Ebenfalls aus dem Jahre 1990 stammt die bis zum heutigen Tag gemeinschaftsweit nur punktuell umgesetzte Fusionsrichtlinie.38 Sie ist darauf gerichtet, die Nachteile zu vermeiden, die bei grenzüberschreitenden Umwandlungsvorgängen durch den steuerlichen Zugriff auf die stillen Reserven eines in den Umwandlungsvorgang einbezogenen Unternehmens entstehen können.39 In diesem Bereich ergeben sich jedoch seit dem Jahre 2004 erhebliche Erleichterungen 35

Richtlinie 90/435/EWG des Rates v. 23.7.1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten, ABl. EG Nr. L 225, v. 20.8.1990, S. 6. 36 Die Umsetzung erfolgte für inländische Muttergesellschaften von EU – Tochtergesellschaften durch § 44d EStG mit Neufassung in § 43b EStG und für inländische Muttergesellschaften von EU-Tochtergesellschaften durch die indirekte Anrechnung nach § 26 Abs. 2 KStG a. F., die aber durch Schachtelprivilegien in Doppelbesteuerungsabkommen (dazu Vogel, in: Vogel/Lehner (Hrsg.), DBA (Fn. 15), Art. 23, Rdnr. 86 ff.) und durch § 8b KStG gegenstandlos geworden ist; vgl. zur Erweiterung des Anwendungsbereichs der MTR durch die Richtlinie 2003/123/EG des Rates v. 22.12.2003, ABl. EU Nr. L 7, v. 13.1.2004, S. 41: BMF-Schreiben v. 5.4.2005, IV B 5 – S 2403 – 8/05, BStBl I 2005, 618; sowie Grotherr, IWB F 3 Gr. 2, S. 1157 ff., v. 26.1.2005; Häuselmann/Ludemann, RIW 2005, 123 ff.; Merker, SteuerStud 2005, 128 ff.; Lühn, IWB F 11 Gr. 2, S. 635 ff., v. 26.5.2004. 37 Richtlinie 2003/49/EG des Rates v. 3.6.2003 über Zinsen und Lizenzgebühren bei verbundenen Unternehmen, ABl. EU Nr. L 157/38, v. 26.6.2003, S. 49 f., umgesetzt durch § 50g EStG, vgl. dazu Cordewener/Dörr, GRUR Int 2006, 447 ff. 38 Richtlinie 90/434/EWG des Rates über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen, ABl. EG Nr. L 225, v. 20.8.1990, S. 1 mit Ergänzungen durch die Richtlinie 2005/19/EG v. 17.2.2005, ABl. EU Nr. L 058, v. 4.3.2005, S. 19; vgl. zur Erweiterung des Anwendungsbereichs der FR und zu den gegenwärtigen Umsetzungsbestrebungen durch das SESTEG (Gesetz über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften) Rödder/Schumacher, DStR 2006, 1481 ff.; Bock, StB 2006, 337 ff. 39 Vgl. die Nachw. in Fn. 38.

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durch die Möglichkeit zur Errichtung einer Societas Europeae (SE 40), die von der im Jahre 2005 überarbeiteten Fusionsrichtlinie erfasst wird.41 Ein Richtlinienvorschlag über die Berücksichtigung grenzüberschreitender Unternehmensverluste konnte bislang nicht verwirklicht werden.42 3. Die Politik des Wettbewerbs der Steuersysteme Die von der EG-Kommission im ersten Drittel der 90er Jahre favorisierte Politik eines Wettbewerbs der mitgliedstaatlichen Steuersysteme43 findet ihren ersten Ausdruck in der Begründung, mit der sie ihren im Jahre 1975 unterbreiteten Richtlinienvorschlag zur Harmonisierung der Körperschaftsteuersysteme44 im Jahre 1990 wieder zurückgezogen hat. Mit Bezug auf das damals noch nicht im EG-Vertrag festgeschriebene Subsidiaritätsprinzip erwartete die Kommission,45 dass der „Wettbewerb zwischen den verschiedenen Volkswirtschaften“ eine Annäherung der Unternehmensbesteuerung bewirken würde. Trotz der Ergebnisse des Ruding-Ausschusses46, der in seiner Untersuchung über die Bedeutung der Besteuerung für Standortentscheidungen von Unternehmen weit reichende Harmonisierungsmaßnahmen vorgeschlagen hatte, war die Kommission der Meinung, dass sich ein gemeinschaftliches Vorgehen „angesichts der Bedeutung des Steuerwesens für 40 Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates v. 8.12.2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE), ABl. EG Nr. L 294, v. 10.11.2001, S. 1 ff.; Einführung in Deutschland durch das Gesetz vom 22.12.2004 zur Ausführung der Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8. Oktober 2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE), BGBl. I 2004, 3675 ff.; vgl. Erkis, Die Besteuerung der Europäischen (Aktien-)Gesellschaft – Societas Europaea (SE) (2006); vgl. Brandt, Ein Überblick über die Europäische Aktiengesellschaft (SE) in Deutschland, BB Beilage 2005, Nr. 13, S. 1 ff. 41 Vgl. Louven/Dettmeier/Pöschke/Weng, Optionen grenzüberschreitender Verschmelzungen innerhalb der EU – gesellschafts- und steuerrechtliche Grundlagen, BB-Special 2006, Nr. 13, S. 1 ff.; Drinhausen/Keinath, BB 2006, 725 ff., 732. 42 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über eine Regelung für Unternehmen zur Berücksichtigung der Verluste ihrer in anderen Mitgliedstaaten belegenen Betriebsstätten und Tochtergesellschaften, KOM (90) 595 endg., v. 24.1.1991, ABl. EG Nr. C 53, v. 28.2.1991, S. 30. 43 Vgl. dazu Schön, DStJG 23 (2000), S. 191 ff.; ders. (Hrsg.), Tax Competition in Europe (2003); Herzig, DStJG 19 (1996), S. 121 ff.; Seer, IWB F 11 Gr. 2, S. 725 ff. (Fn. 8); Lehner, StuW 1998, 159 ff. 44 Vgl. den Nachw. in Fn. 23. 45 Mitteilung der Kommission der Europäischen Gemeinschaften an das Parlament und an den Rat über Leitlinien zur Unternehmensbesteuerung SEK (90) 601 endg. Teil II A 30 = BR-Drucks. 360/90. 46 Bericht des unabhängigen Sachverständigenausschusses (Ruding-Ausschuss), Luxemburg 1992; inoffizielle deutsche Übersetzung des 10. Kapitels des Berichts in DB Beilage 1992, Nr. 5, S. 1 ff.

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die Souveränität der Mitgliedstaaten und des Grundsatzes der Subsidiarität auf das für das Funktionieren des Binnenmarktes unerlässliche Mindestmaß beschränken sollte“47. Auch in ihrem Binnenmarktbericht vom Juni 199548 bleibt die Kommission zurückhaltend, obwohl sie deutlich feststellt, dass das in den Mitgliedstaaten geltende Steuerrecht ein ordnungsgemäßes Funktionieren des Binnenmarktes noch immer erschwert.49 Das Blatt wendet sich nicht nur wegen dieses Negativbefundes, sondern auch deshalb, weil sich ein nicht lösbarer Zielkonflikt zwischen der erhofften Mobilität der Marktteilnehmer und dem Streben der Mitgliedstaaten nach dem Schutz ihrer Steuereinnahmen verstärkt.50 In der weiteren Entwicklung wird der ursprünglich von der EG-Kommission favorisierte Wettbewerb der Steuersysteme zu ihrer zentralen Sorge.51 Kritik gilt zwar auch dem Wettbewerb der Marktteilnehmer durch Verlagerung von Besteuerungsgrundlagen in andere Länder52, im Vordergrund der weiteren Gemeinschaftspolitik stehen jedoch die für dieses Verhalten der Marktteilnehmer ursächlichen Anreize in Gestalt der Belastungsunterschiede zwischen den mitgliedstaatlichen Steuerrechtsordnungen. In ihrem Bericht über die Entwicklung der Steuersysteme vom Oktober 1996,53 der nur wenige Monate nach dem Diskussionspapier54 veröffentlicht wurde, betont die EG-Kommission die Gefahr eines „unfairen oder schädlichen Wettstreits (erg. der Staaten) um Steuereinnahmen aus international mobilen Tätigkeiten“.55 Das besondere Dilemma dieses Befunds liegt in der Frage, was als unfaire Maßnahme im Wettstreit um Steuereinnahmen anzusehen ist. 4. Maßnahmen gegen schädlichen Steuerwettbewerb Die im Bericht der EG-Kommission über die Entwicklung der Steuersysteme festgehaltenen Erwägungen reichen von der Forderung nach einer Ver47 EG-Kommission, Bericht über die steuerlichen Rahmenbedingungen für kleinere und mittlere Unternehmen, ABl. EG Nr. C 187, v. 9.7.1994, S. 5. 48 Bericht der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament, Der Binnenmarkt 1994, v. 15.6.1995, KOM 95 (238) endg. 49 EG-Kommission, Der Binnenmarkt 1994 (Fn. 48), Rdnr. 231. 50 Diskussionspapier der EG-Kommission, Steuern in der Europäischen Union, v. 20.3.1996, SEK (96) 487 endg. sowie Bericht über die Entwicklung der Steuersysteme (Monti-Bericht), v. 22.10.1996, KOM (96) 546 endg.; dazu Monti, EC Tax Review 1997, 2; Hinnekens, EC Tax Review 1997, 31; Easson, EC Tax Review 1996, 112. 51 Diskussionspapier, Steuern in der Europäischen Union (Fn. 50), II. 1. 52 Diskussionspapier, Steuern in der Europäischen Union (Fn. 50), II. 1. 53 Bericht, Entwicklung der Steuersysteme (Monti-Bericht) (Fn. 50). 54 Diskussionspapier, Steuern in der Europäischen Union (Fn. 50). 55 Bericht, Entwicklung der Steuersysteme (Monti-Bericht) (Fn. 50), 3.12.

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besserung der Wettbewerbs- und Beihilferegeln56 und dem Wunsch nach Mindestsätzen oder Mindestbemessungsgrundlagen bei der Körperschaftsteuer57 und bei der Besteuerung von Kapitalerträgen58 bis hin zu Initiativen, die zu einer Verbesserung des Informationsaustausches und zur Definition von akzeptablen und inakzeptablen Verhaltensweisen innerhalb der Gemeinschaft führen sollen.59 Insoweit ist die am 1.12.1997 vom Rat der EG-Finanzminister verabschiedete Entschließung über einen Code of Conduct 60 für die Unternehmensbesteuerung eine wichtige Maßnahme zur „Bekämpfung des schädlichen Steuerwettbewerbs in der Europäischen Union“.61 Nach den Zielsetzungen des Code of Conduct sind die Mitgliedstaaten aufgerufen, die noch bestehenden Verzerrungen abzubauen, erhebliche Einbußen beim Steueraufkommen zu vermeiden und die Steuerstrukturen beschäftigungsfreundlicher zu gestalten.62 Zur Beurteilung der Wettbewerbsschädlichkeit einer steuerlichen Maßnahme werden verschiedene Kriterien genannt, u. a. ist zu prüfen, ob die Vorteile ausschließlich Gebietsfremden oder für Transaktionen mit Gebietsfremden gewährt werden, ob die Vorteile völlig von der inländischen Wirtschaft isoliert sind („ring-fenced“), so dass sie keine Auswirkung auf die innerstaatliche Steuergrundlage haben, und ob die Vorteile auch dann gewährt werden, wenn ihnen keine tatsächliche Wirtschaftstätigkeit in dem Mitgliedstaat zugrunde liegt, der diese Vorteile bietet.63 Die Konsequenzen, die bei einer Bejahung eines wettbewerbsschädlichen Steuervorteils gezogen werden können, beschränken sich jedoch auf sanktionslose Forderungen, weil der Code of Conduct nach seinem ausdrücklichen Wortlaut nur eine „politische Verpflichtung“ begründet.64 Vorgesehen sind neben Stillhaltepflichten (stand still), die es einem betroffenen Mitgliedstaat verbieten, neue schädliche steuerliche Maßnahmen im Sinne des Code zu treffen, auch Pflichten zur Rücknahme wettbewerbsschädlicher Steuervorteile (roll back).65 Darüber hinaus werden die Mitgliedstaaten aufgerufen, bei der Bekämpfung der Steuervermeidung und Steuerhinterziehung vor allem im Rahmen des Informationsaustausches zusammenzuarbeiten.66 Schließlich sei in 56

Bericht, Entwicklung der Steuersysteme (Monti-Bericht) (Fn. 50), 3.13. Bericht, Entwicklung der Steuersysteme (Monti-Bericht) (Fn. 50), 3.14. 58 Bericht, Entwicklung der Steuersysteme (Monti-Bericht) (Fn. 50), 3.16 f. 59 Bericht, Entwicklung der Steuersysteme (Monti-Bericht) (Fn. 50), 3.15, 6.5. 60 ABl. EG Nr. C 2, v. 6.1.1998, S. 2 ff. (Code of Conduct); vgl. auch IStR, Beihefter zu Heft 1/1998; aus neuerer Zeit umfassend Schönfeld, Hinzurechnungsbesteuerung und Europäisches Gemeinschaftsrecht (2005), S. 321 ff. 61 Code of Conduct (Fn. 60), S. 3; zu den Hintergründen: Monti, EC Tax Review 1997, 1 ff. 62 Code of Conduct (Fn. 60), Buchst. A. 63 Code of Conduct (Fn. 60), Buchst. B. 64 Code of Conduct (Fn. 60), Vorbemerkung. 65 Code of Conduct (Fn. 60), Buchst. C und D. 57

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diesem Zusammenhang noch auf die OECD-Berichte über schädlichen Steuerwettbewerb aus den Jahren 199867 und 200068 hingewiesen.69 5. Neuere Entwicklungen Mit einem Bündel neuer Vorschläge, die seit dem Jahre 2001 unterbreitet werden,70 bleibt die europäische Steuerpolitik auf die Unternehmensbesteuerung konzentriert. Neu ist der Versuch, gezielte Einzelmaßnahmen mit umfassenden Lösungsansätzen zu kombinieren.71 Dabei steht die Schaffung einer konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage für multinationale Unternehmen, die nach den Steuergesetzen des Sitzstaats der Muttergesellschaft berechnet würde, alternativ neben einer konsolidierten Bemessungsgrundlage nach neuen gemeinschaftsrechtlichen Regeln.72 Die konsolidierte Bemessungsgrundlage soll es ermöglichen, dass jeder Mitgliedstaat seinen eigenen Steuersatz auf den ihm zukommenden Anteil an der insoweit zwischen den Mitgliedstaaten aufzuteilenden Bemessungsgrundlage anwenden kann. Auf eine ohnehin aussichtslos erscheinende Harmonisierung des Körperschaftsteuersatzes wird ausdrücklich verzichtet.73 Nicht zuletzt gerät auch das bislang gemeinschaftsrechtlich stark vernachlässigte Recht der Doppelbesteuerungsabkommen in das Blickfeld der EU-Kommission. Zum neuen Programm gehören eine bessere Koordinierung der innergemeinschaftlichen Doppelbesteuerungsabkommen mit Drittstaaten,74 die Einführung eines verbindlichen Schlichtungsverfahrens für Auslegungs- und Anwendungsprobleme und, langfristig, eine EU-Version des OECD-Musterabkommens.75 Auch ein multilaterales europäisches Doppelbesteuerungsabkommen wird angedacht.76 Von großer Bedeutung für die Besteuerung natürlicher Personen ist die im Jahre 2003 erlassene Zinsrichtlinie.77 Die bereits in das innerstaatliche 66

Code of Conduct (Fn. 60), Buchst. K. OECD, Harmful Tax Competition – An Emerging Global Issue (1998). 68 OECD, Towards Global Tax Co-operation, Report to the 2000 Ministerial Council Meeting and Recommendations by the Committee on Fiscal Affairs (2000). 69 Vgl. dazu Eimermann, IStR 2001, 81 ff.; Osterweil, BIFD 1999, 198 ff. 70 Arbeitsdokument der Dienststellen der Kommission, KOM (2001) 582 endg., v. 30.10.2001. 71 Arbeitsdokument (Fn. 70), Teil III. 72 Arbeitsdokument (Fn. 70), Teil IV, Rdnr. 13.2, 13.4.; zuletzt: Mitteilung der Kommission v. 5.4.2006, KOM (2006) 157 endg. 73 Mitteilung der Kommission v. 25.10.2005, KOM (2005) 532 endg. 74 Arbeitsdokument (Fn. 70), Teil I, Ziff. 9. 75 Arbeitsdokument (Fn. 70), Teil I, Ziff. 9.2.2. 76 Arbeitsdokument (Fn. 70), Teil I, Ziff. 9.2.1. 77 Richtlinie 2003/48/EG des Rates v. 3.6.2003 im Bereich der Besteuerung von Zinserträgen, ABl. EU Nr. L 157, v. 26.6.2003, S. 38; dazu Ismer/Sailer, IStR 67

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Recht umgesetzte Richtlinie78 soll die Besteuerung ausländischer Zinserträge im Wohnsitzstaat des Anlegers sichern, wobei der Quellenstaat der Zinsen verpflichtet wird, die hierfür erforderlichen Auskünfte an den Wohnsitzstaat zu geben. Für Österreich, Belgien und Luxemburg sind bis zum Januar 2011 differenzierte Übergangsregelungen mit der Möglichkeit zur Erhebung einer Quellensteuer anstelle der Auskunftserteilung vorgesehen.79 Zusammenfassend lässt sich die neue Steuerpolitik der EG-Kommission als „Koordinierungsstrategie“ bezeichnen, die anstelle von Rechtsangleichung darauf gerichtet ist, das innerstaatliche Recht grundsätzlich intakt zu lassen.80 IV. Die Rechtsprechung des EuGH Seit dem Beginn der 90er Jahre hat der EuGH mit zahlreichen Entscheidungen auf dem Gebiet der direkten Steuern erheblichen Einfluss auf die Steuerrechtsordnungen der Mitgliedstaaten genommen.81 Der EuGH erkennt zwar an, dass der EG-Vertrag auf diesem Gebiet keine spezifische Gemeinschaftskompetenz begründet, dennoch bindet der Gerichtshof die Mitgliedstaaten auch im Bereich der in ihrer Zuständigkeit verbliebenen direkten Steuern intensiv an die Grundfreiheiten des EG-Vertrags.82 Den Einwand, dass diese Vertragsbestimmungen Diskriminierungen nach der Staatsangehörigkeit und nicht nach der für das Steuerrecht relevanten Ansässigkeit verbieten, weist er mit dem Argument zurück, dass die Vorschriften über die Gleichbehandlung nicht nur offensichtliche Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit verbieten, sondern dass auch alle versteckten Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale, insbesondere dem der Ansässigkeit der natürlichen Person oder dem des Sitzes der Gesellschaft, zu dem gleichen Ergebnis führen.83 Bemerkenswert ist, dass der EuGH die Grundfreiheiten im Bereich 2005, 1 ff.; Reiffs, DB 2005, 242 ff.; Eckl, DZWIR 2005, 457 ff.; Seiler/Lohr, StuB 2005, 109 ff. 78 Vgl. für das deutsche Recht § 45e EStG; dazu Weber-Grellet, in: Schmidt (Hrsg.), EStG (2006)25, Art. 45e, Rdnr. 1 ff. m. w. Nachw. 79 Vgl. dazu die Nachw. in Fn. 77. 80 Verrue, Überlegungen der EU-Kommission zur EU-konformen Ausgestaltung der nationalen Steuerrechtsordnungen, Vortragsmanuskript zur IHK-Akademie München am 13.11.2006, S. 5. 81 Umfassend zu dieser Rechtsprechung Cordewener, Europäische Grundfreiheiten (Fn. 8); zur neueren Rechtsprechung Lang, M., Die Rechtsprechung des EuGH zu den direkten Steuern (2006); Thoemmes, Stbg 2006, Heft 3, M1; Albath/Wunderlich, EWS 2006, 205 ff.; Everett, DStZ 2006, 357 ff. 82 Vgl. EuGH v. 14.2.1995 (Rs. C-279/93 Schumacker), Slg. 1995, I-225 ff. (ständige Rspr.). 83 EuGH v. 8.5.1990 (Rs. 175/88 Biehl), Slg. 1990, I-1779 ff. (ständige Rspr.).

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der direkten Steuern von ihrer überkommenen Wirkung als Gebote der Inländergleichbehandlung zu Beschränkungsverboten entfaltet hat.84 1. Entscheidungen zur Diskriminierung natürlicher Personen aufgrund der Ansässigkeit In eine erste Phase der Rechtsprechung des EuGH auf dem Gebiet der direkten Steuern fallen Entscheidungen gegen die steuerliche Diskriminierung von Grenzgängern.85 Das sind Personen, die in einem Mitgliedstaat wohnen und ihre Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausüben. Dies hat zur Folge, dass diese Personen im Tätigkeitsstaat der für nicht ansässige Personen eingreifenden beschränkten Steuerpflicht unterliegen, die im Vergleich zu der für ansässige Personen geltenden unbeschränkten Steuerpflicht Nachteile im Hinblick auf die Berücksichtigung der steuerlichen Leistungsfähigkeit bewirkt.86 Diese Nachteile bestanden vor allem darin, dass beschränkt steuerpflichtige Personen, die in anderen Mitgliedstaaten der EG ansässig sind, grundsätzlich nicht in den Genuss des Ehegattensplittings kommen konnten, dass sie weder Sonderausgaben noch außergewöhnliche Belastungen geltend machen konnten87 und dass sie grundsätzlich nicht einem progressiven Tarif, sondern einer proportionalen Abzugssteuer mit einer Brutto-Bemessungsgrundlage ohne Berücksichtigung des Grundfreibetrages unterlagen.88 Gestützt auf die Vorgaben der in Art. 39 EG als Gebot der Inländergleichbehandlung geschützten Arbeitnehmerfreizügigkeit hat der EuGH zwar stets festgestellt, dass sich beschränkt steuerpflichtige und unbeschränkt steuerpflichtige Personen grundsätzlich nicht in der gleichen Lage befinden,89 doch sei dies anders, wenn der beschränkt Steuerpflichtige den Großteil seiner Einkünfte nicht in seinem Wohnsitzstaat verdiene, weil er unter dieser Voraussetzung auch nicht in den Genuss der dort an die unbeschränkte Steuerpflicht anknüpfenden Verschonungstatbestände komme und deshalb auf die steuerliche Berücksichtigung dieser Aufwendungen im Tätigkeitsstaat angewiesen sei.90 Die Grenzgängerrechtsprechung des EuGH hat auch im deutschen Einkommensteuergesetz zu nachhaltigen 84

Vgl. dazu u. 2. Vgl. zur Grenzgängerbesteuerung Prokisch, in: Vogel/Lehner, DBA (Fn. 15), Art. 15, Rdnr. 128 ff.; vgl. zu dieser Rechtsprechung Cordewener, Europäische Grundfreiheiten (Fn. 8), S. 888 ff.; Thömmes, DStJG 19 (1996), S. 81 ff. 86 Vgl. dazu Lang, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 9, Rdnr. 26; Frotscher, Internationales Steuerrecht (2001), § 3, Rdnr. 21 ff., 26. 87 Vgl. für das deutsche Recht § 50 Abs. 1 Satz 4 EStG. 88 Vgl. für das deutsche Recht § 50a Abs. 4 EStG. 89 EuGH v. 14.2.1995 (Rs. C-279/93 Schumacker), Rdnr. 31 ff. (ständige Rspr.). 90 EuGH v. 14.2.1995 (Rs. C-279/93 Schumacker), Rdnr. 36 ff. (ständige Rspr.). 85

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Änderungen der Vorschriften über die beschränkte Steuerpflicht geführt.91 Ein besonderes Kennzeichen dieser Rechtsprechung liegt darin, dass die durch mitgliedstaatliches Steuerrecht verursachten Diskriminierungen oder Beschränkungen bislang nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt werden konnten.92 Die Verhinderung von Missbrauch wird vom EuGH nur unter sehr engen Voraussetzungen als Rechtfertigungsgrund für Diskriminierungen oder Beschränkungen anerkannt,93 während der Schutz des inländischen Steueraufkommens in keinem einzigen Fall rechtfertigende Kraft hatte.94 2. Entscheidungen im Bereich der Unternehmensbesteuerung Ein mittlerweile sehr umfangreicher Bestand von Entscheidungen des EuGH beseitigt die Nachteile für Unternehmen, die ihren Sitz in einem Mitgliedstaat der europäischen Gemeinschaft haben und einen Teil ihrer Geschäftstätigkeit durch eine in einem anderen Mitgliedstaat belegene Betriebstätte bzw. Zweigniederlassung ausüben.95 Gestützt auf die in Art. 43 und 48 EG gewährleistete Niederlassungsfreiheit und auf die Gleichsetzung des Merkmals der Staatsangehörigkeit mit dem des Sitzes eines Unternehmens, untersagt der EuGH dem Tätigkeitsstaat benachteiligende Differenzierungen nach dem Sitz der Gesellschaft, der nach dem Recht aller Mitgliedstaaten eine wichtige Voraussetzung für die Gewährung zahlreicher steuerlicher Vorteile bildet. Inländische Betriebsstätten96 ausländischer Gesellschaften 91 Vgl. insbesondere die §§ 1 Abs. 3 und 1a EStG; dazu Lehner/Waldhoff, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff (Hrsg.), EStG, Losebl. Stand 2006, § 1, Rdnr. D 1 ff. 92 Vgl. etwa zum Rechtfertigungsgrund der Kohärenz EuGH v. 28.1.1992 (C-204/90 Bachmann) Slg. 1992, I-249; v. 12.12.2002 (C-324/00 LankhorstHohorst), Slg. 2002, I-11779 ff.; v. 14.9.2006 (C-386/04 Stauffer), DStR 2006, 1736 ff., Rdnr. 52 ff.; vgl. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten (Fn. 8), S. 958 ff. 93 EuGH v. 16.7.1998 (Rs. C-264/96 ICI), Slg. 1998, I-4695 ff. Rdnr. 25; EuGH v. 12.9.2006 (Rs. C-196/04 Cadbury Schweppes), DStR 2006, 1686, Rdnr. 51 (ständige Rspr.); vgl. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten (Fn. 8), S. 953 ff. 94 EuGH v. 13.12.2005 (Rs. C-446/03 Marks & Spencer plc), DStR 2005, 2168, Rdnr. 44; EuGH v. 7.9.2004 (Rs. C319/02 Manninen), Slg. 2004, I-7477, Rdnr. 49 (ständige Rspr.). 95 Vgl. Kokott, Tendenzen der EuGH-Rechtsprechung im Bereich der direkten Steuern, in: Lüdicke (Hrsg.), Tendenzen der Europäischen Unternehmensbesteuerung (2005), S. 68 ff.; Cordewener, Europäische Grundfreiheiten (Fn. 8), S. 377 ff.; Körner, Ausländische Verluste im Unternehmensbereich, in: Lüdicke (Hrsg.), Europarecht – Ende der nationalen Steuersouveränität (2006), S. 127 ff., 144. 96 Vgl. zum Begriff der Betriebstätte nach § 12 AO Birk/Escher, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler (Hrsg.), Abgabenordnung Finanzgerichtsordnung Kommentar, Losebl. Stand Okt. 2006, § 12 AO, Rdnr. 8 ff.; zum Betriebstättenbegriff der Doppelbesteuerungsabkommen Görl, in: Vogel/Lehner, DBA (Fn. 15), Art. 5, Rdnr. 5 ff.

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werden den inländischen Gesellschaften u. a. hinsichtlich der Besteuerung von Gewinnen97 und der Entlastung von Aufwendungen98 weitgehend gleichgestellt, weil sie als Niederlassungen i. S. des Art. 43 EG gelten.99 Eine besondere Bedeutung hat die Rechtsprechung des EuGH im Bereich der Unternehmensbesteuerung vor allem deshalb, weil der Gerichtshof die Grundfreiheiten in ihrer überkommenen Wirkung als Gebote der Inländergleichbehandlung zu Beschränkungsverboten auf dem Gebiet der direkten Steuern fortentwickelt hat.100 Danach verbieten die Grundfreiheiten nicht nur die Benachteiligung von Personen bzw. Unternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat durch den Mitgliedstaat, in dem die Person bzw. das Unternehmen eine Beteiligung, eine Zweigniederlassung oder eine Tochtergesellschaft hat; vielmehr schützen sie auch die in einem Staat ansässige Person bzw. das in einem Staat ansässige Unternehmen gegen Benachteiligungen, die der Sitzstaat an eine grenzüberschreitende Tätigkeit knüpft. Den Maßstab für eine gemeinschaftswidrige Beschränkung bildet eine vergleichbare Inlandstätigkeit.101 Diese Rechtsprechung richtet sich vornehmlich gegen Benachteiligungen des Sitzstaats in Gestalt der Nichtberücksichtigung von Verlusten und Aufwendungen bei Auslandsbeteiligungen,102 gegen die Nichtgewährung von Freibeträgen bei Auslandsbeteiligungen,103 gegen den Ausschluss aus dem körperschaftsteuerrechtlichen Anrechnungsverfahren104 und gegen steuerliche Belastungen, die an den Wegzug aus dem Ausland anknüpfen.105 97

Vgl. EuGH v. 23.2.2006 (Rs. C-253/03 CLT-UFA S. A.), DStR 2006, 418 ff. Vgl. EuGH v. 15.5.1997 (Rs. C-250/95 FUTURA Participations), Slg. 1997, I-2471 ff. 99 Vgl. EuGH v. 21.9.1999 (Rs. C-307/97 Saint-Gobain), Slg. 1999, I-6161, Rdnr. 35 (ständige Rspr.). 100 Vgl. dazu Cordewener, Europäische Grundfreiheiten (Fn. 8), S. 104 ff., 249 ff.; Lehner, DStJG 23 (2000), S. 263 ff., 271 ff.; Reimer, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten (2000), S. 39 ff., 55 ff.; lediglich die Gewährleistung der Kapitalverkehrsfreiheit durch Art. 56 EG ist bereits als Beschränkungsverbot formuliert. 101 Vgl. EuGH v. 14.12.2000 (Rs. C-141/99 AMID), Slg. 2000, I-11619 Rdnr. 21 ff. (ständige Rspr.). 102 Vgl. EuGH v. 13.12.2005 (Rs. C-446/03 Marks & Spencer plc), DStR 2005, 2168. 103 Vgl. EuGH v. 15.7.2004 (Rs. C-242/03 Weidert/Paulus) Slg. 2004, I-7359. 104 Vgl. EuGH v. 6.6.2000 (Rs. C-35/98 Verkooijen) Slg. 2000, I-4071 ff.; zu dem in Deutschland bis einschließlich Veranlagungszeitraum 2001 geltenden Anrechnungsverfahren Rs. C-292/04 Meilicke (anhängig); dazu die Schlussanträge des Generalanwalts Tizzano v. 10.11.2005 und der Generalanwältin Six-Hackl v. 5.10.2006, http://curia.europa.eu. 105 Vgl. EuGH v. 7.9.2006 (Rs. C-470/04 N), DStR 2006, 1691 ff.; sowie Fn. 6 m. w. Nachw. 98

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V. Das Territorialitätsprinzip als Schranke für die Verwirklichung des Binnenmarkts im Bereich der direkten Steuern Ein Haupthindernis für die Verwirklichung des Binnenmarktes als Raum ohne Binnengrenzen106 besteht in der territorialen Radizierung der Einkommen- und Körperschaftsteuerpflicht.107 Die territoriale Radizierung der Steuerpflicht beruht darauf, dass der durch die Ansässigkeit oder durch die Belegenheit der Einkunftsquelle dauerhaft begründete Inlandsbezug des Steuerpflichtigen eine wesentliche Bedingung für die Erzielung von Einkünften und eine wichtige Rechtfertigung der Steuerpflicht bildet.108 Diese Bedingungen sind marktspezifischer Natur. Dem trägt die Markteinkommenstheorie Rechnung, indem sie den Einkommensbegriff marktorientiert definiert und indem sie die Besteuerung nur insoweit rechtfertigt, als sie an den Ertrag eines marktabhängigen Erwerbs anknüpft.109 Die Abgabe in Gestalt der Steuer ist somit zwar nicht im synallagmatischen Sinne, wohl aber im Sinne einer globalen Äquivalenz „Gegenleistung“ für die Möglichkeit, die Infrastruktur eines Staates als Grundlage der Einkommenserzielung zu nutzen.110 Dem entsprechend knüpfen die Vorschriften über die unbeschränkte und die beschränkte Einkommen- und Körperschaftsteuerpflicht an die Merkmale des inländischen Wohnsitzes, des gewöhnlichen Aufenthalts im Inland, des Sitzes oder des Ortes der Geschäftsleitung im Inland und an den Bezug von Einkünften aus inländischen Quellen an.111 Darüber hinaus erweist sich die territoriale Radizierung der Steuerpflicht als Ausprägung der ebenfalls territorial radizierten staatlichen Souveränität im Sinne von ausschließlicher räumlicher Zuständigkeit des Staates.112 Eigene Ge106 Art. 14 Abs. 2 EG; vgl. zum Binnenmarktbegriff und zur Abgrenzung vom Begriff Gemeinsamer Markt Leible/Streinz, EUV/EGV (2003), Art. 14 EG, Rdnr. 10 ff.; Pipkorn/Bardenhewer-Raing/Taschner, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), Vertrag über die Europäische Union und Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft6 (2003), Art. 14 EG, Rdnr. 10 ff.; Schubert, Der Gemeinsame Markt als Rechtsbegriff (1999), S. 141 ff. 107 Vgl. Lehner/Waldhoff, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff (Hrsg.), EStG (Fn. 91), § 1, Rdnr. A 160. 108 Lehner/Waldhoff, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff (Hrsg.), EStG (Fn. 91), § 1, Rdnr. A 76, A 160, A 164 ff.; Vogel, Über „Besteuerungsrechte“ und über das Leistungsfähigkeitsprinzip im Internationalen Steuerrecht, in: Kirchhof/Offerhaus/ Schöberle (Hrsg.), FS für Klein (1994), S. 361, 371; Endriss, Wohnsitz- oder Ursprungsprinzip? (1967), S. 79 ff.; BFH v. 14.4.1993, BFHE 170, 454. 109 Kirchhof, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff (Hrsg.), EStG (Fn. 91) § 2, Rdnr. A 364 ff. 110 Vgl. Haller, Die Steuern3 (1981), S. 13 f.; Vogel, Über „Besteuerungsrechte“ (Fn. 108), S. 361 ff.; Lehner/Waldhoff, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff (Hrsg.), EStG (Fn. 91), § 1, Rdnr. A 163 ff.; Lehner, DStJG 23 (2000), S. 191 ff., 263 ff., 276 f. 111 §§ 1 Abs. 1 und Abs. 4 EStG; §§ 1 und 2 KStG.

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bietszuständigkeit und eigene territorial abgrenzbare Besteuerungs- und Ertragszuständigkeit sind unverzichtbare Elemente staatlicher Souveränität. Staatsgewalt ist ohne öffentliche Finanzen nicht denkbar.113 Auch in einem europäischen Staatenverbund ist die souveräne Staatlichkeit der Mitgliedstaaten trotz zahlreicher Beschränkungen nicht aufgegeben.114 Art. 23 Abs. 1 GG bringt dies für das Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland in dem von ihm eröffneten und zugleich begrenzten Rahmen der Hoheitsrechtsübertragung deutlich zum Ausdruck.115 Dagegen beruht die europäische Gemeinschaft nicht auf territorial begründeter Souveränität. Sie hat kein eigenes Hoheitsgebiet, sondern nur einen von den Mitgliedstaaten vermittelten und von ihnen abgeleiteten Hoheitsbereich.116 Dem entspricht das in Art. 5 Abs. 1 EG verankerte Prinzip der begrenzten Einzelermächtigungen.117 Dieses Prinzip und das in Art. 5 Abs. 2 normierte Subsidiaritätsprinzip118 sollen auch nach dem Entwurf der EU-Verfassung weiter gelten.119 Auch aus dem Binnenmarktkonzept120 folgt keine andere Beurteilung. Der Binnenmarkt ist noch kein einheitlicher Wirtschaftsraum. Als einheitlicher Rechtsraum ist er nicht konzipiert.121 Vor dem Hintergrund einer in der Ausübung zwar beschränkbaren, grundsätzlich aber unteilbaren Souveränität der Mitgliedstaaten122 wird deutlich, dass ein territorial radiziertes Steuerrecht 112 Vgl. Badura, Territorialprinzip und Grundrechtsschutz, in: Isensee/Lecheler (Hrsg.), FS für Leisner, S. 403; Blumenwitz, Der deutsche Inlandsbegriff im Lichte des Staats- und Völkerrechts, in: von Münch (Hrsg.), FS für Schlochauer (1981), S. 25; Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I/1 (1989)2, S. 316; Di Fabio, Das Recht offener Staaten (1998), S. 2; vgl. bereits Jellinek, Allgemeine Staatslehre (1920)3, S. 396; aus moderner Sicht Zippelius, Allgemeine Staatslehre (2003)14, S. 93 ff. 113 Vogel, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts Bd. IV (1999), § 87, Rdnr. 1. 114 BVerfGE 89, 155, 181 ff., 190; 97, 350, 372 ff.; Streinz, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz (2003)3, Art. 23, Rdnr. 23 m. w. Nachw. 115 Vgl. Scholz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Losebl. Stand 2006, Art. 23, Rdnr. 45 ff., 51. 116 Kokott/Streinz, EUV/EGV, Art. 299 EG, Rdnr. 1. 117 Vgl. dazu Kraußer, Das Prinzip begrenzter Ermächtigung im Gemeinschaftsrecht als Strukturprinzip des EWG-Vertrags (1991); Jarass, AöR 121 (1996), 173; Streinz/Streinz, EUV/EGV, Art. 5 EG, Rdnr. 7 ff. 118 Vgl. dazu im steuerrechtlichen Zusammenhang Lehner, EU-Recht und die Kompetenz zur Beseitigung der Doppelbesteuerung, in: Gassner/Lang/Lechner (Hrsg.), Doppelbesteuerungsabkommen und EU-Recht (1996), S. 11, 14 ff. 119 Vgl. Art. I-11 Abs. 1 und 2 EVV. 120 Vgl. die Nachw. in Fn. 106. 121 Vgl. nur Tietje, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Losebl. Stand 2006, Vor Art. 94–97 EGV, Rdnr. 3 und Art. 95 EGV, Rdnr. 26. 122 Vgl. Randelzhofer, in: Handbuch des Staatsrechts Bd. II (2004), § 17, Rdnr. 28; Badura, Territorialprinzip und Grundrechtsschutz (Fn. 112); Blumenwitz, Der deutsche Inlandsbegriff (Fn. 112).

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auch in der europäischen Gemeinschaft zu den elementaren Bedingungen der Staatlichkeit gehört.123 Dies allein ist allerdings kein Hinderungsgrund für die Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Steuersysteme. Vielmehr belegen die Fortschritte im Bereich der Umsatzsteuer,124 dass Steuerharmonisierung in Europa durchaus möglich ist. Was für die Umsatzsteuer als indirekte Steuer gilt, kann jedoch nicht ohne weiteres auf die Einkommensteuer übertragen werden. Während die Umsatzsteuer in ihrem Regeltatbestand schlicht an die Ausführung einer Lieferung oder einer sonstigen Leistung anknüpft,125 ist die Einkommensteuer vielfältig und differenziert an die verfassungsrechtlichen Vorgaben der Belastung nach der persönlichen Leistungsfähigkeit gebunden. Darüber hinaus bestehen enge, für das jeweilige innerstaatliche Recht der Mitgliedstaaten besondere Verknüpfungen zwischen dem Einkommensteuerrecht einerseits und dem Sozialrecht, dem Zivilrecht einschließlich des Gesellschaftsrechts, des Familienrechts und des Erbrechts andererseits. Dies gilt mit Vorbehalten auch für das Körperschaftsteuerrecht. Die engen Verknüpfungen mit dem jeweiligen innerstaatlichen Recht der Mitgliedstaaten verstärken die territorial-marktspezifischen Bedingungen der Einkommenserzielung und der Besteuerung.126 Aus all diesen Gründen müssen gemeinschaftsrechtliche Einwirkungen auf die Besteuerungsgewalt der Mitgliedstaaten sehr sorgsam auf die Grundentscheidungen, auf die Systematik und auf die Verknüpfungen des Steuerrechts mit anderen Teilen der Rechtsordnung abgestimmt werden.127 Während sich die Diskriminierungsverbote sowohl in ihrer Wirkung als Gebote der Inländergleichbehandlung als auch in ihrer Wirkung als Beschränkungsverbote an den Maßstäben des jeweiligen innerstaatlichen Rechts orientieren und lediglich dazu zwingen, diese Maßstäbe auch auf grenzüberschreitende Sachverhalte anzuwenden,128 zielt Harmonisierung auf eine Veränderung des innerstaatlichen Rechts nach eigenständigen gemeinschaftsrechtlichen Maßstäben. Die territoriale Radizierung der direkten Steuern und die Verstärkung der territorialen Radizierung durch enge Verknüpfungen zwischen dem Recht der direkten Steuern und anderen Bereichen des innerstaatlichen Rechts, vor allem aber auch das besonders sensible Aufkommensinteresse der Mitgliedstaaten sind gewichtige Gründe, die einer nachhaltigen Harmonisierung der direkten Steuern und einer effektiven Gemeinschaftspolitik auf diesem Gebiet nachhaltig entgegenstehen. 123 Vgl. Lehner, in: Gocke/Gosch/M. Lang (Hrsg.), FS für Wassermeyer (2005), S. 241, 249 ff. 124 Vgl. die Nachw. in Fn. 2. 125 § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG. 126 Vgl. dazu o. bei Fn. 110. 127 Vgl. bereits Lehner, DStJG 23 (2000), S. 263 ff. (Fn. 100), S. 265. 128 Vgl. o. IV. 2. bei Fn. 100 f.

Vereinfachung und Beschleunigung im Arbeitsrecht Von Manfred Löwisch I. Aufgabe von Gesetzgebung, Kollektivvertragsparteien und Rechtsprechung Das Arbeitsrecht ist wesentliches Element unserer Wirtschafts- und Sozialordnung. Dementsprechend ist seine Effektivität auch wesentliche Bedingung für den Erfolg wirtschaftlicher Unternehmen. Zur Effektivität gehört in der auf Wettbewerb angelegten und globalen modernen Wirtschaft Einfachheit und Schnelligkeit. Das begründet den Ruf nach Maßnahmen zur Vereinfachung und Beschleunigung im Arbeitsrecht. Auch die seit September 2005 regierende Große Koalition will diesem Ruf folgen. Zu ihren Vorhaben gehört nach dem Koalitionsvertrag vom 11. November 2005 der Bürokratieabbau. Insbesondere den Mittelstand sowie Existenzgründer will sie „von besonders wachstumshemmender Überregulierung befreien“ (B I 9.1, S. 62). Dass dieses Vorhaben eine arbeitsrechtliche Seite hat, anerkennt der Koalitionsvertrag, wenn er die Vereinheitlichung von Schwellenwerten – als Beispiel nennt er Bilanz- und Steuerrecht – und die Begrenzung der Verpflichtung von Betrieben zur Bestellung von Beauftragten sowie die Vereinfachung der betriebsärztlichen und sicherheitstechnischen Betreuung von Kleinbetrieben in einem Atemzug nennt. Auch die Absicht, die Wartezeit für den Kündigungsschutz auf zwei Jahre auszudehnen (B I 2.7.1, S. 29 f.) lässt sich hierher rechnen. Aber das sind nur höchst bescheidene Ansätze. Die Aufgabe, das Arbeitsrecht zu vereinfachen und seine Abläufe zu beschleunigen, reicht weit darüber hinaus. Adressat dieser Aufgabe ist zuvorderst der Gesetzgeber. Auch das Arbeitsrecht ist in erster Linie Gesetzesrecht und muss deshalb vom Gesetzgeber überholt und modernisiert werden. Das Arbeitsrecht ist aber auch Kollektivrecht. Tarifvertragliche Regelungen zu vereinfachen und die dort vorgesehenen Abläufe zu optimieren, ist Sache der Tarifvertragsparteien. Ebenso ist es Aufgabe der Betriebsparteien, die ihnen vom Betriebsverfassungsgesetz eingeräumten Gestaltungsspielräume zu nutzen, um der Betriebsverfassung die notwendige Effektivität zu verschaffen. Man kann aber auch die Arbeitsgerichte von dieser Aufgabe nicht ausnehmen. Gewiss bezwecken arbeitsrechtliche Gesetze und Kollektivverträge

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in erster Linie Arbeitnehmerschutz in seinen unterschiedlichen Ausprägungen, so dass dieser von der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung mit Recht als wesentliches Auslegungskriterium angesehen wird. Aber Gesetze wie Tarifverträge wollen stets auch eine vernünftige und praktisch brauchbare Regelung treffen, so dass es legitim ist, wenn die Auslegung auf die Effektivität der gefundenen Regelung achtet.1 Wenn die Präsidentin des BAG, Ingrid Schmidt, sagt, das Arbeitsrecht habe zu berücksichtigen, dass unsere Gesellschaft einerseits eine funktionierende Wirtschaft braucht, andererseits aber aus Menschen besteht, deren vitale Bedürfnisse zu schützen sind, und hinzufügt, wenn den Normsetzern der Ausgleich der Interessen nicht gelinge, müssten die Konflikte von den Arbeitsgerichten gelöst werden,2 bringt sie zutreffend zum Ausdruck, dass neben dem Arbeitnehmerschutz eben auch die Bedingungen effektiven Wirtschaftens Maßstab für die Rechtsanwendung durch die Arbeitsgerichte sind. Dass Gesetzgebung, Kollektivvertragsparteien und Arbeitsgerichte, was die Vereinfachung und Beschleunigung im Arbeitsgericht angeht, vor einer Fülle von Aufgaben stehen, soll im folgenden für einige Bereiche des kollektiven und des Individualarbeitsrechts dargetan werden. II. Betriebsverfassungsrecht 1. Einrichtung eines Kostenfonds für die Betriebsratstätigkeit Die vom Arbeitgeber zu tragenden Kosten der Betriebsratstätigkeit müssen heute im Einzelnen abgerechnet werden. Häufig sind unerfreuliche Streitigkeiten über die zu ersetzenden Kosten die Folgen. Dies lässt sich vermeiden, wenn für die Kosten ein Fonds eingerichtet wird, den der Arbeitgeber zu Beginn jedes Jahres zur Verfügung stellt und über den der Betriebsrat zum Schluss des Jahres Rechnung zu legen hat. Die Schaffung eines solchen Fonds ist in erster Linie Sache des Gesetzgebers, der § 40 BetrVG entsprechend ändern müsste. Vorgesehen werden könnte dabei, dass die Höhe des Fonds nach Maßgabe der voraussichtlich 1 Vgl. für Tarifverträge BAG vom 9.3.1983 – 4 AZR 61/80 – AP Nr. 128 zu § 1 TVG Auslegung; vom 30.1.2002 – 10 AZR 359/01 – EzA § 4 TVG Ablösungsprinzip Nr. 2; zur Praktikabilität als ein allgemeiner Sachgesichtspunkt für die Auslegung Müller, F., Juristische Methodik, 7. Auflage 1997, Rn. 348 ff.; siehe auch Löwisch/Rieble, Tarifvertragsgesetz, 2. Auflage 2004, § 1, Rn. 568 f. und jetzt Säcker, Ein neuer Anlauf zur Reform des Arbeitsrechts und der Arbeitsgerichtsbarkeit, ZfA 2006, 99, 102 ff. 2 Grußwort in der Festschrift zum 25-jährigen Bestehen der Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht im Deutschen Anwaltsverein, 2006, S. 8.

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erforderlichen Aufwendungen und unter Beachtung des Gebots der Wirtschaftlichkeit in einer Betriebsvereinbarung festgelegt wird und dass dann, wenn eine Einigung nicht zustande kommt, die Einigungsstelle entscheidet. Denkbar wäre aber auch, dass die Tarifvertragsparteien im Wege einer betriebsverfassungsrechtlichen Norm die Bildung eines solchen Fonds ermöglichen oder dass die Betriebsparteien im Einzelfall im Wege einer Betriebsvereinbarung einen solchen Fonds einrichten. In Einklang gebracht werden müssten solche Regelungen freilich mit dem Grundsatz, dass die organisatorischen Bestimmungen des BetrVG abschließend sind. Ich halte das indessen für möglich. Aus dem in den §§ 2 und 74 BetrVG niedergelegten Prinzip der vertrauensvollen Zusammenarbeit, welchem das BAG ein von Rücksichtnahmepflichten geprägtes Rechtsverhältnis zwischen den Betriebsparteien entnommen hat,3 wird man ableiten können, dass dieser Grundsatz sinnvollen Verfahrensregeln, welche die Grundstrukturen des BetrVG unberührt lassen, nicht entgegensteht.4 Bei der Einrichtung eines solchen Fonds handelt es sich um eine derartige Verfahrensregelung. 2. Einschränkung des Tarifvorbehalts für Organisationsentscheidungen Das Reformgesetz von 2001 hat die Möglichkeit flexibler Organisationsformen in der Betriebsverfassung (z. B. Schaffung eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats, Schaffung von Spartenbetriebsräten oder anderer maßgeschneiderter Betriebsratsorgane) richtigerweise stark erweitert. Die Nutzung dieser Möglichkeiten durch die Betriebsräte hat es aber praktisch ausgeschlossen. Diese können keine entsprechenden Entscheidungen treffen, wenn für den Betrieb nur irgendeine tarifliche Regelung gilt, mag diese auch mit Organisationsfragen gar nichts zu tun haben. Diese rigorose, auch verfassungsrechtlich zweifelhafte,5 Tarifsperre sollte der Gesetzgeber durch einen normalen Tarifvorbehalt ersetzen. Solange er nicht tätig wird, sind die Tarifvertragsparteien aufgerufen, durch entsprechende betriebsverfassungsrechtliche Zulassungsnormen den Betriebsparteien Handlungsspielräume zu eröffnen. Aufgabe der Rechtsprechung ist es, zweckwidrigen Verwendungen der Tarifsperre entgegenzutreten: Regeln die Tarifvertragsparteien materielle Arbeitsbedingungen, um 3 BAG vom 3.5.1994, 1 ABR 24/93, EzA § 23 BetrVG Nr. 36 unter III 1 der Gründe. 4 In diesem Sinne schon Löwisch, Möglichkeiten und Grenzen der Betriebsvereinbarung, ArbuR 1978, 97, 100. 5 Dazu Löwisch, Änderung der Betriebsverfassung durch das Betriebsverfassungsreformgesetz, BB 2001, 1734, 1736.

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betriebliche Regelungen betriebsorganisatorischer Fragen zu sperren, ohne dass sie selbst an eine Regelung dieser Fragen denken, ist der Einsatz des Tarifvertrages rechtsmissbräuchlich. Etwa könnte nicht hingenommen werden, dass ein Arbeitgeber, um den Status quo der Betriebsorganisation festzuschreiben, mit einer kleinen Gewerkschaft einen Tarifvertrag über eine einzelne materielle Arbeitsbedingung oder auch eine isolierte betriebsorganisatorische Frage abschließt. 3. Befugnis des Arbeitgebers zu vorläufigen Regelungen Nach der derzeitigen Rechtslage muss der Arbeitgeber mit der Durchführung mitbestimmungspflichtiger Maßnahmen auch dann bis zu einer Entscheidung der Einigungsstelle zuwarten, wenn die Durchführung dringend erforderlich ist. Das ist angesichts des heutigen Zwangs zu schnellen Entscheidungen in der Wirtschaft ein erhebliches Manko. Dessen Auswirkungen werden noch dadurch verschärft, dass der Betriebsrat seit der Entscheidung des BAG vom 3.5.19946 bei Verletzung seiner Mitbestimmungsrechte in jedem Fall einen Anspruch auf Unterlassung mitbestimmungswidriger Maßnahmen hat, der auch im Wege einstweiliger Verfügung durchgesetzt werden kann. Abhilfe können hier sowohl der Gesetzgeber und die Tarifvertragsparteien, aber auch die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung schaffen. Beim Gesetzgeber läge es, den Arbeitgeber allgemein zu ermächtigen, in mitbestimmungspflichtigen Angelegenheiten vorläufige Regelungen zu treffen, wenn dies aus sachlichen Gründen dringend erforderlich ist. Vorbild dafür könnte nicht nur § 115 Abs. 7 Nr. 4 BetrVG sein. Zu denken ist vielmehr auch an die Personalvertretungsgesetze, die fast durchweg die Befugnis der Dienststelle vorsehen, in dringenden Fällen vorläufige Regelungen zu treffen.7 Alternativ könnte der Einigungsstelle die Befugnis zuerkannt werden, den Arbeitgeber zu einer vorläufigen Regelung zu ermächtigen. Ebenso könnten die Tarifvertragsparteien eine derartige Regelung schaffen. Schweigen Gesetzgeber und Tarifvertragsparteien, sollte sich die Rechtsprechung auf die Grundlage des Unterlassungsanspruchs des Betriebsrats besinnen und daraus die Konsequenz eines Anspruchs auch der Gegenseite ableiten: Die Grundlage des Unterlassungsanspruchs des Betriebsrats hat das BAG in einer aus § 2 BetrVG abzuleitenden Rechtsbeziehung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat gefunden, aus der sich wechselseitige Rück6

A. a. O. wie Fn. 3. Vgl. nur § 69 Abs. 5 BPersVG und § 69 Abs. 5 LPersVG Baden-Württemberg. Zur Frage jetzt auch Bayreuther, Marktflexibilität und Betriebsverfassung, in: Transparenz und Reform im Arbeitsrecht, ZAAR Schriftenreihe Band 5, 2006, S. 131, 163. 7

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sichtspflichten ergeben. Wenn es zu diesen Rücksichtspflichten auf der Seite des Arbeitgebers gehört, mitbestimmungspflichtige Maßnahmen erst durchzuführen, wenn entweder der Betriebsrat diesen zugestimmt oder die Einigungsstelle die Angelegenheit geregelt hat, so muss es auf der anderen Seite zu den Rücksichtnahmepflichten des Betriebsrats gehören, seinen Teil dazu beizutragen, dass regelungsbedürftige Angelegenheiten zeitlich so geregelt werden, dass der ordnungsgemäße Betriebsablauf und der wirtschaftliche Einsatz der Betriebsmittel nicht gestört werden. Hinter der Zuständigkeit der Einigungsstelle kann sich der Betriebsrat angesichts dieser Rücksichtnahmepflicht nicht verstecken. In Eilfällen muss er deshalb einer vorläufigen Regelung bis zur Entscheidung der Einigungsstelle zustimmen. Der dementsprechende Anspruch des Arbeitgebers auf Zustimmung des Betriebsrats ist zwar, wenn er gerichtlich geltend gemacht wird, nach § 894 ZPO zu vollstrecken, so dass die Zustimmung erst mit Rechtskraft als erteilt gilt. Das steht einer entsprechenden einstweiligen Verfügung aber nicht entgegen, wenn sich diese auf eine vorläufige Regelung bis zur Entscheidung der Einigungsstelle beschränkt. Das aber ist der Fall, wenn lediglich die Zustimmung zur vorläufigen Regelung ersetzt wird.8 4. Beschränkung des Zustimmungsverweigerungsrechts des Betriebsrats auf Einstellungen und Versetzungen § 99 BetrVG gibt dem Betriebsrat ein Zustimmungsverweigerungsrecht nicht nur bei Einstellungen und Versetzungen, sondern auch bei Eingruppierungen und Umgruppierungen. Darin liegt eine Doppelung des Rechtsschutzes, denn dem Arbeitnehmer ist es ohnehin unbenommen, das Entgelt aus der für ihn zutreffenden Entgeltgruppe geltend zu machen und notfalls einzuklagen. Deshalb sollte der Gesetzgeber im Sinne der Vereinfachung auf das Zustimmungsverweigerungsrecht des Betriebsrats insoweit verzichten. Diesem verblieben dann immer noch sein Informationsrecht und sein allgemeines Überwachungsrecht. 5. Frist für Interessenausgleichsverhandlungen Nach dem Arbeitsrechtlichen Beschäftigungsförderungsgesetz vom 25.9.1996 war der Zeitraum für Interessenausgleichsverhandlungen auf zwei Monate beschränkt worden. Diese Regelung hatte wesentlich dazu beigetragen, dass Verhandlungen über Betriebsänderungen zügig durchge8 Siehe näher Löwisch/Kaiser, BetrVG, 5. Auflage 2002, § 87, Rn 31 ff.; zur Problematik neuerdings auch Bayreuther, Marktflexibilität (Fn. 7) S. 161 und Rieble/Klumpp/Gistel, Rechtsmissbrauch in der Betriebsverfassung, 2006, S. 34 ff.

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führt wurden, und verhindert, dass die „Zeitkarte“ in sachwidriger Weise vom Betriebsrat ausgespielt wurde. Das Korrekturgesetz vom 19.12.1998 hat die Regelung gestrichen. Das Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt vom 30.12.2003 hat sie nicht wieder hergestellt. Das sollte nachgeholt werden. Unabhängig davon sollte die Rechtsprechung kritisch überprüfen, ob es wirklich richtig ist, § 113 Abs. 3 BetrVG so zu interpretieren, dass der danach notwendige „Versuch eines Interessenausgleichs mit dem Betriebsrat“ das Durchlaufen aller in § 112 Abs. 2 BetrVG vorgesehenen Verfahrensschritte, einschließlich des Verfahrens vor der Einigungsstelle, voraussetzt.9 Die Regelung des Arbeitsrechtlichen Beschäftigungsförderungsgesetzes hat in den zwei Jahren ihres Bestehens gezeigt, dass normalerweise in zwei bis drei Monaten Interessenausgleichsverfahren durchgeführt werden können. Den vom Gesetzgeber mit der Aufhebung der Sätze 2 und 3 des Abs. 3 verfolgten Zweck ist deshalb genügt, wenn der Unternehmer den Betriebsrat ordnungsgemäß nach § 111 Satz 1 BetrVG beteiligt, ihn zu Beratungen auffordert und danach eine je nach Umfang der in Rede stehenden Betriebsänderung angemessene Frist verstreicht. Auch verlangt der Gesetzeszweck nicht, dass die Last, die Einigungsstelle anzurufen, beim Unternehmer liegt. Wenn der Betriebsrat der Auffassung ist, die Interessen der Arbeitnehmerseite am besten auf dem Weg über die Einigungsstelle wahrzunehmen, muss er sie auch anrufen.10 6. Einschränkung der Regelungsdichte für mittelständische Unternehmen Die Regelungen des Betriebsverfassungsgesetzes sind in weitem Umfang auf große Unternehmen zugeschnitten und nehmen zu wenig Rücksicht auf mittelständische Unternehmen. Dem sollte durch die Beschränkung einer Reihe von Regelungen auf Betriebe mit mehr als 100 Arbeitnehmern Rechnung getragen werden. In Betracht kommen etwa die neu geschaffene Verpflichtung des Arbeitgebers, dem Betriebsrat Auskunftspersonen zur Verfügung zu stellen (§ 80 Abs. 2 Satz 3 BetrVG), das sich aus § 97 Abs. 2 Satz 1 BetrVG ergebende formalisierte Mitbestimmungsrecht bei der Einführung von Maßnahmen der betrieblichen Berufsbildung, das formalisierte Zustimmungsverfahren bei personellen Einzelmaßnahmen nach § 99 BetrVG und das Widerspruchsverfahren bei Kündigungen nach § 102 Abs. 3 BetrVG. 9 So jetzt wieder BAG vom 26.10.2004 – 1 AZR 493/03, EzA § 113 BetrVG 2001 Nr. 5. 10 Vgl. schon Löwisch, Probleme des Interessenausgleichs, RdA 1989, 216, 218 f.

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III. Kündigungsschutzrecht 1. Ausdehnung der Wartezeit Die Zulassung sachgrundloser Befristung für zwei Jahre (§ 14 Abs. 2 TzBfG) hat dazu geführt, dass Einstellungen heute regelmäßig zunächst auf diese Zeit befristet werden, auch wenn eine spätere Dauerbeschäftigung ins Auge gefasst ist. Die Unternehmen nutzen die Befristung, um der Unsicherheit der in zwei Jahren bestehenden Beschäftigungslage Rechnung zu tragen und sich zugleich ein verlässliches Bild von der dauernden Eignung des Arbeitnehmers zu verschaffen. Diese Ziele lassen sich auch verwirklichen, wenn Einstellungen zwar unbefristet erfolgen, der Kündigungsschutz aber erst nach zwei Jahren einsetzt. Die von der Großen Koalition vorgesehene, jetzt offenbar aber wieder in Zweifel gezogene11 Ersetzung der Möglichkeit zweijähriger sachgrundloser Befristung durch die Möglichkeit einer Ausdehnung der Wartezeit auf zwei Jahre (Koalitionsvereinbarung B I 2.7.1, S. 29 f.) macht deshalb Sinn, zumal sich das Problem der „Zuvor-Regelung“ in § 14 Abs. 2 TzBfG dadurch erledigt, dass bei einer erneuten Einstellung wiederum eine Wartezeit von zwei Jahren vereinbart werden kann, wenn seit dem Ende des vorhergehenden Arbeitsverhältnisses mindestens sechs Monate vergangen sind. Die Ausdehnung der Wartezeit würde auch die Sachgrundbefristung nach § 14 Abs. 1 TzBfG erleichtern: Die nach § 15 Abs. 3 TzBfG mögliche Vereinbarung der Kündbarkeit solcher Arbeitsverhältnisse hätte zur Folge, dass sich der Arbeitgeber aus ihnen zwei Jahre lang ohne den oft schwierigen Nachweis eines Kündigungsgrundes lösen könnte. Nicht zu verkennen ist freilich, dass die Ersetzung der zweijährigen sachgrundlosen Befristung durch die zweijährige Wartezeit für den Kündigungsschutz dort problematisch ist, wo der Arbeitnehmer Sonderkündigungsschutz genießt. Während dieser an der Wirksamkeit von Befristungen nichts ändert, würde er die mit der Ausdehnung der Wartezeit beabsichtigte Lösungsfreiheit für den Arbeitgeber konterkarieren. Dieser müsste hinnehmen, dass etwa Schwerbehinderte, Schwangere und Mütter ihr Arbeitsverhältnis auch über die Frist von zwei Jahren hinaus behalten. Auch in Fällen des Betriebsübergangs wäre die Lösung erschwert. Man würde vom Arbeitgeber eine nachvollziehbare Begründung verlangen, um den Verdacht einer Kündigung wegen Betriebsübergangs auszuschließen.12 Die Lösung dieses Problems muss nicht darin liegen, dass die Möglichkeit der sachgrundlosen Be11

Vgl. „Längere Probezeit scheint vom Tisch“, FAZ vom 22.8.2006, S. 9. Vgl. LAG Köln vom 3.3.1997, 3 Sa 1063/96, LAGE BGB § 613a Nr. 59; ErfK/Preis, 7. Auflage 2007, § 613a BGB, Rn. 176. 12

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fristung nach § 14 Abs. 2 TzBfG neben der Verlängerung der Wartezeit aufrechterhalten wird. Genügen würde es, die Wartezeit auch auf den Sonderkündigungsschutz zu erstrecken – wie dieser ja auch inzwischen der Klagfrist nach § 4 KSchG unterliegt. 2. Erstreckung der Kündigungsbenennung (§ 1 Abs. 5 KSchG) auf die Änderungskündigung Anders als im Sonderfall der Kündigung in der Insolvenz ist im Normalfall der betriebsbedingten Kündigung unklar, ob sich die Möglichkeit der Kündigungsbenennung im Interessenausgleich auch auf die Änderungskündigung erstreckt. Dies stellt einen Mangel dar, weil das mit § 1 Abs. 5 KSchG eingeführte vereinfachte Verfahren sich für Änderungskündigungen mindestens genau so eignet wie für Beendigungskündigungen. Häufig erfordern Arbeitsplatz erhaltende Sanierungen gerade die Änderung von Arbeitsbedingungen! Die Lösung liegt wiederum entweder beim Gesetzgeber oder bei der Rechtsprechung. Der Gesetzgeber könnte die Formulierung des § 125 Abs. 1 Nr. 1 InsO in § 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG übernehmen. Unabhängig davon könnte die Rechtsprechung anerkennen, dass § 1 Abs. 5 KSchG auch schon heute sinngemäß auf Änderungskündigungen anzuwenden ist. Der Wortlaut steht deren Einbeziehung jedenfalls nicht entgegen: § 1 Abs. 5 KSchG stellt eine Ergänzung von § 1 Abs. 2 und 3 KSchG dar. Wenn § 2 KSchG auf diese Vorschriften Bezug nimmt, kann man dies deshalb dahin verstehen, dass die Ergänzung mit eingeschlossen sein soll.13 3. Verfahren bei Massenentlassungen Der EuGH hat mit seinem Urteil vom 27.1.200514 das deutsche Recht der Massenentlassung durcheinander gebracht, indem er der einschlägigen Richtlinie 98/59/EG entnommen hat, dass der Begriff der Entlassung als Ausspruch der Kündigung und nicht, wie bei uns bisher angenommen, als Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis aufgrund einer Kündigung verstanden werden muss. Auslöser der Entscheidung des EuGH war ein Vorlagebeschluss des Arbeitsgerichts Berlin,15 der wiederum auf eine von der ent13

Löwisch/Caspers, Auswirkungen des Gesetzes zu Reformen am Arbeitsmarkt auf die betriebsbedingte Änderungskündigung, Gedächtnisschrift Heinze, 2005, S. 565, 567 ff.; Richardi, Mißlungene Reform des Kündigungsschutzes durch das Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt, DB 2004, 486, 488; a. M. etwa KR/Etzel, 7. Auflage 2004, § 1 Rn. 703. 14 Ds. C-188/03, EzA § 17 KSchG Nr. 13.

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scheidenden Richterin in ihrer Dissertation vertretene Auffassung zurückgeht.16 Konsequenterweise muss nicht nur die in Art. 3 der Richtlinie vorgesehene Anzeige bei der Behörde, sondern auch die in Art. 2 der Richtlinie vorgesehene Konsultation der Arbeitnehmervertretung vor Ausspruch der Kündigung erfolgen. Welche Anforderungen an die Konsultation zu stellen sind, ist unklar. Das Arbeitsgericht Berlin wollte insoweit schon wieder den EuGH bemühen. Es wollte – wiederum in Einklang mit der von Hinrichs in ihrer Dissertation vertretenen Auffassung17 – in Abweichung vom BAG18 darauf hinaus, dass in Fällen, in denen der Personalabbau sich als Betriebsänderung im Sinne der §§ 111 ff. BetrVG darstellt, nicht nur die Beratungen über den Interessenausgleich, sondern auch die Verhandlungen vor der Einigungsstelle über den Sozialplan abgeschlossen sein müssen.19 Ganz unklar ist, was in Fällen zu geschehen hat, in denen ein Personalabbau die Schwelle der Betriebsänderung nicht übersteigt, so dass die Vorschriften der §§ 111 BetrVG nicht gelten: Soll der Betriebsrat dann die Kündigung auf unabsehbare Zeit hinauszögern können, indem er den Abschluss des Konsultationsverfahrens verhindert? Einfache Abhilfe könnte hier der Gesetzgeber leisten. Er müsste eine Frist für das Konsultationsverfahren einführen, etwa indem er bestimmt, dass der Ausspruch der Kündigungen ohne Zustimmung des Betriebsrats nicht vor Ablauf von zwei Wochen nach der Unterrichtung des Betriebsrats erfolgen darf. Die Richtlinie 98/59/EG stünde dem nicht entgegen. Deren Art. 2 sagt nichts über den Zeitraum aus, der für die Konsultation zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmervertretung zur Verfügung stehen muss. Wird der Gesetzgeber nicht tätig, liegt es bei der Rechtsprechung festzulegen, welche Konsultationsvoraussetzungen erfüllt sein müssen, ehe die Kündigungen wirksam ausgesprochen werden können. Dabei wären die Bestimmungen in Art. 2 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie zu beachten. Danach ist eine Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat nicht erforderlich, die Konsultationen müssen nur mit dem Ziel erfolgen, zu einer Einigung zu ge15

Vom 30.4.2003, 36 Ca 19726/02, ArbuR 2005, 194 = ZIP 2003, 1265. Hinrichs, Kündigungsschutz und Arbeitnehmerbeteiligung bei Massenentlassungen – europarechtliche Aspekte und Impulse, 2001, 90 ff., insbes. 129 ff. 17 A. a. O. S. 162 ff. 18 BAG vom 30.3.2004, 1 AZR 7/03, EzA § 113 BetrVG 2001 Nr. 4. 19 ArbG Berlin vom 21.2.2006, 79 Ca 22399/05, NZA 2006, 793 mit Anm. Klumpp NZA 2006, 703 = LAGE § 17 KSchG Nr. 4 = SAE 2006, 140 mit kritischer Anmerkung Giesen, SAE 2006, 135 ff. Der Vorlagebeschluss ist nun aber durch Beschluss vom 26.7.2006, 37 Ca 8899/06, BB 2006, 2094, zurückgenommen worden, nachdem die Parteien des Rechtsstreits sich auf die Beendigung des Arbeitsverhältnisses geeinigt haben. 16

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langen (Abs. 1). Die Konsultationen müssen sich auf die Möglichkeit erstrecken, Massenentlassungen zu vermeiden oder zu beschränken, sowie auf die Möglichkeit, ihre Folgen durch soziale Begleitmaßnahmen zu mildern (Abs. 2). Zudem muss der Arbeitgeber im Verlauf der Konsultationen dem Betriebsrat zweckdienliche Auskünfte erteilen und ihm in jedem Fall schriftlich die Gründe der geplanten Entlassungen, die Zahl und die Kategorien der zu entlassenen Arbeitnehmer, die Zahl und die Kategorien der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer, den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen, die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenen Arbeitnehmer und die vorgesehene Methode für die Berechnung etwaiger Abfindungen schriftlich mitteilen (Abs. 3). Das kann, soweit der Personalabbau das Ausmaß einer Betriebsänderung erreicht, im Rahmen der Unterrichtungs- und Beratungspflicht nach § 111 Satz 1 BetrVG geschehen. Ein Interessenausgleichs- oder gar ein Sozialplanverfahren nach § 112 BetrVG ist dafür nicht erforderlich. Soweit keine Betriebsänderung vorliegt, müssen die Konsultationen denen nach § 111 BetrVG vergleichbar sein. IV. Teilzeit- und Befristungsrecht 1. Anteilige Berücksichtigung teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer Der steigende Anteil von Teilzeitarbeitsverhältnissen führt zu einer schleichenden Ausweitung gesetzlicher Regelungen, deren Anwendung von der Anzahl der beschäftigten Arbeitnehmer abhängt. Dem hat der Gesetzgeber bislang nur teilweise Rechnung getragen. Deshalb sollte künftig für alle arbeitsrechtlichen Gesetze und Verordnungen, die auf die Zahl der Arbeitnehmer abstellen, bestimmt werden, dass teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmer nur anteilig zu berücksichtigen sind. Zur Klarstellung sollten die verstreuten einzelnen Regelungen in einer Vorschrift zusammengeführt werden. Gefragt ist insoweit der Gesetzgeber, der sich, wie unter I. ausgeführt, nach dem Koalitionsvertrag des Themas der Schwellenwerte ohnehin annehmen will. Lediglich vermerkt werden soll, dass die der Problematik der Berücksichtigung der Teilzeitbeschäftigung bei den Schwellenwerten zugrunde liegende Zählung nach Köpfen vom BAG im Bereich der Mitbestimmungsgesetze gar nicht für zutreffend gehalten wird. Es hat in einer Entscheidung vom 1.12.196120 den Standpunkt eingenommen, es komme, da die Mitbestimmungsgesetze für ihre Anwendbarkeit auf Größe und wirtschaftliche Bedeutung des Unternehmens abstellen wollten, insoweit auf die Zahl der ständig besetzten Arbeitsplätze an; deshalb seien zwei Arbeitnehmer, die einen Ar20

1 ABR 15/60, AP Nr. 1 zu § 77 BetrVG.

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beitsplatz nur je zur Hälfte ausfüllten, lediglich als ein Arbeitnehmer zu rechnen. Auch wenn diese Entscheidung im Hinblick auf den Begriff des Arbeitnehmers und nicht den Begriff des Arbeitsplatzes verwendenden Wortlaut der Vorschrift auf nahezu einhellige Ablehnung gestoßen ist,21 liegt ihr doch ein richtiger Gedanke zugrunde, der es rechtfertigt, in eine einheitliche Regelung auch die Mitbestimmungsgesetze einzubeziehen. 2. Korrektur der „Zuvor“-Regelung in § 14 Abs. 2 TzBfG Sollte es entgegen der ursprünglichen Absicht der Großen Koalition nicht zu einer Ablösung der sachgrundlosen Befristung nach § 14 Abs. 2 TzBfG durch die Möglichkeit kommen, die Wartezeit zu verlängern, müsste jedenfalls die bisherige „Zuvor“-Regelung modifiziert werden. Dass nach dieser Regelung der Abschluss eines solchen befristeten Vertrages schon ausgeschlossen sein soll, wenn der Arbeitnehmer früher irgendwann einmal, und sei es auch in einem Ferienjob vor 30 Jahren, bei dem betreffenden Arbeitgeber beschäftigt war, macht keinen Sinn. Wiederum ist in erster Linie der Gesetzgeber gefragt. Er müsste den in der letzten Legislaturperiode von der Regierung Schröder schon angekündigten Vorschlag22 wieder aufgreifen, das Verbot der Vorbeschäftigung beim gleichen Arbeitgeber zeitlich zu begrenzen, sei es auf die in dem Vorschlag genannten zwei Jahre, sei es – zweckmäßigerweise – auf den in § 14 Abs. 3 Satz 3 TzBfG für die Altersbefristung ohnehin schon vorgesehenen Zeitraum von sechs Monaten. Die Entscheidung des EuGH vom 4.7.2006 zu § 5 Nr. 2 lit. a der Befristungsrichtlinie 99/70/EG23 stünde dem nicht entgegen. Der EuGH hat sich dort nur dagegen gewandt, dass das griechische Recht die extrem kurze Frist von 21 Werktagen ausreichen lassen will, um das Vorliegen aufeinander folgender Arbeitsverträge zu verneinen. Nicht tätig werden können in diesem Fall die Tarifvertragsparteien. Indem § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG bestimmt, dass durch Tarifvertrag die Anzahl der Verlängerungen und die Höchstdauer der Befristung abweichend vom Gesetz festgelegt werden kann, schließt er weitere Änderungen der gesetzlichen Regelung aus. Ich glaube allerdings nach wie vor, dass es, wenn der Gesetzgeber nicht tätig wird, Sache der Rechtsprechung ist, zu einer vernünftigen Auslegung 21 Siehe nur Raiser, Mitbestimmungsgesetz, 4. Auflage 2002, § 1, Rn. 17; MünchArbR/Wißmann, 2. Auflage 2000, § 377, Rn. 6. 22 Vgl. „Schröder kündigt Maßnahmen zur Belebung der Beschäftigung an“, ArbuR 2005, 178. 23 C-212/04, NZA 2006, 909 = EzA Richtlinie 99/70 EG-Vertrag 1999 Nr. 1.

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des Begriffs „zuvor“ zu gelangen. Die schlichte Aussage des BAG, das Anschlussverbot enthalte keine zeitliche Begrenzung, deshalb komme es auf den zeitlichen Abstand zwischen dem früheren Arbeitsverhältnis und dem nunmehr ohne Sachgrund befristeten Arbeitsverhältnis grundsätzlich nicht an,24 wird dem Problem nicht gerecht. Es geht um die praktikable Auslegung eines auslegungsfähigen Begriffs und es geht darum, dem Grundrecht der Berufsfreiheit von Menschen gerecht zu werden, die sich um einen befristet zu besetzenden Arbeitplatz bewerben, aber daran scheitern, dass sie vor Jahren bei dem betreffenden Arbeitgeber schon einmal tätig waren. Mit Müller-Glöge25 muss die Möglichkeit der sachgrundlosen Befristung dort anerkannt werden, wo weder zeitlich noch sachlich ein Zusammenhang zu einem früheren Arbeitsverhältnis besteht. 3. Befristung zur Vermeidung von Kündigungen Nach der gegenwärtigen Rechtslage ist unklar, ob der Abschluss von befristeten Arbeitsverträgen zulässig ist, um sonst erforderliche betriebs- oder personenbedingte Kündigungen zu vermeiden. Das BAG hat zwar entschieden, dass solche Befristungen zulässig sind, wenn einer der Sachgründe des § 14 Abs. 1 TzBfG vorliegt.26 Es hat aber offen gelassen, ob dies auch gilt, wenn der Arbeitgeber den zur Vermeidung der Kündigung in Betracht kommenden Arbeitsplatz – bislang unter Nutzung von § 14 Abs. 2 TzBfG – in jedem Falle nur befristet besetzen will. Diese Unklarheit sollte im Interesse der sonst zu kündigenden Arbeitnehmer beseitigt werden. Aufgerufen ist dazu in erster Linie die Rechtsprechung. Sie müsste, ganz unabhängig davon, ob § 14 Abs. 2 TzBfG nun aufrecht erhalten oder abgeschafft wird, anerkennen, dass die Vermeidung einer nach § 1 Abs. 2 begründeten Kündigung einen Sachgrund für die Befristung eines Arbeitsverhältnisses darstellt. Tätig werden könnte aber auch der Gesetzgeber, indem er dem Katalog der Sachgründe des § 14 Abs. 1 Satz 2 TzBfG einen entsprechenden weiteren Sachgrund anfügt. Die Gefahr von Sperrfristen begründet eine solche Regelung nicht. Es ist schon zweifelhaft, ob der Übergang von einem unbefristeten in ein befristetes Arbeitsverhältnis überhaupt § 144 SGB III unterfällt.27 Jedenfalls liegt 24 BAG vom 6.11.2003, 2 AZR 690/02, EzA § 14 TzBfG Nr. 7 unter B I 3 der Gründe. 25 Erfurter Kommentar, 7. Auflage 2007, § 14 TzBfG, Rn. 126. 26 BAG vom 25.4.1996, AP Nr. 78 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigungen. 27 Vgl. ErfK/Rolfs, 7. Auflage 2007, § 144 SGB III, Rn. 15 ff.

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ein wichtiger Grund für den Übergang vor, wenn es sonst zu einer Kündigung gekommen wäre.28 V. Allgemeines Arbeitsvertragsrecht 1. Doppelung von Arbeitnehmerschutz und Verbraucherschutz Über das durch die entsprechende Richtlinie Geforderte hinausschießend definiert § 13 BGB den Verbraucher als jede natürliche Person, die ein Rechtsgeschäft zu einem Zweck abschließt, der weder ihrer gewerblichen noch ihrer selbstständigen beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann. Das BAG versteht das dahin, dass auch der Arbeitnehmer in seinem Arbeitsverhältnis Verbraucher ist.29 Das hat die missliche Folge, dass sich dem Arbeitnehmerschutz der Verbraucherschutz zugesellt, der in seinem Kern ganz andere Zielsetzungen hat. Diesen Unterschieden muss dann durch eine einschränkende Auslegung der Verbraucherschutzvorschriften Rechnung getragen werden, etwa indem arbeitsvertragliche Vereinbarungen vom Widerrufsrecht bei Haustürgeschäften nach § 312 BGB ausgenommen werden.30 Der Gesetzgeber sollte deshalb den Verbraucherbegriff entsprechend einschränken. Praktisch ließe sich das einfach erreichen, indem nicht mehr nur selbstständige berufliche Tätigkeiten, sondern alle beruflichen Tätigkeiten aus dem Verbraucherbegriff ausgenommen werden. Das würde auch zur Übereinstimmung mit der Definition des Verbrauchers in den entsprechenden Richtlinien führen.31 2. Einschränkung der Anwendung des AGB-Rechts auf das Arbeitsrecht Die im Zuge der Schuldrechtsreform erfolgte Reduzierung der bis dahin geltenden generellen Bereichsausnahme des Arbeitsrechts im AGB-Recht auf Tarifverträge, Betriebs- und Dienstvereinbarungen hat ein weites Tor geöffnet. Die Entscheidungen der Arbeitsgerichte, insbesondere des Bundesarbeitsgerichts, zur Anwendung der §§ 305 ff. BGB auf Arbeitsverhältnisse sind schon fast Legion und werfen viele Zweifelsfragen auf. Auf sie kann 28

SG Mannheim vom 24.6.2003 – S 9 AL 229/03, NZA-RR 2004, 109. BAG vom 25.5.2005 – 5 AZR 572/04, EzA § 307 BGB 2002 Nr. 3; a. M. etwa OLG Hamm vom 3.8.2004 – 4 U 94/04, NJW 2004, 3269, 3270. 30 BAG vom 15.3.2005 – 9 AZR 502/03, EzA § 307 BGB 2002 Nr. 2. 31 Vgl. Art. 2 Nr. 2 Fernabsatz-Richtlinie 97/7/EG, Art. 2 HaustürgeschäfteRichtlinie 85/577/EWG und Art. 1 f., Abs. 2 lit. a Verbrauchsgüterkauf-Richtlinie 99/44/EG. 29

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im Zuge dieses Beitrages nicht eingegangen werden.32 Meines Erachtens sollte der Gesetzgeber erwägen, zum alten Recht zurückzukehren und auch insofern den Einklang mit dem Verbraucherbegriff des EG-Rechts herzustellen.33 Der Vereinfachung des Arbeitsrechts diente das gewiss. Will der Gesetzgeber soweit nicht gehen, sollte jedenfalls dafür gesorgt werden, dass auch tatsächliche Besonderheiten des Arbeitslebens bei der Kontrolle allgemeiner Arbeitsvertragsbedingungen berücksichtigt werden. Ein Schritt des Gesetzgebers ist dafür nicht erforderlich. Man muss sich nur klar machen, dass zum Arbeitsrecht, dessen Besonderheiten zu berücksichtigen sind, auch das vertraglich vereinbarte Recht gehört. 3. Kodifizierung des Arbeitsvertragsrechts Die Erfüllung des in Art. 30 Abs. 1 Einigungsvertrag formulierten Auftrags an den gesamtdeutschen Gesetzgeber, das Arbeitsvertragsrecht möglichst bald einheitlich neu zu kodifizieren, steht aus. Um den Gesetzgeber zum Handeln zu veranlassen, haben Preis und Henssler im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung einen neuen Entwurf eines Arbeitsvertragsgesetzes vorgelegt.34 Er soll im Laufe dieses Jahres in der Wissenschaft diskutiert und dann an den Gesetzgeber hergetragen werden. Der Generalsekretär der CDU, Pofalla, hat eine entsprechende Initiative, die freilich nicht mit dem Koalitionspartner abgestimmt zu sein scheint, bereits angekündigt.35 Vergegenwärtigt man sich die durch das Scheitern mehrerer Entwürfe gekennzeichnete Vorgeschichte, muss man die Erfolgsaussicht freilich mit Skepsis betrachten.36 Vielleicht ist es überhaupt richtig, auf dem Anspruch, ein eigenständiges Arbeitsgesetzbuch zu schaffen, zu verzichten und anzustreben, das Arbeitsvertragsrecht als Teil des BGB zu vereinheitlichen. Art. 30 Abs. 1 Nr. 1 Einigungsvertrag fordert ja keineswegs die Schaffung eines besonderen Gesetzbuchs, sondern lediglich die einheitliche neue Kodifizierung des Arbeitsvertragsrechts. Diesem Auftrag würde auch eine Einbettung der Kodifizierung in das BGB, konkret in dessen Dienstvertragsrecht, gerecht. Der praktisch-politische Vorteil einer solchen Lösung liegt auf der Hand: Sie könnte, der jeweiligen politischen Situation entsprechend, auch in mehreren Schritten verwirklicht werden. Etwa wäre eine vorläufige Ausklam32 Siehe dazu demnächst Löwisch, Bundesarbeitsgericht und Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen in der Festschrift Canaris. 33 Vgl. Art. 2 lit. b der Richtlinie 93/13/EWG über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen. 34 Vgl. „Das Arbeitsrecht soll aufgeräumt werden“, FAZ 22.2.2006, S. 25 und „Möglichst bald, also in 10 Jahren“, FAZ 13.6.2006, S. 14. 35 Vgl. „Neue Initiative für Arbeitsvertragsgesetz, FAZ vom 4.8.2006, S. 11. 36 Siehe jetzt schon die Kritik bei Säcker, Ein neuer Anlauf (Fn. 2), S. 112 ff.

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merung der besonders umstrittenen Materie des Kündigungsschutzrechts denkbar. Dogmatisch ist der Arbeitsvertrag bei allen Besonderheiten im Kern ein schuldrechtlicher Vertrag im Sinne des BGB und unterliegt deshalb den Vorschriften des Allgemeinen Schuldrechts und denen des Allgemeinen Teils des BGB. Seiner Struktur nach ist er ein Dienstvertrag, auf den die Grundvorschriften des Dienstvertragsrechts Anwendung finden. Wird der Arbeitsvertrag im BGB als Teil des Dienstvertragsrechts geregelt, finden sich die maßgebenden Bestimmungen in einem Gesetzbuch. Verweise auf das BGB, zu denen selbständige Kodifizierungen des Arbeitsvertragsrechts greifen müssen, entfallen. Auch wird die zweigleisige Regelung von Arbeitsvertrag und selbständigem Dienstvertrag stark reduziert. Zugleich wird der Rückgriff auf die allgemeinen Regeln des BGB erleichtert: Institute des Allgemeinen Schuldrechts in ihrer Ausgestaltung durch die Schuldrechtsreform können unmittelbar für Fragen des Arbeitsvertragsrechts herangezogen werden. Etwa deckt das Leistungsverweigerungsrecht bei Unzumutbarkeit (§ 275 Abs. 3 BGB) die Fälle des Gewissensnotstands unmittelbar ab und bietet auf der anderen Seite das Kriterium für die Freistellung des Arbeitnehmers durch den Arbeitgeber. Die Regeln für die Abmahnung lassen sich den §§ 281 Abs. 3, 314 Abs. 2 Satz 1 und § 323 Abs. 3 BGB entnehmen. Spezifische Lösungen für Grundsätze des Allgemeinen Teils, wie die Teilnichtigkeit (§ 139 BGB) und die Umdeutung (§ 140 BGB) können im dortigen Regelungszusammenhang entwickelt werden. Die Verwirklichung des Grundrechtsschutzes kann, vom spezifischen Diskriminierungsschutz abgesehen, über die Generalklauseln des Allgemeinen Teils und des Schuldrechts, insbesondere die §§ 138, 242 BGB erfolgen. Systematisch würde mit einer Zusammenfassung des Arbeitsvertragsrechts im BGB die Folgerung daraus gezogen, dass das Recht des Arbeitnehmers nicht mehr als Teil des entsprechenden Rechts der Wirtschaft, einerseits der Gewerbeunternehmen und andererseits der Handelsunternehmen, verstanden wird. Auch würde dem Umstand Rechnung getragen, dass die Unterscheidung zwischen Angestellten und Arbeitern weithin aufgegeben ist. Dass Teile des Arbeitsvertragsrechts in der Gewerbeordnung, andere Teile im Handelsgesetzbuch und wieder andere Teile im BGB enthalten sind, erscheint heute als willkürlich. Der Umfang des BGB würde durch die Aufnahme des Arbeitsvertragsrechts nicht gesprengt. In einer Ausarbeitung für das Arbeits- und Sozialministerium Baden-Württemberg37 sind wir zu dem Ergebnis gekommen, 37 Löwisch/Caspers/Feldmann/Picker, Kodifizierung des Arbeitsvertragsrechts im BGB, Denkschrift im Auftrag des Ministeriums für Arbeit und Soziales BadenWürttemberg vom 28. April 2006, demnächst in ZfA.

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dass ca. 90 Paragraphen für Arbeitsvertrags- und Dienstvertragsrecht zusammen ausreichen. Das sind nicht wesentlich mehr Vorschriften als sie das Miet- und Pachtvertragsrecht umfasst. Die Kodifizierung des Arbeitsvertragsrechts im BGB hat durchaus auch eine prinzipielle rechtspolitische Seite: Sie verdeutlicht, dass das Arbeitsvertragsrecht Teil des Privatrechts ist und damit seine Grundlage in der Privatautonomie findet. Damit wird ein Defizit beseitigt, welches dem BGB seit seiner Schaffung anhaftet, dass nämlich ein die meisten Bürger unmittelbar betreffendes Rechtsverhältnis ausgespart bleibt. Gelingt es, das Arbeitsvertragsrecht im BGB zu regeln, ist, zugespitzt formuliert, der Arbeitnehmer endlich unter den Bürgern angekommen, denen das „Bürgerliche“ Gesetzbuch gilt.

Behördliche oder privatrechtliche Durchsetzung des Kartellrechts? Von Wernhard Möschel Rupert Scholz war immer ein Grenzgänger zwischen verschiedenen Rechtsgebieten. Dies mag es rechtfertigen, ein kartellrechtliches Thema an der Schnittstelle von öffentlichem und privatem Recht zu behandeln. Einleitung Eine Verstärkung des privaten Rechtsschutzes im Kartellrecht entspricht einem internationalen Trend.1 Im Jahre 2005 hat der deutsche Gesetzgeber das GWB an die Reformvorgaben des EU-Wettbewerbsrechts aus dem Jahre 2004 angepasst. Ein zentrales Anliegen des Gesetzgebers war es, die Möglichkeiten privaten Rechtsschutzes zu erweitern. Im Dezember 2005 hat die EU-Kommission ein Grünbuch zu Schadensersatzklagen wegen Verletzung des EU-Wettbewerbsrechts vorgelegt.2 Geschädigten Verbrauchern und Unternehmen soll es leichter gemacht werden, ihre Verluste vom Rechtsverletzer zurückzufordern. Darüber hinaus soll die Anwendung des Wettbewerbsrechts gestärkt werden. Ich stehe diesem Trend eher mit Skepsis gegenüber. In einem ersten Abschnitt berichte ich über Erfahrungen mit dem Privatrechtsschutz im deutschen, im europäischen und im US-amerikanischen Kartellrecht. In einem zweiten Abschnitt stelle ich Vor- und Nachteile der behördlichen Durchsetzung im Kartellrecht dar. Der dritte Abschnitt erörtert dies für eine stärker privatrechtliche Durchsetzung.3 Im Ergebnis mag man 1 Cseres, K. J./Schinkel, M. P./Vogelaar, F. O. W. (eds.), Criminalization of Competition Law Enforcement: Economic and Legal Implications for the EU Member States, London 2006. 2 EG-Kommission, Grünbuch Schadenersatzklagen wegen Verletzung des EUWettbewerbsrechts, Brüssel 19.12.2005 KOM (2005) 672 endg. 3 Zu einer modelltheoretischen Analyse an Hand eines einfachen Cournot-Modells siehe McAfee, R. P./Mialon, H. M./Mialon, S. H., Private Antitrust Litigation: Procompetitive or Anticompetitive?, in The Political Economy of Antitrust, Vivek Glosal/Johan Stennek, eds., http://www.economics.emory.edu/Working_Papers/wp/ mialon_05_24_paper.pdf, 2005 und McAfee, R. P./Mialon, H. M./Mialon, S. H.,

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darüber nachdenken, das Erlangen kompensierenden Schadensersatzes für Geschädigte zu erleichtern. Dies hat aber mehr mit allgemeinem Schadensrecht zu tun als mit speziellen Funktionen eines Kartellrechts. Die gesellschaftsrechtliche Sanktionsschiene scheint völlig unterentwickelt: Aktionäre wenden sich dagegen, dass sich die Organe einer Gesellschaft an verbotenen Wettbewerbsbeschränkungen beteiligen. Im Zusammenhang mit der Fusionskontrolle ist der Rechtsschutz privater Dritter eher zurückzudrängen. Hier ist die Gefahr eines Missbrauchs des Rechtsschutzes besonders groß. Wenn man die Effizienz eines Kartellrechts auf der Ebene der Sanktionen verbessern will, ist eher auf der Linie von Wouter Wils und nach dem Muster des US-amerikanischen Antitrustrechts an Kriminalstrafen in der Form von Gefängnisstrafen zu denken.4 I. Praktische Erfahrungen mit dem Privatrechtsschutz Sanktionen bei Wettbewerbsverstößen können verwaltungsrechtlicher Art sein – es ergeht eine Verbotsentscheidung –, sie können ordnungswidrigkeiten- oder strafrechtlicher Art sein – es wird ein Bußgeld festgesetzt –, sie können schließlich privatrechtlicher Art sein. Bei letzteren ist eine passive Variante – eine wettbewerbswidrige Vereinbarung ist nichtig – zu unterscheiden von einer aktiven: Ein Geschädigter kann sich im Wege einer Schadensersatzklage oder einer Unterlassungsklage gegen eine Wettbewerbsbeschränkung wehren. Eine Zwischenform sind Ansprüche eines Geschädigten gegen eine Kartellbehörde auf ein Einschreiten oder Rechte eines Privaten auf Beteiligung an einem öffentlichen Verfahren. Die meisten Rechtsordnungen kennen sämtliche dieser Sanktionsformen. Der Privatrechtsschutz spielt im Kartellrecht bislang allerdings nur eine ganz untergeordnete Rolle. Die bemerkenswerte Ausnahme sind die USA. 1. Erfahrungen in Deutschland Das Kartellverbot des § 1 GWB hatte schon immer insofern privatrechtliche Wirkung, als davon erfasste Verhaltensweisen nichtig sind.5 Dieses Prinzip der Rechtsschutzverweigerung befördert Interessenkonflikte und interne Fliehkräfte im Kreise der Kartellbeteiligten selbst. In den gravierendePrivate v. Public Antitrust Enforcement: A Strategic Analysis, http://www.eco nomics.emory.edu/Working_Papers/wp/mialon_05_23_paper.pdf, 2005. 4 Wils, W. P. J., Is Criminalization of EU Competition Law the Answer?, 28 World Competition, 2005, p. 117–159; Wils, W. P. J., The Optimal Enforcement of EC Antitrust Law. Essays in Law and Economics, London 2002. 5 Möschel, W., Privatrechtsschutz bei Verstößen gegen das Kartellrecht, in Festschrift für Rainer Bechtold, München 2006, S. 329 ff.

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ren Fällen, bei den sog. hardcore-Kartellen, ist diese Wirkung freilich ohne praktische Bedeutung. Die Beteiligten wissen von vornherein, dass sie sich auf ihr kaufmännisches „Ehrenwort“ oder „Unehrenwort“ verlassen müssen. Die Nichtigkeitsfolge ist bedeutsam eher in Grauzonenfällen, insbesondere wenn sich ein Beteiligter aus einer eingegangenen Verpflichtung davonstehlen will. Bislang bestand hier für die Beteiligten ein Anreiz, eine mindestens potentielle Wettbewerbsbeschränkung bei den Kartellbehörden anzumelden und gleichzeitig eine verlässliche Auskunft einzuholen. Mit dem Übergang auf ein System der Legalausnahme im Jahre 2005, europäischen Vorgaben folgend, entfällt jetzt diese Möglichkeit. Insofern mag eine tendenziell „unverhoffte“ Anwendung des Kartellverbots in Zukunft ein breiteres Anwendungsfeld finden. Kartellverstöße boten bei einigen Rechtsunsicherheiten im Detail schon immer eine Basis für private Schadensersatzoder Unterlassungsansprüche. Die praktische Bedeutung ging gegen Null. Der Gesetzgeber der 7. Novelle von 2005 hat jetzt einige Erleichterungen geschaffen, z. B. bei der Berechnung des Schadens, bei der Verjährung u. ä. Man muss abwarten, ob der Einsatz dieses Instruments in der Zukunft zunehmen wird. Vertikale Bindungen waren in Deutschland wirksam, mit Ausnahme der vertikalen Preisbindung. Die Kartellbehörde konnte ihre Praktizierung unter bestimmten Voraussetzungen für die Zukunft untersagen. Für Privatrechtsschutz war damit kein Raum. Die 7. Novelle von 2005 brachte jetzt eine Übernahme des wettbewerbspolitisch eher inferioren Systems der EU mit einem Verbotstatbestand, gekoppelt an eine Legalausnahme. Allerdings gelten die Gruppenfreistellungsverordnungen der EU in diesem Rahmen auch im deutschen Recht. Mit einer Ausdehnung des Privatrechtsschutzes ist hier nicht zu rechnen. Missbräuche marktbeherrschender oder marktstarker Unternehmen konnten schon immer mit Mitteln des Privatrechts bekämpft werden.6 In zwei Bereichen war dies von Bedeutung. Der erste betrifft Belieferungsklagen von Händlern gegen Hersteller von Markenartikeln, falls diese eine Belieferung verweigerten. Dies kam vor, falls sich die Hersteller in der Auseinandersetzung zwischen Fachhändlern einerseits und Massenvertriebsformen wie Warenhäusern und Discountern andererseits auf die Seite des Fachhandels geschlagen hatten. Oder der Hersteller versuchte, durch Lieferverweigerung eine verbotene Vertriebspolitik durchzusetzen, z. B. eine faktische Preisbindung. Mittlerweile ist es aus tatsächlichen Gründen um solche pri6 Die Missbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen ist zwar erst zum 1.1.1999 in einen unmittelbar durchsetzbaren Verbotstatbestand überführt worden. Doch die Diskriminierungs- und Behinderungsverbote nach § 26 Abs. 2 GWB (heute § 20 GWB) deckten diesen Bereich im Wesentlichen ab; sie waren privatrechtlich durchsetzbar.

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vate Klagen ruhig geworden. Regelmäßig kann es sich ein Hersteller nicht mehr leisten, auf wirtschaftlich wichtige Vertriebskanäle zu verzichten. Der zweite Bereich sind Durchleitungsansprüche gegen angemessenes Entgelt bei Strom und Gas nach § 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB. Der Gesetzgeber hatte diese Norm in Anlehnung an die essential facilities-doctrine amerikanischer und Brüsseler Provenienz aus Anlass der Liberalisierung der Energiemärkte im Jahre 1998 geschaffen. Hier kam es in der Folgezeit zu zahlreichen Klagen. Sie schlossen eine Preishöhenkontrolle bei den Netzbetreibern mit ein. Die Ergebnisse blieben in diesem sumpfigen Gelände überaus bescheiden.7 Der Gesetzgeber nahm diesen Fehlschlag zum Anlass, mit dem am 13. Juli 2005 in Kraft getretenen neuen Energiewirtschaftsgesetz die ganze Materie neu zu regeln. Zuständig für eine Kontrolle des Netznutzungsentgelts und zwar ex ante ist jetzt eine Spezialbehörde, die Bundesagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation und Eisenbahn. Privater Rechtsschutz wird nicht ausgeschlossen (§ 32 EnWG). Vielleicht erlebt er einen Aufschwung insoweit, als der BGH in seiner jüngsten Rechtsprechung § 315 BGB bei Streitigkeiten über die Höhe eines Netznutzungsentgelts aktiviert.8 Doch der ganz dominante Akteur wird die erwähnte Bundesnetzagentur sein. Seit 1.1.1999 können Zusammenschlüsse, welche die Kartellbehörde oder im Ministerverfahren der Bundeswirtschaftsminister freigegeben hat, von Dritten angefochten werden. Diese Form privaten Rechtsschutzes ist in der Weise von Bedeutung, dass Konkurrenten solche Klagen nicht selten aus strategischen Gründen erheben. Da Zusammenschlüsse in aller Regel nicht über den vollen Zeitraum von Gerichtsverfahren in der Schwebe gehalten werden können – in Deutschland muss man hier mit zwei Jahren rechnen –, wächst privaten Dritten faktisch ein Vetorecht gegen den Zusammenschluss zu. Es wird in der Praxis nachhaltig missbraucht. Darauf ist zurückzukommen. 2. Erfahrungen auf europäischer Ebene Die Erfahrungen auf europäischer Ebene mit dem Privatrechtsschutz lassen sich in einem Satz zusammenfassen: Er ist im Wesentlichen bedeutungslos.9 Häufig ist dagegen, dass sich die Kommission mit einem Sachverhalt deshalb befasst, weil sich ein betroffener Dritter mit einer Beschwer7 Markert, K., Kartellrecht und sektorspezifische Regulierung im Strom- und Gassektor nach dem neuen Energiewirtschaftsgesetz (EnWG 2005), in Festschrift für Uwe Jens, Marburg 2005, S. 147–170. 8 Vgl. BGH WuW/E DE-R 1730 Stromnetznutzungsentgelt II. 9 Wils, W. P. J., Should Private Antitrust Enforcement be Encouraged in Europe?, 26 World Competition, 2003, p. 473–488; anders Jones, C. A., Private Antitrust

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de an sie gewandt hat. Doch bleibt das dann in der Substanz ein öffentliches Verfahren. Am 20. September 2001 hat der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in einem Ersuchen um Vorabentscheidung nach Art. 234 EG-Vertrag (Rechtssache Courage Ltd. v. Bernard Crehan) entschieden: „Die volle Wirksamkeit des Artikels 81 EG-Vertrag und insbesondere die praktische Wirksamkeit des in Artikel 81 Absatz 1 ausgesprochenen Verbots wären beeinträchtigt, wenn nicht jedermann Ersatz des Schadens verlangen könnte, der ihm durch einen Vertrag, der den Wettbewerb beschränken oder verfälschen kann, oder durch ein entsprechendes Verhalten entstanden ist“.10 Diese Entscheidung wird in unserem Zusammenhang gern zitiert. Aus ihr wird ein Impuls in Richtung privaten Rechtsschutzes abgeleitet. Ich mahne zur Behutsamkeit in der Interpretation. Das vorlegende englische Gericht hatte über einen Alleinbezugsvertrag im Hinblick auf Bier zu entscheiden. Das Gericht wollte einen Schadensersatzanspruch des beklagten Wirts, der Vertrag verstoße gegen Art. 81 Abs. 1 EG-Vertrag, mit dem Einwand der unclean hands begegnen. Eine Partei eines rechtswidrigen Vertrages könne von der anderen Partei keinen Schadensersatz verlangen. Das ging dem EuGH in dieser Allgemeinheit zu weit. Er akzeptierte den Ausschluss freilich, sofern die klagende Vertragspartei „eine erhebliche Verantwortung an der Wettbewerbsverzerrung trifft“. Das ist eine feinsinnige Differenzierung. Ich erwarte nicht, dass ihr größere praktische Bedeutung zuwachsen wird. 3. Erfahrungen mit dem US-amerikanischen Recht In den USA sind private Schadensersatzklagen schon seit 1890 (Section 7 Sherman Act) bzw. 1914 (Section 4 Clayton Act) möglich.11 Größere Bedeutung kommt ihnen erst seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu. Heute liest man häufig, dass neun von zehn Antitrust-Verfahren privaten Ursprungs sind. Diese Statistik ist irreführend, da sie nichts über den Anteil von sog. follow on-Klagen aussagt. Das sind private Klagen, die erst im Gefolge oder im Zusammenhang mit einem öffentlichen Verfahren erhoben werden. Deren Bedeutung erschöpft sich in einer bloßen zusätzlichen Sanktion (treble damages). Der Anteil solcher follow on-Verfahren, für welche Beweiserleichterungen gelten, liegt bei rund 25%.12 Insofern Enforcement in Europe: A Policy Analysis and Reality Check, 27 World Competition, 2004, p. 13–24. 10 Slg. 2001-I, S. 6297 (Rn. 26); siehe auch EuGH vom 13.7.2006, Rs. C-295/04 – C-298/04, WuW/E EU-R 1107 „Manfredi/Lloyd Adriatico Assicurazioni“. 11 Hempel, R., Privater Rechtsschutz im Kartellrecht. Eine rechtsvergleichende Analyse, Baden-Baden 2002.

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wäre eine Einschätzung, in den USA hätten private Verfahren die Verfahren der Kartellbehörden weitgehend verdrängt, zu undifferenziert. Der „Erfolg“ privater Klagen in den USA liegt an spezifischen Rahmenbedingungen. In anderen Ländern existieren sie nicht, zum Teil gelten sie als unerwünscht: – So kommt in den USA ein privater Kläger im Wege der sog. pretrial discovery procedure an Unterlagen eines Beklagten heran. Auch unbeteiligte Dritte sind zur Auskunft verpflichtet, selbst im Ausland. Im Einzelfall kann dieses Verfahren extrem teuer und zeitaufwendig sein. Diese Form des Ausforschungsbeweises führt bei einem Beklagten in der Substanz zur Selbstbezichtigung. In Deutschland dürfte das gegen die Verfassung verstoßen. – Erfolgshonorare für Anwälte schaffen in den USA einen starken Anreiz, in Antitrust-Verfahren zu investieren. In Deutschland gelten sie als sittenwidrig. Ihre Vereinbarung ist nichtig. – Anreizwirkung hat ebenso die Verhängung dreifachen Schadensersatzes bei nachgewiesenem Wettbewerbsverstoß. Solcher Strafschadensersatz (punitive damages) ist dem deutschen Recht fremd. Entsprechende USamerikanische Urteile werden insoweit nicht anerkannt. Sie verstoßen hier gegen den ordre public. Dreifacher Schadensersatz beeinträchtigt zudem die Wirksamkeit sog. leniency-Programme (Kronzeugenregelungen). In den USA hat man jüngst in der Weise reagiert, dass der whistle blower nur einfachen Schadensersatz zu zahlen hat. Auch in Brüssel denkt man darüber nach, wie man aussagewillige Kronzeugen gegenüber dem Risiko privatrechtlicher Inanspruchnahme abschirmen kann. Kläger aus Drittstaaten, darunter namentlich die USA, sollen keine Akteneinsicht mehr erhalten. – Class actions amerikanischen Zuschnitts bewegen sich nicht selten in der Nachbarschaft der Erpressung. Es geht nicht um rechtliche Klärung. Es wird auf Unternehmen Druck ausgeübt, insbesondere durch negative Publizität, bis es sich zu einem lukrativen Vergleich bereitfindet, lukrativ für die Anwälte der Kläger. In Deutschland ist Erpressung ein Kapitalverbrechen. Es liegt wenig Sinn darin, Kapitalverbrechen zu befördern, um damit Ordnungswidrigkeiten des Kartellrechts zu bekämpfen. – Im amerikanischen Zivilprozess gilt die sog. American rule. D. h., ein zu Unrecht Beklagter bleibt auf seinen eigenen Kosten, namentlich beträchtlichen Anwaltskosten, sitzen. Ein erfolglos gebliebener Kläger muss sie 12 Hempel, R., Privater Rechtsschutz (Fn. 11), S. 226 f.; Paulweber, M., The End of a Success Story? The European Commission’s White Paper on the Modernisation of the European Competition Law. A Comparative Study about the Role of the Notification of Restrictive Practices within the European Competition and the American Antitrust Law, 23 World Competition, 2000, p. 3–48, p. 24.

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nicht übernehmen. Das schafft ein beträchtliches Einschüchterungspotential in den Händen wirtschaftlich starker Kläger.13 Der Zivilprozess kann zum Instrument der Wettbewerbsbeschränkung mutieren. Auf das Missbrauchspotential generell beim Einsatz privaten Rechtsschutzes ist zurückzukommen. II. Behördliche Durchsetzung des Kartellrechts 1. Vorteile Eine behördliche Durchsetzung des Kartellrechts hat drei Vorteile:14 – Die Behörde verfügt über Hoheitsgewalt. Das erleichtert die Ermittlungsarbeit und ermöglicht Sanktionen, welche Privaten nicht zu Gebote stehen, beispielsweise Geldbußen. – Sie dürfte kostengünstiger sein als die privatrechtliche Durchsetzung. Dies hängt mit dem Aufbau von Know how und mit Spezialisierungsvorteilen innerhalb der Behörde zusammen. Quasi-hoheitliche Ermittlungsbefugnisse, wie sie Private in den USA im Rahmen der pretrial discovery haben, sind extrem kostenintensiv. – Die Behörde steht a priori nicht unter dem Missbrauchsverdacht, wie er beim Einsatz privater Instrumente nahezu unausweichlich ist. Einschränkend ist anzumerken: Auch hier handeln Menschen. Sie können geneigt sein, ein Verfahren um jeden Preis zu gewinnen, selbst um den Preis einer Irreführung des Gerichts. Das Risiko ist besonders hoch, wenn der BGH an das OLG zurückverwiesen hat, zusätzliche Sachaufklärung erforderlich ist und das Gericht diese vom Bundeskartellamt vornehmen lässt. Dann agiert der Bock als Gärtner. 2. Nachteile Dem stehen zwei Nachteile gegenüber. Diese können allerdings durch zweckgerechte institutionelle Arrangements ausgeschaltet werden. – Der erste betrifft eine mangelnde Kompetenz auf Seiten der Behörde. Dem lässt sich durch attraktive Bezahlung entgegenwirken. Diesen Weg ist generell, also ohne spezifischen Bezug zum Kartellrecht, das Europäi13

Sec. 11 Federal Rules of Civil Procedure ermöglicht für einen Beklagten einen Einwand des Missbrauches. Dasselbe gilt nach allgemeinen Grundsätzen, wenn der Kläger handelte „in bad faith, vexatiously, wantonly, or for oppressive reasons.“ (Alyeska Pipeline Service v. Wilderness Society, 421 U.S. 240, 258–259 (1975); Chambers v. NASCO, 501 U.S. 32, 45–46 (1991)). 14 Wils, W. P. J., Private Antitrust Enforcement (Fn. 9), p. 480 f.

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sche Gemeinschaftsrecht gegangen. Die Bezahlung der Brüsseler Beamtenschaft ist – gemessen an europäischen Standards – ungewöhnlich gut. In Deutschland hat das Bundeskartellamt, dessen Mitarbeiter nur die üblichen Gehälter des öffentlichen Dienstes beziehen, immer hervorragenden Nachwuchs gewinnen können. Es dürfte mit dem Arbeitsgegenstand Kartellrecht zusammenhängen. Es gilt in Deutschland als besonders wichtig und interessant zugleich. Gegenwärtig zu beobachtende Probleme – das Amt hat beim Wechsel von Berlin nach Bonn die Hälfte seiner Mannschaft verloren und diese Lücke mit Mitarbeitern aus dem Bundeswirtschaftsministerium geschlossen, die nicht von Bonn nach Berlin wechseln wollten – dürften Übergangsprobleme sein. – Der zweite Nachteil ist das Risiko einer politischen, will sagen sachwidrigen Beeinflussbarkeit der Entscheidungsträger. So kann bei der Fusionskontrolle in einzelnen Mitgliedstaaten der EU der Eindruck entstehen, sie werde primär dazu eingesetzt, um unerwünschte feindliche Unternehmensübernahmen aus dem Ausland abzuwehren. Bei einem englischen Fall, als dort noch der public interest-Test als Eingriffskriterium galt, war ich am Rande mit dabei: Ein deutsches Unternehmen wollte ein englisches aus dem Sektor Elektroindustrie/Militärtechnik erwerben. Unter der Drohung, andernfalls den Zusammenschluss zu untersagen, wurde es gezwungen, Garantien für die Aufrechterhaltung von Standorten und Arbeitsplätzen abzugeben. Auch mussten Investitionen zugesagt werden. Kurz: Die Fusionskontrolle wurde zu Zwecken der Regional- und der Sozialpolitik eingesetzt. Die angemessene Antwort darauf ist eine Unabhängigkeit der Kartellbehörde. Eine solche ist in Brüssel realisiert, in den USA bei den agencies, hier also bei der FTC. Das Bundeskartellamt ist bei einigem Streit in den juristischen Details jedenfalls de facto unabhängig.15 Eine solche Lösung ist in Staaten möglich, welche die Unabhängigkeit von Behörden als Teil des Systems der checks and balances begreifen (USA). In Deutschland ist eine solche Unabhängigkeit verfassungsgemäß, solange die Behörde einen eindimensionalen Auftrag zu erfüllen hat (z. B. Sicherung des Wettbewerbs) und keine politisch-diskretionären Entscheidungen trifft, welche dann auch einer politischen Legitimation bedürfen. Schwierigkeiten bestehen in Frankreich, soweit man dort in der Rousseau’schen Tradition der unteilbaren und nicht übertragbaren Volkssouveränität in unabhängigen Behörden eine Art Denkfehler erkennen will. Die Frage wurde im Zusammenhang unabhängiger Notenbanken mit Heftigkeit diskutiert.

15 Möschel, W., Die Unabhängigkeit des Bundeskartellamtes, 48 ORDO, 1997, S. 241–251.

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III. Private Durchsetzung des Kartellrechts 1. Vorteile Die private Durchsetzung des Kartellrechts weist einige Vorzüge auf. Ihr Gewicht scheint mir eher gering. – So verfügen private Unternehmen schon einmal über eine genauere Kenntnis der betroffenen Märkte, als man sie von Kartellbehörden erwarten kann. Ich erinnere mich an den Fall einer versuchten feindlichen Übernahme des größten deutschen Bauunternehmens Holzmann durch das zweitgrößte, Hochtief. Der Vorstand von Holzmann munitionierte die Kartellbehörde mit Details, die einem Außenstehenden kaum zugänglich sind. So lernte ich z. B., dass der Bau von Kaimauern für Häfen eine ganz spezielle Expertise erfordert, über die in Deutschland nur wenige Unternehmen verfügen. Doch solche Informationen lassen sich auch durch Beteiligung Privater innerhalb des öffentlichen Verfahrens gewinnen. Man benötigt dazu keinen genuinen Privatrechtsschutz. – Privater Schadensersatz liefert eine zusätzliche Sanktion zu den Sanktionen des öffentlichen Rechts. Man verbindet damit eine erhöhte Abschreckungswirkung, namentlich wenn der Schadensersatz den Charakter von Strafschadensersatz annimmt wie in den USA. Man benötigt dieses Instrument nicht wirklich. Der Sanktionsrahmen der Kartellbehörden reicht völlig aus, mindestens wäre er so gestaltbar. So können in Brüssel wie in Deutschland Geldbußen bis zur Höhe von 10% des Weltumsatzes eines Unternehmens verhängt werden. Bei einer durchschnittlichen Umsatzrendite europäischer Industrieunternehmen von 2% nach Steuern erlaubt dies den Entzug des gesamten Gewinns eines Unternehmens für eine Zeitspanne von fünf Jahren. Dies scheint mir ausreichend. – Wenig Gewicht hat das Argument einer Entlastung der Kartellbehörden durch Private. Dies ist eine Frage der Ausstattung dieser Behörden. In Deutschland lässt sich der Haushalt des Bundeskartellamtes rechnerisch vollständig aus den eingenommenen Bußgeldern finanzieren. – Mit Strafschadensersatz verbindet sich ein gewisser Anreiz für betroffene Unternehmen und für ihre Anwälte, in Antitrustverfahren zu investieren. Man kann damit hohe Renditen erwirtschaften. Das gilt namentlich, wenn einem Beklagten der Einwand abgeschnitten bleibt, der Kläger habe keinen Schaden erlitten, da er z. B. Preise, die aufgrund einer Kartellvereinbarung überhöht waren, auf seine eigenen Abnehmer abwälzen konnte (passing on-defense).16 Die Kehrseite dieses Anreizes ist das Risiko eines Missbrauchs des Instruments.

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2. Nachteile Privatrechtliche Durchsetzung des Kartellrechts stößt auf gravierende Nachteile. Eine erste Gruppe verbindet sich mit juristischen Schwierigkeiten, die aus dem Gegenstand selbst erwachsen. – Kartellrechtsnormen enthalten unvermeidlich extrem unbestimmte Rechtsbegriffe. Ihre Konkretisierung bleibt unsicher. Die Bedeutung von Präjudizien ist eingeschränkt, da nahezu „jeder Fall anders ist“. – Ein privater Kläger verfügt – außerhalb der USA – nicht über die Informationsmöglichkeiten, welche einer Kartellbehörde zur Verfügung stehen, z. B. bei der Abgrenzung des relevanten Marktes, bei der Feststellung einer beherrschenden Stellung darin. – Das Kostenrisiko für einen Kläger im Unterliegensfall ist hoch: Er muss nicht nur seine eigenen Kosten tragen, sondern auch diejenigen des siegreichen Beklagten, gerichtliche wie außergerichtliche Kosten. Anderes gilt für die USA. Dort belasten allerdings private Klagen das Justizsystem in beträchtlichem Maße. Auch ist nicht gewährleistet, dass zielführende Präzedenzfälle zur Entscheidung gelangen. – Es besteht die Möglichkeit, über eine informelle Beschwerde die Kartellbehörde ins Rennen zu schicken. Diese verfügt zwar über ein Ermessen, ob sie einen Sachverhalt aufgreift oder nicht. In den gravierenderen Fällen tut sie das freilich immer. Auf diese Weise lassen sich sämtliche Risiken und Kosten einer Rechtsverfolgung der Behörde zuschieben. Das ist für einen Privaten eine überaus behagliche Position. Eine zweite Gruppe betrifft die an solchen Klagen beteiligten Unternehmen. Früher gab es hier in Europa eine Art „esprit de corps“. Man zerrte ein anderes Unternehmen nicht vor eine Kartellbehörde oder gar vor ein Gericht in Kartellsachen. Die Kartellbehörde wurde eher als gemeinsamer Gegner wahrgenommen. Diese Zeiten scheinen überwunden. Sie leben in abgeschwächter Form noch fort. Im Zusammenschlussfall E.ON/Ruhrgas, der mit einer Untersagung durch das Kartellamt und einer Ministererlaubnis endete, war ich auf Seiten des zweitgrößten deutschen Energieversorgers dabei. Er bekämpfte den Zusammenschluss, tat das freilich nur im Rahmen des Verwaltungsverfahrens. Als die Ministerentscheidung vor Gericht angefochten wurde, zog es sich zurück. Dies war eine rationale Verhaltensweise: Im deutschen Strom- und Gasmarkt, wo es auf der Produktionsebene nur eine Handvoll von Unternehmen gibt, begegnen sich diese Unternehmen 16 Dies gilt in den USA auf der Ebene des Federal Law, vgl. Illinois Brick v. Illinois, 431 US 720 (1977). In den Bundesstaaten bestehen zum Teil abweichende Regeln.

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nicht nur einmal. „Down the road“ treffen sie immer wieder aufeinander. Dies mahnt zur Zurückhaltung gegenüber einer Durchsetzung des eigenen Rechtsstandpunktes ohne Rücksicht auf Verluste. Die zentrale Schwäche der privatrechtlichen Durchsetzung liegt darin, dass ein privater Kläger seine eigenen Interessen verfolgt und nichts anderes. Die Menschen sind so wie sie sind. Es gibt bekanntlich keine anderen. Private Interessen müssen keineswegs mit öffentlichen Interessen konform gehen, im Gegenteil, privatrechtliche Durchsetzung kann zu strategischen Zwecken, zu Zwecken der Wettbewerbsbeschränkung missbraucht werden. In den USA wird hier eine stattliche Liste von Fällen präsentiert.17 Ich will eine eigene Erfahrung beisteuern, weil sie typisch erscheint. Vor Jahren drängte ein deutscher Hersteller von bestimmten medizinischen Geräten auf den amerikanischen Markt. Er versuchte das mit attraktiven Preisen. Der amerikanische Marktführer empfing ihn mit einer privaten Klage wegen versuchter Monopolisierung. Der Neuzugänger zum Markt musste sich als erstes ein New Yorker Anwaltsbüro nehmen und einen Vorschuss von 1 Million Dollar überweisen. Weitere Zahlungen folgten. Dabei war wegen der erwähnten American rule klar, dass man dieses Geld nie würde wiedersehen, völlig gleichgültig, wie der Prozess ausgehen würde. Sinnvollerweise verglichen sich die Beteiligten. Der Beklagte ging mit seinen Preisen nach oben. Der private Rechtsschutz wurde zum Substitut für ein Preiskartell. In Europa ist das Missbrauchspotential privaten Rechtsschutzes schon deshalb sehr viel geringer, da ihm hier nur eine periphere Bedeutung zukommt. Wo er Gewicht hat, ist ein Missbrauch unmittelbar präsent. In Deutschland ist dies die Anfechtbarkeit von Entscheidungen der Kartellbehörde (oder im Ministerverfahren des Wirtschaftsministers), mit denen ein Unternehmenszusammenschluss freigegeben wurde. Konkurrenten versuchen, den Zusammenschlussbeteiligten Knüppel zwischen die Beine zu werfen, mindestens ein Schadenspotential aufzubauen, welches sie sich dann abkaufen lassen. Die Kartellbehörde wird, wenn es nützlich erscheint, bewusst irregeführt, etwa bei der Abgrenzung des relevanten Marktes. Da die Durchführung von Zusammenschlüssen in der Regel nicht in der Schwebe gehalten werden kann, wächst diesen Dritten, wie erwähnt, eine Vetoposition zu. Ein aufschlussreiches Beispiel ist der erwähnte Fall E.ON/Ruhrgas: Nachdem vor Gericht, dem OLG Düsseldorf, den Beteiligten klar geworden war, dass das Gericht die Ministergenehmigung als rechtswidrig aufheben 17 McAfee, R. P./Vakkur, N., The Strategic Abuse of the Antitrust Laws, 1 Journal of Strategic Management Education, 2004, p. 3–18; McAfee, R. P./Mialon, H. M./Mialon, S. H., Private Antitrust Litigation: Procompetitive or Anticompetitive?, in The Political Economy of Antitrust, Glosal, Vivek/Stennek, Johan, eds., http://www.economics.emory.edu/Working_Papers/wp/mialon_05_24_paper.pdf, 2005.

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würde, kaufte E.ON sämtliche Beschwerdeführer heraus: Ohne Kläger keine Entscheidung. Teils floss Bargeld, teils wurde in wettbewerblichen Arrangements bezahlt. Die Privaten erstritten sich pekuniäre Vorteile, das war das einzige Ergebnis des Verfahrens. Strategische Verhaltensweisen bis hin zur Substitution von Preiskartellen finden sich aufschlussreich in einem benachbarten Zusammenhang, wo private Rechtsverfolgung möglich ist, nämlich bei der Bekämpfung von vorgeblichen Antidumping-Verstößen im Außenhandel.18 Man muss das als weiteren Beleg für die Nähe privaten Rechtsschutzes zu missbräuchlichen Verhaltensweisen sehen. Kein Gegenargument erwächst aus dem benachbarten Feld des unlauteren Wettbewerbs. Dort vollzieht sich ein Rechtsschutz fast ausschließlich privat und das überaus wirksam. Die Rechtsgebiete sind nicht miteinander vergleichbar. Die primäre Schwierigkeit im Kartellrecht liegt in der Feststellung der Sachverhalte. Auf dem Gebiet des unlauteren Wettbewerbs sind die Sachverhalte überwiegend unstreitig. Die gegebenenfalls zu unterbindende Verhaltensweise ist publik. Die Schwierigkeit liegt im normativen Teil, ob ein Verhalten noch akzeptabel ist oder nicht mehr. Ein Beispiel ist die Schockwerbung, welche das Unternehmen Benetton praktizierte. Sie zeigte ein blutverschmiertes, soeben geborenes Kind oder einen nackten Männerpo mit der Aufschrift H.I.V. Positive. Daneben fand sich diskret ein Hinweis auf Benetton. Die Fakten sind hier klar. Über die normative Bewertung mag man streiten. In Deutschland wollte der Bundesgerichtshof dagegen einschreiten. Er sah darin eine Verwilderung der Wettbewerbssitten.19 Das Bundesverfassungsgericht fiel ihm in die Arme; es sah darin eine hinzunehmende Ausprägung der Meinungsfreiheit20 und der Pressefreiheit.21 IV. Was wäre zu tun? Keine Einwände bestehen gegen die Möglichkeit, dass ein Geschädigter vom Rechtsverletzer Ersatz seines Schadens verlangen kann. Nur hat das dann mehr mit Schadensrecht zu tun und nichts mit spezifischen Funktionen eines Kartellrechts. Angesichts vielfältiger Möglichkeiten der Weiter18 Theuringer, M., Antidumping und wettbewerbsbeschränkendes Verhalten, Köln 2003. 19 Bundesgerichtshof, Urteil vom 6. Dez. 2001 – 1 ZR 284/00 „H.I.V. POSITIVE II“; 48 Wettbewerb in Recht und Praxis, 2002, 434–442. 20 Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 12. Dez. 2000 – 1 BvR 1762/95 Benetton, 47 Wettbewerb in Recht und Praxis, 2001, 129–137. 21 Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 11. März 2003 – BvR 426/02 – Benetton-Werbung, 49 Wettbewerb in Recht und Praxis, 2003, 633–637.

Behördliche oder privatrechtliche Durchsetzung des Kartellrechts?

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wälzung von Schäden auf Seiten des primär Betroffenen wird man dem keine zentrale Bedeutung beimessen. Überraschend ist, dass der gesellschaftsrechtliche Sanktionsweg nicht beschritten wird.22 In Deutschland kenne ich nicht einen einzigen Fall. Eine Unternehmensleitung, die sich z. B. an einem rechtswidrigen Kartell beteiligt, verletzt zugleich die Treuepflichten, die ihr gegenüber der Gesellschaft obliegen. Sie verletzt diese ein zweites Mal, wenn sie ein bestehendes leniency-Programm nicht in Anspruch nimmt und auf diese Weise nicht Schaden von der Gesellschaft fernhält. Letzteres gilt jedenfalls solange, als das Haftungsrisiko auf privaten Schadensersatz nicht größer ist als eine zu erwartende öffentlichrechtliche Sanktion. Unter bestimmten Voraussetzungen können private Aktionäre den Ersatzanspruch der Gesellschaft gegen die Unternehmensleitung auf Zahlung an die Gesellschaft geltend machen. Im Bereich der Fusionskontrolle sollte man den Privatrechtsschutz wieder zurückdrängen. Sinn macht er nur dann, wenn die Kartellbehörden sozusagen strukturell allzu häufig falsche Genehmigungsentscheidungen aussprechen. Mein Eindruck ist eher ein umgekehrter. Es wird immer noch zu viel untersagt. Im Zuge der Globalisierung hat sich der Wettbewerb in zahlreichen Märkten intensiviert, teilweise dramatisch intensiviert. Sehr viel stärker als früher kann man heute auf die Selbstheilungskräfte des Wettbewerbs vertrauen. Juristische Aktivitäten von Privaten braucht man jedenfalls nicht. V. Zusammenfassung 1. Privatrechtsschutz im Kartellrecht ist möglich in einer passiven Variante (Nichtigkeitsgrund) und in einer aktiven (Schadensersatz- und Unterlassungsklagen). Außerhalb der USA spielt er nur eine geringe Rolle. 2. Seine Bedeutung in den USA beruht auf Eigentümlichkeiten des amerikanischen Rechts. Außerhalb der USA gelten diese meist als nicht erstrebenswert. 3. Die behördliche Durchsetzung des Kartellrechts hat drei Vorzüge (Einsatz von Hoheitsgewalt, größere Kostengünstigkeit, geringere Missbrauchsgefahr). Dem stehen zwei Risiken gegenüber, nämlich eine mangelnde Kompetenz der Behörde und ihre politische Beeinflussbarkeit. Ihnen lässt sich entgegenwirken (attraktive Bezahlung, Unabhängigkeit der Kartellbehörde). 4. Die private Durchsetzung des Kartellrechts weist einige eher schwache Vorzüge auf (genauere Kenntnis der Märkte auf Seiten der Kläger, zusätzliche Abschreckungswirkung, Entlastung der Kartellbehörde, Anreiz zur 22 Hempel, R., Privater Rechtsschutz (Fn. 11), S. 204–205; Paulweber, M., The End of a Success Story? (Fn. 12), p. 25 note 103.

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Verfolgung der Rechtsverstöße). Dämpfend wirken juristische Schwierigkeiten bei der privaten Durchsetzung wie unbestimmte Rechtsbegriffe, Beweisschwierigkeiten, Kostenrisiken. Die Streitsucht privater Unternehmen hält sich auch deshalb in Grenzen, weil sie sehr leicht selbst zum Opfer solcher Aktivitäten werden können. Das zentrale Gravamen ist der missbräuchliche Einsatz privaten Rechtsschutzes nicht zur Beförderung des Wettbewerbs, sondern zu seiner Beschränkung. In Deutschland ist solcher Missbrauch deutlich sichtbar bei Unternehmenszusammenschlüssen, wenn Konkurrenten sich gegen eine Genehmigungsentscheidung der Kartellbehörde wenden. 5. Gegen private Klagen auf einfachen Schadensersatz bestehen keine Einwände. Überraschend ist der gesellschaftsrechtliche Sanktionsweg in Europa völlig unterentwickelt. Hier setzen Aktionäre Ersatzansprüche einer Gesellschaft gegen einen pflichtwidrig handelnden Vorstand durch. Im Bereich der Fusionskontrolle sollte der Privatrechtsschutz wieder zurückgeführt werden. Man kann heute stärker als früher auf die Selbstheilungskräfte des Wettbewerbs vertrauen.

VIII. Staatskirchenrecht

Der leitende Bezugspunkt des Staatskirchenrechts – eine erste Annäherung Von Karlheinz Konrad I. Das Staatskirchenrecht zwischen Bestätigung und Entwicklung In den letzten Jahren trat das Staatskirchenrecht1 nach Jahrzehnten scheinbarer Ruhe wieder zunehmend in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Dabei waren gegenläufige Entwicklungen zu beobachten: Auf der einen Seite erfuhr das hergekommene Staatskirchenrecht eine eindrucksvolle Bestätigung. Weder im Zuge der Wiedervereinigung noch im Rahmen der Gemeinsamen Verfassungskommission ist das geltende Staatskirchenrecht ernsthaft in Frage gestellt worden.2 In den neuen Ländern erlebte das Vertragsstaatskirchenrecht trotz einer schon weit fortgeschrittenen Entkonfessionalisierung in geradezu erstaunlicher Weise eine Renaissance. Auch das staatskirchenrechtliche Schrifttum bewahrte eine in anderen Rechtsgebieten kaum bekannte Kontinuität und Geschlossenheit. Gleichwohl ist in das Staatskirchenrecht Bewegung gekommen: Eine Reihe von Rechtsstreitigkeiten vom Kruzifix-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts bis zu den Verfahren um den Körperschaftsstatus der Zeugen Jehovas, den LER-Unterricht in Brandenburg und das Kopftuch im Schulunterricht sorgten für nicht selten hoch emotional geführte Debatten; die staatskirchenrechtlichen Fragen im Zusammenhang mit dem Islam harren nach wie vor einer Lösung. Die öffentlich ausgetragenen Debatten verdecken dabei einen sich nur allmählich vollziehenden, fast schon schleichenden verfassungsrechtlichen 1 Aus den staatskirchenrechtlichen Veröffentlichungen von Rupert Scholz seien insbesondere die Vorträge „Staat und Kirche – Chancen für eine neue Partnerschaft“, in: Bernhardt, Walter/Mehnert, Gottfried (Hrsg.), Glaube und Politik. Die Bad Bramstedter Gespräche. Vorträge zum Dialog zwischen Kirche und Staat 1985–1986, Neumünster 1987, S. 63–83, sowie „Der Auftrag der Kirche im Prozeß der deutschen Einheit“, in: Essener Gespräche 26 (1992), S. 7–27, genannt. 2 Vgl. BT-Drucksache 12/6000, S. 159. Die Gemeinsame Verfassungskommission begründete den Verzicht auf die Befassung mit den Änderungsvorschlägen zu den staatskirchenrechtlichen Artikeln bemerkenswerterweise nicht allein mit der Bewährung des hergekommenen staatskirchenrechtlichen Systems, sondern auch mit einem Verweis auf den begrenzten zeitlichen Rahmen.

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Perspektivenwechsel bei der Beurteilung des Verhältnisses zwischen dem institutionellen Staatskirchenrecht der durch Art. 140 GG inkorporierten Kirchenartikel der Weimarer Reichsverfassung und der grundrechtlichen Gewährleistung der Religionsfreiheit in Art. 4 Abs. 1, 2 GG, der in seiner letzten Konsequenz zu einer Neuausrichtung des staatskirchenrechtlichen Koordinatensystems nötigt. II. Das Verhältnis von Grundrecht und institutionellem Staatskirchenrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht betonte schon in seiner frühen Rechtsprechung den engen Zusammenhang zwischen dem institutionellen Staatskirchenrecht und dem Grundrecht auf Religionsfreiheit. Art. 140 GG in Verbindung mit den Weimarer Kirchenartikeln regle das objektive Grundverhältnis zwischen Staat und Kirche, das „Status-Verhältnis“, von dem nur ein Teilaspekt von Art. 4 Abs. 1, 2 GG erfasst sei, nämlich soweit hierdurch die gemeinsame Bekenntnis- und Kultfreiheit gewährleistet sei. Ansonsten aber lasse aber Art. 4 GG die Eigenständigkeit des institutionellen Staatskirchenrechts unberührt.3 Das Bundesverfassungsgericht verwies in diesem Zusammenhang darauf, dass die Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1, 2 GG bewusst aus dem Kontext der Weimarer Kirchenartikel gelöst worden sei.4 Folgerichtig verneinte das Bundesverfassungsgericht, dass eine Religionsgemeinschaft eine Verfassungsbeschwerde unmittelbar auf die Rüge eines Verstoßes gegen Art. 140 GG in Verbindung mit den Weimarer Kirchenartikeln stützen konnte.5 Hierfür bestand auch keine zwingende Notwendigkeit, 3 Vgl. BVerfGE 42, 312 (322, 332); 57, 220 (244); 70, 138 (164); 72, 278 (279). Heckel, Johannes, Kirchengut und Staatsgewalt, in: Festschrift für Rudolf Smend, Göttingen 1952, S. 103 (107), konnte daher noch formulieren: „In dieses Religionsrecht des religiösen Individualismus ist nun aber ein anderes gemeinschaftsmäßiges, genauer gesagt ‚kirchliches‘ hineinkomponiert. Es richtet sich aus an den alten christlichen Religionsgemeinschaften. Ihnen will es nicht nur die größtmögliche Freiheit sichern . . ., sondern zugleich und vor allem die überragende Stellung als geistliche und sittliche Macht im Volksleben erhalten.“ Dementsprechend sah er den wesentlichen Unterschied zwischen einem grundrechtlich-individualistischen und dem institutionell-staatskirchlichen System insbesondere in dem Status der Körperschaften des öffentlichen Rechts. 4 Vgl. BVerfGE 33, 23 (30 f.). 5 Vgl. BVerfGE 19, 129 (135); ebenso die wohl herrschende Meinung im Schrifttum, vgl. Morlok, Martin, in: Dreier, Horst (Hrsg.), Grundgesetz, Band I, 2. Aufl. Tübingen 2004, Art. 4, Rdnr. 97; Jarass, Hans, D., in: Jarass, Hans D./Pieroth, Bodo, Grundgesetz, 8. Aufl. München 2006, Art. 140, Rdnr. 1 f. Die Gegenauffassung will dagegen die Verfassungsbeschwerde unmittelbar auf Art. 140 GG in Verbindung mit den Weimarer Kirchenartikeln stützen, vgl. Hollerbach, Alexander,

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da in den dem Bundesverfassungsgericht vorgelegten Sachverhalten regelmäßig auch eine Verletzung der Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1, 2 GG gerügt werden konnte, die gemäß Art. 19 Abs. 3 GG auch einer kollektiven Wahrnehmung offenstand.6 Rechtsschutzlücken waren nicht zu besorgen, da das Bundesverfassungsgericht den ihm zur Prüfung unterbreiteten Sachverhalt unter jedem verfassungsrechtlichen Aspekt und damit auch auf seine Vereinbarkeit mit dem institutionellen Staatskirchenrecht überprüfen konnte, sobald ihm der Einstieg in die materiellrechtliche Prüfung durch eine zulässige Verfassungsbeschwerde eröffnet worden war.7 In der Folgezeit löste sich das Bundesverfassungsgericht immer weiter von seiner ursprünglichen Auffassung, wonach dem institutionellen Staatskirchenrecht ein eigenständiger Verfassungsrang zukam. Einen vorläufigen Endpunkt der Entwicklung markiert das Urteil zum Körperschaftsstatus der Zeugen Jehovas, in dem das Bundesverfassungsgericht die Religionsfreiheit zum „leitenden Bezugspunkt“8 des Staatskirchenrechts erhob. Die Gewährleistungen des Art. 140 GG in Verbindung mit den Weimarer Kirchenartikeln seien „funktional auf die Inanspruchnahme und Verwirklichung des Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Isensee, Josef/Kirchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band VI, Heidelberg 1989, § 138, Rdnr. 145; Ehlers, Dirk, Der Bedeutungswandel im Staatskirchenrecht, in: Pieroth, Bodo (Hrsg.), Verfassungsrecht und soziale Wirklichkeit in Wechselwirkung, Berlin 2000, S. 85 (108); ders., in: Sachs, Michael (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Aufl. München 2002, Art. 140, Rdnr. 3; Magen, Stephan, in: Umbach, Dieter C./Clemens, Thomas (Hrsg.), Grundgesetz, Heidelberg 2002, Art. 140 GG, Rdnr. 22. Einen Sonderfall behandelt BVerfGE 19, 206 (225), wonach die Kirchenbausteuerpflicht juristischer Personen gegen Art. 2 Abs. 1 GG verstoße, nicht aber gegen Art. 4 Abs. 1, 2 GG. Diese Entscheidung ist noch von den Beschwerdeführern im Bremischen Mandatsfall, BVerfGE 42, 312 (317), in Bezug genommen worden. 6 Vgl. aus der Rechtsprechung unter anderem BVerfGE 46, 73; 102, 370. In der zuletzt genannten Entscheidung stellte das Bundesverfassungsgericht sogleich auf Art. 137 Abs. 3 WRV ab, ohne im Rahmen der Begründetheitsprüfung noch auf Art. 4 Abs. 1, 2 GG und sein Verhältnis zu Art. 140 GG in Verbindung mit den Weimarer Kirchenartikeln einzugehen; vgl. hierzu kritisch Hillgruber, Christian, Der Körperschaftsstatus von Religionsgemeinschaften – objektives Grundverhältnis oder subjektives Grundrecht, NVwZ 2001, 1347 (1348 f.). 7 Vgl. BVerfGE 42, 312. 8 BVerfGE 102, 370 (393). Siehe zuvor schon die Formulierungen „Fundamentalnorm des Staatskirchenrechts“ bei Herzog, Roman, in: Maunz, Theodor/Dürig, Günter, Grundgesetz, Art. 4, Rdnr. 13, und „Religionsfreiheit als Fundament und zentrales Kriterium des Staatskirchenrechts“ bei Simon, Helmut, Freie Kirche im demokratischen Staat, ZevKR 42 (1997), 155 (165). Die Bedeutung des Art. 140 GG betonen dagegen Hesse, Konrad, Der Rechtsschutz durch staatliche Gerichte im kirchlichen Bereich, Göttingen 1956, S. 64; Ehlers, Bedeutungswandel (Fn. 5), S. 85 (108), der Art. 140 GG als lex specialis zu Art. 4 Abs. 1, 2 GG deutet, aber hinzufügt, dass Art. 140 GG „im Lichte des Art. 4 Abs. 1 und 2 ausgelegt werden“ müsse.

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Grundrechts der Religionsfreiheit angelegt“; der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts sei „ein Mittel zur Erleichterung und Entfaltung der Religionsfreiheit“9. Dieses funktionale, die grundrechtliche Dimension ganz in den Vordergrund rückende Verständnis weist dem institutionellen Staatskirchenrecht eine rein dienende Funktion zu und stellt damit zumindest tendenziell dessen eigenständigen verfassungsrechtlichen Rang in Frage. Art. 4 Abs. 1, 2 GG gewinnt dadurch einen Vorrang vor Art. 140 GG und den dort in Bezug genommenen Weimarer Kirchenartikeln.10 Die Tragweite dieses Perspektivenwechsels zeigt sich noch deutlicher, wenn man das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu der vorangegangenen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts in derselben Sache in Kontrast setzt. Das Bundesverwaltungsgericht verneinte eine Verletzung der Rechte des Klägers aus Art. 4 Abs. 1, 2 GG, da „der durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gewähleistete Freiheitsraum mit wie ohne Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts uneingeschränkt erhalten“11 bleibe. 9 BVerfGE 102, 370 (387) unter Bezugnahme auf Meyer-Teschendorf, Klaus, Der Körperschaftsstatus der Kirchen. Zur Systemadäquanz des Art. 137 V WRV im pluralistischen Gemeinwesen des Grundgesetzes, AöR 103 (1978), 289 (329 ff.). Zustimmend Heckel, Johannes, Religionsfreiheit und Staatskirchenrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Band 2, Tübingen 2001, S. 379 (397, Fn. 67); Magen, Art. 140 (Fn. 5), Rdnr. 20, 93 ff.; ders., Zum Verhältnis von Körperschaftsstatus und Religionsfreiheit, NVwZ 2001, 888 f.; ähnlich auch Freiherr von Campenhausen, Axel, Körperschaftsstatus der Kirchen und Religionsgemeinschaften, ZevKR 46 (2001), 165 (175). Kritisch dagegen Hillgruber, Christian, Über den Sinn und Zweck des staatskirchenrechtlichen Körperschaftsstatus, in: Grabenwarter, Christoph/Lüdecke, Norbert (Hrsg.), Standpunkte im Kirchen- und Staatskirchenrecht, Würzburg 2002, S. 79 ff. Das Bundesverfassungsgericht nimmt in seinem Urteil zu den Zeugen Jehovas Bezug auf BVerfGE 42, 312 (322), obwohl aus dieser Entscheidung keine derart weitreichenden Schlussfolgerungen gezogen werden können. Zwar erkannte das Bundesverfassungsgericht, wie bereits dargelegt, schon damals die engen Wechselwirkungen zwischen Art. 4 GG und den Normen des institutionellen Staatskirchenrechts an. Aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Bremer Mandatsstreit kann aber keinesfalls gefolgert werden, dass sich die Normen des institutionellen Staatskirchenrechts in einer funktionalen Hinordnung auf das Grundrecht aus Art. 4 GG erschöpfen. Siehe auch Korioth, Stefan, Vom institutionellen Staatskirchenrecht zum grundrechtlichen Religionsverfassungsrecht, in: Festschrift für Peter Badura, Tübingen 2004, S. 727 (732, Fn. 16); Tillmanns, Reiner, Kirchensteuer kein Mittel zur Entfaltung grundrechtlicher Religionsfreiheit, in: Festschrift für Wolfgang Rüfner, Berlin 2003, S. 919 (936, Fn. 105). 10 Einen Vorrang des Art. 4 GG vor Art. 140 GG postulieren insbesondere Obermayer, Klaus, in: Bonner Kommentar, Art. 140, Rdnr. 71, und Renck, Ludwig, Zum Stand des Bekenntnisverfassungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, BayVBl. 1999, 70. Dagegen aber Jeand’Heur, Bernd/Korioth, Stefan, Grundzüge des Staatskirchenrechts, Stuttgart 2000, Rdnr. 162 ff.; Scheuner, Ulrich, Die Religionsfreiheit im Grundgesetz, in: ders., Schriften zum Staatskirchenrecht, Berlin 1973, S. 33 (39).

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Die Aufwertung des Art. 4 Abs. 1, 2 GG zum „leitenden Bezugspunkt“ des Staatskirchenrechts wirkt auf den ersten Blick wie eine konsequente Weiterentwicklung, da sie dem allgemeinen Trend zur Erweiterung und Aufwertung der grundrechtlichen Gewährleistungen zu entsprechen scheint.12 Insbesondere knüpft dieser Perspektivenwechsel an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den institutionellen Grundrechtsverbürgungen an, die der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2, Art. 5 Abs. 3 und Art. 9 Abs. 3 GG eine institutionelle Gewährleistung zugunsten der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, der Universitäten und der arbeitsrechtlichen Koalitionen13 entnimmt.14 Dabei läuft man aber Gefahr, einen grundlegenden Unterschied zwischen diesen Konstellationen und dem öffentlich-rechtlichen Körperschaftsstatus von Religionsgemeinschaften einzuebnen. Die Rechtspositionen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, der Universitäten und der arbeitsrechtlichen Koalitionen wurzeln bereits in dem zugrunde liegenden Freiheitsrecht. Was das Bundesverfassungsgericht dort „aus dem Grundrecht herausholt, holt es bei der Religionsfreiheit von außen heran“.15 Der Rechtsstatus als Körperschaft des öffentlichen Rechts kann nicht aus Art. 4 Abs. 1, 2 GG abgeleitet werden, sondern bedarf einer konstitutiven normativen Grundlegung in Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 5 WRV. Die Vergrundrechtlichung des institutionellen Staatskirchenrechts und insbesondere des Körperschaftsstatus ist nicht zuletzt auch mit der Überlegung begrüßt worden, dass eine grundrechtliche Fundierung des Staatskirchenrechts dessen Akzeptanz im Prozess der europäischen Einigung fördere. 11 Vgl. BVerwGE 105, 117 (127). Siehe auch Freiherr von Campenhausen, Axel, Zum Stand des Staatskirchenrechts in Deutschland, BayVBl. 1999, 65 (67); eingehend Jurina, Josef, Die Religionsgemeinschaften mit privatrechtlichem Status, in: Listl, Joseph/Pirson, Dietrich (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts, Band 1, 2. Aufl. Berlin 1994, S. 689 (696 ff.). 12 Vgl. hierzu Kästner, Karl-Hermann, Hypertrophie des Grundrechts auf Religionsfreiheit?, JZ 1998, 974; Muckel, Stefan, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, Berlin 1997, S. 13 f. In den Zusammenhang der Vergrundrechtlichung gehört auch die nur auf den ersten Blick rein terminologische Frage, ob der hergekommene Begriff Staatskirchenrecht nicht besser durch den Begriff Religionsrecht abgelöst werden sollte, vgl. hierzu aus dem kontroversen Schrifttum Hollerbach, Alexander, Staatskirchenrecht oder Religionsrecht?, in: Festschrift für Heribert Schmitz, Regensburg 1994, S. 869 (887); Görisch, Christoph, Staatskirchenrecht am Ende?, NVwZ 2001, 885; Czermak, Gerhard, „Religions(verfassungs)recht“ oder „Staatskirchenrecht“?, NVwZ 1999, 743. 13 Vgl. hierzu Scholz, Rupert, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, München 1971, passim. 14 Vgl. Isensee, Josef, Verfassungsstaatliche Erwartungen an die Kirche, Essener Gespräche 25 (1991), 104 (116 f.). 15 Tillmanns, Kirchensteuer (Fn. 9), S. 919 (921).

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Das institutionelle Staatskirchenrecht gelange dadurch in den Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 9 EMRK und sei nicht mehr darauf angewiesen, als Teil der nationalen Identität im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV verteidigt zu werden.16 Dem ist aber entgegenzuhalten, dass gerade das staatskirchenrechtliche Modell des Grundgesetzes (einschließlich der Weimarer Kirchenartikel) auf europäischer Ebene vielfach als vorbildhaft betrachtet wird, zumal kaum ein anderer europäischer Flächenstaat die Herausforderung zweier im wesentlichen gleich starker Konfessionen zu bewältigen hatte und dieses Spannungsverhältnis in einem jahrhundertelangen, oftmals schmerzhaften Prozess letzten Endes überzeugend zu einer Friedensordnung auflösen konnte.17 Ferner könnte zur Verteidigung der neue Rechtsprechungslinie des Bundesverfassungsgerichts angeführt werden, die Vergrundrechtlichung des institutionellen Staatskirchenrechts verbreitere dessen Legitimationsgrundlage in Zeiten eines Bedeutungsverlusts der großen christlichen Kirchen und lasse diesen Normenkomplex an dem hohen verfassungsrechtlichen Rang der Religionsfreiheit teilhaben.18 Darauf ist jedoch zu erwidern, dass das institutionelle Staatskirchenrecht nicht unter einen Volkskirchenvorbehalt gestellt ist.19 Vor allem aber ist mit der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht ein Zugewinn, sondern eine Einbuße an Freiheit verbunden, da das institutionelle Staatskirchenrecht auf die Dimension der Religionsfreiheit verkürzt wird.20 Besonders deutlich werden diese Gefahren bei dem verfassungsrechtlich höchst komplexen Status der Körperschaften des öffentlichen Rechts.21 Der Körperschaftsstatus überbrückt den durch das Trennungsgebot des Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 1 WRV 16 Vgl. Korioth, Staatskirchenrecht (Fn. 9), S. 727 (746 f.); Tillmanns, Kirchensteuer (Fn. 9), S. 919 (922). 17 Vgl. Hollerbach, Alexander, Religion und Kirche im freiheitlichen Verfassungsstaat, Berlin 1998, S. 28; Marré, Heiner, Kooperation von Staat und Kirche und staatliche Kirchenförderung – vorbildhaft für Europa, in: Festschrift für Alexander Hollerbach, Berlin 2001, S. 879. 18 Vgl. dazu kritisch Tillmanns, Kirchensteuer (Fn. 9), S. 919 (922 f.). 19 Vgl. Rüfner, Wolfgang, Staatskirchenrecht im pluralistischen Staat, in: Festschrift für Alexander Hollerbach, Berlin 2001, S. 691 (692); ders., Staatskirchenrecht und gesellschaftlicher Wandel, KuR 1999, 73 (= 110, 119); a. A. Renck, Ludwig, Staatskirchenrecht in den neuen Bundesländern – dargestellt am Beispiel Thüringens, ThürVBl. 1994, 182 (183 f.); ders., Probleme des Thüringer Staatskirchenrechts, ThürVBl. 1996, 73 (75). 20 Vgl. Tillmanns, Kirchensteuer (Fn. 9), S. 919 (923). 21 Dem Körperschaftsstatus wird im Schrifttum ein fünffacher Sinngehalt zugewiesen (Unabhängigkeit der Rechtsfähigkeit von den Regelungen des Bürgerlichen Rechts; Hervorhebung der Bedeutung der Körperschaften als geistig-soziale Faktoren des öffentlichen Lebens; Gegengewicht zu einer Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften; Eröffnung von Differenzierungsmöglichkeiten; Eröffnung be-

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vorgegebenen Abstand zwischen Staat und Religionsgemeinschaft.22 Mit der Fokussierung des Körperschaftsstatus auf eine primär freiheitsrechtliche Dimension wird das in den Weimarer Kirchenartikeln angelegte spannungsreiche Gleichgewicht zwischen trennenden und verbindenden Elementen zugunsten einer stärkeren Trennung von Staat und Kirche verschoben.23 Zugleich verliert das Angebot zur Kooperation zwischen Staat und Religionsgemeinschaften, das in der Regelung des Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 5 WRV seinen vielleicht sinnfälligsten normativen Ausdruck findet,24 nicht unwesentlich an Gewicht. Das Freiheitsoptimum wird jedoch nicht in der radikalen Trennung vom Staat, sondern gerade in der Kooperation25 mit ihm verwirklicht;26 ihren Kulminationspunkt findet diese im Abschluss vertragsstaatskirchenrechtlicher Vereinbarungen, worauf später noch einzugehen sein wird. III. Ursachen des Rechtsprechungswandels 1. Vergrundrechtlichung von Konfliktlagen Der staatskirchenrechtliche Perspektivenwechsel ist zu einem nicht geringen Teil Folge einer vom Bundesverfassungsgericht angestoßenen Entwicklung, die Grundrechte immer stärker auszudifferenzieren und mit Gewährleistungsgehalten aufzuladen, die sich aus dem hergekommenen Verständnis der Grundrechte als Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe gelöst haben und die Grundrechte insbesondere auch um eine leistungsrechtliche Dimension erweitern. Diese Tendenz in der Rechtsprechung des Bundesverfasstimmter öffentlich-rechtlicher Handlungsformen), vgl. Ehlers, Art. 140 GG/Art. 137 WRV (Fn. 5), Rdnr. 17. 22 Vgl. hierzu Muckel, Stefan, Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, Der Staat 38 (1999), 569 (580 ff.); Korioth, Stefan, Loyalität im Staatskirchenrecht?, in: Gedächtnisschrift für Bernd Jeand’Heur, Berlin 1999, S. 221 (232). 23 Vgl. Tillmanns, Kirchensteuer (Fn. 9), S. 919 (923 f.). 24 Vgl. BVerwGE 105, 117 (121); Freiherr von Campenhausen, Axel, Offene Fragen im Verhältnis von Staat und Kirche am Ende des 20. Jahrhunderts, Essener Gespräche 34 (2000), 105 (128 f.); Hollerbach, Alexander, Anmerkung, JZ 1997, 1117 (1118); siehe auch Häberle, Peter, „Staatskirchenrecht“ als Religionsrecht der verfaßten Gesellschaft, DÖV 1976, 73 (76 f.). 25 Kooperation ist dabei nicht gleichbedeutend mit Koordination im Sinne der heute überholten Koordinationslehren aus den frühen Jahren des Bonner Grundgesetzes, vgl. hierzu auch Rüfner, Wolfgang, Zuständigkeit staatlicher Gerichte in kirchlichen Angelegenheiten, in: Listl, Joseph/Pirson, Dietrich (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts, Band 2, 2. Aufl. Berlin 1995, S. 1081 (1085), unter Bezugnahme auf Scheuner, Ulrich, Die staatskirchenrechtliche Tragweite des niedersächsischen Kirchenvertrags von Kloster Loccum, ZevKR 6 (1957/58), 1 (10 ff.). 26 Vgl. Tillmanns, Kirchensteuer (Fn. 9), S. 919 (924).

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sungsgerichts begünstigt eine Beurteilung von Sachverhalten aus einer primär grundrechtlich geprägten Perspektive: Staatskirchenrechtliche Fragen lassen sich auf diesem Wege oftmals auf einen Konflikt zwischen zwei Grundrechtsträgern oder auf die Frage nach der Verhältnismäßigkeit eines staatlichen Eingriffs zurückführen. Die Gefahren eines solchen Vorgehens führt in besonders anschaulicher Weise der Kruzifix-Beschluss27 des Bundesverfassungsgerichts vor Augen, in dem der Rechtsstreit auf einen Konflikt zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit zugespitzt worden ist.28 Im Ergebnis setzte sich das Bundesverfassungsgericht mit seiner Bevorzugung der negativen Religionsfreiheit von seiner früheren Rechtsprechung ab, die sowohl die positive als auch die negative Religionsfreiheit unter das Toleranzgebot stellte,29 das einem grundsätzlichen Vorrang des einen Aspekts der Religionsfreiheit vor dem anderen entgegensteht.30 Bei einer starken Fokussierung auf grundrechtlich geschützte Positionen verliert das Toleranzgebot jedoch fast zwangsläufig an normativem Gewicht. Im Ergebnis verblieb somit kaum noch Raum für einen schonenden Ausgleich der beiden kollidierenden Grundrechtspositionen.31 Die Betonung der negativen Religionsfreiheit birgt angesichts der zunehmenden Pluralisierung und Säkularisierung in religiösen Fragen erhebliches Konfliktpotential. Mit fortschreitender Ausdifferenzierung wird es zunehmend wahrscheinlicher, dass Einzelne an hergekommenen Erscheinungsformen staatlichen Lebens Anstoß nehmen und Elemente des abendländisch-christlichen Erbes aus dem öffentlichen Leben verschwinden.32 Ein ähnliches Beispiel für die grundrechtliche Aufladung von verfassungsrechtlichen Positionen ist der Rechtsstreit um den LER-Unterricht in 27

Vgl. BVerfGE 93, 1. Siehe hierzu Freiherr von Campenhausen, Axel, Zur Kruzifix-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 121 (1996), 448; Heckel, Martin, Das Kreuz im öffentlichen Raum, DVBl. 1996, 264; Isensee, Josef, Bildersturm durch Grundrechtsinterpretation, ZRP 1996, 10; Kästner, Karl-Hermann, Lernen unter dem Kreuz?, ZevKR 41 (1996), 241; Link, Christoph, Stat crux?, NJW 1995, 3353; Müller-Volbehr, Jörg, Positive und negative Religionsfreiheit, JZ 1995, 996; Pirson, Dietrich, Anmerkung, BayVBl. 1995, 755. 28 Sehr erhellend ist der Vergleich mit der ersten Kruzifix-Entscheidung BVerfGE 35, 366; vgl. hierzu insbesondere Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Kreuze (Kruzifixe) in Gerichtssälen?, ZevKR 20 (1975), 119; Rüfner, Wolfgang, Anmerkung, JZ 1974, 491. 29 Vgl. BVerfGE 52, 223 (251). 30 Vgl. die abweichende Meinung der Richter Seidl, Söllner und der Richterin Haas in BVerfGE 93, 1 (25). 31 Vgl. hierzu die abweichende Meinung der Richter Seidl, Söllner und der Richterin Haas, BVerfGE 93, 1 (32). 32 Vgl. Müller-Volbehr, Jörg, Staatskirchenrecht an der Jahrtausendwende, ZevKR 44 (1999), 385 (403 f. mit Fn. 58).

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Brandenburg. Auch hier ist insbesondere von den Beschwerdeführern grundrechtlicher Schutz aus Art. 4 und Art. 6 GG eingefordert worden.33 Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass die für den Rechtsstreit zentrale Norm des Art. 7 Abs. 3 Satz 2 GG Teil des institutionellen Staatskirchenrechts ist. Schon im Parlamentarischen Rat ist klargestellt worden, es handele „sich hier nicht um Familien- und Elternrecht, sondern um traditionelles Recht der Kirchen, kirchliches Bildungsrecht“34. Insofern ist es konsequent, wenn eine vordringende Auffassung der Regelung des Art. 7 Abs. 3 Satz 2 GG entnimmt, dass nur Religionsgemeinschaften mit dem Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts Zugang zu den Schulen eröffnet ist.35 2. Ausdehnung des Schutzbereichs der Religionsfreiheit Der Religionsfreiheit ist schon in der frühen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein besonderer Rang zuerkannt worden. Das Bundesverfassungsgericht betonte dabei den hohen Stellenwert der freiheitlichrechtsstaatlichen Ausrichtung des Grundgesetzes und mittelbar dadurch auch der trennenden Elemente im Verhältnis zwischen Staat und Kirche.36 Zwar ist Art. 135 WRV, der die Religionsfreiheit unter den Vorbehalt der allgemeinen Staatsgesetze stellte, durch den vorbehaltslos gewährleisteten Art. 4 Abs. 1, 2 GG abgelöst worden. Gleichwohl kann aus der Verstärkung der grundrechtlichen Gewährleistung in Art. 4 Abs. 1, 2 GG und der damit mittelbar verbundenen Aufwertung des Neutralitätsgrundsatzes nicht abgeleitet werden, dass die in Art. 140 GG in Bezug genommenen Weimarer Kirchenartikel von vorneherein als prinzipienwidrige Regelungen zurückstehen müssten. Vielmehr ist eine solche Konfliktlage im Wege der praktischen Konkordanz aufzulösen. Das Bundesverfassungsgericht erweiterte in mehrfacher Weise den Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 1, 2 GG. Zunächst statuierte es ein einheitliches Grundrecht der Religionsfreiheit, in dem die in Art. 4 Abs. 1 GG genannten Einzelfreiheiten der Glaubens-, Bekenntnis- und Religions33

Vgl. Korioth, Staatskirchenrecht (Fn. 9), S. 727 (730 f.). Einen Grundrechtsbezug bejaht insbesondere de Wall, Heinrich, Das Grundrecht auf Religionsfreiheit, NVwZ 1997, 465; dagegen Korioth, Stefan, Islamischer Religionsunterricht und Art. 7 III GG, NVwZ 1997, 1041 (1045 f.). 34 Heuss, Theodor, 24. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen vom 23. November 1948, zitiert nach Hillgruber, Christian, Staat und Religion, DVBl. 1999, 1155 (1176). 35 Vgl. Korioth, Stefan, Islamischer Religionsunterricht (Fn. 33), S. 1041 (1046). 36 Vgl. BVerfGE 19, 219 f.; siehe dazu Hollerbach, Alexander, Das Staatskirchenrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 92 (1967), 99 (115).

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ausübungsfreiheit vollständig aufgingen.37 Hierfür lässt sich zwar anführen, dass sich die geschichtlichen Rahmenbedingungen, die eine solche Unterscheidung erforderlich werden ließen, heute grundlegend gewandelt haben; zudem lassen sich diese Einzelfreiheiten kaum trennscharf unterscheiden. Dennoch bestehen zwischen den eher nach innen gewandten Freiheiten des Art. 4 Abs. 1 GG und den eine öffentliche Wirksamkeit entfaltenden Freiheiten des Art. 4 Abs. 2 GG wesentliche Unterschiede in Bezug auf den Regelungsbedarf. Es spricht daher einiges dafür, dass Art. 4 Abs. 1 GG und Art. 4 Abs. 2 GG dem Verfassungswortlaut entsprechend gesonderte Gewährleistungen darstellen.38 Mit seinem Urteil zu den Zeugen Jehovas setzte das Bundesverfassungsgericht seine extensive Auslegung der Religionsfreiheit fort.39 Es begründet seine Haltung wesentlich mit der gesteigerten Bedeutung der Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1, 2 GG, die das Grundgesetz „ohne Gesetzesvorbehalt in den Katalog unmittelbar verbindlicher Grundrechte übernommen und so gegenüber der Weimarer Reichsverfassung erheblich verstärkt“40 habe. Auch weise die Religionsfreiheit einen besonders engen Bezug zur Garantie der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG auf.41 Ferner erstreckte das Bundes37

Vgl. aus der Rechtsprechung BVerfGE 12, 1 (4); 24, 236 (245); 32, 98 (106); 53, 366; 83, 341 (354); siehe auch Heckel, Martin, Kontinuität und Wandlung des deutschen Staatskirchenrechts unter den Herausforderungen der Moderne, ZevKR 44 (1999), 340 (354). 38 Vgl. Loschelder, Wolfgang, Der Islam und die religionsrechtliche Ordnung des Grundgesetzes, Essener Gespräche 20 (1986), 149 (152); Muckel, Religiöse Freiheit (Fn. 12), S. 125 ff.; Goerlich, Helmut, Anmerkung, JZ 1995, 955; Fehlau, Meinhard, Die Schranken der freien Religionsausübung, JuS 1993, 441 (446). 39 Zur extensiven Auslegung des Art. 4 Abs. 1, 2 GG vgl. kritisch Muckel, Stefan, Auf dem Weg zu einem grundrechtlich geprägten Staatskirchenrecht?, Stimmen der Zeit 219 (2001), 463 (475); siehe auch ders., Begrenzung grundrechtlicher Schutzbereiche durch Elemente außerhalb des Grundrechtstatbestandes, in: Festschrift für Hartmut Schiedermair, Heidelberg 2001, S. 347. Die extensive Auslegung der Religionsfreiheit liegt dabei im Trend der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zu einer großzügigen Bestimmung insbesondere der grundrechtlichen Schutzbereiche. In jüngerer Zeit mehren sich kritische Stimmen, vgl. die abweichende Meinung des Richters Grimm in BVerfGE 80, 137 (164 ff., insbesondere 170); zur gegenwärtigen Kontroverse siehe unlängst Kahl, Wolfgang, Vom weiten Schutzbereich zum engen Gewährleistungsgehalt, Der Staat 43 (2004), 167 (170 ff.); dagegen Hoffmann-Riem, Wolfgang, Grundrechtsausübung unter Rationalitätsanspruch, Der Staat 43 (2004), 203 (226 f.); siehe ferner di Fabio, Udo, in: Maunz, Theodor/ Dürig, Günter, Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1, Rdnr. 16, 76; Stern, Klaus/Sachs, Michael, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, München 1994, S. 60 ff. 40 BVerfGE 102, 370 (387) unter Bezugnahme auf BVerfGE 33, 23 (30 f.). 41 Vgl. BVerfGE 35, 366 (376); Herzog, Art. 4 (Fn. 8), Rdnr. 12; Listl, Joseph, Glaubens-, Bekenntnis- und Kirchenfreiheit, in: Listl, Joseph/Pirson, Dietrich

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verfassungsgericht den Schutzbereich des Grundrechts der Religionsfreiheit über das hergekommene Bündel an Freiheiten auf „das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten“,42 und „einen von staatlicher Einflussnahme freien Rechtsraum, in dem jeder sich eine Lebensform geben kann, die seiner religiösen und weltanschaulichen Überzeugung entspricht“43. Die wohl folgenschwerste Weichenstellung nahm aber das Bundesverfassungsgericht mit seiner Öffnung des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 1, 2 GG für das Selbstverständnis einer Religionsgemeinschaft vor.44 Als Regulativ fügte das Bundesverfassungsgericht zwar später einschränkend hinzu, dass es sich „auch tatsächlich, nach geistigem Gehalt und äußerem Erscheinungsbild, um eine Religion und Religionsgemeinschaft handeln“45 müsse. Dabei wird vernachlässigt, dass sich der Schutzbereich verfassungsrechtlicher Gewährleistungen aus der Verfassung selbst durch Auslegung ermitteln lassen muss.46 Auch begibt sich der Staat dadurch seiner KompetenzKompetenz.47 Eine stärkere Subjektivierung des Art. 4 Abs. 1, 2 GG ist angesichts der Pluralisierung des gesellschaftlichen und religiösen Lebens zwar nachvollziehbar, bleibt aber zwangsläufig nicht ohne Rückwirkungen auf die Auslegung der Weimarer Kirchenartikel und dabei insbesondere des Art. 137 Abs. 3 WRV, dessen eigenständiger Stellenwert dadurch geschmälert wird. Der verfassungsrechtliche Religionsbegriff darf nicht in die subjektive Verfügung des Grundrechtsberechtigten gestellt werden, sondern muss für die staatliche Seite eindeutig und einheitlich bestimmbar sein, auch wenn dies notwendigerweise mit einem Verlust an inhaltlicher Dichte einhergeht.48 In diesem Zusammenhang ist es wesentlich, dass der Staat (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts, Band 1, 2. Aufl. Berlin 1994, S. 439 (446); kritisch Rüfner, Wolfgang, Anmerkung, NJW 1974, 491. 42 BVerfGE 32, 98 (106). 43 BVerfGE 30, 415 (423); siehe dazu Jeand’Heur/Korioth, Grundzüge (Fn. 10), Rdnr. 85 ff.; Kästner, Hypertrophie (Fn. 12), S. 974. 44 Vgl. BVerfGE 24, 236 (247 ff.). 45 BVerfGE 83, 341 (353). Kritisch insbesondere Isensee, Josef, Wer definiert die Freiheitsrechte?, Heidelberg 1980, S. 12 ff., 29 ff.; ähnlich auch Muckel, Religiöse Freiheit (Fn. 12), S. 122, 276, 287. 46 Vgl. Ehlers, Bedeutungswandel (Fn. 5), S. 85 (109 f.). 47 Vgl. Wieland, Joachim, Die Angelegenheiten der Religionsgesellschaften, Der Staat 25 (1986), 321 (325); Herzog, Art. 4 (Fn. 8), Rdnr. 104. 48 In diesem Zusammenhang stellt sich die grundlegende Frage nach einer subjektiven bzw. objektiven Interpretation der Religionsfreiheit mit besonderer Schärfe. Vgl. für den objektivierenden Ansatz Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte? (Fn. 45), passim; ders., Vom Ethos des Interpreten, in: Festschrift für Günther Winkler, Wien 1997, S. 367; für den subjektivierenden Ansatz Häberle, Peter, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, 297; vermittelnd Heckel, Kontinuität (Fn. 37), S. 340 (356).

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Religion nur nach seinen „weltlichen Wirkungen“ bzw. seiner „weltlichen Außenseite“ behandeln darf.49 Die umfassende Anerkennung der kollektiven Glaubensfreiheit, bei der nicht immer der Bezug zu Art. 19 Abs. 3 GG hergestellt worden ist, leistete ebenfalls einen Beitrag zur Nivellierung der wesensmäßigen Unterschiede zwischen dem Individualgrundrecht auf Glaubensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1, 2 GG und dem institutionellen Staatskirchenrecht. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts umfasst das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1, 2 GG „neben der Freiheit des Einzelnen zum privaten und öffentlichen Bekenntnis notwendigerweise auch die Freiheit des organisatorischen Zusammenschlusses zum Zwecke des gemeinsamen öffentlichen Bekenntnisses, insbesondere der Freiheit der Kirchen in ihrer historisch gewordenen Gestalt zum Bekenntnis gemäß ihrem Auftrag“.50 Die Regelungsaufgabe des Staates beschränkt sich dabei darauf, sein Verhältnis zu den Kirchen in die rechtliche Form von Rechten und Pflichten zu gießen und dabei auch Konflikte zwischen individueller Religionsfreiheit und institutionellem Staatskirchenrecht einer verbindlichen Lösung zuzuführen. Eine konsequente Bevorzugung der individuellen Religionsfreiheit vor dem institutionellen Staatskirchenrecht wäre dabei für die Religionsgemeinschaften identitätsbedrohend. Der Staat darf beispielsweise einer Religionsgemeinschaft grundsätzlich nicht vorenthalten, ihren Sendungsauftrag nach innen in Gestalt von spezifischen Loyalitätspflichten durchzusetzen.51 Hierin zeigt sich auch ein markanter Unterschied zwischen kollektiver Grundrechtswahrnehmung und institutionellem Staatskirchenrecht: Da die kirchliche Sendung den Menschen ganz und nicht nur beschränkt auf einzelne Lebenssachverhalte ansprechen will, unterscheidet sich das hierauf von staatlicher Seite antwortende institutionelle Staatskirchenrecht grundlegend von einem Regelungsrahmen für die kollektive Grundrechtswahrnehmung. 3. Argumentation mit abstrakten Rechtsprinzipien Der Kruzifix-Beschluss illustriert zudem eine weitere Entwicklungslinie in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die nicht auf das Staatskirchenrecht beschränkt ist, aber dort besonders nachhaltig Folgen 49

Heckel, Kontinuität (Fn. 37), S. 340 (359, Fn. 14). Vgl. BVerfGE 53, 366 (387). Weitere wesentliche Meilensteine dieser Entwicklung sind BVerfGE 42, 312 (323); 46, 73 (83); 70, 138 (160); 99, 100 (118); 105, 279 (293). 51 Diesen Überlegungen kommt insbesondere im kirchlichen Arbeitsrecht große Bedeutung zu. Entsprechende Loyalitätspflichten, deren Verletzung auch arbeitsrechtlich sanktioniert werden kann, sind von BVerfGE 70, 138 (162 ff.) anerkannt worden. Siehe auch Isensee, Erwartungen (Fn. 14), S. 104 (116). 50

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zeitigte. Das Staatskirchenrecht eignet sich nicht zuletzt aufgrund seiner vielfältigen historischen Bezüge zur Bildung abstrakter Rechtsbegriffe wie Parität oder Neutralität, die in der geschichtlichen Entfaltung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche große Wirkmächtigkeit und Prägekraft entfaltet haben. Zwar steht die Berechtigung solcher Begriffsbildungen außer Zweifel; die Auslegung der einschlägigen Verfassungsnormen darf jedoch nicht durch Bezugnahme auf abstrakte Verfassungsprinzipien überlagert werden. Die Argumentation mit abstrakten Rechtsprinzipien, die aus ihrer normativen Grundlage gelöst werden, eröffnet nämlich nicht nur zusätzliche Entscheidungsspielräume, sondern birgt auch die Gefahr einer bewussten oder unbewussten Befrachtung verfassungsrechtlicher Überlegungen mit einem vorverfassungsrechtlichen Vorverständnis, so dass unter Umständen nicht mehr die einzelnen Aussagen der Verfassung unmittelbar ausgelegt, sondern aus den abstrakten Rechtsprinzipien Rechtsfolgen abgeleitet werden, die den Einzelvorschriften gerade nicht entnommen werden können.52 Verschärft wird diese Situation durch die gelegentlich gezeigte Bereitschaft des Bundesverfassungsgerichts, das eigene Vorverständnis des Verhältnisses von Staat und Kirche in die Entscheidungsfindung einfließen zu lassen.53 Besonders deutlich wird dies bei der Auslegung des staatskirchenrechtlichen Neutralitätsgrundsatzes, der nicht – wie der Begriff nahelegen könnte – im Sinne einer religiösen und weltanschaulichen Passivität und Indifferenz des Staates, also als Aufforderung zum Laizismus, verstanden werden kann. Die meisten verfassungsrechtlichen Konfliktfälle lassen sich auch ohne Rekurs auf das Neutralitätsprinzip unmittelbar durch Anwendung der jeweils einschlägigen Verfassungsnorm lösen.54 In ähnlicher Weise gilt dies für das Paritätsprinzip. Wird dieser Grundsatz verabsolutiert, erscheint der Status der öffentlich-rechtlichen Körperschaften aus Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 5, 6 WRV als rechtfertigungsbedürftige Ausnahme, obwohl diese Regelungen ihre Rechtfertigung bereits in sich tragen. Das Spannungsverhältnis zwischen abstrakten Rechtsprinzipien und den jeweils einschlägigen Normen des institutionellen Staatskirchenrechts beleuchtet auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Kirchensteuerpflicht juristischer Personen. Art. 137 Abs. 6 WRV ist in der Weimarer Zeit dahingehend verstanden worden, dass auch juristische Personen zur Kir52

Vgl. Hillgruber, Staat und Religion (Fn. 34), S. 1155 (1173). Vgl. ausdrücklich BVerfGE 42, 312 (330 f.); vgl. zu dieser Entscheidung Freiherr von Campenhausen, Axel, Aktuelle Rechtsprobleme der Inkompatibilität, JZ 1975, 349; Steiner, Udo, Der verfassungsrechtliche Schutz des parlamentarischen Mandats als Grenze kirchlicher Inkompatibilitätsgesetzgebung, Der Staat 14 (1975), 491; Müller-Volbehr, Jörg, Anmerkung, DÖV 1975, 495. 54 Vgl. Hillgruber, Christian, Staat und Religion (Fn. 34), S. 1155 (1173 f.). 53

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chensteuer herangezogen werden können.55 Das Bundesverfassungsgericht lehnte diese Auffassung unter Bezugnahme auf den Neutralitätsgrundsatz ab. Zwar ist diese Entscheidung vom Ergebnis her ohne jede Alternative,56 methodisch zwingend war sie jedoch nicht. Art. 137 Abs. 6 WRV stellt in seinem hergekommenen Verständnis eine bewusste Ausnahme vom staatskirchenrechtlichen Neutralitätsprinzip dar. Der Verfassungsgeber kann solche Ausnahmen vorsehen, ohne dass er dadurch verfassungswidriges Verfassungsrecht schafft.57 4. Verfassungswandel im Staatskirchenrecht Der Perspektivenwandel in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts spiegelt eine tiefgreifende Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse wider, die sich schlagwortartig – wenn auch in stark vergröbernder Vereinfachung – mit den Begriffen Abschwächung volkskirchlicher Bindungen, Religionsferne in den neuen Ländern und Pluralisierung des religiösen Lebens beschreiben lässt.58 Damit stellt sich die Frage nach einem Verfassungswandel im Staatskirchenrecht.59 Zwar kann von einem Verfassungswandel im strikten Sinne kaum gesprochen werden, da die Grundentscheidungen des institutionellen Staatskirchenrechts sowohl in ihrem Inhalt wie in ihrer Zielrichtung unverändert geblieben sind. Gleichwohl ist nicht zu verkennen, dass sich das Koordinatensystem, in das die Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1, 2 GG und das institutionelle Staatskirchenrecht des Art. 140 GG einzufügen ist, von Grund auf wandelte. Zu den bestimmenden Faktoren zählen dabei neben den sich immer weiter verfeinernden Grundrechtslehren und dem umfassend ausgebauten Rechtsschutz insbesondere eine im Gefolge des Ausbaus der Sozialstaatlichkeit zunehmende Verschränkung von Staat und Gesellschaft. Ungeachtet dessen bleibt aber die Verfassung notwendigerweise immer auch ein Element mit der Tendenz zu Konstanz und Kontinuität.60 Der Wandel volkskirchlicher Strukturen ist für sich genommen nicht geeignet, einen Bedeutungswandel der einschlägigen Verfassungsnormen aus55 Vgl. Anschütz, Gerhard, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11.8.1919, 14. Aufl. Berlin 1933 (Nachdruck Bad Homburg 1968), Art. 137, Anm. 11. 56 Zumal die Entscheidung auch in Einklang mit dem geltenden Kirchenrecht steht, vgl. für die katholische Kirche can. 1260 CIC/1983. 57 Vgl. Hollerbach, Staatskirchenrecht (Fn. 36), S. 99 (113 ff.), unter Bezugnahme auf BVerfGE 3, 225 (232). 58 Vgl. Heckel, Kontinuität (Fn. 37), S. 340 (352). 59 Entsprechend der bekannten Formulierung „Wenn zwei Grundgesetze dasselbe sagen, so ist das nicht dasselbe“ von Smend, Rudolf, Staat und Kirche nach dem Bonner Grundgesetz, ZevKR 1 (1951), 4. 60 Vgl. Heckel, Kontinuität (Fn. 37), S. 340 (348 ff.).

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zulösen. In allen deutschen Ländern sind die staatskirchenrechtlichen Regelungen stets auch gegenüber konfessionellen Minderheiten zur Anwendung gekommen; das Staatskirchenrecht erwies sich dabei als offen und anpassungsfähig. Es gibt daher keinen Grund, es nicht auch dann anzuwenden, wenn die Bevölkerungsmehrheit in einem Land keiner Kirche angehört.61 IV. Das Verhältnis von Art. 4 Abs. 1, 2 GG zu den Weimarer Kirchenartikeln 1. Art. 136 Abs. 1 WRV Die Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1, 2 GG wird vom Bundesverfassungsgericht als vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht nur verfassungsimmanenten Schranken unterworfen. Da die Religionsfreiheit somit nur zugunsten von Rechtsgütern mit Verfassungsrang eingeschränkt werden kann, führt dies in der letzten Konsequenz dazu, dass das einfache Gesetzesrecht, soweit es zur Anwendung gelangt, zum unmittelbaren Verfassungsvollzug erhoben wird.62 Weitergehende Probleme blieben aus, da das Bundesverfassungsgericht nur geringe Anforderungen an die Annahme eines Rechtsguts mit Verfassungsrang stellte.63 Demgegenüber lehnte es das Bundesverfassungsgericht infolge seines extensiven Verständnisses des Art. 4 Abs. 1, 2 GG ab, Art. 136 Abs. 1 WRV als Gesetzesvorbehalt einzustufen.64 Die vom Bundesverfassungsgericht hierfür angeführten Gründe sind dabei aber nicht frei von einer gewissen inneren Spannung.65 Wenn nämlich das Bundesverfassungsgericht darauf verweist, dass Art. 4 Abs. 1, 2 GG aus dem Kontext der Weimarer Kirchenartikel gelöst worden sei,66 lässt dies außer acht, dass Art. 136 Abs. 1 bis 4 61 Vgl. Rüfner, Staatskirchenrecht (Fn. 19), S. 691 (692); ders., Staatskirchenrecht und gesellschaftlicher Wandel (Fn. 19), S. 73 (= 110, 119); Muckel, Auf dem Weg (Fn. 39), S. 463 (475); Tillmanns, Kirchensteuer (Fn. 9), S. 919 (935). 62 Vgl. hierzu sehr pointiert Heckel, Kontinuität (Fn. 37), S. 340 (353). 63 Vgl. Hillgruber, Staat und Religion (Fn. 34), S. 1155 (1173) 64 Vgl. BVerfGE 28, 243 (261); 33, 23 (31); siehe hierzu von Campenhausen, Axel, in: von Mangoldt, Hermann/Klein, Friedrich/Starck, Christian (Hrsg.), Grundgesetz, Band 3, 5. Aufl. München 2005, Art. 140 GG/Art. 136 WRV, Rdnr. 6 f.; ders./de Wall, Heinrich, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. München 2006; Heckel, Kontinuität (Fn. 37), S. 341 (353); Maurer, Hartmut, Die Schranken der Religionsfreiheit, ZevKR 49 (2004), 311 (330); Schoch, Friedrich, Die Grundrechtsdogmatik vor den Herausforderungen einer multikonfessionellen Gesellschaft, in: Festschrift für Alexander Hollerbach, Berlin 2001, S. 149 (163 ff.); Stolleis, Michael, Eideszwang und Glaubensfreiheit, JuS 1974, 770 (773 f.). BVerwGE 112, 227 (231) zog Art. 136 Abs. 1 WRV ausdrücklich als Schranke des Art. 4 Abs. 1 GG heran. Diese Entscheidung ist aber – soweit ersichtlich – vereinzelt geblieben. 65 Vgl. Hillgruber, Christian, Staat und Religion (Fn. 34), S. 1155 (1173).

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und Art. 137 Abs. 2 WRV ebenfalls Bezug zur individuellen Religionsfreiheit haben. Vor allem aber war es das Bundesverfassungsgericht selbst, das die Weimarer Kirchenartikel in den Kontext der Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1, 2 GG stellte.67 Die verfassungsrechtliche Verortung des Art. 136 Abs. 1 WRV wird zudem noch durch die Formulierung des Bundesverfassungsgerichts erschwert, wonach Art. 136 Abs. 1 WRV durch Art. 4 Abs. 1, 2 GG überlagert werde, ohne dass die Rechtsfolgen dieser Überlagerung näher erörtert werden.68 2. Art. 137 Abs. 1 WRV Zu den abstrakten staatskirchenrechtlichen Rechtsprinzipien zählt insbesondere der Grundsatz der Neutralität, der vom Bundesverfassungsgericht aus einer Gesamtschau der Regelungen der Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 1 sowie Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 Abs. 1, 4 und Art. 137 Abs. 1 WRV abgeleitet wird.69 Hierdurch verliert das Verbot der Staatskirche in Art. 137 Abs. 1 WRV letztlich weitestgehend an eigenständigem Gewicht. Aus Art. 4 Abs. 1 GG folge der „Grundsatz staatlicher Neutralität gegenüber den unterschiedlichen Religionen und Bekenntnissen“, der „die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse ebenso wie die Ausgrenzung Andersgläubiger“70 untersage. Dabei tritt in den Hintergrund, dass sich das Verbot der Staatskirche nicht allein aus Art. 4 Abs. 1 GG ableiten lässt, da auch ein Staat, der eine Staatskirche kennt, ungeachtet dessen Glaubensfreiheit gewährleisten kann.71 3. Art. 137 Abs. 2 WRV In ähnlicher Weise nahm das Bundesverfassungsgericht der Regelung des Art. 137 Abs. 2 WRV eine eigenständige normative Bedeutung. Der Parlamentarische Rat verzichtete zwar mit Blick auf Art. 137 Abs. 2 WRV darauf, die religiöse Vereinigungsfreiheit ausdrücklich in Art. 4 GG zu nennen. Daraus folgerte das Bundesverfassungsgericht, dass „Art. 4 Abs. 1 und 2 GG sich für die Gewährleistung der religiösen Vereinigungsfreiheit auf 66

Vgl. BVerfGE 33, 23 (30 f.). Vgl. BVerfGE 19, 206 (219); 19, 226 (236); 53, 366 (400); 66, 1 (22); 70, 138 (167). 68 Vgl. Fehlau, Schranken (Fn. 38), S. 441 (446). 69 Ständige Rechtsprechung, vgl. BVerfGE 93, 1 (17). 70 BVerfGE 93, 1 (16 f.). Gegen die Subjektivierung des Neutralitätsprinzips insbesondere Ipsen, Jörn, Glaubensfreiheit als Beeinflussungsfreiheit? – Anmerkung zum „Kruzifix-Beschluß“ des Bundesverfassungsgerichts, in: Festschrift für Martin Kriele, München 1997, S. 301 (319). 71 Vgl. dazu zutreffend Korioth, Staatskirchenrecht (Fn. 9), S. 727 (739 f.) 67

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Art. 140 GG/Art. 137 Abs. 2 WRV bezieht und sie in dessen normativem Gehalt mitumfaßt“72. Mit der Anerkennung eines umfassenden, einheitlichen Grundrechts auf Religionsfreiheit haben solche Unterscheidungen ihre Berechtigung verloren. 4. Art. 137 Abs. 3 WRV Die Gewährleistung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts in Art. 137 Abs. 3 WRV wird häufig – und mit einiger Berechtigung – als lex regia des institutionellen Staatskirchenrechts bezeichnet. Mit dieser hohen Wertschätzung steht die verbreitete Einschätzung, Art. 137 Abs. 3 WRV komme gegenüber Art. 4 Abs. 1, 2 GG nur noch wenig eigenständige Bedeutung zu, in auffälligem Kontrast. Das Meinungsspektrum im Schrifttum reicht dabei von der Einschätzung, Art. 4 GG erfasse Art. 137 Abs. 3 WRV vollständig73 oder doch zumindest weitgehend74 oder „jedenfalls in seinem Kern“75 bis zur Einstufung des Art. 137 Abs. 3 WRV als dienende Freiheit.76 Die Auffassung, Art. 137 Abs. 3 WRV sei rein deklaratorischer Natur, wird vor allem mit der Erwägung begründet, das Grundrecht der ungestörten Religionsausübung sei nur dann vollumfänglich gewährleistet, wenn dieses auch die Befugnis zur Regelung der eigenen Angelegenheiten einschließe.77 Die Religionsfreiheit wird nach dieser Auffassung als „der letzte verfassungsrechtliche Grund des Staatskirchenrechts“78 verstanden. Das Bundesverfassungsgericht nahm zu dieser Frage eine vorsichtigere Haltung ein und deutete Art. 137 Abs. 3 WRV als „eine notwendige, wenn72 BVerfGE 83, 341 (354 f.). Für einen rein deklaratorischen Charakter von Art. 137 Abs. 2 GG Listl, Joseph, Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Rechtsprechung der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1971, S. 317 f.; dagegen Muckel, Religiöse Freiheit (Fn. 12), S. 163 ff.; ders., in: Friauf, Karl Heinrich/Höfling, Wolfram (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Berlin Loseblatt, Art. 4, Rdnr. 40. 73 Vgl. Lücke, Jörg, Zur Dogmatik der kollektiven Glaubensfreiheit, EuGRZ 1995, 651 (653 ff.). 74 Vgl. Müller-Volbehr, Staatskirchenrecht (Fn. 32), S. 385 (400). 75 Hillgruber, Staat und Religion (Fn. 34), S. 1155 (1172). 76 Vgl. Korioth, Staatskirchenrecht (Fn. 9), S. 727 (741). 77 Vgl. dazu Listl, Glaubens-, Gewissens-, Bekenntnis- und Kirchenfreiheit (Fn. 41), S. 363 (402 ff.); ders., Grundrecht (Fn. 72), S. 369 ff.; ders., Die Religionsfreiheit als Individual- und Verbandsgrundrecht in der neueren deutschen Rechtsentwicklung und im Grundgesetz, Essener Gespräche 3 (1969), 34 (72 ff., 87 ff.). Zuvor schon Schlief, Karl-Eugen, Die Entwicklung des Verhältnisses von Staat und Kirche und seine Ausgestaltung im Bonner Grundgesetz, Münster 1961, S. 216 f. Ähnlich Maunz, Theodor, in: Maunz, Theodor/Dürig, Günter, Grundgesetz, Art. 140 (Erstbearbeitung), Rdnr. 1, 2. Aus der Rechtsprechung BVerfGE 53, 366 (401); 57, 220 (244); 66, 1 (20); 72, 278 (289). 78 Isensee, Erwartungen (Fn. 14), S. 104 (112).

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gleich rechtlich selbständige Gewährleistung, die der Freiheit des religiösen Lebens und Wirkens der Kirchen und Religionsgemeinschaften (Art. 4 Abs. 2 GG) die zur Wahrnehmung dieser Aufgaben unerlässliche Freiheit der Bestimmung über Organisation, Normsetzung und Verwaltung hinzufügt“79. Die „für alle geltenden Gesetze“ im Sinne des Art. 137 Abs. 3 GG seien nur solche Gesetze, denen für die Kirche in Anbetracht ihres Selbstverständnisses dieselbe Bedeutung zukomme „wie für den Jedermann“.80 Dieser Auffassung kann jedoch nicht uneingeschränkt gefolgt werden.81 Art. 4 Abs. 1, 2 GG ist sowohl in seiner individualrechtlichen wie kollektivrechtlichen Dimension zunächst als Bekenntnis- und Kultusfreiheit verstanden worden; Vermögensverwaltung oder Normsetzung lassen sich ohne Überdehnung des Verfassungswortlauts kaum als Bekenntnis oder Religionsausübung verstehen.82 Auch steht Art. 137 Abs. 3 WRV mit seiner eigenen Schrankenregelung selbständig neben Art. 4 Abs. 1, 2 GG.83 Vor allem aber unterscheiden sich Art. 4 Abs. 1, 2 GG und Art. 137 Abs. 3 WRV bereits in ihrer Struktur und Zielrichtung. Während Art. 4 Abs. 1, 2 GG in seiner ursprünglichen Ausprägung als Abwehrrecht gegen Staat individuelle und kollektive Freiheitsräume gewährleistet, zieht Art. 137 Abs. 3 GG eine objektivrechtliche Grenze zwischen staatlichen und kirchlichen Rechtsetzungsund Verwaltungskompetenzen.84 Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht lässt sich deswegen nicht in dem herkömmlichen Schema von Schutz79 BVerfGE 72, 278 (289); ebenso BVerfGE 42, 312 (322); 53, 366; 70, 138 (164) in Anlehnung an eine Formulierung von Hesse, Konrad, Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: Friesenhahn, Ernst/ Scheuner, Ulrich (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts, Band 1, 1. Aufl. Berlin 1974, S. 409 (414). Ehlers, Bedeutungswandel (Fn. 5), S. 85 (107), weist darauf hin, dass von einer Notwendigkeit im rechtlichen Sinne nicht gesprochen werden könne, da eine solche der Gewährleistung nichts hinzufügen könne. 80 Vgl. BVerfGE 42, 312 (334). 81 Die Gegenauffassung zu Joseph Listl wird vertreten von Hesse, Selbstbestimmungsrecht (Fn. 79), S. 409 (412 ff.); eine vermittelnde Position vertritt Scheuner, Ulrich, Das System der Beziehungen von Staat und Kirchen im Grundgesetz, in: Friesenhahn, Ernst/Scheuner, Ulrich (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts, Band 1, 1. Aufl. Berlin 1974, S. 5 (52 f., 79 f.). Deutlichen Widerspruch gegen die Thesen von Joseph Listl formulierten bei den Essener Gesprächen 3 (1969) unter anderem Albrecht (S. 135 f.), Schröcker (S. 139 f.), Jurina (S. 142 f., 179 ff.), Niemeyer (S. 154 f.) und Astrath (S. 173). 82 Vgl. insbesondere Hesse, Selbstbestimmungsrecht (Fn. 79), S. 409 (413 f.); ders., Schematische Parität der Religionsgesellschaften nach dem Bonner Grundgesetz, ZevKR 3 (1953/54), 188 (196 f.). 83 Vgl. Jurina, Josef, Der Rechtsstatus der Kirchen und Religionsgemeinschaften im Bereich ihrer eigenen Angelegenheiten, Berlin 1972, S. 51 ff.; Wieland, Angelegenheiten (Fn. 47), S. 321 (327). 84 Vgl. Wieland, Angelegenheiten (Fn. 47), S. 321 (327).

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bereich, Eingriff und verfassungsrechtlicher Rechtfertigung erfassen. Vielmehr zieht Art. 137 Abs. 3 WRV eine Trennungslinie zwischen staatlicher und kirchlicher Regelungsprärogative.85 Art. 137 Abs. 3 WRV sollte daher als ordre public-Klausel verstanden werden, die den Staat in Einzelfällen dazu berechtigt, sich für seinen Bereich aufgrund seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtungen über das kirchliche Selbstverständnis hinwegzusetzen.86 Ausgehend von einem solchen objektivrechtlichen Verfassungsverständnis muss eine subjektivierende Einfärbung der Schrankenregelung des Art. 137 Abs. 3 WRV durch die Bezugnahme auf das kirchliche Selbstverständnis notwendigerweise Spannungen nach sich ziehen. Die Frage, wer die Grenzziehung zwischen dem staatlichen und dem kirchlichen Kompetenzbereich verbindlich zu treffen vermag, ist von Art. 137 Abs. 3 WRV zugunsten des staatlichen Gesetzgebers entschieden worden, soweit Rechtsfolgen im staatlichen Rechtskreis in Frage stehen.87 Der staatliche Gesetzgeber ist bei der Wahrnehmung dieser Kompetenz nicht frei, sondern insbesondere an die von Art. 140 GG inkorporierten Weimarer Kirchenartikel gebunden. Zudem darf dabei nicht die „staatsperspektivische Verkürzung der Wirklichkeit“ übersehen werden, die von Verfassungs wegen der staatlichen Seite aufgegeben ist: „Die staatszugewandte Seite der Religion ist zuvörderst ihre grundrechtliche Freiheit“.88 5. Art. 137 Abs. 5 WRV Der Prozess der Subjektivierung und Vergrundrechtlichung des institutionellen Staatskirchenrechts ist auch bei Art. 137 Abs. 5 WRV weit fortgeschritten. Das Bundesverfassungsgericht verwies in seiner Entscheidung zu den Zeugen Jehovas auf die „Religionsfreiheit, aus der Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 WRV als Verstärkung der Entfaltung grundrechtlicher Freiheit letztlich seine Rechtfertigung bezieht“89. 85 Vgl. Korioth, Staatskirchenrecht (Fn. 9), S. 727 (740 ff.). Art. 137 Abs. 3 WRV kann damit in einem untechnischen Sinne als Kollisionsnorm zwischen dem staatlichen und dem kirchlichen Recht verstanden werden, vgl. Janssen, Albert, Staatskirchenrecht als Kollisionsrecht, in: Festschrift für Alexander Hollerbach, Berlin 2001, S. 707 (713). 86 Hollerbach, Alexander, Das Staatskirchenrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (II), AöR 106 (1981), 218 (239), verweist in diesem Zusammenhang auf Fragen wie Kirchenaustritt und Ehescheidung; siehe auch ders., Verträge zwischen Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main 1965, S. 120 ff.; Hesse, Selbstbestimmungsrecht (Fn. 79), S. 409 (434 ff.). 87 Vgl. Wieland, Angelegenheiten (Fn. 47), S. 321 (332). 88 Isensee, Erwartungen (Fn. 14), S. 104 (114).

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Diese Aussage des Bundesverfassungsgerichts ist sehr weitreichend. Zwar liegt Art. 137 Abs. 5 WRV ein spezifisch staatskirchenrechtlicher Körperschaftsbegriff zugrunde, der nicht mit dem staatsorganisationsrechtlichen Körperschaftsstatus gleichgesetzt werden darf.90 Ebenso wirkt Art. 137 Abs. 5 WRV „als institutionelle Hilfe für die Religionsausübung der Individuen“91. Dies nötigt aber nicht zu einer grundrechtlichen Deutung des Körperschaftsstatus,92 zumal die Religionsgemeinschaften hierauf zur Sicherung ihrer Eigenständigkeit und Unabhängigkeit nicht angewiesen sind.93 Auch trägt die Regelung des Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 5 WRV als vollwertiges Verfassungsrecht seine Rechtfertigung in sich und braucht diese nicht von einer anderen Verfassungsnorm abzuleiten.94 Der Körperschaftsstatus rückt vielmehr die Religionsgemeinschaften in ein Näheverhältnis zum Staat, so dass von einem spezifisch staatskirchenrechtlichen „Überhang an institutionellen Absicherungen“ gesprochen werden kann, „die dem Grundrecht indirekt dienen, ohne Bestandteil seines Schutzbereichs zu sein“95. Der Status als öffentlich-rechtliche Körperschaft vermittelt ein Bündel von Rechten und Pflichten, die sich nicht als ein Plus, sondern eher als ein Aliud gegenüber dem Status rein privatrechtlich verfasster Religionsgemeinschaften darstellen. Daher ist es unzutreffend, den Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts einseitig nur als Privilegierung zu begreifen. Aus diesem Grund entspricht die vom Bundesverwaltungsgericht geforderte Loyalität gegenüber den Institutionen des Staates96 weitaus mehr dem Regelungszweck des Art. 137 Abs. 5 WRV als die vom Bundesverfassungsgericht verlangte Übereinstimmung mit den in Art. 79 Abs. 3 GG genann89 BVerfGE 102, 370 (390); zustimmend Morlok, Martin/Heinig, Michael, Parität im Leistungsstaat – Körperschaftsstatus nur bei Staatsloyalität?, NVwZ 1999, 697; Korioth, Loyalität (Fn. 22), S. 221 ff. 90 Vgl. Korioth, Staatskirchenrecht (Fn. 9), S. 727 (742). 91 Vgl. Isensee, Erwartungen (Fn. 14), S. 104 (112). 92 Vgl. hierzu Tillmanns, Reiner, Zur Verleihung des Körperschaftsstatus an Religionsgemeinschaften, DÖV 1999, 441 (447); Thüsing, Gregor, Kirchenautonomie und Staatsloyalität, DÖV 1998, S. 25; Muckel, Religionsgemeinschaften (Fn. 22), S. 559 (590); Link, Christoph, Zeugen Jehovas und Körperschaftsstatus, ZevKR 43 (1998), S. 1 (12 f.). 93 Vgl. BVerwG 105, 117 (127); siehe hierzu aus dem Schrifttum Korioth, Staatskirchenrecht (Fn. 9), S. 727 (743), gegen BVerfGE 102, 370 (387); siehe auch BVerfGE 30, 415 (428). 94 Vgl. Tillmanns, Kirchensteuer (Fn. 9), S. 919 (943). 95 Vgl. Isensee, Erwartungen (Fn. 14), S. 104 (113). 96 Vgl. BVerwG 105, 117; zustimmend Hollerbach, Anmerkung (Fn. 24), S. 1117; Thüsing, Kirchenautonomie (Fn. 92), S. 25; Muckel, Religionsgemeinschaften (Fn. 22), S. 569.

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ten Verfassungsgrundsätzen, die in einem Spannungsverhältnis mit der vom Bundesverfassungsgericht grundrechtlich fundierten Auslegung des Art. 137 Abs. 5 WRV stehen.97 Mit der Vergrundrechtlichung des Körperschaftsstatus durch das Bundesverfassungsgericht verblieb jedoch kein Raum mehr für das noch vom Bundesverwaltungsgericht favorisierte Verständnis, bei dem das Näheverhältnis der Körperschaft zum Staat mit einer entsprechenden Loyalitätsverpflichtung korrespondierte.98 In diesem Zusammenhang sei an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Hamburgischen Kirchensteuer erinnert. Seinerzeit stellte das Bundesverfassungsgericht eine Verbindung zwischen Art. 137 Abs. 3 WRV und Art. 137 Abs. 5 WRV her. Der besonders qualifizierte Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts sei gerade aufgrund seines Zusammenhangs mit dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht gerechtfertigt.99 Die Lösung konnte damals im Ordnungsrahmen des institutionellen Staatskirchenrechts gefunden werden, ohne dass es eines Rückgriffs auf das Grundrecht der Religionsfreiheit bedurft hätte. 6. Art. 137 Abs. 6 WRV Nach den Vorstellungen des Weimarer Verfassungsgebers sollte die Regelung des Art. 137 Abs. 6 WRV der Verwirklichung des Trennungsgrundsatzes des Art. 137 Abs. 1 WRV dienen. Die Kirchen, die zuvor in erheblichem Umfang vom Staat unterhalten worden waren, sollten nach einer weitgehenden Trennung von Staat und Kirche in die Lage versetzt werden, ihren Finanzbedarf bei den eigenen Kirchenangehörigen zu decken.100 Das Bundesverfassungsgericht nahm aber diesen Faden nicht auf und knüpfte auch nicht an seine Rechtsprechung zu Art. 137 Abs. 5 WRV an, sondern sah in Art. 137 Abs. 6 WRV einen Beitrag zur Verwirklichung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts.101 V. Das institutionelle Staatskirchenrecht als Auslegungshilfe für die Grundrechtsgewährleistung des Art. 4 GG Die Anerkennung der Eigenständigkeit des institutionellen Staatskirchenrechts lässt die Frage nach dem Verhältnis dieser Verfassungsnormen zur 97

Zutreffend Korioth, Staatskirchenrecht (Fn. 9), S. 727 (744 f.). Vgl. Tillmanns, Kirchensteuer (Fn. 9), S. 919 (920). 99 Vgl. BVerfGE 19, 267; siehe auch Hollerbach, Staatskirchenrecht (Fn. 36), S. 99 (120). 100 Vgl. hierzu eingehend Tillmanns, Kirchensteuer (Fn. 9), S. 919 (927); Pirson, Dietrich, Die zeitlose Qualität der Weimarer Kirchenartikel, in: Festschrift für Hartmut Maurer, München 2001, S. 409 (418). 101 Vgl. BVerfG, NVwZ 2002, 1496. 98

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Grundrechtsgewährleistung des Art. 4 Abs. 1, 2 GG noch unbeantwortet. Dabei gibt es nicht nur eine Ausstrahlung des Art. 4 Abs. 1, 2 GG auf das institutionelle Staatskirchenrecht; umgekehrt ist auch Art. 4 Abs. 1, 2 GG offen für Wertungen, die Art. 140 GG in Verbindung mit den Weimarer Kirchenartikeln entnommen werden können. Art. 4 Abs. 1, 2 GG und Art. 140 GG bilden zusammen ein Sinnganzes102 und sind deshalb aufeinander abgestimmt auszulegen.103 Art. 140 GG führt dabei zwei Entwicklungslinien zusammen.104 Auf der einen Seite unterstreicht Art. 137 Abs. 1 WRV die Trennung von Staat und Kirche und betont Art. 137 Abs. 3 GG das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften in deutlicher Abgrenzung vom Staat. Auf der anderen Seite verschränken andere von Art. 140 GG inkorporierte Weimarer Kirchenartikel in vielfältiger Weise die Sphären von Staat und Kirche, namentlich Art. 137 Abs. 5, 6 WRV mit der Anerkennung bzw. Verleihung des Status einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft und dem damit verknüpften Besteuerungsrecht105 sowie die vermögensrechtlich bedeutsamen Gewährleistungen der Staatsleistungen in Art. 138 Abs. 1 WRV und der des Kirchenguts in Art. 138 Abs. 2 WRV.106 Mit diesem schon in der Verfassung angelegten Auftrag, beide Entwicklungslinien des institutionellen Staatskirchenrechts miteinander in Ausgleich zu bringen, ist eine Auslegung des Art. 4 Abs. 1, 2 GG unvereinbar, die im Verhältnis von positiver und negativer Religionsfreiheit einem Aspekt einseitig einen grundsätzlichen Vorrang vor seinem Gegenstück einräumte. Auch folgt hieraus, dass das institutionelle Staatskirchenrecht der inkorporierten Weimarer Kirchenartikel nicht unter einen umfassenden grundrechtlichen Interpretationsvorbehalt gestellt werden darf. VI. Das Vertragsstaatskirchenrecht als Brücke zwischen grundrechtlicher Gewährleistung und institutioneller Verbürgung Das Vertragsstaatskirchenrecht schafft eine Verknüpfung zwischen der grundrechtlich gewährleisteten kollektiven Religionsfreiheit und dem institutionellen Staatskirchenrecht. Das Grundgesetz verbindet die Eigenständigkeit und das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften mit der 102

Vgl. BVerfGE 53, 366 (400 f.). Vgl. Ehlers, Bedeutungswandel (Fn. 5), S. 85 (88). 104 Vgl. zur geschichtlichen Entwicklung Korioth, Staatskirchenrecht (Fn. 9), S. 727 (733 ff.). 105 Vgl. Tillmanns, Kirchensteuer (Fn. 9), S. 919. 106 Es ist offen, inwieweit sich der Verfassungsgeber der Weimarer Verfassung dieses Spannungsverhältnisses bewusst war, vgl. Giese, Friedrich, Das kirchenpolitische System der Weimarer Verfassung, AöR n. F. 7 (1924), 1 (30). 103

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Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit dem Staat. Dabei überschneiden sich die Betätigungsfelder von Staat und Kirche; der Staat kann insoweit für sich kein exklusives, sondern nur ein konkurrierendes und oftmals sogar nur subsidiäres Betätigungs- und Erklärungsrecht in Anspruch nehmen.107 Die Kooperation zwischen Staat und Kirche findet somit ihre Rechtfertigung in dem Trennungsgebot des Art. 137 Abs. 1 WRV und der damit dem Staat auferlegten Neutralität in religiös-weltanschaulichen Fragen. Ein säkularer Staat ist aufgrund seiner Kompetenzbeschränkung in religiösen Fragen auf Kooperation mit den Religionsgemeinschaften in den gemeinsamen Angelegenheiten angewiesen, soweit deren Belange in die staatliche Entscheidungsfindung einzubeziehen sind.108 Im Verhältnis von Staat und Kirche haben sich Verträge als adäquates Instrument der Kooperation etabliert. Eine erste Phase nach dem Ersten Weltkrieg war von den Konkordaten mit Bayern, Baden und Preußen geprägt und fand im Reichskonkordat von 1933 seinen Abschluss. Die Verträge waren als „grundsätzliche Klärung ersten Ranges“109 gesehen worden, die den „Formelkompromiss“110 der Weimarer Reichsverfassung ausfüllten und zugleich einen dreistufigen Aufbau des Staatskirchenrechts begründeten.111 Nach dem Zweiten Weltkrieg gaben vor allem Kirchenverträge mit den evangelischen Landeskirchen wesentliche Impulse; die katholische Kirche nahm dagegen aufgrund der ungeklärten Rechtslage bis zum Konkordatsurteil112 des Bundesverfassungsgerichts eine abwartende Haltung ein. Die dritte, vorläufig letzte und vielleicht beeindruckendste Phase stellen die Staatskirchenverträge mit den neuen Ländern im Gefolge der Wiedervereinigung dar.113 Auch hier nahmen die evangelischen Landeskirchen 107 Vgl. Freiherr von Campenhausen, Stand des Staatskirchenrechts (Fn. 11), S. 65 (67), mit Hinweis auf eine Aussage in der Präambel des Kirchenvertrages von Mecklenburg-Vorpommern, wonach die Trennung von Staat und Kirche zugleich der Distanz und der Kooperation bedürfe. 108 Vgl. Heckel, Kontinuität (Fn. 37), S. 340 (379). 109 Heckel, Kirchengut und Staatsgewalt (Fn. 3), S. 103 (108). 110 Schmitt, Carl, Verfassungslehre, München 1928 (Nachdruck Berlin 1970), S. 32. 111 Vgl. hierzu Heckel, Kirchengut und Staatsgewalt (Fn. 3), S. 103 (108): „Dieses ‚Vertragskirchenrecht‘ hob die Kirchen aus der Reihe der übrigen religiösen Körperschaften des öffentlichen Rechts als ‚vertragsgesicherte autonome Trennungskirchen‘ heraus, erkannte sie in der Art des Vertragsschlusses (Alternat!) wie in den einzelnen Vertragsbestimmungen (politische Klausel!) als Partner von Verfassungsrang an und gab damit dem deutschen Staatskirchenrecht diejenige Gestalt, welche der Verschiedenheit des religiösen und sozialen Einflusses der Religionsgemeinschaften auf das Volk gerecht wird.“ (Hervorhebungen im Original). 112 Vgl. BVerfGE 6, 309. 113 Vgl. die Nachweise bei Weber, Hermann, Neue Staatskirchenverträge mit der Katholischen Kirche in den neuen Bundesländern, in: Festschrift für Martin Heckel,

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eine Vorreiterrolle ein, da die neuen Länder für die katholische Kirche ausgesprochene Diasporagebiete darstellten und der vordringlichste Regelungsbedarf auf dem Gebiet der Diözesanzirkumskription bereits mit den Bistumserrichtungsverträgen gedeckt werden konnte.114 Die neuen Staatskirchenverträge stehen in der Kontinuität der bestehenden Vertragswerke; die Abweichungen sind eher von gradueller Natur und spiegeln vor allem die grundlegenden Unterschiede in der konfessionellen Struktur der neuen Länder wider. Diese Entwicklung kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Vertragsstaatskirchenrecht keineswegs unangefochten ist.115 Besondere Gefahren gehen dabei von einer schleichenden Erosion des Vertragsstaatskirchenrechts aus. Die sehr weitgehenden Aussagen des Bundesverfassungsgerichts zum Verhältnis von positiver und negativer Religionsfreiheit im Kruzifix-Beschluss stellen zusammen mit einer schärferen Akzentuierung des staatskirchenrechtlichen Neutralitätsgrundsatzes langfristig das Vertragsstaatskirchenrecht in Frage.116 Auch äußerte das Bundesverfassungsgericht unter Bezugnahme auf den Paritätsgrundsatz Bedenken gegen das Vertragsstaatskirchenrecht, da sich die Rechtsposition der Kirche allein schon durch den Abschluss eines Vertrages verbessert habe, dies aber Ungleichbehandlungen gegenüber anderen Religionsgemeinschaften nicht rechtfertigen könne. Zudem sah es das Bundesverfassungsgericht „völlig in das Belieben“ des Staates gestellt, ob und mit wem er Verträge abschließen wolle.117 Daraus ist eine reservierte HalTübingen 1999, S. 463 (464, Fn. 6, 7), für die Verträge mit dem Apostolischen Stuhl; ders., Der Thüringer Evangelische Kirchenvertrag, in: Festschrift für Martin Kriele, München 1997, S. 1009 (1010, Fn. 7, 8), für die Verträge mit den evangelischen Landeskirchen; siehe hierzu auch Johnsen, Hartmut, Die evangelischen Staatskirchenverträge in den neuen Bundesländern, ihr Zustandekommen und ihre praktische Anwendung, ZevKR 43 (1998), 182. Die Entwicklung ist noch nicht an ihr Ende gekommen. Im Oktober 2006 sind die Ratifikationsurkunden zum Staatsvertrag zwischen dem Apostolischen Stuhl und der Freien und Hansestadt Hamburg ausgetauscht worden, auch gibt es konkrete Überlegungen für einen Staatsvertrag zwischen dem Apostolischen Stuhl und dem Land Schleswig-Holstein. 114 Vgl. die Nachweise bei Weber, Staatskirchenverträge (Fn. 113), S. 463 (464, Fn. 5), für die Verträge mit dem Apostolischen Stuhl; siehe auch Listl, Joseph, in: Carlen, Louis/Cavelti, Urs Josef (Hrsg.), Neue Bistümer – Neue Bistumsgrenzen, Freiburg i. Ue. 1992, S. 13 ff. 115 Zur Kritik aus dem Schrifttum vgl. Renck, Ludwig, Bemerkungen zu den sog. Staatskirchenverträgen, LKV 1995, 31; ders., Bemerkungen zum Konkordat des Landes Brandenburg mit dem Hl. Stuhl, LKV 2004, 250; dagegen Freiherr von Campenhausen, Axel, Vier neue Staatskirchenverträge in vier neuen Ländern, NVwZ 1995, 757 (761). 116 Vgl. Müller-Volbehr, Staatskirchenrecht (Fn. 32), S. 385 (401 f.). 117 Vgl. BVerfGE 19, 1 (12).

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tung des Bundesverfassungsgerichts gegenüber koordinativer Rechtsgestaltung gefolgert worden.118 Ferner könnte dem Vertragsstaatskirchenrecht entgegengehalten werden, dass es ein Verhandlungsergebnis, das in einer konkreten geschichtlichen Lage erzielt worden ist, perpetuiert. Dies scheint in einem Spannungsverhältnis zum Paritätsgrundsatz zu stehen. Das Bundesverfassungsgericht unterstrich, dass eine Rechtfertigung unterschiedlicher Regelungen nicht allein aus der Geschichte hergeleitet werden könne.119 Auch wolle der Paritätsgrundsatz nicht eine konkrete Situation festschreiben, sondern umgestalten, soweit sich das Hergekommene nicht mehr sachlich rechtfertigen ließe.120 Gleichwohl haben die Instrumente des Vertragsstaatskirchenrechts nichts an Aktualität eingebüßt. Die vertraglichen Regelungen transponieren die objektivrechtlichen Bestimmungen des institutionellen Staatskirchenrechts in subjektive Rechtspositionen der Vertragsparteien121 und schließen damit die eingangs beschriebene Rechtsschutzlücke. Zugleich verstetigen die vertraglichen Regelungen die verfassungsrechtlichen Regelungen. Zwar kann sich schon der einfache Gesetzgeber über konkordatäre und kirchenvertragliche Regelungen hinwegsetzen, doch richtet die vertragliche Bindung zusätzliche politische Schranken auf. Auch ist Verstetigung nicht gleichbedeutend mit Versteinerung. Gerade die grundlegende Umgestaltung des hergekommenen, konfessionell geprägten Schulwesens stellt die besondere Anpassungsfähigkeit des Vertragsstaatskirchenrechts eindrucksvoll unter Beweis.122 Die vertragliche Absicherung kirchlicher Rechtspositionen darf aber nicht in falscher Sicherheit wiegen. Jede verfassungsrechtliche Regelung, in besonderer Weise aber das Staatskirchenrecht, ist auf Akzeptanz seitens der Rechtsunterworfenen angewiesen123 und bedarf einer ständigen Legitimation.124 Eine Rechtfertigung aus der Geschichte allein ist auf Dauer nicht 118

Vgl. Hollerbach, Staatskirchenrecht (Fn. 36), S. 99 (122 f.). Vgl. BVerfGE 19, 11. 120 Vgl. BVerfGE 15, 337 (345); siehe auch Hollerbach, Staatskirchenrecht (Fn. 36), S. 99 (112). 121 Ein anschauliches Beispiel hierfür gibt OVG Greifswald, NVwZ 2000, 948, zu Fragen des Sonn- und Feiertagsschutzes. Anders als die objektivrechtliche Verfassungsbestimmung des Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 139 WRV vermitteln die vertragsstaatskirchenrechtlichen Regelungen subjektive Rechte. Siehe hierzu auch de Wall, Heinrich, Zum subjektiven Recht der Kirchen auf den Sonntagsschutz, NVwZ 2000, 857; Stollmann, Frank, Zum subjektivrechtlichen Gehalt des Art. 140 GG, 139 WRV, VerwArch 96 (2005), 348. 122 Vgl. von Campenhausen, Stand des Staatskirchenrechts (Fn. 11), S. 65. 123 Vgl. Müller-Volbehr, Jörg, Staatskirchenrecht im Umbruch, ZRP 1991, 345 (346); Kästner, Hypertrophie (Fn. 12), S. 974 (975). 119

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tragfähig.125 Die Kernfrage lautet daher, ob der durch das institutionelle Staatskirchenrecht gewährte Sonderstatus der Kirchen nach wie vor als Garant ihrer besonderen Leistungsfähigkeit in Bezug auf das Gemeinwohl angesehen werden kann.126 Diese Legitimationsfrage, die sich primär an die Kirchen, nicht an den Staat richtet,127 mag in den kommenden Jahren die staatskirchenrechtliche Diskussion stärker prägen als alle genuin verfassungsrechtlichen Fragen.

124 Vgl. hierzu eingehend Isensee, Josef, Die Zukunftsfähigkeit des deutschen Staatskirchenrechts, in: Festschrift für Joseph Listl, Berlin 1999, S. 67. 125 Vgl. Isensee, Erwartungen (Fn. 14), S. 104 (117). 126 Vgl. Isensee, Erwartungen (Fn. 14), S. 104 (123). 127 Vgl. Müller-Volbehr, Staatskirchenrecht (Fn. 32), S. 385 (387).

Aktuelle Herausforderungen im Verhältnis zwischen Staat und Kirche unter besonderer Berücksichtigung der staatlichen Neutralitätspflicht* Von Hans-Jürgen Papier I. Einleitung Ein jeder kennt die Garten-Szene in Goethes Faust, in der Margarete die berühmte Gretchenfrage stellt: „Nun sag, wie hast Du’s mit der Religion?“ Während Faust mit der Antwort in Nöte gerät, weil der Kern der Frage auf seine Machenschaften mit Mephisto abzielt, stellt sie sich für die religiöse Landschaft im Europa des 21. Jahrhunderts in einer abgewandelten Version. Zwar versteht sich etwa die deutsche Gesellschaftsordnung als offen und tolerant gegenüber Andersgläubigen, und nicht zuletzt angesichts der zunehmenden religiösen Diversifizierung sollte die Frage, an welcher Religion oder Weltanschauung der Einzelne sein Denken und Handeln ausrichtet, keine Gemüter mehr erregen können. Andererseits hat noch vor nicht allzu langer Zeit das Verlangen einer muslimischen Lehrerin, im Schulunterricht ein Kopftuch tragen zu dürfen, eine öffentliche Debatte ausgelöst, die mit einem kaum zu überbietenden Maß an Emotionalität geführt wurde. Der neuralgische Punkt war dabei weniger das Beharren auf dem Tragen eines Kleidungsstückes, das seine Trägerin als eine Angehörige des islamischen Glaubens ausweist, sondern vielmehr die Tatsache, dass der Schauplatz der Auseinandersetzung – nämlich die Schule – unter staatlicher Aufsicht steht. Die aktuellen Herausforderungen im Verhältnis zwischen Staat und Kirche betreffen daher insbesondere die Frage nach der staatlichen Neutralität gegenüber Religion und Weltanschauung. Die moderne Gretchenfrage könnte etwa lauten: Wie hält es der Staat mit der Religion? Darf er es überhaupt mit ihr halten oder fordert eine multi-religiöse Gesellschaft womöglich seine gänzliche Abstinenz in Glaubensangelegenheiten? Kann der Staat Konflikte lösen, die durch das Aufeinandertreffen der ver* Meiner wissenschaftlichen Mitarbeiterin beim BVerfG, Frau Richterin Dr. Christina Rüth, danke ich für ihre wertvolle Hilfe bei der Ausarbeitung des Manuskripts.

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schiedensten Glaubensüberzeugungen entstehen, indem er alles Religiöse aus dem öffentlichen Raum verbannt, oder muss er vielmehr durch eine aktiv verstandene Neutralität die Rahmenbedingungen für einen offenen Dialog zwischen den Religionen schaffen? Die staatliche Neutralitätspflicht in Glaubensfragen war dementsprechend auch der verfassungsrechtliche Dreh- und Angelpunkt einiger Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die in den letzten Jahren für Aufsehen gesorgt haben und zum Teil auch auf nicht unerhebliche Kritik gestoßen sind. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang insbesondere der KruzifixBeschluss und das Kopftuch-Urteil. Auf beide Entscheidungen soll im Folgenden noch eingegangen werden. Zunächst seien aber einige grundsätzliche Ausführungen zum Verhältnis von Staat und Kirche unter dem deutschen Grundgesetz erlaubt. II. Trennung von Staat und Kirche Die Gesamtheit derjenigen Rechtssätze, die das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften oder ihren Mitgliedern regeln, wird gemeinhin mit dem Begriff des Staatskirchenrechts beschrieben. Der Terminus ist allerdings in zweierlei Hinsicht missverständlich, zum einen, weil er nicht nur die Kirchen im traditionellen Sinn, sondern alle Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften1 erfasst, zum anderen, weil in der durch Art. 140 GG in das Grundgesetz inkorporierten Vorschrift des Art. 137 Abs. 1 WRV gerade das Verbot einer Staatskirche statuiert wird. Gleichwohl soll im Folgenden der Begriff des Staatskirchenrechts verwendet werden, da sich andere Termini in der juristischen Fachsprache nicht haben durchsetzen können.2 Mit dem Verbot der Staatskirche ist zugleich eine der tragenden Säulen der kirchenrechtlichen Ordnung angesprochen, nämlich der Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche, der als objektiv-rechtlicher Gehalt der Glaubensfreiheit angesehen werden kann und neben der individuellen Glaubens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4 GG) und der Garantie kirchlicher Selbstverwaltung (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV) einen der 1 Der veraltete Sprachgebrauch in den durch Art. 140 GG in das Grundgesetz inkorporierten Vorschriften der Weimarer Reichsverfassung spricht insoweit von Religionsgesellschaften und weltanschaulichen Vereinigungen. Im neuen Sprachgebrauch ist dagegen – entsprechend der Formulierung des Verfassungsgesetzgebers in Art. 7 Abs. 3 Satz 2 GG – von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften die Rede. 2 Dies gilt insbesondere für den Begriff des Religionsverfassungsrechts, der impliziert, dass das Verhältnis von Staat und Kirche ausschließlich durch Normen der Verfassung ausgestaltet wird. Dass dies nicht der Fall ist, zeigt aber bereits der Blick auf die (einfachen) Zustimmungsgesetze zu den Kirchenstaatsverträgen.

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Eckpfeiler der deutschen Religionsverfassung darstellt. Die Vorschrift des Art. 137 Abs. 1 WRV enthält ein Verbot aller staatskirchenrechtlichen Rechtsformen3 und gebietet eine prinzipielle Trennung von Staat und Kirche in organisatorischer und inhaltlicher Hinsicht.4 Historisch betrachtet war die Trennung von Staat und Kirche der Endpunkt der Säkularisierung, die nach den verheerenden Glaubenskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts in ganz Europa als Medium der Herstellung einer umfassenden Friedensordnung diente.5 Nur eine staatliche Gewalt, die ihren Geltungsanspruch nicht mehr auf der Grundlage eines religiösen Wahrheitsanspruchs definierte, konnte Rahmenbedingungen für ein friedliches Zusammenleben der verfeindeten religiösen Lager schaffen. Die vormals staatlicherseits gegebene Antwort auf die Frage, welche Religion die „Richtige“ oder die „Wahre“ ist, wurde nun der privaten Entscheidung des einzelnen Bürgers überantwortet. Oder, wie es schon 1562 der Kanzler des Königs von Frankreich, Michel de L’Hôpital6, am Vorabend der Hugenottenkriege aussprach: Nicht darauf komme es an, welches die wahre Religion sei, sondern wie man beisammen leben könne. Mit der französischen Revolution wurde dann erstmals eine radikale Trennung von Staat und Kirche vollzogen, und die mit dem Reichsdeputationshauptschluss im Jahr 1803 eingeleitete große Säkularisierung läutete das Ende der Reichskirche ein.7 Die Verwirklichung der Idee vom säkularen Staat als Friedensgarant verlangte beiden Seiten Opfer ab: Der Staat musste seine religiöse Rechtfertigung aufgeben und sich darauf beschränken, wie Depenheuer es in Anlehnung an Immanuel Kant formuliert hat, die irdischen Angelegenheiten zu regeln, um Platz für den Glauben seiner Bürger zu lassen.8 Die Religionsparteien mussten ebenfalls Verzicht üben, weil sie ihren Wahrheitsanspruch nicht mehr mit Hilfe staatlicher Gewalt durchzusetzen vermochten. III. Folgen der Säkularisierung für das Verhältnis von Staat und Kirche in Deutschland Die Säkularisierung hat in den Staaten Europas zu höchst unterschiedlichen staatskirchenrechtlichen Modellen geführt, angefangen von laizistisch 3

Vgl. BVerfGE 19, 206 (216); 24, 236 (246); 33, 23 (28); 93, 1 (17). So Ehlers, in: Sachs, GG, 3. Aufl. 2003, Art. 137 WRV, RN 2. 5 Vgl. Pirson, in: HdBdStKR, Bd. I, 2. Aufl. 1994, S. 1 ff. 6 Zit. bei Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Kirche und christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit, S. 214 f. 7 Vgl. den historischen Abriss bei Berkmann, Das Verhältnis Kirche-Europäische Union, S. 20 f. 8 Depenheuer, Zwischen Neutralität und Selbstbehauptung, in: Die politische Meinung 2004, Nr. 415, S. 28. 4

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geprägten Ordnungen in Staaten wie Frankreich oder der Türkei bis hin zu den Staatskirchen in England, Schottland und Teilen Skandinaviens. Unter der staatskirchenrechtlichen Ordnung des Grundgesetzes wird den Religionsgemeinschaften durch Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV die freie Ordnung und Verwaltung der eigenen Angelegenheiten garantiert, durch die der Freiheit des religiösen Lebens und Wirkens der Kirche die zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben unerlässliche Freiheit der Bestimmung über Organisation, Normsetzung und Verwaltung hinzugefügt wird.9 Insoweit wird den Kirchen und Religionsgemeinschaften ein Freiheitsraum zur Aufrichtung einer spezifischen sozialen Ordnung gewährt.10 Der Staat erkennt die Kirchen als ihrem Wesen nach unabhängige Institutionen an, die ihre Gewalt nicht vom Staat herleiten und in deren innere Verhältnisse er nicht eingreifen darf.11 In Folge dessen verleiht die Kirche ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 Satz 2 WRV). Umgekehrt fordert die Trennung von Staat und Kirche die Unabhängigkeit der öffentlichen Ämter und der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte vom Bekenntnis (Art. 33 Abs. 3 GG, Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 1 und 2 WRV). Die gebotene Trennung von Staat und Kirche bewirkt aber keinen gänzlichen Ausschluss der Religion aus dem Gemeinwesen, was schon die Inkorporation der Kirchenartikel der Weimarer Reichsverfassung in das Grundgesetz zeigt, die in wichtigen Bereichen Kooperationen zwischen dem deutschen Staat und den Religionsgemeinschaften vorsehen, wenn sie diesen etwa das Angebot unterbreiten, sich als Körperschaften des öffentlichen Rechts zu organisieren, oder ihnen unter bestimmten Voraussetzungen ermöglichen, Kirchensteuern zu erheben (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 und 6 WRV).12 Als weiteres Beispiel sei die in Art. 7 Abs. 3 GG beinhaltete Garantie eines konfessionell gebundenen Religionsunterrichts in öffentlichen Schulen genannt. Zwar fehlt es, wie es scheint, an einer treffenden Bezeichnung für dieses Modell einer staatskirchenrechtlichen Ordnung, also an einem terminologischen Mittelweg zwischen Laizismus und Staatskirche. Von einer hinkenden Trennung13 von Staat und Kirche ist hier bisweilen die Rede, wobei der Begriff „hinkend“ jedenfalls insoweit nicht ganz glücklich gewählt scheint, als er die Unvollständigkeit eines Systems impliziert, für das sich der Par9

Vgl. BVerfGE 42, 312 (332); 53, 366 (401). Kazele, Ausgewählte Fragen des Staatskirchenrechts, in: VerwArch 2005, S. 267 (270). 11 BVerfGE 18, 386. 12 Vgl. BVerfGE 66, 1 (22); 70, 138 (167). 13 So Ehlers (Fn. 4), Art. 140, RN 7. 10

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lamentarische Rat ganz bewusst durch die Einbeziehung der institutionellen Vorschriften der Weimarer Reichsverfassung in das Grundgesetz entschieden hat. Entscheidender als die Begrifflichkeit sind aber die Inhalte dieses Systems. Angesichts der Debatte um Kopftücher, Islamunterricht und ähnliche Themen könnte man geneigt sein zu behaupten, dass ein stärker laizistisch geprägtes Verständnis der Trennung von Staat und Kirche es dem Staat erleichtern würde, die ihm zugewiesenen Aufgaben – insbesondere im Bereich des öffentlichen Schulwesens – zu erfüllen. Dies wirft die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Verschränkungen von Gemeinwesen und Religion auf. Die Antwort indes liegt mit Blick auf die europäische Religionsgeschichte offen zutage: Der deutsche Säkularstaat hat ein berechtigtes Interesse an der religiösen Vitalität seines Volkes, da anderenfalls die Gefahr besteht, dass Letztbegründungsansprüche an ihn herangetragen werden und damit gleichsam auch die Gefahr totalitärer Strömungen verstärkt wird.14 Diese Vitalität soll nach der Konzeption des Grundgesetzes sichergestellt werden, indem die Religionsgemeinschaften im Gemeinwesen wirken, sich rechtfertigen, sich entfalten können.15 Hierzu gehört auch, dass der Staat ihnen bei der Wahrnehmung ihrer gesellschaftlichen Aufgaben eine Förderung zuteil werden lässt. IV. Die staatliche Neutralitätspflicht Allerdings kann ein Staat, in dem Anhänger unterschiedlicher oder gar gegensätzlicher religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen zusammenleben, deren friedliche Koexistenz nur gewährleisten, wenn er selbst in Glaubensfragen Neutralität bewahrt. Das Gebot einer – in einem mehr institutionellen Sinne verstandenen – Trennung von Staat und Kirche wird daher durch das Gebot weltanschaulich-religiöser Neutralität ergänzt. Die Neutralitätspflicht ist notwendige Bedingung für die Entfaltung der kollektiven und individuellen Glaubensfreiheit,16 wenngleich sie an keiner Stelle des Grundgesetzes ausdrücklich als staatliches Obligo benannt wird. Sie ist aber – entsprechend der grundgesetzlichen Konzeption einer balancierten Trennung von Staat und Kirche – nicht als eine distanzierende Haltung, sondern vielmehr als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung zu verstehen.17 Die Neu14

Vgl. Depenheuer, Neutralität (Fn. 8), S. 28. Die strikte Trennung von Staat und Kirche kann indes auch ein Mittel sein, die Entfaltung religiöser Freiheit zu bewirken (so etwa in den USA, vgl. v. Campenhausen, Ein Rahmen für die Religion, in: Die politische Meinung 2004, Nr. 415, S. 39 [40]; Depenheuer, Neutralität (Fn. 8), S. 28). 16 Kazele, Fragen (Fn. 10), S. 269. 17 BVerfGE 108, 282 (300). 15

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tralitätsverpflichtung des Staates enthält insoweit ein positives Gebot, den Raum für die aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung und die Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet zu sichern.18 In einem negativen Sinn beinhaltet die Neutralitätspflicht zunächst ein Gebot, bestimmte Einflussnahmen zu unterlassen.19 So ist einem in religiösen Angelegenheiten neutralen Staat verwehrt, Glauben und Lehre einer Religionsgemeinschaft als solche zu bewerten und sie in Kategorien von „richtig“ oder „falsch“ einzuordnen.20 Würde er eine solche Bewertung vornehmen, könnte er seiner Aufgabe als Friedensgarant nicht mehr gerecht werden. Damit entzieht sich etwa eine Glaubensüberzeugung, die einen – ohne die Anrufung Gottes geleisteten – Zeugeneid ablehnt21 oder die für den Verzehr von Tierfleisch zwingend eine ohne Betäubung erfolgte Schlachtung voraussetzt,22 einer inhaltlichen Bewertung von Seiten des Staates. Umgekehrt darf sich der Staat auch nicht die Glaubensinhalte einer anderen Religion zu Eigen machen; in dieser Ausprägung zieht die Neutralitätspflicht ein Identifikationsverbot nach sich, das auch bei der Förderung von Religionsgesellschaften eine Rolle spielen kann: Die religiöse Vitalität eines Staatsvolkes vermag sich nur dann zu entfalten, wenn der Staat alle Bekenntnisse gleichermaßen fördert und keines benachteiligt. Der Grundsatz der paritätischen Behandlung von Religionsgemeinschaften fordert indes keine schematische Gleichbehandlung, sondern lässt Differenzierungen zu, die durch tatsächliche Verschiedenheiten der einzelnen Religionsgesellschaften bedingt sind, soweit die Art der Differenzierung nicht sachfremd ist.23 Im Folgenden seien einige Fallgestaltungen aus der bundesverfassungsgerichtlichen Judikatur aufgezeigt, in denen Inhalt und Umfang der Neutralitätspflicht des Staates eine besondere Bedeutung zukam. 1. Staatliche Warnungen vor religiösen Gruppen Dem Gebot religiös-weltanschaulicher Neutralität kommt überall dort eine besondere Bedeutung zu, wo staatliche Organe im Rahmen ihrer Informationspflicht ein Urteil über religiöse oder weltanschauliche Gruppierungen abgeben.24 Dabei ist es dem Staat nicht von vorneherein untersagt, sich 18 19 20 21 22 23 24

Vgl. BVerfGE 41, 29 (49); 93, 1 (16); 108, 282 (300). Kazele, Fragen (Fn. 10), S. 270. Vgl. BVerfGE 33, 23 (29); 108, 282 (300). Vgl. BVerfGE 33, 23 (29). Vgl. BVerfGE 104, 337 (355). BVerfGE 19, 1 (9). Vgl. etwa Lüdemann, Edukatorisches Staatshandeln, 2004, S. 90 f.

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mit den Trägern des Grundrechts der Religionsfreiheit öffentlich auseinanderzusetzen. Es ist ihm auch nicht verwehrt, dies in einer kritischen Weise zu tun. So hat das Bundesverfassungsgericht etwa Äußerungen der Bundesregierung für verfassungsrechtlich unbedenklich erachtet, durch die eine religiöse Bewegung – im konkreten Fall ging es um die sog. Osho-Bewegung25 – als „Jugendsekte“ und „Psychosekte“ bezeichnet wurde. Zur Begründung führte das Gericht aus, die Bezeichnungen enthielten keine diffamierenden oder verfälschenden Darstellungen, sondern bewegten sich im Rahmen einer sachlich geführten Informationstätigkeit über die betroffenen Gemeinschaften und wahrten damit die Zurückhaltung, zu welcher der Staat und seine Organe nach dem Gebot der religiös-weltanschaulichen Neutralität verpflichtet seien. Nicht mehr für im verfassungsrechtlich gebotenen Sinn neutral wertete das Bundesverfassungsgericht dagegen die Bezeichnung der Bewegung als „destruktiv“ und „pseudoreligiös“, da diese Attribute diffamierenden Charakter hatten und die Bewegung hierdurch in ihrer Gesamtheit pauschal abgewertet wurde. 2. Verleihung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts Die Verleihung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts soll die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Religionsgemeinschaften unterstützen. Religionsgemeinschaften mit öffentlich-rechtlichem Status sind in gleichem Umfang grundrechtsfähig wie Religionsgemeinschaften privatrechtlicher Rechtsform; sie stehen also dem Staat als Teil der Gesellschaft gegenüber. Die korporierten Religionsgemeinschaften im religiös-weltanschaulich neutralen Staat des Grundgesetzes, der keine Staatskirche oder Staatsreligion kennt, unterscheiden sich damit grundlegend von den Körperschaften des öffentlichen Rechts im verwaltungs- und staatsorganisationsrechtlichen Sinn. Sie nehmen keine Staatsaufgaben wahr und sind nicht in die Staatsorganisation eingebunden. Durch den ihnen verliehenen Status werden sie zwar über Religionsgesellschaften des Privatrechts erhoben, unterliegen hierdurch aber keiner gesteigerten Staatsaufsicht.26 Das bedeutet auch, dass die staatlichen Organe ihnen gegenüber in gleicher Weise zur Neutralität verpflichtet sind wie gegenüber privatrechtlich organisierten Religionsgemeinschaften. In materieller Hinsicht muss eine Religionsgemeinschaft, die den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erlangen will, die Gewähr dafür bieten, dass ihr künftiges Verhalten die in Art. 79 Abs. 3 GG umschriebenen fundamentalen Verfassungsprinzipien, die dem staatlichen Schutz an25 26

BVerfGE 105, 279. BVerfGE 18, 385 (386 f.); 30, 415 (428); 102, 370 (388).

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vertrauten Grundrechte Dritter sowie die Grundprinzipien des freiheitlichen Religions- und Staatskirchenrechts nicht gefährdet.27 Hierzu gehören neben der Menschenwürdegarantie und den Grundrechten auch und insbesondere das Rechtsstaats- und Demokratieprinzip. Eine systematische Beeinträchtigung oder Gefährdung dieser Grundsätze darf der Staat nicht hinnehmen, auch nicht von Seiten einer als Körperschaft des öffentlichen Rechts verfassten Religionsgemeinschaft. Denn der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts begründet für die korporierten Religionsgemeinschaften eine bevorzugte Rechtsstellung, mit der unter anderem auch die Befugnis zur Erhebung von Steuern einhergeht. Die Religionsgemeinschaften verfügen damit über besondere Machtmittel und einen erhöhten Einfluss in Staat und Gesellschaft. Sie stehen deshalb den besonderen Pflichten, die das Grundgesetz statuiert, näher als andere Religionsgemeinschaften. Diese Pflichten verbieten die Verleihung des Körperschaftsstatus an Religionsgemeinschaften, gegen die einzuschreiten der Staat zum Schutz grundrechtlicher Rechtsgüter berechtigt oder gar verpflichtet wäre.28 Die Bewertung, ob eine Religionsgemeinschaft die Gewähr der Verfassungstreue bietet, ist den staatlichen Organen auch nicht etwa auf Grund ihrer Neutralitätspflicht verwehrt. Sie sind von Verfassungs wegen nicht daran gehindert, das tatsächliche Verhalten einer Religionsgemeinschaft oder ihrer Mitglieder nach weltlichen Kriterien zu beurteilen, auch wenn dieses Verhalten letztlich religiös motiviert ist. Im Fall der Zeugen Jehovas hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die Enthaltsamkeit gegenüber staatlichen Wahlen dann nicht ausreicht, um den Antrag einer Religionsgemeinschaft auf Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts abzulehnen, wenn dieses Verhalten nicht als politisches Programm zu qualifizieren ist und sich nicht gegen die freiheitliche Verfassungsordnung richtet, sondern hierdurch vielmehr ein Leben jenseits des politischen Gemeinwesens in „christlicher Neutralität“ verwirklicht werden soll.29 Was die Auffassung der Zeugen Jehovas anbelangt, derzufolge jedes politische System und folglich auch die Verfassungsordnung des Grundgesetzes als „Bestandteil der Welt Satans“ anzusehen ist, hat das Bundesverfassungsgericht diese nicht als ausschlaggebend für die Bewertung der Verfassungstreue erachtet, da hierin eine Bewertung des Glaubens und der Lehre als solcher gelegen hätte. Eine an Kategorien von „richtig“ oder „falsch“ ausgerichtete Bewertung ist dem weltanschaulich neutralen Staat indes untersagt. Zu bewerten ist vielmehr das tatsächliche Verhalten der Mitglieder einer Religionsgemeinschaft. Ihrem tatsächlichen 27 28 29

BVerfGE 102, 370 (392). BVerfG, a. a. O., 393. BVerfG, a. a. O., 398.

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Verhalten nach erkennen die Zeugen Jehovas den Staat des Grundgesetzes aber wie andere obrigkeitliche Gewalten als von Gott geduldete Übergangsordnung an, wie das Bundesverfassungsgericht in der genannten Entscheidung festgestellt hat. Eine darüber hinausgehende Zustimmung oder Hinwendung zum Staat verlange das Grundgesetz nicht. Über einen Antrag auf Verleihung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts an islamische Vereinigungen hatte das Bundesverfassungsgericht bislang noch nicht zu befinden. Für diese stellt sich die Erlangung des Körperschaftsstatus noch unter einem anderen Aspekt als problematisch dar. Denn neben den genannten inhaltlichen Kriterien verlangt Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV von einer Religionsgemeinschaft die Gewähr der Dauer.30 Eine Religionsgemeinschaft muss durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die prognostische Einschätzung stützen, dass sie auch in Zukunft dauerhaft bestehen wird. Grundlage für diese Einschätzung sind der gegenwärtige Mitgliederbestand sowie die Verfassung der Vereinigung im Übrigen. Bei islamischen Vereinigungen fällt eine solche prognostische Einschätzung mitunter nicht ganz leicht. Der Islam kennt keine zentrale Organisation und auch keine regionalen Gliederungen;31 seine Vereinigungen bestehen oftmals aus einem fluktuierenden, nicht mitgliedschaftlich verfassten Kreis an Gläubigen.32 Ob eine solche Vereinigung die formellen Voraussetzungen für eine Verleihung des Körperschaftsstatus erfüllt, kann daher nur bezogen auf den Einzelfall und nach genauer Untersuchung ihrer Verfassung beantwortet werden. Dabei können auch Indizien wie etwa eine ausreichende Finanzausstattung, eine Mindestbestandszeit und die Intensität des religiösen Lebens von Bedeutung sein, wenngleich sich eine schematische Anwendung verbietet, um die von Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV geforderte Gesamteinschätzung nicht zu stören.33 3. Problemfeld Schule Das Gebot staatlicher Neutralität in Glaubensfragen gilt für die gesamte Sphäre staatlichen Handelns. Es wird aber nirgendwo sonst regelmäßig auf eine so harte Bewährungsprobe gestellt wie im Bereich der öffentlichen Schulen.34 In keinem anderen Umfeld treffen unterschiedliche religiöse und weltanschauliche Bekenntnisse unter staatlicher Aufsicht so unmittelbar aufeinander. Es nimmt daher nicht Wunder, dass einige der wichtigsten Ent30 31 32 33 34

Vgl. Kirchhof, in: HdBdStKR, Bd. I, 2. Aufl. 1994, S. 684 ff. v. Campenhausen, Kirchenrecht und Kirchenpolitik, S. 279. Vgl. Kazele, Fragen (Fn. 10), S. 276. BVerfGE 66, 1 (24); 102, 370 (385). Vgl. hierzu Lecheler, in: HdBdStKR, Bd. II, 2. Aufl. 1995, S. 415 ff.

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scheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Verhältnis von Staat und Kirche im Bereich des Schulunterrichts ihren Ausgangspunkt hatten. Die Probleme betreffen die profanen Fächer gleichermaßen wie den Religionsunterricht selbst. a) Einführung von Religionsunterricht Die Vorschrift des Art. 7 Abs. 3 GG verpflichtet den Staat zur Einrichtung von Religionsunterricht innerhalb des staatlichen Schulwesens und gibt den Religionsgemeinschaften einen Rechtsanspruch auf Einführung eines ihren Glaubensinhalten entsprechenden Religionsunterrichts.35 Auch hier gilt, dass sich der weltanschaulich-neutrale Staat einer Bewertung der Glaubensinhalte einer Gemeinschaft zu enthalten hat. Einer – uneingeschränkten – Prüfung unterliegen indes die formellen Voraussetzungen der Norm, also die Frage nach dem Vorliegen einer Religionsgemeinschaft.36 Dass sich auch die Kirchen im traditionellen Sinn, deren Qualifikation als Religionsgemeinschaften im Sinne von Art. 7 Abs. 3 GG außer Frage steht, nicht immer uneingeschränkt auf die verfassungsrechtliche Garantie des Religionsunterrichts berufen können, wurde im Rahmen einer Normenkontrolle zum Brandenburgischen Schulgesetz virulent. Die Tatsache, dass drei Viertel der ostdeutschen Bevölkerung konfessionslos sind, hatte in Brandenburg Anlass zur Konzeption des Schulfachs LER (Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde) als werteorientiertem Pflichtfach gegeben, wohingegen der Religionsunterricht nach dem Brandenburger Schulgesetz nur den Status eines nicht ordentlichen, freiwilligen Lehrfachs in alleiniger Verantwortung der Kirchen innehatte. Verfassungsrechtlicher Hintergrund des Streits war die Frage, ob das Land Brandenburg die Vorschrift des Art. 141 GG für sich in Anspruch nehmen konnte. Die auch als „Bremer Klausel“ bezeichnete Norm bestimmt, dass ein ordentliches Lehrfach Religionsunterricht nicht in denjenigen Bundesländern eingeführt werden muss, in denen wie in Bremen und Berlin am 1. Januar 1949 eine andere landesrechtliche Regelung bestand. Der Rechtsstreit vor dem Bundesverfassungsgericht wur35

Vgl. BVerwGE 123, 49. Unter einer Religionsgemeinschaft versteht man gemeinhin einen Verband, der die Angehörigen ein- und desselben Glaubensbekenntnisses oder mehrerer verwandter Glaubensbekenntnisse zu allseitiger Erfüllung der durch das gemeinsame Bekenntnis gestellten Aufgaben zusammenfasst (BVerwGE 99, 1 [3]; Morlok, in: Dreier, GG, Bd. III, 2000, Art. 137 WRV, RN 26; v. Campenhausen, in: v. Mangold/Klein/Starck, GG, Bd. III, 5. Aufl. 2005, Art. 137 WRV, RN 18). Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, dass auch ein islamischer Dachverband eine Religionsgemeinschaft sein kann, wenn ihm identitätsstiftende Aufgaben zur selbständigen Erledigung übertragen werden, die sich nicht auf eine bloße Koordinierungsfunktion beschränken (BVerwGE 123, 49). 36

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de beendet, nachdem die Beteiligten einem vom Gericht vorgelegten Vergleichsvorschlag zur Änderung des brandenburgischen Schulgesetzes zugestimmt hatten, wonach der Status von LER als Pflichtfach sowie der des Religionsunterrichts bestätigt wurden, gleichzeitig aber die Stellung des Religionsunterrichts auch und gerade in schulorganisatorischer Hinsicht verbessert wurde.37 b) Zulässigkeit christlicher Bezüge im Schulunterricht Die Pflicht des Staates, bezüglich einer Bewertung von Zielen und Inhalten einer Religionsgemeinschaft Zurückhaltung zu üben, gilt natürlich nicht nur mit Blick auf eine mögliche negative Beurteilung dieser Ziele und Inhalte, sondern auch in umgekehrter Richtung im Sinne eines Verbots der Identifikation mit religiösen Inhalten. Der Staat darf keine gezielte Beeinflussung im Dienste einer bestimmten politischen, ideologischen oder weltanschaulichen Richtung betreiben oder sich durch von ihm ausgehende oder ihm zuzurechnende Maßnahmen ausdrücklich oder konkludent mit einem bestimmten Glauben oder einer bestimmten Weltanschauung identifizieren und dadurch den religiösen Frieden in der Gesellschaft von sich aus gefährden.38 Allerdings ist es in einer pluralistischen Gesellschaft nahezu unmöglich, bei der Gestaltung der öffentlichen Pflichtschule allen Erziehungsvorstellungen in vollem Umfang Rechnung zu tragen. Insbesondere lassen sich die negative und die positive Religionsfreiheit von Angehörigen unterschiedlicher Religionsgemeinschaften nicht problemlos in ein und derselben staatlichen Institution verwirklichen. Der Einzelne kann sich daher im Rahmen der Schule nicht uneingeschränkt auf die Freiheit seines Glaubens in positiver oder negativer Hinsicht berufen.39 Vielmehr muss er Einschränkungen hinnehmen, die durch die Grundrechte Dritter oder andere Werte von Verfassungsrang geboten sind. Welches Grundrecht im Kollisionsfall zurückzutreten hat, kann nur jeweils im Einzelfall und nicht zuletzt unter Berücksichtigung der Intensität des Eingriffs entschieden werden. Insbesondere lässt sich hier kein Grundsatz formulieren, wonach die negative Religionsfreiheit einer Minderheit von Schülern oder Erziehungsberechtigten der positiven Religionsfreiheit der Mehrheit zu weichen hat. Ebenso wenig existiert aber umgekehrt eine Priorität des Minderheitenschutzes. Das Bundesverfassungsgericht hatte schon mehrfach die Frage zu beantworten, ob und in welchem Umfang christliche Bezüge im Schulunterricht 37 38 39

Vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 11.12.2001 – 1 BvF 1/96. BVerfGE 93, 1 (16 f.); 108, 282 (300). BVerfGE 93, 1 (22).

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mit der staatlichen Neutralitätspflicht und der Religionsfreiheit Andersgläubiger in Einklang stehen. In seiner Entscheidung zur Gemeinschaftsschule badischer Überlieferung40 hat das Gericht hierzu einige grundlegende Ausführungen gemacht, die es auch in späteren Entscheidungen bestätigt hat.41 Im konkreten Fall ging es um die Festlegung der öffentlichen Volksschulen in Baden-Württemberg auf die Schulform der Gemeinschaftsschule mit christlichem Charakter. Die beschwerdeführenden Eltern vertraten die Auffassung, der Staat könne als öffentliche Regelschulen nur solche Gemeinschaftsschulen errichten, die frei von religiösen Einflüssen seien, soweit es nicht um den nach Bekenntnissen getrennten, aber für die Schüler nicht verbindlichen Religionsunterricht gehe. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Auffassung nicht geteilt und in seiner Entscheidung ausgeführt, dass die Einführung christlicher Bezüge bei der Gestaltung öffentlicher Volksschulen dem Landesgesetzgeber nicht verwehrt ist, wenn die gewählte Schulform nur ein Minimum an Zwangselementen enthält. Die Schule darf insbesondere keine missionarische Schule sein und keine Verbindlichkeit christlicher Glaubensinhalte beanspruchen, sondern muss auch für andere weltanschauliche und religiöse Inhalte und Werte offen sein.42 Die Bejahung des Christentums in den profanen Fächern bezieht sich aber in erster Linie auf die Anerkennung des prägenden Kultur- und Bildungsfaktors, wie er sich in der abendländischen Geschichte herausgebildet hat, nicht aber auf die Glaubenswahrheit, und ist daher auch gegenüber dem Nichtchristen durch das Fortwirken geschichtlicher Gegebenheiten legitimiert. Zu diesem Faktor gehört nicht zuletzt der Gedanke der Toleranz für Andersdenkende. Eine Schule, die Raum für eine sachliche Auseinandersetzung mit allen weltanschaulich-religiösen Auffassungen, wenn auch von einer bestimmten weltanschaulichen Orientierungsbasis her bietet, führt Eltern und Kinder nicht in einen verfassungsrechtlich unzumutbaren Glaubens- und Gewissenskonflikt. Das Bundesverfassungsgericht hat in dieser Entscheidung neben der Gestaltungsfreiheit der Landesgesetzgeber die Anerkennung eines prägenden Kultur- und Bildungsfaktors durch die abendländische Geschichte betont, die ihrerseits untrennbar mit dem Christentum verbunden ist. Die Konfrontation mit einem Weltbild, in dem die prägende Kraft christlichen Denkens bejaht wird, führt nicht zu einer diskriminierenden Abwertung der dem Christentum nicht verbundenen Minderheiten und ihrer Weltanschauung, wenn dieser Bezug nicht als ein staatliches Bekenntnis zu den christlichen Glaubenswahrheiten zu verstehen ist. 40 41 42

BVerfGE 41, 29. BVerfGE 41, 29 (51); 52, 223 (236); 108, 282 (300). Vgl. auch Lecheler, in: HdBdStKR (Fn. 34), S. 431 ff.

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Im sog. Kruzifix-Beschluss43 hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts ein Bekenntnis zu christlichen Glaubenswahrheiten für gegeben erachtet. Streitgegenstand war dabei eine landesrechtliche Vorschrift, die das Anbringen von Kreuzen in Klassenzimmern einer öffentlichen Pflichtschule vorsah. Das Gericht hat diese Regelung für mit Art. 4 Abs. 1 GG unvereinbar angesehen, weil darin ein staatliches Bekenntnis zu den Inhalten des christlichen Glaubens liege. Das Kruzifix sei nicht nur Ausdruck einer vom Christentum mitgeprägten abendländischen Kultur, sondern vielmehr das Glaubenssymbol des Christentums schlechthin, weil es die im Opfertod Christi vollzogene Erlösung des Menschen von der Erbschuld versinnbildliche.44 Soweit es um die Anbringung eines Kruzifixes in anderen als christlichen Bekenntnisschulen gehe, sei die zulässige Grenze religiös-weltanschaulicher Ausrichtung der Schule daher überschritten. Die Entscheidung ist in der öffentlichen Debatte und auch in Teilen der rechtswissenschaftlichen Literatur auf erhebliche Kritik gestoßen, auf die hier allerdings nicht im Detail eingegangen werden kann.45 Es sei lediglich der Hinweis erlaubt, dass das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung nicht von der zuvor dargestellten Rechtsprechung zur Zulässigkeit christlicher Bezüge im Schulunterricht abgerückt ist. Vielmehr ist es auch hier von den in der Entscheidung zur badischen Gemeinschaftsschule aufgestellten Prämissen ausgegangen, indem es nämlich ausgeführt hat, dass ein Staat, selbst wenn er die Glaubensfreiheit umfassend gewährleistet und sich damit selbst zu religiös-weltanschaulicher Neutralität verpflichtet, die kulturell vermittelten und historisch verwurzelten Wertüberzeugungen und Einstellungen nicht abstreifen kann, auf denen der gesellschaftliche Zusammenhalt beruht. Der christliche Glaube und die christlichen Kirchen – so das Gericht weiter – seien dabei von überragender Prägekraft gewesen. Die darauf zurückgehenden Denktraditionen, Sinnerfahrungen und Verhaltensmuster könnten dem Staat nicht gleichgültig sein. Dies gelte in besonderem Maße für die Schule, in der die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft vornehmlich tradiert und erneuert würden. Allerdings beziehe sich die – zulässige – Bejahung des Christentums insofern auf die Anerkennung eines prägenden Kultur- und Bildungsfaktors, nicht aber auf bestimmte Glaubenswahrheiten.46 43

BVerfGE 93, 1 (22). BVerfGE 93, 1 (19). 45 Vgl. etwa v. Campenhausen, Zur Kruzifix-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in: AöR 121 (1996), S. 448 ff.; Höffe, Wieviel Politik ist dem Verfassungsgericht erlaubt?, in: Der Staat 1999, S. 171 ff.; Isensee, Bundesverfassungsgericht – quo vadis?, in: JZ 1996, S. 1085 ff. 46 BVerfGE 93, 1 (23). 44

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c) Der „Kopftuch-Streit“ Das sicherlich prominenteste Beispiel aus der jüngeren Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts zum Verhältnis von Staat und Kirche ist die als Kopftuch-Urteil bekannt gewordene Entscheidung des Zweiten Senats.47 Hier stand nicht das Identifikationsverbot im Vordergrund der verfassungsrechtlichen Problemstellung: Die Tatsache, dass eine Lehrerin muslimischen Glaubens als Ausdruck ihrer religiösen Überzeugung ein Kopftuch trägt, würde niemanden ernsthaft zu der Annahme verleiten, dass sich der deutsche Staat mit den Glaubensinhalten des Islam identifiziert. Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung darauf hingewiesen, dass ein Staat, der die mit dem Tragen eines Kopftuchs verbundene religiöse Aussage einer einzelnen Lehrerin hinnimmt, sich diese Aussage mitnichten zu eigen macht und sie sich auch nicht als von ihm beabsichtigt zurechnen lassen muss.48 Darin lag gleichzeitig ein entscheidender Unterschied zum Kruzifix-Beschluss, der von manchen Kritikern – zu Unrecht – als Maßstab für die Beantwortung der Kopftuchfrage herangezogen wurde: Während nämlich der Kruzifix-Beschluss eine staatliche Anordnung zum Aufhängen religiöser Symbole in öffentlichen Schulen betraf, war diese Symbolik im Falle des Kopftuchs Ausfluss der individuellen Entscheidungsfreiheit einer Lehrerin bzw. einer Lehramtsbewerberin.49 Auch der einfachrechtliche Ansatz war in der Kopftuch-Entscheidung anderer, genauer gesagt: beamtenrechtlicher Natur. Das Bundesverfassungsgericht hatte im konkreten Fall – nur – darüber zu befinden, ob ein Beharren auf dem Tragen eines Kopftuchs bei der Einstellung einer Lehramtsbewerberin als Eignungsmangel angesehen werden kann, wenn es an einer landesgesetzlichen Rechtsgrundlage fehlt, durch die dem Lehrer in Bezug auf seine Kleidung konkrete Pflichten oder Verbote auferlegt werden.50 Die politische und gesellschaftliche Dimension des Kopftuch-Streits war dagegen um ein Vielfaches größer: Es ging hier um die religiöse Pluralität in ihrer Gesamtheit und um die Frage, welche Konsequenzen sich hieraus für das Verhältnis von Staat und Kirche ergeben. Die Entstehung neuer Religionen sowie das Anwachsen derjenigen Bevölkerungsanteile, die anderen 47

BVerfGE 108, 282. BVerfGE 108, 282 (305 f.). 49 Vgl. BVerfG, a. a. O., 305. 50 Der Fall unterscheidet sich insoweit maßgeblich von denjenigen Fällen, in denen eine Muslima ihr Kopftuch nicht im Rahmen der Ausübung einer Tätigkeit im öffentlichen Dienst trägt. Zu einer sitzungspolizeilichen Anordnung gegenüber einer Zuschauerin wegen Tragens eines Kopftuches im Gerichtssaal vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 27. Juni 2006 – 2 BvR 677/05. 48

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Glaubensrichtungen – und hier ist insbesondere der muslimische Glaube zu nennen – angehören, hat die „präkonstitutionelle Harmonie zwischen einem christlich geprägten Staat und einer christlich geprägten Gesellschaft, deren Übereinstimmung das Nebeneinander von Staat und Kirche erleichtert hat, beendet“.51 Viele Stimmen haben sich vor diesem Hintergrund dafür ausgesprochen, das Verhältnis von Staat und Kirche im Sinne einer noch strikteren, distanzierenderen Neutralität des Staates neu auszutarieren. Ob es sinnvoll ist, einer wachsenden religiösen Pluralität und dem damit einhergehenden Wandel gesellschaftlicher Strukturen durch ein strengeres Verständnis von staatlicher Neutralität zu begegnen, muss vorrangig der Gesetzgeber in Ausübung seines Gestaltungsermessens entscheiden. Das Bundesverfassungsgericht hat, nachdem es das Erfordernis einer konkreten landesrechtlichen Grundlage für die Annahme eines Eignungsmangels im oben beschriebenen Sinn bejaht hat, sowohl die Beibehaltung des gesetzlichen Status Quo als auch eine striktere Regelung der Neutralitätspflicht als mögliche Antworten auf die gewandelten gesellschaftlichen Verhältnisse benannt: Einerseits könne die zunehmende religiöse Vielfalt in der Schule aufgenommen und als Mittel für die Einübung von gegenseitiger Toleranz genutzt werden, um einen Beitrag in dem Bemühen um Integration zu leisten. Andererseits sei die beschriebene Entwicklung mit einem größeren Konfliktpotential behaftet, so dass es auch Gründe dafür gebe, der staatlichen Neutralitätspflicht im schulischen Bereich eine striktere und mehr als bisher distanzierende Bedeutung beizumessen. Bislang haben verschiedene Landesgesetzgeber von ihrem Gesetzgebungsrecht Gebrauch gemacht. Die Vorschriften sind in vielem ähnlich, unterscheiden sich aber auch in wesentlichen Punkten voneinander.52 Dies gilt sowohl hinsichtlich ihrer Adressatenkreise als auch hinsichtlich ihrer materiellen Voraussetzungen. Zur Zulässigkeit der Regelungen kann aus nahe liegenden Gründen an dieser Stelle keine nähere Aussage getroffen werden. Es dürfte aber für die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit ganz allgemein darauf ankommen, ob und inwieweit sich die Regelungen unter Berücksichtigung der Art des in Rede stehenden religiösen Symbols als verhältnismäßige Maßnahmen zur Herstellung oder Erhaltung des Schulfriedens als Regelungsziel eines Verbots darstellen.

51

Depenheuer, Neutralität (Fn. 8), S. 42. Ein Überblick findet sich bei Baer/Wrase, Staatliche Neutralität und Toleranz in der „christlich-abendländischen Wertewelt“, in: DÖV 2005, S. 243 ff. 52

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Hans-Jürgen Papier

V. Europäische Dimension und Ausblick Die eingangs gestellte Frage nach dem Erfordernis einer Neubestimmung des Verhältnisses von Staat und Kirche lässt sich nach alledem nicht pauschal in die eine oder andere Richtung beantworten. Die Herausforderung, die die zunehmende religiöse Pluralisierung sowohl für die Religionsgemeinschaften und ihre Mitglieder als auch für das Gemeinwesen in seiner Gesamtheit darstellt, ist dabei kein rein deutsches Problem. Nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem Entwurf einer Verfassung für Europa ist über das Verhältnis von Staat und Kirche kontrovers diskutiert worden. Die Debatte um eine Invocatio Dei in der Präambel des Verfassungsentwurfs war dabei nur einer der zahlreichen Streitpunkte.53 Allerdings kann und darf es nicht die Aufgabe einer europäischen Religionsverfassung sein, die in den Mitgliedstaaten vorhandene Vielzahl unterschiedlicher kirchenrechtlicher Ordnungen und Systeme durch harmonisierende Regelungen in ein europäisches Raster zu pressen. Dem religiösen Frieden im europäischen Raum wäre nicht gedient, wenn die Europäische Union verbindliche Aussagen zum Verhältnis von Staat und Kirche treffen dürfte, die dann auf die schwierigen Verhältnisse in Nordirland gleichermaßen wie auf das laizistische Frankreich Anwendung fänden. So besagt dann auch Art. I-52 des Europäischen Verfassungsvertrags,54 dass die Union den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, achtet. Der Vorschrift liegt ein wichtiger Gedanke zugrunde. Angesichts der Vielgestaltigkeit der rechtlichen und tatsächlichen Rahmenbedingungen in den Mitgliedstaaten der Union kann das europäische (Verfassungs-)Recht nur dann einen integrativen Faktor bilden, wenn es die nationalen kirchenrechtlichen Ordnungen unangetastet lässt. Auf diese Weise können die europäischen Kirchen und Religionsgemeinschaften den heute mehr denn je notwendigen inter-religiösen Dialog fördern und damit auch zur Bildung der vielbeschworenen europäischen Identität beitragen. Dementsprechend wird auch in Art. I-52 des Verfassungsvertrags die Bedeutsamkeit des Dialogs zwischen Union und Kirche in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrags hervorgehoben. Auch für das Verhältnis von Staat und Kirche unter dem deutschen Grundgesetz kann ein Beharren auf Glaubensinhalten im Sinne einer missionarisch verstandenen „Richtig-oder-Falsch“-Doktrin weder die Kirchen noch das Gemeinwesen weiterführen. Was das Handeln staatlicher Organe anbelangt, so ist diesen eine Bewertung anhand eines solchen Maßstabs so53

Vgl. etwa Geerlings, Der Fortgang des Europäischen Verfassungsprozesses, Recht und Politik 2006, S. 23 ff. 54 Abgedruckt bei Beckmann/Dieringer/Hufeld (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, 2. Aufl. 2005.

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gar von Verfassungs wegen untersagt. Wie sich das Verhältnis zwischen Religion und Staat weiter entwickelt, liegt dabei maßgeblich in der Hand des einfachen Gesetzgebers. Allerdings scheint das Auffinden eines inter-religiösen Konsenses zur Sicherung des kulturellen und gesellschaftlichen Friedens im Verfassungsstaat des Grundgesetzes durch die – verstärkte – Einbindung der Religionsgemeinschaften in das Gemeinwesen eher gewährleistet als durch eine Verbannung alles Religiösen aus dem öffentlichen Raum, die wohl eher den Charakter einer Konfliktverdrängungsstrategie besäße: Die notwendige Offenheit für die bestehende Vielzahl weltanschaulicher und religiöser Inhalte und Werte wird nicht zuletzt durch eine – kontroverse – Auseinandersetzung mit diesen Werten nachhaltig gefördert.55 Die staatskirchenrechtliche Ordnung des Grundgesetzes jedenfalls hält mit ihrer balancierten Trennung von Staat und Kirche den rechtlichen Rahmen dafür bereit, dass Kirchen und Religionsgemeinschaften die ihnen zukommenden Aufgaben auch und gerade in einer zunehmend multi-religiös geprägten Gesellschaft erfüllen können.

55 Vgl. Steiger, Der Streit um das Kopftuch – Plädoyer für eine aktive Neutralität, in: MRM 2004, S. 115 (126 f.).

Ausgewähltes Schriftenverzeichnis von Rupert Scholz 1. Kommentare Mitherausgeberschaft von Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Loseblattsammlung 2. Monographien – Das Wesen und die Entwicklung der gemeindlichen öffentlichen Einrichtungen, 1967 – Die Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971 – Wirtschaftsaufsicht und subjektiver Konkurrentenschutz, 1971 – Konzentrationskontrolle und Grundgesetz, 1971 – Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit, 1972 – Zur Krankenversicherung der Studenten, 1973 (m. J. Isensee) – Funktionsfähige Verwaltung im demokratischen Rechtsstaat, 1973 – Paritätische Mitbestimmung und Grundgesetz, 1974 – Audiovisuelle Medien und bundesstaatliche Gesetzgebungskompetenz, 1976 – Kooperation und Integration von Fernlehrsystemen. Problemstudie Rechts- und Organisationsformen des Verbundes von Einrichtungen, Materialien zur regionalen Bildungs- und Entwicklungsplanung Bd. 101, 1976 (unter Mitarbeit von R. Pitschas) – Gemeindliche Gebietsreform und regionale Energieversorgung, 1977 – Pressefreiheit und Arbeitsverfassung, 1978 – Die Aussperrung im System von Arbeitsverfassung und kollektivem Arbeitsrecht, 1980 (m. H. Konzen) – Grenzen der Eigenwirtschaft gesetzlicher Krankenversicherungsträger, 1980 (m. B. v. Maydell) – Technisierte Verwaltung. Entlastung oder Entfremdung des Menschen?, 1981 (m. R. Baum, H.-P. Bull, A. Krause, K. Steinbuch) – Entflechtung und Verfassung, 1981 – Sozialstaat zwischen Wachstums- und Rezessionsgesellschaft, 1981

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Ausgewähltes Schriftenverzeichnis von Rupert Scholz

– Rundfunk zwischen Bestand und Neuordnung, 1981 (m. K. Stern/H. Koschnick/ H. Schwarz/R. Vöth/W. Kuin) – Gemeindewirtschaft zwischen Verwaltungs- und Unternehmensstruktur, 1982 (m. R. Pitschas) – Rundfunkeigene Programmpresse?, 1982 – Konkurrenzprobleme bei behördlichen Produktkontrollen, 1983 – Krise der parteienstaatlichen Demokratie?, 1983 – Daran halte ich fest. Berliner Positionen zu Nation, Demokratie, Rechtsstaat, 1988 – Informationelle Selbstbestimmung und staatliche Informationsverantwortung, 1984 (m. R. Pitschas) – Stiftung und Verfassung, 1990 (m. St. Langer) – Rechtsgutachtliche Stellungnahme zur Verfassungsproblematik der Abschlagsregelung für Arzneimittel im Einigungsvertrag und gemäß § 311 SGB V hinsichtlich ihrer Auswirkung für das Wettbewerbsverhältnis von gesetzlicher Krankenversicherung und privater Krankenversicherung, 1990 – Europarecht und Grundgesetz, 1990 (m. K. H. Friauf) – Zur Wettbewerbsgleichheit von gesetzlicher und privater Krankenversicherung, 1991 – Rechtsgutachten zur Problematik früherer „Kreditverträge“ in der ehemaligen DDR im Bereich des Wohnungsbaus, 1991 (m. K. Leciejewski) – Neue Verfassung oder Reform des Grundgesetzes?, 1992 – Europäischer Binnenmarkt und Energiepolitik, 1992 (m. St. Langer) – Grundgesetz zwischen Reform und Bewahrung, 1993 – Weltpolitische und europäische Faktoren der europäischen Sicherheit. Nato und WEU nach der Auflösung des Warschauer Pakts, 1993 – Europäische Union und nationales Verfassungsrecht, 1994 – Grundprobleme der europäischen Sicherheit, 1995 – Unentgeltliche Durchleitungsrechte für Zwecke der Telekommunikation – Verfassungsgemäßes Korrelat zum Grundversorgungsauftrag –, 1995 – Privatisierung im Baurecht, 1997 – Umweltstrategien im Verpackungsrecht, 1998 (m. J. Aulehner) – Freiheit und Schranken der Werbung im Spannungsfeld von Verfassungs- und Europarecht, 1998 – Berufsständische Altersversorgung und gesetzliche Rentenversicherung: Zu den verfassungsrechtlichen Grenzen gesetzgeberischer Umgestaltung, 1999

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– Helden ohne Degen, 2000 (m. H. Engel und E. Freiberger) – Die neue Rolle Berlins. Fragen zur wiedergewonnenen Hauptstadtfunktion, 2000 – Zu den Wechseloptionen der PKV, 2001 (m. U. Meyer und J. Beutelmann) – Postmonopol und Grundgesetz, 2001 – Die Verfassung der Europäischen Union, Sonderheft Zeitschrift für Gesetzgebung 2002 – Deutschland – In guter Verfassung?, 2004

3. Herausgeberschaften – Wandlungen in Technik und Wirtschaft als Herausforderung des Rechts, 1985 – Der Rechtsstaat und seine Feinde, 1986 (m. B. Rill) – Rechtsfragen der Gentechnologie, 1986 (m. R. Lukes) – Kreativität und Verantwortung. Mitbestimmung in Wissenschaft, Medien und Kunst. Grundlagen und Wirklichkeit, 1983 – Mit: Otto Kimminich, Hans Kramer, Klaus Kröger, Detlef Merten: Rechtsfrieden im Rechtsstaat, Veröffentlichungen der Katholischen Akademie Schwerte (Herausgegeben von Gerhard Krems), 1984 – Kreativität und Verantwortung – Mitbestimmung in Wissenschaft, Medien und Kunst. Grundlagen und Wirklichkeit, 1983 – Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, 1998 (m. P. Badura) – Deutschland auf dem Weg in die Europäische Union: Wieviel Eurozentralismus – Wieviel Subsidiarität?, 1993 – Eine neue deutsche Interessenlage? Koordination deutscher Politik jenseits von Nationalismus und Moralismus, 1994 (m. A. Baring) – Europäische Integration – Schon eine „Union des Rechts“? Zwischen Erfolgsbilanz und Balanceverlust, 1996 – Medienentwicklung: Von der Selektion der Anbieter zur Selektion der Bürger – Individualisierung der Nachfrage als Gefährdung der kulturellen Integration?, 1996 (m. F. Hilterhaus) – Gedächtnisschrift für Eberhard Grabitz, 1995 (m. A. Randelzhofer/D. Wilke) – Festschrift für Peter Lerche, 1993 (m. P. Badura) – Wertewandel – Rechtswandel. Perspektiven auf die gefährdeten Voraussetzungen unserer Demokratie, 1997 (m. W. Fikentscher/W. Heitmann/J. Isensee u. a.) – Die Akzeptanz des Rechtsstaates, 1998 (m. P. Kirchhof und E. Werthebach) – Rechtsstaat – Finanzverfassung – Globalisierung, 1998 (m. F. Hilterhaus)

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– Europa als Union des Rechts – Eine notwendige Zwischenbilanz im Prozeß der Vertiefung und Erweiterung, 2000 – Europa der Bürger?, 2002 – Peter Lerche: Ausgewählte Abhandlungen, 2004 (m. D. Lorenz/C. Graf von Pestalozza/M. Kloepfer/H. D. Jarass/C. Degenhart/O. Lepsius) – Flughäfen in Wachstum und Wettbewerb, 2007 (m. C. Moench) – ZHR 1974–1988 (Mitherausgeber) 4. Aufsätze – Zur Polizeipflicht von Hoheitsträgern, DVBl. 1968, S. 732 ff. – Gemeinde – Einwohner – Privatschule, WRP 68, S. 315 ff. – Wettbewerbsrecht und öffentliche Hand, ZHR 132, 1969, S. 97 ff. – Das Sozialrecht im neuen Ausbildungs- und Prüfungsrecht, ZSR 1971, S. 641 ff. – Das öffentliche Recht im Fächer-Katalog der neuen Ausbildungs- und Prüfungsordnungen, DÖV 1971, S. 548 ff. – Wissenschaftliche Hilfskräfte. Eine Analyse der Lage wissenschaftlicher Hilfskräfte an Universitäten der Bundesrepublik untersucht am Beispiel der Universität Göttingen, RdA 1971, S. 313 – Das öffentliche Recht im Fächerkatalog der neuen Ausbildungs- und Prüfungsordnungen, DÖV 71, S. 548 ff. – Zur Verfassungsmäßigkeit des § 626 Abs. 2 BGB, SAE 1972, S. 212 ff. – Arbeitsverfassung und Richterrecht, DB 1972, S. 1771 ff. – Die öffentlich-rechtliche Konkurrentenklage in der Rechtsprechung der Verwaltungs- und Zivilgerichte, Wirtschaftsrecht 72, S. 35 ff. – Erweiterung des Adhäsionsverfahrens – rechtliche Forderung oder rechtspolitischer Irrweg?, JZ 72, S. 725 ff. – Verfassungsrechtliche Fragen zur befristeten Fortgeltung der Montan-Mitbestimmung – Mitbestimmungsgesetzgebung zwischen „Entwicklungsspielraum“ und „Beurteilungsspielraum“, Die Aktiengesellschaft 1972, S. 195 ff. – Versicherungsaufsicht und Amtshaftung, NJW 72, S. 1217 ff. – Das Wirtschaftsrecht der öffentlichen Unternehmen, AöR 97, 1972, S. 301 ff. – Wettbewerb zwischen öffentlich-rechtlichen Körperschaften und Privatunternehmen, PKV 1972, S. 42 ff. – Jahrestagung der Deutschen Staatsrechtslehrer 1971, AöR 97, 1972, S. 124 ff. – Wettbewerbsbeschränkungen und Publizität, in: Für eine aktive Wettbewerbspolitik, FAZ 30.11. 72 = Publizität des Bundeskartellamts, BB 72, S. 1465 ff.

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– Status-, Organ- und Verfahrensprobleme um den Sachverständigenrat, DÖV 73, S. 843 ff. – Soziale Dienste und Verwaltungsreform, VSSR 73, S. 283 ff. – Arbeitnehmerische Vermögensbildung durch fondskonzentrierte Gewinn- und Unternehmensbeteiligung? Zum Konzept eines neuen Vermögensbildungsmodells, RdA 73, S. 65 ff. – Informationspolitik des Bundeskartellamts und Informationsrecht der Öffentlichkeit, NJW 73, S. 481 ff. – Qualifizierte Mitbestimmung unter dem Grundgesetz, Der Staat 1974, S. 91 ff. – Private Rundfunkfreiheit und öffentlicher Rundfunkvorbehalt – BVerwGE 39, 159, JuS 74, S. 299 ff. – Die neue Qualität der öffentlichen Leistungen. Aus der Sicht der Wissenschaft, in: Öffentlicher Dienst und Gesellschaft – eine Leistungsbilanz, 1974, S. 170 ff. – Materialien zum Bericht zur Lage der Nation 1974. Insbesondere Kap. I: „Nation“ und Kap. II „Staatliche und gesellschaftliche Ordnung“, 1974 (Hrsg. Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen) – Staatsaufgaben gehören in Beamtenhand. Thesen und Argumente zur Reform des öffentlichen Dienstrechts, dbb-intern. Dokumentation, 1974 – Wettbewerb der öffentlichen Hand – Sanktions- und Rechtswegprobleme zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht, NJW 1974, S. 781 ff. – Sozialer Dienst und Verwaltungsreform, VSSR 1974, 283 ff. – Dienstrechtsreform zwischen öffentlicher Dienstverfassung und privater Arbeitsverfassung, Die Personalvertretung 1975, S. 81 ff. – Öffentlicher Dienst zwischen öffentlicher Amtsverfassung und privater Arbeitsverfassung? Verwaltungsstrukturelle Grenzen der Dienstrechtsreform, in: W. Leisner, Das Berufsbeamtentum im demokratischen Staat. Beiträge zum Dienstrecht und zur Dienstrechtsreform, 1975, S. 179 ff. – Das Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 100, 1975, S. 80 ff., 265 ff. – Gutachten über die Verfassung und die verwaltungsrechtlichen Grundlagen des Strukturmodells zur Neuordnung der sozialen Dienste in Berlin, in: Neustrukturierung der Sozialen Dienste, Abgeordnetenhaus von Berlin, Drucks. 6/1745, S. 111 ff. – System und Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik Deutschland, Veröffentlichung der Hukuk Fakültesi der Universität Ankara, 1975 – Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik Deutschland, Veröffentlichung der Hukuk Fakültesi der Universität Ankara, 1975 – Nichtraucher contra Raucher – OVG Berlin, NJW 1975, 2261 und VG Schleswig, JZ 1975, 130, JuS 1976, S. 232 ff.

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– Öffentliche und Privatversicherung unter der grundgesetzlichen Wirtschafts- und Sozialverfassung, Festschrift für Karl Sieg, 1976, S. 507 ff. – Grenzen staatlicher Aktivität unter der grundgesetzlichen Wirtschaftsverfassung, in: D. Duwendag (Hrsg.), Der Staatssektor in der sozialen Marktwirtschaft, 1976, S. 113 ff. – Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, VVDStRL Heft 34, 1976, S. 145 ff. – Ausschließliche und konkurrierende Gesetzgebungskompetenz von Bund und Ländern in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Festgabe aus Anlaß des 25-jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Bd. II, 1976, S. 252 ff. – Pluralismus und grundgesetzlicher Verfassungsstaat, in: A. v. Campenhausen (Hrsg.), Kann der Staat für alles sorgen?, 1976, S. 9 ff. – Neue Entwicklungen im Gemeindewirtschaftsrecht – Strukturfragen und Verfassungskritik, DÖV 76, S. 441 ff. – Zusagen Privater und öffentlich-rechtliche Verträge im Rahmen der Fusionskontrolle, in: Festschrift für Eberhard Günther, 1976, S. 223 ff. – Die rechtliche Ordnung der Betriebsjustiz, in: G. Kaiser/G. Metzger-Pregizer (Hrsg.), Betriebsjustiz. Untersuchungen über die soziale Kontrolle abweichenden Verhaltens in Industriebetrieben, Strafrecht und Kriminologie., Bd. 1, 1976, S. 311 ff. – Verfassungsgegnerschaft und Verfassungstreue unter dem demokratischen Rechtsstaat, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1974–1976, 1976, S. 169 ff. – Verfassungsgegnerschaft und Verfassungspolitik unter dem grundgesetzlichen Verfassungsstaat, in: W. Zapf (Hrsg.), Probleme der Modernisierungspolitik, 1977, S. 43 ff. – Kartellrechtliche Preiskontrolle als Verfassungsfrage, ZHR 141, 1977, S. 520 ff. – Klagetypen und Streitgegenstand im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, in: Nihon-University Reports, Tokyo 1977 – Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland = Constitutional Jurisdiction in the Legal System of the Federal Republic of Germany, in: Nihon-University Reports, Tokyo 1977 – Pluralismus unter dem sozialen Rechtsstaat, in: Jahrbuch der Berliner Wissenschaftlichen Gesellschaft 1977, Berlin 1978, S. 53 ff. – Verfassungsrechtliche Grenzen staatlicher Funktionsmonopole. Erörtert unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsstellung des Architekten im geltenden Baurecht, Der Architekt 1978, S. 19 ff. – Status der Gewerkschaften im System der deutschen Arbeitsverfassung, in: Deutsche öffentlich-rechtliche Landesberichte zum X. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung in Budapest 1978, hrsg. von K. Madlener, 1978, S. 85 ff.

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– Wettbewerbsrechtliche Klagen gegen Hoheitsträger: Zivil- oder Verwaltungsrechtsweg?, NJW 78, 16 ff. – Mitbestimmung und Grundgesetz – Positionen zum Karlsruher Verfassungsstreit, NJW 78, 2083 f. – Der rechtliche und politische Gehalt des Rechtsstaatsbegriffs. Der Rechtsstaatsbegriff in der politischen Kontroverse, in: H. Geißler (Hrsg.), Recht sichert die Freiheit. Perspektiven der Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. 1978, S. 85 ff. – Sozialstaat und Gleichheit, in: Festschrift zum 25-jährigen Bestehen des Bundessozialgerichts, 1979, Bd. 2, S. 627 ff. (m. R. Pitschas) – Bundesarbeitsgericht und Arbeitsverfassung, in: Festschrift zum 25-jährigen Bestehen des Bundesarbeitsgerichts, 1979, S. 511 ff. – Verfassungsfragen zum Schutz des Nichtrauchers. Untersuchung auf der Grundlage des Nichtraucher-Schutzprogramms von Bundesregierung und Landesregierungen, Beilage 10/DB 1979 (Heft 25) – Das Verhältnis von technischer Norm und Rechtsnorm unter besonderer Berücksichtigung des Baurechts, in: DIN (Hrsg.), Technische Normung und Recht, 1979, S. 85 ff. – Der rechtliche Streit um die Aussperrung, in: Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (Hrsg.), Sonderdienst. Referate – Diskussionen – Ergebnisse der vier Arbeitskreise – Mitgliederversammlung 1979, S. 11 ff. – Die Koalitionsfreiheit des Arbeitgebers, ZfA 1980, 357 ff. – Medienfreiheit und Publikumsfreiheit, in: Festschrift für Martin Löffler, 1980, S. 355 ff. – Parlamentarischer Untersuchungsausschuß und Steuergeheimnis, AöR 105, 1980, S. 564 ff. – Die begrenzte Aussperrung – Zur neuen Aussperrungsjudikatur des BAG, DB 1980, S. 1593 ff. (m. H. Konzen) – Berufsbild und Wettbewerbsrecht – Grenzen judikativer Gestaltungen im Berufsund Gewerberecht als Maßstab lauteren Wettbewerbs im Einzelhandel, BB Beilage 1980, Nr. 5, Heft 21 – Kontrolle der Benutzung dienstlicher Telefone durch den Dienstherrn?, MittHV 1980, S. 218 ff. – Mitbestimmungsgesetz, Mitbestimmungsurteil und öffentlicher Dienst, ZBR 1980, S. 297 ff. – Schulrecht zwischen Parlament und Verwaltung. Gutachten für die Kommission Schulrecht des Deutschen Juristentages, 1980, S. 73 ff. (mit H. Bismark) – Rechtsfragen zur Verweisung zwischen Gesetz und Tarifvertrag, in: Festschrift für Gerhard Müller, 1981, S. 509 ff.

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– Das Recht auf Arbeit – Verfassungsrechtliche Grundlagen – Möglichkeiten und Grenzen der Kodifikation, in: Soziale Grundrechte 1981, S. 75 ff. – Die Berufsfreiheit als Grundlage und Grenzen arbeitsrechtlicher Regelungssysteme, ZfA 1981, S. 265 ff. – Technisierung der Verwaltung – Steuerungs- und Kontrollproblem für den demokratischen Rechtsstaat, BayVBl. 1981, S. 193 ff. – Staatliche Forschungsförderung – Mitbestimmung des Betriebsrats?, BB 1981, S. 441 ff. – Das dritte Fersehurteil des Bundesverfassungsgerichts – Zugleich Anmerkung zum Urteil des BVerfG vom 16.06.1981, JZ 1981, S. 561 ff. – Zur Frage gewerkschaftlicher Zutrittsrechte zu kirchlichen Einrichtungen, SAE 1981, 265 ff. – Unvereinbarkeit des closed shop mit der Europäischen Menschenrechtskonvention – Ein Report der Europäischen Menschenrechtskommission vom 14.12. 1979, AöR 106, 1981, S. 79 ff. – Pressefreiheit und presserechtliche Selbstkontrolle, in: Festschrift für Theodor Maunz, 1981, S. 337 ff. – Forschung an außeruniversitären Einrichtungen in Berlin, in: Martin J. Hillenbrand (Hrsg.), Die Zukunft Berlins, 1981, S. 245 ff. – Identitätsprobleme der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie, NVwZ 1982, S. 337 ff. – Eigentum im sozialen Rechtsstaat, DWW 1982, S. 137 ff. – Verfassungstreue im öffentlichen Dienst – Änderbares Verfassungsgebot?, in: Festschrift für Johannes Broermann, 1982, S. 409 ff. – Die Verwaltungsprozeßordnung im Gesetzgebungsverfahren – Die Einheit des Verwaltungsprozeßrechts aus der Sicht des Bundesrats, DVBl. 1982, S. 605 ff. – Rechtspolitik und innerer Friede in den Demokratien von Weimar und Bonn. Für Entschiedenheit – gegen falsche Duldsamkeit, Das Parlament vom 14./21.08. 1982 – Teilbare Verfassungstreue im öffentlichen Dienst?, ZBR 1982, S. 129 ff. – Nochmals: „Closed shop“ und Europäische Menschenrechtskonvention, AöR Bd. 107, 1982, S. 126 ff. – Verfassungsprobleme zur Herstellerkonkurrenz im Verfahren behördlicher Produktkontrollen, GewArch 1982, S. 345 ff. – Rechtsfrieden im Rechtsstaat – Verfassungsrechtliche Grundlagen, aktuelle Gefahren und rechtspolitische Folgerungen, NJW 83, S. 705 ff. – Medienverflechtung, AfP 83, S. 261 ff.

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– Verfassungsrechtliche Strukturfragen der Versicherungsaufsicht, ZVersWiss 1984, S. 1 ff. – Verfassungsmäßige Grenzen einer dynamischen Verweisung in einem Gesetz auf tarifvertragliche Regelungen, SAE 84, S. 3 ff. – Effektive Staatsangehörigkeit und Grundgesetz, NJW 84, S. 2721 ff. (m. R. Pitschas) – Zur Gleichbehandlung von Mann und Frau bei der Einstellung, SAE 84, S. 250 ff. – Zu den verfassungsrechtlichen Schranken des Streikrechts, SAE 84, S. 351 ff. – Landesparlamente und Bundesrat, in: Festschrift für Karl Carstens, 1984, S. 831 ff. – Perspektiven der Deutschlandpolitik, Deutschlandarchiv 1984, S. 258 ff. – Die Effektivität der deutschen Staatsangehörigkeit, in: Dieter Blumenwitz/Boris Meissner (Hrsg.), Staatliche und nationale Einheit Deutschlands – ihre Effektivität, 1984, S. 57 ff. – Technik und Recht, in: Festschrift zum 125-jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, 1984, S. 691 ff. – Der antiparlamentarische Parlamentarier, in: Festgabe zum 10-jährigen Jubiläum der Gesellschaft für Rechtspolitik, 1984, S. 385 ff. – Die Rechtsformen kommunaler Unternehmen. Teil B: Kriterien für die Wahl der Rechtsform, in: G. Püttner (Hrsg.), Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Bd. 5: Kommunale Wirtschaft, 2. Aufl. 1984, S. 128 ff. (m. R. Pitschas) – Informationstechnik zwischen Bürokratie und Datenschutz, AöR 1985, 110, S. 489 ff. (m. R. Pitschas) – Koalitionsrecht und „Neue Beweglichkeit“ im Arbeitskampf, SAE 1985, S. 33 ff. – Entbürokratisierung kontra Datenschutz?, in: Gesellschaft zur Förderung der Entbürokratisierung: Datenschutz, Entbürokratisierung und Deregulierung. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als Herausforderung an den Gesetzgeber, 1985, S. 29 ff. – Dahlmanns Bedeutung im Kampf für den deutschen Konstitutionalismus, in: W. Bürklin/W. Kaltefleiter (Hrsg.): Freiheit verpflichtet. Gedanken zum 200. Geburtstag von Friedrich Christoph Dahlmann, Kiel 1985, S. 31 ff. – Grundfragen der Deutschlandpolitik, Politik und Kultur, Heft 6, 1985, S. 3 ff. – Ist die Partnerschaft am Ende?, in: Konsistorium der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg (Hrsg.), Rechtswissenschaftliches Kolloquium Kirche und Staat zu Ehren des aus dem Amt geschiedenen Präsidenten des Konsistoriums der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg (Berlin-West) Dr. jur. Georg Flor am 01.02.1985, 1985, S. 35 ff.

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– Zu den Rechtsfolgen einer tarifvertraglichen Gleichheitssatzverletzung, SAE 1986, S. 164 ff. – 10 Jahre Strafvollzugsgesetz, BewHi 1986, S. 361 ff. – Verdeckt Verfassungsneues zur Mitbestimmung?, NJW 1986, S. 1587 ff. – Ordnungspolitische Gedanken zum Genossenschaftswesen heute. in: 125 Jahre Berliner Volksbank, 1986 – Liberal, sozial und demokratisch. Der Freiheitsbegriff des Grundgesetzes, Die Neue Ordnung 1986, S. 134 ff. – Instrumentale Beherrschung der Biotechnologie durch die Rechtsordnung, in: Gesellschaft für Rechtspolitik Trier (Hrsg.), Bitburger Gespräche. Jahrbuch 1986/1, 1986, S. 59 ff. – Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe im technischen Sicherheitsrecht und Stoffrecht, in: Rudolf Lukes (Hrsg.), Recht und Technik. Rechtliche Regelungen für Anlagen, Geräte und Stoffe im deutschen Recht und im europäischen Recht, 1986, S. 123 ff. – Rechtsfrieden in der Gesellschaft – notwendige Voraussetzung des Rechtsstaates, in: E. Röper (Hrsg.), Beiträge zur Inneren Sicherheit, 1986, S. 63 ff. – Zur Fortgeltung von Tarifverträgen bei Betriebsübergang, BAG AP Nr. 46 zu § 613 a BGB, 1986 – Straffreie Unfallflucht bei tätiger Reue? – Reformüberlegungen zu § 142 StGB, ZRP 87, S. 7 ff. – Berlin – Status und nationale Aufgabe, DÖV 1987, S. 358 ff. – Der Status Berlins, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von J. Isensee und P. Kirchhof, Bd. I, 1987, S. 351 ff. – Grundgesetzliche Arbeitsverfassung – Grundlagen und Herausforderungen, DB 87, S. 1192 ff. – Verfassungsfragen der Fortpflanzungsmedizin und Gentechnologie, in: Jahrbuch der Berliner Wissenschaftlichen Gesellschaft, 1987, S. 223 ff. – Aufgaben der Koalitionen in einer sich fortentwickelnden Unternehmensrechtsordnung. Aus der Sicht des Staatsrechts, in: Volker Beuthien (Hrsg.), Arbeitnehmer oder Arbeitsteilhaber?, 1987, S. 163 ff. – Neue Kommunikations-Technologien und Datenschutz in der öffentlichen Verwaltung, Der Landkreis 1987, S. 156 ff. – Staat und Kirche – Chancen für eine neue Partnerschaft?, in: Glaube und Politik. Die Bad Bramstedter Gespräche. Vorträge zum Dialog zwischen Kirche und Staat 1985–1986, 1987, S. 63 ff.

Ausgewähltes Schriftenverzeichnis von Rupert Scholz

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– Die Interdependenz politischer und wirtschaftlicher Ordnung. 1. Grundgesetz und Wirtschaftsordnung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Materialien zum Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland 1987, Deutscher Bundestag Drucks. 11/11, S. 26 ff. (m. E. Lieser-Triebnigg) – Organisierte Kriminalität – Entwicklung und rechtspolitische Aufgabe, in: HansDieter Schwind/Gernot Steinhilper/Edwin Kube (Hrsg.), Organisierte Kriminalität, 1987, S. 61 ff. – Bürgernahe Verwaltung, Neue Technologien – ein unüberbrückbarer Gegensatz?, in: Afheldt/Krause/v. Münch/Rabels/Scholz/Zimmermann, Die öffentliche Verwaltung im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen, neuer Wertebildung und technischem Fortschritt, 1987, S. 87 ff. – Recht des unlauteren Wettbewerbs und Verbraucherschutz, in: Festschrift 75 Jahre Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs, 1987, S. 26 ff. – Zu den Vorruhestands-Regelungen in der Chemieindustrie und der Textilindustrie, BAG AP Nr. 47 zu Art. 9 GG, 1987 – 200-jähriger Geburtstag der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika, ZRP 1988, S. 94 ff. – Verfassungswidrigkeit von § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG?, SAE 1988, S. 85 ff. – Die Zukunft Deutschlands im Gespräch, in: Institut für Auswärtige Beziehungen der Hanns-Seidel-Stiftung e. V. (Hrsg.): Internationales Politik- und Strategiesymposion 1987 „Deutschlands Weg in die Zukunft“ – Positionen zur internationalen Politik, 1988, S. 29 ff. – Staats- und Verfassungsräson in der Krise?, in: Klaus Weigelt (Hrsg.), Freiheit – Recht – Moral, 1988, S. 41 ff. – Datenschutz und innere Sicherheit, Der Kriminalist 1988, S. 53 ff. – Verfassungsfragen zur Fortpflanzungsmedizin und Gentechnologie, in: Festschrift für Rudolf Lukes, 1989, S. 203 ff. – 21. Jahrhundert – Jahrhundert der internationalen Rechtsgemeinschaft?, in: Nihon University. Comparative Law Vol. 6, 1989, S. 1 ff. – Sicherheit in Europa, in: D. A. Schmidt (Hrsg.), Dokumentation des Internationalen Politik- und Strategiesymposiums 1988 der Hanns Seidel-Stiftung e. V. in München, 1989, S. 34 ff. – Alternative Verteidigung? Die Strategie der „Spinne im Netz“, Europäische Wehrkunde 1989, S. 643 ff. – Sicherheit trotz Abrüstung?, in: Clausewitz-Gesellschaft (Hrsg.), Frieden ohne Rüstung?, 1989, S. 107 ff. – Carl Carstens, Politiker und Gelehrter, in: Carl Carstens, Vom Geist der Freiheit: Betrachtungen über Deutschland aus christlicher Verantwortung, 1989, S. 9 ff.

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– Effektiver Rechtsschutz zwischen verfassungsrechtlichem Anspruch und Leistungsgrenzen der Rechtspflege, in: Festschrift für Yoshinobu Someno, 1989, Bd. 1, S. 1 ff. – Verletzung der Gleichbehandlung von Männern und Frauen, BAG AP Nr. 6 zu Art. 3 GG, 1989 – Grundrechtsprobleme im europäischen Kartellrecht – Zur Hoechst-Entscheidung des EuGH, WuW 90, S. 99 ff. – Wie lange bis „Solange III“?, NJW 90, S. 941 ff. – Die Zustimmung des Bundesrats zu Rechtsverordnungen des Bundes, DÖV 90, S. 455 ff. – Der Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, BB-Beilage 1990, Nr. 23, S. 1 ff. – Europäische Einigung und deutsche Frage, in: Detlef Merten (Hrsg.), Föderalismus und Europäische Gemeinschaften unter besonderer Berücksichtigung von Umwelt und Gesundheit, Kultur und Bildung, 1990, S. 283 ff. – Europäisches Gemeinschaftsrecht und innerstaatlicher Verfassungsrechtsschutz, in: Europarecht und Grundgesetz, 1990, 53 ff. – Der europäische Rechtsstaat, in: Festschrift für Ernst Steindorff, 1990, S. 1413 ff. – Verfassungsrechtliche Grundlagen des Arbeitskampfrechts, ZfA 90, S. 377 ff. – Souveränität und Integration – Über Leben und Entwicklung, in: Klaus Hornung/ Vladimir Mschwenieradse (Hrsg.), Zur gegenseitigen Kenntnisnahme, 1990, S. 290 ff. – Verfassungswidriges Ausländerwahlrecht, in: Festschrift für Günter Dürig, 1990, S. 367 ff. – Landesparlamente und Bundesrat, in: D. Wilke/B. Schulte (Hrsg.), Der Bundesrat, 1990, S. 252 ff. – Sozialistischer Staat und „Sozialistische Gesetzlichkeit“, in: F. Bohl (Hrsg.), Abschied von einer Illusion, 1990, S. 83 ff. – Verfassungswege zur deutschen Einheit, DtZ-Informationen 1990, S. 1 ff. – Europäische Sicherheit und Einheit Deutschlands, Civis 1990 Heft 2/3, S. 43 ff. – Zukunftsträchtige Perspektiven. Rahmenbedingungen für die deutsche Einheit, Die Politische Meinung 1990 Jan./Feb.-Heft, S. 4 ff. – The Reunification of Germany – Treaties and Procedures, The Bulletin. Columbia University in the City of New York, August 1990 – Deutsche Frage und europäische Sicherheit. Sicherheitspolitik in einem sich einigenden Europa, Europa-Archiv 1990, S. 239 ff. – Einsatz der Bundeswehr für die Uno? Pflicht zum Beistand auch im Persischen Golf, Europäische Wehrkunde 1990, S. 580 ff.

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– Verantwortung für die Schwachen, in: F. U. Fach/F. K. Fromme/G. Nonnenmacher (Hrsg.), Das deutsche Modell, 1990, S. 102 ff. – Verfassungsfragen zur Lenkungsabgabe am Beispiel der Automatenbesteuerung, BB 1991, S. 73 ff. (mit J. Aulehner) – Neue Verfassung oder Reform des Grundgesetzes? – Grundfragen der aktuellen Diskussion, ZfA 1991, S. 683 ff. – Verfassungsfragen zur Gentechnik – Kritische Anmerkungen zum GentechnikGesetz, in: Festschrift für Horst Sendler, 1991, S. 93 ff. – Tarifautonomie, Arbeitskampf und privatwirtschaftlicher Wettbewerb, in: Festschrift für Fritz Rittner, 1991, S. 629 ff. – Grundrechtsschutz gemischt-wirtschaftlicher Unternehmen, in: Festschrift für Werner Lorenz, 1991, S. 213 ff. – Zur Wettbewerbsgleichheit von gesetzlicher und privater Krankenversicherung. Verfassungsprobleme im Zuge des innerdeutschen Einigungsvertrages, PKV-Dokumentation 14, Verband der privaten Krankenversicherung e. V. (Hrsg.), 1991 – Für Freiheit und ein föderatives Europa, in: Fritz Wiedemann (Hrsg.), Projekt Deutsche Zukunft, 1991, S. 157 ff. – Gesetzgebung und Politikgestaltung aus der Mitte der Landesparlamente, Zeitschrift für Gesetzgebung 1991, S. 26 ff. – Wissenschaft zwischen Freiheit und Verantwortung. Anmerkungen zur verfassungsrechtlichen Freiheitsgarantie von Wissenschaft und Forschung, in: W. Gerok (Hrsg.), Materie und Prozesse vom Elementaren zum Komplexen, 1991, S. 7 ff. – Revision des Grundgesetzes?, Civis 1991 (Heft 3), S. 35 ff. – Deutsche UNO-Soldaten im Spannungsfeld von Politik und Grundgesetz, in: E. Koch (Hrsg.), Die Blauhelme. Im Einsatz für den Frieden, 1991, S. 205 ff. – Politische Perspektiven Gesamteuropas, in: K. Hopt (Hrsg.), Europäische Integration als Herausforderung des Rechts: Mehr Marktrecht – Weniger Einzelgesetze, 1991, S. 361 ff. – Deutsche unter blauen Helmen? Verbietet das Grundgesetz deutsche UNO-Soldaten?, Die Neue Ordnung, 1991, S. 130 ff. – Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, AöR 117, 1992, S. 259 ff. – Grundgesetz und europäische Einigung – Zu den reformpolitischen Empfehlungen der Gemeinsamen Verfassungskommission, NJW 92, 2593 ff. – Rechtsfragen eines europäischen Binnenmarktes für Energie – Zum Richtlinienentwurf der EG-Kommission für die Gasdurchleitung, ET 1992, S. 851 ff. (m. S. Langer)

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– Der Auftrag der Kirchen im Prozeß der deutschen Einheit, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (26), Hrsg. von H. Marré und J. Stütting, Die Einigung Deutschlands und das deutsche Staat-Kirche-System, 1992, S. 7 ff. – Wie soll der deutsche Beitrag zur Sicherheit des Bündnisses aussehen?, Rissener Jahrbuch 1991, 1992, S. 473 ff. – Was soll ein reformiertes Grundgesetz leisten?, Zeitschrift zur politischen Bildung 4/1992, S. 29 ff. – Faktoren der europäischen Sicherheit, Europäische Sicherheit 1992, S. 198 ff. – Verfassungswidrige Überregierung oder parteienstaatliches Nebenregime?, in: Festschrift für Detlef Kleinert 1992, S. 66 ff. – Die Pflicht der Länder zur Bundestreue, in: Zeitthemen: Die Zukunft des Grundgesetzes, hrsg. von J. Rüttgers/E. Oswald, Bonn 1992, S. 15 ff. – Neue Friedensaufgaben für die Bundeswehr, Barett. Internationales Militärmagazin 1992/Heft 2, S. 3 ff. – Ist der Rechtsstaat überfordert? Zur strafrechtlichen Verantwortung der politisch Verantwortlichen, Zeitschrift für Politische Bildung 1992/Heft 2, S. 20 ff. – Die Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission von Deutschem Bundestag und Bundesrat zu dem neuen Art. 23 des Grundgesetzes, in: Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (Hrsg.), Das Bund-LänderVerhältnis im europäischen Einigungsprozeß, 1992, S. 19 ff. – Staatsziel Umweltschutz in das Grundgesetz? – Ein Zwischenbericht zur Verfassungsrechtsdiskussion, ET 93, S. 342 ff. – Europäische Union und Verfassungsreform, NJW 93, S. 1690 ff. – Europäische Union und deutscher Bundesstaat, NVwZ 93, S. 817 ff. – Zur Problematik der Altkreditschulden in den neuen Bundesländern, BB 93, S. 1953 ff. – Die Gemeinsame Verfassungskommission – Auftrag, Verfahren und Ergebnisse, Das Parlament Beilage 1993, Nr. 52-53, S. 3 ff. – Grundfragen zum Dualen System – Verfassungsprobleme und Erneuerung, BB 93, S. 2250 ff. (m. J. Aulehner) – Berufsbeamtentum nach der deutschen Wiedervereinigung – Die Personalstruktur der Deutschen Bundespost in den fünf neuen Ländern, Archiv PT 93, S. 5 ff. (m. J. Aulehner) – Tochtergesellschaften und Unternehmensbeteiligungen der Deutschen Bundespost Telekom im Ausland, Archiv PT 93, S. 103 ff. (m. J. Aulehner) – „Postreform II“ und Verfassung – Zu Möglichkeiten und Grenzen einer materiellen oder formellen Privatisierung der Post, Archiv PT 1993, S. 221 ff. (m. J. Aulehner)

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– Aufgaben und Grenzen einer Reform des Grundgesetzes, in: Festschrift für Peter Lerche, 1993, S. 65 ff. – Neue Staatsziele in das Grundgesetz?, Die Neue Ordnung 1993, S. 249 ff. – Das Verhältnis der Sozialpartner – Tarifautonomie in der Bewährung: Neue Fragen – Neue Offenheit, Trend 1993, Nr. 55, S. 24 ff. – Stand und Perspektiven der Verfassungsdiskussion in der Bundesrepublik Deutschland, in: J. H. Schwarz/A. Steinkamm (Hrsg.), Rechtliche und politische Probleme des Einsatzes der Bundeswehr „out of area“, 1993, S. 29 ff. – Für einen freiheitlichen Staat – Handlungsfähigkeit und Sicherheit, in: R. Göhner (Hrsg.), Freiheit und Verantwortung, 1993, S. 141 ff. – Das Grundgesetz zwischen Bewährung und Reform. Diskussionsveranstaltung der Dräger-Stiftung, 1993, S. 4 ff. (m. R. Herzog und H. J. Vogel) – Arbeitsverfassung, Grundgesetzreform und Landesverfassungsrecht, in: RdA 93, S. 249 ff. – Auch Deutschland muß UNO-Friedensaktionen mittragen, Truppenpraxis 1993, S. 127 ff. – Zur Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat, in: Klaus Stern (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung, Bd. IV. Zur Reform des Grundgesetzes, 1993, S. 5 ff. – Der Föderalismus im unitarischen Bundesstaat der Bundesrepublik Deutschland, in: J. D. Gauger/K. Weigelt (Hrsg.), Föderalismus in Deutschland und Europa, 1993, S. 20 ff. – Die politische Union. Realisierungschancen von Bundesstaat und Staatenbund, Zeitschrift Protosoziologie 1993, S. 202 ff. – Toleranz, in: H. J. Mende/E. Fromm (Hrsg.), Briefe zur Toleranz, 1993, S. 181 ff. – On the Reform of the Basic Law, taking special account of constitutional questions associated with European Unification, in: The Mentor Group (ed.), The Forum of US-EC Legal-Economic Affairs, Berlin 1993 – The Constitution between Continuity and Reform, in: Saint Louis University Law Journal 1993/94, Vol. 38 No. 2, S. 323 ff. – Constitutional and Economic Reforms in the Federal Republic of Germany following German Unification, in: The Mentor Group (ed.), The Forum for US-EC Legal-Economic Affairs, 1993, S. 10 ff. – Staatsbürgerliche Identität, in: R. Göhner (Hrsg.), Politik für die Zukunft, 1993, S. 184 ff. – Die Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat – Auftrag, Verfahrensgang und Ergebnisse, ZG 1994, S. 1 ff.

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– Das Subsidiaritätsprinzip im europäischen Gemeinschaftsrecht – Ein tragfähiger Maßstab zur Kompetenzabgrenzung?, in: Festschrift für Herbert Helmrich, 1994, S. 411 ff. – Wirksamkeit von Grundstücksverkäufen der Nationalen Volksarmee – Teil 1, VIZ 1994, S. 153 ff. – Der maßgebliche Zeitpunkt für den Ausschluß von Rückübertragungsansprüchen nach § 5 VermG, ZOV 94, S. 3 ff. – Parteien: Unterschätzte Fähigkeit zur Selbstregeneration?, in: F. Hilterhaus/ W. Kaltefleiter (Hrsg.), Deutschland: Zwischen Reformbedürftigkeit und Reformfähigkeit. Neue Solidaritätsbasis, neue Wettbewerbsstärke – Prioritätenwechsel in der Politik: Wo ansetzen, wie umsetzen?, 1994, S. 135 ff., 147 ff. – Die deutsche Sicherheitspolitik vor neuen Aufgaben in einer sich wandelnden Welt, in: Franz-Josef Strauß-Symposium, hrsg. Hanns Seidel-Stiftung, 1994, S. 134 ff. – Innere Sicherheit, in: Deutschland, wo stehst Du? Fragen an Experten, 1994, S. 147 ff. – Die Reform des Grundgesetzes – ein Resümee, Civis 1994, Heft 2/3, S. 40 ff. – Der Gestaltungsauftrag politischer Institutionen, in: P. Bocklet/G. Fels/H. Löwe (Hrsg.), Der Gesellschaft verpflichtet. Kirche und Wirtschaft im Dialog, 1994, S. 124 ff. – Federalism, Subsidiarity and Democracy, in: The European Union, 2nd EcsaWorld-Conference Bruxelles 5./6. May 1994. Conference Review and Conclusions 1994, S. 5 (ed. European Commission DG X). – Deutschland auf dem Weg zur internationalen Normalität, Der Mittler-Brief 1994, Heft 1, S. 5 ff. – Das Grundgesetz zwischen Reform und Bewahrung, in: Bad Harzburger Gespräche 1993, Hrsg. Staatsbürgerliche Stiftung Bad Harzburg e. V., 1994, S. 84 ff. – Berufspolitiker oder Politik als Beruf?, in: Festschrift für Reinhold Kreile, 1994, S. 701 ff. – Berlin – Perspektiven einer föderativen Hauptstadt, in: Berlin auf dem Weg zur Metropole?, 1994, S. 12 ff. – Deutschland in guter Werte-Verfassung?, in: Das Bremer Tabak-Collegium (Hrsg.), 1994, S. 23 ff. – Deutschland in bester Verfassung?, Mitteilungen des Übersee-Clubs Heft 7, 1994 – Wahlwerbung, in: Werbegipfel München (Hrsg.), in: R. Kreile (Hrsg.), Dokumentation ’94, Bd. 1, 1994, S. 82 ff. – Zur Zulässigkeit von Presseberichterstattung und Rundfunkberichterstattung im Gerichtssaal, NStZ 95, S. 42 ff. – Das Berlin/Bonn-Gesetz, NVwZ 95, S. 35 ff.

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– Berlin – Perspektiven einer europäischen Hauptstadt, ET 95, S. 430 ff. – Ein weltliches Wort, Zeitschrift für Evangelische Ethik 1995, S. 142 ff. – Der Rechtsstaat in der Bewährung, ThürVBl. 95, S. 1 ff. – Justizgewährleistung und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, in: Gedächtnisschrift für Eberhard Grabitz, 1995, S. 725 ff. – Die Vergütungsregelung des Stromeinspeisungsgesetzes als Mittel verfassungsmäßiger Wirtschaftslenkung und Umweltpolitik, ET 95, S. 600 ff. – Sitzblockade und Verfassung – Zur neuen Entscheidung des BVerfG, NStZ 95, S. 417 ff. – Zur deutschen Verfassung, in: Bitburger Gespräche Jahrbuch 1995, S. 139 ff. – Tarifautonomie im Umbruch – Neue Herausforderung – Wandel und Reform, in: Festschrift für Reinhold Trinkner, 1995, S. 377 ff. – EuGH – Bevorzugung von Frauen durch die Bremer Quotenregelung mit europäischem Recht nicht vereinbar, WiB 1995, S. 951 ff. (m. H. Hofmann) – Zukunft von Rundfunk und Fernsehen: Freiheit der Nachfrage oder reglementiertes Angebot, AfP 1995, S. 357 ff. (ebenfalls veröffentlicht in: Medientage München 1994. Dokumentation 94 Bd. 2, 1995, S. 25 ff.) – Europäische Union – Voraussetzungen einer institutionellen Verfassungsordnung, in: L. Gerken (Hrsg.), Europa zwischen Ordnungswettbewerb und Harmonisierung, Berlin 1995, S. 113 ff. – Inflation der Staatsziele? – Zur Verfassungsgebung in den neuen Bundesländern, in: Festschrift für Walter Remmers, 1995, S. 89 ff. – Pressefreiheit und Persönlichkeitsschutz, Medien-Dialog 1/1995, S. 15 ff. – Verfassungswerte und Wertewandel, in: A. Klein (Hrsg.), Wertediskussion im Vereinten Deutschland, 1995, S. 40 ff. – Abschied vom Politischen: Justitia als Wunderheiler?, in: H. Noske (Hrsg.), Rechtsstaat am Ende?, 1995, S. 92 ff. – Zur Kostenerstattungspflicht des Staates für gesetzliche Maßnahmen der Telefonüberwachung, ArchPT 95, S. 169 ff. – Politische Partizipation in der repräsentativen und parlamentarischen Demokratie, Politische Studien Sonderdruck 1/1995, S. 5 ff. – Pressefreiheit und Presseverantwortung, in: 125 Jahre Lensing Medien, 1995, S. 137 ff. – Deklamationen reichen nicht. Das Selbstbestimmungsrecht und die deutsche Politik, Europa Archiv 1995 Heft 4, S. 51 ff. – Mit plebiszitären Elementen gegen Politik- und Staatsverdrossenheit?, in: Zeitschrift zur politischen Bildung 1995, II. Quartal, S. 12 ff.

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– Schlanker oder verkrusteter Staat?, Trend 1995/1. (Nr. 62), S. 6 ff. – Erinnerungen – Dank – Perspektiven, in: B. Lindemann (Hrsg.), Amerika in uns. Deutsch-amerikanische Erfahrungen und Visionen, 1995, S. 265 ff. – Reform der Selbstkontrolle im Unternehmen, in: Adolf Weber-Stiftung (Hrsg.), Reform der Selbstkontrolle im Unternehmen, 1995, S. 29 ff. – Gesetzgebung in der modernen Gesellschaft – Strukturfragen und aktuelle Probleme, in: International Law Development and Reform in Korea, Koreanischdeutsches Rechtssymposion, Hrsg. Korean Public Law Association, Seoul 1995, S. 19 ff. – Deutsche Einheit und Reform des Grundgesetzes, in: International Law Development and Reform in Korea, Koreanisch-Deutsches Rechtssymposion, hrsg. Korean Public Law Association, Seoul 1995, S. 43 ff. – Deshalb ist die Kruzifix-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes verfehlt, in: B. Streithofen (Hrsg.), Das Kruzifix-Urteil, 1995, S. 341 ff. – Das Bund-Länder-Verhältnis am Beispiel der Kernenergie, ET 96, S. 386 ff. – Reduzierung der Normenflut durch qualifizierte Bedürfnisprüfung, ZRP 96, S. 404 ff. – Reformen im Haushaltsrecht – ein Beitrag zur Senkung der Staatsquote – Verwaltungsmodernisierung durch flexiblere und kostensparende Haushaltsführung, BB 96, S. 2013 ff. (m. H. Hofmann) – Zur Strafbarkeit der Verwendung von Kennzeichen einer Vereinigung, der ein vereinsrechtliches Betätigungsverbot erteilt wurde, NStZ 96, S. 602 ff. – Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz – Gesetzgeberische oder verfassungsgerichtliche Verantwortung?, AfP 96, S. 323 ff. – Die „3 plus 2“-Regel und die Transferbestimmungen des Fußballsports im Lichte des europäischen Gemeinschaftsrechts, SpuRT 96, S. 44 ff. (m. J. Aulehner) – Von der deutschen Einheit zur Europäischen Union, in: V. Schubert (Hrsg.), Deutschland in Europa. Wiedervereinigung und Integration, 1996, S. 135 ff. – Parlamentarische Demokratie – Garant politischer Stabilität und demokratischer Legitimität, in: Festschrift für Hans Klein, Bd. 1, 1996, S. 171 ff. – Bundesverfassungsgericht: Unkontrollierter Kontrolleur? Selbstkontrolle durch institutionelle Selbstbeschränkung, Universitas 1996, S. 6 ff. – Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Auswirkungen auf die Europapolitik, in: Bayer-Stiftung für deutsches und internationales Arbeits- und Wirtschaftsrecht (Hrsg.), Der Vertrag über die Europäische Union und seine Auswirkungen auf die deutsche Wirtschafts- und Arbeitsverfassung, 1996, S. 27 ff. – Das EuGH-Urteil zur Geschlechtsquotierung, Stud.Jur. 1996, Heft 2, S. 8 ff. – Staatliche Sicherheitsverantwortung zu Lasten Privater?, in: Festschrift für KarlHeinrich Friauf, 1996, S. 439 ff.

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– Gewerkschaftliche Werbung im Betrieb und während der Arbeitszeit, SAE 96, S. 320 ff. – Verkehrsüberwachung durch Private?, NJW 97, S. 14 ff. – Ist ein nicht öffentlich zugängliches Vereinsbüro eine Wohnung im Sinne von Art. 13 GG, in der ein Abhören nach § 110c Abs. 1 Nr. 2 unzulässig ist?, NStZ 1997, S. 196 ff. – „Schlankerer“ Staat tut Not – Zum Zwischenbericht des Sachverständigenrats, ET 97, S. 300 ff. – Der Sachverständigenrat „Schlanker Staat“ – Auftrag und Perspektiven, PersV 97, S. 200 ff. – Staatliche Initiative für die Dienstleistungen der Zukunft, in: K. Mangold (Hrsg.), Die Zukunft der Dienstleistung, 1997, S. 107 ff. – Weniger Staat, aber wie?, Die Politische Meinung 1997, August-Heft, S. 73 ff. – Bundesstaat in der Europäischen Union – Deutschland und Österreich im Vergleich, in: Festschrift für Günther Winkler, 1997, S. 1013 ff. – Wege zur Verschlankung des Staates, Wirtschaftsdienst 1997, S. 619 ff. – Multimedia: Zuständigkeit des Bundes oder der Länder, Festschrift für Martin Kriele, 1997, S. 523 ff. – Umwelt unter Verfassungsschutz, in: Festschrift zum 50-jährigen Bestehen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, 1997, S. 177 ff. – Karlsruhe im Zwielicht – Anmerkungen zu wachsenden Zweifeln am BVerfG, in: Festschrift für Klaus Stern, 1997, S. 1201 ff. – „Politisiertes“ Verfassungsrecht und „Depolitisierung“ durch Verfassungsrecht, DÖV 98, S. 10 ff. (m. K. Meyer-Teschendorf) – Meinungsfreiheit und allgemeines Persönlichkeitsrecht – Zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 123, 1998, S. 60 ff. (m. K. Konrad) – Zum Verhältnis von europäischem Gemeinschaftsrecht und nationalem Verwaltungsverfahrensrecht – Zur Rechtsprechung des EuGH im Fall „Alcan“, DÖV 98, S. 261 ff. – Perspektiven der europäischen Rechtsordnung, ZRP 98, S. 295 ff. (m. H. Hofmann) – Schlanker Staat tut not!, in: Festschrift für Hans F. Zacher, 1998, S. 987 ff. – Der Sachverständigenrat Schlanker Staat: Vorschläge und Umsetzungsergebnisse, PersV 1998, S. 326 ff. (m. H. Hofmann) – Der Vertrag von Amsterdam im Lichte des Artikels 23 GG, Europa-Blätter 1998, S. 3 ff. (m. H. Hofmann)

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– Das Bonner Grundgesetz und seine identitätsstiftende Wirkung im vereinten Deutschland, in: P. Kirchhof/R. Scholz/E. Werthebach (Hrsg.), Die Akzeptanz des Rechtsstaates, 1998, S. 11 ff. – Brauchen wir einen Kultur-Sonderbeauftragten? Kulturelle Vaterländer. Zeitschrift für KulturAustausch 1/1998, S. 6 – Kindschaftsreform und Grundgesetz, FPR 1998, S. 62 ff. – Europäische Gesamteinheit im Werden. Zur Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union, in: Berliner Wissenschaftliche Gesellschaft. Jahrbuch 1997, 1998, S. 163 ff. – Zur Strukturkritik an der Demokratie, in: Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.), Wege zur Erneuerung der Demokratie, 1998, S. 63 ff. – Verfassungswerte und Wertewandel, in: Katholische Erwachsenenbildung Rheinland-Pfalz (Hrsg.), Gegenwärtiges. Das Handbuch zur Diskussion um Grundwerte heute, 1998, S. 235 ff. – Das richtunggebende Politikkonzept für das nächste Jahrtausend, UiD 13, 1998, S. 6 ff. – Priklad Nemecka: Spolkovy stat v procesu zmeny, in: Konrad Adenauer-Stiftung (Hrsg.), Region – Narod – Europa, Prag 1998, S. 20 ff. – Das Bundesverfassungsgericht – Hüter der Verfassung oder Ersatzgesetzgeber?, Das Parlament 1999, Nr. 16, S. 3 ff. – Staatsangehörigkeit und Grundgesetz, NJW 99, S. 1510 ff. (m. A. Uhle) – Verfassungsgrenzen für doppelte Staatsangehörigkeit, DRiZ 1999, S. 175 ff. – Steuerstaat und Rechtsstaat, in: Festschrift für Walter Leisner, 1999, S. 797 ff. – Berufsständische Altersversorgung oder gesetzliche Rentenversicherung: Gesetzgeberische Umgestaltung, in: Festschrift für Rolf Bialas, 1999, S. 75–91 – Zulassung von Frauen zum Dienst an der Waffe, RIW 2000, S. 222 ff. – Der Verfassungsstaat im Wandel: Europäisierung der Verfassung im Prozeß der Verfassung Europas, dargestellt am Beispiel des Grundgesetzes, in: U. Battis/ P. Kunig/I. Pernice/A. Randelzhofer (Hrsg.), Das Grundgesetz im Prozeß europäischer und globaler Verfassungsentwicklung, 2000, S. 21 ff. – Tarifautonomie zwischen Allgemeinverbindlicherklärung und Staatsdiktat – Zur Verfassungsproblematik des neuen Arbeitnehmerentsendegesetzes, Festschrift für Klaus Vogel, 2000, S. 375 ff. – Mediengestaltung – Zukunftsgestaltung oder Wettbewerbshindernis?, ZG 2000, S. 75 ff. – 10 Jahre Verfassungseinheit – Nachlese und Ausblick, DVBl. 2000, S. 1377 ff. – Die Stellung der Sachverständigen im Rechtsleben, Der Sachverständige 2000, Heft 4, S. 10 ff.

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– Frauen an die Waffe kraft Europarechts?, DÖV 2000, 417 ff. – Europäische Union – Mehr Bürokratie und weniger Freiheiten?, in: Blue Band, 2000, S. 17 ff. – Für ein Sachverständigengesetz!, ZG 2000, 221 ff. – Strafbarkeit juristischer Personen?, ZRP 2000, 435 ff. – Staatsleitung im parlamentarischen Regierungssystem, in: Festschrift 50 Jahre BVerfG, 2. Bd., 2001, S. 663 ff. – Legalität und Legitimität im demokratischen Rechtsstaat, in: H. Bühl/E. Stammler (Hrsg.), Streit um den Frieden, 2001, S. 87 ff. – 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beil. Das Parlament B 37/38, 2001, S. 6 ff. – Freiheitlicher Binnenmarkt oder diktierte Marktstruktur? Zur neuen Gasrichtlinie der EG, ET 2001, S. 678 ff. – Regelungssystem und Grenzen verwaltungsrechtlicher Monopole – Am Beispiel des Postwesens –, Festschrift für Werner Lorenz, 2001, S. 261 ff. – Vergabe öffentlicher Aufträge nur bei Tarifvertragstreue?, RdA 2001, 193 ff. – Koalitionsfreiheit, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI, 2. Aufl. 2001, S. 1115 ff. – Zur Europäischen Grundrechtscharta, in: Festschrift für Hartmut Maurer, 2001, S. 993 ff. – „Eingetragene Lebenspartnerschaft“ und Grundgesetz, NJW 2001, 393 ff. (mit A. Uhle). – Vergabe öffentlicher Aufträge nur bei Tarifvertragstreue?, RdA 2001, 193 ff. – Zur Legitimität militärischer humanitärer Interventionen, Gneisenau-Blätter 2001, 55 ff. – Unser Rechtsstaat: Verfassungsprinzip und Politikauftrag, in: Festschrift für Rainer Voss, 2001, S. 167 ff. – Verfassungsgerichtsbarkeit im gewaltenteiligen Rechtsstaat, in: U. Karpen (Hrsg.), Der Richter als Ersatzgesetzgeber, 2002, S. 15 ff. – Europäisches Wettbewerbsrecht zwischen Machtkontrolle und Industriepolitik am Beispiel der Unbundling-Regelungen im Energiewirtschaftsrecht, in: J. Schwarze (Hrsg.), Instrumente zur Durchsetzung des europäischen Wettbewerbsrechts, 2002, S. 11 ff. – Migrationssteuerung oder postnationale Gesellschaft?, in: Festschrift für Rudolf Seiters, 2002, S. 165 ff. – Sozialstaat und Globalisierung, in: Festschrift für Hartmut Steinberger, 2002, S. 611 ff.

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– „Reformismus“ statt wirklicher Reformen, ZRP 2002, S. 361 f. – Zur Alterungsrückstellung in der privaten Krankenversicherung, in: Festschrift für Bernd v. Maydell, 2002, S. 633 ff. – Legal Unbundling in der Energiewirtschaft, GWA 2002, S. 681 ff. – Staatsaufgabenkritik in Berlin, in: Festschrift für Wilfried Brohm, 2002, S. 741 ff. – Voraussetzungen und Grenzen plebiszitärer Demokratie, in: U. Willems (Hrsg.), Demokratie auf dem Prüfstand, 2002, S. 83 ff. – Wege zur europäischen Verfassung, ZG 2002, S. 1 ff. – Neue Biotechnik und Grundgesetz, in: Festschrift für Jürgen Baur, 2002, S. 673 ff. – Schlanker Staat tut not, Forum. Zeitschrift des Bundes der öffentlich bestellten Vermessungsingenieure, 2002, S. 394 ff. – Aktuelle Reformfragen: Neue Sicherheitsaufgaben – Notwendigkeit einer „Gesamtverteidigung“, hrsg. von National Defense University (National Defense Mangement College), Taipeh 2002 – Alemania: cincuenta anos de Corte Constitutional Federal, in: K. Adenauer-Stiftung (Hrsg.), Anuario de Derecho Constitutional Latinoamericano, Montevideo 2002, S. 57 ff. – Grundgesetzliches Menschenbild und Staatsziel „Tierschutz“, in: Festschrift für Christoph Link, 2003, S. 943 ff. – Die Wahl der Bundesrichter, in: Festgabe 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, 2003, S. 151 ff. – „Freies Gerichtsvollziehersystem“ und Verfassung, DGVZ 2003, S. 97 ff. – Muß das Ergebnis der Bundestagswahl 2002 korrigiert werden?, ZRP 2003, 39 ff. (m. H. Hofmann) – Selbstverwaltung der Wirtschaft als staatspolitisches Prinzip, in: Festschrift für Winfried Tilman, 2003, S. 977 ff. – Eine Verfassung für Europa – Zum Verfassungskonvent der Europäischen Union, KAS/Auslandsinformationen 8/2003, S. 4 ff. – Individualer oder kollektiver Rechtsschutz?, ZG 2003, S. 248 ff. – Der 11. September 2001: Wendepunkt in der nationalen wie internationalen Sicherheitspolitik, in: Festschrift für Michael Stürmer, 2003, S. 469 ff. – Das institutionelle System im Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa, in: J. Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Verfassungskonvents, 2004, S. 101 ff. – Das bundesstaatliche System der Bundesrepublik Deutschland muß reformiert werden, Der Landkreis 2004, S. 31 ff.

Ausgewähltes Schriftenverzeichnis von Rupert Scholz

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– Zur Reform des bundesstaatlichen Systems, in: Festschrift für Peter Badura, 2004, S. 491 ff. – Terrorism is a threat to the mankind of a global scale, in: WAAF, 2. International Conference, World Community against the globalisation of crime and terrorism, Moskau 2004, S. 27 ff., 257 ff. – Dem reißenden Strom entkommen – Neue Beurteilungsgrundlagen und Steuerungspotentiale in einer dynamisierten Welt, in: W. Staudacher (Hrsg.), In einer dynamischen Welt. Grundlagen und Optionen für eine zukunftsfähige Politik, 2005, S. 69 ff. – Zur nationalen Handlungsfähigkeit in der Europäischen Union. Oder: Die notwendige Reform des Art. 23 GG, in: Festschrift für Manfred Zuleeg, 2005, S. 274 ff. – Nationale und europäische Grundrechte – Zum Verhältnis von Grundgesetz und Europäischer Grundrechtscharta, in: Festschrift für Andreas Heldrich, 2005, S. 1311 ff. – Das grundgesetzliche Sozialstaatsprinzip und seine Konkretisierung im Bundesstaat, in: M. Borchard/U. Margedant (Hrsg.), Sozialer Bundesstaat, 2005, S. 11 ff. – El rol de los portidos politicos segu´n la consticución alemana – ley y realidad, in: Konrad Adenauer-Stiftung (Hrsg.), Seminario Internacional „El rol de los partidos politicos, una visión consticucional aktualizada“, Montevideo 2005, S. 1 ff. – Zum Verfassungsprinzip des „sozialen Bundesstaats“, in: Festschrift für Reinhard Mußgnug, 2005, S. 19 ff. – Die Verteidigungspolitik der CDU/CSU. Die Verteidigungsminister von Theodor Blank bis Volker Rühe, in: K.-J. Bremen/H.-H. Mack/M. Rink (Hrsg.), Entschieden für den Frieden. 50 Jahre Bundeswehr 1955–2005, 2005, S. 379 ff. – Europäisches Verfassungsrecht I–III, in: Ritsumeikan Law Review, Kyoto, Nr. 23, 2006, S. 31 ff., 45 ff., 63 ff. – Das parlamentarische und bundesstaatliche Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland. Strukturen und Reformfragen, in: Ritsumeikan Law Review, Kyoto, Nr. 23, 2006, S. 21 ff. – Terrorismusbekämpfung im demokratischen Rechtsstaat, in: Festschrift für Jürgen Meyer, 2006, S. 177 ff. – Die zukünftigen Kompetenzen der Europäischen Union. Über die Vorschläge des Konvents, in: M. Zuleeg (Hrsg.), Die neue Verfassung der Europäischen Union, 2006, S. 9 ff. – Los partidos politicos en el sisteme constitucional de la Republica Federal de Alemania. Fundamentos juridico – constitutionales y realidad constitucional, in: Konrad-Adenauer-Stiftung (Hrsg.), Anuario de Derecho Constitucional Latinoamericano, Montevideo 2006 Tomo II, S. 171 ff.

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Ausgewähltes Schriftenverzeichnis von Rupert Scholz

– Steuerbefreiung für Biodiesel – Vertrauensschutz bei geplanten Änderungen, ET 2006, S. 6 ff. (m. B. Hildebrandt) – Supranationale Dienstleistungsfreiheit und nationales Verwaltungsrecht – Zur geplanten Dienstleistungs-Richtlinie der Europäischen Union, in: Festschrift für Reiner Schmidt, 2006, S. 169 ff. – Verfassungsrechtliche Grenzen europäischer Wettbewerbspolitik im Flughafenrecht?, in: R. Scholz/C. Moench (Hrsg.), Flughäfen in Wachstum und Wettbewerb, 2007, S. 39 ff. – Verfassungsrechtliche Grenzen der Insolvenz gesetzlicher Krankenkassen, Die Ersatzkasse 2006, S. 473 f. (m. R. Buchner)

Verzeichnis der Autoren Konrad Adam: Redaktion „DIE WELT“, Berlin Josef Aulehner: Privatdozent Dr. iur., Rechtswissenschaftliche Fakultät, Institut für Politik und Öffentliches Recht, Ludwig-Maximilians-Universität München Peter Badura: Univ.-Prof. em. Dr. iur., Rechtswissenschaftliche Fakultät, LudwigMaximilians-Universität München Ulrich Becker: Prof. Dr. iur., LL.M. (EHI), Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Sozialrecht, München Michael Brenner: Univ.-Prof. Dr. iur., Rechtswissenschaftliche Fakultät, Lehrstuhl für Deutsches und Europäisches Verfassungs- und Verwaltungsrecht, Friedrich-Schiller-Universität Jena Thomas von Danwitz: Univ.-Prof. Dr. iur., Rechtswissenschaftliche Fakultät, Institut für Öffentliches Recht und Verwaltungslehre, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Europarecht, Universität zu Köln Otto Depenheuer: Univ.-Prof. Dr. iur., Rechtswissenschaftliche Fakultät, Seminar für Staatsphilosophie und Rechtspolitik, Lehrstuhl für Allgemeine Staatslehre, Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie, Universität zu Köln Thomas Goppel: MdL, Staatsminister, Bayerisches Staatsministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst, München Peter Häberle: Univ.-Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult., Geschäftsführender Direktor des Bayreuther Institutes für Europäisches Recht und Rechtskultur sowie der Forschungsstelle für Europäisches Verfassungsrecht, Universität Bayreuth Peter Hanau: Univ.-Prof. Dr. em. Dres. h.c., Forschungsinstitut für Deutsches und Europäisches Sozialrecht an der Universität zu Köln Sibylle von Heimburg: Dr. iur., Richterin am Bundesverwaltungsgericht, Leipzig Matthias Herdegen: Univ.-Prof. Dr. iur., Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät, Direktor des Instituts für Öffentliches Recht und des Instituts für Völkerrecht; Direktor des Internationalen Lateinamerikazentrums; Mitglied im Zentrum für Europäisches Wirtschaftsrecht, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Roman Herzog: Univ.-Prof. em. Dr. iur., Bundespräsident a. D., München Wolfgang Hoffmann-Riem: Univ.-Prof. Dr. iur., LL.M., Richter des Bundesverfassungsgerichts Karlsruhe, Forschungsstelle für Recht und Innovation, Fakultät für Rechtswissenschaft, Universität Hamburg

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Verzeichnis der Autoren

Hans Hofmann: Dr. iur., Ministerialdirigent, Gruppenleiter im Bundeskanzleramt (Innen u. Recht), Berlin Peter M. Huber: Univ.-Prof. Dr. iur., Rechtswissenschaftliche Fakultät, Institut für Politik und Öffentliches Recht, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Staatsphilosophie, Ludwig-Maximilians-Universität München Josef Isensee: Univ.-Prof. em. Dr. Dr. h. c., Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Hans D. Jarass: Univ.-Prof. Dr. iur., LL.M. (Harvard), Rechtswissenschaftliche Fakultät, Direktor des Instituts für Umwelt- und Planungsrecht, Wilhelms-Universität Münster Ulrich Karpen: Univ.-Prof. Dr. iur., Fachbereich Rechtswissenschaft, Seminar für Öffentliches Recht und Staatslehre, Forschungsstelle für Kulturverfassungs- und -verwaltungsrecht, Universität Hamburg Volker Kauder: MdB, Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Berlin Ferdinand Kirchhof: Univ.-Prof. Dr. iur., Juristische Fakultät, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Finanz- und Steuerrecht, Eberhard-Karls-Universität Tübingen Hans H. Klein: Univ.-Prof. em. Dr. iur., Richter des Bundesverfassungsgerichts a. D., Universität Göttingen Michael Kloepfer: Univ.-Prof. Dr. iur., Juristische Fakultät, Lehrstuhl für Staatsund Verwaltungsrecht, Europarecht, Umweltrecht, Finanz- und Wirtschaftsrecht, Humboldt-Universität Berlin Helmut Kohl: Dr. phil., Bundeskanzler a. D., Berlin Karlheinz Konrad: Regierungsdirektor, z. Zt. Bundesfinanzhof, München Stefan Korioth: Univ.-Prof. Dr. iur., Rechtswissenschaftliche Fakultät, Institut für Politik und Öffentliches Recht, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Kirchenrecht, Ludwig-Maximilians-Universität München Moris Lehner: Univ.-Prof. Dr. iur., Rechtswissenschaftliche Fakultät, Institut für Politik und Öffentliches Recht, Lehrstuhl für Öffentliches Wirtschafts- und Steuerrecht, Ludwig-Maximilians-Universität München Walter Leisner: Univ.-Prof. em. Dr. mult. Dr. iur. h. c., Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Peter Lerche: Univ.-Prof. em. Dr. iur. Dr. h. c., Rechtswissenschaftliche Fakultät, Ludwig-Maximilians-Universität München Christoph Link: Univ.-Prof. em. Dr. iur. Dres. theol. h. c., Hans-Liermann-Institut für Kirchenrecht, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Manfred Löwisch: Univ.-Prof. Dr. iur. Dr. h. c., Rechtswissenschaftliche Fakultät, Leiter der Forschungsstelle für Hochschularbeitsrecht, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br.

Verzeichnis der Autoren

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Dieter Lorenz: Univ.-Prof. em. Dr. iur., Fachbereich Rechtswissenschaften, Universität Konstanz Bernd Baron von Maydell: Univ.-Prof. em. Dr. iur., Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät, Rheinische-Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Wissenschaftliches Mitglied des Max-Planck-Insituts für ausländisches und internationales Sozialrecht, München Klaus Meyer-Teschendorf: Dr. iur., Ministerialrat, Referat IS 5, Bundesministerium des Innern, Bonn Christoph Moench: Prof. Dr. iur., Partner, Rechtsanwälte Gleiss/Lutz, Berlin Wernhard Möschel: Univ.-Prof. Dr. iur., Juristische Fakultät, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Europarecht und Rechtsvergleichung, Universität Tübingen Markus Möstl: Univ.-Prof. Dr. iur., Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Lehrstuhl für Öffentliches Recht II, Universität Bayreuth Peter-Christian Müller-Graff: Univ.-Prof. Dr. iur. Dr. iur. h.c., Institut für deutsches und europäisches Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Klaus Naumann: Dr. h. c., General a. D., Generalinspekteur der Bundeswehr a. D. Fritz Ossenbühl: Univ.-Prof. em. Dr. iur., Rechtswissenschaftliche Fakultät, Institut für Öffentliches Recht, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Hans-Jürgen Papier: Univ.-Prof. Dr. iur. Dres. h. c., Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Karlsruhe; Institut für Politik und Öffentliches Recht, Ludwig-Maximilians-Universität München Rainer Pitschas: Univ.-Prof. Dr. iur. Dr. h. c., Dipl.-Vw., Lehrstuhl für Verwaltungswissenschaft, Entwicklungspolitik und Öffentliches Recht, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Albrecht Randelzhofer: Univ.-Prof. em. Dr. iur., Fachbereich Rechtswissenschaft, Freie Universität Berlin Reinhard Richardi: Univ.-Prof. em. Dr. iur., Juristische Fakultät, Lehrstuhl für Arbeits- und Sozialrecht, Bürgerliches Recht und Handelsrecht, Universität Regensburg Franz Jürgen Säcker: Univ.-Prof. Dr. iur. Dr. rer. pol. Dr. h. c., Fachbereich Rechtswissenschaft, Institut für deutsches und europäisches Wirtschafts-, Wettbewerbs- und Energierecht, Lehrstuhl für Zivilrecht, Freie Universität Berlin Wolfgang Schäuble: Dr. iur., MdB, Bundesminister des Innern, Berlin Reiner Schmidt: Univ.-Prof. em. Dr. iur., Juristische Fakultät, Universität Augsburg Eberhard Schmidt-Aßmann: Univ.-Prof. em. Dr. iur. Dr. h. c., Juristische Fakultät, Institut für deutsches und europäisches Verwaltungsrecht, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

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Verzeichnis der Autoren

Edzard Schmidt-Jortzig: Univ.-Prof. em. Dr. iur., Bundesminister a. D., Juristisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Matthias Schmidt-Preuß: Univ.-Prof. Dr. iur., Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät, Institut für Öffentliches Recht, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Hans-Peter Schneider: Univ.-Prof. Dr. iur. Dr. h.c., FB Rechtswissenschaften, Universität Hannover, Geschäftsführender Direktor des Deutschen Instituts für Föderalismusforschung e.V., Hannover Jörg Schönbohm: Stellvertretender Ministerpräsident und Innenminister des Landes Brandenburg, Potsdam Jürgen Schwarze: Univ.-Prof. Dr. iur., Institut für Öffentliches Recht, Lehrstuhl für deutsches und ausländisches Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht, Direktor der Abteilung für Europa- und Völkerrecht, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. Rudolf Seiters: Dr. rer. pol. h. c., Präsident des Deutschen Roten Kreuzes, Bundesminister a. D., Bundestagsvizepräsident a. D., Berlin Christian Starck: Univ.-Prof. em. Dr. iur. utr., Juristisches Seminar, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Georg-August-Universität Göttingen Klaus Stern: Univ.-Prof. em. Dr. iur. Dr. h. c., Geschäftsführender Direktor des Instituts für Rundfunkrecht an der Universität zu Köln Rolf Stober: Univ.-Prof. Dr. iur. Dr. h. c. mult., Geschäftsführender Direktor des Instituts für Recht der Wirtschaft, Arbeitsbereich Öffentliches Recht, Universität Hamburg Edmund Stoiber: Dr. iur., Ministerpräsident des Freistaates Bayern, München Rudolf Streinz: Univ.-Prof. Dr. iur., Rechtswissenschaftliche Fakultät, Institut für Politik und Öffentliches Recht, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Europarecht, Ludwig-Maximilians-Universität München Arnd Uhle: Privatdozent Dr. iur., Rechtswissenschaftliche Fakultät, Institut für Politik und Öffentliches Recht, Ludwig-Maximilians-Universität München Andreas Voßkuhle: Univ.-Prof. Dr. iur., Rechtswissenschaftliche Fakultät, Direktor des Instituts für Staatswissenschaft und Rechtsphilosophie, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. Dieter Wilke: Univ.-Prof. em. Dr. iur., Präsident des Oberverwaltungsgerichts Berlin a. D., Fachbereich Rechtswissenschaft, Freie Universität Berlin Heinrich Amadeus Wolff: Univ.-Prof. Dr. iur., Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Staatsrecht und Verfassungsgeschichte, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt a. d. Oder Hans F. Zacher: Univ.-Prof. em. Dr. iur., Rechtswissenschaftliche Fakultät, Ludwig-Maximilians-Universität München; Wissenschaftliches Mitglied des MaxPlanck-Instituts für ausländisches und internationales Sozialrecht, München