Was wir uns schulden: Freiheit und Pflichten gegen sich selbst 9783495999790, 9783495492512


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1. Was wir uns schulden – Konturen einer Frage
1.1 Verbindliche Selbstbezüglichkeiten. Pflicht gegen sich selbst und Selbstsorge
1.2 Schwierigkeiten mit den Pflichten gegen sich selbst
1.3 Zur Denkbarkeit von Pflichten gegen sich selbst
2. Freiheit als Grund der Pflichten gegen sich selbst
2.1 Suizid und die Herrschaft der (Un)Freiheit
2.2 Freiheit als Imperativ der Menschheit in einer jeden Person
2.3 Freiheit als freie Selbstbindung
3. Ethik des Futur II
3.1 Erzähltes Selbst und späteres Selbst
3.2 Wahrhaftigkeit, Versprechen und Authentizität
3.3 Lügen gegen andere als Verstoß gegen Pflichten gegen sich selbst
4. Gewahrte Haltung
4.1 Tugend und Haltung. Widerständigkeiten gegen Weltverlust
4.2 Halt/los. Haltung, Zeitlichkeit und Interpersonalität
4.3 Resubjektivierung als Wiedergewinn von Haltung
5. Grenzen der Pflichten gegen sich selbst
5.1 Heiligkeit als Limesgestalt
5.2 Vorsehungsglaube und Andersseinkönnen
5.3 Letzte Freiheit? Suizid und Pflichten gegen sich selbst
6. Was wir uns schulden – was wir einander schulden. Für eine Rehabilitierung der Pflicht
Literaturverzeichnis
Namensregister
Sachregister
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Was wir uns schulden: Freiheit und Pflichten gegen sich selbst
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Jochen Schmidt

Was wir uns schulden Freiheit und Pflichten gegen sich selbst

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ALBER THESEN

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Jochen Schmidt

Was wir uns schulden Freiheit und Pflichten gegen sich selbst

Verlag Karl Alber Baden-Baden https://doi.org/10.5771/9783495999790 .

Jochen Schmidt What we owe ourselves Freedom and duties against oneself Our duty against ourselves is to live in such a way that a certain part of ourselves can agree to the life we live. This part of ourselves is our imagined future self. We owe to ourselves to protect our future self’s freedom from corruptions. This is possible if the very social dynamics which can compromise our freedom if we disobey our duties against ourselves are taken up in way that facilitates the protection of our freedom.

The author: Jochen Schmidt studied Protestant theology in Bonn and Oxford, received his doctorate and habilitation from the University of Bonn, and has been a professor of systematic theology, ethics, and philosophy of religion at the University of Paderborn since 2013. His research focuses on fundamental questions of theology and ethics.

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Jochen Schmidt Was wir uns schulden Freiheit und Pflichten gegen sich selbst Man hört und sagt nicht selten, dass Menschen sich selbst bestimmte Dinge schulden. Aber was schulden wir uns eigentlich? Worin sind unsere ›Pflichten gegen uns selbst‹ begründet, wo verlaufen ihre äußersten Grenzen, z. B. mit Blick auf die ethische Bewertung des Suizids, und vor allem: Inwiefern trägt es zur ethischen Selbstorientierung bei, nicht nur zu fragen, was wir einander schulden, sondern eben auch, was wir uns selbst schulden? Zeitlichkeit, Wahrhaftigkeit, das Wahren von Haltung und vor allem unsere Freiheit, aus der, mit Kant gesprochen, alle unsere Pflichten »fließen«, erweisen sich als entscheidende Koordinaten für den Versuch, diese Fragen zu beantworten.

Der Autor: Jochen Schmidt hat in Bonn und in Oxford Evangelische Theologie studiert, wurde an der Universität Bonn promoviert und habilitiert und ist seit 2013 Professor für Systematische Theologie, Ethik und Religionsphilosophie an der Universität Paderborn. Seine Forschungsschwerpunkte sind Grundlegungsfragen der Theologie und der Ethik.

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Alber-Reihe Thesen Band 85

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © VERLAG KARL ALBER – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2022 Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper www.verlag-alber.de

ISBN 978-3-495-49251-2 (Print) ISBN 978-3-495-99979-0 (ePDF)

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Inhaltsverzeichnis

1.

Was wir uns schulden – Konturen einer Frage . . 1.1 Verbindliche Selbstbezüglichkeiten. Pflicht gegen sich selbst und Selbstsorge . . . . . . 1.2 Schwierigkeiten mit den Pflichten gegen sich selbst 1.3 Zur Denkbarkeit von Pflichten gegen sich selbst . .

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Freiheit als Grund der Pflichten gegen sich selbst . . . 2.1 Suizid und die Herrschaft der (Un)Freiheit . . . . . . . . 2.2 Freiheit als Imperativ der Menschheit in einer jeden Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Freiheit als freie Selbstbindung . . . . . . . . . . . . . .

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3.

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2.

Ethik des Futur II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3.1 Erzähltes Selbst und späteres Selbst . . . . . . . . . . . 3.2 Wahrhaftigkeit, Versprechen und Authentizität . . . . . 3.3 Lügen gegen andere als Verstoß gegen Pflichten gegen sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4.

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Gewahrte Haltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4.1 Tugend und Haltung. Widerständigkeiten gegen Weltverlust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Halt/los. Haltung, Zeitlichkeit und Interpersonalität . . . 4.3 Resubjektivierung als Wiedergewinn von Haltung . . . .

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5.

Grenzen der Pflichten gegen sich selbst . . . . . . 5.1 Heiligkeit als Limesgestalt . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Vorsehungsglaube und Andersseinkönnen . . . . . . 5.3 Letzte Freiheit? Suizid und Pflichten gegen sich selbst

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Inhaltsverzeichnis

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

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1. Was wir uns schulden – Konturen einer Frage Helmer: Oh es ist empörend. So kannst du dich über deine heiligsten Pflichten hinwegsetzen. Nora: Was hältst du für meine heiligsten Pflichten? Helmer: Das muss ich dir erst sagen? Sind es nicht die Pflichten gegen deinen Mann und deine Kinder? Nora: Ich habe andere, ebenso heilige Pflichten. Helmer: Das hast du nicht. – Welche Pflichten sollten das wohl sein? Nora: Die Pflichten gegen mich selbst. 1

Pflichten gegen sich selbst fristen in unseren Tagen ein Schattendasein. Für Christian Wolff, Jean-Jacques Rousseau, Georg Friedrich Meier und Immanuel Kant galt so selbstverständlich und unverrückbar, dass Menschen sich selbst etwas schulden, ja dass ihre erste Pflicht ihre Pflicht gegen sich selbst sei, wie es Schopenhauer unsinnig schien, dergleichen denken zu wollen. 2 Thomas von Aquin ringt mit der in seinen Augen offensichtlich erklärungsbedürftigen Tatsache, dass die Zehn Gebote keine Pflichten des Menschen gegen sich selbst benennen, was in seinen Augen den Anschein der Unvollständigkeit erweckt. Thomas hält schließlich fest, die Pflichten des Menschen gegen sich selbst seien nicht in derselben Weise evident wie die Pflichten gegen andere, womit aber eben doch mitgesagt ist, dass er die Existenz von Pflichten gegen sich selbst grundsätzlich voraussetzt. 3 Die von Willies Browne angefertigte gekürzte Fassung des für Denker wie David Hume prägenden Erbauungsbuches The Whole Duty of Man, dessen ursprüngliche Fassung vermutlich von Richard Allestree stammt, führt die Pflichten gegen sich selbst im Titel. 4 So Ibsen, Nora (Ein Puppenheim), Dritter Akt, 89. Vgl. Wolff, Grundsätze des Natur- und Völkerrechts, §§ 103–132; Meier, Philosophische Sittenlehre. Anderer Theil, 336–668 (§§ 383–521); Rousseau, Emile, 515. Zu Kant und Schopenhauer s. u. Abschn. 2.1. 3 STh I-II q100 a5 (= Die Deutsche Thomas Ausgabe, Bd. 13, 209, 214 f.). 4 Anon., The Whole Duty of Man Consider’d under its Three Principal and General Divisions, Namely, The Duties We Owe to God, Our Selves, and Neighbours. Der entsprechende Abschnitt ist überschrieben: »Of our Duty to our Selves« (ebd., 21– 1 2

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spricht Hume auch die Pflichten gegen sich selbst an, beansprucht allerdings in seiner Diskussion des Suizids zeigen zu können, dass die Vorstellung, es gäbe solche, wirkungslos ist. 5 In der neueren Zeit versiegt dann das Interesse daran, die Existenz von Pflichten gegen sich selbst überhaupt zu bestreiten oder zu verteidigen, nahezu vollständig. Kurzzeitig ziehen in den 1960er Jahren Pflichten gegen sich selbst die Aufmerksamkeit analytisch-philosophischer Reflexion neuerlich auf sich und provozieren ein recht formalistisches Florett, dessen nunmehr kaum jenseits pflichtschuldiger Fußnoten gedacht wird. 6 Das weitgehende Desinteresse an Pflichten gegen sich selbst dürfte vor allem darin gründen, dass unklar ist, was sie leisten könnten. Pflichten gegen sich selbst wirken überflüssig, denn scheinbar muss man niemanden, dem am eigenen Wohl gelegen ist, erst noch ermahnen, für sich selbst Sorge zu tragen; sie wirken zahnlos, denn scheinbar fehlt ihnen eine normative Kraft, die es vermöchte, Personen in ihren Handlungen wirksam zu binden. Man muss Umwege auf sich nehmen, wenn man entdecken können will, dass dieser Schein trügt und dass die Frage, was wir uns schulden, so ganz gehaltlos doch nicht ist; man muss Spuren aufnehmen, die in den Quellen zuweilen nur angelegt, aber nicht weiter verfolgt werden. Eine solche Spur scheint in dem zitierten Wortwechsel in Ibsens Drama Nora auf. Pflichten gegen sich selbst leisten, genauer: begründen Widerstand. Am Widerstand der Pflichten gegen sich selbst, die die Figur Nora für sich in einer sehr folgenreichen Auseinandersetzung mit ihrem Ehemann Helmer in Anspruch nimmt, bricht Helmers Bemächtigung ihrer Freiheit im Namen überkommener Rollenzuschreibungen. Dies ist der Struktur nach die maßgebliche Leistung der Pflichten gegen sich selbst als einer Dimension ethischer Reflexion. Pflichten gegen sich selbst begründen Widerstand gegen Kompromittierungen von Freiheit. Daraus beziehen sie 28). Zu Pflichten gegen sich selbst bei Hume vgl. ders., Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral, 75 (M 6,13). 164 (M App4.22). 5 Vgl. Hume, Über den Freitod, 24 f. 6 Eine Ausnahme ist die Monografie von Schofield, Duty to Self. Dazu ausführlich: Schmidt, Rez. Paul Schofield, Duty to Self. Vgl. ferner die neueren Inanspruchnahmen von Pflichten gegen sich selbst bei Schaber, Unveräußerliche Menschenwürde, v. a. 118–125; Hoesch, Pflichten gegen sich selbst und die Frage nach dem guten Leben; Goertz, Rückkehr der Pflichten gegen sich selbst?; Lohmar, Gibt es Pflichten gegen sich selbst?; Bormann, Von der Verbotsmoral zur christlichen Liebenskunst, 460–464.

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ihre normative Kraft. Pflichten gegen sich selbst dienen der Freiheit, indem sie der Freiheit kraft der ihnen eigenen Verbindlichkeit einen Schutzraum errichten. Dies bedeutet, dass, wie noch näher zu entwickeln sein wird, die Verbindlichkeit der Pflichten gegen sich selbst gerade von einem Zwang, der Freiheit erstickt, zu unterscheiden ist. Auf dem schmalen Grat zwischen verbindlicher Forderung und Zwang muss die Entfaltung der Pflichten gegen sich selbst ihren Weg finden. Pflichten fordern Handlungen, und zwar jene, die aus moralischen Gründen geboten sind, und sie fordern Haltungen, und zwar solche, die einzunehmen oder wenigstens einzuüben aus moralischen Gründen geboten ist. Pflichten sind Pflichten, weil sie nicht fragen, ob jemand will, sondern gebieten, dass und was jemand soll. Max Scheler schreibt den Pflichten nicht ohne jeden Grund einen repressiven Charakter zu, und er behauptet nicht ohne jeden Grund, wer von Pflichten rede, misstraue dem Menschen und halte dem Menschen das Nichtseinsollen seines Strebens vor. 7 Pflichten gegen sich selbst fordern jedoch nicht nur, und ihr Sinn liegt nicht darin, dass sie zwingen, sondern in dem, was sie geben können. Pflichten können ein Geländer sein, das Halt gibt, wenn spontane Neigungen davon zu wenig bieten, denn sie können davon entlasten, den Antrieb zum gedeihlichen Handeln allein aus sich selbst schöpfen zu müssen. Sie können vor der Unfreiheit schützen, in die einem Mangel an innerem Antrieb geschuldete Unterlassungen ungewollt führen können. Pflichten setzen einen Widerstand gegen Kompromittierungen von Freiheit. Das gilt für Kompromittierungen der Pflichten im Zusammenhang interpersonaler Verhältnisse, wie in den aus Ibsens Drama zitierten Zeilen zur Geltung kommt, und es gilt auch für innerpersonale Verhältnisse. Das Wechselspiel von inner- und interpersonalen Verhältnissen wird sich – neben Freiheit und Zeitlichkeit – als ein Leitmotiv der Frage nach den Pflichten gegen sich selbst herauskristallisieren. Die Frage, was wir uns schulden, und die Frage, was wir einander schulden, sind unterscheidbar, gleichzeitig jedoch eng miteinander verschränkt. Keineswegs stehen Pflichten gegen sich selbst den Pflichten gegen andere zwangsläufig oder auch nur typischerweise antagonistisch gegenüber – auch wenn Ibsen die Pflichten gegen sich selbst in einem solchen Antagonismus in Szene setzt. Dass Pflichten gegen sich selbst grundsätzlich Freiheit schützen, kommt in 7

Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 219.

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der eingangs zitierten Passage aus Nora zur Geltung. Aber wogegen es die Freiheit des Menschen kraft des Geltendmachens von Pflichten gegen sich selbst zu verteidigen gilt, ist damit keineswegs erschöpfend dargestellt. Indem Pflichten Freiheit schützen, dienen sie dem Leben. Der lebensdienliche Zug der Pflicht lässt sich bis in die Etymologie verfolgen: »Pflicht« ist ein Verbalabstraktum zu »pflegen« im Sinne des Sich-Einsetzens für etwas oder jemanden, des Dienstes und Sorgetragens für etwas oder jemanden. 8 Pflicht ist kein Zweck an sich, und die Annahme, dass sie das sei, verwechselt die Instrumentalisierung von Pflicht mit dem, was Pflicht jenseits ihrer autoritären Deformationen sein und geben kann, verwechselt die Verheerungen, die stumpfer Gehorsam anrichten kann, mit dem Potential von Pflicht als Dimension humaner Lebensorientierung. 9 Pflicht bezieht ihren Sinn daraus, dass sie dienlich ist, und der Dienst, den sie tut, ist der des Schützens und Bewahrens zu lebenden Lebens. Folgen wir also zunächst dieser wortgeschichtlichen Spur, die den Ausdruck »Pflicht« in die Nähe des Sorgetragens rückt, und fragen wir nach dem Verhältnis von Pflichten gegen sich selbst und Sorge für sich selbst. Es wird deutlich werden, dass Pflichten eine eigenständige Funktion haben, die sie von der Sorge für sich selbst unterscheidet, dass beide jedoch durch ihren gemeinsamen Bezug zum guten Leben verbunden sind.

1.1 Verbindliche Selbstbezüglichkeiten. Pflicht gegen sich selbst und Selbstsorge Pflichten gegen sich selbst sind auf die Sorge für sich selbst bezogen, jedoch von dieser gleichzeitig unterschieden – jedenfalls unter modernen Bedingungen des Denkens. Für die antike griechisch-römische Philosophie können Pflichten gegen sich selbst, Selbstsorge (cura sui/epimeleia heautou) und Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft praktisch kongruent sein, genauer: In der antiken griechischrömischen Philosophie sind Pflichten gegen sich selbst eine (nahezu) überflüssige Vorstellung, weil der Sorge für sich selbst als einer verKluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 699. Vgl. Funke, Handeln aus Pflichten gegen sich selbst und Pflichten gegen andere, v. a. 49–51; Precht, Von der Pflicht, v. a. 89–100.

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Verbindliche Selbstbezüglichkeiten. Pflicht gegen sich selbst und Selbstsorge

bindlichen Selbstbezüglichkeit jene normative Kraft zugeschrieben wird, die unter modernen Bedingungen des Denkens in der Vorstellung von Pflichten gegen sich selbst zu suchen wäre. Dem entspricht, dass unter modernen Bedingungen moralische Pflichten in erster Linie als Pflichten gegen andere gedacht werden, also eben gerade nicht wie in antiken Ethiken als gleichzeitig inner- und interpersonale Bindungen. 10 Den moralischen Diskurs der Moderne zeichnet aus, dass dem Verhältnis zu anderen Menschen weitaus mehr moralisches Gewicht zugesprochen wird als dem Selbstverhältnis. Antike Lebenskunst hingegen, so scheint es jedenfalls, präsentiert die Sorge für sich selbst als eine elementare Pflicht, deren Grenzen gegen die Pflichten gegen andere fließend sind. So lässt Platon Sokrates in der Apologie des Sokrates fragen, ob denn »die Männer von Athen« sich nicht schämten, dass sie sich um Ansehen kümmern, aber nicht um Vernunft und Wahrheit und nicht darum, dass sie eine möglichst gute Seele haben mögen. 11 Platon geht offensichtlich davon aus, dass »die Männer von Athen« eigentlich sehr wohl wüssten, dass dies, die Sorge um ihre Seelen, ihnen aufgetragen ist. Das Sich-umsich-selbst-Bemühen gilt als dem Menschen auferlegt, aber nicht wie eine ihn von außen treffende Pflicht, sondern als diejenige Praxis, die seinem Sein unmittelbar und selbstverständlich entspricht und die daher gleichsam von selbst geboten ist, ohne dass irgendeine Norm sie gebieten müsste. 12 Und so sieht auch der Stoiker den Menschen als bestimmt zur Sorge für sich selbst: Zeus habe den Menschen die Möglichkeit und die Pflicht gegeben, dass sie sich um sich kümmern. 13 Pflicht erscheint hier, so Foucault, als »Pflicht-Privileg«, als »Gebot-Geschenk« (un privilège-devoir, un don-obligation), das uns Freiheit gewährt, indem es uns dazu anhält, uns um uns zu bemühen. 14

Vgl. Tugendhat, Antike und moderne Ethik, 43 f.; Foucault, Hermeneutik des Subjekts, v. a. 223 f. Foucault sieht hierin ein Erbe der christlichen Moraltradition, der die Selbstlosigkeit als Bedingung für das Heil gilt. Vgl. ders., Technologien des Selbst, 999; Bayertz, Warum überhaupt moralisch sein?, v. a. 49. 11 Vgl. Platon, Des Sokrates Apologie, 29d–e. 12 Vgl. ders., Erster Alkibiades, 128a–129b. 13 Vgl. Epictetus, The Discourses as Reported by Arrian 257 f. (II,8,18–23). 14 Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd. 3: Die Sorge um sich, 66 (= Histoire de la sexualité, Tome 3: Le souce de soi, 62). Zum Pflichtcharakter der Selbstsorge vgl. auch ders., Die Hermeneutik des Subjekts/L’herméneutique du sujet, 19/6: »il faut que tu t’occopes de toi-même«; Foucault spricht vom Gebot/der Regel/der Vorschrift der 10

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Allerdings wird in dieser Pointierung Foucaults, sieht man genauer hin, der Ausdruck »Pflicht« (devoir) in einer Weise verwendet, die zu Missverständnissen führen kann, jedenfalls dann, wenn Pflicht als etwas begriffen wird, das Menschen aufgenötigt wird, und diese semantische Problematik reicht tief in die Frage nach dem Wesen der Pflichten gegen sich selbst hinein. Nach der Vorstellung vieler antiker griechisch-römischer Philosophen lässt sich das Gute in der Natur – gemeint ist sowohl die Natur des Menschen als auch die den Menschen umgebende Natur der Dinge – vorfinden und verwirklichen. 15 Der Mensch muss zunächst lernen, was das Gute ist, d. h. die in seiner Natur angelegte Erkenntnis muss sich entfalten und der Mensch muss sich daran gewöhnen, ihr zu folgen. In diesem Zuge haben Vorschriften und Gebote eine Funktion: als Anleitungen und Mahnungen zur Selbstsorge. Vernunft muss trainiert werden. 16 Hat der Mensch sich jedoch einmal zu dieser Erkenntnis aufgeschwungen, dann kann von einer Pflicht, die nötigt, kaum noch die Rede sein, weil sich das Gute aus der Lebenspraxis heraus von selbst versteht, weil die Vorschriften und Gebote nunmehr ihren Zweck erfüllt haben, weil das Wesen des Menschen und die Ordnung der Welt von sich aus sagen, was gut ist, und weil kein Gegensatz gesehen wird zwischen Handlungen, die dem eigenen Wohl, und Handlungen, die dem Wohl anderer dienen. Dieser moralischen vision of life zufolge ist der Mensch eingebettet in einen Gesamtzusammenhang aller Dinge, der als sinnvoll erlebt werden kann, wenn der Mensch die richtige Haltung ihm gegenüber gewinnt. Nach stoischer Lehre verhalten wir uns dann richtig, »wenn wir das natürliche Wirken, wie wir es in uns und außer uns erleben, zustimmend geschehen lassen.« 17 Das neuzeitliche Selbst hingegen ist ›abgepuffert‹, sieht sich nicht mehr in eine stimmige Weltordnung eingebettet, sondern auf sich allein gestellt in seiner Suche nach dem, was seinem Leben Verbindlichkeit verleiht. Das neuzeitliche Selbst ist nicht wie das Selbst des Stoizismus verwoben in einen kosmischen Zusammenhang, da diese Selbstverständlichkeit sich verschlissen hat – oder es weiß zumindest darum, dass eine religiöse Sichtweise, in deren Augen das Selbst von Selbstsorge (29/14: »préceptes et règles«; 68/45: »l’impératif, la prescription«; 223/ 169: »l’impératif fondamental«). 15 Vgl. zum Begriff »Natur« in der stoischen Ethik Engberd-Pederson, Discovering the Good, 172. 16 Vgl. ebd., 182. 17 Hossenfelder, Die Philosophie der Antike, 61.

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Verbindliche Selbstbezüglichkeiten. Pflicht gegen sich selbst und Selbstsorge

kosmischen Mächten umgeben ist, nicht mehr selbstverständlich und alternativlos ist. 18 Dieser Unterschied wird dort greifbar, wo die antike Philosophie Begriffe verwendet, die nach »Pflicht« klingen und zuweilen mit »Pflicht« übersetzt werden, jedoch gerade dadurch missverstanden werden – jedenfalls dann, wenn man im Ausdruck »Pflicht« nicht den Aspekt des »Pflegens« und die in der Etymologie dieses Ausdrucks angelegte Verwandtschaft von Pflicht und Sorge mithört. Was dem Menschen zu tun aufgegeben ist, sind in der Stoa kathekonta, i. e. solche Akte, die der Natur des Menschen entsprechen und deren Vollzug dem Menschen Glück verheißt, wobei es nicht die Aussicht auf Glück oder dessen Verwirklichung, sondern die Vernunftgemäßheit der zu wählenden Handlungen ist, durch die der Mensch sich leiten lassen soll. Nicht das Treffen des Zieles, sondern das richtige Werfen ist entscheidend. 19 Der Mensch, dessen Seele von Natur gut angelegt ist, möge tun, was die Natur, das Lebensgesetz fordert. 20 Glücklich zu leben und entsprechend der Natur bzw. Übereinstimmung mit dem durch die Natur Gebotenen zu leben ist bei Cicero und Seneca dasselbe. 21 Weil die Verbindlichkeit der kathekonta aus der Natur des Menschen hervorgeht und ihr insofern gerade nicht der Charakter einer dem Menschen aufgenötigten Verbindlichkeit zukommen kann, sollten kathekonta nicht mit »Pflichten« übersetzt werden. 22 Denn dies führt dazu, dass die antike Rede von den kathekonta vorschnell durch die Brille einer Kant’schen Pflichtethik gesehen wird, der die Verpflichtung ausdrücklich als Nötigung gilt – als Nötigung zum Guten zwar, als der Freiheit Raum gebende, ja aus Vgl. Taylor, Ein säkulares Zeitalter, 30 f., 54 u. a. Vgl. Bonhöffer, Die Ethik des Stoikers Epiktet, 195 f. 20 Vgl. Epictetus, The Discourses as Reported by Arrian, 162 f. (I,26): »nómos biōtikós«; Cicero, Vom pflichtgemäßen Handeln, 15 (de officiis 1,13): »animus bene informatus a natura«. 21 Vgl. Seneca, Über das glückliche Leben, 9 (v. beat. II.4): »beatus ergo est vita conveniens naturae suae«; Cicero, Über das höchste Gut und das größte Übel, 263 (fin. III.6.22): »officia […] proficiscantur ab initiis naturae«. 22 Vgl. Kidd, Stoic Intermediates and the End of Man, 155; Hossenfelder, Art. Pflicht, 704 f., empfiehlt als Übersetzung für kathekonta und officia »›Das Zukommende, Angemessene‹«. Bonhöffer, Die Ethik des Stoikers Epiktet, 231, betont, dass kathekon aus dem Grund nicht mit »Pflicht« übersetzt werden darf, dass die Stoiker den Begriff Pflicht im strengen, imperativen Sinn nicht kennen, und umschreibt die Bedeutung von kathekon mit »das dem Menschen Anstehende, seinem Wesen Entsprechende, seiner Natur Gemäße.« 18 19

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dieser hervorgehende Nötigung, aber eben doch immer noch als Nötigung. 23 Die Kantlektüre des folgenden Kapitels wird zeigen, dass es sehr wohl enge Verbindungen zwischen Kants Begründung der Pflichten gegen sich selbst und der stoischen Rede von den kathekonta gibt. Es wird deutlich werden, dass die von Kant apostrophierte »Nötigung« dem Streben nach einem guten Leben im Sinne eines Lebens der Freiheit alles andere als feindselig gegenübersteht. Diese Bezüge erschließen sich jedoch erst im Horizont einer Rekonstruktion der Kant’schen Ethik, die diese von moralischem Rigorismus und Moralfanatismus abzuheben versteht: Eine in Texten der Stoa mehrfach bezeugte Definition beschreibt das kathekon als das Folgerichtige im Leben. Für dieses Folgerichtige kann, wenn es getan ist, eine wohlbegründete Rechenschaft gegeben werden, also eine Rechenschaft, der zuzustimmen ist. 24 In diesem Moment der freien, aber nicht beliebigen, weil mit Gründen auszuweisenden Zustimmung besteht eine unerwartete Nähe zwischen der Kant’schen Rede von den Pflichten gegen sich selbst und den stoischen kathekonta. Denn bei Kant, so werden wir sehen, ist die Zustimmung zum Vernünftigen aus Freiheit der eigentliche Kern aller Pflichten gegen sich selbst, wobei im Vorliegenden anders als bei Kant die »Zustimmung« als diachrone, im Rückblick formulierte Zustimmung ausbuchstabiert werden soll. 25 Dieser Nähe von Pflicht und Sorge gewahr zu werden, bereitet die Grundlage für Brückenschläge zwischen der Rede von den Pflichten gegen sich selbst und der Sorge für sich selbst. Und um solche Nahbeziehungen zwischen Pflicht und Sorge geht es im vorliegenden Versuch, der das lebensdienliche Potential der Frage, was wir uns schulden, bergen soll. Pflicht ist ein gleichzeitig rauer und abgeschliffener Begriff. Das Potential von Pflicht ist in Bereichen der Lebenserfahrung zu suchen, Vgl. Hossenfelder, Das »Angemessene« in der stoischen Ethik, 83 f., 89; Horn, Kant und die Stoiker, v. a. 1103. 24 Vgl. die entsprechende Erläuterung von kathekon bei Stoicorum veterum Fragmenta III, Nr. 494 (Stobaeus ecl. II, 85,13): »o prachthén eúlogon apologían éxei«; vgl. die strukturell ähnliche Umschreibung von Handlungen gemäß des officium bei Cicero, Über das höchste Gut und das größte Übel, 297 (fin. III, 58): »quod ita factum est, ut eius facti probabilis ratio reddi potest.« Dazu: Engberd-Pederson, Discovering the Good, 179. 25 S. u. Abschn. 2.2. Zum Verhältnis von Freiheit einerseits und Pflicht zur »Zusammenstimmung mit sich selbst« andererseits vgl. auch Kant, Metaphysik der Sitten, VI, 380; Reflexion 1045, XV 468; Reflexion 6864, XIX 278, Reflexion 7250, XIX 294. 23

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Verbindliche Selbstbezüglichkeiten. Pflicht gegen sich selbst und Selbstsorge

in denen ebenfalls raue Bedingungen herrschen: in denen das, was Menschen zu erleben haben, sie hart angeht, so dass sie ihren Halt zu verlieren drohen. 26 Pflichten gegen sich selbst haben ihren Sitz im Leben in Grenzerfahrungen. Gleichzeitig sind den Pflichten gegen sich selbst ihrerseits Grenzen gesetzt, deren gewahr zu sein unerlässlich ist, wenn denn Pflichten gegen sich selbst von einem gnadenlosen Zwang abgehoben werden sollen. 27 Gelingt es nicht, Pflicht von Zwang abzuheben, dann behalten diejenigen Recht, die wie Max Scheler in der Inanspruchnahme von Pflichten Misstrauen und Feindseligkeit wittern. Bemerkenswert ist die besagte Nähe zwischen der Kant’schen Ethik der Pflichten gegen sich selbst und der zitierten Definition der stoischen kathekonta gerade vor dem Hintergrund der besagten Differenz zwischen antiker und moderner Ethik. Der im Folgenden unternommene Brückenschlag zielt nun nicht auf eine Wiederbelebung antiker Ethik, sondern darauf, im Lichte antiker Ethik Impulse für eine in der Gegenwart zu vertretende Ethik der Pflichten gegen sich selbst zu formulieren. Die in Angriff genommene, in der Gegenwart zu vertretende Ethik der Pflichten gegen sich selbst wünscht sich Pflicht und Glück versöhnt, weiß jedoch, dass eine solche Versöhnung unter modernen Bedingungen nur bedingt gelingen kann. Die in antiker Ethik angenommene Einheit von Glück und Moral speist sich aus der Überzeugung, dass sich ein universal gültiger, zeitloser Maßstab gelungenen, d. h. selbstdurchsichtigen, disziplinierten usw. Selbstseins namhaft machen lässt, der an den Lebensvollzug anzulegen ist: Es gilt, im Einklang mit der Vernunft, mit der Natur zu leben. 28 Diese Überzeugung lässt sich in einer »entzauberten Welt« kaum in der Weise aktualisieren, dass sie das ethische Denken und Leben orientieren könnte. Das schroffe, antagonistische Moment, das mit der Rede von Pflichten gegen sich selbst einhergeht, ist Reflex des Wissens darum, dass der Mensch in Widerstreit mit sich selbst geraten kann und unter Umständen auch aus guten Gründen mit sich selbst in Widerstreit geraten sollte, und dass keine Weltordnung und keine Wesensbestimmung des Menschen überhaupt das Individuum entlastet, wenn es einen – je seinen – Ausweg sucht, dass mithin sein Suchen unabge26 27 28

S. u. Kap. 4. S. u. Kap. 5. Vgl. Hadot, Philosophie als Lebensform, v. a. 38.

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schlossen bleibt. Das Harte, Schroffe, Antagonistische, das die Pflicht auszeichnet, ist Signum einer unbehausten, mit Georg Lukács zu sprechen: brüchigen, dissonanten, ›transzendental obdachlosen‹ Welt, in der sich nicht von selbst versteht, worin der Mensch Halt finden kann und sollte. 29 Gäbe es diese Entfremdung nicht, bedürfte es keiner Pflichten gegen sich selbst. Umgekehrt gilt, dass Pflichten gegen sich selbst überhaupt nur denkbar sind, wenn Menschen sich von sich selbst in grundlegender Weise unterscheiden, was immer auch bedeutet: mit sich in Widerstreit geraten können. 30 Ohne Rückgriff auf diese Selbstentzweiung ermöglichende Selbstdifferenz sind Pflichten gegen sich selbst nicht gegen jene Stimmen zu verteidigen, die behaupten, es sei vollkommen sinnlos, von Pflichten gegen sich selbst auch nur zu reden. Ehe entwickelt werden kann, dass und wie Pflichten dem Leben dienen, sind diese Stimmen, die die Sinnhaftigkeit der Rede von Pflichten gegen sich selbst grundsätzlich in Abrede stellen, anzuhören.

1.2 Schwierigkeiten mit den Pflichten gegen sich selbst Die Rede von Pflichten gegen sich selbst wird von ihren Kritikern teils als potentiell paternalistisch und teils als sinnlos bezeichnet. Den Paternalismusvorbehalt leitet die Befürchtung, vermeintliche Verstöße gegen Pflichten gegen sich selbst könnten Eingriffen in Bereiche der individuellen Lebensführung, in denen allein die erstpersonale Perspektive maßgeblich sein dürfe, Anlass geben. Wer sich zu solchen Eingriffen verleiten lasse, behandle mündige Personen wie Kinder, die man vor sich selbst beschützen müsse. 31 So hält z. B. John Stuart Mill ausdrücklich fest, er wäre der Letzte, der die Bedeutsamkeit von Pflichten gegen sich selbst unterschätzen würde. 32 Weil jeVgl. Lukács, Die Theorie des Romans, 21 f., 30, 47, 54 f. S. u. Abschn. 5.3. 31 Vgl. Baier, The Moral Point of View, 230; Moser, Unveräußerliche Rechte, 64; Gutmann, Paternalismus – eine Tradition deutschen Rechtsdenkens?, 155–157. Zur Verteidigung der Pflichten gegen sich selbst gegen den Paternalismusvorbehalt vgl. Korsgaard, Creating the Kingdom of Ends, 382; Köhler, Die Rechtspflicht gegen sich selbst, 445 f. 32 Vgl. Mill, On Liberty/Über die Freiheit, 214/215 (Kap. 4). Mill spricht hier von »self-regarding virtues«, der Textzusammenhang lässt allerdings erkennen, dass Mill von Haltungen spricht, die Menschen haben sollten, und da Mill in diesem Zusam29 30

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doch die Außensicht keine Gewissheit beanspruchen kann im Urteil darüber, was eine andere Person sich selbst schuldet und was nicht, dürften Pflichten gegen sich selbst nicht als Legitimation für Interventionen in Anspruch genommen werden. 33 Die Verletzung von Pflichten gegen sich selbst sei durch Außenstehende nur dann zu tadeln, wenn sie mit einer Verletzung von Pflichten gegen andere einhergehe. Nicht also die »Trunkenheit« als Selbstschädigung ist ein hinreichender Grund für gesetzliches Einschreiten, sondern »Trunkenheit«, wenn und insofern es in Folge der Trunkenheit zusätzlich zur Selbstschädigung zu Verfehlungen gegen andere kommt. 34 Der Paternalismusvorbehalt weist also bestimmte, jedoch nicht jegliche Inanspruchnahmen der Pflichten gegen sich selbst zurück – auch wenn sich z. B. bei Kurt Baier der Paternalismusvorbehalt mit dem grundsätzlicheren Einwand, dass es Pflichten überhaupt nur im Zusammenhang zwischenmenschlicher, also nicht im Zusammenhang innerpersonaler Verhältnisse geben könne, verbindet. Dieser zuletzt genannte grundsätzlichere Einwand bedarf einer ausführlicheren Erörterung. Die Stimmen, die bestreiten, dass Pflichten gegen sich selbst überhaupt denkbar sind, beziehen sich regelmäßig auf die intersubjektive Grundstruktur, die ein jedes Verpflichtungsverhältnis auszeichnet. Jede Pflicht hat einen Adressaten, einen Ursprung und einen Begünstigten. Der Adressat ist der, der durch die Pflicht in Anspruch genommen werden kann. Der Ursprung der Pflicht ist der normative Grund, aus dem die Pflicht hervorgeht und in dessen Rahmen deutlich wird, warum Pflichten (gegen sich selbst) überhaupt geltend zu machen sind. 35 Der Begünstigte ist der, der das Recht und auch ggf. gute, d. h. intersubjektiv einleuchtende Gründe hat, die Erfüllung von Pflichten einzufordern. Es ist unmittelbar ersichtlich, dass der Versuch, Pflichten gegen sich selbst in dieser Grammatik intersubjektiver Verpflichtung zu denken, zu Schwierigkeiten führt. Problematisch ist, dass der, der eine Pflicht gegen sich selbst haben soll, dem Anschein nach zwei Rollen zugleich einnehmen muss: erstens die Rolle desjenigen, der in der Pflicht steht, und zweitens die

menhang auch von der »duty to oneself« spricht, scheint die Übersetzung von »selfregarding virtues« mit »Pflichten gegen sich selbst« den Sinn des Originals zu treffen. 33 Vgl. ebd., 216/217 (Kap. 4). 34 Vgl. ebd., 276/277 (Kap. 4). 35 Vgl. Pfordten, Normative Ethik, 273–280. Was wir uns schulden

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Rolle desjenigen, der die Erfüllung der Pflicht, die Abgeltung der Schuld einfordern kann und ein Interesse daran haben könnte, dies zu tun, vor allem dann, wenn das Abgelten von Pflichten mit dem Erbringen von Leistungen zugunsten des Begünstigten einhergeht. Vielfach wurde daher argumentiert, an der beschriebenen Doppelung der Rollen gehe die Vorstellung von Pflichten gegen sich selbst vollständig zugrunde. Pflichten gegen sich selbst, so heißt es, ergeben keinen Sinn, weil man sich selbst von jeglichen Pflichten gegen sich selbst entbinden könne, es mithin diesen (»vermeintlichen«) Pflichten an der für eine jegliche Pflichten konstitutiven Bindekraft gebreche – weil einem selbst kein Unrecht geschehe, wenn man sich selbst gegenüber eine (vermeintliche) Pflicht nicht erfülle, dabei dieser Nichterfüllung jedoch gleichzeitig zustimme. Es ist, so Thomas Hobbes, »unmöglich, dass eine Person an sich selbst gebunden ist (bound to himself), denn wer binden kann, kann lösen, und daher ist, wer an sich gebunden ist, nicht gebunden.« 36 In der Tat kann eine Person sich nicht selbst Geld schulden, da sie sich die Schuld selbst erlassen könnte, denn der Begünstigte und der Adressat der Pflicht zur Rückzahlung sind ja dieselbe Person. 37 Mit Wittgenstein gesprochen: Meine rechte Hand kann meiner linken Hand kein Geld schenken. 38 Wir kennen zwar aus der Alltagssprache die Behauptung, dass jemand sich etwas schulde, z. B. eine Urlaubsreise zu unternehmen. Hierbei handelt es sich jedoch aus Sicht der Kritiker der Pflichten gegen sich selbst um eine uneigentliche Rede, nämlich um den stilisierten Ausdruck der Überzeugung, dass jemand ein moralisches Recht darauf und prudentielle Gründe dafür hat, etwas Bestimmtes ›für sich zu tun‹ bzw. ›sich etwas Gutes zu tun‹. Dieser Lesart nach verweist unsere Rede davon, dass Menschen »sich etwas schulden«, auf die Frage, ob es klug ist, etwas Bestimmtes zu tun oder zu lassen, oder Hobbes, Leviathan, 225 (Teil II, Kap. XXVI). Pufendorf, De jure naturae et gentium, 74 (1,6,7) begründet seine These »sibi ipsi nemo obligatur« (»sich selbst gegenüber steht niemand in einem Verpflichtungsverhältnis«) mit der Beobachtung, im Falle einer Pflicht gegen sich selbst gelte: »idem est obligans & obligatus (Verpflichteter und Verpflichtender sind identisch).« Vgl. allerdings ders., Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur, 58–71 (Kap. 5) mit Ausführungen zur Pflicht zur Selbsterhaltung als einer Pflicht des Menschen gegen sich selbst. 38 Vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 365 (Nr. 268). Für Wittgenstein scheint dies zu bedeuten, dass Versprechen gegen sich selbst nicht bindend sind (ebd.; zu Versprechen gegen sich selbst s. u. Abschn. 3.1). 36 37

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auf (›uneigentliche‹) Pflichten zur Selbstverwirklichung, jedoch nicht auf Pflichten gegen sich selbst im eigentlichen Sinn des Wortes. Pflichten gegen sich selbst im eigentlichen Sinn des Wortes nämlich benennen Gesolltes, dessen Erfüllung durch Außenstehende unter Berufung auf Pflichten gegen sich selbst angemahnt werden kann, und zwar unter der Bedingung, dass die Pflichten sich gerade nicht auf diese imaginären mahnenden Außenstehenden als Ursprung und/oder Begünstigten der Pflichten beziehen. Wenn letzteres der Fall ist, dann handelte es sich um Pflichten gegen diese Dritten und nicht um Pflichten gegen sich selbst. Vermeintliche Pflichten, zu deren Erfüllung nicht gemahnt werden kann, sind keine Pflichten in einem strengen Sinn des Wortes, sondern Handlungen oder Unterlassungen, die aus guten Gründen zu raten, nicht jedoch geboten sind – so lautet die grundsätzliche Kritik an der Vorstellung, es gäbe Pflichten gegen sich selbst. Es gibt mehrere, jedoch nur bedingt schlagkräftige Versuche, diese Problemanzeige mit Instrumenten analytischer Reflexion zu entkräften. So lässt sich das benannte Problem wohl kaum durch den Hinweis ausräumen, dass die Möglichkeit der Aufhebung der Pflicht durch den Begünstigten der Pflicht nicht zu den konstitutiven Merkmalen von Pflichten zähle, insofern intersubjektive Verpflichtungen grundsätzlich auch als unaufhebbare Verpflichtungen beschrieben werden könnten, etwa wenn ein Teil der Vereinbarung darin besteht, unter keinen Umständen eine Lösung der Vereinbarung zuzulassen. 39 Die Tatsache, dass die Möglichkeit einer widerstandslosen Auflösung einer Pflicht, die jemand sich selbst gegenüber hat, möglich ist, ist folglich, so argumentiert diese Form der Verteidigung der Pflichten gegen sich selbst, kein Indiz oder Beweis für die Sinnlosigkeit der Vorstellung von Pflichten gegen sich selbst. Denn, so lautet das Argument, es gehört nicht zu den konstitutiven Merkmalen von Pflichten, (nur durch bestimmte) am Verpflichtungsverhältnis teilnehmende Akteure aufgehoben werden zu können. Allerdings: Der typische Fall eines Verpflichtungsverhältnisses besteht doch darin, dass Akteurinnen ein Verpflichtungsverhältnis eingehen unter der Voraussetzung, dass das Verpflichtungsverhältnis zwar grundsätzlich aufgelöst werden kann, jedoch nicht allein auf Initiative der verpflichteten Akteurin. Vor diesem Hintergrund erscheint es in der Tat problematisch, dass Pflichten gegen sich selbst einseitig durch den Adressaten 39

Vgl. Hill, Promises to Oneself, 146.

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der Pflicht aufgelöst werden können. Denn in zwischenmenschlichen Verpflichtungsverhältnissen können Pflichten gegen sich selbst nicht durch den Adressaten, sondern nur durch den Urheber oder den Begünstigten der Pflicht aufgehoben werden. Letzteres kann als wesentliches oder zumindest typisches Merkmal von Pflicht überhaupt gelten. Auch lässt sich Kritik an der Rede von Pflichten gegen sich selbst nicht mit dem Hinweis ausräumen, dass zwischen der Person, um deren willen eine Verpflichtung eingegangen wird, und der Person, mit der die Verpflichtung eingegangen, d. h. eine Vereinbarung getroffen wird, unterschieden werden kann. Es ist möglich, dass A mit B eine Vereinbarung trifft, die eine dritte Person C betrifft. Auch dieser Fall weitet das Spektrum der vorstellbaren intersubjektiven Verpflichtungsverhältnisse. Hieraus schließt Daniel Kading, der eingangs angesprochene Vergleich zwischen dem Normalfall der Verpflichtung und der Pflicht gegen sich selbst sei nicht aussagekräftig, weil der Normalfall der Verpflichtung seinerseits komplex und vielfältig sei. Die Behauptung, Pflichten gegen sich selbst seien aus dem Grund eine sinnlose Vorstellung, dass ein Verpflichtungsverhältnis dadurch konstituiert werde, dass nur der Begünstigte das Verpflichtungsverhältnis auflösen könne, verfange also nicht, so Kading. 40 Aber auch dieser Versuch der Verteidigung der Pflichten gegen sich selbst überzeugt allenfalls bedingt. Denn auch wenn C im genannten Beispiel selbst nicht direkt am Verpflichtungsverhältnis teilnimmt, ließe sich doch sagen, dass B die Ansprüche, die zugunsten von C geltend zu machen sind, gegenüber A geltend zu machen hat: dass A oder B nicht nur wechselseitig, sondern auch gegenüber C in der Pflicht stehen, dies nötigenfalls um willen der Wahrung der C zukommenden Ansprüche zu tun, so dass C schließlich doch an dem Verpflichtungsverhältnis zwischen A und B teilhat. Kadings Versuch einer analytisch verfahrenden Apologie der Pflichten gegen sich selbst vermag also kaum zu überzeugen. Schließlich wurde gegen die besagte Problemanzeige eingewandt, der Widerstand gegen die Auflösung von Verpflichtungsverhältnissen gehe nicht allein daraus hervor, dass die Auflösung von Verpflichtungsverhältnissen der Zustimmung der an dem Verpflichtungsverhältnis Teilhabenden bedürfe (und nicht ohne diese Zustimmung erfolgen könne). Denn, so lautet dieses Gegenargument, die 40

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Vgl. Kading, Are There Really No Duties to Oneself?, 155.

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Schwierigkeiten mit den Pflichten gegen sich selbst

Frage sei nicht allein, ob Vertragspartner der Auflösung eines Verpflichtungsverhältnisses zustimmen, die Frage sei darüber hinaus, ob weitere moralische Gründe einer Auflösung des Verpflichtungsverhältnisses entgegenstünden, und dies bedeute für die Pflichten gegen sich selbst: Die Frage sei nicht allein, ob ein Mensch sich selbst von den Pflichten gegen sich selbst entbinden könne, weil dem keine durch ein Gegenüber geltend gemachten Ansprüche entgegenstünden. Die Frage sei vielmehr, ob moralische Gründe der Auflösung des Verpflichtungsverhältnisses entgegenstehen. 41 Aber auch dieser Versuch einer Apologie der Pflichten gegen sich selbst mit analytischen Mitteln überzeugt nicht. Ob sich ein rein moralischer, nicht in irgendeiner Art von personaler Relationalität gründender Widerstand gegen die Auflösung eines Verpflichtungsverhältnisses denken lässt, ohne dass die Pflichten dann doch zu Pflichten gegen andere Instanzen werden – gegen das Leben, gegen einen göttlichen Normgeber, gegen ein moralisches Prinzip usw. – bleibt fraglich, wir kommen darauf zurück. 42 Es gibt unveräußerliche Abwehrrechte wie das Recht, nicht gefoltert zu werden. Aber ein unveräußerliches Abwehrrecht ist zumindest in erster Linie ein Recht gegenüber anderen und nicht eine Pflicht des Menschen gegen sich selbst. Daher ist das Verbot der Folter kein Beispiel für einen Fall einer Pflicht gegen sich selbst, deren Pflichtcharakter nicht dadurch aufgehoben werden würde, dass der Adressat der Pflicht selbst diese Pflicht auflösen könnte. Mithin eignet sich auch der Blick auf das unbedingte Verbot der Folter kaum für den Nachweis, dass Pflichten gegen sich selbst denkbar sind. Das Problem bleibt ungelöst, denn der Hinweis auf die Vielschichtigkeit möglicher intersubjektiver Verpflichtungsverhältnisse ändert nichts an der Grundstruktur alltäglicher, typischerweise intersubjektiver und zumindest der Struktur nach vertragsartiger Verpflichtungsverhältnisse. An dieser Struktur haben wir die Vorstellung von Pflichten gegen sich selbst durchaus zu messen, wenn aus dem Nachdenken über Pflichten gegen sich selbst nicht ein lebensfernes Glasperlenspiel werden soll und wenn man eben tatsächlich im eigentlichen Sinn des Wortes von Pflichten sprechen möchte. So überwiegt der Eindruck, dass die genannten Versuche einer Entkräftung des eingangs genannten Einwands gegen Pflichten gegen

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Vgl. Timmermann, Kantian Duties to the Self, Explained and Defended, 506 f. S. u. Abschn. 5.3.

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sich selbst kaum überzeugen. Es bleibt dabei: Pflichten zwischen Personen beziehen ihre Verbindlichkeit zumindest in Teilen daraus, dass an Verpflichtungsverhältnissen teilnehmende Personen eine gegen den anderen, einer gegen die andere in der Pflicht stehen – dass A gegenüber B in der Pflicht steht usw. Dieses Gegenüber bedingt einen Widerstand gegen die Auflösung der Pflicht, und dieser Widerstand scheint den Pflichten gegen sich selbst zu fehlen oder hier jedenfalls bedrohlich geschwächt zu sein. Die Frage lautet also, wie die Widerstandskraft der Pflichten gegen sich selbst konzeptionell zu etablieren ist. Gelingt es nicht zu zeigen, dass und inwiefern von Pflichten gegen sich selbst ein Widerstand gegen pflichtwidriges Verhalten ausgeht, behalten besagte Kritiker recht, die meinen, Pflichten gegen sich selbst seien zahnlos. Und wenn dieser Eindruck nicht entkräftet werden kann, fehlt den Pflichten gegen sich selbst eben auch die Kraft, jenen eingangs angesprochenen Widerstand gegen die Kompromittierung von Freiheit zu leisten. Es genügt nicht, die Behauptung der Sinnlosigkeit der Pflichten gegen sich selbst zu kritisieren. Vielmehr hat sich das Nachdenken über Pflichten gegen sich selbst an der besagten Anfrage an die Widerstandskraft der Pflichten gegen sich selbst abzuarbeiten. Anders kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Wort Pflicht im Zusammenhang unserer alltäglichen Rede von intersubjektiven Pflichten auf der einen und im Zusammenhang der Inanspruchnahme von Pflichten gegen sich selbst auf der anderen Seite äquivok verwendet wird. Möglich ist die Apologie der Pflichten gegen sich selbst gegen den besagten Einwand nur, wenn das für ein jegliches Verpflichtungsverhältnis konstitutive Gegenüber von Verpflichtetem und Verpflichtenden in das Selbst verlagert werden kann.

1.3 Zur Denkbarkeit von Pflichten gegen sich selbst Prominente Versuche der Lösung des beschriebenen Problems, die nicht die Einwände gegen die Pflichten gegen sich selbst zu dekonstruieren versuchen, sondern im Lichte dieser Einwände die Rede von Pflichten gegen sich selbst modifizieren, verfolgen grundsätzlich zwei Strategien. Diese Strategien zielen darauf, jeweils in verschiedener Weise die für jede Beschreibung eines Verpflichtungsverhältnisses unverzichtbare Dimension des Gegenübers von Adressat und Ursprung der Pflicht bzw. von Adressaten und Begünstigtem der Pflicht in das Binnenverhältnis der Person einzuziehen und mithin besagten 24

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Zur Denkbarkeit von Pflichten gegen sich selbst

Widerstand in das Binnenverhältnis der Person einzuzeichnen. Die erste Lösungsstrategie sieht das Gegenüber in einer anderen Person bzw. einer anderen personalen Instanz, bei der es sich um einen anderen Menschen oder um einen absoluten Normgeber handeln kann; die zweite Lösungsstrategie sieht das Gegenüber in der eigenen Person. In einer ersten Variante der ersten Lösungsstrategie wird das Verpflichtungsverhältnis der Pflicht gegen sich selbst durch das Verhältnis zu anderen Menschen konstruiert, in einer zweiten Variante in Gott bzw. in einer göttlichen Instanz. Zur ersten Variante: Dass z. B. eine Mitarbeiterin in einem dem Gemeinwohl förderlichen Tätigkeitsfeld oder Lebenszusammenhang ihre Arbeitsfähigkeit erhält, indem sie auf ihre Gesundheit achtet, ist eine Pflicht, die sie gegenüber anderen Menschen, jedoch keine Pflicht, die sie gegen sich selbst hat. Wenn sie nur auf ihre Gesundheit achtet, damit sie ihre dem Gemeinwohl förderliche Tätigkeit fortsetzen kann, sind ihre Gesundheit und die Erhaltung ihrer Arbeitsfähigkeit bloße Mittel zur Erfüllung von Pflichten, die sie dem Gemeinwesen gegenüber hat. Wenn es wirklich Pflichten gegen sich selbst gibt, dann müssen diese ihren Ursprung in der verpflichteten Person selbst haben. 43 Wenn die Pflichten ihren Ursprung ausschließlich oder zu maßgeblichen Teilen außerhalb des Selbst, i. e. in den Beziehungen zu anderen Personen haben, lösen sich die Pflichten gegen sich selbst in Pflichten gegen andere auf. Wenn Pflichten nur als extern begründete Pflichten konstruiert werden (können), gibt es keine bzw. allenfalls indirekte Pflichten gegen sich selbst. 44 Solange die Pflichten, die Menschen mit Bezug auf sich selbst haben, nur gelten, weil und insoweit sie anderen gegenüber in der Pflicht stehen, sind Pflichten gegen sich selbst noch nicht erfasst – so jedenfalls die Mehrheitsmeinung in der Forschung. 45 Die zweite Variante der ersten Lösungsstrategie sieht nicht einen anderen Menschen, sondern einen absoluten Normgeber als Ursprung der Pflichten gegen sich selbst, also das Absolute, das Naturrecht und/oder Gott. So appelliert z. B. Peter Strasser an seine LeseVgl. Schaber, Unveräußerliche Menschenwürde, 120. Zu indirekten Pflichten gegen sich selbst vgl. Svoboda, A Reconsideration of Indirect Duties Regarding Non-Human Organisms, v. a. 312 f.; Timmermann, Kantian Duties to the Self, Explained and Defended, 506–515. 45 Anders z. B. Neumeier, Why Are We Morally Responsible for Ourselves?, v. a. 61. 43 44

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rinnen bzw. an einen fiktiven Zuhörer: »Und was sind dann deine eigenen Angelegenheiten, um die du dich kümmern solltest, weil hierin nämlich eine deiner zentralen Pflichten gegen sich selbst besteht? […] Deine eigenen Angelegenheiten sind diejenigen, welche daraus resultieren, dass du, was immer du sein magst und wie immer die besondere Konstellation deines Lebens sich dir darstellen mag, substanziell ein beseeltes Wesen bist. […] Was immer du bist und tust, du bist und tust es selbstsorgend unter der Bedingung deines ›Beseeltseins‹ – deiner Teilhabe am Absoluten.« 46 Wie auch immer man im Einzelnen ausbuchstabieren mag, was unter diesem »Absoluten« verstanden werden kann und wie sich dieses »Absolute« mit hinreichender Klarheit erfassen lässt, um als Ursprung normativer Sätze in Anspruch genommen werden zu können – jedenfalls sind Pflichten gegen »das Absolute« keine Pflichten gegen sich selbst, sondern Pflichten gegen »das Absolute«. »Das Absolute«, wenn es denn überhaupt als Instanz moralphilosophischer Argumentation in Anspruch genommen werden kann, gebietet allenfalls Handlungen, die das Selbst betreffen, aber es begründet keine Pflichten gegen sich selbst. Die verbreitete Auffassung, dass wir uns schulden, unser eigenes Leben zu erhalten, da das Leben eine göttliche Gabe sei, die den Menschen verpflichte, bedient sich einer ähnlichen Vorstellung. 47 Auch hier aber gilt: Was der Mensch dem Absoluten oder Gott schuldet, schuldet er nicht sich selbst, auch wenn das Geschuldete sich auf ihn selbst, also z. B. auf die Erhaltung seines Lebens bezieht. Die zweite Lösungsstrategie konstituiert das Gegenüber, indem sie eine Unterscheidung innerhalb des Selbst annimmt. Aristoteles problematisiert die Vorstellung einer Pflicht gegen sich selbst mit dem Hinweis, dass die Vorstellung des Rechts und des Unrechts mehrerer Beteiligter bedürfe. So gebe es zwar kein Recht des Einzelnen gegen sich selbst, wohl aber ein Recht einzelner Teile der Person gegen andere Teile der Person. 48 Der wohl prominenteste Versuch einer Verteidigung der Denkmöglichkeit von Pflichten gegen sich selbst, derjenige Kants, der in den folgenden Kapiteln ausführlich diskutiert wird, argumentiert der Struktur nach ähnlich. Grundlage bei Kant ist die Unterscheidung zwischen einer Dimension des Menschen, die

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Strasser, Kümmre dich um deine Angelegenheiten!, 16 f. S. u. Abschn. 5.3. Aristoteles, Die Nikomachische Ethik V,15 (1138b).

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verbunden wird (i. e. dem homo phaenomenon), und einer Dimension des Menschen, die verbindet (i. e. dem homo noumenon). 49 Dieser zweiten Lösungsstrategie, die sich einer multiple-selvesTheorie bedient, lässt sich die im Folgenden zu entwickelnde Theorie der Pflichten gegen sich selbst zuordnen. 50 Im Unterschied zu Aristoteles und Kant wird indes nicht zwischen einem zeitlichen und einem zeitlosen oder einem vernünftigen und einem vernunftlosen, sondern zwischen dem gegenwärtigen und dem in der Imagination vorweggenommenen zukünftigen Selbst unterschieden. Pflichten gegen sich selbst gehen aus der in eine Lebensgeschichte eingebetteten Entfaltung personaler Freiheit hervor. Dies ist zunächst im Zuge einer kritischen Auseinandersetzung mit Kant zu zeigen. Zwar will Kant Pflichten gegen sich selbst als Pflichten gegen eine zeitlose Dimension des Selbst denken. Diese vermeintliche Zeitlosigkeit jedoch erweist sich als problematisch, und die entsprechenden Beobachtungen geben Anlass zu Modifikationen, zumindest zu Akzentverschiebungen gegenüber der in Grundzügen für alles Folgende leitenden Kant’schen Ableitung der Pflichten gegen sich selbst aus der Freiheit (Kapitel 2). Vor diesem Hintergrund wird eine Theorie diachron verstandener Pflichten gegen sich selbst vorgestellt (Kapitel 3) und konkretisiert am Beispiel der Pflicht, Haltung zu wahren (Kapitel 4). Hierbei kommt zur Geltung, dass Pflichten gegen sich selbst nur dann richtig verstanden werden können, wenn ihre intersubjektiven Einbettungen mitbedacht werden. Dieser Gedanke wird sodann radikalisiert, indem Pflichten gegen sich selbst in den Horizont der christlichen Rede von Gnade und göttlicher Vorsehung eingezeichnet werden. Damit ist die Frage, wo die Grenzen der Pflichten gegen sich selbst verlaufen, keineswegs beantwortet. Ob der Mensch sich schuldet, das eigene Leben zu erhalten, ist vielmehr eine Frage, die, wenn sie ernsthaft gestellt wird, alles Nachdenken über Pflichten gegen sich selbst nachhaltig erschüttert (Kapitel 5). Der folgende Versuch einer Demonstration der Denkbarkeit und vor allem der Relevanz von Pflichten gegen sich selbst ist eine Übung in hermeneutischer Ethik. 51 Damit ist zum einen gemeint: Nicht die Beantwortung der Frage, ob es Pflichten gegen sich selbst gibt oder Kant, Metaphysik der Sitten, VI 418. Zum Begriff multiple selves s. u. Abschn. 2.3. 51 Vgl. Schmidt, Die ethische Pascaline, v. a. 219–221; ders., Was ist und was leistet hermeneutische Ethik? 49 50

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nicht und wenn ja, was diese seien, steht im Mittelpunkt des Interesses. Im Mittelpunkt des Interesses steht vielmehr die Frage, wie das Nachdenken über Pflichten gegen sich selbst dabei helfen kann, verschiedene Dimensionen ethischer Reflexion – Freiheit als bedrohtes und schützenswertes Gut, verbindliche intersubjektive und innersubjektive Verhältnisse in ihrer wechselseitigen Bedingtheit, die Zeitlichkeit menschlichen Daseins, das Wahren von Haltung, religiöser Glaube und die Möglichkeit eigenen Andersseinkönnens, Erfahrungen existentieller Negativität – in fruchtbare, d. h. wechselseitig erhellende Zusammenhänge zu stellen. Das Zusammenspiel unterschiedlicher Perspektiven und Horizonte, die nicht in eine Synthese überführt werden, ist das Kennzeichen hermeneutischer Ethik im hier gemeinten Sinne. 52

Vgl. Irrgang, Hermeneutische Ethik, 55. Irrgang spricht hier von einer »Synoptik« der verschiedenen Perspektiven, die diese nicht zu einer höheren Einheit zusammenschmilzt.

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2. Freiheit als Grund der Pflichten gegen sich selbst

2.1 Suizid und die Herrschaft der (Un)Freiheit Max Scheler meint wie eingangs erwähnt, wer Pflicht propagiere, müsse von einem konstitutiven Misstrauen gegen den Menschen getrieben sein. Immanuel Kants Rhetorik der Pflichten gegen sich selbst scheint die besagten Vorbehalte Schelers zu bestätigen und scheint insofern der häufig behaupteten Diastase zwischen einer eudämonistischen Ethik der Antike auf der einen und einer Glück gegen Moral stellenden Ethik der Moderne auf der anderen Seite das Wort zu reden. Kants zuweilen schroffe Rede vom Gesetz, das den Menschen nötigt, steht dem Streben nach Glück zumindest reserviert gegenüber; wenn Kant behauptet, alle Eudämonisten seien praktische Egoisten, urteilt er wohl auch ungerecht. Denn seine Kritik kann nur einen bestimmten, nämlich den instrumentalistischen Eudämonismus treffen, dem Moral als Instrument für das Streben nach einer beliebigen Form subjektiven Glücks gilt. 1 Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kants Ethik auch als dem Leben dienende, aus Lebensvollzügen heraus zu plausibilisierende Ethik gelesen werden kann, wie im Folgenden unterstrichen werden soll. 2 Kaum ein einflussreicher Philosoph hat sich zu den Pflichten gegen sich selbst so prominent und nachdrücklich geäußert wie Immanuel Kant. Zwar findet sich in seinem Nachlass eine frühe Notiz, in der er die Existenz von Pflichten gegen sich selbst in Abrede stellt, verbunden mit dem Hinweis, dass es wohl absolute Pflichten gebe, Vgl. Kant, Anthropologie in pragmatischer Absicht, VII 130; Weidemann, Kants Kritik am Eudämonismus und die Platonische Ethik, 29 f., 32–34; Forschner, Guter Wille und Haß der Vernunft, 72, mit Verweis auf Kants differenziertere Interpretation des Vergnügens in Kant, Reflexion 6881, XIX 190. 2 Vgl. Gerhardt, Immanuel Kant; Khurana, Das Leben der Freiheit; Esser, Eine Ethik für Endliche, v. a. 341; Louden, Kant’s Impure Ethics. Zur Selbstsorge im Verhältnis zu den Pflichten gegen sich selbst bei Kant vgl. Schmid, Art. Selbstsorge, 533 f. 1

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Freiheit als Grund der Pflichten gegen sich selbst

nur eben keine solchen gegen sich selbst. 3 Er gelangt jedoch später zu der Überzeugung, dass die Pflichten gegen sich selbst zum Kernbestand eben dieser absoluten Pflichten zählen, ja dass sich gar keine Pflichten denken ließen, wenn keine Pflichten gegen sich angenommen würden, dass also Pflichten in Wahrheit immer Pflichten gegen sich selbst seien: »Gegen Gott und organische Weltwesen haben wir keine direkten Pflichten, sondern es sind alles direkte Pflichten gegen uns selbst.« 4 Denn Pflichten gibt es nur, wenn Menschen von ihrer eigenen Vernunft verpflichtet werden. Diese indes verpflichtet eben zuallererst die Person selbst als den Ort, an dem diese Vernunft existiert. 5 Die für das Vorliegende maßgebliche Frage ist nun nicht, was der Mensch sich im Einzelnen schuldet, sondern was es bedeutet, dass der Mensch sich überhaupt etwas schuldet. Die Grammatik der Pflichten gegen sich selbst lässt sich besonders gut an der von Kant behaupteten Pflicht zur Erhaltung des eigenen Lebens nachvollziehen. Kant sieht die Pflicht zur Erhaltung des eigenen Lebens, negativ gesprochen: das Verbot des Suizids – neben den crimina carnis – als exemplarischen Ausdruck der Pflichten gegen sich selbst. Zwar ist der Suizid Kants Auffassung nach auch als Verletzung von Pflichten gegen andere, gegen Gott oder gegen andere Menschen, zu bewerten, aber im Vorliegenden, und das gilt über weite Strecken auch für Kant, interessiert der Suizid in Bezug auf Pflichten gegen sich selbst. Gegen Pflichten gegen sich selbst verstößt der Suizid, insofern der Mensch durch sein Personsein verpflichtet ist, sein Leben zu erhalten. 6 Die Begründung dieser Behauptung – und vor allem, wie wir sehen werden, die von Kant selbst markierte Grenze der Pflicht, das eigene Leben zu erhalten – ist höchst signifikant, gibt jedoch auch Anlass zu Rückfragen. Rückfragen stellt bereits Schopenhauer, der meint, bei Kants Argumenten, mit denen dieser begründen will, dass der Suizid eine Verletzung der Pflichten des Menschen gegen sich selbst sei, handele es sich um »Armseligkeiten, die nicht einmal eine Antwort ver-

Vgl. Kant, Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, XX 24 f. 4 Ders., Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten, XXIII 400. 5 Vgl. ders., Metaphysik der Sitten, VI 418; ders., Vorlesung zur Moralphilosophie [Mitschrift Kähler], 172/215: »Demnach sind die Pflichten gegen sich selbst die Bedingung, unter der andere Pflichten können beobachtet werden.« 6 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, VI 422 f. 3

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Suizid und die Herrschaft der (Un)Freiheit

dienen.« 7 Schopenhauer antwortet dann doch und argumentiert, die Vorstellung von Pflichten gegen sich selbst sei ohnehin unsinnig, sowohl mit Blick auf Rechts- als auch mit Blick auf Liebespflichten. Rechtspflichten gegen sich selbst seien unmöglich: Demjenigen, der die Behandlung erfahren will, die ihm von ihm selbst widerfährt, geschieht kein Unrecht. 8 Und Liebespflichten gegen sich selbst, so Schopenhauer weiter, sind ebenfalls eine unsinnige Vorstellung. Denn das Interesse des Menschen am eigenen Wohlergehen motiviert den Menschen aus sich selbst heraus; dasjenige, zu dem der Mensch ohnehin motiviert ist, noch als Pflicht zu bezeichnen, ist überflüssig. Beide Einwände, die wir eingangs ja bereits gestreift hatten, sind gewichtig: Pflichten gegen sich selbst haben dem Anschein nach als Motiv des Handelns keine Zugkraft, weil der Mensch zur Sorge für sich selbst nicht erst motiviert zu werden braucht. 9 Und Pflichten gegen sich selbst haben dem Anschein nach als normative Instanz keinen Sinn, weil es innerhalb des Selbst kein Verpflichtungsverhältnis geben zu können scheint. Die Frage nach der motivationalen Kraft der Pflichten gegen sich selbst deutet darauf hin, dass die Relevanz der Pflichten gegen sich selbst ihren Sitz im Leben in Situationen hat, in denen Personen gerade nicht von einer in ihrem motivationalen Leben emotional verwurzelten Sorge für sich selbst geleitet werden. Pflichten gegen sich selbst haben ihren Sinn im Zusammenhang existentieller Verfasstheiten, in denen es an Selbstliebe, die einen Menschen trägt und zur Selbstfürsorge motiviert, gerade fehlt. 10 Pflichten gegen sich selbst sind ein Krisenphänomen, dessen Auftreten allerdings grundlegende ethische Herausforderungen mit sich bringen kann. Henry Sigdwick beschreibt wohl zutreffend das moralische Gefühl, das ›wir‹ haben, wenn ›wir‹ Zeugen davon werden, dass eine andere Person nicht für ihr eigenes Wohlbehaltensein sorgt. ›Unser‹ innerer Widerstand erschöpft sich nicht in Mitgefühl oder Bedauern, ›unser‹ innerer Widerstand gegen einen Mangel an Selbstfürsorge geht mit dem Gefühl einher, dass Menschen für ihr Wohlergehen sorgen sollten, so als wäre Selbstfürsorge nicht nur wünschenswert und geraten, sondern moralisch geboten. 11 Die Frage, Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlage der Moral, 653 (§ 5). Vgl. ebd., 652 (»Volenti non fit iniura«). 9 So auch z. B. Williams, Morality, 83. Williams sieht in der Rede von Pflichten gegen sich selbst insgesamt den Reflex eines überbordenden Moralfanatismus’. 10 Vgl. Schofield, Duty to Self, 95. 11 Vgl. Sidgwick, The Methods of Ethics, 6 (»disapprobation«). Vgl. zur spontanen 7 8

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Freiheit als Grund der Pflichten gegen sich selbst

die sich stellt, ist, wie der in dem von Sigdwick adressierten moralischen Gefühl aufscheinende Pflichtcharakter der Selbstfürsorge und umgekehrt die lebensdienliche Dimension der Pflicht ausbuchstabiert werden können, genauer: ob sich ein begründender Gehalt der intuitiv aufscheinenden Gewissheit, dass Menschen sich nicht gehen lassen, sondern vielmehr für sich sorgen sollten, herausarbeiten lässt. Pflichten geben Halt, so hatten wir bereits gesagt, und das tun sie in Situationen der drohenden Haltlosigkeit – wir halten diesen Gedanken für den Augenblick fest und wenden uns ihm im vierten Kapitel ausführlich zu. Die Frage, ob es Liebespflichten geben kann, verweist also auf die Frage nach dem Sitz im Leben, d. h. dem existentiellen Ort, an dem die Rede von Pflichten gegen sich selbst relevant wird bzw. überhaupt sinnvoll sein kann. Das von Schopenhauer unter dem Stichwort »Rechtspflichten« verhandelte Problem muss uns an dieser Stelle ausführlicher beschäftigen. Inwiefern kann es innerhalb der Person ein normativ verbindliches Verpflichtungsverhältnis geben? Tatsächlich sind, wie bereits ausgeführt, Pflichten gegen sich selbst nur denkbar, wenn innerhalb der Person zwischen Dimensionen unterschieden werden kann, die eine Unterscheidung in eine verpflichtete und eine verpflichtende Dimension der Person zu treffen erlauben. Hierzu dient Kant die besagte Unterscheidung zwischen dem Menschen als vernünftigem Naturwesen (homo phaenomenon) und dem Menschen als mit innerer Freiheit begabtem Wesen (homo noumenon): »Der Mensch nun, als vernünftiges Naturwesen (homo phaenomenon) ist durch seine Vernunft, als Ursache, bestimmbar zu Handlungen in der Sinnenwelt, und hierbei kommt der Begriff einer Verbindlichkeit noch nicht in Betrachtung. Ebenderselbe aber seiner Persönlichkeit nach, d. i. als mit innerer Freiheit begabtes Wesen (homo noumenon) gedacht, ist ein der Verpflichtung fähiges Wesen, und zwar gegen sich selbst (die Menschheit in seiner Person) betrachtet, so: daß der Mensch (in zweierlei Bedeutung betrachtet), ohne in Widerspruch mit sich zu geraten (weil der Begriff vom Menschen nicht in einem und demselben Sinn gedacht wird), eine Pflicht gegen sich selbst anerkennen kann.« 12 Dieser Gedanke wird greifbar, wenn

Missbilligung (»reprehension«) selbstdestruktiver Handlungen auch Korsgaard, Creating the Kingdom of Ends, 381; Velleman, Ein Recht auf Selbsttötung?, v. a. 202. 12 Kant, Metaphysik der Sitten, VI 418.

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man sich seine Durchführung im Zusammenhang der Kant’schen Diskussion des Suizids vor Augen hält. Wir sehen uns zunächst näher an, mit welchen Argumenten Kant die moralische Unzulässigkeit des Suizids überhaupt zu begründen unternimmt, und zeichnen dann die Unterscheidung zwischen dem homo noumenon und dem homo phaenomenon als theoretische Grundlage sowohl der Pflicht zur Erhaltung des eigenen Lebens als auch einer jeden anderen Pflicht gegen sich selbst in diese Argumentation ein. Auf diesem Weg erschließen wir uns ausgehend von der Diskussion der bereichsethischen Frage nach der ethischen Bewertung des Suizids die von Kant angebotene fundamentalethische Begründung der Pflichten gegen sich selbst insgesamt. Deutlich werden wird: Freiheit ist – auch wenn das paradox anmuten mag – der Quellgrund aller Pflichten gegen sich selbst. Der homo noumenon wird in der eben zitierten Passage als mit Freiheit begabtes Wesen bezeichnet, und in dieser seiner Eigenschaft liegt das Gravitationszentrum eines jeden in Kants Tradition stehenden Nachdenkens über Pflichten gegen sich selbst. An einer anderen Stelle hält Kant fest, dass Pflichten gegen sich selbst »negativ aus dem Begriff der Freiheit fließen.« 13 Freiheit ist als das Vermögen, nach einer Willkür, die nicht durch Reize beherrscht wird, zu handeln, Prinzip der Pflichten gegen sich selbst. 14 Freiheit ist das einzige jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht; Freiheit ist jedoch kein Besitzstand, vielmehr ist es die Pflicht des Menschen, sich um die eigene Freiheit zu bemühen. 15 Es ist also nicht so, als sei die Rede vom homo noumenon eine anthropologische Spekulation, die die Existenz eines metaphysischen Kerns des Menschen annähme und diesem anschließend die Freiheit des Menschen zuordnete. Es verhält sich vielmehr umgekehrt: Das Nachdenken über die Freiheit des Menschen schlägt sich im Begriff des homo noumenon nieder, und aus dieser Denkbewegung gewinnt die Rede von den Pflichten gegen sich selbst ihre Kraft. Die – bei Rousseau vorgebildete – Dialektik von Pflicht und Freiheit wird uns wiederbegegnen, wenn wir uns im dritten Kapitel mit der Pflicht zur Wahrhaftigkeit als einer Pflicht gegen sich selbst auseinandersetzen. 16 Und diese Dialektik von Pflicht und Freiheit wird 13 14 15 16

Ders., Die Metaphysik der Sitten Vigilantius, XXVII 601. Vgl. ders., Vorlesung zur Moralphilosophie [Mitschrift Kähler], 177/222. Vgl. Nagl-Docekal, Innere Freiheit, 91. Vgl. v. a. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts,

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uns – was auf den ersten Blick ebenfalls paradox anmuten mag – später erneut wiederbegegnen, wenn wir im abschließenden Kapitel den christlichen Glauben an die Vorsehung mit Pflichten gegen sich selbst in Verbindung stellen. Diese Dialektik wird uns also durch den weiteren Weg des Nachdenkens über Pflichten gegen sich selbst begleiten ebenso wie die eingangs behauptete Lebensdienlichkeit der Pflicht; letztere kann als lebensweltlicher Ausdruck der ersteren gesehen werden. So wird deutlich, dass Pflicht von Zwang zu unterscheiden ist, mehr noch, dass die Bindekraft der Pflicht Lebensmöglichkeiten gerade nicht beschneidet, wie der Zwang es tut, sondern schützt, nämlich offen hält. Die im Vorliegenden entwickelte Theorie der Pflichten folgt Kant darin, dass sie in der Freiheit den Schlüssel zum Begreifen der Pflichten gegen sich selbst sieht. Sie nimmt gleichzeitig eine Akzentverschiebung gegenüber der Kant’schen Ausführung dieses Grundgedankens vor, indem sie das Leben der Freiheit als geschichtliche Freiheit entfaltet. Sehen wir uns die systematisch gesehen maßgeblichen Gründe, wegen derer Kants Auffassung nach der Suizid moralisch verboten ist, genauer an, dann wird exemplarisch deutlich, dass und wie die Freiheit des Menschen im Mittelpunkt der Kant’schen Rede von den Pflichten gegen sich selbst steht. Es sind im Wesentlichen drei Argumente, die Kant anführt – weitere Aspekte seiner Argumentation können an dieser Stelle vernachlässigt werden, weil sie das hier im Mittelpunkt des Interesses stehende Verhältnis der Pflichten gegen sich selbst zum Suizid nur mittelbar berühren. 17 Erstens: Wer sich das Leben nimmt, vertilgt damit sich als das Subjekt der Sittlichkeit, das jeder Mensch ist, und vertilgt damit, so Kant, die Sittlichkeit als solche. Und dies ist verwerflich, weil die Sittlichkeit »Zweck an sich selbst« ist. 18 Insofern ist der Suizid ein Verbrechen gegen die Sittlichkeit als solche. Gleichzeitig ist der Suizid ein Verbrechen gegen die – ihrerseits universale – Menschheit in der Person des einzelnen Menschen. Zweitens: Wer sich das Leben nimmt, beraubt sich selbst der Möglichkeit zum Gebrauch seiner Kräfte und beraubt sich mithin der Möglichkeit, Subjekt moralischen Handelns zu sein. 19 Ein ArguI,7: »[…] [M]an wird ihn [den Bürger, J. S.] zwingen, frei zu sein (forcera d’être libre) […].« 17 Vgl. die Übersicht bei Wittwer, Über Kants Verbot der Selbsttötung, v. a. 182. 18 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, VI 423. 19 Vgl. ebd., VI 421.

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ment gegen die moralische Zulässigkeit des Suizids ist dies indes nur dann, wenn nicht allein gilt, dass moralische Taten besser sind als unmoralische Taten, sondern wenn überdies gilt, dass weitere moralische Taten besser sind als keine weiteren (moralischen) Taten. 20 Letzteres ist wohl nicht ohne Rückgriff auf ein das größte Maß an verwirklichtem Wert zum Maßstab erklärendes Maximierungsprinzip zu behaupten, das sich in Kants nicht-konsequentialistische Moralphilosophie eigentlich nicht gut fügt. Drittens: Die Menschheit in der Person des einzelnen Menschen ist dadurch zu achten, dass sie nicht instrumentalisiert, also nie zum bloßen Zweck gemacht wird. Wer sich das Leben nimmt, unterwirft sich selbst einem inneren Antrieb, der – mit einer Ausnahme, auf die wir noch zu sprechen kommen – nicht aus der Menschheit in der Person hervorgehen kann. Mithin wird im Falle des Suizids die Menschheit in der Person des Menschen einem Antrieb unterworfen, der nicht aus der Menschheit in der Person selbst hervorgeht, was niemals geschehen dürfe. 21 Denn die Menschheit in der Person des Menschen besteht gerade darin, Zweck an sich selbst zu sein, was bedeutet, keinem anderen Zweck als dem, den sie sich selbst kraft der Vernunft setzt, unterworfen werden zu dürfen. Die Menschheit in der Person besteht gerade in eben dieser Freiheit. Pflichten gegen sich selbst gründen insofern in der Selbstachtung der Person, als sie aus der Achtung der eigenen Freiheit hervorgehen. Gegenstand der Selbstachtung ist nicht die ›Heiligkeit der Person‹ im Sinne eines ontologischen Besitzstandes oder einer göttlichen Mitgift. Gegenstand der Selbstachtung ist die Freiheit als Aufgabe: Freiheit als Grund der heiligen Pflicht, der Menschheit in der eigenen Person würdig zu sein. Die Pflichten gegen sich selbst in der Selbstachtung des Menschen zu begründen, bedeutet also, jedenfalls mit Blick auf Kants Moralphilosophie, nichts anderes, als die Pflichten gegen sich selbst in der Freiheit zu begründen. 22 So auch Wolff, Grundsätze des Natur- und Völkerrechts, § 112. David Hume streift dieses Argument ebenfalls kurz, hält aber fest, dass, wer aufhört, Gutes zu tun, da er sich das Leben nimmt, allenfalls ein geringes Unrecht begeht. Vgl. Hume, Über den Freitod, 22. Danke an Sarah Eulitz für Impulse hierzu. 21 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, VI 423. 22 Zum Verhältnis von Pflichten gegen sich selbst, Selbstachtung/vernünftiger Selbstschätzung und Würde vgl. ders., Vorlesung zur Moralphilosophie [Mitschrift Kähler], 181/227; ders., Metaphysik der Sitten, VI 436; Bornmüller, Selbstachtung, v. a. 14–61; Hill, Promises to Oneself, 154; Schaber, Unveräußerliche Menschen20

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Kurz: Der Suizid verstößt gegen Pflichten gegen sich selbst, weil der Suizid erstens die Bedingung der Möglichkeit der Existenz von moralischen Pflichten vernichtet, weil der Suizid zweitens die Bedingung der Möglichkeit moralischer Handlungen durch den, der sich selbst das Leben nimmt, vernichtet, und weil der Suizid drittens einen Verstoß gegen eine der zentralen moralischen Pflichten überhaupt darstellt, nämlich gegen die Pflicht, die Menschheit in einem jeden Menschen immer auch als Zweck, nie bloß als Mittel zu behandeln. Genau genommen verstößt der Suizid also auf mehreren handlungslogischen Ebenen gegen die Pflichten gegen sich selbst: Das Ergebnis des vollzogenen Suizids ist, dass das Subjekt nicht mehr ist und folglich auch keine moralischen Handlungen vollführen kann. Eine Handlung, die zu diesem Ergebnis führen soll, ist pflichtwidrig. Das, was im Akt des Suizids geschieht, ist, dass der Mensch sich einem Antrieb unterwirft, aus einem als Last erlebten Leben auszubrechen. Einem solchen Antrieb darf der Mensch sich jedoch nicht unterwerfen. Denn wenn der Mensch sich einem derartigen Wunsch, nicht mehr zu leben, unterwirft, dann behandelt er die Menschheit in seiner Person nicht als Zweck an sich. Dies ist das eigentlich Entscheidende – für Kant ebenso wie für das im Folgenden zu Entwickelnde. Kant bezieht sich in seiner Begründung auf das eingangs erwähnte Begriffspaar homo noumenon – homo phaenomenon. Wer sich das Leben nimmt, der »disponiert über sich zu einem beliebigen Zwecke«. Und dies zu tun bedeutet, »die Menschheit in der eigenen Person (homo noumenon) ab[zu]würdigen, der doch der Mensch (homo phaenomenon) zur Erhaltung anvertrauet war.« 23 Der homo noumenon ist der Mensch als Vernunftwesen, der Mensch, insofern er Freiheit hat, eine Persönlichkeit ist, die über die Fähigkeit zur moralischen Verpflichtung verfügt. 24 Als homo noumenon ist der Mensch ein Freiheitswesen, von physischen Bestimmungen unabhängig; als homo phaenomenon ist der Mensch an physische Bestimmungen gebunden. 25 Hinsichtlich des noumenon ist der Mensch »reine Intelligenz in Ansehung des dem Menschen beigelegten Verwürde, v. a. 122–126; Denis, Proper Self-Esteem and Duties to Oneself, v. a. 222; Anwander, Versprechen und Verpflichten, 231: »Der Rekurs auf Selbstachtung ist wohl eine der attraktivsten Strategien, Pflichten gegen sich selbst verständlich zu machen.« 23 Kant, Metaphysik der Sitten, VI 423. 24 Durán Casas, Die Pflichten gegen sich selbst in Kants »Metaphysik der Sitten«, 138. 25 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, VI 239.

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mögens der Freiheit und der Zurechnungsfähigkeit«. 26 Der homo noumenon ist ein Ideal. 27 Als homo noumenon ist der Mensch Repräsentant der Menschheit und der ihr zukommenden Würde, die zu bewahren Pflicht des Menschen gegen sich selbst ist. 28 Zur Annahme des homo noumenon sieht Kant sich berechtigt, weil er aus der Geltung des Sittengesetzes darauf schließt, dass die Bedingungen der Geltung des Sittengesetzes erfüllt sein müssen. 29 Der homo noumenon ist daher in erster Linie etwas, das der Mensch zu verwirklichen bzw. dem er zu entsprechen hat. Die intelligible Welt, in die der homo noumenon gehört, existiert nicht als eine Welt, die ist, sondern als eine Welt, die zu sein hat; sie – und somit auch der homo noumenon – ist nicht objektiv gegeben, sondern objektiv aufgegeben. 30 Die Freiheit, die den homo noumenon konstituiert, ist ein regulatives Prinzip. 31 Dies erklärt, warum Kant den homo noumenon in den Mittelpunkt seiner Verteidigung der Denkmöglichkeit der Pflichten gegen sich selbst stellt. Orientierung bietet die Vorstellung des homo noumenon nicht im Sinne eines ontologischen Besitzstands, sondern im Sinne einer Verpflichtung auf die dem Menschen eigene und ihn auszeichnende Freiheit. Eine Rekonstruktion des Kant’schen Begriffs der Pflichten gegen sich selbst sollte sich daher an der Idee orientieren, dass es die Freiheit ist, die den Menschen gegen sich selbst verpflichtet. In diesem Horizont ist der ›eigentliche‹, oder vorsichtiger formuliert: der am ehesten überzeugende Sinn der bei Kant in spekulativen Begriffen vorgetragenen Unterscheidung zwischen einem homo noumenon und einem homo phaenomenon zu suchen. Sehen wir uns in diesem Lichte näher an, wie Kant das Verbot des Suizids im Zusammenhang des Begriffspaars homo noumenon – homo phaenomenon begründet. Der homo phaenomenon ist der Mensch in seiner historischen Existenz, er ist dem homo noumenon

Ders., Die Metaphysik der Sitten Vigilantius, XXVII 579. Vgl. ebd., XXVII 593. 28 Vgl. ders., Über Pädagogik, IX 489. 29 Vgl. Rosefeldt, Art. Noumenon/Phaenomenon, 1690. Ob bei Kant Freiheit insgesamt das Sittengesetz begründet, ist allerdings wohl nicht eindeutig zu beantworten. Vgl. Henrich, Die Deduktion des Sittengesetzes, v. a. 63; Heit, Versöhnte Vernunft, v. a. 62. 30 Vgl. Khurana, Das Leben der Freiheit, 232. 31 Vgl. Trampota, Kants Konzeption der Tugend als Habitus der Freiheit, 48 f. 26 27

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untergeordnet und verpflichtet. 32 Diese Unterordnung ist entscheidend: Suizid verletzt das Vorrecht des homo noumenon. 33 Der Mensch darf über seine innere Freiheit, über den homo noumenon, der ihm, also dem Menschen als leib-seelische Gesamtheit, nicht gehört, nicht verfügen. Die Intention dieser Unterordnung lässt sich mit Rückgriff auf ein Beispiel aus der Rechtsphilosophie Kants konturieren. Kant diskutiert hier die Frage, was es bedeutet, dass Menschen sich selbst soziale Ordnungen in Form kodifizierter Gesetze auferlegen. Wenn wir uns selbst Gesetze auferlegen, sind wir gleichzeitig diejenigen, die die Gesetze erlassen, und diejenigen, die den Gesetzen unterworfen, d. h. potentiell von den Gesetzen sanktioniert werden. Derjenige, der unterwirft, ist – nun auf der anthropologischen Ebene gesprochen – der homo noumenon, derjenige, der unterworfen wird, ist der homo phaenomenon. Der homo noumenon ist das verpflichtende Ich (auctor obligationis), der homo phaenomenon ist das verpflichtete Ich (subiectum obligationis). 34 Der Gesellschaftsvertrag und die innerpersonalen Verpflichtungsverhältnisse sind analog: Hier wie dort unterwirft sich das phänomenale Leben einer Ordnung, die im Bereich des Phänomenalen ihre Wirkung, im Noumenalen jedoch ihren Ursprung hat, und deren Ziel die Ermöglichung von Freiheit im Sinne der Herrschaft der Vernunft als der einzig freien Instanz im individuellen wie im gemeinschaftlichen Leben der Menschen ist. Und diese Ordnung gerät im Suizid aus dem Lot. Suizid, so Kant, verstößt gegen die Pflichten des Menschen gegen sich selbst, weil der Mensch nicht sich selbst, sondern seinem eigentlichen Selbst gehört, der Menschheit in seiner eigenen Person, die in der Lage ist, sich über alles andere zu erheben und sich in seinem freiheitlichen Selbstvollzug allein von der vernünftigen Moral leiten zu lassen: »Die Menschheit in unserer Person ist gesetzgebend, der Mensch gehorchend und Pflicht gegen sich selbst ist die Achtung vor dem Ansehen der gesetzgebenden Vernunft in mir.« 35 Das Motivfeld Gehorsam, Aufsicht und Herrschaft taucht in Kants Rede von den Pflichten gegen sich selbst immer wieder auf. Das Gemüt des Menschen (im Sinne des Bewusstseins des Menschen, nicht im Sinne seines emotionalen Bestimmtseins) muss, so Kant, die 32 33 34 35

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Vgl. Kant, Die Metaphysik der Sitten Vigilantius, XXVII 601. Vgl. ebd., XXVII 594. Vgl. ders., Metaphysik der Sitten, VI 335. Ders., Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten, XXIII 399 f.

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Oberherrschaft über den Körper haben. 36 Dem homo noumenon steht es zu zu herrschen, weil er frei ist, denn der homo noumenon ist ja das mit innerer Freiheit begabte Wesen. 37 Der homo noumenon ist Zweck an sich, insofern er eben keinem anderen Zweck oder Streben unterworfen ist. Der Mensch in seiner Erscheinung, i. e. der Mensch als homo phaenomenon, ist allen Kräften und Einflüssen unterworfen, die von Seiten der äußeren Bedingungen seiner Praxis und seiner Befindlichkeit auf ihn einwirken, und insofern ist der Mensch als homo phaenomenon faktisch unfrei. 38 Daher wäre er ein schlechter Herrscher: eben weil er korrumpierbar ist und nicht frei und nicht souverän. Dem Menschen als intelligiblen Wesen ist von außen nichts auferlegt – so scheint Kant jedenfalls zu unterstellen, wir werden gleich sehen, dass Kant sehr wohl um die Möglichkeit weiß, dass auch innere Freiheit erstickt werden kann. Der homo noumenon ist jedenfalls dem Ideal nach frei von den Einflüssen und immun gegen die Einflüsterungen des täglichen, geschichtlichen, sinnlichen und begehrenden Lebens (negative Freiheit); er ist frei dazu, sich keiner anderen Einredung als allein der einzig moralisch maßgeblichen Einredung, der Stimme der Vernunft und dem von ihr verkündigten vernünftigen moralischen Gesetz zu unterwerfen (positive Freiheit). 39 Weil der homo noumenon frei ist, genauer: weil er dem Gesetz gehorchen und dadurch frei sein kann, soll von ihm die Herrschaft ausgehen. 40 Wenn hingegen der homo phaenomenon, der seinem Wesen nach unfrei ist, die Herrschaft an sich reißt, herrscht Unfreiheit. In diesen Zusammenhang ist der eingangs bereits angesprochene Gedanke einzuordnen: »Das Subjekt der Sittlichkeit in seiner eigenen

Vgl. ders., Vorlesung zur Moralphilosophie [Mitschrift Kähler], 230/286 f. Vgl. ders., Metaphysik der Sitten, VI 418. 38 Vgl. ders., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, IV 456 f. 39 Kant selbst spricht in einem etwas anderen Sinn von einer Freiheit im positiven und negativen »Verstande«: Unabhängigkeit von begehrten Objekten ist Freiheit »im negativen Verstande«, Bestimmung der Willkür durch die allgemeine gesetzgebende Form ist Freiheit »im positiven Verstande«. Vgl. ders., Kritik der praktischen Vernunft, V 33. Dazu: Westphal/Red., Art. Freiheit, positiver/negativer Begriff der, 641. Vgl. zu positiver und negativer Freiheit bei Kant als Freiheit von der Bestimmung zur Sinnlichkeit und Freiheit zum Leben nach dem moralischen Gesetz Trampota, Kants Konzeption der Tugend als Habitus der Freiheit, v. a. 33, 83, 92. 40 Vgl. zum Gehorsam gegenüber dem Gesetz als Grund der Freiheit Ebbinghaus, Deutung und Mißdeutung des kategorischen Imperativs, 418. 36 37

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Person zu zernichten, ist ebensoviel, als die Sittlichkeit der Existenz nach, soviel an ihm ist, aus der Welt vertilgen, welche doch Zweck an sich selbst ist; mithin über sich selbst als bloßes Mittel zu ihm beliebigen Zweck zu disponieren, heißt die Menschheit in der eigenen Person (homo noumenon) abwürdigen, der doch der Mensch (homo phaenomenon) zur Erhaltung anvertrauet war.« 41 Der Ausdruck »Zweck an sich« könnte verstanden werden im Sinne von: ›ganz besonders kostbar‹, oder im Sinne von: ›frei, keinem anderen Zweck unterworfen‹, und letzteres meint Kant. 42 Dass der Mensch »Zweck an sich« ist, gründet in seiner Freiheit, darin, dass er einen eigenen Willen hat; diese Freiheit allein ist es, die den Menschen ein Zweck an sich sein lässt. 43 Kraft seiner Fähigkeit zum freien Vernunftgebrauch ist der Mensch Zweck an sich selbst, weil seine Freiheit keinen Gesetzen unterworfen ist, genauer: keinen Gesetzen unterworfen mit Ausnahme jener, denen er sich selbst aus freiem Entschluss unterwirft. Darin besteht besagte negative Freiheit, und darin ist die herausragende Position des homo noumenon begründet: »Wenn nur vernünftige Wesen können Zweck an sich selbst sein, so können sie es nicht darum sein, weil sie Vernunft, sondern weil sie Freiheit haben. Die Vernunft ist bloß ein Mittel. – […] Vernunft macht noch nicht Ursache aus: da der Mensch Zweck an sich selbst ist, hat er Würde, die durch kein Äquivalent ersetzt werden kann. Die Vernunft aber gibt uns nicht die Würde. […]. [D]ie Freiheit, nur die Freiheit allein, macht, daß wir Zweck an sich selbst sind. Hier haben wir Vermögen, nach unserem eigenen Willen zu handeln.« 44 Die Vernunft ist also zumindest nicht der unmittelbare Ursprung der Würde, sondern die Vernunft leitet dazu an, die Freiheit richtig zu gebrauchen, und in diesem richtigen Gebrauch der Freiheit liegt die Würde der Person: »Die Würde der Menschlichen Natur liegt bloß in der Freiheit […]. Aber die Würde eines Menschen (Würdigkeit) beruht auf dem Gebrauch der Freiheit, da er sich alles Guten würdig macht.« 45 Mithin lässt sich unterscheiden zwischen einer ›ursprünglichen Würde‹, i. e.

Kant, Metaphysik der Sitten, VI 423. Vgl. Sensen, Kant on Human Dignity, v. a. 102–105. 43 Vgl. Kant, Naturrecht Feyerabend, XXVII 1319. 44 Ebd., XXVII 1322. 45 Vgl. ders., Reflexion 6856, XIX 181. Dazu: Sensen, Kants erhabene Würde, 171; Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, VI 57, Anm. * (Würde als Freiheit von der Macht der Neigungen). Dazu: Sensen, Dignity, 257. 41 42

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der Fähigkeit zur Freiheit, und der würdevollen Verwirklichung dieser Freiheit, die erst Würde im vollen Sinne konstituiert. 46 Dass und inwiefern die Würde des Menschen bei Kant nicht als intrinsische Eigenschaft, sondern als aktive Würde konzeptualisiert ist, wird uns noch näher beschäftigen. Zunächst fragen wir vor dem Hintergrund der bisher angestellten Beobachtungen erneut: Was meint Kant, wenn er sagt, beim Suizid werde die Menschheit in der Person als Mittel zum Zweck »disponiert«? Wir müssen dieser Formulierung noch weiter nachspüren, ehe wir genauer verstehen können, was Kants Gedanken der Pflichten gegen sich selbst antreibt. Wir gehen hierfür einen Umweg über die Pflichten gegen andere, um genauer zu verstehen, warum Kant meint, dass im Suizid insofern die Pflichten gegen sich selbst verletzt werden, als der Mensch sich selbst zum Mittel zum Zweck macht. Im Zuge dieser Überlegungen wird noch greifbarer werden, inwiefern Freiheit der Grund der Pflichten gegen sich selbst ist. Gleichzeitig wird sich abzeichnen, dass diese Freiheit noch deutlicher, als es bei Kant geschieht, im Sinne einer im geschichtlichen Leben zu entfaltenden Freiheit verstanden werden sollte.

2.2 Freiheit als Imperativ der Menschheit in einer jeden Person Was wir tun, ist dann und nur dann moralisch, wenn die Maximen unseres Handelns bei allen vernünftigen Wesen Zustimmung erfahren müssten. Den anderen Menschen immer auch als Zweck zu behandeln, wie das Instrumentalisierungsverbot fordert, bedeutet vor diesem Hintergrund, ihn so zu behandeln, dass er dem, was an ihm getan wird, aus Freiheit zustimmen könnte und auch zustimmen würde, wenn er die universalisierbaren Maximen, die das ihn betreffende Handeln leiten, einsähe. Andernfalls behandelt man Menschen als bloße Instrumente, als Mittel zum Zweck. 47 Den anderen Menschen bloß als Mittel zum Zweck zu behandeln, bedeutet, ihn so zu behandeln, dass ihm der Freiheitsraum genommen wird, innerhalb dessen er sich insofern frei bewegen kann, als er den Einflussnahmen anderer auf sein Leben wahlweise zustimmen oder die Zustimmung 46 47

Vgl. Sensen, Kants erhabene Würde, 169. Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, VI 87.

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wirksam verweigern kann. Menschen diesen Freiheitsraum zu nehmen, bedeutet, sie nicht als das zu behandeln, was sie sind: freie Wesen, die Zweck an sich, i. e. durch nichts anderes bedingt sind. Andere Menschen gegen deren Willen eigenen Plänen zu unterwerfen, läuft auf die Leugnung des ›Wertes‹ hinaus, der Menschen zu Menschen macht. 48 Den anderen Menschen als bloßes Mittel zum Zweck zu behandeln, bedeutet, die Notwendigkeit zu übergehen, dass dem anderen die Zustimmung zu den Maximen des Handelns an ihm oder die wirksame Verweigerung der Zustimmung zumindest möglich sein muss und dass der andere diese Zustimmung auch tatsächlich geben würde, wenn sich ihm die Vernünftigkeit der Maximen des Handelns an ihm erschlösse. Umgekehrt ist die Pflicht zur Nächstenliebe die Pflicht, sich die Zwecke des anderen zu eigen zu machen, was impliziert, den anderen eben nie als Mittel zu behandeln: »Die Pflicht der Nächstenliebe kann also auch so ausgedrückt werden: sie ist die Pflicht, Anderer ihre Zwecke (sofern diese nur nicht unsittlich sind) zu den meinen zu machen; die Pflicht der Achtung meines Nächsten ist in der Maxime enthalten, keinen anderen Menschen bloß als Mittel zu meinen Zwecken abzuwürdigen (nicht zu verlangen, der andere solle sich wegwerfen, um meinen Zwecken zu frönen).« 49 Nächstenliebe bedeutet, sich die Zwecke, d. h. die Strebungen, Intentionen, Motive usw. des anderen solidarisch zu eigen zu machen, mit Ausnahme eben jener Strebungen, Intentionen, Motive usw., die im Kant’schen Sinn des Wortes »unsittlich«, d. h. moralisch nicht zu rechtfertigen sind. Denn nur, wenn wir uns die Zwecke anderer zu eigen machen, erkennen wir wirklich an, dass andere Menschen Urheber ihrer eigenen Projekte sind, und zwar solche Urheber, die sich wie wir selbst nicht selbst genügen, sondern auf Kooperation mit anderen angewiesen sind, um ihre Projekte wirksam zu verfolgen. 50 Daher haben wir für die Moralität unserer Handlungsmotive einzustehen und haben uns gleichzeitig die Motive anderer zu eigen zu machen (sofern diese nicht gegen die Moral verstoßen und mithin abzulehnen sind). Unmoral ist das Gegenteil: sich das Handlungsmotiv der anderen Person nicht zu eigen zu machen, sondern es vielmehr den eigenen Handlungsmotiven zu unterwerfen. 48 49 50

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Vgl. Berlin, Zwei Freiheitsbegriffe, 93, 111. Kant, Metaphysik der Sitten, VI 450. Vgl. O’Neill, Universal Laws as Ends-in-Themselves, 140.

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Freiheit als Imperativ der Menschheit in einer jeden Person

Und aus diesem Grund kann Kant auch sagen: Der Mensch, der homo phaenomenon, mag unheilig genug sein, die Menschheit in seiner Person aber, der homo noumenon, hat ihm heilig zu sein. Alles in der Welt kann immer auch als Mittel zum Zweck gebraucht werden, aber der Mensch ist heilig, weil er Zweck an sich ist, weil er ein freies Wesen ist, das an der Heiligkeit des moralischen Gesetzes Anteil hat: »Er ist nämlich das Subjekt des moralischen Gesetzes, welches heilig ist, vermöge der Autonomie seiner Freiheit.« 51 Dies bedeutet, dass der Mensch nicht einer Absicht unterworfen werden darf, die nicht nach dem moralischen Gesetz aus seinem eigenen Willen hervorgehen könnte. 52 Das ist auch der Grund, warum der Mensch die heilige Pflicht hat, das Recht des Menschen – genauer: das Recht der Menschheit in der Person, in der eigenen (!) und in der des anderen – heilig zu halten. 53 Dass der Mensch in das einstimmt, was das moralische Gesetz fordert, ist die heilige Pflicht des Menschen. Der Ursprung der Pflichten überhaupt bei Kant ist das Recht der Menschheit in unserer eigenen Person. Die Menschheit in unserer eigenen Person muss uns heilig sein, weil wir Subjekt des vernünftigen moralischen Gesetzes sind. 54 Um des Gesetzes willen und – dies ist entscheidend – um willen der freien Einstimmung in das Gesetz kann überhaupt etwas heilig genannt werden. 55 In der Vernunftbegabung, vor allem aber in dem, was die Vernunft dekretiert, i. e. dem Leben in freier Unterwerfung unter das moralische Gesetz, liegen die Pflichten sich selbst gegenüber begründet. Insofern bedingt der Gedanke, dass es eine Menschheit in der Person des Menschen gibt, eine bestimmte Pflicht (die vielerlei Implikationen hat), eben die Pflicht, dass man so handelt, dass diese Menschheit in der eigenen Person ebenso wie die Menschheit in der Person des anderen nie bloß als Mittel, sondern immer zugleich als Zweck gebraucht wird. Und hieraus folgt das Verbot des Suizids. Denn im Suizid macht der handelnde Mensch, der homo phaenomenon, den homo noumenon zum Instrument, um sich selbst loszuwerden. »[…] [D]erjenige, der mit Selbstmorde umgeht, [muss] sich Kant, Kritik der praktischen Vernunft, V 87. Vgl. ebd. 53 Vgl. ders., Zum ewigen Frieden, ein philosophischer Entwurf, VIII 353, Anm. Kant bezeichnet das Recht des Menschen an dieser Stelle als »Augapfel Gottes«. Vgl. auch ebd., 380. 54 Vgl. ders., Kritik der praktischen Vernunft, V 131 f. 55 Vgl. ebd., V 132. 51 52

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Freiheit als Grund der Pflichten gegen sich selbst

fragen, ob seine Handlung mit der Idee der Menschheit, als Zwecks an sich selbst, zusammen bestehen könne. Wenn er, um einem beschwerlichen Zustand zu entfliehen, sich selbst zerstört, so bedient er sich einer Person bloß als eines Mittels, zu Erhaltung eines erträglichen Zustandes bis zum Ende des Lebens.« 56 Der homo noumenon wird im Suizid zum Instrument des homo phaenomenon, der, wie Kant es darstellt, vom Verlangen getrieben ist, das zur Last gewordene Leben zu beenden. 57 So wie ein anderer Mensch mir nicht das Leben nehmen darf, weil ich, i. e. die Menschheit in meiner Person, dieser Zerstörung der Bedingung der Möglichkeit meiner Freiheit, die meine Würde bedingt, aus freiem Entschluss niemals zustimmen könnte, so darf ich mir selbst nicht das Leben nehmen, weil mein eigentliches Ich, eben jene Menschheit in meiner Person, dem niemals zustimmen könnte. Tut jemand das doch, so bedient er sich (s)einer Person als eines bloßen Mittels, was im Selbstverhältnis ebenso untersagt ist wie in zwischenmenschlichen Verhältnissen. 58 Die Pflicht, die Menschheit in einer jeden Person heilig zu halten, beinhaltet die Pflicht zur Lebenserhaltung und bedingt die Pflichtwidrigkeit des Suizids, denn »die Menschheit hat eine Unverletzlichkeit in seiner Person, es ist etwas Heiliges, das uns anvertraut ist«, und daher darf der Mensch über sich, über die Menschheit in seiner Person nicht »disponieren«, weil er andernfalls das Heiligtum, das ihm anvertraut ist, antasten würde. 59 Nicht der Mensch, d. h. nicht die Person selbst, genauer: nicht etwas, das im Menschen ist, gilt bei Kant als heilig, auch wenn das oftmals behauptet wird. 60 Nicht die ›Aura der menschlichen Person‹, sondern die Aura dessen, was den Menschen adelt, ist eine Aura der Heiligkeit. Die Teilhabe an der Menschheit als Bestimmung zu einem Leben in Freiheit, nicht eine Dimension innerhalb der Person ist der letzte Maßstab und der letzte Grund für die Pflichten gegen sich selbst: »Die verbindende Kraft alles Rechts liegt nicht so wohl in dem, was einer Person eigen ist, als vielmehr in dem Rechte der Menschheit. Daher haben alle Menschen die Verbindlichkeit, das Recht jedes einzelnen zu unterstützen. Dieses Recht der Menschheit verbindet auch einen jeden gegen sich Ders., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, IV 429. Vgl. ebd., IV 397 f. 58 Ders., Metaphysik der Sitten, VI 450. 59 Ders., Vorlesung zur Moralphilosophie [Mitschrift Kähler], 221/276. 60 So z. B. Joas, Die Sakralität der Person, 84 f.; kritisch hierzu: Schmidt, »Das moralische Gesetz ist heilig (unverletzlich)«, v. a. 654. 56 57

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Freiheit als Imperativ der Menschheit in einer jeden Person

selbst. Er ist in die Menschheit aufgenommen, akquiriert ihre Rechte aber unter der Pflicht, die Würde derselben zu erhalten. Daher alle Pflichten gegen sich selbst.« 61 Die Würde des Menschen wird »erhalten«, indem die Menschheit im Menschen geachtet wird: Die Pflicht, den Menschen zu achten, konstituiert dessen Würde und Heiligkeit, sie reagiert nicht auf eine dem Menschen immanente Eigenschaft – so jedenfalls die viel beachtete Lesart Oliver Sensens. 62 Diese Lesart sieht die Würde der Person entgegen einer verbreiteten Kantrezeption in erster Linie in den Pflichten, die dem Würdeträger auferlegt sind, und nicht oder allenfalls sekundär in den Rechten, die aus der inhärenten und absoluten Würde des jeweiligen Gegenübers abzuleiten sind. 63 Und diese Pflicht ist in erster Linie eine Pflicht gegen sich selbst. 64 Die Pflicht, nicht der Mensch ist heilig; die Pflicht zu einem Leben aus Freiheit ist heilig und daher würde, wie wir noch sehen werden, die Pflicht zur Erhaltung des Lebens erlöschen, wenn der Mensch dieser Pflicht, i. e. der Einstimmung in das moralische Gesetz und das Befolgen des darin enthaltenen Verbots jeglicher Instrumentalisierung, aus äußeren, unabänderlichen Gründen nicht mehr entsprechen könnte, denn dann würde auch die Möglichkeit zu einem Leben in Würde erlöschen. Die Frage, ob eine solche Tilgung von Freiheit mit der Folge des Erlöschens der Möglichkeit eines Lebens in Würde und fernerhin der Folge des Erlöschens der Pflicht zu leben (Kants Auffassung nach) im geschichtlichen Leben tatsächlich vorkommen kann oder eine bloß theoretische Denkmöglichkeit darstellt, wird uns noch beschäftigen. Entscheidend ist, noch einmal, die Möglichkeit eines Lebens, das im Zeichen der freien Zustimmung zu dem, was einem Menschen geschieht, geführt wird. Ich darf an mir nicht etwas tun, dem der homo noumenon nicht aus Freiheit zustimmen könnte, so wie ich an einem Kant, Reflexion 7862, XIX 538. Vgl. Sensen, Kants erhabene Würde. Sensen verweist darauf, dass unklar ist, wie, d. h. mit welchem Wahrnehmungsorgan der Mensch denn die objektiv gegebene Würde des anderen Menschen registrieren sollte, so diese Würde als objektiv gegebene, intrinsische Wert-Eigenschaft des Menschen zu verstehen sei. Sinnliche Erfahrung scheidet aus, weil empirische Erfahrung keine strikte Allgemeinheit fassen kann (ebd., v. a. 159 f.). Der Struktur nach verweist bereits John Mackie im Rahmen seiner Kritik am ethischen Objektivismus auf dieses Problem. Vgl. Mackie, Ethik, v. a. 44. 63 Brandhorst/Weber-Guskar, Einleitung, 11. 64 Vgl. Weber-Guskar, Würde als Haltung, v. a. 52. 61 62

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anderen Menschen nicht etwas tun darf, dem der andere Mensch nicht aus Freiheit im Rückgriff auf vernünftige Reflexion zustimmen könnte. Das Maß der Pflichten gegen sich selbst ist die Übereinstimmung des Menschen mit sich selbst bzw. mit seinem eigentlichen, zur Freiheit bestimmten Selbst. D. h. entscheidend ist die Frage, ob der homo noumenon dem, was der homo phaenomenon tut und bewirkt, zustimmen kann/könnte, so dass das, was dem homo noumenon geschieht, dessen Freiheit als Freiheit zur Zustimmung bewahrt. Bemerkenswert ist nun, dass Kant eine Ausnahme von diesem Verbot anführt. Denkt man dieser Ausnahme nach und misst man ihr mehr Bedeutung zu, als Kant selbst es tat bzw. zu tun bereit war, dann legt sich eine wegweisende Modifikation der Kant’schen Begründung der Pflichten gegen sich selbst insgesamt nahe.

2.3 Freiheit als freie Selbstbindung Zum Instrument wird der homo noumenon im Suizid, weil der homo noumenon dem Suizid niemals zustimmen könnte – nahezu niemals. Das Wesen des homo noumenon ist es, frei zu sein. Wird der homo noumenon vernichtet, wird Freiheit vernichtet. Dem kann der homo noumenon nicht zustimmen, es sei denn, und hierin besteht die von Kant angeführte Ausnahme vom Verbot des Suizids: es sei denn, die Umstände erdrücken den homo noumenon vollständig. Es gibt bei Kant eine Grenze für die Pflicht zu leben. Es ist, so Kant, nicht unbedingt nötig, dass man lebt. Wenn der Mensch droht, zu einem vollständig verzweckten, d. h. der Willkür eines anderen Menschen ausgelieferten Leben genötigt zu werden, hat er keine Pflicht weiterzuleben, weil das moralische Leben an sein Ende gekommen ist. »[W]enn nun z. E. [zum Exempel bzw. zum Beispiel, J. S.] eine Person ihr Leben nicht länger anders erhalten kann als durch Preisgabe ihrer Person in den Willen eines anderen, so ist sie verbunden, lieber ihr Leben aufzugeben, als die Würde der Menschheit in ihrer Person zu entehren, welches sie doch dadurch tut, daß sie sich als eine Sache der Willkür des anderen unterwirft.« 65 Ebenso gilt: Wenn der Mensch in Kant, Vorlesung zur Moralphilosophie [Mitschrift Kähler], 229/284 f. Der Sache nach, ohne Bezug zu dieser Textstelle, diskutiert Hill dieses Problem. – Ob Kant in extremen Fällen tatsächlich eine Pflicht gegen sich selbst zum Suizid annehmen würde, wie manche seiner Formulierungen nahe zu legen scheinen, kann hier unerörtert

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eine Lage gebracht wird, in der er als integres Wesen nicht mehr überleben kann, dann ist er nicht länger verpflichtet, das eigene Leben zu erhalten. 66 Solange man lebt, hat man ehrenwert zu leben, »wer aber nicht mehr ehrenwert leben kann, der ist gar nicht mehr wert zu leben.« 67 Und wohl aus demselben Grund meint Kant auch, dass ein »ehrlicher« (d. h. ein ehrliebender, ehrenvoller, sein Leben im Zeichen der eigenen Vorstellung von seiner Ehre führender) Mann, der wegen eines Kapitalverbrechens zum Tode verurteilt worden ist, es vorzieht, die Todesstrafe zu erleiden anstatt eine lebenslange Freiheitsstrafe zu verbüßen, denn er »kennt etwas, was er noch höher schätzt als selbst das Leben: nämlich die Ehre.« 68 Auffällig ist, wie Kant in diesen Passagen auf Ehre bzw. auf das Erleiden einer Entehrung zu sprechen kommt. 69 Kant meint mit »Ehre« nicht allein eine im sozialen Raum dem Menschen durch andere Subjekte nach deren zufälligem Ermessen zugeschriebene Ehre, und Kant spricht hier nicht von einem Suizid als einer Reaktion auf soziale Ächtung. Die stoische Überzeugung, der Suizid sei selbst ehrenvoll, weist Kant ausdrücklich zurück. 70 Die Ehre, von der Kant in den beiden zitierten Aussagen spricht, ist ein Moment des moralischen Selbstverhältnisses der Person, i. e. der Bejahung der eigenen Fähigkeit, sich aus Freiheit vom moralischen Gesetz bestimmen zu lassen. Diese innere Ehre bzw. die auf sie gerichtete Haltung der Ehrliebe (honestas interna, auch animus elatus) zählt zu den Pflichten gegen sich selbst, ja hat eine diese begründende Funktion: Das Prinzip der Pflichten gegen sich selbst ist die Selbstschätzung. 71 Ehrliebe ist in bleiben; vieles spricht dagegen. Vgl. hierzu Cholbi, Kant on Euthanasia and the Duty to Die, v. a. 610; Cooley, A Kantian Moral Duty for the Soon-to-be Demented to Commit Suicide; Sharp, The Dangers of Euthanasia and Dementia. 66 Vgl. Kant, Vorlesung zur Moralphilosophie [Mitschrift Kähler], 228/283. 67 Ebd., 222/277; vgl. ebd., 224/279. 68 Ders., Metaphysik der Sitten, VI 334. 69 Ein Vorbild hierfür könnte die Sittenlehre Georg Friedrich Meiers sein, insofern Meier, der Kant stark beeinflusst haben dürfte, ebenfalls betont, dass der Mensch sich schulde, seine Ehre zu wahren. Vgl. Meier, Philosophische Sittenlehre. Anderer Theil, v. a. 340 u. 347. Zum Einfluss Meiers auf Kant, der auch einen Ruf als Nachfolger auf Meiers Professur erhalten (und abgelehnt) hatte, vgl. Schenk, Leben und Werk des halleschen Aufklärers Georg Friedrich Meier, 42, 95, 98, 113, 174. Für den Hinweis auf Georg Friedrich Meier danke ich Martin Leutzsch. 70 Vgl. Kant, Praktische Philosophie Powalski, XXVII 108. 71 Vgl. ders., Moralphilosophie Collins, XXVII 347; ders., Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten, XXIII 401; Denis, Proper Self-Esteem and Duties to Oneself, v. a. 214. Zum Verhältnis von Selbstachtung und Pflichten gegen sich selbst s. o. Anm. 22. Was wir uns schulden

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moralischer Hinsicht scharf zu unterscheiden von der verwerflichen Begierde nach Ehrerweisungen durch andere (ambitio, »Ehrsucht«). 72 Auch ist Ehrliebe in phänomenologischer Hinsicht zu unterscheiden von der erstrebenswerten Ehrbarkeit (honestas externa), dem Sichtbarwerden der Ehre im Äußeren. 73 Zu tun, was zurecht Ehre erwirbt, ist eine moralische Forderung: »Ehrliebend sein ist etwas Moralisches.« 74 Der Mensch hat in dem Sinne die Pflicht, seine Ehre zu erhalten, als es ihm obliegt, das unverletzliche Heiligtum zu erhalten, das der Mensch als zur Freiheit bestimmte Person verkörpert. 75 Ehre und Würde sind bei Kant – wie auch im Begriff der dignitas des antiken Rom, dem Kants Würdebegriff nahesteht – auf das engste verbunden. 76 Die oben genannte von Kant angeführte Ausnahme vom Verbot des Suizids muss nun Situationen meinen, in denen diese Erhaltung der moralisch verstandenen Ehre nicht möglich ist. Beide genannten Fälle – dass der Mensch der Willkür eines anderen anheimgegeben wird, dass der Mensch es vorzieht, für ein Verbrechen mit dem Tode bestraft zu werden, anstatt ohne Ehre weiterzuleben – haben eine Gemeinsamkeit: Hier wie dort ist es Kants Darstellung nach dem Menschen verwehrt, ein moralisches Leben zu führen, genauer: sich das eigene Leben als moralisches Leben selbst inskünftig noch vor Augen zu führen. Wer vollkommener Fremdbestimmung unterworfen ist, kann in dem Sinne kein moralisches Leben führen, dass das Heiligtum im Menschen, die Fähigkeit, nach den Gesetzen der Vernunft auch ›physisch‹ zu leben, durch Fremdeinwirkung geschändet ist. Wer sich eines Verbrechens schuldig gemacht hat, in dessen Lichte sich ein Mensch selbst nicht mehr als moralisches Wesen sehen kann, hat die Möglichkeit verwirkt, ein in seinen eigenen

Vgl. ders., Anthropologie in pragmatischer Absicht, VII 272. Vgl. zur Ehrbarkeit Kant, Metaphysik der Sitten, VI 420; 465. 74 Kant, Reflexion 7071, XIX 242. 75 Vgl. ders., Die Metaphysik der Sitten Vigilantius, XXVII 602; vgl. ferner Höffe, »Königliche Völker«, 147–161, zur Ulpian-Formel »honeste vive« bei Kant. 76 Vgl. Sensen, Kants erhabene Würde, 167; Pöschl, Der Begriff der Würde im antiken Rom und später, 53: »[D]er einzelne erringt die innere dignitas, indem der physische Mensch sich dem moralischen unterwirft. Der moralische Aspekt der römischen dignitas erscheint hier losgelöst von allen politischen, sozialen und kosmischen Zusammenhängen neu erstanden.« 72 73

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Augen von Ehrliebe getragenes Leben zu führen – dies jedenfalls scheint Kant zu unterstellen. 77 Diese Bemerkungen Kants irritieren, weil sie die bei Kant sonst scharf gezogene Unterscheidung zwischen dem Phänomenalen und dem Noumenalen zu unterlaufen scheinen. So weiß Kant zwischen einer inneren Freiheit (Willensfreiheit) und einer äußeren Freiheit (Handlungsfreiheit) bzw. zwischen einer praktischen Freiheit (der Person) und einer physischen (tatsächlich gegebenen) Freiheit zu unterscheiden. Und Kant meint, dass innere Freiheit und mithin das innere Gefühl für seine eigene Ehre dem Menschen auch in der Sklaverei nicht verloren gehen müsse: »Die persönliche Freiheit kann bleiben, wenn auch die physische fehlt, wie z. E. beim Epiktet.« 78 Vermutlich muss man indes hier sehr ernst nehmen, dass Kant von einer Möglichkeit spricht: Die persönliche Freiheit kann bleiben – dies bedeutet, dass sie es eben nicht zwangsläufig tut, so als bewohne die innere Freiheit eine eigene, gegen Einwirkungen der Außenwelt abgeschottete Welt. Wohl ist die Ehrliebe als Gefühl des inneren Wertes gegen die Verachtung anderer immun. 79 Aber das heißt eben nicht, dass eine katastrophale Erfahrung – ob sie nun von außen auf den Menschen trifft oder als Folge eigener Verfehlung über ihn kommt wie beim genannten Beispiel eines ›Kapitalverbrechers‹ – nicht auf das in seiner inneren Freiheit gründende Ehrgefühl des Menschen durchschlagen könnte. Ehre ist bei Kant eine innere Ehre (honestas interna), eine Sensibilität für die, mit Bernard Williams gesprochen, in der Vorstellung von Ehre repräsentierten inneren Maßstäbe des Vortrefflichen, die von tatsächlichen Ereignissen des Gesehenwerdens losgelöst sein kann. 80 Zumindest aber die Anschaulichkeit dieser inneren Maßstäbe des Vortrefflichen ist auf deren Verkörperung in sozialen Beziehungen verwiesen. Und insofern ist die honestas interna keine innere Zitadelle, die von den Außenbeziehungen des Menschen vollständig abgeschottet wäre. 81 Kant hält fest, es sei sonderbar, Zur Vorstellung, dass die Ehre mehr Gewicht habe als das Leben, vgl. Speitkamp, Ohrfeige, Duell und Ehrenmord, 125, 134 u. a. 78 Kant, Vorlesungen über die Metaphysik (Pölitz), XXVIII 256. 79 Vgl. ders., Anthropologie Starke 2, 60: »Die Ehrliebe ist der Abscheu vor allem dem, was jemanden in Verachtung bringen kann; die Meinung anderer von unserem Werte kann dabei nicht in Betracht kommen, wenn wir uns nur selbst unsers inneren Wertes bewusst sind.« 80 Williams, Scham, Schuld und Notwendigkeit, v. a. 100, 114. 81 Zur Metapher der »inneren Zitadelle« vgl. Berlin, Zwei Freiheitsbegriffe, 90–97. 77

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dass uns das Urteil anderer so sehr interessiere, obwohl es nicht den geringsten Einfluss auf unseren Zustand habe. 82 Die von Kant hier beobachtete ›Sonderbarkeit‹ deutet aber eben darauf hin, dass es nicht zutrifft, dass unsere konkrete Lebenssituation in unseren sozialen Rollen und die auf uns gerichteten Blicke der anderen Menschen in unserem Umfeld gar keinen Einfluss auf uns hätten. Um diesen Befund einzuordnen, müssen wir uns kurz vergegenwärtigen, an welcher systematischen Stelle das Thema »Ehre« virulent geworden war. Wir hatten festgehalten: Instrumentalisierung des Menschen ist das, was unbedingt verboten ist. Unbedingt verboten ist, dass ein Mensch den anderen zum Instrument macht, sein oder ihr Recht auf eigenen Vernunftgebrauch vollständig übergeht. Unbedingt verboten ist, dass jemand sich zum Instrument eines anderen machen, sich manipulieren, sich zu etwas nötigen lässt, dem er nicht als moralisch richtig zustimmen kann. Und dies gilt eben auch im Selbstverhältnis, genauer: Systematisch gesehen ist die Pflicht, dass ein Mensch sich selbst seinen Freiheitsraum gewährt, der Pflicht, anderen ihren Freiheitsraum zu gewähren, vorausgesetzt. 83 Wer die Menschheit des anderen achtet, indem er dem anderen Menschen den ihm rechtmäßig zustehenden Freiheitsraum gewährt und auch für dessen Verteidigung mit allen angemessenen Mitteln einzustehen bereit ist, würde sich sichtbar widersprechen, wenn er sich nicht in derselben Weise an die Pflicht zum Schutz der je eigenen Freiheit gebunden sähe und zeigte. In dieser Hinsicht ist Kant zuzustimmen, dass alle Pflichten – wenn denn wie gesagt die Freiheit letztlich der Grund aller Pflichten ist – mit einer Pflicht gegen sich selbst innigst verbunden sind. Und aus diesem Grund bleibt mit Blick auf das Verbot des Suizids bei Kant eine Hintertür geöffnet: Wenn ein Mensch in einer Weise instrumentalisiert wird, der er moralisch niemals zustimmen könnte, wenn er sich in einer Lebenssituation befindet, die in einer unausweichlichen Instrumentalisierung seiner selbst und der Vernichtung seiner Freiheit oder dem Ausgeschlossensein eines als moralisch anzusehenden Lebens besteht, dann ist bereits vernichtet, was zu erhalten seine unbedingte Pflicht wäre. Der homo phaenomenon hat die Pflicht, ein Leben zu ›beheimaten‹, dem der homo noumenon aus Freiheit und um willen seiner Freiheit zustimmen könnte. Wenn 82 83

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Vgl. Kant, Praktische Philosophie Powalski, XXVII, 144. Vgl. Höffe, Kants Kritik der praktischen Vernunft, 242.

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dies jedoch nicht mehr möglich ist, dann und nur dann ist der Mensch von der Pflicht zu leben entbunden, weil die Stimme des auctor obligationis, die Stimme des homo noumenon, durch katastrophale lebensgeschichtliche Wirklichkeit erstickt ist. Zwar ist besagte ›Hintertür‹ bei Kant in der Hinsicht faktisch weitgehend verriegelt, dass Kant mit Blick auf den Suizid Catos kommentiert, dies sei eben das einzige Beispiel für einen nicht verwerflichen »Selbstmord«, und es könne kein weiteres Beispiel geben. 84 Aber folgt daraus, dass dieser Gedanke Kants letztlich bedeutungslos ist, weil die ›Erlaubnis‹ zum Suizid eine Denkmöglichkeit ist, die Kants Auffassung nach in der realen Welt nicht vorkommt bzw. nicht vorkommen kann? Dies ist eine mögliche Lesart dieser Bemerkungen Kants. Es eröffnen sich mithin zwei mögliche konkurrierende Lesarten der von Kant angeführten Ausnahme vom absoluten Verbot des Suizids. Eine denkbare und durchaus naheliegende Lesart lautet: ›Das absolute Verbot des Suizids folgt zwingend aus Kants philosophischethischen Prämissen, und wenn Kant den vollkommenen Ehrverlust als (bloß in der Theorie) denkbaren Grund für eine Ausnahme von diesem Verbot gelten lässt, dann werden hier die Eierschalen einer Kants Philosophie anhaftenden, heteronomen Schamkultur sichtbar. Eine kritische Rekonstruktion des rationalen Gehalts der Kant’schen Position kann und sollte solche Eierschalen nicht weiter beachten.‹ Diese Lesart ist möglich und gut begründbar. Sie kann für sich in Anspruch nehmen, dass Kant meint, der Zustand einer Person dürfe bei der Bestimmung der Pflichten gegen sich selbst keinen Ausschlag geben. 85 Eine alternative Lesart lautet: ›Das absolute Verbot des Suizids folgt nur dann zwingend aus Kants philosophisch-ethischen Prämissen, wenn diese kasuistisch und lebensfern ausbuchstabiert werden. Wenn Kant den vollkommenen ›Ehrverlust‹ als (bloß in der Theorie) denkbaren Grund für eine Ausnahme von diesem Verbot gelten lässt, dann bricht sich hier nicht die Ideologie einer aus unserer Sicht überkommenen Schamkultur Bahn, sondern die Ahnung, dass die Verletzlichkeit geschichtlich und sozial ihre Leben führender Menschen den Rahmen bilden sollten, innerhalb dessen der Sinn ethischer Begriffe rekonstruiert wird. Diese Ahnung hat für Kant

Vgl. Kant, Moralphilosophie Collins, XXVII, 369–371. Vgl. ders., Reflexion 6590, XIX 98: »Bei den Pflichten gegen sich selbst muss der Wert der Person und nicht des Zustandes den Bewegungsgrund enthalten.«

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wenig Gewicht, aber sie ist ihm doch immerhin nicht vollkommen fremd. Versteht man Ehrverlust als Erfahrung, das eigene Leben gemessen an eigenen, jedoch intersubjektiv mitteilbaren Maßstäben nicht mehr so führen zu können, dass es aus der eigenen Perspektive bejaht werden kann, dann spiegelt sich in Kants Bemerkungen zum Ehrverlust nicht (allein) die Logik einer Schamkultur, sondern die grundlegende Erfahrung, dass Menschen in Lebenssituationen geraten können, in denen sie aus erstpersonaler Perspektive nicht mehr leben zu können meinen. 86 Dass der Begriff der Ehre diese Lebenssituationen mit den Blicken anderer Personen in Relation setzt, bedeutet nicht, dass die Blicke der anderen zum alleinigen Maßstab erhoben würden – wir hatten gesehen, dass Kant »Ehre« moralisch rekonstruiert: Das Streben nach Ehre ist das Streben nach einem Leben, das aus intersubjektiv mitteilbaren Gründen als ehrenvoll anzusehen ist. Die Angst vor dem Verlust von Ehre ist Angst vor einer Lebenssituation, die aus intersubjektiv mitteilbaren Gründen nicht mehr bejaht werden kann. So verstanden, erschließt uns das Gefühl der Scham als emotionale Repräsentation eines erlebten Ehrverlusts ex negativo, was wir zu sein hoffen. 87 Ehre wäre demnach nicht einfach nur eine archaische Vorstellung, die aufgeklärtes Nachdenken über Moral hinter sich zu lassen hätte. Das Streben nach Ehre wäre vielmehr eine bleibende Dimension des ethischen Lebens, mit Winfried Speitkamp zu sprechen: eine anthropologische Konstante, die sich nicht in einen Außenbereich des Ethischen abschieben lässt, sondern vielmehr in der Dialektik von Innen und Außen, von Selbstbild und Außenbild besteht. 88

Vgl. Hill, Self-Regarding Suicide, 91: »For example, people have sometimes found themselves trapped with no apparent options but suicide or a life they regard as base, degrading, and utterly contrary to their deepest values concerning how one should live […]. They cannot see how […] they can be ›true to themselves‹ and live as they would be forced to. […] Hopefully, in real life, suicide is rarely, if ever, the only alternative […]. But if […] the agent felt deeply that the only possible life for him was contrary to his most basic personal ideals, then to many surely suicide would seem the more admirable course.« 87 Vgl. Williams, Scham, Schuld und Notwendigkeit, v. a. 119. 88 Vgl. Speitkamp, Ohrfeige, Duell und Ehrenmord, v. a. 80, 127, 167 (innere und äußere Ehre) und 319 (Innenbild und Außenbild). Zur Unterscheidung von externer und interner bzw. innerer Ehre bzw. Ehre und Menschenwürde vgl. auch Wüthrich/ Höfner, Prekäre Ehre, 12. 86

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Wenn im Folgenden die zweite, die Vorstellung von »Ehre« moralisch rekonstruierende Lesart der Begründung der von Kant angeführten Ausnahme vom Verbot des Suizids bevorzugt wird, dann geschieht dies im Bewusstsein, dass mit dieser interpretatorischen Entscheidung der Bereich der Kantexegese potentiell verlassen und eine sich von Kant emanzipierende Fortschreibung Kant’scher Gedanken unternommen wird. Diese Fortschreibung geht zumindest insofern mit Modifikationen gegenüber dem Kant’schen Gedankengebäude einher, als Begriffe, die bei Kant schillern, in einer bestimmten Weise aufgefasst werden, und dies betrifft insbesondere den Begriff des homo noumenon. Kant denkt den homo noumenon wenn auch nicht unbedingt, wie häufig angenommen wird, als metaphysischen Persönlichkeitskern, so doch als eine zeitlose Instanz, die aus einem Raum jenseits der Grenzen geschichtlichen Seins gebietet, wie der Mensch zu leben hat. Dieser Aspekt der Kant’schen Theorie der Pflichten gegen sich selbst, die vermeintliche Zeitlosigkeit des homo noumenon, ist – neben anderen Aspekten – problematisch und gibt Anlass zur Modifikation. Dies nicht allein aus dem Grund, dass eine substantialistische Vorstellung des homo noumenon im zeitlichen Menschen ohne spekulative Vorannahmen nicht leicht zu durchdenken ist. Problematisch ist die Vorstellung vor allem aus einem inneren Grund: weil, wie die von Kant selbst angeführte Ausnahme vom Verbot des Suizids unfreiwillig andeutet, Freiheit eben geschichtlich zu verwirklichen ist und mithin auch die Maßstäbe der Pflichten des Menschen gegen sich selbst innerhalb des geschichtlichen Lebens zu suchen sind. Katastrophale biografische Ereignisse bleiben nicht ohne Wirkung auf den Menschen, der sich als Freiheitswesen versteht und sich und seine innere Ehre bejahen können will. Kants grundsätzliche Überzeugung, dass es innere Bestände des Geistes eines Menschen gibt, die gegen Einwirkungen von außen vollständig immun sind, dürfte einer empirischen Kritik kaum standhalten. 89 Es gilt daher, kritisch an Kant anzuknüpfen. Kant meint: Die Pflicht des Menschen gegen sich selbst ist, so zu leben, dass eine für das Urteil über die Angemessenheit von Bindungen eigener Freiheit zuständige Instanz im Menschen, i. e. der homo noumenon, der jeweiligen Art der Lebensführung zustimmen kann. Daran knüpft die im Folgenden vorgeschlagene Modifikation der Kant’schen Theorie 89

Vgl. Berlin, Zwei Freiheitsbegriffe, 93, Anm. 14.

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der Pflichten gegen sich selbst an, nur mit der Einschränkung, dass die für das Urteil über die Angemessenheit von Bindungen eigener Freiheit zuständige Instanz anders bestimmt wird als bei Kant. Kant meint, der homo noumenon sei die für das Urteil über die Angemessenheit von Bindungen eigener Freiheit zuständige Instanz im Menschen. Der homo noumenon als für das Urteil über die Angemessenheit von Bindungen eigener Freiheit zuständige Instanz soll Kants Darstellung nach ungeschichtlich und zeitlos sein, nur dem ewigen moralischen Gesetz verpflichtet. Und hier legt sich eine Modifikation nahe. Anders als bei Kant wird im Folgenden die für das Urteil über die Angemessenheit von Bindungen eigener Freiheit zuständige Instanz anders bestimmt: radikal zeitlich und radikal verbunden mit anderen Menschen. Denn: Was jemand sich schuldet, müsste schon irgendetwas mit seiner individuellen Person zu tun haben, die immer auf ihre eigene Vergangenheit und Zukunft schaut und in Geschichten mit anderen Menschen verstrickt ist, die einen Einfluss darauf haben, was für ein Leben ihr entspricht. Und so folgt in kritischer Anknüpfung an Kant die These: Die Pflicht des Menschen gegen sich selbst ist, so zu leben, dass eine für das Urteil über die Angemessenheit von Bindungen eigener Freiheit zuständige Instanz im Menschen der jeweiligen Art der Lebensführung zustimmen kann, und diese für das Urteil über die Angemessenheit von Bindungen eigener Freiheit zuständige Instanz im Menschen ist das in der Imagination vorweggenommene zukünftige Selbst, in welchem dem Menschen seine eigene Freiheit als Forderung gegenübertritt. Pflichten gegen sich selbst sind zeitbezogene Pflichten, gleichzeitig aber gründen sie in der Freiheit des Menschen, die ihrerseits zeitlos ist. 90 Die Wendung zum geschichtlichen Leben des Individuums impliziert nicht, dass die Pflichten gegen sich selbst einem regellosen Individualismus überlassen würden. Es gibt, wie deutlich werden wird, eine verbindliche und universale Form für die Ergründung von Pflichten gegen sich selbst, d. h. es lassen sich sehr wohl universale Vgl. zur Annahme diachroner Pflichten gegen sich selbst v. a. Schofield, On the Existence of Duties to the Self (and their Significance for Moral Philosophy), v. a. 58– 73; ders., Duty to Self, v. a. 58–78; Korsgaard, Creating the Kingdom of Ends, v. a. 382. Vgl. kritisch zur Annahme diachroner Pflichten gegen sich selbst Singer, Duties and Duties to Oneself, 141 f.; Lohmar, Gibt es Pflichten gegen sich selbst?, 53; Schaber, Unveräußerliche Menschenwürde, 121. Der Kern der Kritik besteht darin, dass Subjekt und Adressat der Pflichten »immer identisch sein« müssen (ebd.); dazu s. u.

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Pflichten gegen sich selbst namhaft machen, allerdings ist dies allein auf einer Metaebene möglich. Die Begründung der Pflichten gegen sich selbst ist in der Freiheit des Menschen zu suchen. Insofern gibt es einen über das Individuum hinausweisenden Horizont der Begründung der Pflichten gegen sich selbst. Aber diese Freiheit ist eine geschichtliche Freiheit und die Verwirklichung ebenso wie das Verwirktwerden von Freiheit sind lebensgeschichtliche Vorgänge. Es gibt die Verwirklichung der Freiheit nur im Zusammenhang einer lebendigen Selbstverwirklichung, die – und dies wiederum ist durchaus auch bei Kant vorgebildet – zwischen Regelhaftigkeit und Individualität zu vermitteln vermag. 91 Zwar lässt sich wie gesagt unterscheiden zwischen dem Freiheitsvermögen des Menschen als einer wesentlichen und unverlierbaren Eigenschaft des homo noumenon auf der einen Seite und der äußeren Freiheit, i. e. der nicht unverlierbaren Möglichkeit zur Verwirklichung der Freiheit im geschichtlichen Leben auf der anderen Seite. 92 Jene ist aber ohne Einbezug dieser nicht zu denken, jedenfalls dann nicht, wenn man keine Zwei-WeltenTheorie vertritt. Die honestas interna und der homo noumenon haben eine Eigenlogik und eine eigene Dignität, aber sie sind nicht vollkommen losgelöst vom empirischen Leben – so jedenfalls lassen sich Kants Überlegungen fortschreiben, ohne dass es zu einem vollständigen Bruch mit deren maßgeblichen Anliegen kommen muss. Denn leitend ist bei Kant jedenfalls nicht eine spekulative Zwei-Welten-Lehre, sondern die Vorstellung von einem Leben der Freiheit. 93 Und vor diesem Hintergrund lässt sich rekonstruieren, was die Beschäftigung mit Kant für eine Theorie der Pflichten gegen sich selbst bedeuten kann. Pflichten gegen sich selbst sind Pflichten gegen die eigene Freiheit. Jede gewichtige Handlung oder Unterlassung einer Person hat Auswirkungen auf das spätere Selbst, dessen Freiheit in gewissem Grade durch das gebunden wird, was diese Person vorVgl. Khurana, Das Leben der Freiheit, v. a. 236–251, 270 f. Vgl. auch Pinzani, Recht der Menschheit und Menschenrechte, v. a. 222. 93 Möglicherweise besteht in diesem Punkt der entscheidende Dissens zwischen den Grundannahmen der hier vorgelegten Theorie der Pflichten gegen sich selbst und denen der Kant’schen. Wenn Kant nämlich schreibt, dass der Begriff vom Menschen »nicht in einem und demselben Sinn gedacht wird«, sondern in zweierlei Bedeutung betrachtet wird, i. e. als homo noumenon und als homo phaenomenon (ders., Metaphysik der Sitten, VI 418), dann zeigt dies wohl, dass Kant zu der Auffassung neigt, dass der homo noumenon vom geschichtlich gelebten Leben getrennt gesehen werden soll – was jedoch wie gesagt zu seinen eigenen Ausführungen zur ethischen Tragweite eines radikalen Ehrverlusts zumindest in Spannung steht. 91 92

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mals entschieden und getan haben wird. Die Freiheit geschichtlicher Personen ist zwangsläufig durch selbstgesetzte Festlegungen gebundene Freiheit – ohne Bindung ist Freiheit nicht zu leben. 94 Maßgeblich für die Beurteilung der Frage, welche die eigene Freiheit bindenden Handlungen mit den Pflichten eines Menschen gegen sich selbst vereinbar sind, ist die Antwort auf die Frage, welchen selbstgesetzten Bindungen seiner Freiheit das spätere Selbst aller Voraussicht nach wird zustimmen können, genauer: welchen selbstgewirkten Bindungen seiner Freiheit das spätere Selbst aller Voraussicht nach zuzustimmen gute Gründe haben wird. Wir binden unsere Freiheit aus Freiheit. Wir schulden uns, dies in einer verantwortlichen Art und Weise zu tun. Die Pflicht zur verantwortlichen Verwirklichung der eigenen Freiheit ist, hierin ist Kant zuzustimmen, der Quellgrund aller Pflichten gegen sich selbst, und die Verwirklichung der Freiheit zählt zu dem, was Menschen sich schulden. 95 Der Maßstab für die Bemessung der Verantwortbarkeit der Verwirklichung der eigenen Freiheit ist jedoch nicht der zeitlose homo noumenon – und auch keine Vision »der« Natur des Menschen oder eine »optimierte«, ideale Version des Selbst. Der Maßstab für die Bemessung der Verantwortbarkeit der Verwirklichung der eigenen Freiheit ist das in der Imagination vorweggenommene zukünftige Selbst, dessen Freiheit im Guten und im Schlechten von der Form der Verwirklichung der Freiheit getroffen wird. Dies verleiht dem in der Imagination vorweggenommenen Zukünftigen seine Autorität: Nicht als eine imaginierte Idealität, sondern schlicht im Sinne der Tatsache, dass ›wir‹ in unserem tatsächlichen zukünftigen Selbst von den Folgen unserer jetzigen Handlungen getroffen sind. Das bedeutet: Eine Handlung, von der aus guten Gründen anzunehmen ist, dass sie die Freiheit des in der Imagination vorweggenommenen zukünftigen Selbst in einer Weise einschränkt, der das in der Imagination vorweggenommene zukünftige Selbst aller Voraussicht nach nicht wird zustimmen können, verstößt gegen die Pflichten gegen sich selbst. Wer die Frage nach der prognostizierbaren (Nicht)Zustimmung des späteren Selbst nicht oder nicht mit der gebotenen Sorgfalt und Ernsthaftigkeit stellt, »disponiert« über das eigene spätere Selbst, ohne dessen Recht darauf zu achten, dass seine Freiheit nicht in einer Weise gebunden werde, der es aller 94 95

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Vgl. Di Fabio, Die Kultur der Freiheit, v. a. 72, 85. Vgl. Kant, Die Metaphysik der Sitten Vigilantius, XXVII 601.

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Freiheit als freie Selbstbindung

Voraussicht nach nicht wird zustimmen können – i. e. fahrlässig, ohne rigorose Erkundung der tatsächlich offen stehenden Freiheitsräume und der Rückwirkungen von Handlungen auf die eigene Freiheit. Mangel an solcher Sorgfalt stellt eine Verletzung der Pflicht des Menschen gegen sich selbst dar. Denn seine Freiheit gehört ihm so wenig, wie die Menschheit in seiner Person ihm gehört. 96 Die Pflicht des Menschen besteht mithin darin, die eigene Freiheit nicht unzulässig einzuschränken. Insofern gilt für die Pflicht, was Kant in seiner Rechtsphilosophie über den Zwang sagt: Bei diesem wie bei jener geht es um die »Verhinderung […] eines Hindernisses der Freiheit«. 97 Es gilt daher, die Kant’sche Begründung der Pflichten, der zufolge die Pflichten gegen sich selbst negativ aus der Freiheit des Menschen ›fließen‹, als Ausgangspunkt einer Theorie der Pflichten gegen sich selbst zu setzen, die diese Pflichten als Pflichten gegen das in der Imagination vorweggenommene zukünftige Selbst versteht. Ermöglicht wird dies durch den Nachweis, dass der moralische Impetus des homo noumenon aus der Forderung nach dem Schutz der Freiheit der Menschheit im Menschen und nicht aus einer metaphysischen Spekulation über eine ewige Substanz hervorgeht. Wenn Freiheit und nicht eine ewige Substanz im Menschen Grund seiner Pflichten gegen sich selbst ist, dann ist es möglich und durchaus naheliegend, diese Freiheit als geschichtliche Freiheit zu entfalten und so zwei verschiedene multiple-selves-Theorien der Pflichten gegen sich selbst, i. e. die Kant’sche und eine ›diachrone‹ Theorie, zu verbinden. Adressiert ist mit dem Ausdruck multiple selves hier die Vorstellung eines Selbst, innerhalb dessen in ethischer Hinsicht verschiedene – zeitliche – Instanzen unterschieden werden können, also sukzessive Selbste. Gemeint ist nicht der Zustand eines desintegrierten Selbst, in dem selbsttransparente und dem sich selbst erkennenden Selbst unzugängliche Dimensionen oder auch widersprüchliche Überzeugungen, Bestrebungen etc. gleichzeitig bestehen. 98 Der Ausdruck multiple selves verweist auch nicht auf eine Spaltung der Person in getrennte metaphysische Selbste, sondern darauf, dass eine Person verschiedene praktische Identitäten und verschiedene Standpunkte in der Zeit einnehmen kann, so dass ein Subjekt zu sich selbst in ein Vgl. ebd. Kant, Metaphysik der Sitten, VI 231. 98 Vgl. zu dieser Unterscheidung Elster, Introduction, v. a. 3–9 (»the loosely integrated self«); 13–17 (»successive selves«). 96 97

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Freiheit als Grund der Pflichten gegen sich selbst

Verpflichtungsverhältnis treten kann, das intersubjektiven Verpflichtungsverhältnissen grundsätzlich vergleichbar ist. 99 So lässt sich dem Einwand begegnen, Pflichten gegen sich selbst könnten nicht als Pflichten gegen ein zukünftiges Selbst gedacht werden, weil dann Subjekt und Adressat der Pflicht nicht identisch wären. 100 Die Verteidigung der Behauptung diachroner Pflichten gegen sich selbst gegen diesen Einwand ist nicht auf das Argument angewiesen, dass es – abgesehen von extremen Ausnahmen – kontraintuitional erscheint anzunehmen, dass ich, der ich heute von den Folgen meines gestrigen Handelns getroffen werde, heute und gestern nicht dieselbe Person sei, so dass die Folgen ›meines‹ eigenen gestriges Handelns nicht auf mein ›heutiges‹ Selbst zurückfielen – so als könnte ich behaupten, ich sei heute nicht der, der gestern ein Verbrechen begangen habe. 101 Auf dieses Argument ist die Verteidigung diachroner Pflichten gegen sich selbst nicht angewiesen, denn: Die Verbindung Kant’scher Motive mit einer zeitbezogenen Theorie der Pflichten gegen sich selbst erlaubt es, Pflichten gegen sich selbst gleichzeitig als zeitbezogene Pflichten (gegen das zukünftige Selbst) und als zeitübergreifende Pflichten (gegen die eine Lebenszeit umfassende und diese transzendierende Freiheit der Person) zu denken. Unser zukünftiges Selbst kann uns in der Imagination gegenübertreten – insofern handelt es sich bei unseren Pflichten gegen das zukünftige Selbst tatsächlich um ein Verpflichtungsverhältnis. Aber es ist unsere eigene und uns zu jeder Zeit (wenn auch jeweils in verschiedenen Konkretionen) als Personen konstituierende Freiheit, die zu schützen uns unsere Pflichten gegen uns selbst gebieten, und daher sind es wirklich unsere Pflichten gegen uns selbst, die uns in Gestalt unseres in der Imagination vorweggenommenen zukünftigen Selbst gegenübertreten. Die Pflichten gegen das eigene zukünftige Selbst gründen in der Freiheit des Menschen. Aus dieser Freiheit fließen die Pflichten gegen sich selbst, aber sie tun dies im Horizont der geschichtlichen Existenz. Die Verletzung der Pflichten gegen das eigene zukünftige Selbst verletzt die Freiheit des Selbst und damit dessen Würde im zukünftigen Selbst. Positiv gesprochen: Pflichten gegen sich selbst schützen die Vgl. zu letzterem Schofield, Duty to Self, 36, 80, 92, 98, 107 f., 124, 127, 183, 195. S. o. Anm. 90. 101 Vgl. Korsgaard, Creating the Kingdom of Ends, 365; Parfit, Reasons and Persons, 329. 99

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Freiheit als freie Selbstbindung

Freiheit des Menschen vor Kompromittierungen der Freiheit, die nur im Lichte des in der Imagination vorweggenommenen zukünftigen Selbst, dessen Freiheiten durch bestimmte Handlungen unzulässig beschnitten werden, überhaupt als Kompromittierungen von Freiheit erkennbar werden. Dies greift in veränderter Form den Kant’schen Gedanken auf, dass Pflichten gegen sich selbst Freiheit schützen, was bei Kant bedeutet: der Macht der sinnlichen Antriebe, die die Freiheit des Menschen zu kompromittieren drohen, einen Widerstand entgegensetzen. 102 Die Struktur dieser Verletzung der Pflichten gegen sich selbst ist zeitlos, aber ihre Verwirklichung gibt es – anders als in der Kant’schen Darstellung – nur in zeitlichen Relationen, genauer: im imaginär vorweggenommen Rückblick eines späteren Selbst auf ein gegenwärtiges Selbst. Wir gehen nun dem Zeitbezug der Pflichten gegen sich selbst genauer nach (Kap. 3) und wenden uns anschließend zunächst dem bereits vielfach angesprochenen Motiv des Widerstands zu, der von Pflichten gegen sich selbst ausgeht (Kap. 4).

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Vgl. Trampota, Kants Konzeption der Tugend als Habitus der Freiheit, 33, 37, 39.

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3. Ethik des Futur II

3.1 Erzähltes Selbst und späteres Selbst Pflichten gegen sich selbst, so wurde im ersten Kapitel deutlich, kann es nur geben, wenn ein Gegenüber von Selbst und Selbst im Selbst des Menschen gedacht wird – ein Gegenüber, das die jegliche Normativität begründende Funktion jenes Gegenübers von Person zu Person übernimmt, durch das ein Verpflichtungsverhältnis zwischen Verpflichtendem und Verpflichtetem im ›Normalfall‹ begründet wird. Und vor diesem Hintergrund wurde im zweiten Kapitel der Versuch unternommen, kritisch an Kants Bestimmung der Pflichten gegen sich selbst anzuknüpfen. Kritisch anzuknüpfen gilt es, weil einige von Kants moralphilosophischen bzw. anthropologischen Setzungen nur bedingt überzeugen dürften. Die Vorstellung, dass der homo noumenon dem homo phaenomenon »anvertraut« ist, ruft metaphysische Vorstellungen auf, die sich jedenfalls im Rahmen der erfahrbaren Welt nur mühsam argumentativ einholen lassen – jedenfalls dann, wenn der homo noumenon als zeitloser und vom geschichtlichen Leben unberührter Kern des Menschen gedacht wird (wobei letzteres zumindest nicht zwingend notwendig ist). Anzuknüpfen gilt es, weil ein Motiv des Kant’schen Gedankens sich als äußerst vielversprechend darstellte, nämlich das Motiv der Möglichkeit einer freien Zustimmung des Selbst zu seinen eigenen Handlungen. Die Akzentverschiebung gegenüber der Kant’schen Position bestand darin, dieses Selbst, dessen Zustimmung als maßgeblich gilt, nicht als zeitloses, sondern als in der Imagination vorweggenommenes zukünftiges Selbst zu denken. Und vor diesem Hintergrund hatten wir festgehalten: Die Pflicht des Menschen gegen sich selbst ist, so zu leben, dass eine für das Urteil über die Angemessenheit von Bindungen eigener Freiheit zuständige Instanz im Menschen der jeweiligen Art der Lebensführung zustimmen kann, und diese für das Urteil über die Angemessenheit von Bindungen eigener Freiheit zuständige In60

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Erzähltes Selbst und späteres Selbst

stanz im Menschen ist das in der Imagination vorweggenommene zukünftige Selbst, in welchem dem Menschen seine eigene Freiheit als Forderung gegenübertritt. Pflichten gegen sich selbst haben ihr Gravitationszentrum darin, dass ein zukünftiges Selbst um der Freiheit willen ein aktuales Selbst verpflichtet, genauer: dass ein aktuales Selbst sich selbst in der Vorstellung seines zukünftigen Selbst gegenübertritt und von diesem in die Pflicht genommen sieht. Pflichten gegen sich selbst gibt es nur, weil ein Mensch auf seine eigene Zukunft vorausschauen kann. Um für das eigene zukünftige Sein sorgen zu können, muss die Person sich selbst als zukünftiges Selbst konstruieren können. Das spätere, imaginierte Selbst ist in der Vorstellung daraufhin zu befragen, ob es bestimmten zur Wahl stehenden Handlungsoptionen mit Blick auf die Folgen, die die jeweils aktuellen Handlungen für das spätere Selbst voraussichtlich haben, zustimmen kann bzw. könnte oder nicht. Diese Folgen können unmittelbar durch Entscheidungen verursacht sein, insofern sich Handlungen auf die Lebenssituation des späteren Selbst auswirken, oder sie können indirekter Art sein, insofern sich Handlungen darauf auswirken, wie – also ob mit Bedauern oder mit Stolz usw. – ein späteres Selbst auf sich als geschichtliches Wesen schauen, seine Geschichte bilanzieren wird. Verletzungen dieser Pflicht können im Bedauern aufscheinen, getan zu haben und gewesen zu sein, was mit dem Selbstbild, das jemand von sich haben zu dürfen gerne beanspruchen wollte, konfligiert. Verletzungen dieser Pflicht können auch im Bedauern aufscheinen, sich in Folge dessen, was jemand getan hat und gewesen ist, nun in einer biografischen Position vorzufinden, der dem eigenen Ermessen nach wesentliche und durch eigenes Verschulden verwirkte Freiheitsmöglichkeiten nunmehr unverfügbar geworden sind. Insofern hat das Bedauern einen epistemischen Wert. Das Bedauern lehrt uns möglicherweise etwas über die Formen, die Verletzungen von Pflichten gegen sich selbst annehmen können, und wenn das so ist, gibt das Bedauern den Anstoß zu einem Lernprozess, der unsere Fähigkeit schärft, Handlungsoptionen, die Verletzungen von Pflichten gegen uns selbst darstellen würden, als solche zu erkennen. 1 Aber der Ursprung der Pflichten gegen sich selbst liegt nicht in der VerVgl. Landman, Regret, 22. Rüdiger Bittner hingegen vertritt die Auffassung, dass wir unsere eigenen Fehler klarer sehen können, wenn wir sie gerade nicht bedauern. Vgl. Bittner, Is it Reasonable to Regret Things One Did?, 273.

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gangenheit, auf die sich das Bedauern richtet, sondern in der Zukunft. Bedauern ist kein Indiz dafür, dass wir gegenüber unserem vergangenen Selbst irgendwelche Verpflichtungen hätten. Bedauern ist allenfalls ein Indiz dafür, dass wir in der Vergangenheit gegen Pflichten, die wir gegen uns selbst hatten (und ggf. immer noch haben), verstoßen haben. Denn unser vergangenes Selbst nimmt uns nicht in die Pflicht, da es von unseren Handlungen nicht betroffen sein kann. Daher schulden wir uns auch nicht, Versprechen uns selbst gegenüber zu halten. 2 Das in der Imagination vorweggenommene zukünftige Selbst hingegen ist das Gegenüber, das das aktuale Selbst in die Pflicht nimmt und dessen Rechte verletzt werden können. Wir können nur in der Vorstellung fragen, was wir uns jeweils »jetzt« schulden, d. h. ob das zukünftige Selbst dem, was wir jeweils »jetzt« tun, zustimmen könnte/würde. Auf diesem Weg wird die eigentliche Intention der Kant’schen Theorie der Pflichten gegen sich selbst bewahrt: Pflichten gegen sich selbst schützen die Freiheit der handelnden Person. Diese zu schützende Freiheit verortet Kant im zeitlosen homo noumenon, während der hier vorgelegte Vorschlag die Freiheit im zukünftigen Selbst verortet. Die Bedrohung der Freiheit sieht Kant in der Gefahr, dass die sinnlichen Antriebe den Menschen überwältigen. Der hier vorgelegte Vorschlag hingegen sieht die Bedrohung der Freiheit darin, dass ein gegenwärtiges Selbst Handlungen vollzieht, die seine eigenen in der Zukunft liegenden Möglichkeiten in einer nicht zu verantwortenden Art und Weise beschneiden. Die Vergangenheit einer Person spielt zwar eine maßgebliche Rolle beim Nachdenken über Pflichten gegen sich selbst. Dies gilt jedoch nur für die Frage nach der Erkenntnis der Pflichten gegen sich selbst, nicht für die Frage nach ihrer Begründung. Menschen haben Pflichten gegen sich selbst als geschichtliche Wesen, die auf mögliche Zukunft vorausblicken, und das bedeutet immer gleichzeitig: auf Geschichte zurückblicken. Die Vorstellung unseres zukünftigen Selbst ist keine bloße Fantasterei, sie entsteht im Zusammenhang einer bestimmten Betätigung unserer Vorstellungskraft, nämlich durch die imaginäre Verlängerung unserer bisherigen Geschichten in die Zukunft. 3 Zurückblicken wird unser zukünftiges Selbst auf das, was wir S. u. Abschn. 3.2. Vgl. Landman, Regret, 31: »[I]ndividuals able to sustain their connection with the past are in a better position to imagine alternative worlds and to take action to free themselves from an oppressive agent. Imagination is a rebel.«

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Erzähltes Selbst und späteres Selbst

bis zum je aktualen Zeitpunkt gewesen sein werden. Insofern nimmt unsere Geschichte uns in die Pflicht, vermittelt durch diesen imaginären Rückblick aus der in der Imagination vorweggenommenen zukünftigen Position. Welchen der jeweils in einer aktuellen Situation zur Wahl stehenden Entscheidungen und Handlungen die für das Urteil über die Angemessenheit der Bindung eigener Freiheit zuständige Dimension unserer selbst, unser zukünftiges Selbst, zustimmen würde, können wir nur ermessen, wenn wir darin geübt sind, uns in unserer Vorstellung auf uns selbst zu beziehen, da uns unser zukünftiges Selbst nur in der Vorstellung gegenwärtig sein kann. Das bedeutet: Der erforderliche Blick nach vorne auf ein zukünftiges Selbst, dem Ursprung der Pflichten gegen sich selbst, ist nicht möglich ohne den Blick zurück. Wenn wir einmal von einem späteren Zeitpunkt (T2) auf das zurückschauen werden, was wir dann zu einem gegenwärtigen Zeitpunkt (T1) getan haben werden, dann werden wir uns im Rückblick sehen als Subjekte, die wir zu dem einmal gegenwärtig gewesenen Zeitpunkt (T1) geschichtlich geworden waren auf der zeitlichen Strecke von T0 bis T1. Wenn wir also imaginieren, wie wir vom Zeitpunkt T2 auf unser Handeln am Punkt T1 zurückschauen werden, dann können wir das nur tun, indem wir unser zukünftiges Selbst als eines imaginieren, das auf die vergangene Gegenwart zurückblicken wird. 4 Und dies wiederum ist nur möglich im Modus einer imaginären Verlängerung unserer bisherigen Lebensgeschichte auf der zeitlichen Erstreckung von T0 bis T1, also im Modus einer Verlängerung der Strecken, über die sich unser bisheriger Lebensweg aufspannt, in eine irreduzibel unabsehbare Zukunft. Was wir bis zum Zeitpunkt T1 geworden sind, werden wir vom Zeitpunkt T2 anders sehen als aus Perspektive des Zeitpunkts T1. Und was wir meinen, wer wir sein werden, wenn wir vom Zeitpunkt T2 aus auf den Zeitpunkt T1 zurückschauen, wird sich – wenn wir denn wirklich leben und uns durch Dinge, die geschehen, verändern lassen, anstatt lediglich einen Lebensplan abzuarbeiten – am Zeitpunkt T2 anders darstellen, als wir aus Perspektive von T1 imaginiert hatten. Neue Erkenntnisse können Revisionen der Erzählung der eigenen Geschichte nach sich ziehen. 5 Zumal eine jeweils in der Gegenwart zu treffende Entscheidung möglicherweise ihrerseits unvorhersehbare Auswirkungen Vgl. Blankenburg, Die Futur-II-Perspektive in ihrer Bedeutung für die Psychotherapie, 76 f., 81. 5 Vgl. Bieri, Zeiterfahrung und Personalität, 276. 4

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auf die Lebenssituation haben wird, von der aus wir einmal auf diese Entscheidung zurückblicken und uns fragen werden, ob wir uns zumindest bemüht haben zu tun, was wir uns schuldeten, genauer: was wir als das hätten erkennen können oder sollen, was wir uns schulden. Aber diese Unabsehbarkeit des Zukünftigen wird zumindest eingehegt durch eine geübte Vorstellungskraft, die hinreichend belastbare Annahmen über einen möglichen weiteren Verlauf der Dinge bilden kann – hinreichend belastbar in dem Sinne, dass bei aller Ungewissheit der Zukunft aus der Besinnung auf die eigene Geschichte im Modus der Selbsterzählung Annahmen mit Blick auf erwartbare zukünftige Verläufe gebildet werden können, in deren Lichte die Frage sinnvoll gestellt werden kann, wie ein zukünftiges Selbst aller qualifizierten Voraussicht nach auf eine Entscheidung zurückblicken wird. Qualifiziert ist eine Voraussicht, wenn sie sich aus historischer Erkenntnis speist, und das bedeutet für das Selbstverhältnis der Person: Qualifiziert ist eine Voraussicht auf die eigene Zukunft als Horizont des Nachdenkens über Pflichten gegenüber sich selbst als Pflichten gegenüber dem eigenen zukünftigen Selbst, wenn diese Voraussicht durch die Selbsterzählung geübt ist.

3.2 Wahrhaftigkeit, Versprechen und Authentizität Selbsterzählung ist eine exemplarische Übung in der richtigen Wahrnehmung von Pflichten gegen sich selbst, weil die oben beschriebenen Zeitverhältnisse, d. h. die Verschränkung von Vorausschau und Rückschau, sich in der Selbsterzählung wiederfinden lassen. Für die Selbsterzählung gilt wie für jede literarische Erzählung, dass ihr eine Vorstellung davon innewohnt, worauf die Erzählung zielt, wohin das Erzählte strebt oder streben sollte. 6 Das Erzählte ist immer geprägt von der Position, von der aus erzählt wird, und von Erwartungen und Antizipationen. 7 Die Erzählung erzählt immer auch die Sorge, die sich auf die Zukunft richtet; sie ist Darstellung des Gewesenen im Lichte des Wünschbaren: »Man erzählt im Zeichen von Erwartung und Erfüllung.« 8 Selbsterzählung kann insofern die Projektion eines Zustands in T2 enthalten. Selbsterzählung mag zwar 6 7 8

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Vgl. Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, 176. Vgl. ebd., 200. Boothe, Das Narrativ, 19, vgl. ebd., 43, 80.

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Wahrhaftigkeit, Versprechen und Authentizität

niemals »authentisch«, mag stets irreduzibel selektiv, ja eklektisch, kontingent und von illusionären Wünschen gefärbt, die Übergänge zwischen echter und falscher Erinnerung mögen letztlich unauslotbar bleiben. Und doch gilt für das Genre Autobiografie genauso wie für letztlich jede Selbsterzählung: Ohne ein Festhalten an der Wahrhaftigkeit, ohne einen »autobiografischen Pakt, so fragil dieser auch immer bleiben mag, ergibt Selbsterzählung keinen Sinn« 9. Die Fiktionalität der Selbsterzählung ist abzuheben von der fictitiousness einer freien Erfindung und direkten Lüge, insofern Selbsterzählung an dem Ideal von Wahrheit, genauer: von subjektiver Wahrhaftigkeit festhält. 10 Ein realistisches Selbstbild, also ein Selbstbild, dem die Wahrheit über die eigenen Wünsche nicht verborgen bleibt, ist Bedingung der Möglichkeit von Freiheit. 11 Der Blick zurück ist also von epistemischer Bedeutung für die Bestimmung von Pflichten gegen sich selbst. Aber wir haben keine Pflichten gegenüber unserer Vergangenheit, nicht einmal gegenüber Versprechen, die wir uns in der Vergangenheit gegeben haben. Wir schulden einander, Versprechen zu halten, die wir einander geben, aber wir schulden uns selbst nicht oder jedenfalls nicht in derselben Weise, Versprechen zu halten, die wir uns selbst gegeben haben. 12 Der Grund hierfür liegt indes im Wesen des Versprechens, nicht darin, dass es grundsätzlich keine Pflichten gegen sich selbst geben könnte. 13 Der Grund liegt also nicht allein darin, dass beim Versprechen an sich selbst grundsätzlich dasselbe Problem aufritt, das wir eingangs diskutiert hatten, d. h. dass ein Verpflichtungsverhältnis zwischen einem Urheber und einem Adressaten, hier: zwischen einem »Promissar« und einem »Promittenten« die Beteiligung mehrerer Personen voraussetzt. 14 Der Mensch kann sich selbst durch Versprechen gegenüber anderen binden, etwas zu sein oder zu tun einfach nur, weil er Vgl. Lejeune, Der autobiographische Pakt, v. a. 40. Vgl. Depktat, Facts and Fiction, 284. 11 Vgl. Bieri, Das Handwerk der Freiheit, 388. – Dass nicht klar ist, welches der sukzessiven zukünftigen Selbste für die Frage nach den Pflichten gegen sich selbst maßgeblich sei, trägt ebenfalls dazu bei, dass die hier vorgeschlagene Theorie der Pflichten gegen ich selbst nur eine schwache Theorie sein kann. Es ist möglich, dass ein nahes zukünftiges Selbst nicht bedauert, was ein späteres zukünftiges Selbst durchaus mit Bedauern erfüllen wird. Vgl. Parfit, Reasons and Persons, 187 f. 12 Zum Versprechen sich selbst gegenüber als Pflicht gegen sich selbst vgl. Hill, Promises to Oneself, 146–150. 13 Vgl. Hills, Duties and Duties to the Self, 132–134. 14 Vgl. Anwander, Versprechen und Verpflichten, 23–36, 227. 9

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gesagt hat, dass er das sein und tun werde, und die anderen haben das Recht, die Erfüllung dieses Versprechens einzufordern und damit den, der es gegeben hat, beim gegebenen Wort zu nehmen. Versprechen gegenüber sich selbst wären jedoch nur bindend, wenn das frühere Selbst als ein anderes Selbst dem jeweils jetzigen Selbst gegenübertreten würde und es binden könnte. Dies ist jedoch nicht möglich, denn das zukünftige Selbst kann den Anspruch erheben, dass sein Wohl, genauer: sein Anspruch auf die Achtung seiner Freiheit das jeweils aktuale Selbst leiten soll – dies gilt aber eben nicht vom früheren Selbst, da dessen Freiheit, deren Schutz die Pflichten gegen sich selbst dienen, unabänderlich in der Form gebunden ist, die das vergangene Selbst sich dereinst zu einem bestimmten Zeitpunkt gegeben haben wird. Sich ein Bild vom eigenen späteren Selbst zu machen, das es daraufhin zu befragen gilt, ob es Handlungen zustimmen würde oder nicht, bedeutet auch nicht, einen besseren oder den vermeintlich besten Teil unserer selbst zu adressieren, etwa jenen Teil, der von Vernunft geleitet wird anstatt von zufälligen Wünschen und ›vernunftlosen‹ Strebungen. 15 So hätte Aristoteles es gesehen und in gewisser Weise Kant, während letzterer sehr wohl wusste, dass nicht die Vollkommenheit den Menschen adelt, sondern das aufrichtige Streben – hierauf kommen wir noch zurück. Die Frage, die wir jetzt stellen, richtet sich auf das zukünftige Selbst, auf die zukünftige Version unseres gegenwärtigen Selbst, und nicht auf ein ideales oder utopisches Selbst. Die für das Urteil über die Angemessenheit von Bindungen eigener Freiheit zuständige Instanz im Menschen ist auch nicht das eigentliche, »authentische« Selbst, dessen innerer Kern vermeintlich unter dem Geröll einer konformistischen, den Menschen von seinem eigentlichen Selbst entfremdenden Gesellschaft begraben liegt und das es von dort durch Akte der authentischen Selbstdarstellung zu bergen gälte, wie der Kult der Authentizität meint. 16 Mit dem »Kult der Authentizität« ist die z. B. im linksliberalen Leben der in den siebziger und frühen achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts populäre Attitüde gemeint, der zufolge der Akt des Nach-Außen-Stülpens höchstpersönlicher Erlebnisse ein moralisches Recht, ja ein moraVgl. Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, 225. Vgl. Lasch, Das Zeitalter des Narzißmus, 210–214; Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft, v. a. 55, 99; Menke, Was ist eine ›Ethik der Authentizität‹ ?, v. a. 222.

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Lügen gegen andere als Verstoß gegen Pflichten gegen sich selbst

lisches Gebot ist, das es gegen andere moralische Ansprüche aggressiv in Stellung zu bringen gilt. 17 Ideologisch ist dieser Kult der Authentizität, insoweit der Vorgang der Selbstexpression und der Verwirklichung von Wünschen als solcher normativ aufgeladen wird und gleichzeitig entkoppelt von einem jeglichen Nachdenken darüber, welche Vorstellungen und Wünsche denn eine Person aus deren eigener Perspektive ausmachen und welche Selbstexpressionen tatsächlich zur Entfaltung des eigenen personalen Lebens produktiv beizutragen verheißen. Wahrhaftigkeit ist komplexer, als ein Kult der Authentizität uns glauben lassen will.

3.3 Lügen gegen andere als Verstoß gegen Pflichten gegen sich selbst Fragen wir also, inwieweit die Pflicht zur Wahrhaftigkeit eine Pflicht des Menschen gegen sich selbst ist, negativ formuliert: inwieweit die Lüge als Verletzung einer Pflicht des Menschen gegen sich selbst gelten muss. Erneut wenden wir uns Kant zu. Es überrascht nicht, dass Kant, der, wie wir im Zusammenhang der Diskussion des Suizids gesehen hatten, eine vollständige Übereinstimmung des Menschen mit sich selbst fordert, mit der Lüge scharf ins Gericht geht. Wer aufrichtig ist, »stimmt mit dem ganzen Leben überein.« 18 Die Lüge bedeutet demgegenüber, das eine offen im Munde, das andere verschlossen im Herzen zu tragen. 19 Lüge ist Desintegration, Auflösung der Einheit, die der innere und der äußere Mensch im gelebten Leben darstellen sollten. Ehe wir uns genauer ansehen, inwiefern genau Kant diese Desintegration des Menschen in der Lüge als Verstoß gegen Pflichten gegen sich selbst kennzeichnet, müssen wir eine Übersicht über die Arten der bei Kant angesprochenen Lüge in ihrem Verhältnis zu den Pflichten gegen sich selbst und andere gewinnen. Ordnet man Kants Thematisierungen der Lüge nach dem Ursprung und dem Adressaten Vgl. Schmidt, Bekenne Dich selbst – bekenne Dir selbst, v. a. 74; Sarasin, 1977, v. a. 224. 18 Kant, Vorlesungen über die Metaphysik (Pölitz), XXVIII 250. 19 Vgl. ders., Metaphysik der Sitten, VI 429: »aliud lingua promptum, aliud pectore inclusum gerere«. Diese Definition geht zurück auf Sallustius Crispus, De coniuratione Catilinae/Die Verschwörung des Catilina, 10,5: »aliud clausum in pectore, aliud in linguae habere«. 17

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der Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit, so lassen sich drei Formen der Pflicht zur Wahrhaftigkeit unterscheiden: (1) Die Pflicht zur Wahrhaftigkeit gegenüber anderen als Pflicht gegen andere, (2) die Pflicht zur Wahrhaftigkeit gegenüber sich selbst als Pflicht gegen sich selbst, (3) die Pflicht zur Wahrhaftigkeit gegenüber anderen als Pflicht gegen sich selbst. (1) Zur Pflicht zur Wahrhaftigkeit gegenüber anderen als einer Pflicht gegen andere: In seinem Aufsatz Über ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen diskutiert Kant die Frage, ob es eine unbedingte Pflicht zur Wahrhaftigkeit gegen andere gibt. Als Beispiel dient ihm die Frage, ob »die Lüge gegen einen Mörder, der uns fragt, ob unser von ihm verfolgter Freund sich nicht in unser Haus geflüchtet, ein Verbrechen sein würde.« 20 Kant gelangt zu dem – vielfach kritisierten – Schluss, dass auch in diesem Fall die Lüge ein Verbrechen sei. Zu diesem Schluss gelangt er zum einen durch die Behauptung, dass der Mensch für die Folgen einer unwahrheitsgemäßen Auskunft, nicht aber für die Folgen einer wahrheitsgemäßen Auskunft verantwortlich sei, wie er mit einem Gedankenexperiment zeigen zu können beansprucht. 21 Wer lügt, so argumentiert Kant weiterhin, zerstört damit die Grundlagen allen Zusammenlebens. Denn das Zusammenleben beruht auf Vereinbarungen bzw. Verträgen, und die Lüge zerstört alle Verträge einschließlich jener, die die Rechte der Menschen schützen. 22 Wahrhaftigkeit ist die Basis aller Verträge, und werden nur geringste Ausnahmen von der Pflicht zur Wahrhaftigkeit eingeräumt, so behauptet Kant, geraten alle Verträge ins Wanken. 23 Mehr noch: Durch die Lüge wird die Tauglichkeit der Sprache zur Mitteilung von Gedanken überhaupt zerrüttet. 24 Lüge ist ein Verbrechen gegen das Recht der Menschheit – hier nicht im Sinne der Menschheit in der Person dessen, der lügt, sondern im Sinne der Gesamtheit der Menschen bzw. der Rechtsgemeinschaft aller Menschen. 25 Dieser Gedanke lässt sich wohl nur nachvollziehen bzw. reparieren, wenn man ihn nicht als Ergebnis einer empirisch-konsequentiaKant, Über ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen, VIII 425. Ebd., VIII 427; ähnlich in ders., Metaphysik der Sitten, VI 431. 22 Vgl. Kant, Über ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen, VIII 426; ders., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, IV 403. 23 Vgl. Kant, Über ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen, VIII 427. 24 Ders., Praktische Philosophie Powalski, XXVII 192. 25 Ders., Vorlesung zur Moralphilosophie [Mitschrift Kähler], 328/411. 20 21

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Lügen gegen andere als Verstoß gegen Pflichten gegen sich selbst

listischen Argumentation, sondern vor dem Hintergrund des kategorischen Imperativs rekonstruiert, demzufolge man nicht ohne sich zu widersprechen die Verlässlichkeit der Sprache wollen und eben diese Verlässlichkeit durch eine Lüge untergraben kann – auch wenn Kant selbst den kategorischen Imperativ im Zusammenhang seines Aufsatzes Über ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen nicht aufruft. Wer lügt, setzt voraus, dass Sprache »funktioniert«, d. h. dass der Empfänger eine Botschaft so entschlüsselt, wie es den konventionellen Regeln des Sprachgebrauchs entspricht, und der Botschaft auch Glauben schenkt. Andernfalls wäre mit dem Sprechakt der Lüge nichts zu erreichen. Wer lügt, unterwandert jedoch gleichzeitig die Konventionen sprachlicher Kommunikation mit einem Ziel, das diesen entgegengesetzt ist, nämlich mit dem Ziel, dass der Empfänger der – mit den Mitteln der Institution Sprache überbrachten – Botschaft Vertrauen schenkt, während es sich im Falle einer Lüge um ein in die Irre geführtes Vertrauen handelt. Insofern verstrickt sich der Lügner in einen performativen Selbstwiderspruch. Denn die Lüge untergräbt die Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit, i. e. das Vertrauen in die Wahrheitsgemäßheit sprachlicher Mitteilungen. Ein oder das Problem dieser Argumentation besteht allerdings darin, dass Kant (hier) nicht in Betracht zieht, mit Rückgriff auf den kategorischen Imperativ eine verallgemeinerbare Ausnahmeregelung als Anwendungsregel für das grundsätzlich zwingende Lügenverbot zu formulieren. 26 Das Vertrauen in die Institution Sprache könnte ja als ein dehn- und belastbares Netz angesehen werden, das nicht unmittelbar vollständig zerreißt, wenn in begründeten Ausnahmefällen Sprache in lügenhafter Weise verwendet wird. Die Ausnahme von der Regel darf nicht selbst zur Regel werden, aber dem würde eine genau definierte und konsequent befolgte Ausnahmeregel einen Riegel vorschieben. An anderer Stelle diskutiert Kant denn auch die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Notlüge mit Blick auf die Formulierung einer Regelung zur Bestimmung eines solchen Notfalls, der das Lügeverbot suspendieren könnte. 27 Wir können dieses Problem jedoch dahingestellt sein lassen, da es nicht im Mittelpunkt unseres Interesses steht. Denn die DiskusVgl. Dietz, Immanuel Kants Begründungen des Lügenverbots, 107; Paton, An Alleged Right to Lie, 55. 27 Vgl. Kant, Moralphilosophie Collins, XXVII 449 f. 26

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sion der Frage nach dem Erlaubtsein einer Notlüge betrifft allein die Frage, ob Unwahrhaftigkeit gegenüber anderen zwangsläufig eine Verletzung der Pflichten ist, die gegenüber anderen gelten. Hiervon zu unterscheiden ist, so hält Kant ausdrücklich fest, die Frage, ob und inwiefern Unwahrhaftigkeit gegenüber anderen Menschen eine Verletzung von Pflichten gegen sich selbst ist. 28 Ehe wir uns der Frage, ob und inwiefern Unwahrhaftigkeit gegenüber anderen Menschen eine Verletzung von Pflichten gegen sich selbst ist, zuwenden, werfen wir noch einen Blick auf Kants Diskussion der Lüge gegen sich selbst. (2) Zur Pflicht zur Wahrhaftigkeit gegenüber sich selbst als einer Pflicht gegen sich selbst: Die Pflicht zur Wahrhaftigkeit ist die Pflicht, dass der Mensch sich selbst nicht belügt. Die Lüge gegen sich selbst bzw. die innere Lüge beschäftigt Kant vielfach. 29 Sie besteht darin, dass der Mensch sich selbst vormacht, er selbst oder ein anderer Mensch, z. B. eine Geliebte, sei besser, als er selbst bzw. die Geliebte in Wahrheit ist. 30 Die Lüge gegen sich selbst ist »Unlauterkeit«. Unlauterkeit besteht darin, dass der Lügner »sogar die inneren Aussagen vor seinem eigenen Gewissen zu verfälschen weiß.« 31 Von dieser inneren Lüge sagt Kant, sie sei »[d]ie größte Verletzung der Pflicht des Menschen gegen sich selbst« 32. Sie verstößt gegen das erste Gebot der Pflichten gegen sich selbst: dass der Mensch sich selbst erkennen und prüfen muss. 33 Kant stimmt hier mit Platon überein, der meint, von sich selbst hintergangen zu werden, sei das Allerärgste, da der Betrüger im Falle des Selbstbetrugs den, der betrogen wird, unablässig begleitet. 34 Tatsächlich untergräbt die Lüge gegen sich selbst die Fähigkeit des Menschen zur angemessenen Wahrnehmung seiner Selbst, zerstört die Möglichkeit einer grundsätzlich erkenntnisför-

Ders., Über ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen, VIII 426, Anm. *. 29 Ders., Verkündigung eines nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie, VIII 421 f. 30 Ders., Metaphysik der Sitten, VI 430. 31 Ders., Über das Misslingen alle philosophischen Versuche in der Theodizee, VIII 270; ders., Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, VI 38. Dazu: Schmidt, Wahrgenommene Individualität, 51–55. 32 Kant, Metaphysik der Sitten, VI 429. 33 Ebd., VI 441. Zur Selbsterforschung im Zusammenhang der Pflichten gegen sich selbst vgl. auch ders., Vorlesung zur Moralphilosophie [Mitschrift Kähler], 182 f./ 228 f. 34 Platon, Kratylos 428d. 28

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dernden, gewissenhaften Selbsterzählung und vergiftet mithin die Quelle der Moral. 35 (3) Zur Pflicht zur Wahrhaftigkeit gegenüber anderen als Pflicht gegen sich selbst: Diese Pflicht ist in höherem Maße erklärungsbedürftig als die beiden bisher genannten Formen der Pflicht zur Wahrhaftigkeit. Denn, ad (1), dass wir Pflichten gegen andere verletzen, wenn wir andere betrügen, ist recht offensichtlich – auch wenn man darüber streiten mag und wohl auch muss, ob denn eine Notlüge in Extremfällen nicht doch erlaubt oder gar geboten sein kann. Ungeachtet dieser strittigen Fragen ist es grundsätzlich offensichtlich, dass wir das Recht einer anderen Person verletzen, wenn wir ihr die Möglichkeit rauben, auf Grundlage zutreffender Annahmen eigene Urteile zu fällen, da die Freiheit der Person als Freiheit dazu, dem, was ihr widerfährt, zuzustimmen oder nicht, an einer Schlüsselstelle von Moral überhaupt steht. Lüge ist Manipulation, sie strebt danach, im Bewusstsein der Belogenen eine falsche Annahme zu erzeugen. 36 Lüge gegen andere wäre nur dann nicht verwerflich, wenn die belogene Person vernünftige Gründe hätte, damit einverstanden zu sein, belogen zu werden, was Kant für ausgeschlossen hält. 37 Selbst wenn der Belogene die Gründe, aus denen jemand ihn belügt, gutheißen würde, so könnte er doch dem Belogenwerden selbst nicht zustimmen aus dem trivialen Grund, dass er, wenn er wirksam belogen wird, keine Kenntnis über das Belogenwerden haben kann. Ohne Kenntnis keine Zustimmung. Kant hat also Recht: Es ist nicht möglich, dass jemand sich damit einverstanden erklärt, belogen zu werden, mithin übergeht die Lüge zwangsläufig das Recht des anderen Menschen, dem, was ihm widerfährt, zuzustimmen oder zu widersprechen, mithin konfligiert die Lüge zwangsläufig mit dem Verbot der Instrumentalisierung. 38 Zwar bleibt es demjenigen, der belogen werden soll, grundsätzlich überlassen, ob er der ihm gegebenen AusPotter, Duties to Oneself, Motivational Internalism, and Self-Deception in Kant’s Ethics, 388. 36 Vgl. Schulz, Kann ein religiöser Mensch intellektuell redlich sein?, 231. 37 Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, IV 429; Dietz, Immanuel Kants Begründungen des Lügenverbots, 113. 38 Vgl. Korsgaard, Kant and the Right to Lie, 289 f. Verständnis für die Gründe der Lüge auf Seiten der belogenen Person bzw. die begründete Erwartung, dass die belogene Person den die Lüge motivierenden Gründen Verständnis entgegenbringen würde, mag wiederum zum Verständnis für den Akt der Lüge beitragen (vgl. Leonhardt, Ethik, 438). Solches Verständnis ändert jedoch nichts daran, dass es sich um eine Lüge handelt, die die Freiheit der belogenen Person übergeht, auch wenn es 35

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kunft Vertrauen schenkt oder nicht. Das Vermögen zur freien Bildung des eigenen Urteils selbst wird durch das Belogenwerden nicht vernichtet. 39 Jedoch zielt die Lüge gerade darauf, die erfolgreiche Verwirklichung dieses Vermögen zu untergraben. Lügen gegen andere sind also in der Tat in jedem Fall Verletzungen von Pflichten gegen andere. Dass wir weiterhin, ad (2), Pflichten gegen uns selbst verletzen, wenn wir uns selbst betrügen, ist ebenfalls recht offensichtlich, da wir uns auf diesem Wege selbst schädigen, uns selbst hinters Licht führen, von der Wahrheit über unser Leben entfernen – vorausgesetzt, dass es überhaupt möglich ist, sich selbst zu betrügen. 40 Dass wir jedoch, ad 3, Pflichten gegen uns selbst verletzen, wenn wir andere Menschen belügen, ist keineswegs offensichtlich. Warum also gilt Kant die Pflicht zur Wahrhaftigkeit gegenüber anderen Menschen als eine Pflicht, die der Mensch sich selbst gegenüber hat? Dass die Unwahrhaftigkeit gegenüber sich selbst ein Nährboden für die Unwahrhaftigkeit gegen andere sein kann, und dass umgekehrt die Wahrhaftigkeit gegenüber sich selbst die Wahrhaftigkeit gegenüber anderen stärken kann, deutet Kant zwar an, hier kann aber kaum die eigentliche Begründung für seine Position liegen. 41 Solange die Wahrhaftigkeit gegenüber sich selbst instrumentell als Hilfsmittel zur Stabilisierung der Wahrhaftigkeit gegen andere gedacht wird, ist eben nicht von einer Pflicht gegen sich selbst die Rede, sondern von einer Pflicht gegen andere mit Bezug auf sich selbst. Dass Kant ferner irrtümlich die Lüge gegen andere für eine Verletzung der Pflichten des Menschen gegen sich selbst hält, während die Lüge in Wahrheit immer eine Verletzung der Pflichten gegen andere ist, wäre zwar möglich. 42 Der Irrtum wäre allerdings weitreichend. So hält Kant mehrfach ausdrücklich fest, dass die Lüge auch dann eine Pflichtverletzung sei, wenn sie anderen Menschen nicht schadet. 43 Kant einen Gründe geben mag, die diese Pflichtverletzung um willen der Erfüllung einer in der Abwägung kollidierender Pflichten gewichtiger scheinenden Pflicht rechtfertigen. 39 Vgl. Dietz, Die Kunst des Lügens, 99 f. 40 Vgl. dazu Schmidt, Wahrgenommene Individualität, 50–66. 41 Vgl. Kant, Über ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen, VIII 430; ähnlich ders., Kritik der reinen Vernunft, A 748. Dazu: Stangneth, Kultur der Aufrichtigkeit, 66 f., und Timmermann, Kant und die Lüge aus Pflicht, 279. Timmermann erinnert hier an Shakespeare: »This above all – to thine own self be true, And it must follow, as the night the day, Thou canst not then be false to any man.« Shakespeare, Hamlet, I.iii (Hervorh. J. S.). 42 So Schaber, Unveräußerliche Menschenwürde, 126. 43 Kant, Reflexion 7596, XIX 465; ders., Moralphilosophie Collins, XXVII 341.

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so weit reichenden Irrtum zu unterstellen bietet zumindest nicht die naheliegendste Erklärung. Dringt man indes zu Kants eigentlicher Begründung der Behauptung vor, dass die Lüge gegen andere eine Verletzung der Pflichten gegen sich selbst ist, dann wird deutlich: Die Pflicht zur Wahrhaftigkeit gegen andere ist tatsächlich eine Pflicht des Menschen gegen sich selbst; begreiflich wird diese Pflicht allerdings, so wird im Folgenden deutlich, nur im interpersonalen Horizont. Kant meint, die Lüge gegenüber anderen sei überhaupt eher eine Verletzung von Pflichten gegen sich selbst als eine Verletzung von Pflichten gegen andere, da der Lügner sich zu einem Gegenstand der Verachtung mache. 44 Die Lüge kann für andere schädlich, aber auch nützlich sein, meint Kant; so oder so bleibt es jedoch dabei, dass der Lügner der Achtung gegen sich selbst zuwiderhandelt »und dadurch eine höhere Pflicht verletzt, als ihm gegen andere obliegt.« 45 Gegenstand der Verachtung der anderen zu werden – das legen die oben angestellten Beobachtungen zu Kants Begriff von wahrer Ehre und Ehrliebe nahe – ist nicht (allein) aus dem Grund zu vermeiden, dass die Scham vor den anderen schmerzhaft ist, sondern vor allem aus dem Grund, dass der seine moralische Pflicht missachtende Mensch moralisch fühlt, dass die anderen ihn zurecht verachten wegen dessen, was er sich hat zuschulden kommen lassen. Daher gilt: Die Verachtung der anderen ist zwar der Anlass, aber nicht der Grund für die Selbstverachtung desjenigen Menschen, der seine Würde wegwirft, indem er sich von dem, was die Menschheit in seiner Person ihm gebietet, nicht leiten lässt. Scham unter den verächtlichen Blicken der anderen ist daher eigentlich nur Reflex des Wissens darum, dass andere um die eigene Verfehlung wissen. Der Maßstab für die Verfehlung liegt dabei in der beschämten Person selbst. 46 Der eigentliche Grund dafür, dass die Lüge in der Hinsicht eine Verletzung der Pflichten gegen sich selbst ist, dass der Lügner sich zu einem »Gegenstand der Verachtung« macht, kann also nicht in der sozialen Verachtung liegen, sondern nur darin, dass der Lügner zu verachten ist, selbst dann, wenn es faktisch niemand tut: »[I]ch soll nicht lügen, obgleich [d. h.: selbst dann, wenn, J. S.] es mir nicht die Kant, Vorlesung zur Moralphilosophie [Mitschrift Kähler], 172/216. Ders., Die Metaphysik der Sitten Vigilantius, XXVII 605. 46 Vgl. zu Schuld und Scham in diesem Sinne Neckel, Achtungsverlust und Scham, 248 f. 44 45

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mindeste Schande zuzöge.« 47 Scham, Beschämung und das Wissen um die Verfehlung sind bei Kant fein verwoben: »Die Natur hat dem Menschen die Schamhaftigkeit gegeben, damit er sich, sobald er lügt, verrate. Reden daher Eltern nie den Kindern von Scham vor, als wenn sie lügen, so behalten sie diese Schamröte in Betreff des Lügens für ihre Lebenszeit.« 48 Die pädagogische Indienstnahme der Scham ist also nur im Zusammenhang der Erziehung zur Wahrhaftigkeit gestattet, und zwar aus dem Grund, dass hier lediglich verstärkt wird, was, wie am Phänomen der Schamesröte ablesbar, der Natur des Menschen mitgegeben ist: ein sich anderen Menschen zu erkennen gebendes Wissen um die Falschheit des Lügens. Dass wir uns durch Erröten verraten, hat die Natur vorgesehen, damit wir nicht lügen. 49 Soziale Interaktion verstärkt also lediglich, was der Mensch bereits moralisch weiß, und nur aus diesem Grund darf Beschämung in diesem besonderen Zusammenhang zur moralischen Erziehung in den Dienst genommen werden. Der Grund der besagten Verächtlichkeit des Lügners, die die Lüge zur Verletzung einer Pflicht des Lügners gegen sich selbst werden lässt, liegt also in moralischer Hinsicht jenseits der sozialen Interaktion, ist aber gleichzeitig in soziale Interaktion eingebettet. Pflichten gegen sich selbst und Pflichten gegen andere sind unterscheidbar und doch tief miteinander verwoben. Wie das zu denken ist, soll im Folgenden sukzessive deutlicher werden. Kant greift in seiner Begründung der Behauptung, dass die Lüge gegen andere eine Pflicht des Menschen gegen sich selbst verletzt, auf die uns bereits bekannte Unterscheidung zwischen dem homo noumenon und dem homo phaenomenon zurück: »Der Mensch, als moralisches Wesen (homo noumenon), kann sich selbst, als physisches Wesen (homo phaenomenon), nicht als bloßes Mittel (Sprachmaschine) brauchen, das an den inneren Zweck (der Gedankenmitteilung) nicht gebunden wäre, sondern ist an die Bedingung der Übereinstimmung mit der Erklärung (declaratio) der ersteren gebunden und gegen sich selbst zur Wahrhaftigkeit verpflichtet.« 50 Wir treffen hier im Vergleich zu den zuvor diskutierten Inanspruchnahmen des Begriffspaars homo noumenon/homo phaenomenon auf eine merkwürdige Umkehrung. Das Verpflichtungsverhältnis 47 48 49 50

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Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, IV 441. Ders., Über Pädagogik, IX 478. Vgl. ders., Anthropologie Dohna-Wundlacken, Ko259. Ders., Metaphysik der Sitten, VI 430.

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zwischen dem homo noumenon und dem homo phaenomenon scheint gegenüber der uns bereits bekannten Verhältnisbestimmung auf den Kopf gestellt. Wir hatten im Rahmen der Diskussion des von Kant geltend gemachten Verbots des Suizids beobachtet: Der eigentliche Mensch ist der homo noumenon. Der homo phaenomenon ist dem homo noumenon anvertraut. Dieser »residiert« in jenem, jener hat diesem (s)eine Bleibe zu gewähren. 51 Der Suizid ist streng verboten, weil dieses Verhältnis im Suizid unterlaufen wird. Denn im Suizid übergeht der homo phaenomenon die Interessen und Perspektiven des homo noumenon. Und weil das nicht geschehen darf, gilt: Einzig der homo noumenon ist rechtmäßiger Urheber der Verpflichtung (auctor obligationis), der homo phaenomenon ist Objekt der Verpflichtung (obiectum obligationis). Dies ist die Ordnung, die sich ein Leben der Freiheit geben muss. Diese Ordnung verdankt sich der Überzeugung, dass die Vernunft (homo noumenon) herrschen soll, weil allein die Vernunft von äußeren Einflüsterungen unbeirrt zu bestimmen vermag, was richtig ist und was falsch. Umso mehr erstaunt nun, dass Kant das Verbot der Unwahrhaftigkeit im eben wiedergegebenen Textpassus damit begründet, dass im Falle der Lüge der homo noumenon den homo phaenomenon instrumentalisiere. Hier scheinen die Rollen vertauscht: Der homo phaenomenon, i. e. der leibliche, sprachmächtige Mensch, tritt nicht als Adressat der Verpflichtung auf, sondern als deren Urheber, wenn es heißt, dass der homo noumenon den homo phaenomenon nicht als Sprachmaschine instrumentalisieren dürfe. Der Schein allerdings, dass Kant in seiner Rede von der »Sprachmaschine« seine aus der Diskussion des Suizids bekannte Zuordnung von homo noumenon und homo phaenomenon auf den Kopf stellt, da bei der Rede von der Sprachmaschine der homo phaenomenon als normative Instanz auftritt, während im Zusammenhang der Diskussion des Suizids der homo noumenon als normative Instanz auftritt, trügt. Aufklärung hierüber führt zu einem tieferen Verständnis dessen, was Kant meint. Zunächst einmal bezieht sich Kant an der zitierten Stelle in einer anderen Weise auf den homo phaenomenon, als er es im Zusammenhang seiner Diskussion des Suizids tut. Der homo phaenomenon im Zusammenhang des Suizids ist Subjekt einer konkreten, situativen

Vgl. Schmidt/Schönecker, Kant über Selbstentleibung, Selbstschändung und Selbstbetäubung, 110.

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Bestimmtheit, i. e. des Wunsches, Leiden nicht länger ertragen zu müssen. Der homo phaenomenon im Zusammenhang der Lüge hingegen steht für die Sprachmächtigkeit des Menschen, und Kant ist der Überzeugung, dass auch den leiblichen Fähigkeiten des Menschen eine Bestimmung, eine Teleologie mitgegeben ist. So meint er, der Fähigkeit des Menschen zur Sprache sei die Bestimmung zur intersubjektiven Verständigung mitgegeben: Die Lüge verfolgt einen der natürlichen Zweckmäßigkeit des Sprachvermögens entgegengesetzten Zweck. 52 Hinzu kommt: Das eigentlich Verwerfliche an der Lüge ist nicht, dass der homo noumenon den homo phaenomenon als Sprachmaschine instrumentalisiert – dies stünde ja wie gesagt strukturell im Einklang mit der geforderten Überordnung des homo noumenon über den homo phaenomenon. Das eigentlich Verwerfliche ist, dass der homo noumenon sich dem Rückstoß der Lüge ausliefert. Und dieser Rückstoß bezieht seine Kraft wiederum aus der Tatsache, dass der homo phaenomenon in realen intersubjektiven Beziehungen steht. Nur wenn man den realen intersubjektiven Beziehungen im Versuch des Verstehens der zitierten Behauptung Kants Gewicht verleiht, lässt sich der scheinbare Widerspruch zwischen Kants verschiedenen Inanspruchnahmen des homo phaenomenon auflösen. Der besagte Rückstoß, der vom homo phaenomenon auf den homo noumenon zurückwirkt, besteht, so führt Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten aus, nicht allein in den aus der Lüge resultierenden »Ungelegenheiten«, die größer sein könnten als der unmittelbare Ertrag der Lüge. Diese »Ungelegenheiten« bestehen in dem Vertrauensverlust auf Seiten der Belogenen, der auch in Kants Aufsatz Über ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen an zentraler Stelle steht. Dieser Vertrauensverlust könne, so Kant, »weit nachteiliger werden […] als alles Übel, das ich jetzt zu vermeiden gedenke«. 53 Ein solcher Kosten-Nutzen-Überschlag allerdings, der »die besorglichen Folgen zum Grunde« hat, ist zu unterscheiden von einer Maxime, die den Maßstab für das richtige Handeln im Handeln selbst sucht. 54 Wie in Über ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen argumentiert Kant nun in der Grundlegung, man könne nicht wollen, dass jedermann ein unwahres Versprechen gebe,

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Kant, Metaphysik der Sitten, VI 429. Vgl. Paton, An Alleged Right to Lie, 53. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, IV 402. Ebd., IV 402.

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wenn ihm danach sei, weil dann gar keine Versprechen mehr gegeben werden würden. 55 Dass dieses Argument kaum überzeugt, hatten wir bereits festgehalten. Allerdings finden sich in den Vorlesungsmitschriften Bemerkungen, die den Rückstoß der Lüge in einer Weise mit dem Gedanken der Freiheit verbinden, die zwischen dem moralischen Gesetz und den konkreten Folgen der Lüge zu vermitteln erlaubt, und an dieser Stelle wird deutlich, dass die Lüge gegen andere aufgrund ihrer Folgen für den Lügner gegen Pflichten gegen sich selbst – und nicht allein gegen Pflichten gegen andere und nicht allein gegen prudentielle Interessen – verstößt. Der Rückstoß der Lüge besteht nicht allein in der Unbequemlichkeit ihrer Folgen, sondern darin, wie diese Folgen auf die Verfassung des moralischen Subjekts durchschlagen: nämlich so, dass die Freiheit des homo noumenon beschädigt wird. Wer lügt, »stimmt nicht mit seiner Freiheit überein, weil er durch die Lüge gebunden ist.« 56 Wer lügt, muss fortan seiner Lüge entsprechend handeln und reden und bindet so seine eigene Freiheit an die Lüge, opfert seine Freiheit der Lüge. 57 Die Lüge ist eine »Schlangen Linie, sie ist etwas gekünsteltes, weil man immer etwas erfinden muss.« 58 Die Lüge gegen andere, so ließe sich Kants Gedanke fortsetzen, zerreißt den Menschen, weil sie den Lügner auf seine Lüge festlegt – auf seine Lüge, die ihrerseits den Menschen zerfallen lässt in seine leibliche, sprachmächtige Erscheinung auf der einen Seite und dem, was in seinem Herzen ist, auf der anderen Seite. Verheerend an der Lüge gegen andere ist, dass soziale Bindekräfte den Menschen in seiner Desintegrität verstricken. Gerade weil die Bindungen an andere Menschen die Lüge mit der Kraft versehen, den Lügenden innerlich zu zerreißen, schulden wir uns selbst, anderen gegenüber wahrhaftig zu sein. Viel überzeugender als der Verweis auf die angebliche Selbstwidersprüchlichkeit der Lüge, die das Vertrauen in sprachliche Kommunikation voraussetzt und gleichzeitig unterwandert, ist diese Einzeichnung der Lüge in ein interpersonales Geschehen, dessen Destruktivität in den Folgen der Lüge für die Person des Lügners oder der Lügnerin besteht. Diese erwartbaren Konsequenzen der Lüge sind 55 56 57 58

Ebd., IV 403. Ders., Vorlesungen über die Metaphysik (Pölitz), XXVIII 250. Vgl. Marschall-Bradl/Red., Art. Lüge, 1440. Kant, Praktische Philosophie Powalski, XXVII 231.

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nicht lediglich Rechengrößen, so als gelte es, die erwartbaren Folgekosten einer Lüge auf der einen und ihren Sofortertrag auf der anderen Seite jeweils in einem Kostenwert auszudrücken, um so die Rentabilität der Lüge ›unter’m Strich‹ zu ermitteln. Die Konsequenzen der Lüge werden vielmehr daraufhin betrachtet, wie sie die mit keinem Wert verrechenbare Freiheit des Menschen unterwandern. Hier deutet sich jene Zusammenschau diachroner (folgenbezogener) und zeitloser (die Freiheit des Menschen betreffender) Aspekte an, die für die im Vorliegenden unternommene Verbindung verschiedener multiple-selves-Theorien maßgeblich ist. Im Zusammenhang der Lüge kommt diese Verbindung negativ zur Geltung, es gibt sie jedoch auch ›im Guten‹. Es sind gerade die anderen Menschen, die uns dabei helfen können, unsere Treue uns selbst gegenüber (die, wenn auch keine Pflicht des Menschen gegen sich selbst, so doch ein erstrebenswertes Gut ist) zu bewahren, dann nämlich, wenn wir uns durch unsere Selbstverpflichtungen öffentlich an unsere eigenen Vorhaben binden, wenn wir gleichsam durch die Augen der anderen den in moralischer Hinsicht allein entscheidenden Blick auf uns selbst stabilisieren, um jenen Schwankungen vorzubeugen, in die wir als endliche und unvollkommene Wesen jederzeit geraten können. Die Lüge gegenüber anderen verstößt gegen die Pflicht gegen uns selbst, weil sie uns vermittels der anderen Menschen an die Lüge und damit an unsere Desintegrität bindet, während aus der Verbindung zu den anderen ›im Guten‹ genau die umgekehrte Dynamik hervorgehen kann, nämlich die eines Korrektivs, das uns vor Desintegrität und Inkohärenz schützt. Diese korrigierende, gegen Desintegrität schützende Wirkung der Bindung an andere entfaltet sich dann, wenn die anderen Menschen uns an uns selbst erinnern, d. h. uns erinnern, wozu wir uns einmal aus Gründen, die uns möglicherweise erneut binden, verpflichtet haben, wenn wir diese Gründe neuerlich vor Augen geführt bekommen. Nicht die Sprache als Mittel der Kommunikation und des Treffens von Vereinbarungen als solche, sondern die durch Sprache vermittelten Kräfte zwischenmenschlicher Bindungen werden durch die Lüge verdreht, genauer: gegen den Menschen gewendet. Fatal ist die Lüge nicht, weil sie den Menschen potentiell des wohligen Gefühls beraubt, von anderen geachtet zu werden, sondern weil sie die wünschenswerte, i. e. Moralität stabilisierende Dynamik, die reziproken Anerkennungsverhältnissen zugrunde liegt, pervertiert, indem sie die mit der Lüge einhergehende 78

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Obstruktion der Freiheit potentiell auf Dauer stellt. Die Schamesröte ist eine Vorsehung der Natur, die dieser verheerenden Dynamik entgegenwirkt, indem sie die durch die Lüge verdeckte Wahrheit ans Licht bringt und den Lügner in den Raum der wahrhaftigen Kommunikation zurückzerrt. 59 Kant hat also starke Gründe, die Unwahrhaftigkeit gegen andere als Verstoß gegen Pflichten gegen uns selbst zu bezeichnen. Dies wird erst dann wirklich deutlich, wenn man die Pflichten gegen sich selbst in ihrer sozialen Einbettung sieht. Tut man dies jedoch, so führt dies zu einem Umbau der Konstruktion der Wahrhaftigkeit als einer Pflicht gegen sich selbst. Denn wenn die Dynamik der Interpersonalität ein wichtiger Faktor in der Erklärung der Kant’schen Diskussion der Pflichten zur Wahrhaftigkeit gegen andere als einer Pflicht gegen sich selbst ist, dann wirft dies – erneut – die Frage auf, ob die Dynamik der Interpersonalität und mit ihr die Dynamik der Kontingenzen mit anderen Menschen geteilten geschichtlichen Lebens nicht insgesamt bei Kant unterbelichtet bleiben. Es gilt wie gesagt, kritisch an Kant anzuknüpfen. So lassen sich Kants Kommentierungen der Wahrhaftigkeit stärken, wenn sie gedanklich fortgeführt werden: Das absolute Verbot der Lüge lässt sich mit Rückgriff auf den kategorischen Imperativ differenzieren, dem Verweis auf den in der Lüge sich vollziehenden performativen Widerspruch ließe sich eine Anwendungsregel für den Ausruf einer zur Notlüge nötigenden Ausnahmesituation an die Seite stellen (ad 1). Die Dimension der Pflicht gegen andere, die in diesem Zusammenhang zur Geltung kommt, lässt sich wie zuletzt gezeigt mit der Dimension des Interpersonalen verbinden (ad 3). Und diese Verbindung zwischen Pflichten gegen andere und Pflichten gegen sich selbst ist mit Blick auf die Lüge gegen sich selbst, i. e. die Selbsttäuschung besonders relevant, weil das Korrektiv der anderen Menschen das wohl wirksamste Mittel zur Bildung von Integrität ist (ad 2). 60 Dass nun bei Kant die Diskussionen der verschiedenen Formen der Wahrhaftigkeit teils wenig integriert erscheinen, insofern zwar immer das Verbot der Lüge eingeschärft, die Gedankengänge untereinander jedoch nur locker verbunden und insbesondere nicht mit dem kategorischen Imperativ in Zusammenhang gestellt werden, 59 60

S. o. Anm. 49. Vgl. Stangneth, Kultur der Aufrichtigkeit, 223.

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spiegelt wohl eine Tendenz zur Departementalisierung wider, so sehr das auch bei Kant überraschen mag. Diese Tendenz ist besonders dort mit Händen zu greifen, wo Kant fordert, man solle mit Blick auf die Lüge den Einzelfall gar nicht näher in Augenschein nehmen, da sich dabei herausstellen könnte, dass die Lüge im Einzelfall nützlich wäre: Weil sich so etwas nicht herausstellen darf, soll man die Allgemeingültigkeit des Verbots der Lüge nur in abstracto beurteilen. 61 Diese Flucht in eine ideale Wirklichkeit ist es wohl letztlich, die Kant zu einer rigoristischen und kontraintuitionalen Verwerfung ausnahmslos jeder Notlüge verleitet. Zu den Metapflichten des Menschen gegen sich selbst, so halten wir fest, zählt die Pflicht zur Wahrhaftigkeit, denn ohne Wahrhaftigkeit kann die Frage, was ein Mensch sich im Hinblick auf die eigene geschichtliche Existenz schuldet, nicht angemessen gestellt werden. In kritischer Anknüpfung an Kant gilt es, Wahrhaftigkeit als Integrität des Menschen, als Übereinstimmung des Menschen mit sich selbst zu denken. Die Spannungen in Kants Kommentierungen der Wahrhaftigkeit deuten jedoch an, dass es hierbei den Bedingungen der zeitlichen Existenz des Menschen, der Verletzlichkeit seiner Freiheit und der Interpersonalität mehr Gewicht zu verleihen gilt, als es bei Kant geschieht. Die Pflicht zur Wahrhaftigkeit gegenüber sich selbst strahlt mithin in die Interaktionsverhältnisse mit anderen Menschen aus und erhält in diesem Zusammenhang erst ihre Bedeutung und Bedeutsamkeit. Die Verwiesenheit auf den anderen Menschen wird im Folgenden ganz in den Fokus der Betrachtungen rücken, während wir uns der Frage zuwenden, in welcher Hinsicht es eine Pflicht gibt, Haltung zu wahren. Menschen haben, so wird deutlich werden, eine Pflicht gegen sich selbst, Haltung zu wahren. Diese Metapflicht zur Wahrung der Haltung ist, wie wir nun sehen werden, zutiefst in eben diese die Pflichten des Menschen gegen sich selbst konstituierende intersubjektive Verhältnisse verwoben.

Kant, Logik Dohna-Wundlacken, XXIV 741: »Die Allgemeingültigkeit einer Regel kann man nur aus Regeln in abstracto beurteilen. Z. B. man will über den Begriff der Lüge ein Prinzip haben. Darüber muss man in abstracto urteilen. Denn wollte man auf einzelne Fälle sehen, so könnten manche Lügen nützlich sein, z. B. der Vorschlag des Themistokles – Aristides. Aber jede Treulosigkeit ist schändlich.«

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4. Gewahrte Haltung

4.1 Tugend und Haltung. Widerständigkeiten gegen Weltverlust Welche Handlungen und Haltungen wir uns im Einzelnen schulden, blieb bisher insofern offen, als die Reflexion sich darauf beschränkte, den Weg zu beschreiben, den es zu beschreiten gilt, wenn geklärt werden soll, was wir uns schulden. Es ist nicht die Aufgabe der Ethik, Ratschläge oder Weisungen zu formulieren, wie zu leben ist. Aufgabe der Ethik ist vielmehr, die Begriffe und Vorstellungen zu klären, auf die wir verwiesen sind, wenn wir (normative) Orientierung suchen. 1 Die Arbeit an Begriffen und Vorstellungen bliebe jedoch blass, wenn sie nicht probeweise auf lebenspraktische Zusammenhänge bezogen würde. In diesem Sinne wenden wir uns nun einem bestimmten lebenspraktischen Zusammenhang zu und fragen, ob Menschen sich schulden, Haltung zu wahren. Wenn, wie eingangs behauptet, Pflichten gegen sich selbst ihren eigentlichen Sinn dadurch erhalten, dass sie dem Leben dienen, dann muss sich beschreiben lassen, inwiefern der Druck, der von Pflichten gegen sich selbst ausgeht, Lebensvollzüge in eine Richtung lenkt, die sich als produktiv und wünschenswert erweisen kann. Die Pflicht zum Wahren von Haltung als eine Pflicht gegen sich selbst eignet sich als Modell, in dem diese lebensdienliche Kraft der Pflichten gegen sich selbst abgebildet werden kann. Es gibt eine Pflicht zum Wahren von Haltung. Diese Pflicht fragt nicht, ob jemand will, d. h. sie bindet auch den, der nicht will. Aber das, wozu diese Pflicht anhält, zeitigt Prozesse, die aus guten Gründen gewollt werden können, weil sie Lebensmöglichkeiten (neu) eröffnen, die in einer kritischen Lebensphase verschüttet oder versperrt erscheinen. Zunächst fragen wir: Was ist Haltung? Wer äußerlich Haltung wahrt, leistet Widerstand, hält ein Mindestmaß an Muskelspannung 1

Vgl. Thomä, Erzähle dich selbst, 38 f.

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Gewahrte Haltung

aufrecht, anstatt zusammenzusinken. 2 Dieses Moment des Widerstands, von dem eingangs mit Bezug auf den aus Ibsens Nora zitierten Wortwechsel die Rede war, ist entscheidend für das Verständnis dessen, was es mit innerer Haltung auf sich hat. Innere Haltung ist mehr als bloß eine Überzeugung hinsichtlich vermeinter Sachverhalte. Haltung im Singular ist von Haltungen im Plural grundsätzlich unterschieden. Haltungen im Plural sind »dauerhafte, konstante, subjektive Möglichkeiten oder Dispositionen zu handeln, in denen die Person sich zugleich selbst versteht.« 3 Haltung im Singular hingegen bezeichnet nicht lediglich unsere Überzeugungen mit Blick auf moralische Fragen und geht auch nicht in Einstellungen zu moralischen Fragen auf. Unsere Überzeugungen, seien sie außermoralisch oder moralisch, können wir verraten, etwa dann, wenn wir einem auf uns einwirkenden Gegendruck gegen das, was unsere Überzeugungen uns zu tun nahelegen, nicht standzuhalten vermögen. Unsere Einstellungen können wirkungslos bleiben bzw. werden. Wenn unsere Einstellungen wirkungslos bleiben bzw. wenn ihre Wirksamkeit versiegt, sprechen wir nicht von Haltung, sondern eben gerade von einem Mangel an Haltung. Haltung meint eine Verfassung, die uns dazu disponiert, äußerem Druck zu widerstehen und zu sein, was wir sein wollen und/oder unserer eigenen Meinung nach sein sollten. Haltung bezeichnet also nicht bloß Überzeugungen oder Einstellungen. Haltung (abgeleitet vom Griechischen échein, »haben«) meint mehr als die Inhalte von propositionalen Einstellungen. Haltung verweist auf den Modus, in dem propositionale Einstellungen ›gehabt‹ werden, was immer auch bedeutet: gelebt werden. Wer Haltung hat, hält seine Überzeugungen und Einstellungen gegen Widerstände durch. Damit ist nicht behauptet, dass, wer Haltung hat, sich niemals und unter keinen Umständen einem Druck von außen ergibt. Wer sich aus Prinzip niemals umstimmen lässt, dem attestieren wir Starrsinn und nicht Haltung. 4 Haltung bedeutet, eigene Einstellungen und Überzeugungen in einer Weise zu haben, die mit der Umwelt interagiert, und zwar so, dass dem Gegendruck der Umwelt ein angemessenes, nicht also ein totales Maß an Widerstand entgegengesetzt wird. Vgl. Straus, Die aufrechte Haltung, 235: »Immer ist die aufrechte Haltung Gegenrichtung gegen die niederziehenden Kräfte; sie sind stets am Werk; ohne sie wäre die aufrechte Haltung nicht, was sie ist.« 3 Düsing, Fundamente der Ethik, 187. 4 Vgl. Wüschner, Eine aristotelische Theorie der Haltung, 68; Slaby, Kritik der Resilienz, 278. 2

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Gerade weil der Mensch im zeitlichen Dasein keine endgültige Form seines Daseins finden kann, bedarf er zum Schutz seiner selbst der Haltung, auf dass er »nicht im Gewühl seiner Erschütterungen sich verliert.« 5 Versuchen wir zunächst, diesen Widerstand genauer zu beschreiben. Eben war von dem Widerstand die Rede, den wir der Schwerkraft und dem Nachlassen unserer Kräfte entgegenstemmen, wenn wir körperliche Haltung bewahren, und von dem Widerstand, den wir einer sozialen Umwelt entgegenstemmen, wenn unsere Überzeugungen mit den Erwartungen, die andere an unser Verhalten stellen, in Konflikt geraten. Versuchen wir nun, genauer zu beschreiben, was im Inneren eines Menschen vor sich geht, der Haltung wahrt. Hier hilft ein Blick auf einen der Haltung eng verwandten Begriff, nämlich den der Tugend. Aristoteles definiert Tugenden als innere Haltungen (héxeis) im Gegenüber zu Leidenschaften (páthē) und Fähigkeiten (dynámeis). Leidenschaften (páthē) sind akute emotionale Zustände wie Begierde, Zorn, Angst, Mut, Neid, Freude, Liebe, Hass, Sehnsucht, Missgunst, Mitleid usw. 6 Fähigkeiten (dynámeis) bezeichnen diejenigen anthropologischen Konstanten, vermöge derer Menschen fähig sind, akute emotionale Zustände überhaupt zu erleben. Haltungen (héxeis) sind weder Leidenschaften noch Fähigkeiten, sondern siedeln im Zwischenraum zwischen beiden. 7 Sie sind Dispositionen dazu, auf Dinge in der Welt in einer bestimmten Weise zu reagieren. Tugenden sind Haltungen zum Guten: 8 Dispositionen dazu, auf Dinge in der Welt in einer guten Weise zu reagieren, nämlich so, dass Dinge in der Welt den jeweils angemessenen akuten emotionalen Zustand hervorrufen. 9 Zeugin von Ungerechtigkeit zu werden z. B. ruft den angemessenen akuten emotionalen Zustand hervor, wenn die Zeugin der Ungerechtigkeit in einen (gemessen an der Ungerechtigkeit) angemessenen akuten emotionalen Zustand des Zorns verfällt, oder besser, gerät. Tugend ist weder ein Automatismus der emotionalen Reaktion noch eine volitional souverän gesteuerte Aktivierung der jeweils angemessenen Reaktion, sondern ist wiederum etwas zwi-

5 6 7 8 9

Vgl. Jaspers, Philosophie II: Existenzerhellung, 412 f. Aristoteles, Die Nikomachische Ethik II,1 (1105b). Ebd., II,1 (1105b). Vgl. Halbig, Haltungen zum Guten. Vgl. Swanton, Cultivating Virtue, 19.

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schen diesen beiden Extremen, sie vermittelt zwischen automatischer und reflektierter, mithin nicht-automatischer Reaktion. Diejenigen Haltungen (héxeis), die als Tugenden gelten dürfen, sind Konfigurationen der emotionalen Grundausstattung in einer zur angemessenen Reaktion auf Dinge in der Welt disponierenden Weise. Das Maß für die Bemessung der Angemessenheit des emotionalen Zustands ist zwischen den falschen Extremen des Mangels an Reaktion (Indifferenz gegenüber Ungerechtigkeit) auf der einen und dem Übermaß der Reaktion (Raserei im Angesicht von Ungerechtigkeit) auf der anderen Seite auszumitteln. 10 Tugenden im Sinne von Haltungen zeichnen sich aus durch die Eleganz und Angemessenheit, mit der jemand durch eine innere moralische Reaktion den Stoß ausgleicht, den er von der Welt erfährt. 11 Der Bedeutungshof der griechischen héxis umfasst anders als der deutschsprachige Ausdruck Haltung die Dimension der leiblichen Erscheinung nicht. Wenn Bourdieu von l’hexis corporel spricht, dann ist dies eine sicherlich gekonnte, jedoch über Aristoteles’ Begrifflichkeit hinausweisende Amalgamierung von durchaus unterschiedlichen Vorstellungswelten. 12 Aristoteles spricht von Haltungen (héxeis) im Plural, während das, was im Folgenden mit Haltung im Singular gemeint ist, von Haltungen unterschieden bleibt. Wir können jedoch Aristoteles’ Einsichten leicht mit dem in Verbindung stellen, was wir ausgehend vom deutschsprachigen Wort Haltung entwickelt hatten, und nachdem wir diese Gemeinsamkeit betont haben, werden wir im Anschluss noch einmal die bleibenden Unterschiede zwischen Tugend und Haltung beschreiben und deuten. Versuchen wir nun zunächst, das Motiv des Widerstands mit Aristoteles’ Begriff der Haltung zu verbinden. Den Zusammenhang legt Aristoteles durchaus selbst nahe, denn er bezeichnet Haltung als einen bleibenden Zustand, der nicht leicht umschlägt (oud’ eumetábolon), im Gegensatz zu einem bloß flüchtigen Zustand. 13 Wir hatten gesagt: Haltung, die als Tugend gelten darf, ist eine Konfiguration der Aristoteles, Die Nikomachische Ethik II,5 (1106b): »So ist die Tugend ein Mittelmaß [mesótēs], sofern sie auf die Mitte [mésou] zielt.« 11 Vgl. Wüschner, Eine aristotelische Theorie der Haltung. Zu Haltung als Balance vgl. auch Straus, Die aufrechte Haltung, 224 f.; Buytendijk, Allgemeine Theorie der menschlichen Haltung und Bewegung, 111. Dazu: Hähnel, Das Ethos der Ethik, 207–209. 12 Vgl. Bourdieu, Le sens pratique, 117 (= ders., Sozialer Sinn, 129). 13 Vgl. Aristoteles, Kategorien, 8b27. 10

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emotionalen Grundausstattung in einer zu angemessener Reaktion disponierenden Weise. Wogegen leistet diese Haltung Widerstand? Sie leistet Widerstand gegen den Verlust von Welt und gegen das Überwältigtwerden durch Welt. Indifferenz, völliger Mangel an Reaktion auf die Welt bzw. auf denjenigen Weltausschnitt, in dem wir auf Ungerechtigkeit treffen, ist ein Verlust von Welt. Wenn Ungerechtigkeit uns nicht zornig macht, muss uns die Welt, zumindest die Welt als Raum möglicher moralischer Erfahrung, im Vorfeld bereits verloren gegangen, d. h. gleichgültig geworden sein. Haltung, die als Tugend gelten darf, leistet ferner Widerstand gegen die Sogwirkung, die akute, uns zu überwältigen drohende emotionale Zustände auf uns ausüben. Sie leistet Widerstand dagegen, dass wir außer uns geraten, wenn wir von Zorn über Ungerechtigkeit innerlich überflutet werden und uns im Rausch des Zorns verlieren oder jedenfalls zu verlieren drohen. Haltung hindert uns daran, uns zu »verschwenden«, sie ist »Stauung der blinden Gemütsbewegung, die sie umsetzt in geformte Energie.« 14 Haltung hält uns so in einer Verbindung mit der Welt, und zwar auch und gerade in krisenhaften Situationen, in denen diese Verbindung abzureißen droht. Innere Haltung ist eine Disposition zur gelungenen Weltbegegnung, insofern innere Haltung einen Widerstand gegen Kräfte leistet, die das Selbst zu überwältigen oder von der Welt zu trennen drohen. So weit reichen die Gemeinsamkeiten zwischen héxis in dem Sinn, den Aristoteles diesem Ausdruck verleiht (innere Haltung), und dem, was im Folgenden mit Haltung gemeint sein soll (Haltung als gleichzeitig innere und äußere Haltung). Hier wie dort gilt: Haltung leistet Widerstand, sie ist wie auch die Tugend ein Antidot gegen Weltverlust und gegen Selbstverlust in Folge des Überwältigtwerdens durch Welt. Während aber bei der Tugend die Kraft zum Widerstand im Zuge des Lernens der Tugend in die tugendhafte Person übergegangen ist, ist Haltung als leibliches Phänomen, als vor den Augen anderer gewahrte Haltung bleibend auf Interpersonalität verwiesen. Wenn es eine Pflicht gegen sich selbst gibt, Haltung zu wahren, dann handelt es sich bei einer solchen Pflicht, wie nun deutlich werden wird, um eine ›ex-zentrische‹, d. h. auf das Außen verwiesene Pflicht, sich von den Blicken anderer halten zu lassen. Wenn wir sagen, dass jemand Haltung wahrt, dann ist die äußere, unmittelbar sinnlich wahrnehmbare Haltung ein irreduzibler Teil dieses zur Sprache ge14

Vgl. Jaspers, Philosophie II: Existenzerhellung, 413.

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brachten Geschehens. Haltung in diesem Sinn des Wortes ist umfassender als innere Haltung/héxis. Gewahrte Haltung als leib-seelisches Phänomen umfasst mehr als innere Haltung/héxis und weist mithin über den Bedeutungshof von Tugend hinaus. Gewahrte Haltung ist ein leib-seelisches Phänomen, das eine Innenseite und eine Außenseite hat; die Innenseite der Haltung bzw. die innerlich oder subjektiv erlebte Haltung ist zu unterscheiden von der inneren Haltung/héxis, von der Aristoteles spricht, und die nicht Teil eines leibseelischen Phänomens ist, sondern ein zumindest der Theorie nach rein innerer Vorgang. Wer Haltung wahrt, ringt sich äußere Haltung im Angesicht eines drohenden Haltungsverlustes ab. 15 Haltung zu wahren bedeutet, nach außen weniger erschüttert zu wirken, als man innerlich ist. In dieser Möglichkeit des Auseinandertretens von Innen und Außen besteht das Besondere der Haltung. 16 Die äußere Haltung hat ein Gesicht, das verbergen kann, was im Inneren der sich haltenden Person tatsächlich vor sich geht. Haltung kann den Charakter einer Maske annehmen. In dieser Äußerlichkeit der Haltung liegen ihr Potential und ihre Relevanz für die Frage nach Pflichten gegen sich selbst. Dass Haltung eine sichtbare Seite zur Schau stellt und eine nicht-sichtbare für sich behält, verbindet die Haltung in gewissem Maße mit dem, was philosophische und theologische Traditionen als Tugend bezeichnen. Es lässt sich jedoch ein signifikanter Unterschied zwischen Haltung und Tugend hinsichtlich der Dimension der Außenseite namhaft machen, und dieser Unterschied macht deutlich, worin das Spezifikum von Haltung zu sehen ist. Die Außenseite der Tugend hat zwei Aspekte, die ihrerseits bei genauerem Hinsehen enger verschränkt sind, als man meinen mag: die häufig kritisch mit Blick auf tugendethisches Denken ins Feld geführte Möglichkeit, dass Tugend im Sinn einer Pseudo-Tugend zu Vgl. zum Ringen um und Verlieren von Haltung Bollnow, Das Wesen der Stimmungen, v. a. 156; Wüschner, Eine aristotelische Theorie der Haltung, v. a. 18, 35, 49, 254 f.; Schmitz, Was ist Neue Phänomenologie?, 271. 16 Mit Blick auf personale Vollzüge von Innen und Außen zu sprechen unterstellt keinen ontologischen Substanzdualismus, der die körperliche Wirklichkeit radikal von einer immateriellen mentalen Wirklichkeit trennen würde, sondern folgt lediglich der Beobachtung, dass die Seinsweise der subjektiven Innenwelt mit der objektiven Außenwelt nie völlig zur Deckung kommt, dass es sich bei Innen und Außen um unterscheidbare Aspekte der Wirklichkeit handelt. Vgl. Rentsch, Die Konstitution der Moralität, 91. 15

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einer bloß äußerlichen (scheinhaften) Pose erstarrt (1) und die hiermit in Zusammenhang stehende Bedeutung der sozialen Umwelt bzw. Außenwelt, in die eine Person eingebettet sein muss, die sich im Prozess eines Lernens von Tugend befindet (2). Diesen Außenbeziehungen von Tugend und Haltung ist näher nachzugehen, um genauer zu erfassen, was mit Haltung gemeint ist und was es bedeutet, im Wahren von Haltung eine Pflicht des Menschen gegen sich selbst zu sehen. Zur Pseudo-Tugend (ad 1): Augustin meint, es könne und müsse zwischen wahren Tugenden und bloß scheinbaren Tugenden, i. e. Pseudo-Tugenden, unterschieden werden, ja diese seien das Gegenteil von jenen. 17 Luther und Nietzsche tun es ihm in ihrer Polemik gegen Pseudo-Tugenden gleich. 18 Von Pseudo-Tugenden ist dann zu sprechen, wenn jemand durch sein sichtbares Verhalten den Anschein erweckt und erwecken möchte, er sei großzügig, während sein vermeintlich großzügiges Verhalten lediglich dazu dient, sich die Anerkennung oder Bewunderung anderer zu verschaffen. Von scheinbarer Großzügigkeit ist zu sprechen, wenn das dem Anschein nach großzügige Verhalten nicht von innerer Freiheit und Freigiebigkeit getragen ist, sondern vom Streben nach den Vorteilen, die jemand gewinnt, dessen Verhalten als tugendhaft angesehen wird. PseudoTugend ist Lüge gegen andere, insofern der Pseudo-Tugendhafte durch ein ›Gewinnstreben‹ motiviert wird, i. e. durch das Streben nach dem Gewinn von Anerkennung und jener Annehmlichkeiten und Vorteile, die diese regelmäßig mit sich bringt. Im extremen Fall, den Nietzsche allerdings als Normalfall betrachtet, ist Pseudo-Tugend nicht (mehr) Lüge gegen andere, sondern Lüge gegen sich selbst, nämlich dann, wenn die Pseudo-Tugend so in einen Menschen übergeht, dass dieser glaubt, er sei großzügig, während sein Handeln in Wahrheit allein von berechnend-egoistischen Motiven geleitet wird. Blickt man nun auf den Vorgang der Aneignung von Tugend, so wie dieser bei Aristoteles und auch in der Tradition Aristoteles’ verstanden wird, dann zeigt sich, dass der Grat zwischen Pseudo-TugenVgl. Augustinus, Der Gottesstaat/De civitate Dei, 19,25. Die Augustin häufig zugeschriebene Formel virtutes paganorum splendida vitia (»die Tugenden der Heiden sind glänzende Laster«) findet sich in seinen Schriften allerdings nicht. Dazu: Irwin, The Development of Ethics, 418 f. 18 Zu Pseudo-Tugend bei Luther und bei Nietzsche vgl. Schmidt, Critical Virtue Ethics; ders., »Die höchste Tugend ist: Leiden und Tragen alle Gebrechlichkeit unserer Brüder«. 17

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den und »echter« Tugend schmal ist, und dass also Nietzsches Verdacht, bei jeder Tugendhaftigkeit handele es sich in Wahrheit um eine maskierte Pseudo-Tugendhaftigkeit, nicht ganz aus der Luft gegriffen ist. Deutlich wird dies, wenn wir uns dem Lernen von Tugend und damit dem Moment des Äußeren in der Aneignung von Tugend zuwenden (ad 2). Auch die echte Tugend ist mit Blick auf ihre Genese auf Vorgänge der Anerkennung durch andere angewiesen. Denn Tugenden werden erworben, indem Menschen die als tugendhaft geltenden Praktiken der jeweiligen Kultur, der sie angehören, zunächst äußerlich imitieren und sich den Sinn und den Gehalt der Tugenden zu eigen machen, während sie zu eigenständigen moralischen Persönlichkeiten heranreifen. 19 Aneignung von Tugend bedeutet, sich Praktiken, die zunächst (etwa im Kindesalter) nur äußerlich mitvollzogen werden, in dem Sinne zu eigen zu machen, dass der in diese Praktiken eingelassene moralische Sinn zur Triebfeder des eigenen Handelns wird und somit die von außen stammenden Handlungsimpulse als Triebfedern des Handelns ablöst. Die ursprüngliche Motivation dazu, in Prozesse des Lernens von Tugend überhaupt erst einmal einzutreten, ist jedoch eine extrinsische Motivation, i. e. das Streben nach der Anerkennung bzw. nach dem Zuspruch der Bezugspersonen, die eine moralische Kultur verkörpern und an nachkommende Generationen weiterreichen. Daher ist die Imitation von Tugenden als Praxis, die zum Lernen von Tugend führt, nur graduell von Pseudo-Tugenden unterschieden. Denn hier wie dort gilt, dass der Wunsch nach Anerkennung als treibende Kraft hinter der Tugend steht. Mehr noch, sogar die instrumentelle Prätention von Tugend kann zu wahrer Tugend werden. Ausgerechnet Kant, der so scharf zwischen legalen, i. e. bloß äußerlich mit dem Gesetz übereinstimmenden Handlungen auf der einen und wahrhaft moralischen, i. e. von einem guten Willen motivierten Handlungen auf der anderen Seite unterscheidet, räumt diese Möglichkeit ein. 20 Wer mit voller Absicht Tugend bloß mimt, weil er sich einen Vorteil davon verspricht (Pseudo-Tugend), kann denselben Prozess durchlaufen, der sich bei jedem Vorgang der Aneignung abspielt: Es kann durch die stete Wiederholung von tugendhaften Verhaltensweisen dazu kommen, dass die zunächst bloß vorgespielte TuVgl. Herdt, Putting on Virtue, v. a. 27. Vgl. Kant, Anthropologie in pragmatischer Absicht, VII 153; vgl. Rorty, The Deceptive Self, v. a. 17.

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gend in Fleisch und Blut übergeht. Der Grat zwischen Pseudo-Tugend und der wahren, aber auf Äußeres angewiesenen Tugend ist unbequem schmal. So gilt für Tugend wie auch für Haltung, dass für beide das Äußere eine wichtige Rolle spielt. Das Äußere ist nicht nur in der Pseudo-Tugend als ›uneigentlicher‹ Tugend relevant (1), sondern auch in der ›eigentlichen‹ Tugend (2). Allerdings: Die Bedeutung des Äußeren für die Pseudo-Tugend betrifft lediglich eine Verfallsform von Tugend; die Bedeutung des Äußeren für die ›eigentliche‹ Tugend betrifft lediglich deren Genese. Somit unterscheidet sich Tugend dann doch kategorial von Haltung. Pseudo-Tugend (1) ist nicht eigentlich Tugend, sondern deren Simulacrum. In die Interaktion mit der Außenwelt bzw. Umwelt eingebettete Anerkennungsprozesse (2) sind ein Katalysator für den Erwerb von ›eigentlicher‹ Tugend. Wer Tugend einmal erworben hat, ist auf die Außenwelt als Impulsgeber zur Tugendhaftigkeit nicht mehr angewiesen, ja kann sich sogar kraft seiner angeeigneten Tugend gegen die Außenwelt stellen. Vor diesem Hintergrund lassen sich Argumente gegen drei häufig gegen Tugend erhobene Vorbehalte, i. e. gegen den Konservativismusverdacht, den Inauthentizitätsverdacht und den Solipsismusverdacht, entwickeln. 21 Der Konservativismusverdacht behauptet, Tugend sei ein reaktionäres Konzept. Dies jedoch trifft insofern nicht zu, als Tugend sich gegen die Kultur, in der sie gelernt wird, richten kann. Julia Annas verdeutlich das an einem Beispiel: Lernen, ehrlich zu sein, besteht nicht nur darin zu lernen, was die Familie tut, in der man aufgewachsen ist. Ehrlichkeit gelernt zu haben kann dazu führen, dass jemand davon schockiert wird, wie die eigene Familie sich verhält – worin sich zeigt, dass die tugendhafte Person zwei Gemeinschaften angehört, der geschichtlichen Gemeinschaft derer, in deren Kreis sie Tugend gelernt hat, und der idealen Gemeinschaft derer, die sich diese Tugend erschlossen und sich dem Streben nach dieser Tugend verpflichtet haben. 22 Der Inauthentizitätsverdacht behauptet, Tugend sei ihrem Wesen nach ausnahmslos Pseudo-Tugend. Das ist jedoch nicht zwingend der Fall. Es ist gut denkbar, dass es sowohl verlogene Pseudo-Tugend gibt als auch echte Tugend, und dass jene sich im Laufe der Zeit in Vgl. zur Kritik an der Tugendethik die Übersicht bei Solomon, Internal Objections to Virtue Ethics. 22 Vgl. Annas, Intelligent Virtue, 55. 21

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diese verwandeln kann: dass einer inneren Einstellung im Laufe der Zeit, mitunter auch durch Passagen der bloß äußeren Imitation oder Prätention, alle jenen emotionalen Eigenschaften zuwachsen, die zu einer wahren Tugend gehören. Pseudo-Tugend kann wie gesagt zu wahrer Tugend werden. Diese Möglichkeit lässt erkennen, dass Pseudo-Tugend eben von wahrer Tugend durchaus zu unterscheiden ist, auch wenn es Grenzgebiete und Übergänge zwischen Pseudo-Tugend und wahrer Tugend gibt. Denn Pseudo-Tugend lebt von Anerkennung und verliert ihre Kraft, wenn die von der Anerkennung ausgehenden Impulse fehlen. Wahre Tugend lebt von einer Affirmation des in die jeweilige Tugend eingefalteten, angeeigneten moralischen Sinns. Mithin überlebt wahre Tugend auch einen Verlust der Anerkennung. Der Lackmustest für die Unterscheidung zwischen wahrer Tugend und Pseudo-Tugend bestünde insofern darin, jene Anerkennung, die der Tugendhafte als Resonanz auf sein tugendhaftes Verhalten erfährt, zu entziehen. Aber dies bedeutet wiederum eben nicht, dass Tugend von Anerkennung unabhängig wäre, denn die Genese von Tugend ist auf Dynamiken der Anerkennung verwiesen. Und vor diesem Hintergrund können wir nun die Eigenart von Haltung als einer leib-seelischen Einheit bestimmen. Haltung ist anders als Tugend bleibend und wesentlich, also nicht lediglich genetisch und vorübergehend, auf das Wechselspiel von Innen und Außen verwiesen. Und der Aspekt der Prätention von Haltung gehört zu deren Potential und verweist keineswegs auf eine Vorform oder Verfallsform. Tugend bedeutet, dass Äußeres – soziale Anerkennung – wirksam war und sich im Inneren bleibend niedergeschlagen hat. Tugendhafte Emotionen, die gleichsam im Strom tugendhafter Handlungen in einer Person aufgewirbelt wurden, legen sich schließlich als Sedimente im Grund der Person ab. Ist das Flussbett einmal mit tugendhaften Emotionsdispositionen ausgekleidet, dann ist die Person bleibend oder jedenfalls mit einer gewissen Stabilität verändert. Hierin gründet die Widerstandskraft dessen, was Aristoteles Tugend bzw. innere Haltung nennt: diese schlägt nicht leicht um (oud’ eumetábolon). Die Widerstandskraft, die der Tugend zu eigen ist, ist allein hinsichtlich ihrer Genese und mithin nur vorübergehend auf Interpersonalität bezogen. Anders verhält es sich bei der Widerstandskraft, die der Haltung zu eigen ist. Denn diese ist nicht nur vorübergehend, sondern konstitutiv auf Interpersonalität bezogen. Haltung hat anders als Tugend einen wesentlich exzentrischen Charakter, und daher gilt: Wenn es eine Pflicht zum Wahren von Hal90

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tung gibt, dann ist auch diese Pflicht gegen sich selbst konstitutiv auf Interpersonalität bezogen. Tugend wird sozial erworben und Tugendhaftigkeit manifestiert sich in der sozialen Welt. Aber das Lernen von Tugend ist ein Emanzipationsprozess, im Zuge dessen der Tugendhafte sich aus der Abhängigkeit von denen, die ihm die Tugend lehren, lösen kann und auch lösen sollte, wenn denn Tugendvermittlung von Abrichtung unterscheidbar bleiben soll. Dies unterscheidet die Tugend von der Pseudo-Tugend auf der einen und von der Haltung auf der anderen Seite. Gelingt es zu zeigen, dass sich die Pflicht zum Wahren von Haltung anders als eine Pflicht zur Tugendhaftigkeit losgelöst von sozialen Beziehungen überhaupt nicht vorstellen lässt, nicht einmal idealiter, dann wird deutlich, dass die Vorstellung von Pflichten gegen sich selbst alles andere als solipsistisch ist und dass verbindliche Beziehungen zu anderen Menschen nicht in Konkurrenz zu, sondern in engstem Zusammenhang mit den Pflichten gegen sich selbst stehen. Der besagte Solipsismusvorbehalt trifft das tugendethische Denken nur bedingt, denn es geht der tugendhaften Person nicht um ihre eigene Tugendhaftigkeit, sondern um das Gute, das von Tugend geleitetes Handeln bewirkt. Und doch zielt die Perspektive des Denkens, das sich mit Tugend beschäftigt, in erster Linie auf das einzelne Handlungssubjekt. Und hierin liegt ein bleibender Unterschied zwischen Tugend und Haltung, denn letztere ist irreduzibel interpersonal.

4.2 Halt/los. Haltung, Zeitlichkeit und Interpersonalität Haltung im Sinn des deutschsprachigen, somatisch konnotierten Ausdrucks bedeutet, dass Inneres und Äußeres fortwährend ineinanderwirken. Denn es handelt sich bei der Haltung um ein Phänomen, das durch die Wechselwirkung einer Schauseite und einer Innenseite bestimmt ist. Das Ineinsfallen der Innenseite und der Außenseite der Haltung ist die eigentliche Pointe von Haltung. Helmuth Plessners Phänomenologie des Leibes hilft dabei, dieses Ineinsfallen zu verstehen. Auf der einen Seite, so Plessner, kann der Mensch nicht vollkommen souverän darüber verfügen, wie er erscheint, weil er immer zugleich ein Leib ist und einen Leib hat. 23 Wenn wir vor Scham erröten, spricht unser Leib für uns, ohne dass wir das wollen, und darin 23

Vgl. Plessner, Lachen und Weinen, 236–243.

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manifestiert sich, dass wir ein Leib sind. Wir stehen nicht noch einmal hinter unserem Leib so als wären wir Wesen, die noch etwas anderes sind als das, was sie leiblich sind. 24 Auf der anderen Seite hat der Mensch innerhalb bestimmter Grenzen die Möglichkeit, in seinem leiblichen Gebaren, in der Art und Weise, wie er Haltung wahrt, ein Selbst zur Darstellung zu bringen. Darin spiegelt sich wider, dass wir einen Leib haben, den wir als Medium zur Kommunikation verwenden können. Und beides ist immer zugleich wirksam. »[Der Mensch] ist weder allein Leib noch hat er allein Leib (Körper).« 25 Der Leib ist die unhintergehbare Umschlagstelle, an der sich das Selbst als verkörpert zeigt: Außen und Innen sind irreduzibel aufeinander verwiesen und ineinander verwoben, und doch sind sie phänomenologisch gesehen unterscheidbar. »Denn jeder Mensch hat sein seelisches Inneres für sich, das niemals in fremdes Seelenleben übergeht; alle Verbundenheit muß den Umweg über die ›Äußerung‹ des Inneren gehen.« 26 Und dies bedeutet für die Selbstdarstellung einer Person, die Haltung wahrt: Das dargestellte Selbst kann eines sein, das seiner tatsächlichen Selbstwahrnehmung nicht mehr, noch nicht oder noch nicht wieder in Gänze entspricht. Gewahrte Haltung ist ein eigentümliches Zugleich von Zeigen und Verbergen, von Selbstausdruck und Selbstverstellung. Wenn Haltung gewahrt wird, wird ein innerer Impuls, ein nahezu übermächtiger Affekt, der die Haltung von innen zu durchbrechen und ihre Form zu Fall zu bringen droht, erfolgreich im Gewahrsam gehalten. Das Wahren von Haltung ist ein Vorgang, in dem ein Mensch sich hält angesichts bedrängender Wirklichkeitserfahrung. Dies teilt die Haltung auf einer abstrakten Ebene mit den Tugenden, von denen wir im Gespräch mit Aristoteles ebenfalls gesagt hatten, dass sie einen Widerstand gegen den Druck der Welt aufrechterhalten. Der Unterschied besteht, wie bereits angedeutet, darin, dass die Zuordnung von Innen und Außen im Falle der Haltung von anderer Art ist als bei den Tugenden. Während das Auseinandertreten zwischen Innen und Außen bei den Tugenden entweder ein Anzeichen für bloß prätendierte Tugendhaftigkeit ist (Pseudo-Tugend) oder lediglich in der Entstehungsphase von Tugend einen Ort hat (Tugendlernen durch Imitation), ist die Möglichkeit einer Differenz von äu24 25 26

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Vgl. Rentsch, Die Konstitution der Moralität, 89. Vgl. Plessner, Lachen und Weinen, 241. Hartmann, Der Aufbau der realen Welt, 318.

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ßerlich gewahrter Haltung und innerem Erleben das charakteristische Merkmal der Haltung. Das Spiel von Innen und Außen ist bei der Haltung also nicht etwas, das wie im Falle des Tugendlernens durch Imitation nur in das Vorfeld der Tugend gehörte oder wie im Falle der Pseudo-Tugend als dekadenter Verfall von deren eigentlichem Wesen abzugrenzen wäre. Es gibt Pseudo-Tugenden, aber es kann keine Pseudo-Haltung geben. Wer Haltung zeigt, gibt damit zu verstehen, dass er Haltung zeigen will und kann, und was diese elementare Botschaft angeht, so spricht die Haltung unmittelbar und unmissverständlich für sich selbst, auch wenn sie von dem, wogegen die Haltung verteidigt wurde oder wird, schweigt. Diesen letztgenannten Gedanken müssen wir noch genauer entfalten. Hierzu gibt die Habilitationsschrift Würde als Haltung von Eva Weber-Guskar wichtige Impulse. Weber-Guskar will zeigen, dass der Begriff der Würde des Menschen im Sinne der Haltung des Menschen zu verstehen ist. Würde als Haltung, so Weber-Guskar, besteht »in der Gestaltung einer Vielzahl von Emotionen und Handlungen. Diese Gestaltung liegt dabei darin, eine innere Übereinstimmung herzustellen, die sich zudem nach außen zeigen lässt.« 27 Würde als Haltung hat eine Person, wenn sie »mit sich selbst eins ist in dem Sinn, dass sie in keinen grundlegenden Werten, Entscheidungen, Überzeugungen und Gefühlen zerrissen ist.« 28 Haltung bedeutet »so zu erscheinen, wie man erscheinen will, wie man sich selbst sieht« 29. Innere Übereinstimmung ist eine Verfassung, in der die verschiedenen Elemente (Triebe, Wünsche, Idiosynkrasien, Gewohnheiten etc.) des Selbst sich zu einem kohärent anmutenden Selbstbild fügen bzw. durch das Selbst ständig neu zu einem solchen gefügt werden. WeberGuskar spricht davon, dass in einem Selbstbild Vorstellungen davon gesammelt sind, was einen ausmacht, d. h. ein Selbstbild lässt Pluralität zu, aber eben eine Pluralität von Elementen, die gesammelt sind. 30 Übereinstimmung nach außen kommt, so Weber-Guskar, zum Tragen, wenn das Bild, das wir im Rahmen unserer Auftritte in der sozialen Welt abgeben, mit unserem Selbstbild harmoniert. Mithin sind v. a. zwei Formen der Übereinstimmung denkbar, und auf diesen beiden Formen liegt der Fokus der folgenden Überlegun27 28 29 30

Weber-Guskar, Würde als Haltung, 157. Ebd., 191. Ebd., 164. Vgl. ebd., 147, 163.

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gen: a) innen-innen-Übereinstimmung, i. e. die innere Kohärenz des Bildes, das wir von uns haben; b) innen-außen-Übereinstimmung, i. e. die Übereinstimmung des Bildes, das wir von uns haben, mit dem Bild, das wir abgeben. Ein Leben in Würde, so Weber-Guskar, ist ein Leben, in dem ein Mensch sich von innen her sammelt (a) und eine äußere Haltung annimmt, die mit dem Selbstbild übereinstimmt (b). Hier ist jedoch einzuwenden: Haltung zu wahren bedeutet nicht oder jedenfalls nicht zwangsläufig, einen Einklang von Innen und Außen zur Geltung zu bringen. Haltung zu bewahren kann auch bedeuten, im Einklang mit einem inneren Wunsch eine Fassade aufzurichten, die darstellt, wie jemand erscheinen will, welchen Anschein er erwecken will, also nicht, wie jemand innerlich tatsächlich verfasst ist. Der angestrebte äußere Anschein kann sich erheblich von der tatsächlichen innerlichen Verfassung einer Person unterscheiden. Wer Haltung wahrt, wer Haltung zeigt, der zeigt mitunter nur einen Teil dessen, was er innerlich erlebt, zeigt nicht das, was die Haltung bedroht, was ihn niederdrückt und zerspringen zu lassen droht, zeigt also nicht den auf ihm lastenden Druck der Wirklichkeit, dem die Haltung abgerungen ist. Wer Haltung wahrt, zeigt die Kraft, aus der heraus er dem drohenden Haltungsverlust zu widerstehen vermochte und zeigt, wie er gesehen werden will, in welcher Rolle er auf der Bühne der sozialen Welt auftreten will. Wer innerlich in einen Zustand geraten ist, in dem es eine Leistung ist, äußerlich Haltung noch zu wahren, für den kann es entlastend sein, dass kraft der äußerlich gewahrten Haltung die Interaktionen mit anderen nicht vollständig in den Bann dessen gezogen werden, was die Haltung bedroht. Mehr noch: Das Wahren einer äußeren Haltung erlaubt es dem Menschen, ein Selbst vorwegzunehmen, das er (wieder) sein will, aber (noch nicht oder noch nicht wieder) sein kann. Zeichnen wir nun diese Beobachtungen in das Nachdenken über Pflichten gegen sich selbst ein, dann bildet sich ein gegenüber unseren bisherigen Thematisierungen des späteren Selbst neuer Akzent heraus. Bisher hatten wir das spätere Selbst als verpflichtendes Selbst vor Augen; das spätere Selbst verpflichtet das aktuale Selbst, weil das spätere Selbst von dem, was das aktuale Selbst tut, betroffen sein wird. So war davon die Rede, dass das spätere Selbst vorweggenommen wird, aber diese Vorwegnahme trat in den bisherigen Überlegungen nur in der Imagination in Erscheinung, nicht im Handeln. Das Wahren von Haltung geht hierüber noch einen Schritt hinaus. 94

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Wer in einer krisenhaften Situation Haltung wahrt, nimmt ein späteres Selbst vorweg, indem er als ein Selbst äußerlich in Erscheinung tritt, das er innerlich (noch) nicht ist, sich jedoch zu sein wünscht. Und dies wiederum ist eng verbunden mit dem Blick der anderen Menschen auf den, der Haltung wahrt – jenem Blick der anderen, der auch für den Erwerb der Tugenden bedeutsam ist, nur eben in einer anderen Art und Weise, als es bei der Haltung der Fall ist, nämlich in einer lediglich transitorischen Art und Weise. Die Vorwegnahme eines zukünftigen Selbst wird dadurch unterstützt, dass die anderen Menschen einen Grund bieten, errungene Haltung weiter durchzuhalten, indem sie den, der um Haltung ringt, mit ihren Blicken halten und ihn so an das Bild binden, dass er abgeben will. Um eine Pflicht gegen sich selbst handelt es sich beim Wahren von Haltung, weil der Mensch sich grundsätzlich schuldet, ›alles‹ zu tun, was dabei hilft, eine verlorene Haltung als einer Bedingung der Verwirklichung personaler Freiheit wiederzugewinnen – wobei dieser Pflicht, in diesem Sinne ›alles‹ tun, eine Grenze gesetzt ist, von der später mehr zu sagen sein wird. Wir hatten im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit Kant festgestellt, dass die Lüge den Menschen an das Äußere bindet, i. e. an die Lügen, die der homo phaenomenon in die Welt gesetzt hat, mit der Folge, dass die Welt den Lügner mittels der durch die Lügen hervorgerufenen Verhaltenserwartungen an seine Lügen kettet. Insofern kann die Lüge den Menschen nachhaltig desintegrieren, denn sie verstetigt einen Zustand der Desintegrität zwischen dem Handeln und einem diesem Handeln nicht kongruenten mentalen Zustand, die Lüge bindet den Menschen an seine Lüge und raubt ihm so die Freiheit, wahrhaftig er selbst sein zu können. Auf dieselbe Struktur, jedoch unter umgekehrten Vorzeichen, treffen wir im Zusammenhang der Haltung. Vor den Augen anderer Haltung zu bewahren, eröffnet die Möglichkeit dazu, durch die Blicke der anderen in dieser Haltung gehalten zu werden. Wenn wir, um ein Beispiel aus der Moralpsychologie hinzuziehen, gegenüber anderen eine bestimmte Rolle einnehmen, dann neigen wir dazu, auch unsere Auffassungen der äußerlich angenommenen Rolle sukzessive anzupassen. 31 Wenn sich in Vgl. Schlenker/Miller/Johnson, Moral Identity, Integrity, and Personal Responsibility, 318. Über sich selbst zu schreiben kann, so Foucault u. a. mit Bezug auf eine Passage aus der Vita Antonii, eine ähnliche Funktion haben, indem das über sich schreibende Selbst die anderen zu imaginären »Augenzeugen« seiner Handlungen

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unseren Bezugspersonen, um es phänomenologisch auszudrücken, ein bestimmtes Bild von uns aufbaut, von dem wir uns wünschen, dass es sich bei ihnen aufbaut, weil wir uns wünschen, das zu sein, was das Bild darstellt, dann konvergieren zwei Blicke, über die im günstigsten Fall irgendwann einmal nicht mehr eindeutig zu sagen ist, welcher Blick eigentlich der Blick dessen ist, der ein bestimmtes Bild von sich produziert. 32 Diesen Schwebezustand beendet der Vorgang der Resubjektivierung, in dem die zeitweise bloß äußerlich gewahrte Haltung neuerlich zu innerlich erlebter Haltung wird.

4.3 Resubjektivierung als Wiedergewinn von Haltung Haltung im Sinne von héxis ist die dauerhafte Verfassung, in der etwas oder jemand sich befindet. Dieser Aspekt der Dauerhaftigkeit spiegelt sich in der Erwartung wider, dass die Haltung einer Person zur Stabilisierung von Lebensvollzügen beiträgt. So sieht etwa Otto Friedrich Bollnow in der Haltung ein Mittel, mit dem der Mensch sich im Griff behält, wenn er sich im Eindruck der Wucht seiner Affekte zu entgleiten droht. 33 Behutsamer formuliert Frauke Kurbacher, die Haltung trete im Angesicht der bleibenden Abgründigkeit der Ungewissheit des Daseins wie ein Versprechen auf Halt in Erscheinung. 34 Nehmen wir diese zuletzt zitierte Formulierung beim Wort. Möglicherweise ist das Verhältnis von Haltung und Halt angemessen beschrieben, wenn Haltung in erster Linie als Versprechen auf und weniger als Garant für Halt verstanden wird. Wer äußerlich Haltung wahrt, erlöst sich nicht selbst, sondern begünstigt einen Vorgang, dessen Verlauf vollständig unvorhersehbar ist, dessen Ausgang der Mensch in aller Offenheit abzuwarten hat. Das Bild, das jemand abgibt, erzielt die gewünschte Außenwirkung, aber die Außenwirkung stimmt nicht mit einem Selbstbild überein. Insofern besteht auf einer abstrakteren Ebene dann eben doch eine Übereinstimmung: nämlich zwischen dem Wunsch, ein bestimmtes Bild abzugeben, und der tatsächlichen Außenwirkung. und sich so schreibend zum Aufseher seiner selbst macht. Vgl. Athanasius, Des hl. Athanasius Leben des hl. Antonius des Großen, 287 f.; Foucault, Über sich selbst schreiben, 504. 32 Vgl. Sartre, Das Sein und das Nichts, 137. 33 Bollnow, Das Wesen der Stimmungen, 159. 34 Vgl. Kurbacher, Zwischen Personen, 337.

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Resubjektivierung als Wiedergewinn von Haltung

Die beschriebene Resubjektivierung folgt keinem Automatismus. Zwar kann eine bloß äußerlich angenommene Haltung, ja selbst eine Selbsttäuschung eine Dynamik freisetzen, die das, was zunächst nur vorgetäuscht wurde, in einer produktiven Weise Wirklichkeit werden lässt. Durch die Haltung, die eine Person einnimmt, vermag die Person auf sich selbst einzuwirken, können Prozesse initiiert werden, die gar nicht erst möglich wären, wenn nicht zunächst einmal eine bestimmte Haltung eingenommen würde. 35 Solches Gelingen des Verlaufs äußerer Selbstdarstellungen out of character folgt jedoch keinem Automatismus, denn dieses Gelingen hängt davon ab, dass die probeweise oder zeitweise eingenommene äußere Rolle nicht auf Dauer zur Maske erstarrt und in Selbstentfremdung gerinnt. Eine Rolle zu spielen, mit der man sich in einer bestimmten Weise aufführt, ist nicht verlogen und nicht »falsch«, sondern Moment jeder sozialen Wirklichkeit. 36 Der Mensch ist, so Sartre, nie eine seiner Haltungen, insofern er seine Selbstdarstellungen frei wählt. 37 Problematisch wird das Einnehmen einer Rolle, wenn die Differenz zwischen der äußeren Haltung und der inneren Verfassung unversöhnbar wird, wenn der Mensch sich in seinem Inneren gänzlich verschließt, indem er aus den Augen verliert, dass die äußerlich gewahrte Haltung gleichsam ein Vorschuss darauf ist, dass die Haltung auch innerlich wiedergefunden wird. Gerät diese Vorläufigkeit, die mit gewahrter Haltung einhergeht, in Vergessenheit, dann gerinnt das idealerweise bewegliche, revidierbare Auseinandergehen von sozialer Selbstdarstellung und innerer Verfassung zu einer verfestigten Abspaltung des Äußeren vom Inneren, zu einer organischen Inauthentizität. Bedingung für ein produktives Auseinandertreten von innerer Verfassung und äußerer Haltung ist die Metahaltung der Offenheit dafür, dass es zu einer Versöhnung dessen, was einstweilen auseinandergetreten ist, einmal noch kommen wird, um mit einem biblischen Motiv zu sprechen: dass die verdorrten Gebeine mit neuem Fleisch überzogen werden (Ez 37). Die Pflicht, Haltung zu wahren, bedeutet also: Der Mensch schuldet sich, diese Prozesse des Gehaltenwerdens in einer äußerlich gewahrten Haltung und der Resubjektivierung möglich werden zu lassen. Die Pflicht, Haltung zu wahren, entfaltet Vgl. Lipps, Die menschliche Natur, 22. Vgl. Goffman, Wir alle spielen Theater, 6, mit Verweis auf Ichheiser, The Image of the Other Man, 6 f. 37 Vgl. Sartre, Das Sein und das Nichts, 142. 35 36

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ihren Sinn nur, wenn Haltung als Teil eines Prozesses verstanden wird, über dessen Verlauf das Selbst nicht souverän verfügt. Die Pflicht, Haltung zu wahren, ist alles andere als eine Pflicht dazu, sich augenblicklich selbst in den Griff bekommen, ist also alles andere als eine Pflicht dazu, sich ›zusammenzureißen‹. Wer diesen Vorgang der Resubjektivierung hingegen als Automatismus versteht, überfordert denjenigen, der eine zunächst bloß äußere Haltung wahrt. Dass das innere Leben eines Menschen einer einstweilen bloß äußerlich angenommenen Haltung nachzieht, ist kein Automatismus, ist im Gegensatz zum Tugendlernen kein Vorgang einer bloßen Ablagerung des in das Äußere eingelassenen Sinns moralisch guter Praxis im Inneren kraft gewohnheitsmäßigen Tuns, sondern Ereignis der Gabe neuen Lebens. Offenheit hält in Erinnerung, dass bloß äußerlich gewahrte Haltung noch nicht die Erlösung von dem darstellt, was einen Menschen erschütterte und um Haltung ringen ließ; Offenheit hält in Erinnerung, dass nicht vorweggenommen werden kann, wann und wie die gesamte Person eine Haltung gefunden haben wird, in der Innen und Außen erneut in Übereinstimmung sind. Sie richtet sich auf etwas, das erhofft wird, und das der Mensch aus eigenen Kräften nicht wirklich werden lassen kann. Offenheit ist nicht Passivität, sondern als ständiges Sich-Öffnen ein Handeln, jedoch Handeln im Bewusstsein, dass das Handeln nicht genügen wird, um zum Ziel zu gelangen, weil der Mensch nicht vorwegnehmen kann, wie er durch das, was ihn erschüttert, verändert werden wird. Wir bewegen uns nun in einem Grenzgebiet, in dem eine feine Linie verläuft zwischen dem, was wir uns schulden, und dem, was wir uns nicht mehr schulden. Es kann keine Pflicht geben, etwas Unverfügbares – hier im weiten Sinne von Aspekten der Wirklichkeit, die faktisch außerhalb der Verfügungsgewalt handelnder Subjekte liegen – zu verwirklichen. 38 Pflichten gegen sich selbst geben Halt, indem sie uns zu einem Handeln anleiten, das mit der begründeten Hoffnung verbunden ist, einmal so gelebt haben zu werden, wie wir gelebt haben werden wollen, auch und gerade dann, wenn uns in der Gegenwart die Kraft und die Gründe hierfür fehlen. Haltung zu wahren zählt zu dem, was Menschen sich schulden. Dass hingegen die gewahrte Haltung im Zuge einer Resubjektivierung neuen, auch inneren Halt im Leben gibt, dass die Schauseite 38

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Vgl. Schmidt, Kultur der Heiligkeit, 281.

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Resubjektivierung als Wiedergewinn von Haltung

der Haltung mit der Innenseite der Haltung neuerlich zur Übereinstimmung kommt, hat niemand in der Hand. Bedingung der Möglichkeit der Resubjektivierung ist die Offenheit, kraft derer sich das Subjekt nicht dauerhaft auf den Zustand festlegen lässt, in dem Haltung bloß äußerlich gewahrt wird. Das Wahren von Haltung ist also alles andere als die Nötigung des Selbst in eine starre Form. Das Wahren von Haltung dient dem Schutz der eigenen Freiheiten, indem es zukünftige Möglichkeiten eröffnet bzw. offen hält. Die Pflicht zur Haltung besteht darin, dass der Mensch sich schuldet, in ihrem Verlauf letztlich unverfügbare Prozesse der Resubjektivierung, i. e. des Wiedergewinns subjektiv empfundener Haltung infolge des Wahrens äußerer Haltung, möglich werden bzw. möglich bleiben zu lassen. Pflichten gegen sich selbst geben Halt, indem sie den Menschen mit den Perspektiven seines zukünftigen Selbst und mit den Perspektiven anderer Menschen in verbindliche Beziehungen stellen. Diese Verbindlichkeit ist nicht das Gegenteil von individueller Freiheit, sie ist der Widerstand, an dem sich abarbeiten kann, wer seine Freiheit an eine kritische Lebenssituation zu verlieren droht. Aber das Gebot, solchen Widerstand zu leisten, hat Grenzen, so wie auch die Verbindlichkeit der Pflichten gegen sich selbst Grenzen hat, die im Blick behalten werden müssen, wenn denn Pflicht von gnadenlosem Zwang unterscheidbar bleiben soll.

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5. Grenzen der Pflichten gegen sich selbst

Pflichten gegen sich selbst dienen dem Leben. Dies können sie nur tun, weil und insofern sie Grenzen kennen. Menschen vor Gott dürfen glauben, dass an den Grenzen, an die sie in ihrem Streben nach einem guten Leben stoßen, nicht das letzte Wort über ihr Streben und dessen Unzulänglichkeiten gesagt ist. Im Glauben können Menschen – vielleicht – annehmen, dass ihnen Dinge widerfahren, die ihnen alle Gedanken, die sie sich über sich und ihren Ort in der Welt gemacht haben, aus der Hand reißen. Theologisch über Pflichten gegen sich selbst zu sprechen bedeutet auf der einen Seite, auch dort noch weiterzusprechen, wo alles, was Menschen sich selbst zu sagen vermögen, gesagt ist. Es bedeutet auf der anderen Seite aber auch, dort das Schweigen aushalten zu können, wo alle Sinnbildung abprallt. Was Menschen sich schulden, können sie nur ergründen, indem sie ihre zeitliche Existenz befragen. Daher kann zum Ende dieses Buches auch keine Liste der einzelnen Pflichten des Menschen gegen sich selbst stehen. Angeboten wurde im Vorliegenden eine Verfahrensregel, die beschreibt, wie zu ermitteln ist, was jemand sich jeweils selbst schuldet und was nicht. Was sich allerdings festhalten lässt, sind Metapflichten, die der Mensch gegen sich selbst hat. Denn wenn wir nur durch Betrachtung unserer je eigenen geschichtlichen Existenz ergründen können, was wir uns jeweils schulden, dann schulden wir uns, unsere Geschichte mit einer Einstellung der Wahrhaftigkeit zu betrachten. Und wenn wir Pflichten gegenüber uns selbst, gegenüber unserem zukünftigen Selbst haben, dann schulden wir uns, uns selbst im Horizont von Möglichkeiten ernst zu nehmen, über deren Verwirklichung wir letztlich nicht verfügen. Dies ist der Punkt, an dem das ethische Nachdenken theologisch werden kann. Der Mensch kann die Vergangenheit nicht ändern und alles Projizieren und Projektieren in die Zukunft ist ungewiss. Auch aus der Perspektive des Glaubens sind Unabänderlichkeit und Unge100

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Heiligkeit als Limesgestalt

wissheit nicht aufgehoben. Aber der Glaube kann etwas daran ändern, wie der Mensch auf seine geschichtliche Existenz blickt. Das versuche ich zu zeigen zunächst mit Bezug auf den Blick nach vorn und anschließend mit Bezug auf den Blick zurück. In beiden Schritten geht es darum, dass Gott anders auf die Intentionen des Menschen blickt, als der Mensch selbst es zu tun vermöchte.

5.1 Heiligkeit als Limesgestalt Ein letztes Mal gehen wir einige Schritte mit Kant gemeinsam. Kant unterscheidet zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten. Die vollkommenen Pflichten bei Kant sind sehr konkrete Unterlassungen. Zu den Pflichten gegen sich selbst zählt die Pflicht, eine »reine Gesinnung« zu bilden. »›Seid heilig‹« lautet das Gebot, so Kant. 1 Nun weiß Kant allzu gut: Wir kommen nie an, wir werden nie vollkommen. Diese moralpragmatische Dimension der Ethik Kants wird oftmals zu der letzteren Schaden übersehen. Dass ethische Prinzipien, deren Existenz Kant auch in den empirischen Schichten seiner Ethik nie bestreitet, im wirklichen Leben vermittelt werden müssen, spielt in Kants Schriften, vor allem im unveröffentlichten Teil seines Nachlasses eine weitaus größere Rolle, als manche Spitzensätze in seinen publizierten Werken vermuten lassen. 2 Das Wissen um die Fehlbarkeit des Menschen ist so tief in Kants Ethik eingelassen, dass er sagen kann: Der Mensch ist heilig genau insofern, als er sich in einem unabschließbaren Streben nach Heiligkeit befindet, also gerade insofern der Mensch sich müht, obwohl er weiß, dass er das Ziel nicht erreichen wird. »Heiligkeit« im realen ethischen Leben besteht im Streben nach idealer, i. e. uneingeschränkter »Heiligkeit«, womit Kant hier eine durch nichts kompromittierte Tugendhaftigkeit meint. Heilig ist der Mensch also, weil er sich bemüht, nicht weil er schon da ist. »[…] Der Mensch mit seinen Mängeln // Ist besser als ein Heer von willenlosen Engeln […]« 3, so zitiert Kant zustimmend Albrecht von Haller. Der Mensch stehe auf einer Kant, Metaphysik der Sitten, VI 446. Vgl. Louden, Kant’s Impure Ethics, v. a. 132, 170 f., 174. 3 Kant, Metaphysik der Sitten, VI 397 [Anm. *]; Haller, Versuch schweizerischer Gedichte, 173 (bei Haller allerdings ist Subjekt »die Welt«, nicht »der Mensch« wie in Kants Wiedergabe an der genannten Stelle. Originalgetreu zitiert wird der Vers in Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, VI 65, Anm. 1). 1 2

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höheren Stufenleiter der Wesen als die Himmelsbewohner, die als heilige Wesen »über alle mögliche Verleitung weggesetzt sind.« 4 Kant sieht den Menschen in dessen Endlichkeit und Angewiesenheit, er zeichnet den Menschen nicht als Freiheitsmaschine, die engelsgleich immer nur das Gute wollte. 5 Nun gibt Kant diesen seinen skeptischen Überlegungen eine verheißungsvolle Wendung, indem er das Streben nach unerreichbarer Heiligkeit als einen unendlichen individuellen Fortschritt denkt: »Die völlige Angemessenheit des Willens aber zum moralischen Gesetze ist Heiligkeit, eine Vollkommenheit, deren kein vernünftiges Wesen der Sinnenwelt, in keinem Zeitpunkt seines Daseins, fähig ist. Da sie indessen gleichwohl als praktisch notwendig gefordert wird, so kann sie nun in einem ins Unendliche gehenden Progressus zu jener vollkommenen Angemessenheit angetroffen werden […].« 6 Dieses praktische Postulat bringt Kant in seiner Religionsschrift assertorisch zur Geltung. Gott, so heißt es hier, denkt das Bemühen des Menschen ins Unendliche weiter, so dass Gott den Menschen am Ziel angelangt sieht. Sich auf einem Weg des beständigen Fortschreitens zum Besseren zu befinden, ist für Gott, der den Grund des Herzens durchschaut und für den »die Unendlichkeit des Fortschritts Einheit ist«, gleichbedeutend damit, dass ein Mensch tatsächlich bereits ein guter Mensch geworden ist. 7 Gott schaut gnädig auf die Intentionen des Menschen, indem er sie erweitert, gleichsam ihre zeitliche Reichweite verlängert (wobei Kant selbst einräumt, dass durch diese Beschreibung die Bemühungen des Menschen negativ formuliert zu einer unendlichen Reihe von Übeln werden). 8 Der ins Unendliche erweiterte Blick nach vorn, den Kant imaginiert, wirft ein gnädiges Licht auf die notorisch unvollständigen Bemühungen des Menschen, da Gott den Menschen Kants Beschreibung nach an einem Ziel angelangt sieht, das der Mensch aus eigener Kraft nicht erreichen wird, so ernsthaft er es auch anstreben mag. Überraschenderweise weist Kant jede Rhetorik der (moralischen) Selbstvervollkommnung in ihre Schranken. Heiligkeit ist eine Limesgestalt, die dem Menschen bedeutet, gegen welche Grenze er anrennt und in unendlicher Annäherung und fortKant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, VI 65, Anm. 1. Vgl. Esser, Eine Ethik für Endliche, 176. 6 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, V 122. 7 Ders., Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, VI 48. 8 Ders., Das Ende aller Dinge, VIII 335. Dazu: Khurana, Das Leben der Freiheit, 260 f., Anm. 115. 4 5

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Vorsehungsglaube und Andersseinkönnen

während anzurennen hat, ohne sie aus eigener Kraft überwinden zu können. 9

5.2 Vorsehungsglaube und Andersseinkönnen Wir schulden uns, so legen die Überlegungen Kants zur Unerreichbarkeit der Heiligkeit nahe, einen Weg der Selbstvervollkommnung zu beschreiten im Wissen darum, dass wir uns dem Ziel dieses Weges bestenfalls annähern, dieses jedoch nie erreichen können. Sehen wir uns nun, um eine theologische Perspektive auf die Pflichten des Menschen gegen sich als Pflichten gegenüber seinem zukünftigen Selbst weiter zu profilieren, eine prominente Passage aus den Tischreden an, in der Luther auf eine wichtige Episode seines Lebens zurückschaut. Mit dem großen Abstand von genau 34 Jahren blickt Luther zurück auf jenes berühmte Ereignis zu Stotternheim, da er in ein Gewitter geraten war. »Heute jährt sich der Tag, da ich in das Kloster zu Erfurt gezogen bin. – Und er fing an, die Geschichte zu erzählen […], dass er in Furcht gesagt hatte: Hilf du, heilige Anna, ich will ein Mönch werden! Aber Gott verstand damals meine Bitte auf Hebräisch: Anna, das heißt, unter der Gnade, nicht gemäß dem Gesetz.« 10 Gott sieht Luther dieser Darstellung nach nicht völlig anders, als Luther tatsächlich in Erscheinung tritt. Im Gegenteil, Gott nimmt Luther bei dessen Wort, indem er Luthers Worte in der Sprache seines Volkes Israel hört, und versteht Luther somit besser als dieser sich selbst versteht. Bei Kant haben wir den Gedanken einer zeitlichen Ausdehnung der Reichweite der Intentionen des Menschen angetroffen. Diesen Gedanken kann man durchaus tröstlich finden, während die Rechtfertigung des Menschen aus Gnade Kant letztlich fremd bleibt. Der Trost, den die Rechtfertigungsbotschaft verkündet, ist in Kants Augen unnötig, weil die Hoffnung auf die besagte unendliche Verlängerung der menschlichen Bemühungen in den Augen Gottes Grund für die Hoffnung ist, die Fehler des Menschen würden aufgehoben. 11 Die Botschaft der Rechtfertigung aus Glauben bringt demgegenüber Kants Auffassung nach keinen Mehrwert, vielmehr Vgl. Schmidt, »Das moralische Gesetz ist heilig (unverletzlich)«, v. a. 656–658, 663 f. 10 Martin Luther, WATr 4; 440,9 f (16. 7. 1539). 11 Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, VI 77 f. 9

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ist sie schädlich, weil sie den Druck auf den Menschen mindert, jene ursprüngliche »Herzensänderung« zu vollziehen, i. e. jenen Akt, in dem der Mensch die Heiligkeit (als Ziel) in seine Maximen aufnimmt, um sich ihr dann in einem unendlichen Fortschritt zu nähern. 12 Und an dieser erforderlichen Revolution in der Gesinnung des Menschen hängt alles. Demgegenüber erscheint Gottes Vor-sehen in Luthers Rückblick auf das Gewitterereignis als Re-vision, oder besser Reaudition der »Selbstvollzüge« des Menschen. Die Intentionen Luthers – oder sagen wir auf die Gefahr hin, zu generalisieren: die Intentionen des Menschen werden nicht in die Zukunft verlängert, was allein durchaus wünschenswert wäre, sondern in ihrer Wurzel verwandelt, indem Gott dem Menschen in dessen Sich-Mühen nicht nur ›von oben‹ zusieht, sondern den Menschen anders hört, ihm etwas anderes an-hört, als dieser selbst zu hören vermöchte, so dass die Intentionen des Menschen in spe bereits ihrer Art nach verwandelt sind, auch wenn sie in re allenfalls zaghaft oder auch überhaupt noch gar nicht begonnen haben, sich zu verändern. Der Mensch ist gleichzeitig bei sich, wie er faktisch ist, und außer sich, dort, wo Gott ihn sieht, und zwischen dem Bei-sich und dem Außersich verläuft nicht wie bei Kant eine unendliche zeitliche Gerade. Vorsehung entfaltet sich im Handeln Gottes am Menschen in dessen Geschichte, indem Gott in Menschen sieht und hört, wie diese gemeint sind und was sie mit ihrem Streben eigentlich meinen, ohne das bereits zu wissen, geschweige denn, dass sie bereits da wären. Wenn Lebenswege unerwartet schlüssig werden, wenn sich Unverfügbares in einer unvorhersehbaren Weise fügt, das augenscheinlich chaotisch-Zufällige sich als überaus zweckmäßig darstellt, dann kann so etwas aufscheinen wie eine Ahnung davon, dass das so gemeint war, dass der Mensch mit dem, was ihm da widerfährt, gemeint war. 13 Die eigene Geschichte im Lichte aufscheinenden Gemeintseins, im Lichte des Fürsehens und der Sorge Gottes zu sehen zu bekommen, eröffnet nicht einen Blick auf eine andere Geschichte als die eigene, sondern einen anderen Blick auf die eigene Geschichte. Die Andersartigkeit des im Glauben geahnten Blickes Gottes auf die eigene Geschichte kann dabei keine totale Andersartigkeit sein, denn dies würde alles, was dem Menschen als kostbar und gut erschien, letztlich Ebd., VI 46 f. Vgl. Fischer, Zufall oder Fügung?, v. a. 9–19; Link, Schöpfung, 88; White, Purpose and Providence, 1.

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völlig entwerten. Eberhard Jüngel beschreibt die Erlösung des gelebten Lebens durch Gott als einen Vorgang, in dem endliches Leben als Endliches verewigt wird. 14 Die Andersartigkeit des im Glauben geahnten Blickes Gottes auf die eigene Geschichte sieht also das Leben des Menschen anders, aber sieht nicht ein anderes Leben als genau das, das der Mensch gelebt hat. Die im Glauben aufscheinende Gewissheit, in dem, was sich in der eigenen Geschichte zugetragen hat, gemeint, gehört und gesehen worden zu sein, eröffnet einen anderen Blick auf das, was war, und damit auch eine andere Perspektive auf das, was noch sein könnte. Mit »Vorsehung« ist in diesem Zusammenhang ein Implikat von Glaubenserfahrungen gemeint, die sich an bestimmten Ausschnitten der Lebenswirklichkeit entzünden, und nicht eine spekulative Aussage über den Weltlauf insgesamt. 15 Daher ist der dem Vorsehungsglauben angemessene Präsentationsmodus auch die Erzählung und nicht der definitorische Satz. 16 Vorsehungsglaube ist Ermöglichung religiöser Erfahrung des Gemeintseins und keine schematische Welt- und Selbsterklärung; er schreibt nicht vor, dass und wie das je eigene Leben als gemeint, als Adressat einer Fügung zu erfahren ist. 17 Was bedeutet dies nun für die Frage nach Pflichten gegen sich selbst? Es gibt keine Pflicht, an die Vorsehung zu glauben, und es gibt keine konkreten Pflichten gegen sich selbst, die aus dem Glauben an die Vorsehung Gottes abzuleiten wären. Der Glaube an göttliche Vorsehung wirkt jedoch in das Nachdenken über die Frage, was Menschen sich jeweils schulden, hinein, und zwar in doppelter Weise: Der Glaube an die Vorsehung befreit davon, auf eine bestimmte Deu-

Vgl. Jüngel, Tod, 152. Vgl. zu letzterem Link, Schöpfung und Vorsehung, 333; Barth, Die Kirchliche Dogmatik III.3, 66: »Zu einer stabilen Ansicht oder Anschauung, zu prinzipiellen Aufstellungen darüber, in was Gottes Handeln im Kreaturbereich besteht und nicht besteht, zu permanenten Behauptungen darüber, inwiefern das Kreaturgeschehen Gottes Diener, Werkzeug, Schauplatz, Spiegel und Zeichen ist, wird sich diese Sicht nur schon darum nicht verfestigen können, weil die Freiheit des Glaubens, in der sie allein möglich ist, dem Menschen als Gnadengabe des Heiligen Geistes immer neu geschenkt werden muß und, wenn sie ihm neu geschenkt wird, auch immer eine neue Freiheit sein wird.« 16 Vgl. Fergusson, The Providence of God, 298. 17 Vgl. Ratschow, Das Heilshandeln und das Welthandeln Gottes, 57, 80; Laube, Freiheitsgewinn, 198 f. 14 15

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tung der eigenen Geschichte festgelegt zu sein, und eröffnet die Möglichkeit, sich die eigene Geschichte als radikal anders angesehen vor Augen führen zu lassen. Und der Glaube an die Vorsehung ermutigt dazu, sich mit Blick auf eine jeweilige Gegenwart vorzustellen, dass sie aus der Zukunft betrachtet in einem fundamental anderen Licht erscheinen wird. Der Zuspruch eröffnet eine Distanz gegenüber der scheinbaren Alternativlosigkeit des Gegebenen. 18 Dass Gott die Schattenseiten der Schöpfung, das in der Welt der Vollendung Harrende sieht, auch und gerade wenn der Gedanke einer Vollendung den Rahmen aller Vorstellungskraft sprengt, ist der primäre Sinn des Wortes Vorsehung. 19 Diese Distanz zu eigenen Selbstdeutungen und Festschreibungen kann gleichzeitig Räume für das Handeln eröffnen und diesen Räumen verbindliche Konturen verleihen. Insofern ist die Pointe des Glaubens an die Vorsehung im Unterschied zur Rede von der Behauptung einer Prädestination aller Ereignisse in der Welt gerade nicht die Tilgung der Freiheit, sondern die Eröffnung von Freiheitsräumen im Zusammenhang der Reflexion auf die eigene geschichtliche Existenz. 20 Mehrfach war im Vorgetragenen die Frage aufgeworfen worden, ob die Treue zu sich selbst ein (zentrales) Moment dessen sein könnte, was Menschen sich schulden. Luther verpflichtete sich gegenüber der Heiligen Anna – streng genommen ist dies aus Luthers Perspektive eine Verabredung mit einer anderen ›Person‹, aber es ist doch auch eine Verabredung, mit der er sich selbst bindet. Er bleibt sich letztlich nicht in dem Sinne treu, in dem er selbst diese Verabredung ursprünglich gemeint hatte, wohl aber bleibt er dieser Verabredung treu im Lichte dessen, was Gott für seinen Weg vorgesehen hatte. Er nimmt im Rückblick ernst, was er gewesen ist, ohne sich darauf festlegen zu müssen, weil er seine Geschichte von Gott anders schreiben lässt, als sie sich aus der erstpersonalen Perspektive darstellt. Ernsthaftigkeit sich selbst gegenüber in der Betrachtung der eigenen geschichtlichen Existenz kann, dies haben vor allem die Ausführungen zu Wahrhaftigkeit und Lüge gezeigt, als eine zentrale Metapflicht des Menschen sich selbst gegenüber bezeichnet werden. Vgl. Laube, Freiheitsgewinn, 215. Vgl. Dietrich/Link, Die dunklen Seiten Gottes, Bd. 2: Allmacht und Ohnmacht, 260. 20 Vgl. Scheliha, Der Glaube an die göttliche Vorsehung, v. a. 341; Laube, Freiheitsgewinn, 206 f. 18 19

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Vorsehungsglaube und Andersseinkönnen

Der Beitrag, den der religiöse Glaube leisten kann, besteht gerade nicht allein in einer Amplifikation des Ernstes, sondern in einer produktiven Brechung dieser Ernsthaftigkeit. 21 Diese produktive Brechung führt nicht zu einer Auflösung, sondern zu einer Weitung der gedanklichen Räume, innerhalb derer Pflichten gegen sich selbst zu benennen sind. Diese Brechung der Ernsthaftigkeit wiederum kann gleichzeitig der letzteren Ermöglichung sein, nämlich dann, wenn Zweifel an den eigenen Wahrnehmungen und Entscheidungen einen Menschen zu erdrücken drohen. Die Pflicht, so zu handeln, dass ein späteres Selbst dem Handeln wird zustimmen können, erfährt eine heilsame Grenze in der Gewissheit, dass der eigene Rückblick auf die eigenen Worte und Taten nicht das letzte Wort behält. Insofern spielt der Glaube an die Vorsehung in das Nachdenken über das, was der Mensch sich schuldet, hinein. Dies aber nicht im Sinne einer Begründung oder Amplifikation dessen, was wir uns schulden, sondern im Sinne der Eröffnung von Perspektiven auf die eigene Geschichte und die eigene mögliche Zukunft, die über das hinausgeht, was Menschen sich selbst mit Blick auf die Zukunft versprechen können. Martin Luther war der Überzeugung, dass wir uns während unseres Lebens Bilder vor Augen zu halten haben, die uns mahnen, dass wir uns jedoch im Sterben Bilder vor Augen zu halten haben, die uns trösten, wobei beides durchaus zusammenhängt: Es gilt, so zu leben, dass einmal gestorben werden kann. 22 Das letzte zukünftige Selbst, das zurückschauen wird, ist das Selbst im Angesicht des Todes. Pflichten gegen sich selbst sind letztlich immer Pflichten gegen dieses letzte Selbst, das der Frage standhalten muss, ob »richtig« gelebt wurde. 23 Das letzte Selbst hat die Pflicht, sich Bilder vor Augen zu halten und Worte in Erinnerung zu rufen, die ihm beistehen können im Versuch, dem gelebten Leben zuzustimmen.

Vgl. zur Dialektik von Ernst und Ironie Theunissen, Der Begriff Ernst bei Søren Kierkegaard, 66–83. 22 Luther, Ein Sermon von der Bereitung zum Sterben (1519), 55, 73 (WA 2, 688 f., 697). 23 Vgl. Borasio, Selbstbestimmt sterben, 128; Fuchs, Versöhnung mit dem Ungelebten, v. a. 90 f. 21

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Grenzen der Pflichten gegen sich selbst

5.3 Letzte Freiheit? Suizid und Pflichten gegen sich selbst Pflichten haben wir gegenüber unserem zukünftigen Selbst. Das zukünftige Selbst verpflichtet das je aktuale Selbst, insofern zu erwarten steht, dass das zukünftige Selbst auf das je aktuale Selbst zurückschauen und dieses für dasjenige zur Verantwortung ziehen wird, was das aktual gewesene Selbst zugunsten oder zuungunsten des späteren Selbst getan oder unterlassen haben wird. Träfen wir nicht auf diese Differenz im Selbst, wären Pflichten gegen sich selbst nicht zu denken. Nur wenn es ein Gegenüber gibt, hatten wir mehrfach festgehalten, sind Pflichten überhaupt denkbar; nur wenn es ein Gegenüber im Selbstverhältnis gibt, sind Pflichten gegen sich selbst denkbar. Pflichten gegen sich selbst implizieren nicht notwendigerweise eine Gegnerschaft im Menschen. Und doch wird die Gegnerschaft im Menschen, z. B. der Groll des Menschen gegen sich selbst, zu den Phänomenen gezählt, die darauf hindeuten, dass es Pflichten des Menschen gegen sich selbst geben könnte, denn der Groll des Menschen gegen sich selbst zeigt an, dass jemand an sich selbst schuldig geworden ist, was wiederum voraussetzt, dass wir uns selbst gegenüber Pflichten haben, deren Verletzung wir uns schuldig machen können. 24 Dieses Gegenüber im Selbstverhältnis ist gleichzeitig Bedingung der Möglichkeit der Pflichten gegen sich selbst und Bedingung der Möglichkeit radikaler Selbstentzweiung. In seiner extremsten Form kommt es im Suizidwunsch zur Geltung. 25 Pflichten gegen sich selbst gibt es überhaupt nur, weil der Mensch sich gegenübertreten kann, was zumindest formal gesehen die Möglichkeit eröffnet, dass ein Mensch sich als Gegner seiner selbst gegenübertritt, und dies ist gleichzeitig die Bedingung der Möglichkeit des Suizids. Kierkegaards Analyse der Verzweiflung in seiner Krankheit zum Tode besteht in der Exposition genau dieser Gleichursprünglichkeit der für das Subjektsein insgesamt konstitutiven Möglichkeit reflexiver Selbstdistanz und abgrundtiefer Selbstentzweiung. 26 Pflichten gegen sich selbst haben ihren Kern darin, dass ein aktuales Selbst sich in der Imagination seines zukünftigen Selbst gegenübertritt und durch dieses in die Pflicht genommen sieht. Pflichten Vgl. Schofield, Duty to Self, 91. Vgl. Macho, Das Leben nehmen, 203, mit Verweis auf Kants Termini homo noumenon und homo phaenomenon. 26 Vgl. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode. 24 25

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Letzte Freiheit? Suizid und Pflichten gegen sich selbst

gegen sich selbst gibt es nur, weil es Zukunft gibt, die im Bewusstsein als Vorstellung repräsentiert ist. Hieraus folgt jedoch keineswegs, dass der Mensch sich selbst schuldet, weiterzuleben, damit er sich selbst in dieser Weise ein Gegenüber sein kann. Gegen unser in der Imagination vorweggenommenes späteres Selbst haben wir Pflichten. Es ergibt jedoch keinen Sinn, eine Pflicht geltend machen zu wollen, die darin bestehen würde, dass die Weiterexistenz des Selbst im späteren Selbst überhaupt sichergestellt werden müsse. Denn es ist wenig sinnvoll anzunehmen, dass wir die Bedingungen zu erhalten hätten, unter denen wir Pflichten gegenüber uns selbst haben können. Hätten wir eine solche Pflicht, dann würde dies bedeuten, dass wir in der Pflicht stünden, Pflichten gegen uns selbst zu haben bzw. haben zu können. Dies jedoch wäre zirkulär oder jedenfalls begründungsbedürftig, denn es wäre dann unklar, was der Ursprung dieser Pflicht dazu, Pflichten gegen sich selbst zu haben, sein soll. 27 Der Grund einer Pflicht zur Pflicht gegen sich selbst kann nicht seinerseits in einer Pflicht gegen sich selbst liegen, deren Ursprung ungeklärt bleibt. Aus der Tatsache, dass der Mensch Pflichten gegen sein zukünftiges Selbst hat, folgt also nicht, dass er in der Pflicht stünde, sein zukünftiges Selbst zu erhalten. 28 Zwar könnte man behaupten wollen, der Mensch sei verpflichtet, sein Leben zu erhalten, weil er niemals das Recht habe, sein Handeln gegen Freiheit zu richten, was seine eigene Freiheit einschließe. 29 Nun steht hier aber die Freiheit zu einer bestimmten Handlung, dem Suizid, der Freiheit als abstraktem Raum der Möglichkeiten eines zukünftigen Selbst gegenüber, und es leuchtet zumindest nicht intuitiv ein, warum der letztere sich aus der Freiheit ableitende Anspruch über den ersteren zu stellen sein sollte. Dies legt zumindest die Vermutung nahe, dass sich eine Pflicht zur Erhaltung des eigenen Lebens nicht aus den Pflichten des MenZur Paradoxie, zur Selbsterhaltung aufgrund der Pflicht zur Selbsterhaltung verpflichtet zu sein, vgl. Wittwer, Über Kants Verbot der Selbsttötung, 203; vgl. ferner Esser, Eine Ethik für Endliche, 334, zur Kritik der Vorstellung, zur Pflicht verpflichtet zu werden. 28 Es ist also grundsätzlich nachvollziehbar, dass das Bundesverfassungsgericht die Behauptung, dass »sich der Suizident seiner Würde begibt, weil er mit seinem Leben zugleich die Voraussetzung seiner Selbstbestimmung und damit seine Subjektstellung aufgibt«, mit der Feststellung zurückweist, dass die Würde Grund und nicht Grenze der Selbstbestimmung des Menschen ist. Vgl. BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020, Rdn. 211. 29 Vgl. Battin, Ethical Issues in Suicide, 190. 27

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schen gegen sich selbst ableiten lässt. 30 Ob der Mensch gegenüber Gott, gegenüber anderen Menschen, der Heiligkeit und Unverfügbarkeit des Lebens, der Gabe der Welt als eines Raumes möglicher Erfahrung, einer als Mitgift verstandenen Menschenwürde, dem Naturrecht oder irgendeiner anderen extrinsischen oder gleichzeitig extrinsischen und intrinsischen normativen Instanz in der Pflicht steht, sein Leben zu erhalten, muss hier nicht erörtert werden. David Velleman beklagt in seiner Auseinandersetzung mit der Diskussion der Frage nach der ethischen Bewertung assistierten Suizids, dass er in dieser Diskussion ein Gewahrsein für einen Wert vermisse, der in uns liege und uns in Anspruch nehme. 31 Aber auch hier gilt: Wenn der von Selbstinteressen unabhängige Wert (self-interest independent value), von dem Velleman spricht, ›in uns‹ ist und ›einen Anspruch an uns stellt‹ (makes a claim on us), dann haben wir Pflichten gegenüber diesem Wert. Aber eine Pflicht gegenüber einem Wert zu haben ist etwas anderes, als Pflichten gegen sich selbst zu haben. 32 Sich selbst als einem Träger einer inhärenten, universalen Menschenwürde gegenüber in der Pflicht zu stehen, das eigene Leben zu erhalten, ist etwas anderes, als sich selbst gegenüber in einer Pflicht zu stehen. Vellemans Überlegungen betreffen insofern nicht die hier im Mittelpunkt stehende Frage, ob jemand sich selbst schuldet, sein Leben zu erhalten. Die Beantwortung dieser Frage, ob jemand sich selbst schuldet, das eigene Leben zu erhalten, hängt davon ab, wie jemand sich erlebt, wie jemand sich erzählt, wie jemand sich in die Zukunft zu entwerfen oder gerade nicht zu entwerfen vermag. Urteile aus dritter Hand müssen zumindest mit Blick auf die Frage, ob jemand sich selbst schuldet, das eigene Leben zu erhalten, zurückgestellt werden. Zumal das konkrete Erleben und die Außenperspek-

Vgl. z. B. Gutmann, Der eigene Tod – Die Selbstbestimmung des Patienten und der Schutz des Lebens in ethischer und rechtlicher Dimension, 173; Critchley, Notes on Suicide, 41. 31 Velleman, Ein Recht auf Selbsttötung?, 211 (engl. A Right of Self-Termination?, 612). 32 Velleman behauptet zwar, auch interessen-relative Werte (interest-relative values) könnten nur dann moralische Geltungskraft beanspruchen, wenn ein interessenunabhängiger Wert (interest-independent value) der Person bereits vorausgesetzt würde (ebd., dt. 215/engl. 615). Bei Kant, auf den Velleman sich beruft, gründet der von Interessen unabhängige Wert der Person in ihrer Selbstzweckhaftigkeit. Aber aus dieser folgt eben kein totales moralisches Verbot des Suizids (s. o. Kap. 2). 30

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tive auf das Erleben mit Blick auf einen Suizidwunsch in eine unausgleichbare Spannung geraten können. 33 Es gibt Pflichten gegen sich selbst nur, weil es Zeit gibt, und unsere Pflichten gegen uns selbst binden uns nur innerhalb der Grenzen je unserer Zeit. Der Suizid zerreißt die Zeit und zerreißt somit den normativen Rahmen, innerhalb dessen Handlungen beurteilt werden können: »Die Handlung, die das Danach abschneidet, ist ohne RückSicht. Der Selbstmörder hat mit dem Tod anderes als die Zukunft vor Augen. Mit dem Augen-Blick des Todes steht er quer zur Zeit des Lebens. Das Jetzt, das kein Einst mehr hat, kann keine Rücksicht mehr nehmen. Das Einst, früheres oder späteres, ist im Jetzt zusammengefallen. Der Tod hat den Horizont des Lebens zerrissen, ihn zusammenfallen lassen und damit jede Perspektive weggenommen und jede Rücksicht auf anderes aufgehoben.« 34 Der Suizid eröffnet eine Perspektive ohne jenes Danach, welches wir in allen anderen Handlungszusammenhängen imaginieren, wenn wir entscheiden, wie wir handeln. 35 Weyer-Menkhoffs Votum mag etwas überspitzt wirken, denn es ist ja durchaus möglich, sich gegenüber anderen Menschen auch über die Dauer des eigenen Lebens hinaus verpflichtet zu sehen, jedenfalls was Handlungen angeht, die Auswirkungen auf jene anderen Menschen haben, und es versteht sich nicht von selbst, dass die Perspektive dessen, der sich mit dem Gedanken trägt, das eigene Leben zu beenden, die eigene Zeitlichkeit total negiert. Aber was die Pflichten gegen sich selbst angeht, ist Weyer-Menkhoff zuzustimmen: Für einen Menschen, der sich – so furchtbar das auch ist – insgesamt nichts mehr wünscht, als das eigene Leben zu beenden, kann ein in der Imagination vorweggenommenes Selbst kaum eine bindende Wirkung entfalten. Und unserem vergangenen Selbst gegenüber haben wir keine unbedingten, d. h. bestimmte Handlungen kategorisch ge- oder verbietenden Pflichten. Insofern fällt der Suizid letztlich aus dem Raum dessen heraus, was wir sonst als moralisch evaluierbare Handlung kennen, jedenfalls mit Blick auf das Subjekt der Handlung in seinem moralischen Verhältnis zu sich selbst. Es gibt – jedenfalls innerhalb des Rahmens der Logik der Pflichten gegen sich Vgl. Fischer, Warum überhaupt ist Suizid ein ethisches Problem?, 306; Haig, Ziemlich gute Gründe, am Leben zu bleiben, 25; Lester, The »I« of the Storm, 155. 34 Weyer-Menkhoff, Vom verlorenen Sohn, 35; ähnlich plädiert die Figur Richard Gärtner in Schirach, GOTT, 109 f. 35 Vgl. Roth/Weyer-Menkhoff, Selbstmord und Sünde: der religiöse Hintergrund, 111 f. 33

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selbst – keinen Grund zu behaupten, dass wir die Grenzen unserer Zeit, innerhalb derer uns Pflichten gegen uns selbst treffen, unter keinen Umständen selbst setzen dürften. Pflichten, so hatten wir gesagt, geben Halt. Innerhalb unserer Zeit schulden wir uns, so zu leben, dass ein späteres Selbst rückblickend dem zustimmen kann, wie es entschieden und gelebt hat. Der Maßstab für diese Zustimmung ist die Frage, ob der Mensch seine Freiheit in einer Weise ergriffen hat, der er nun zustimmen kann. Pflichten gegen sich selbst können, etwa mit Blick auf die Haltung, ein wirksames Antidot gegen schwere Krisen sein. Haltung wird im Vorliegenden nicht als Sich-Zusammenreißen verstanden und nicht als Strammstehen, sondern als Bedingung der Möglichkeit, dass ein Mensch sich von den Blicken anderer halten lässt. Haltung ist gerade keine konzentrische Bewegung. Die Pflicht zum Wahren der Haltung gemahnt den Menschen nicht, seine äußersten Ressourcen zu mobilisieren, sondern sich für die Blicke der anderen zu öffnen. Die Blicke der anderen haben ihre ethische Valenz darin, dass sie dienen, nicht darin, dass sie nötigen, so wie die Pflicht als etwas zu verstehen ist, das dem Leben dient, anstatt zu nötigen. An der Grenze von Leben und Tod, an der Vorstellung des Beendetseins einer Lebenszeit verstummen die Pflichten gegen sich selbst. Wer sich das Leben nimmt, so Jean Améry, bricht aus der Logik des Lebens, lässt die Frage, was dem Leben dient, hinter sich. 36 Aus der Logik des Lebens auszubrechen bedeutet auch, aus der Logik moralischer Bewertung, jedenfalls mit Blick auf das Verhältnis der Person zu sich selbst, auszubrechen. Insofern steht der Suizid, zumindest mit Blick auf die Frage nach Pflichten gegen sich selbst, außerhalb moralischer Bewertung. Der Mensch schuldet sich, die Gründe, die er selbst und andere für das Weiterleben vorbringen (könnten), mit jener Ernsthaftigkeit zu prüfen, von der grundsätzlich, wenn auch nicht mit derselben dramatischen Tragweite, jede Frage nach dem, was jemand sich schuldet, getragen sein muss. Dies ist keine rechtliche, sondern eine moralische Pflicht, und zwar eine solche, die das Recht nicht abbilden kann, ohne paternalistisch zu werden. Liest man vor diesem Hintergrund die Begründung des Urteils zum Verbot des geschäftsmäßigen assistierten Suizids durch das Bundesverfassungsgericht, dann wird man diese Leitsätze zwar vielleicht verkürzt und einseitig finden, weil sie Frei-

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Vgl. Améry, Hand an sich legen, 24.

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heit einseitig als negative Freiheit denken, so als stünde Freiheit nicht immer in einem dialektischen Verhältnis mit Verbindlichkeit. 37 Aber grundsätzlich abzulehnen sind diese Leitsätze im Lichte der hier angestellten Überlegungen nicht, jedenfalls nicht mit Blick auf das, was hier mit Bezug auf die Pflichten des Menschen gegen sich selbst zu sagen war. Der Mensch kann sich nicht schulden, im Zuge der ernsthaftesten Prüfung möglicher Gründe zu leben zu einem bestimmten Ergebnis zu gelangen. Der sterbewillige Mensch schuldet sich, mit äußerster Ernsthaftigkeit die Möglichkeit zu prüfen, ob sein Wunsch zu sterben einem Blick auf das eigene Leben geschuldet ist, der sich in Zukunft noch ändern (lassen) könnte, auch und gerade kraft der Blicke der anderen. Aber der sterbewillige Mensch schuldet nichts und niemandem das Eingeständnis, dass sein Wunsch, das Leben zu beenden, zwangsläufig auf einem Irrtum gründen muss. 38 Auch die Behauptung, dass eine Person niemals die autonome Entscheidung treffen könne, ihr Leben beenden zu wollen, dass also ein Suizidwunsch immer ein Symptom für Nicht-Autonomie sei, scheint kurzschlüssig. 39 Wer eine Pflicht zu leben als ausnahmslos geltende Pflicht gegen sich selbst geltend machen will, muss dies in einer Art und Weise tun, die von möglichen subjektiven Gründen zu leben unabhängig ist bzw. diese Gründe im Vorhinein auf falsche Überzeugungen zurückführt. Wenn die Besinnung auf Gründe zum Leben nicht in Freiheit und ergebnisoffen erfolgt, kann sie auch keine belastbaren Ergebnisse zeitigen, und dies bedeutet in letzter Konsequenz, dass die behauptete Pflicht zu leben jeder Entscheidung gegen, aber eben auch jeder Entscheidung für das Leben immer bereits vorausgehen würde. Nichts von dem zuletzt Gesagten ist ein ›Plädoyer für den Freitod‹. Die Beobachtungen Jean Amérys anzuhören, bedeutet nicht, seinen Urteilen uneingeschränkt zu folgen oder gar aus seinen Argumenten ein Grundrecht auf Suizid abzuleiten. Wenn man überhaupt die Auffassung teilen sollte, dass der Suizid eine Freiheitsmöglichkeit des Menschen ist, dann folgt doch daraus keineswegs, dass dies nicht eine Freiheit ist, die ein Mensch wenn irgend möglich nicht ergreifen Vgl. Vgl. BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020, Leitsätze; Dabrock/Huber, Huber und Dabrock gegen assistierten Suizid. 38 Vgl. Giger-Bütler, Wenn Menschen sterben wollen, 33, 39. 39 Vgl. Moser, Unveräußerliche Rechte, 183–185. 37

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sollte. 40 Umgekehrt aber bietet jedenfalls die hier vorgestellte Theorie der Pflichten gegen sich selbst auch keinen Grund, den Suizid mit einem moralischen Verbot zu belegen. Wenn das zu schützende geschichtliche Leben der Freiheit als ein Leben von Möglichkeiten zu verstehen ist, das die Pflichten gegen sich selbst begründet, dann können Pflichten gegen sich selbst nicht unter völliger Absehung des Lebens, der Verfassung des Lebens, der Perspektive auf das zu lebende Leben, das ein Subjekt einnimmt, formuliert werden. Gerade damit die Pflicht, sich um die eigenen Freiheitsmöglichkeiten zu sorgen, eine lebendige Kraft sein kann, muss diese Pflicht unterschieden bleiben von einer statischen Ableitung vermeintlich zwingend geltender Gebote aus vermeintlich unumstößlichen Voraussetzungen ethischer Reflexion. Dies hatte überraschenderweise ausgerechnet die nähere Betrachtung der Kant’schen Diskussion des Suizids nahegelegt: Der Grund für das Verbot des Suizids ist bei Kant die durch den Suizid bedrohte Freiheit des Menschen. Ein entwürdigendes Leben in totaler Fremdbestimmung markiert Kant daher konsequenterweise als eine Situation, die das Verbot des Suizids aufhebt. 41 Allerdings: Der produktive Impuls der Besinnung auf Pflichten gegen sich selbst besteht nicht darin, eine »liberale« Position in der Kontroverse um die Sterbehilfegesetzgebung zu stärken, sondern darin, für die Selbstbestimmung des Subjekts einzutreten. Wenn es in Folge einer Liberalisierung der Sterbehilfegesetzgebung zu einer kulturellen Verschiebung dergestalt kommen sollte, dass die Normalität des Am-Leben-Seins im hohen Alter von einer Normalität des assistierten Suizids ›aufgefressen‹ zu werden droht, wie Jean-Pierre Wils und andere befürchten, dann könnte gerade die Rückbesinnung auf Pflichten gegen sich selbst neuerlich an Bedeutsamkeit gewinnen. Denn wenn es zutrifft, dass in der Moderne Pflichten nahezu ausschließlich als Pflichten gegen andere gedacht werden können, und wenn tatsächlich aller gegenläufigen Bemühungen zum Trotz die Vorstellung um sich greifen sollte, dass es so etwas wie eine Pflicht gegenüber der Gesellschaft gäbe, dieser nicht länger als vermeidbar ›zur Last zu fallen‹, dann könnte es neuerlich wichtig werden, das unbedingte Recht des Menschen zur eigenen vor den Einredungen Dritter zu schützenden Freiheit geltend zu machen. 42 Und in diesem 40 41 42

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Vgl. Critchley, Notes on Suicide, 89. Ähnlich urteilt z. B. Anselm, »Geschöpflichkeit« und »Heiligkeit« des Lebens, 126. Vgl. zu ersterem Wils, Sich den Tod geben, 106 f. Das Argument findet sich bereits

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Zusammenhang könnte es sich als sehr hilfreich erweisen, die eigentliche Begründung des Kant’schen Verbots des Suizids zur Geltung zu bringen, denn diese verweist nicht auf eine dem Menschen vorgegebene Menschenwürde, die der Freiheit Grenzen auferlegen würde, sondern auf den Schutz der Freiheit des Menschen vor Kräften, die der Freiheit entgegenstehen – auch wenn Kant in diesem Zusammenhang in erster Linie an die innere Freiheit im Sinne der Freiheit vor den Einredungen der Sinnlichkeit denkt und mithin das Leben der Freiheit in einer Weise entfaltet, der man nicht in jedem Aspekt folgen muss. Pflichten gegen sich selbst leisten Widerstand. Dieser Widerstand richtet sich nicht allein gegen die Kompromittierung von Freiheit durch Einredungen der Sinnlichkeit. Er richtet sich auch gegen eine Bevormundung durch andere, indem die Pflichten gegen sich selbst geltend machen, dass eine Person nicht nur anderen, sondern auch, vielleicht zunächst einmal sich selbst Rechenschaft schuldet für die Art und Weise, wie sie die eigene Freiheit ergreift. Pflichten gegen sich selbst leisten mithin auch Widerstand gegen die Suggestion, dass »die anderen« das gültige Urteil über die Art und Weise sprechen, wie eine Person ihre Freiheit ergreift. Dies bedeutet auch, dass es die Erinnerung an gelebtes Leben und die Selbsterzählung in den Horizont der Freiheit des Menschen einzuzeichnen gilt. Wir hatten zwar gesagt, dass der Mensch seiner eigenen Geschichte nichts schuldet, außer sie ernst zu nehmen als den Rahmen, ohne den ein Mensch seine mögliche Zukunft nicht imaginieren kann. Das heißt jedoch nicht, dass der Vergegenwärtigung des gelebten Lebens in Erinnerung und Selbsterzählung ausschließlich mit Blick auf die mögliche Zukunft des Menschen Bedeutung zukomme. Unsere Erinnerung an unsere Geschichten zwingt uns keine bestimmten Handlungen oder Unterlassungen auf. Insofern schulden wir unseren Geschichten nichts. Aber an den Erinnerungen an das eigene in Gemeinschaft mit anderen gelebte Leben festzuhalten kann Ausdruck jener Pflicht sein, die sich, wie gleich näher zu entwickeln sein wird, als Metapflicht aller Pflichten gegen sich selbst bezeichnen lässt: der Pflicht, sich selbst, das eigene gelebte Leben ernst zu nehin Rau, Wird alles gut?, 27 f.; neuerdings betonen diesen Aspekt Anselm/Karle/Lilie, Den assistierten professionellen Suizid ermöglichen. Dass Pflichten gegen sich selbst dazu dienen (können), die persönliche Lebenssphäre von normativem Druck zu entlasten, betont z. B. Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, 204. Was wir uns schulden

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men. 43 An dieser heiligen Pflicht des Menschen gegen sich selbst, das eigene Leben ernst zu nehmen, bricht jede Erwartung, dass ein Mensch sich in seinem Denken und Werten nach den Optimierungsfantasien richten möge, die eine Gesellschaft gerade vor sich hertragen mag. 44 Die letzte Freiheit, von der hier zu reden war, manifestiert sich keinesfalls allein und auch nicht in erster Linie in der Freiheit, das eigene Leben zu beenden, auch wenn sie diese nicht ausschließt. Die letzte, äußerste Freiheit ist keine andere als die erste Freiheit, die aller Moral zugrunde liegt: jene, die den Menschen bindet und verpflichtet, ein Leben der Freiheit zu führen, das den Bedrohungen der eigenen Freiheit so viel Widerstand entgegenzusetzen weiß wie möglich und nötig. Gelingt es, Pflicht als normative Gestalt der Freiheit zu begreifen, deren Bindekraft dem Leben dient, dann wird greifbar, dass Pflicht mit Kadavergehorsam nichts zu schaffen hat und das diametrale Gegenteil dessen sein kann und sollte, womit ihre Kritiker sie verwechseln.

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S. o. Abschn. 3.2. Zu letzterem vgl. Wils, Sich den Tod geben, v. a. 178.

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6. Was wir uns schulden – was wir einander schulden. Für eine Rehabilitierung der Pflicht

»Verhalte dich zu deinem Leben im Modus der Ernsthaftigkeit.« 1 Wollte man in eine einzige sprachliche Formel gießen, was wir uns schulden: auf einen Aufruf wie diesen könnte man zurückgreifen, da keiner der existentiellen Vollzüge, in deren Horizont Pflichten gegen sich selbst zu entwickeln sind, ohne (ein Mindestmaß an) Ernsthaftigkeit gelingen dürfte. Was genau sich ein Individuum schuldet und was nicht, ist aus der Außenperspektive nur bedingt zu ermessen. Wohl aber lassen sich Metapflichten benennen, i. e. Pflichten zu Praktiken wie der aufrichtigen Selbsterzählung, deren Übung es wahrscheinlicher werden lässt, dass die aus der erstpersonalen Perspektive zu stellende Frage, was jemand sich schuldet, eine belastbare Antwort findet. Ob es also eine Pflicht gibt, dass ein Mensch ›etwas aus sich macht‹, Gaben und Talente verwirklicht, lässt sich nicht abstrakt bestimmen, vieles spricht dagegen. 2 Es mag eine Pflicht geben, für den eigenen Charakter Verantwortung zu übernehmen. Aber dies ist eine Pflicht gegenüber anderen, denen wir Rechenschaft darüber schulden, warum wir ihnen zumuten, was wir ihnen meinen nicht ersparen zu können, weil wir sind, wer wir sind, und (letztlich) nicht aus unserer Haut können; die Pflicht zur Verantwortung für den eigenen Charakter ist hingegen nicht eine Pflicht gegen sich selbst im strengen Sinn des Wortes, also keine Pflicht, unserem Charakter zu entsprechen (was immer das bedeuten würde), oder diesen in einer bestimmten Weise zu formen. 3 Tugendhat, Retraktationen, 173. Frankfurt, Uns selbst ernst nehmen, v. a. 15, sieht in der Fähigkeit des Menschen, sich selbst ernst zu nehmen, ein ›Markenzeichen‹ der Spezies Mensch. 2 Vgl. hierzu affirmativ: Baier, The Moral Point of View, 229 f.; Wick, More About Duties to Oneself, 160; Johnson, Self-Development as an Imperfect Duty, 135; ablehnend: Jüngel, Der menschliche Mensch, 205; und vermittelnd: Bauer, Was ich tun muss, 352. 3 Vgl. Frankfurt, Uns selbst ernst nehmen, 21. 1

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»Verhalte dich zu deinem Leben im Modus der Ernsthaftigkeit« ist eine Aufforderung, die als Brennspiegel dieser Metapflicht des Menschen gegen sich selbst gesehen werden kann. 4 Was eine solche Formel jedoch auszublenden droht, ist, dass das Begreifen und Ergreifen dessen, was wir uns schulden, gerade keine konzentrische Bewegung beschreibt. Die Fokussierung auf das Selbst führt dieses über sich selbst hinaus, und zwar nicht, weil neben dem Selbst auch die anderen Menschen moralische Ansprüche haben, sondern weil die Pflichten, die jemand gegen sich selbst hat, aus den Beziehungen zu anderen Menschen zu begreifen sind. Kierkegaard greift in der Schlusspassage der Krankheit zum Tode jene unerbittlichste Selbstverurteilung auf: »[D]as verzeihe ich mir nie.« Und er kommentiert: »Er verzeiht es sich nie – aber falls nun Gott es ihm verzeihen könnte, so könnte er ja trotz allem schon die Güte haben, sich selbst zu verzeihen.« 5 Der grantige Ton, den Kierkegaard anschlägt, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier eine zutiefst heilsame Einsicht ausgesprochen wird. Der Mensch, der sich in einer jede Bereitschaft zum Verzeihen übersteigenden Schuld sich selbst gegenüber sieht, steht in der Pflicht, einen anderen Blick auf sich selbst zuzulassen als den, den er auf sich selbst einnimmt. Er steht in der Pflicht, zumindest ernst zu nehmen und in Betracht zu ziehen, dass sich mit dem in Folge von Versagung, Verzicht oder Versäumnissen ungelebten Leben in Frieden leben lässt 6 – und zwar nicht nur dann, wenn man es nicht besser wusste, sondern auch dann, wenn man im Rückblick meint, man hätte es besser wissen können und müssen. Pflichten gegen sich selbst sind alles andere als solipsistisch. Die normative Verbindlichkeit der Pflichten gegen sich selbst erschließt sich überhaupt erst mit Blick auf die Einbettungen des Menschen in soziale Beziehungen, jedenfalls was die Pflicht zur Wahrhaftigkeit des Menschen gegen sich selbst angeht, und dasselbe gilt für das produktive, lebensdienliche Potential der Pflichten gegen sich selbst, wie mit Blick auf die Pflicht, Haltung zu wahren, deutlich wurde. Vergegenwärtigen wir uns den bisher beschrittenen Weg des Gedankens, so tritt der exzentrische Zug der Pflichten gegen sich selbst noch deutlicher hervor. Alles hier Gesagte folgt der dialektischen Bewegung Vgl. bereits Platon, Gesetze/Nomoi, 743e, zur geforderten ernsthaften Mühe (spoudē) v. a. um die eigene Seele. Dazu: Theunissen, Art. Ernst, 721. 5 Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, 115. 6 Vgl. Fuchs, Versöhnung mit dem Ungelebten. 4

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einer Fokussierung auf das Selbst auf der einen und einer aus dieser Fokussierung hervorgehenden Weitung des Blicks auf zwischenmenschliche Beziehungen auf der anderen Seite. Dass von normativen Fragen angetriebene Selbstreflexion auch unter modernen Bedingungen des Denkens die Sorge für sich selbst und die Konfrontation mit Perspektiven anderer Subjekte nicht nur zulassen kann, sondern ihrem Wesen nach in sich begreifen muss, ist die metaethische Pointe alles hier Gesagten. Dass die Pflichten gegen sich selbst den Menschen nicht einzwängen, sondern im Gegenteil Freiheitsräume eröffnen und schützen, ja dass die Pflichten gegen sich selbst, wie Kant sagt, »negativ aus dem Begriff der Freiheit fließen«, ist die leitende These des Versuchs einer Rehabilitation der Pflichten gegen sich selbst. 7 Dies sei im Rückblick noch einmal verdeutlicht. Pflicht ist nicht Pflicht zum Kadavergehorsam gegenüber in Stein gemeißelten Normen. Wer Pflicht in dieser Weise in Anspruch nimmt, missbraucht sie bzw. gebraucht sie in einer Weise, die die Pflicht alles andere sein lässt als das, was sie sein kann, wenn sie in all ihrer Härte und Schroffheit im Dienst der Freiheit steht. Die Härte und Schroffheit der Pflicht dienen dem Leben, insofern aus der Pflicht ein Widerstand gegen Kompromittierungen von Freiheit hervorgeht. Mit dieser Behauptung hatten wir den Denkweg begonnen. Pflichten dienen dem Leben insbesondere dort, wo Lebensvollzüge unselbstverständlich geworden sind, wo es der normativen und motivationalen Kraft von Pflicht bedarf. Grenzerfahrungen, Erfahrungen der Haltlosigkeit und des Unbehaustseins sind der Sitz im Leben der Pflichten gegen sich selbst. Pflichten gegen sich selbst sind ein Krisenphänomen, denn sie haben ihren Sitz im Leben im Zusammenhang von Einbrüchen in die Kontinuität homogener Erfahrungsund Erwartungsverläufe. 8 Dies ist auch der Grund, warum die Literatur im Zusammenhang von Suizid, seelischer Gesundheit und dem Widerstand gegen Unterdrückung auf die Pflichten gegen sich selbst zu sprechen kommt. 9 Ihre Lebensdienlichkeit teilt die Pflicht mit der Sorge für sich selbst, genauer: Wenn die Sorge des Menschen für sich selbst, die unVgl. Kant, Die Metaphysik der Sitten Vigilantius, XXVII 601. Zu diesem Begriff von »Krise« vgl. Breyer, Selbstsorge und Fürsorge zwischen Vulnerabilität und Resilienz, 122 f. 9 Vgl. Velleman, Ein Recht auf Selbsttötung?; Hoffman, Treating Yourself as an Object, 166, 176. 7 8

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ter normalen oder günstigen Umständen eine spontane Triebfeder zum pflichtgemäßen Handeln sich selbst gegenüber ist, in krisenhaften Situationen an Bindekraft verliert, dann kann die Bindekraft der Pflicht eintreten, um zumindest vorübergehend mit ihren Mitteln die Arbeit stellvertretend zu übernehmen, die die Sorge des Menschen für sich selbst üblicherweise wie selbstverständlich tut. Die stoische Rede von ›Pflicht‹ (besser: von dem, was dem Menschen zu tun entspricht) und die Kant’sche Rede von Pflicht, so verschieden diese und jene auch sind, finden in der Maßgabe zusammen, dass der Mensch so lebe, dass dem, was sie oder er einmal getan haben wird, aus guten Gründen zugestimmt werden kann. Hinzu kommt: Pflichten gegen andere, die im modernen Denken im Vordergrund stehen, und das dem Menschen um seiner selbst und gleichzeitig um der anderen willen zu tun Aufgetragene, das in der antiken griechisch-römischen Philosophie im Mittelpunkt steht, müssen nicht, wie es oft geschieht, in einer strengen Opposition gesehen werden – zumindest dann nicht, wenn die wechselseitigen Verbindungen von innerpersonaler und interpersonaler Pflicht als Kern der Pflichten gegen sich selbst beschrieben werden können. Der Andere, so ließe sich in Variation der Hegellektüre Michael Theunissens sagen, ist nicht die Grenze, sondern die Bedingung der Möglichkeit der Erfüllung der Pflichten gegen sich selbst. 10 Vor diesem Hintergrund lässt sich nun im Rückblick auch ein weiteres Merkmal der Pflichten gegen sich selbst benennen: Praktische Notwendigkeiten werden im Unterschied zu Pflichten gegen sich selbst typischerweise nicht von außen an diejenigen, die etwas tun müssen, herangetragen. 11 Pflichten gegen sich selbst hingegen, so hatten wir festgehalten, können nur als Pflichten gelten, wenn die Dimension des Gegenübers, das Pflichten auszeichnet, sich in ihnen widerspiegelt, und es wurde vielfach hervorgehoben, dass und wie Pflichten gegen sich selbst und Pflichten gegen andere miteinander verwoben sind. ›Unser‹ Widerstand gegen Verletzungen von Pflichten gegen sich selbst, deren Zeugen wir werden, ist ein Indiz dafür, dass es Pflichten gegen sich selbst gibt und dass diese in eben jenen Raum des Zwischenmenschlichen gehören, in dem wir auf sie stoßen, wenn wir Vgl. Theunissen, Sein und Schein, 46. Dazu: Anselm, Leben als Gut, nicht als Pflicht, 105. 11 Vgl. Bauer, Was ich tun muss, v. a. 34. Zur Unterscheidung von Pflicht und praktischer Notwendigkeit vgl. auch Williams, Praktische Notwendigkeit, 140. 10

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überzeugt sind, dass Menschen sich schulden, für sich zu sorgen. Pflichten gegen sich selbst sind gleichsam zentrifugal, sie greifen in den Bereich des Zwischenmenschlichen aus. Und dies spiegelt sich wiederum darin, dass die Erfüllung von Pflichten gegen sich selbst durch Dritte angemahnt werden kann, auch wenn es sich ja bei Pflichten gegen sich selbst nicht um Pflichten gegenüber anderen handelt. Dies unterscheidet Pflichten gegen sich selbst von anderen Formen von praktischer Notwendigkeit, die typischerweise erstpersonal formuliert sind: ›Ich muss x tun und kann nicht anders, weil ich nicht mehr ich wäre, wenn ich mich anders verhielte.‹ 12 Handeln aus praktischer Notwendigkeit hat seinen Grund im Sosein eines Individuums und kann daher Außenstehenden unvernünftig erscheinen. 13 Pflichten gegen sich selbst haben ihren Grund in der Freiheit der Person, für deren Verwirklichungsform das Sosein des Individuums der zwar unhintergehbare, aber eben nicht normativ wirksame Horizont ist. Wie eng Pflichten gegen sich selbst und Pflichten gegen andere aufeinander verwiesen sind, zeigt sich auch daran, dass der Unterschied zwischen diesen und jenen das wohl wichtigste theoretische Problem einer Rechenschaft über Pflichten gegen sich selbst markiert. Der Standardfall eines Verpflichtungsverhältnisses ist ein Verhältnis zwischen verschiedenen Personen. Zu dieser Interpersonalität muss es auf der Ebene der Pflichten gegen sich selbst eine Entsprechung geben. Pflichten gegen sich selbst sind nur denkbar, wenn zwischen verschiedenen Dimensionen der Person unterschieden werden kann. Gelingt dies nicht, dann stürzt jede Behauptung einer Pflicht des Menschen gegen sich selbst über den Einwand, dass eine Pflicht, die jemand sich selbst erlassen könnte, die also keinen wirksamen Widerstand gegen ihr Verletztwerden zu leisten vermag, doch keine Pflicht sein könne. Diese Beobachtung hält, so wurde deutlich, nicht allein fest, welches denkerische Problem auf der formalen Ebene zu lösen ist, wenn Pflichten gegen sich selbst geltend gemacht werden sollen. Diese Beobachtung lässt vielmehr gleichzeitig ex negativo aufscheinen, worin die Kraft bestehen muss, die der Pflicht gegen sich selbst zu eigen ist: Pflicht schützt das Leben, indem sie Widerstand gegen Dynamiken provoziert, die dem guten Leben, dem Leben der Vgl. Bauer, Was ich tun muss, v. a. 62, 70 (mit Verweis auf Wolfgang Herrndorf); ähnlich Schofield, Duty to Self, v. a. 123–127. 13 Vgl. Bauer, Was ich tun muss, v. a. 86. 12

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Freiheit zuwiderlaufen. Das Moment des Widerstands gegen Lebenswidriges hat sich v. a. im Zusammenhang des Nachdenkens über die Pflicht, Haltung zu wahren, als entscheidend erwiesen. Die Erörterung der Pflichten gegen sich selbst bei Kant dient als Resonanzraum für die hier vorzustellende Theorie der Pflichten gegen selbst. Wichtige Impulse bietet die Kant’sche Unterscheidung zwischen dem homo phaenomenon und dem homo noumenon. Entscheidend ist die Einsicht, dass die Pointe dieser Unterscheidung, jedenfalls was die Pflichten gegen sich selbst angeht, in der Freiheit des Menschen liegt. Pflicht schützt Freiheit, denn nur als homo noumenon ist der Mensch überhaupt in der Lage, sich frei zu verwirklichen. Wenn der homo phaenomenon in seiner kontingenten Bedingtheit den Menschen in seinem Handeln bestimmen würde, dann würde Fremdbestimmtheit herrschen. Dies ist der Grund, warum der Suizid in Kants Augen moralisch untersagt ist, ja als paradigmatisches Beispiel für die Pflichten gegen sich selbst aufgeführt wird: nicht einfach nur, weil der Mensch durch den Suizid seine Freiheitsmöglichkeiten einbüßt, sondern, weil Kants – gewiss streitbarer – Deutung nach im Akt des Suizids eine Dimension des Menschen regiert, die nicht aus Freiheit regieren kann. Maßgeblich ist der Aspekt der freien Zustimmung: So wie ein Mensch an einem anderen Menschen nicht etwas tun darf, dem der zum Objekt der Handlung werdende Mensch nicht zumindest dem Ideal nach kraft freien Vernunftgebrauchs zustimmen könnte, so darf der Mensch an sich selbst nicht etwas tun, dem er nicht als einem zulässigen, weil von hinreichend guten Gründen motivierten Eingriff in seine äußere Freiheit zustimmen könnte. Pflichten gegen sich selbst sind im Horizont des Schutzes der Möglichkeit freier Zustimmung zu deklinieren. Pflichten gegen sich selbst dienen dem Schutz der eigenen Freiheit, so ist von Kant zu lernen – Schutz vor dem Unrecht, das Menschen durch andere zugefügt wird, und Schutz vor Unrecht, das Menschen sich selbst antun. 14 Die Verbindlichkeit der Pflichten gegen sich selbst geht bei Kant vom zeitlosen homo noumenon aus, der den homo phaenomenon in die Pflicht nimmt. Die Pflicht des Menschen ist, so zu leben, dass der homo noumenon, der Mensch als Freiheitswesen, den homo phaenomenon so leitet, dass dieser seinerseits im Dienst eines Lebens der Freiheit steht. Vgl. die als Motto des Buches zitierte Passage aus Ibsen, Nora (Ein Puppenheim), Dritter Akt, 89.

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Während die Wahrung von Freiheit die normative Dimension ist, die alles Nachdenken über die Pflichten gegen sich selbst orientiert, bilden die Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit menschlicher Existenz den Rahmen, in den die Theorie der Pflichten gegen sich selbst einzuzeichnen ist. Ethik der Pflichten gegen sich selbst ist Ethik des Futur II. Zustimmung ist der in der Imagination vorweggenommene Akt, der, wenn er der Prognose nach möglich sein wird, erkennen lässt, dass jemand in Übereinstimmung mit dem lebt, was sie oder er sich schuldet. Wir schulden uns, so zu leben, dass wir der Art und Weise, wie wir zu einem jeweiligen aktualen Zeitpunkt auf unsere zukünftigen Freiheitsmöglichkeiten einwirken, zustimmen können: dass wir dem zustimmen können werden, wie wir Freiheitsmöglichkeiten ergriffen haben werden. Zustimmung zu sich selbst erstreckt sich also keineswegs auf alles, was jemand getan hat und gewesen ist. Übereinstimmung mit sich selbst wäre ein ebenso blasses wie überzogenes Ideal, wenn diese Übereinstimmung, die anzustreben Menschen sich schulden, nicht näher beschrieben und auch im Lichte der Wirklichkeit geschichtlichen Lebens skaliert würde. Die hier gemeinte Übereinstimmung ist keine schlichte Identität von innen und außen, sondern dasjenige, das sich manifestiert, wenn Menschen dem, was sie gewesen sind, zustimmen können. Zustimmung ist hier nicht als Authentifikation, als bruchlose Aneignung aller Entscheidungen und Handlungen, auf die zurückgeblickt werden wird, zu denken. Eine derartige Vision eines ungebrochen kohärenten Lebens ist weder notwendig noch zielführend, allein schon aus dem Grund, dass das in der Imagination vorweggenommene Selbst seinerseits eine Konstruktion ist, die mehr oder weniger klar sein und verlässlich sein kann, deren tragende Elemente mehr oder weniger gut reflektiert und erschlossen sein können, die sich jedoch so oder so ständig im Fluss befindet. Zustimmung ist als Gegenzeichnung zu verstehen, die das Gewesene bejaht, ohne es als Eigenes zu reklamieren. 15 Die Kohärenz des Lebenslaufs, die sich in solchen Akten der Zustimmung als Gegenzeichnung manifestiert, ist eine schwache Kohärenz, die, mit Augustin zu sprechen, aus einer bestimmten Perspektive Splitter aus der Geschichte aufsammelt – was nicht bedeutet, diese Splitter in ein fugenloses Gesamtbild einzuschmelzen. 16 Angefochten bleibt KoVgl. Derrida, As if I Were Dead, 31, 33. Vgl. Conf. 11,39; En. Ps. 146,2–4. Dazu: Schmidt, Klage, 43, Anm. 86 (dort weitere Belege).

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härenz zum einen durch die Erfahrung der Inkohärenz zeitlicher Existenz, durch die Übermacht all dessen, dem ein Mensch biographisch und zeitgeschichtlich ausgeliefert ist, und zum anderen durch die Erfahrung der Unabschließbarkeit entdeckter Kohärenz. Es mag sein, dass, wie Bourdieu berichtet, in vielen sozialen Universen die Pflicht gegenüber dem eigenen Eigennamen als heiligste Pflicht, zu der man gegenüber sich selbst gehalten wird, zählt. Aber aus guten Gründen bezeichnet Bourdieu die Vorstellung einer solchen biographischen Kohärenz als Illusion. 17 Mithin erscheint das Leben nicht als ständige Verwirklichung eines konstanten Selbst oder als Selbstbemächtigung, sondern als fließende Entwicklung, deren Offenheit den Unwägbarkeiten und auch Brüchen gelebten Lebens entsprechend zu denken ist, während doch gleichzeitig die Erwartung an ein Mindestmaß an Kohärenz aufrechterhalten werden kann und muss. 18 Denn ohne ein solches Mindestmaß an Kohärenz im Selbst, oder mit Derek Parfit zu sprechen: an Verbundenheit zwischen den aufeinanderfolgenden Selbsten wäre es unmöglich, Pflichten gegenüber sich selbst als einem geschichtlich sich entfaltenden Selbst überhaupt zu denken. 19 So gibt es wohl kaum eine Pflicht, sich selbst zu vervollkommnen, auch wenn die Selbstvervollkommnung in der Philosophie der Aufklärung im Mittelpunkt des Nachdenkens über Pflichten gegen sich selbst gestanden haben mag. 20 Der Mensch schuldet sich nicht, sich zu vervollkommnen, sondern seine Freiheit zu schützen, und eine der Voraussetzungen des Schutzes der eigenen Freiheit ist, dass der Mensch einen gewissen Abstand gegenüber sich selbst einzunehmen geübt ist. Insofern beginnt die Freiheit für sich selbst mit einer partiellen Freiheit von sich selbst. Denn ohne einen solchen ›Mindestabstand‹ sich selbst gegenüber kann ein Mensch nicht ergründen, an welchem seiner je aktualen Wünsche ihm so nachhaltig liegt, dass andere Wünsche zurückzustellen nicht einen inakzeptablen Eingriff in die Handlungsmöglichkeiten seines zukünftigen Selbst darstellt. 21 Innere Krisen können Anlässe sein, diesen

Vgl. Bourdieu, Praktische Vernunft, 79. Vgl. Thomas, Negative Identität und Lebenspraxis, 101, mit Verweis auf Paul Ricœur. 19 Vgl. Parfit, Later Selves and Moral Principles, 142. 20 Vgl. z. B. Wolff, Grundsätze des Natur- und Völkerrechts, §§ 106, 126; Meier, Philosophische Sittenlehre. Anderer Theil, v. a. 335–337. 21 Vgl. Bieri, Das Handwerk der Freiheit, 412. 17 18

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Abstand zu sich selbst einzunehmen – Pflichten gegen sich selbst und kritische Selbsterfahrungen sind mithin auf mehreren Ebenen verwoben. Zustimmung zu dem, was jemand gewesen ist, ist ein Akt, in dem sich Übereinstimmung mit sich selbst manifestiert. Wahrhaftigkeit gegen sich selbst und gegen andere ist eine Haltung, in der ein Mensch mit sich übereinstimmt. So stellt sich die Frage, inwieweit Wahrhaftigkeit als eine Metahaltung gelten kann, derer es bedarf, damit Menschen überhaupt so leben können, wie zu leben sie sich schulden. Die zuvor genannten imaginativen Denkoperationen, in deren Zuge Pflichten gegen sich selbst auszuloten sind, sind grundsätzlich irrtumsanfällig, was zunächst einmal nur bedeutet, dass sie misslingen können. Aber sie misslingen wohl zwangsläufig, wenn sie nicht von einer Haltung der Wahrhaftigkeit gerahmt werden. Ein erneuter Blick auf Kant zeigt: Besonders fruchtbare Impulse finden sich in der Kant’schen Diskussion der Frage, ob und inwieweit die Pflicht zur Wahrhaftigkeit im Sinne einer Pflicht gegen andere als Pflicht gegen sich selbst gelten darf. Fruchtbar sind diese Impulse nicht allein, weil sich hier die Verschränkung zwischen Pflichten gegen sich selbst und Pflichten gegen andere geltend macht, sondern weil sich hier erneut zeigt, dass die Freiheit der maßgebliche Faktor ist. Wer andere belügt, nötigt sich selbst dazu, inskünftig gegenüber den Belogenen seiner eigenen Lüge entsprechend aufzutreten, bindet sich mithin an seine Lüge, bindet die eigene Freiheit an die Zwänge, nunmehr in Übereinstimmung mit seiner Lüge zu leben. So leistet der Blick auf Kants Überlegungen zur Wahrhaftigkeit zweierlei: Die Vermutung, dass es so etwas gibt wie Metapflichten des Menschen sich selbst gegenüber, erfährt eine Unterstützung, ebenso wie die These, dass Pflichten gegen sich selbst und Pflichten gegen andere nicht (allein) in Verhältnissen der Konkurrenz und/oder Supplementarität stehen, sondern dass diese und jene wirksam ineinandergreifen. Pflichten gegen sich selbst sind von Pflichten gegen andere zu unterscheiden, andernfalls wird wie gesagt nicht im eigentlichen Sinn des Wortes von Pflichten gegen sich selbst gesprochen. Pflichten gegen sich selbst sind jedoch auf Verhältnisse zu anderen Personen innerlich bezogen. Dies deutete sich bereits in einer kritischen Rekonstruktion des Kant’schen Verbots des Suizids an, der Eindruck bestätigte sich im Zusammenhang der Kant’schen Diskussion der Lüge und er leitete dann die Überlegungen zur Pflicht, Haltung zu wahren. Was wir uns schulden

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Die Pflicht gegen sich selbst, Haltung zu wahren, ist in mehrfacher Hinsicht dazu geeignet, das Potential der Vorstellung von Pflichten gegen sich selbst lebenspraktisch auszuloten. Haltung zu wahren bedeutet zunächst einmal, Widerstand zu leisten. Wer Haltung wahrt, leistet Widerstand gegen den Druck, der von der Welt auf sie oder ihn ausgeht, und bewahrt gerade so in kritischen Konstellationen die Fähigkeit, auf die Welt angemessen zu reagieren. Dies gilt für die äußere, leibliche Haltung grundsätzlich in ähnlicher Weise wie für die innere Haltung, wobei die Unterscheidung zwischen beiden, zwischen äußerer und innerer Haltung, sich als alles entscheidend erweist. Eine Analyse der Konfiguration des Äußeren und des Inneren bei der Tugend auf der einen und bei der Haltung (im Sinne des deutschsprachigen Ausdrucks) auf der anderen Seite zeigt, dass Haltung grundsätzlich ähnlich wie Tugend irreduzibel auf Interaktionsverhältnisse verwiesen ist, wobei sich bei näherem Hinsehen signifikante Unterschiede abzeichnen. Haltung zu wahren bedeutet, Haltung zu zeigen; die gezeigte, von anderen gesehene Haltung bindet denjenigen, der Haltung wahrt, an den Blick derjenigen, die ihn im Blick (be)halten. Das Moment der Interpersonalität, das bereits im Rahmen der Diskussion der Wahrhaftigkeit gegen andere als Pflicht gegen sich selbst maßgeblich wurde, kommt hier unter umgekehrten Vorzeichen zur Geltung. Die Pflicht, Haltung zu wahren, erweist sich als Pflicht, sich dabei helfen zu lassen, Haltung zu bewahren. Dieser Zustand einer äußerlich gewahrten Haltung allerdings kann nur ein Zwischenstadium sein. Letztlich gilt für die bloß äußerlich eingenommene und mit Hilfe der Blicke anderer bewahrte Haltung, was auch für das Lernen der Tugend gilt: Die Abhängigkeit vom anderen Menschen, die Bindung an das Äußerliche ist mit Blick auf das Selbstverhältnis nicht mehr denn ein – wenn auch notwendiges – Durchgangsstadium. Zum Ziel findet das Wahren von Haltung im Ereignis der Resubjektivierung, welches darin besteht, dass das innere Erleben gleichsam nachzieht und die äußere Haltung aufhört, eine bloß äußere Haltung zu sein, die sich von innerer Haltung unterscheidet. Damit endet nicht die Gemeinschaft, in deren Geschichte mithin die gemeinsame Überwindung einer Krise eingeschrieben ist. Aber es endet eine Phase gemeinsam durchgehaltener Haltlosigkeit. Erneut wird deutlich: Pflichten gegen sich selbst sind vielfach in die zeitliche Existenz des Menschen verwoben; Sinn haben sie nur im Horizont der Lebensführung zeitlicher Wesen – und das heißt immer auch: endlicher und angewiesener Wesen. 126

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Pflichten gegen sich selbst finden ein Ende. Damit ist hier nicht einfach nur gemeint, dass es keine Pflicht zur grenzenlosen Selbstoptimierung oder Selbstperfektionierung gibt, denn das sollte aus dem Gesagten bereits hervorgegangen sein. Verletzungen von Pflichten gegen sich selbst haben die Gestalt der Obstruktion eigener Freiheit. Das Unterschreiten eines imaginierten Optimums der persönlichen Selbstverbesserung ist als solches indes keine Einschränkung von Freiheit. Gewiss kann die Mehrung persönlicher Fähigkeiten die Reichweite persönlicher Freiheit vergrößern. Aber ob die Unterlassung der Ausweitung solcher Fähigkeiten eine pflichtwidrige Beschneidung eigener Freiheitsmöglichkeiten darstellt, bemisst sich allein an der Art der jeweiligen Freiheitsmöglichkeiten, nicht also lediglich daran, ob persönliche Fähigkeiten (in einem optimalen Umfang) vermehrt werden oder nicht. Zwar nehmen Diskurse der Selbstoptimierung zuweilen einen imperativischen Charakter an, es wird hier aber – soweit ich sehen kann – nicht behauptet, dass der Mensch sich die Optimierung seiner selbst im strengen Sinn des Wortes schulden würde. 22 Wohl können Menschen ihre Lebensführung einem Ethos der Selbstoptimierung verschreiben. 23 Eine (solche) Selbstverpflichtung ist jedoch von einer Pflicht gegen sich selbst zu unterscheiden. 24 Nicht also die Begrenzung eines – ohnehin nicht per se als Pflicht geltend zu machenden – Strebens nach Selbstoptimierung war gemeint, als von den Grenzen der Pflichten gegen sich selbst die Rede war. Gemeint sind die Grenzen der Pflichten gegen sich selbst insgesamt. Pflichten gegen sich selbst enden dort, wo Menschen an ihre Grenzen gelangen. Einen überraschend tröstlichen Blick wirft Kant auf die Unvollkommenheit allen Strebens der Menschen, da er einen Blick Gottes imaginiert, der das Streben des Menschen so ansieht, als seien die Menschen dort angelangt, wo sie hinwollen, ohne je tatsächlich dort anzukommen. Diesen Gedanken radikalisiert die christliche Rede von Gnade. Ein Blick auf Martin Luthers Erinnerung an das Ereignis von Stotternheim legt nahe: Gottes Vorsehung legt die Freiheit des Menschen keineswegs still, sondern vermag im Gegenteil FreiVgl. zum imperativischen Moment im Selbstoptimierungsdiskurs Röcke, Soziologie der Selbstoptimierung, 80, 83, 115, 204; Martschukat, Das Zeitalter der Fitness, 77. 23 Vgl. Gebauer, Selbstführung im Spitzensport, 162. 24 S. u. Anm. 27. 22

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heitsräume neuerlich zu eröffnen. Der Glaube an Gottes Vorsehung befreit dazu, eine völlig andere Zukunft für möglich zu halten als jene, die aus Sicht einer jeweiligen Gegenwart vorstellbar scheint. Dies ist kein metaphysischer Einbruch, sondern eine Radikalisierung der Gedanken, die – mit Blick auf die Dimension der Interpersonalität – in den vorherigen Kapiteln angelegt wurden. Der Glaube an die Vorsehung leistet einen Widerstand gegen die Überzeugung, dass das, was eine jeweilige gegenwärtige Situation bestimmt, alles entscheidend bleiben sollte. Selbstdistanz erwies sich als heilsames Moment der Rede von Pflichten gegen sich selbst. Dies ist auch die Tonart, mit der der Gedanke sich abschließend erneut dem Thema Suizid zuwendet. 25 An den äußersten Grenzen des Lebens kann es nur darum gehen, mit einem möglichst genauen und gleichzeitig gnädigen Blick auf das zu schauen, was sich zeigt. Und das bedeutet im Zusammenhang des hier Vorliegenden, der Erwartung, es würden schließlich irgendwelche Urteile über das Erlaubt- oder Verbotensein des Suizids gefällt, in einer Weise nicht zu entsprechen, die denen, die solche Erwartungen hegen, mehr zu erwidern hat als bloß die Zurückweisung eben dieser Erwartung. Pflichten gegen sich selbst dienen dem Leben, sie können vielleicht dazu beitragen, gegen Haltlosigkeit im Leben festzuhalten, indem man sich halten lässt. Aber Pflichten gegen sich selbst zwingen nicht und sie zwingen auch nicht zum Leben. So strahlen die Pflichten gegen sich selbst durchaus in den Raum der normativen Ethik hinein. Zwar verweigert sich das Nachdenken über Pflichten gegen sich selbst weitgehend der Erwartung, es werde in Leitsätze gegossen, was Menschen sich schulden und was nicht. Dies wiederum bedeutet jedoch offensichtlich nicht, dass es nichts gibt, das Menschen sich schulden. Die Aufgabe der Ethik ist, eine möglichst verbindliche Vision zu entwickeln, in welcher Weise und mit welchem Ziel diese Frage gestellt werden sollte. Die Aufgabe ist ferner, die Verwobenheit dieser Frage mit grundsätzlichen Fragen der menschlichen Lebensführung so zu erschließen, dass das Nachdenken über Pflichten gegen sich selbst den Weg aus der Verengung weist, in Gegenstand ist die grundsätzliche Frage nach der ethischen Beurteilung des Suizids, die nicht identisch ist mit der Frage nach ärztlich assistiertem Suizid als einer besonderen Form von Suizid, während die Frage nach der ethischen Bewertung ärztlich assistierten Suizids wiederum noch nicht identisch ist mit der Frage, welche rechtliche Regelung ärztlich assistierten Suizids aus ethischen Gründen wünschenswert bzw. geboten scheint – diese Fragen können hier nicht behandelt werden.

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die eine Fokussierung auf das Selbst dem Anschein nach führen könnte – jedoch nicht führen muss und nicht führen sollte. Es ist deutlich geworden, dass Pflichten gegen sich selbst aus den Beziehungen zu anderen Menschen zu verstehen sind. Die hierüber hinausgehende These, dass Pflichten gegen andere nur im Horizont der Pflichten gegen sich selbst denkbar wären, folgt daraus nicht. Wohl ließe sich fragen, ob sich eine transzendentalpragmatische Begründung der Universalität von Pflichten gegen sich selbst namhaft machen lässt. Man könnte fragen, ob nicht jede Handlung die Vision eines zukünftigen Selbst impliziert, das auf das Handeln zurückschauen wird, so dass das beschriebene innerpersonale Verpflichtungsverhältnis in jeder Handlung mitgesetzt wäre. 26 Hiergegen spricht allerdings, dass ein Akt der Selbstverpflichtung oder der Selbstbindung von einer vorgängig gegebenen Pflicht gegen sich selbst zu unterscheiden ist. 27 Dass Pflichten gegen sich selbst alles andere als solipsistisch, nötigend und gnadenlos sind, ist der Ertrag der angestellten Überlegungen. Pflichten gegen sich selbst sind nicht solipsistisch, denn sie verweisen im Guten und im Schlechten auf den anderen Menschen. Wenn Ulrich Beck eine von Individualismus, Egoismus und Narzissmus geprägte Ethik der »Pflichten gegen sich selbst« beschreibt, die den einer jeden Pflicht grundsätzlich eignenden Sozialcharakter von Pflicht verleugne und besessen sei vom Ziel einer soziale Bindungen zerreißenden Selbsterfüllung, dann zeichnet er ein radikalindividualistisches Zerrbild dessen, was mit »Pflichten gegen sich selbst« gemeint sein kann und den hier vorgetragenen Überlegungen nach gemeint sein sollte. 28 Den Wortwechsel zwischen den Figuren Nora und Helmer aus Ibsens Drama Nora hatte ich eingangs zitiert, um zu zeigen: Am Widerstand der Pflichten gegen sich selbst bricht der Versuch der Überwältigung individueller Freiheit. Keineswegs ist damit gesagt, dass individuelle Freiheit über den Hebel der Pflichten gegen sich selbst jegliche zwischenmenschliche Bindung außer Kraft setzt, auch wenn Hugo von Hofmannsthal Nora in dieser Weise liest. 29 Freiheit kann nicht anders denn als sich selbst bindende Vgl. Safranski, Zeit, 70; Luckner, Klugheit, 33. Vgl. Lohmar, Gibt es Pflichten gegen sich selbst?, 58 f.; zur Selbstverpflichtung als dem Grund jeder Verantwortung vgl. auch Gerhardt, Selbstbestimmung, 308. 28 Vgl. Beck, Jenseits von Stand und Klasse, 56. 29 Vgl. Hofmannsthal, Die Menschen in Ibsens Dramen, 101 f. 26 27

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Freiheit gelebt werden. Pflichten gegen sich selbst halten dazu an, Freiheit aus Freiheit und um willen von Freiheit zu binden. Pflichten nötigen den Menschen nicht, vielmehr dienen sie dem Schutz und der Eröffnung von Freiheitsräumen. Sie dienen so nicht trotz, sondern kraft ihrer Schroffheit und Härte dem guten Leben. Sie sind nicht gnadenlos, denn in ihren Bindungen an den anderen Menschen verweisen sie darauf, dass Menschen anders gesehen werden können, als sie sich selbst sehen. So strahlen die angestellten Überlegungen über den Bereich der Pflichten gegen sich selbst hinaus, denn sie geben Impulse in Richtung einer Rehabilitierung der Pflicht, die diesen wenig populären Begriff als produktive Dimension ethischer Reflexion zu erschließen sucht. 30 Produktiv können die Überlegungen für ein Nachdenken über Freiheit sein, das Freiheit mit Pflicht ins Verhältnis setzt und der Freiheit somit Konturen verleiht, und zwar nicht in der Weise, dass die Freiheit durch Grenzsetzungen relativiert wird, sondern in der Weise, dass Freiheit als Ursprung von Pflichten verstanden wird. Pflichten gegen sich selbst als gebotene, nicht bloß als zu empfehlende Sorge für das zukünftige Selbst zu denken, die ihrerseits auf interpersonale Verhältnisse verwiesen ist, kann zumindest indirekt dabei helfen, Brücken zu schlagen zwischen verbindlichen Selbstbeziehungen und verbindlichen Beziehungen zu anderen. Und dies: die Herstellung produktiver Verbindungen zwischen unterschiedlichen Bereichen der ethischen Reflexion und Lebenswirklichkeit, zwischen der Frage nach dem guten Leben und der – mit dieser unter modernen Bedingungen des Denkens nicht gleichzusetzenden – Frage nach dem moralisch Guten, zwischen phänomenologischen Perspektiven auf die Zeitlichkeit ethischer Selbstreflexion und Erwägungen aus dem Bereich der literarischen Erzähltheorie, zwischen metaethischen Analysen zum Begriff der Tugend und phänomenologischen Annäherungen an das Wahren von Haltung als einem existentiellen Vollzug, zwischen dem ethischen Nachdenken über Erfahrungen der Begrenztheit menschlicher Möglichkeiten und christlichem Glauben ist das Ziel des hermeneutisch-ethischen Nachdenkens über Pflichten gegen sich selbst. Hermeneutische Ethik im hier gemeinten Sinne ist nicht lediglich ein Stil von Ethik, der Verstehensprozesse als Elemente ethischer Reflexion und Urteilsbildung in den Blick nimmt. Hermeneutische 30

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Vgl. Precht, Von der Pflicht.

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Ethik im hier gemeinten Sinn ist vielmehr eine Form der Ethik, die den Fokus auf die Unabschließbarkeit von Deutungsprozessen legt, auf die Unverfügbarkeit des Gelingens offener Prozesse des Selbstund Weltverstehens und auf die Arbeit von Negativität. 31 Pflichten gegen sich selbst sind nur denkbar über Konstruktionen, die auf unstete Größen wie Imagination verwiesen sind. Sie haben ihren Sitz im Leben im Bereich von existentiellen Grenzerfahrungen, sie wirken sich im besten Fall darin aus, dass sie die Möglichkeit einer genuin unverfügbaren Resubjektivierung offenhalten, so wie sie insgesamt ›negativ aus der Freiheit des Menschen fließen‹ – der im realen Leben notorisch fragilen Freiheit, deren Schutz sie dienen. Ihre Arbeit ist die einer doppelten Negation: Sie leisten Widerstand gegen lebenswidrige Dynamiken.

Vgl. zu diesem Verständnis von Hermeneutik v. a. Caputo, More Radical Hermeneutics. Dazu: Schmidt, Vielstimmige Rede vom Unsagbaren, 52–80.

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Namensregister

Améry, Jean 112 f. Annas, Julia 89 Anon 9 f. Anselm, Reiner 114 f., 120 Anwander, Norbert 65 Aristoteles 26 f., 66, 83–87, 90, 92 Athanasius 95 f. Baier, Kurt 18 f., 117 Barth, Karl 105 Battin, Margaret P. 109 Bauer, Katharina 117, 120 f. Bayertz, Kurt 13 Beck, Ulrich 129 Berlin, Isaiah 42, 49, 53 Bieri, Peter 63, 65, 124 Birnbacher, Dieter 114 f. Bittner, Rüdiger 61 Blankenburg, Wolfgang 63 Bollnow, Otto Friedrich 86, 96 Bonhöffer, Adolf 15 Boothe, Brigitte 64 Borasio, Gian Domenico 107 Bormann, Franz-Josef 10 Bornmüller, Falk 35 Bourdieu, Pierre 84, 124 Brandhorst, Mario 45 Breyer, Thiemo 119 Buytendijk, F.[rederik] J.[acobus] J.[ohannes] 84 Caputo, John D. 131 Cholbi, Michael 46 f. Cicero, Marcus Tullius 15 f. Cooley, Dennis R. 46 f. Critchley, Simon 109 f., 113 f. Dabrock, Peter 113 Denis, Lara 35 f., 47

Depktat, Volker 65 Derrida, Jacques 123 Di Fabio, Udo 56 Dietrich, Walter 106 Dietz, Simone 69, 71 f. Durán Casas, Vicente 36 Düsing, Klaus 82 Ebbinghaus, Julius 39 Elster, Jon 57 Engberd-Pederson, Troels 14, 16 Epictetus 13, 15 Esser, Andrea 29, 102, 109 Eulitz, Sarah 35 Fergusson, David 105 Fischer, Johannes 110 f. Fischer, Klaus P. 104 Forschner, Maximilian 29 Foucault, Michel 13 f., 95 f. Frankfurt, Harry G. 117 Fuchs, Thomas 107, 118 Funke, Gerhard 12 Gebauer, Gunter 127 Gerhardt, Volker 29, 129 Giger-Bütler, Josef, 113 Goertz, Stephan 10 Goffman, Erving 97 Gutmann, Thomas 18, 109 f. Hadot, Pierre 17 Hähnel, Martin 84 Haig, Matt 110 f. Halbig, Christoph 83 Haller, Albrecht von 101 f. Hartmann, Nicolai 92 Heit, Alexander 37 Henrich, Dieter 37 Herdt, Jennifer A. 88

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Namensregister Hill, Thomas E. 21, 35, 46, 52, 65 Hills, Alison 65 Hobbes, Thomas 20 Hoesch, Matthias 10 Höffe, Otfried 48, 50 Hoffman, Ginger A. 119 Hofmansthal, Hugo von 129 Höfner, Markus 52 Horn, Christoph 15 f. Hossenfelder, Malte 14–16 Huber, Wolfgang 112 f. Hume, David 9 f., 35 Ibsen, Henrik 9 f., 82, 122, 129 Ichheiser, Gustav 97 Irrgang, Bernhard 28 Irwin, Terence H. 87 Jaspers, Karl 83, 85 Joas, Hans 44 Johnson, Robert N. 117 Johnson, Ryan M. 95 Jüngel, Eberhard 105, 117 Kading, Daniel 22 Kant, Immanuel 5, 9, 15–17, 23, 25, 26 f., 29 f., 32–60, 62, 66–77, 79 f., 88, 95, 101–104, 108–110, 114 f., 119 f., 120, 122, 125, 127 Karle, Isolde 115 Khurana, Thomas 29, 37, 55, 102 Kidd, Ian G. 15 Kierkegaard, Søren 107 f., 118 Kluge, Friedrich 12 Köhler, Michael 18 Korsgaard, Christine M. 18, 31 f., 54, 58, 71 Kurbacher, Frauke Annegret 96 Landman, Janet 61 f. Lasch, Christopher 66 Laube, Martin 105 f. Lejeune, Philippe 65 Leonhardt, Rochus, 71 Lester, David 110 f. Leutzsch, Martin 47 Lilie, Ulrich 114 f. Link, Christian 104–106 Lipps, Hans 97 Lohmar, Achim 10, 54, 129 Louden, Robert B. 29, 101

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Luckner, Andreas 129 Lukács, Georg 18 Luther, Martin 87, 103 f., 106 f., 127 Macho, Thomas 108 Mackie, John Leslie 45 Marschall-Bradl, Beate 77 Martschukat, Jürgen 127 Meier, Georg Friedrich 9, 47, 124 Menke, Christoph 66 Mill, John Stuart 18 Miller, Marisa L. 95 Moser, Elias 18, 113 Nagl-Docekal, Herta 33 Neckel, Sighard 73 Neumeier, Otto 25 O’Neill, Onora 42 Parfit, Derek 58, 65, 124 Paton, Herbert James 69, 76 Pfordten, Dietmar von der 19 Pinzani, Alessandro 55 Platon 13, 29, 70, 118 Plessner, Helmuth 91 f. Pöschl, Viktor 48 Potter, Nelson 70 f. Precht, Richard David 12, 130 Pufendorf, Samuel [von] 20 Ratschow, Carl Heinz 105 Rau, Johannes 114 f. Reichardt, Sven 66 Rentsch, Thomas 86, 91 f. Ricœur, Paul 64, 66, 124 Röcke, Anja 127 Rorty, Amélie Oksenberg 88 Rosefeldt, Tobias 37 Roth, Michael 111 Rousseau, Jean-Jacques 9, 33 Safranski, Rüdiger 129 Sallustius Crispus, Gaius 67 Sarasin, Philipp 66 f. Sartre, Jean-Paul 96 f. Schaber, Peter 10, 25, 35, 72 Scheler, Max 11, 17, 29 Scheliha, Arnulf von 106 Schenk, Günter 47 Schirach, Ferdinand von 111 Schlenker, Barry R. 95 Schmid, Wilhelm 29

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Namensregister Schmidt, Elke E. 75 Schmidt, Jochen 10, 27, 44, 66 f., 70, 72, 87, 98, 103, 123, 131 Schmitz, Hermann 86 Schofield, Paul 10, 31, 54, 57 f., 108, 121 Schönecker, Dieter 75 Schopenhauer, Arthur 9, 30–32 Schulz, Heiko 71 Seneca, Lucius Annaeus 15 Sensen, Oliver 40 f., 45, 48 Shakespeare, William 72 Sharp, Robert 46 f. Sidgwick, Henry 31 f. Singer, Marcus G. 54 Slaby, Jan 82 Solomon, Robert C. 89 Speitkamp, Winfried 49, 52 Stangneth, Bettina 72, 79 Strasser, Peter 25 f. Straus, Erwin 81 f., 84 Svoboda, Toby 25 Swanton, Christine 83

Taylor, Charles 14 f., Theunissen, Michael 107, 118, 120 Thomä, Dieter 81 Thomas von Aquin 9 Thomas, Philipp 124 Timmermann, Jens 23, 25, 72 Trampota, Andreas 37, 39, 59 Tugendhat, Ernst 13, 117 Velleman, J. David 32, 110, 119 Weber-Guskar, Eva 45, 93 f. Weidemann, Hermann 29 Westphal, Kenneth R. 39 Weyer-Menkhoff, Stephan 111 White, Vernon 104 Wick, Warner 117 Williams, Bernard 31, 49, 52, 120 Wils, Jean-Pierre 114–116 Wittgenstein, Ludwig 20 Wittwer, Héctor 34, 109 Wolff, Christian 9, 34 f., 124 Wüschner, Philipp 82, 84, 86 Wüthrich, Matthias D. 52

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Sachregister

Abhängigkeit 91, 126 Affekte 92, 96 Andersseinkönnen 103 Angemessenheit 53 f., 60, 63, 66, 84, 102, 137 Angewiesenheit 102 Arbeit 81, 120, 131 Authentizität 64, 66 Autonomie 43, 135, 138 – Nicht- 113 Bedauern, Indiz für eine Verletzung von Pflichten gegen sich selbst 31, 61, 65 Blick des anderen 50, 52, 73, 85, 95, 112 f., 126 Blick Gottes 127 Desintegrität 77 f., 95 Differenz 92, 97, 108 dynámeis 83 échein 82 Egoismus 129 Ehre 47–50, 52 f., 73 Ehrliebe 47, 49, 73 Ehrsucht 48 Emotion 90, 93 Endlichkeit 102 Entehrung 47 Erlösung 98, 105 Ernst 107, 118 – -haftigkeit 56, 106, 112 f., 117 f. Ethik – antike und moderne Ethik 12 f., 17, 119, 130

– hermeneutische Ethik 27. 130 f. – normative Ethik 10 f., 13, 19, 31 f., 67, 75, 81, 116, 118, 121, 123 Existenz 9, 29, 33, 36 f., 40, 58, 80, 100 f., 106, 123 f., 126 Fehlbarkeit 101 Freiheit – -smaschine 102 – äußere Freiheit 49, 55, 122 – gebundene Freiheit 56 – geschichtliche Freiheit 34, 55, 57 – Handlungs- 49 – Herrschaft der Freiheit 39 – innere Freiheit 38 f., 49, 115 – Pflicht und Freiheit 33, 50, 56, 62, 130 – positive und negative Freiheit 39 f., 113 – Un- 11, 39 – Verwirklichung der Freiheit 56 Fremdbestimmtheit/Fremdbestimmung 48, 114, 122 Fürsorge 119 Futur II 60, 123 Gabe 26, 98, 110 Geltung 11, 27, 37, 78 f., 94, 102, 108, 115, 126 Gemüt 38 Gesellschaftsvertrag 33, 38 Gesetz, moralisches 39, 43, 47, 54, 77, 102 Gesinnung – reine Gesinnung 101 – Revolution in der Gesinnung 104

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Sachregister Gewissen 70 Glaube 28, 101, 105–107, 128 Glück 15, 17, 29 – und Moral 17 Gnade 27, 103, 127 Gott 25, 30, 100–104, 106, 110, 118 – göttlicher Normgeber 23, 25 Gründe 19 f., 23, 34, 56, 71, 78 f., 98, 111–113 Halt 11, 17 f., 32, 91, 98, 112 – -losigkeit 32, 119, 126, 128 Haltung – äußere Haltung 86, 94, 97 f., 126 – gewahrte Haltung 81, 86, 92 – Habitus 37, 39, 59 – Innenseite der Haltung 86, 91, 99 – innere Haltung und äußere Haltung 86 – Körper- 83 – Meta- 97, 125 – Prätention von Haltung 88, 90 – Schauseite der Haltung 91, 98 Handeln, Handlung 11 f., 15, 36, 41, 44, 55 f., 63, 76, 87, 91, 94 f., 98, 104– 107, 109, 111, 120–122, 129 Heiligkeit 35, 43–45, 98, 101–104, 110, 114 Hermeneutik 13, 131 Herz 102 – -ensänderung 104 héxis 83–85, 96 Hoffnung 98, 103 Imagination 27, 54, 56–60, 62 f., 94, 108, 111, 123, 131 Inauthentizität 97 Individualismus 54, 129 Individuum 17, 55, 117 Instrumentalisierung 12, 45, 50, 71 Integrität 79 f. Interpersonalität 79 f., 85, 90 f., 121, 126, 128 kategorischer Imperativ 111 Klugheit 129 Kohärenz 94, 123 f.

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Kommunikation 69, 77 f. Körper 39, 92 Leben – -sführung 18, 53 f., 60, 126–128, 135, 141 – -sgeschichte 27, 63 – -sgesetz 15 – -skunst 13, 135 – -swirklichkeit 105, 130 Leib 91 – Medium zur Kommunikation 92 Lüge 65, 67–80, 87, 95, 106, 125 – innere Lüge 70 – Lüge gegen sich selbst 70, 79, 87 – Not- 69–71, 79 f. – Rückstoß der Lüge 76 f. Maske 86, 97 Maxime 41 f., 76, 104 Mensch – -heit 32–36, 38, 40 f., 43–46, 50, 55, 57, 68, 73 – als Zweck an sich 12, 34–36, 39 f., 42 f. – homo noumenon 27, 32 f., 36 f., 39 f., 43, 45 f., 50, 53, 55–57, 60, 62, 74–77, 108, 122 – homo phaenomenon 27, 32 f., 36– 37, 39 f., 43, 46, 50, 55, 60, 74–76, 95, 108, 122 – Natur des Menschen 14 f., 56, 74 mesótēs 84 Metaphysik 33, 53, 57, 128 Mitgefühl 31 Moral 10, 18, 29, 31, 38, 42, 47, 54, 71, 95, 116 f., 124 – -fanatismus 16, 31 – moralischer Rigorismus 16 Moralität 42, 78, 86, 92 Nächstenliebe 42 Narzissmus 129 Naturrecht 25, 40, 110 Negativität 28, 131 Norm 13

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Sachregister Offenheit 96–99, 124 Orientierung 37, 81 Passivität 98 Paternalismusvorbehalt 18 Persönlichkeit 32, 36 Pflicht (passim) – Bindekraft der Pflicht 20, 34, 116, 120 – kathekonta 134 – Liebespflichten 31 f. – Meta- 80, 106, 115, 118 – Pflicht und Zwang 11, 17, 34, 57, 99 – Pflicht zu leben 45 f., 51, 113 – Rechtspflichten 31 f. – Verpflichtungsverhältnis 19–22, 24 f., 31 f., 58, 60, 65, 74, 129 Pflichten gegen sich selbst – Adressat, Ursprung und Begünstigter der Pflichten gegen sich selbst 19, 24 f., 43, 61, 63 – als Widerstand 10 f., 21 f., 24 f., 59, 81–85, 90, 92, 99, 115 f., 119, 121, 126, 128 f., 131 – Grenzen der Pflichten gegen sich selbst 13, 17, 27, 40, 53, 70, 92, 99– 103, 111, 115, 127 f. – Pflichten gegen sich selbst als Krisenphänomen 31, 85, 95, 112, 119 f. – Pflichten gegen sich selbst als solipsistisch 91, 118, 129 – Pflichten gegen sich selbst und Pflichten gegen andere 9, 11–13, 19, 23, 25, 30, 41, 71–74, 77, 79, 114, 120 f., 125, 129 Phänomenologie 86, 91, 142 Prädestination 106 Rechtfertigungslehre 103 Redlichkeit 142 Resilienz 82, 119 Resonanz 90 Resubjektivierung 96–98, 126, 131 Scham 49, 52, 73 f., 91 – -esröte 74, 79 Schein 10, 75, 120

Schuld 20, 49, 52, 73, 118 Selbst – - distanz 108, 128 – -achtung 35, 47 – -ausdruck 92 – -bezüglichkeit 13 – -bild 61, 65, 93, 96 – -bindung 46, 129 – -darstellung 66, 92, 97 – -entfremdung 97 – -entzweiung 18, 108 – -erfüllung 129 – -erkenntnis 57, 70 – -erzählung 64, 71, 115, 117 – -liebe 31 – -optimierung (s. Selbstvervollkommung) 127 – -schätzung 35, 47 – -sorge 12–14, 29, 119 – -täuschung (s. Lüge gegen sich selbst) 79, 97 – -verhältnis 13, 44, 50, 108, 126 – -verpflichtung 127, 129 – -vervollkommnung (s. Selbstoptimierung) 66, 102 f., 124 – -verwirklichung 21, 55 – -wahrnehmung 92 – aktuales Selbst 61 f., 66, 94, 108 – früheres Selbst 66 – letztes Selbst 107 – multiple-selves-Theorien 57, 78, 127 – -perfektionierung 127 – Treue zum eigenen Selbst 78, 106 – vergangenes Selbst 62, 111 – verpflichtendes Selbst 94 – verpflichtetes Selbst 24, 38, 60 – zukünftiges Selbst 27, 54, 56–58, 60–63, 65 f., 95, 99 f., 103, 107 f., 124, 129 f. Sittlichkeit 34, 39 Sorge (s. Fürsorge) 10, 12 f., 15 f., 31, 64, 104, 119, 130 Sprache 12, 68 f., 76, 78, 103 Sprachmaschine 74–76 Starrsinn 82

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Sachregister Sterben 107 Suizid 29 f., 34, 36, 38, 41, 43, 46 f., 51, 75, 108 f., 111–113, 115, 119, 122, 128 Talente 117 Tod 105, 110 f., 114, 116 Tugend 37, 39, 59, 81, 83–90, 92, 95, 126, 130 – Aneignung von Tugend 87 f., 123 – Pseudo- 86–89, 91 f. Unendlichkeit 102 Ungerechtigkeit 83–85 Unlauterkeit (s. Lüge) 70 Unrecht 20, 31, 35, 122 Unterlassung 55, 127 Unverfügbarkeit, Unverfügbares 98, 104, 110, 131 Unverletzlichkeit 44 Verantwortung 108, 117, 129 Verletzlichkeit 51, 80 Vernunft 13 f., 17, 29 f., 32, 35, 37–41, 43, 48, 50, 66, 70, 72, 75, 101–103, 124 – -begabung 43 Versprechen 20, 36, 62, 64 f., 76 – gegenüber sich selbst 66

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Vorsehung 27, 34, 79, 104–107 Vorstellungskraft 62, 64, 106 Vorwegnahme 94 f. Wahrhaftigkeit 33, 64 f., 67 f., 70–72, 74, 79 f., 100, 106, 118, 125 f. – Un- 70, 72, 75, 79 Wahrheit 13, 30, 65, 70, 72, 79, 87 f. Wahrnehmung 70, 107 Welt – -begegnung 85 – -ordnung 14, 17 – Überwältigtwerden durch Welt 85 Wert 35, 42, 45, 49, 51, 61, 78, 110 Wunsch 36, 88, 94, 96, 113 Würde 35, 37, 40 f., 44–46, 48, 52, 58, 73, 93, 109 – als Mitgift 35, 110 Zeit 10, 57 f., 89, 111 f., 129 – -lichkeit 11, 28, 91, 111, 123, 130 – -losigkeit 27, 53 Zorn 83, 85 Zukunft 54, 61–63, 100, 104, 106 f., 109–111, 113, 115, 128 Zustimmung 16, 22, 41, 45, 56, 60, 71, 112, 122 f., 125 Zwei-Welten-Theorie 55 Zweifel 107

ALBER THESEN

Jochen Schmidt https://doi.org/10.5771/9783495999790 .

Dank

Die hier festgehaltenen Überlegungen haben sich in einer Zeit formiert, die uns als (Beginn der) Zeit der Corona-Krise in Erinnerung bleiben wird. Was auch immer uns diese Zeit im Rückblick gelehrt haben wird: dass jedenfalls gemeinsam gelebter Wille zum Lernen sich mit etwas Glück gegen die Erschwernisse eines Lebens unter Pandemiebedingungen zumindest teilweise durchsetzen kann, durfte ich vielfach erfahren, erstmals in einem Hauptseminar über Pflichten gegen sich selbst im Sommersemester 2020 an der Universität Paderborn, dessen Teilnehmerinnen und Teilnehmern herzlich gedankt sei für kritische Rückfragen. Ein besonderer Dank gilt auch Muhammad Legenhausen, der das gesamte Manuskript kritisch kommentiert hat. Für die Durchsicht des Manuskripts danke ich Sarah Eulitz, Rebecca Meier, Charlotte Osthaus und Lisa Zielke; Eileen Hauptmeier hat dankenswertweise das Namensverzeichnis erstellt. Für die Aufnahme des Buches in die Reihe Alber Thesen Philosophie danke ich Martin Hähnel vom Verlag Karl Alber. Für immer neue Ermutigung zu diesem Projekt und für viele Gespräche über dessen gedanklichen Weg während der gesamten Zeit seiner Entstehung danke ich Anda-Lisa Harmening. Jochen Schmidt

Was wir uns schulden

A https://doi.org/10.5771/9783495999790 .

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