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German Pages [441] Year 2016
Jrgen Hasse
Was Räume mit uns machen – und wir mit ihnen Kritische Phänomenologie des Raumes
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495860540
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B
Jürgen Hasse Was Räume mit uns machen – und wir mit ihnen
VERLAG KARL ALBER
A
https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Räume gibt es nicht nur im topographischen, kulturellen, ökonomischen und politischen, sondern auch im leiblichen Sinne. Atmosphärisch entfalten sie spürbare Macht über die Gefühle der Menschen; in sakralen Milieus anders als auf den kulturindustriellen Bühnen subversiver Manipulation. In den Mittelpunkt des Bandes rückt nicht der Raum der Geographen und Landvermesser, in dem die Dinge relational geordnet sind, sondern der mit Vitalqualitäten besetzte leibliche Raum. In einem Gefühlsspektrum, das sich situativ zwischen Weite und Enge differenziert, werden Umgebungen als einladend und entspannend oder als abweisend und beengend erlebt. Über die Brücken »leiblicher Kommunikation« werden solche Milieus als »umwölkende« Herumwirklichkeiten spürbar. Thema des Buches sind nicht umweltliche Konstellationen, sondern mitweltliche Situationen, die in einem »Akkord« der sinnlichen Wahrnehmung ganzheitlich erfasst werden. An Beispielen wird sich zeigen, dass die phänomenologische Sicht auf den leiblichen Raum kritische Erklärungsansätze für die Sozialwissenschaften anzubieten hat. Auf einer interdisziplinären Schnittstelle kommen nicht nur die Adressaten und Betroffenen atmosphärisch gestimmter Räume in den Blick, sondern – wo diese nach gesellschaftlichen Interessen hergestellt worden sind – auch die planenden Akteure suggestiver Inszenierungen. Der Band setzt sich in 20 Beiträgen mit dem Verhältnis von Raum und Gefühl auseinander. Im Fokus stehen Situationen der Vergesellschaftung des Menschen. Sie schlagen Brücken von der (Neuen) Phänomenologie zu Sozialwissenschaften, Stadtforschung, Architekturtheorie und anderen Disziplinen.
Der Autor: Jürgen Hasse, geb. 1949, Professor am Institut für Humangeographie der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Arbeitsgebiete: Räumliche Vergesellschaftung des Menschen, Raumund Umweltwahrnehmung, Stadtforschung, ästhetische Bildung.
https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Jürgen Hasse
Was Räume mit uns machen – und wir mit ihnen Kritische Phänomenologie des Raumes
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
2. Auflage 2015 © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2014 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48638-2 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86054-0
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Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.
11
1.1 1.2. 1.3. 1.4. 1.5. 1.6.
Räume menschlichen Lebens. Zur Ontologie von Raum und Räumlichkeit zwischen Natur und Kultur . . . . . . . . . Der mathematische Raum . . . . . . . . . . . . . . . Der symbolische Raum . . . . . . . . . . . . . . . . Der soziale Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der leibliche Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Situationsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . Denkräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
21 22 24 28 31 35 39
2. 2.1. 2.2. 2.3. 2.4.
Die Stadt als Raum der »Patheure« . . . . . . Die konstruktivistische Reduktion des Raums Stadt der Patheure . . . . . . . . . . . . . . Mythische Räume . . . . . . . . . . . . . . Wissenschaft und Mythos . . . . . . . . . .
. . . . .
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43 43 45 46 47
3.
Leibliche Kommunikation und Architektur. Zur Bedeutung synästhetischer Wahrnehmung . . . . . . . . . Leibliche Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 »Klingende Profile« und »gläserne Schiffe« . . . . . 3.1.2 Zur Geringschätzung synästhetischen Wahrnehmens Synästhesien in der Phänomenologie . . . . . . . . . . . 3.2.1 Synästhetische Charaktere in der Neuen Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . Synästhetische Charaktere in der Architektur . . . . . . . 3.3.1 Justizpalast von Boullée (um 1780) . . . . . . . . . 3.3.2 »Fallingwater« von Frank Lloyd Wright (1935–1939) Die Bauformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Baustoffe und ihre Materialität . . . . . . . . . . . .
3.1.
3.2.
3.3.
3.4. 3.5.
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
49 49 52 54 57 59 63 66 68 69 72
5 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Inhalt
4. 4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 4.5. 5. 5.1. 5.2. 5.3. 5.4. 5.5. 5.6. 5.7. 5.8. 6. 6.1. 6.2. 6.3. 6.4. 6.5. 6.6. 6.7. 6.8. 6.9.
Ernährung – eine Dimension sinnlicher Erfahrung. Eine ästhetische Kritik der Kultur des Essens und Trinkens . . . . »Ernährung« versus essen und trinken . . . . . . . . . . Die Atmosphären des Essens . . . . . . . . . . . . . . . Der eine und der andere Geschmack . . . . . . . . . . . . Die symbolische Codierung der sinnlichen Dimension von Lebensmitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die sinnliche Transformation des Essens . . . . . . . . . Nähe- und Ferneverhältnisse im Essen. Das Beispiel der Garnele . . . . . . . . . . . . . . . . . . Essen – ein Thema der Wirtschaftsgeographie? . . . . . Ethische Implikationen des Essens . . . . . . . . . . . . Rudimente zur Biologie der Garnele . . . . . . . . . . . Fischerei, Zucht und Verarbeitung . . . . . . . . . . . . Die Garnele als Nahrungsmittel . . . . . . . . . . . . . Der ästhetizistische Rahmen des Ethischen . . . . . . . Das ethisch und ästhetisch gespaltene Verhältnis zum gegessenen Tier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umriss einer holistischen Ethik des Essens und der Natur Stadt als diffuser Begriff. Zur Erhellung und Verschattung des Wirklichen durch kontingente Begriffe . . . . . . . . . . Der Begriff der Stadt als unscharfe Bezeichnung . . . . Die Rolle von Welt- und Menschenbildern . . . . . . . Begriff und Metapher . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Ontologie der Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Stadt als Gegenstand der Phänomenologie . . . . . Grenzen der Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Verhältnis von Rationalität und Irrationalität in der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Stadt ist ein situativer Raum . . . . . . . . . . . . Zum Beispiel: Der Slum als Situation der Megapolis . .
. . . . . . .
78 79 82 84 87 92
96 96 97 100 102 108 109
. 112 . 115 . . . . . . .
120 123 124 127 128 129 130
. 132 . 135 . 138
7.
Stadtraum im Gleichgewicht. Das eine und das andere (Be-) Denken der Stadt . . . . . . . . 7.1. Gleichgewichte und Ungleichgewichte in stadträumlichen Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2. Stadtforschung im (Un-) Gleichgewicht . . . . . . . . . . 6 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
142 143 145
Inhalt
7.3. Wissen – Kommunikation – Denken . . . . . . . . . . . 7.4. In der Provinz wissenschaftlicher Diskurse . . . . . . . . 8.
Zum Situationscharakter des Wohnens. Kann man »Wohnen« üben? . . . . . . . . . . . . . . . Wohnen – eine Orientierung . . . . . . . . . . . . . Die Wohnung als Hort von Situationen . . . . . . . . Die Lagerung persönlicher in gemeinsamen Situationen 8.3.1 Wohnen im Kloster . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.2 Wohnen in der Seemannsmission . . . . . . . . Zur Bedeutung der Dinge . . . . . . . . . . . . . . . Das Wohnen üben . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
146 149
. . . . . . . .
. . . . . . . .
151 152 153 155 155 157 160 161
. . . .
. . . .
. . . .
166 166 168 170
10.3. 10.4. 10.5. 10.6.
Stadt und Gefühl. Zur postmodernen Ästhetisierung der Städte . . . . . . Der postmoderne Glanz der Städte . . . . . . . . . Zum Verstehen ästhetischen Raumerlebens . . . . 10.2.1 Der »gelebte Raum« . . . . . . . . . . . . 10.2.2 Der atmosphärische Raum . . . . . . . . . 10.2.3 Rationalität und Irrationalität im Stadtleben Städtische Illumination – sentimentales Licht . . . Gärten: Emotionale Grünräume . . . . . . . . . . Architektur und Mythos . . . . . . . . . . . . . . Wissenschaftspsychologische Konsequenzen . . . .
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174 175 179 181 185 189 192 193 194 197
11. 11.1. 11.2. 11.3. 11.4. 11.5. 11.6.
Atmosphären der Stadt. Die Stadt als Gefühlsraum . . . . Atmosphären im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . Das Übergehen (und die Wiederaneignung) der Gefühle Atmosphären als Gegenstände der Konstruktion . . . . Zum Verhältnis von Atmosphären und Stimmungen . . Zur sinnlichen Erlebbarkeit von Atmosphären . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . .
202 203 211 213 214 216 224
8.1. 8.2. 8.3.
8.4. 8.5. 9.
»Ein apfelgrüner 2CV.« Über die Schwierigkeiten, einen Ort zu beschreiben . . . . 9.1. Einstimmende Zusammenfassung . . . . . . . . . . 9.2 Der Raum eines Platzes . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Versuch einen Platz zu erfassen – ein Selbstversuch? 10. 10.1. 10.2.
7 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Inhalt
12. 12.1. 12.2. 12.3. 12.4. 13. 13.1. 13.2. 13.3. 13.4. 13.5.
Atmosphären und Stimmungen. Gefühle als Medien der Kommunikation . . . . . . . . . . . Zur Ontologie von Atmosphären und Stimmungen . . . Atmosphären als Stimmungsmedien . . . . . . . . . . . Gärten als konstruierte Gefühlsräume und atmosphärische Stimmungsmedien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die postmoderne Stadt im schönen Schein . . . . . . . . Zur kommunikativen Macht von Atmosphären. Zur Bedeutung von Atmosphären im Regieren der Stadt . . . Was sind Atmosphären? . . . . . . . . . . . . . . . . Atmosphären und Stimmungen . . . . . . . . . . . . Atmosphären sind Medien der Kommunikation . . . . Atmosphären entfalten Macht . . . . . . . . . . . . . Atmosphären verstehen – im Regieren der Stadt wie des eigenen Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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14. 14.1. 14.2. 14.3.
Die Brache. Eigenart und Atmosphäre Eigenart von (Industrie-) Brachen Atmosphäre der Verlassenheit . . Die Brache in der Stadt . . . . . .
15.
Atmosphären des Lichts – immersive Medien des Urbanen. Künstliches Licht zwischen kulturindustrieller Sedierung und einer Kritik der Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Atmosphären des Lichts und Urbanität . . . . . . . . . Diskurse über Licht und seine atmosphärische Wirkung Zur Ontologie von Atmosphären des Lichts . . . . . . Die Illumination des Profanen: das Parkhaus als exzentrischer Ort . . . . . . . . . . . Weihnachtsbeleuchtung . . . . . . . . . . . . . . . . Licht-Kunst im öffentlichen Raum . . . . . . . . . . .
15.1. 15.2. 15.3. 15.4. 15.5. 15.6. 16. 16.1. 16.2. 16.3. 16.4.
Atmosphären im heiligen Raum. Zur Autorität von Gefühlen im heterotopen Raum . . . . . Kirchen als heterotope Bauten . . . . . . . . . . . . Der sakrale Raum als sinnlich-ästhetischer Raum . . Zum Zusammenhang von Atmosphäre und Bewegung Macht durch Einfluss . . . . . . . . . . . . . . . . .
8 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
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227 228 233 238 244
249 250 254 257 259
. 260 . . . .
266 266 271 273
. . . .
276 277 281 283
. 287 . 290 . 292 . . . . .
297 297 299 300 302
Inhalt
16.5. Die Macht numinoser Atmosphären . . . . . . . . . . . 16.6. Atmosphärologische Medien . . . . . . . . . . . . . . . 16.7. Raum der Besinnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.
17.1. 17.2. 17.3.
17.4.
18. 18.1. 18.2. 18.3. 18.4.
304 305 308
Die Küste als gelebter Raum und die Sprache der Wissenschaft. Formen ästhetischer Anschauung an den Rändern der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Die eine und die andere Küste . . . . . . . . . . . . . . 309 Küste und Meer – in der Sprache der Naturwissenschaften 314 Küste und Meer – Atmosphären ästhetischen Erlebens . . 315 17.3.1 Der Malstrom (Edgar Allan Poe) . . . . . . . . . 316 17.3.2 Das Meer (Jules Michelet) . . . . . . . . . . . . . 320 Über die mögliche Bedeutung von Gefühlen im wissenschaftlichen Denken . . . . . . . . . . . . . . . . 328 Landschaft. Zur Konstruktion und Konstitution von Erlebnisräumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die naturwissenschaftliche Landschaft . . . . . . . Landschaft – zwischen Realität und Wirklichkeit . . Landschaft – phänomenologische Annotierungen . . Erlebnislandschaften – imaginiert und inszeniert . . 18.4.1 Die poetisch beschriebene (Stadt-) Landschaft 18.4.2 Die qua Architektur eingeräumte Landschaft 18.4.2.1 Casa Mar Azul (Argentinien) . . . 18.4.2.2 Villa M 2 (Malmö) . . . . . . . . 18.4.2.3 Restaurant Tusen (Ramundberget) 18.4.2.4 Gipfelplattform »Top of Tyrol« (Stubaier Gletscher) . . . . . . . . 18.4.2.5 Elbphilharmonie (Hamburg) . . .
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. . . . . . . . . .
335 336 337 339 341 342 344 345 348 350
. . . 352 . . . 353
19.
Bestattungsorte. Zur Atmosphäre sepulkralkultureller Räume der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.1 Sepulkralkulturelle Räume im Allgemeinen . . . . . . . 19.1.1 Zum Begriff der (sepulkralkulturellen) Atmosphäre 19.1.2 Atmosphären als mythische Vermittler . . . . . . 19.2 Sepulkralkulturelle Orte und ihre Atmosphären . . . . . 19.2.1 Heterotope Räume und ihre Atmosphären . . . . 19.2.1.1 Der Friedhof . . . . . . . . . . . . . . . 19.2.1.2 Das Einzelgrab – Ort des Begräbnisses . .
356 358 358 359 362 362 363 365 9
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Inhalt
19.2.1.3 Feuerbestattung – Kolumbarien und Urnengräber . . . . . . . . . . . . . . 19.2.1.4 Mausoleen . . . . . . . . . . . . . . . 19.2.1.5 Gemeinschaftsfelder . . . . . . . . . . 19.2.1.6 Gedenkorte . . . . . . . . . . . . . . 19.2.2 Extra-heterotope Räume und ihre Atmosphären 19.2.2.1 Friedwälder . . . . . . . . . . . . . . 19.2.2.2 Seebestattung . . . . . . . . . . . . . 19.2.2.3 Luftbestattung . . . . . . . . . . . . . 19.2.2.4 Andere Urnen- und Ascheverortungen 19.3 Verortungen des Todes . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
368 372 375 377 378 378 382 384 385 387
. . . . . . .
389 389 393 397 399 400 401
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
405
Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
426
Abbildungsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
428
20. 20.1 20.2 20.3 20.4 20.5 20.6
Zur Atmosphäre einer imaginären Landschaft. Die »Toteninsel« von Arnold Böcklin . . . . . . . . . . . . Atmosphäre und Aura . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Toteninsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Eindrucksmacht des Numinosen . . . . . . . . . . Landschaft als Konstruktion? . . . . . . . . . . . . . . Das konstitutive Moment im Erleben von Landschaften Die Toteninsel – eine denkwürdige Landschaft . . . . .
Sachregister
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429
10 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Einleitung
Nicht alles, was Menschen in vitalen Situationen ausmacht, ist Ausdruck intentionaler Handlungen und intelligibler Entwürfe. In einem Strom der Ereignisse (des Sozialen wie der Natur) entfalten sich Eindrucksqualitäten, die oft weniger den klaren Verstand herausfordern, dafür umso mehr affektiv berühren. Wo immer Menschen das Gefühl haben, in den diffusen Sog einer Umgebung zu geraten und durch die Präsenz einer Atmosphäre gestimmt zu werden, tut sich eine Grenze der Rationalitäten auf. Schon das Wetter lässt uns nicht kalt. Deshalb empfinden wir ein sich zusammenbrauendes Gewitter nicht selten als atmosphärisches Knistern. Komplexe umweltliche Situationen berühren und entfalten in ihrer immersiven Eindrücklichkeit Macht über das persönliche Befinden. Sakrale Räume stimmen uns in anderer Weise als Markthallen, Kaufhäuser oder öffentliche Räume des Spektakels. Wenn die affizierenden Situationen dieser und anderer Art auch unterschiedlich sein mögen, so konstituieren sie doch Erlebniswirklichkeiten, die Menschen lebensweltlich nur sehr bedingt planend und intentional in die eigene Hand nehmen können. In seinem performativen Charakter entzieht sich der Strom der Ereignisse weitgehend jeder zielsicheren Planung. Gefühle entfalten nicht erst deshalb ihre Macht über das subjektive (individuelle wie kollektive) Befinden, weil sie von bestimmten Akteuren absichtsvoll arrangiert worden sind (im sakralen Raum durch die Praktiken der Liturgen oder im öffentlichen Raum der Stadt durch die ästhetische Arbeit der Architekten). Oft sind es soziale Begegnungen, die eine gleichsam mitnehmende Affektdynamik in Gang setzen. Mit einer sozialen Situation sind Bedeutungen verbunden, die etwas entweder mehr zu einer Sache des Verstandes – und damit denkbar und verstehbar – oder mehr zu einer Sache des Gefühls – und damit leiblich erlebbar und spürbar – machen. Damit kommen erkenntnistheoretische Variationen im gelebten Umgang mit dem Wirklichen in den Blick, die Spiegel der aktuellen und zuständlichen Situiertheit einer 11 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Einleitung
Person sind. Mit anderen Worten: Die affizierende Reichweite einer »umwölkenden« 1 Atmosphäre kann zwar analytisch und in einer linearen Logik geplant werden; ihre tatsächliche Stimmungsmacht entfaltet sich dagegen erst auf dem Hintergrund individueller wie kollektiver Aufmerksamkeiten und Sensibilitäten. Im Unterschied dazu steht, was im Metier des Plötzlichen gleichsam »mit einem Schlage« 2 trifft und betroffen macht, weit abseits dessen, was der unmittelbaren Verfügung zugänglich gemacht werden kann. Insbesondere in Situationen des Plötzlichen zeigt sich, dass die Individuen nicht immer intelligible Akteure und nicht selbstverständlich Herr ihrer selbst sind. * Die Beiträge dieses Bandes widmen sich jener Schnittstelle, an der Menschen mit Räumen in Berührung kommen. Sie liefern illustrative Beispiele eines vertieften Verstehens von Wechselwirkungsverhältnissen zwischen dem (konstruierten oder sich konstituierenden) Erscheinen einer Umgebung und dem persönlichen Befinden in atmosphärisch umwölkenden Milieus. Damit rückt ein anderer Fokus auf das Raumerleben ins Zentrum als im Mainstream der Sozialwissenschaften. Allzu leicht wird übersehen, dass deren beinahe selbstverständliche Idealisierung des Individuums zum handelnden Akteur sowie die Reduktion des Seienden auf Substanz und Akzidenz ihren erkenntnistheoretischen Preis hat. Der liegt im Verlust von Ressourcen der Kritik, die in besonderer Weise auf jener Schnittstelle liegen, an der planvolles Handeln und leibliches Befinden sowie strategische Macht und ereignisbedingter Zufall ineinander greifen und Wirklichkeit konstituieren. Kritische Phänomenologie findet ihr Zentrum in der Ausleuchtung von Selbst- und Weltbeziehungen, die sich in gefühlsbezogenen Bedeutungen spiegeln. Damit wird der intelligible Akteur in seinem intentionalen Handeln keineswegs unbedeutend, setzt er sein Wissen um die Affizierbarkeit von Menschen bzw. die atmosphärische Aufladbarkeit von Situationen doch planmäßig ein. Auch folgen die dabei intendierten Ziele nur bedingt »persönlichen« Interessen – sofern solche überhaupt eine Rolle spielen. In aller Regel unterliegen gefühlsräumliche Arrangements einer gesellschaftlichen Wirkungslogik. Ich 1 2
Vgl. Tellenbach 1968, S. 111. Schmitz Bd. III/1, S. 21.
12 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Einleitung
werde daher in den folgenden Beiträgen von einer ontologischen Doppelstruktur des Menschen ausgehen, also nicht zwischen Akteuren (den Handelnden) hier und Patheuren (den von Ereignissen leiblich Betroffenen) dort eine trennende Linie ziehen, sondern die Grenze zwischen Akteur und Patheur an der Situation des Individuums festmachen. * Gefühle sind mit Bedeutungen verbunden, die »affektlogische« 3 Wahrnehmungsmuster disponieren. Mit Ausnahme anthropologisch bedingter Reaktionsformen auf Eindrücke (z. B. Angst und Schwindel am tiefen Abgrund) sind Bedeutungen in einem weiteren Sinne erlernt. Wir lernen nicht nur faktisch Erinnerbares, sondern (in ganzheitlichen Situationen) auch moralisch Akzeptables und Inakzeptables, sinnliche Vorlieben wie Idiosynkrasien. Im Umgang mit Situationen des täglichen Lebens greifen wir nicht nur auf kognitives (propositionales) Wissen zurück; zu eindrücklichem Geschehen setzen wir uns auch intuitiv und affektiv über einverleibte Bedeutungen in Beziehung. Am Beispiel der Kulturgeschichte des Essens hat Norbert Elias die Macht des Zivilisationsprozesses als kulturspezifische Formatierung des sich im Prozess der Sozialisation Variierenden eindrucksvoll illustriert. 4 Auch in scheinbar kulturinvarianten Lebensbereichen hat die Zivilisationsgeschichte ihre Spuren in Gestalt einverleibter Bedeutungshierarchien hinterlassen. So werden sinnliche Präferenzen (wie auch der Ekel) ebenso wie geschmacks-ästhetische Orientierungen sowohl biographisch (durch Sozialisationsmilieus wie Familie und Peergroups) als auch gesellschaftlich (insbesondere durch kulturindustrielle Mechanismen) erlernt. Affektive Imprägnierungen und Sensibilisierungen sind aber nicht nur Produkt sozialisatorischer Einwirkungen. Sie entstehen auch zufällig und damit in einer Abfolge von Ereignissen, die nur wenig unter dem Einfluss der vergesellschaftenden Formatierung individuellen und kollektiven Denkens und Fühlens stehen. Mit der performativen Ereignishaftigkeit des Lebens sind auch die Affektregime im Fluss. Welche aufmerksamkeitslenkenden Bedeutungen sie vermitteln, ist 3 4
Vgl. Ciompi 1982. Vgl. Elias 1969.
13 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Einleitung
von zuständlichen wie aktuellen Situationen abhängig. Auch einverleibte Orientierungsmuster bleiben samt der sie tragenden Bedeutungsordnung biographisch und gesellschaftlich in Bewegung. Daher liegen auch im unvorhersehbaren (plötzlichen) Ereignis potentielle Ressourcen der Umschreibung von Sinn. Insbesondere das nachhaltig Affizierende schafft und verschiebt Bedeutungen und damit Selbst- und Weltbilder. Beachtung verdienen dabei weniger große Ereignisse von kulturellem oder politischem Format. Oft ist es schon ein marginales Geschehen, das in seiner Eindrucksmacht Anlass für die Revision subjektiver Bedeutungen und Gefühle gibt. So mag schon der das Wohnhaus überquerende winterliche Flug schnatternder Nonnengänse in der Art seines emotionalen Erlebens das individuelle wie gesellschaftliche Naturverhältnis in seiner Selbstverständlichkeit aufbrechen. Was Räume mit uns machen und wir mit ihnen, ereignet sich nur zu einem Teil auf den Spuren intentionaler Handlungslinien. Dies ist dann der Fall, wenn atmosphärische Arrangements Ausdruck interessenspezifischer Inszenierungen sind. Beispiele sind in der Planung von Kaufhäusern, Schulen, Kirchen, Universitäten, Firmensitzen, Parks, Einkaufsstraßen usw. zahllos zu finden. Im Prinzip folgt jede räumliche Planung, die auf die menschliche Nutzung hin entworfen und realisiert wird, einem Ziel, zu dem es gehört, den Kreis der Adressaten in diese oder jene befindliche Situation zu versetzen. Der immersive Effekt solcher Inszenierungen liegt gerade darin, dass er die Rationalität der Geund Betroffenen unterläuft. Was affiziert, situiert! Insbesondere in der ästhetischen Herstellung der Welt spielen die Menschen doppelte Rollen – als Akteure, die etwas Bestimmtes wollen, und als Patheure, die in Situationen verwickelt werden. Bei alle dem ist das Spiel mit dem Raum nicht nach dem Modell von Bühne und Plenum disponiert. Es gibt keine klaren Grenzen zwischen denen, die etwas mit dem Raum machen, auf der einen Seite und jenen, mit denen der Raum etwas macht, auf der anderen Seite. Wie es schon in der Soziologie der sozialen Welt nicht die autonomen, moralisch zurechnungsfähigen und verantwortlich agierenden Subjekte hier und die von ihnen kolonisierten Subjekt-Objekte dort gibt, so keine fixen Grenzverläufe zwischen Akteuren und Patheuren, zwischen rational agierenden Gestaltern und emotional Betroffenen. Die Grenze verläuft durch das Individuum. Sie bestimmt sich situativ durch den Wechsel zwischen Akteurs- und Patheurs-Identitäten. Der Band liefert dafür zahlreiche Beispiele. 14 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Einleitung
Spontaneität und Lebendigkeit gesellschaftlichen Lebens verdanken sich nicht zuletzt des Überlaufens strukturierter Pläne über die Grenzen des Berechneten und Berechenbaren hinaus. Ihr »Kentern« bedeutet aber nicht nur ein Ausscheren aus vorgezeichneten Stromlinien. Es vermittelt auch Bifurkationspunkte des Sinns, an denen sich im Licht persönlicher Situationen neue Programme konstituieren können, die sich optional von denen ihrer ursprünglichen Kreateure freizumachen vermögen. * Es ist nicht Aufgabe der Phänomenologie, eine gesellschaftstheoretische Perspektive einzunehmen und die Funktion inszenierter Räume zum Beispiel in kulturellen, ökonomischen oder politischen Machtfeldern zu erklären. Wenn das in den folgenden zwanzig Beiträgen aber grundsätzlich geschieht, so kommt darin eine Selbstverortung des Autors in einem interdisziplinären Forschungskontext zur Geltung. Dabei rückt die Frage in den Mittelpunkt, in welcher Weise Bedeutungen, die sich im räumlichen Erleben vermitteln, individuell und kollektiv mit Sinn verknüpft werden und welche Funktion dieser in sozialen Systemen erfüllt. Es stellt sich die Frage nach spezifischen Formen der Synchronisierung persönlicher und gesellschaftlicher Situationen. Konkrete Gegenstandsvorstellungen sowie Selbst- und Weltbilder, die sich in einem Wechselspiel von Sozialisation und Ereignis konstituieren, erscheinen nun in einem Spannungsverhältnis der Macht, in dem kollektivierende Einflüsse der Vergesellschaftung neben solchen individueller Prägung sowie des Zufalls wirksam sind. Während absichtsvoll hergestellte affektive Gefühlssuggestionen die Individuen nach den Funktionsanforderungen komplexer gesellschaftlicher Systeme integrieren, ist das sich situativ und spontan konstituierende Eindruckserleben oft entkoppelt von gesellschaftlichen Systemen und ihren subjektbezogenen Integrationsansprüchen. Gleichwohl fügen wir – schon unserer Orientierung wegen – das eindrücklich Gewordene in vertraute gesellschaftliche Bedeutungsmuster wieder ein. Dabei stellt sich auf dem Hintergrund der Phänomenologie die Frage nach der Logik von Ausdruck und Eindruck. Auf dem Hintergrund der Sozialwissenschaften stellt sich dagegen die Frage nach Sinn und Funktion einverleibter Bedeutungen im Prozess der Integration der Individuen in die gesellschaftlichen Teilsysteme. Der kritische Anspruch der phänomenologi15 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Einleitung
schen Reflexion von Mensch-Raum-Beziehungen liegt daher in deren Verknüpfung mit kulturkritischen Theorien zur Vergesellschaftung des Menschen. Wenn Michael Großheim und Steffen Kluck anmerken, das »Verhältnis zwischen Phänomenologie und Kulturkritik ist weitgehend ungeklärt« 5, so sagt das zunächst etwas über die Haltung der Phänomenologie gegenüber Kulturkritik und gesellschaftswissenschaftlichen Theorien. Aber auch umgekehrt kommt darin die eher distanzierte Haltung gesellschaftswissenschaftlicher Disziplinen gegenüber der Phänomenologie im Allgemeinen zum Ausdruck. Das Lebenswerk bekannter Phänomenologen zeigt indes, dass diese »wesentlich durch die Sorge um die Kultur bestimmt waren. Phänomenologie sollte nicht nur Erneuerung der Philosophie, sondern immer auch Erneuerung der Kultur sein.« 6 Phänomenologie klingt darin als spezifische Form der Kritik an. Auch in der Diagnose von Gernot Böhme drückt sich ein konstruktives und produktives Verhältnis zwischen Phänomenologie und Kulturkritik aus: »Phänomenologie als Kritik zu verstehen, ist, betrachtet man ihre Geschichte, durchaus nicht neu und ungewöhnlich.« 7 So warf Max Scheler seine Aufmerksamkeit über die Grenzen des europäischen Kulturraumes in den asiatischen Raum, um auf nicht unterwerfungsorientierte Naturverhältnisse aufmerksam zu machen. 8 Schon die Anstrengung, das westliche Denken mit kulturell fremden Perspektiven zu konfrontieren, impliziert die Kritik. Besonders herausragende Bedeutung unter den kulturkritischen Phänomenologen hat zweifellos Martin Heidegger, der das westliche Denken insgesamt in einen idiosynkratischen Rahmen spannte. In besonderer Weise kritisierte er die Wissenschaften in ihren Methoden und Präliminarien des Denkens sowie die sich daraus ergebenden erkenntnistheoretischen Konsequenzen. Heidegger dachte gegen den Strom des in den Wissenschaften Gewohnten. Seine Irritationen dessen, was in den Wissenschaften schon seinerzeit als selbstverständlich galt, hatten auch heute nichts an Aktualität und Durchschlagskraft verloren. In besonderer Weise sagte er der Abstraktionssucht der Wissenschaften den Kampf an. 5 6 7 8
Großheim / Kluck 2010, S. 9 Ebd. Böhme 2008. Vgl. Großheim / Kluck 2010, S. 11.
16 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Einleitung
Ein Beispiel, das ins Herz einer abstraktionistischen Welt vor allem gesellschafts-wissenschaftlicher Terminologien trifft und das reibungslose Vorschreiten eines wissenschaftlichen Automatismus der Selbstbekräftigung beunruhigt, mag das illustrieren. Heidegger benutzt das Beispiel eines blühenden Baumes, um danach zu fragen, was dessen Charakter wesentlich ausmacht. »Der Baum und wir stellen uns einander vor, indem der Baum dasteht und wir ihm gegenüber stehen. In die Beziehung zueinander – voreinander gestellt, sind der Baum und wir.« 9 Bei diesem Vorstellen handelt es sich also nicht um »Vorstellungen«, die in unserem Kopf herumschwirren. Man zeigt sich und gibt etwas von sich preis, wenn es auch nur der Name ist, und öffnet sich damit gegenüber dem anderen. Nun spricht zwar kein Baum im engeren Sinne, aber er kommt doch (ästhetisch) zur Erscheinung. Mit einer Reihe erkenntnistheoretisch gemünzter Fragen spitzt Heidegger das Problem noch einmal zu: »Aber steht der Baum im Bewußtsein, oder steht er auf der Wiese? Liegt die Wiese als Erlebnis in der Seele oder ausgebreitet auf der Erde? Ist die Erde in unserem Kopf? Oder stehen wir auf der Erde?« 10 Heideggers Form der Wissenschaftskritik – und damit auch der Kulturkritik – drückt sich in einem provokanten Perspektivenwechsel aus. Er verlässt den Raum der Wissenschaft in einem Sprung – um auf einem Boden anzukommen, »auf dem wir eigentlich stehen«. 11 Schon die Bemerkung, es sei ja »eine unheimliche Sache, daß wir erst auf den Boden springen müssen, auf dem wir eigentlich stehen« 12, liegt im Widerstreit mit den im Allgemeinen nicht metaphorisierenden Methoden der Wissenschaften. Mit ihr ist letztlich aber doch nur gemeint und treffend gesagt, dass sich das wissenschaftliche Denken in seiner terminologischen Kultur und sprachlichen Selbstinszenierung beinahe regelhaft auf einem Abstraktionsniveau bewegt, das kaum noch einen spürenden Kontakt zum lebensweltlich nachvollziehbaren Sein hat oder sucht. Kein Wunder, dass dieses kritische Denken gegen die Macht wissenschaftlicher Denk-Gewohnheiten in eine dem postmodernen Denken Lyotards ähnliche Situation des Widerstreits mündet: Heidegger, 1997, S. 16. Ebd., S. 17. 11 Ebd. 12 Ebd. 9
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17 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Einleitung
»Woher nehmen die Wissenschaften, denen die Herkunft ihres eigenen Wesens dunkel bleiben muß, die Befugnis zu solchen Urteilen? Woher nehmen die Wissenschaften das Recht, den Standort des Menschen zu bestimmen und doch als den Maßstab solcher Bestimmungen anzusetzen.« 13
Wir nehmen im Allgemeinen keinen Anstoß daran, dass die naive Frage nach Gestalt und Wirklichkeit des blühenden Baumes »zugunsten vermeintlich höherer physikalischer und physiologischer Erkenntnisse« 14 unter den Tisch fällt. Und gerade darin insistiert sich die Dringlichkeit dessen, was Heidegger mit der Metapher vom Sprung anspricht – die Verlegung der Abstraktionsbasis im Denken über die Wechselwirkungsverhältnisse zwischen Mensch und Raum von der Ebene der schon bestehenden wissenschaftlichen Theorien auf den Boden der sinnlichen Wahrnehmung. Wenn Bollnow auch kein Repräsentant kritischen Denkens im engeren Sinne ist und auch in der Art seines Denkens nicht mit dem seines Lehrers Heidegger verglichen werden kann, so bahnt doch auch sein phänomenologisches Werk eine Fülle an erkenntnistheoretischen Wegen, an deren Ende die Welt der Wissenschaften in gewisser Weise vom Kopf auf die Füße gestellt wird. Sein 1963 erstmals erschienenes Werk Mensch und Raum 15 liefert ein reichhaltiges Spektrum an lebensphilosophischen Ansätzen eines Raum-Denkens, das nicht die Planung, Handlung und rationale Entscheidung über Dinge im Raum in den Mittelpunkt rückt, sondern die Atmosphären und Stimmungen, die uns in ihrem räumlichen Charakter berühren. In Helmuth Plessners Anthropologie der Sinne wird der konstruktivistische, psychologische und physiologistische Blick auf die Sinne und die Konzeptualisierung der Erkenntnis zum Gegenstand der Kritik. Und so merkt er an: »Der pure Sinneseindruck ist eine Konstruktion der Wahrnehmungslehre und der Erkenntnistheorie« 16. Plessners Menschenbild baut auf der Einsicht in die Verschränkung des Leibes mit dem Körper auf. Folglich sieht er weniger das einzel-sinnlich Separierte und Segmentierte im Geiste einer konstruktivistisch verstandenen Wahrnehmung als vielmehr die Einheit der Sinne und damit jenes synästhetische Verständnis der Wahrnehmung, wofür Willy 13 14 15 16
Ebd., S. 18. Ebd. Vgl. Bollnow 1963. Plessner 1980, S. 327.
18 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Einleitung
Hellpach die treffende Metapher des »Akkords« 17 benutzte. Er stellte sich mit seinem Denken den vom »Blitz der Abstraktion« 18 beherrschten Wissenschaften entgegen. Auch nach Erwin Straus ist die menschliche Welt in erster Linie eine Welt des Erlebens und nicht eine der Kognitionen und Abstraktionen. »Subjekt des Erlebens ist nicht ein Bewußtsein, und nicht ein empirisches Bewußtsein, es ist dieses einmalige leibhafte Wesen, in dessen lebensgeschichtliches Werden die Ereignisse eindringen.« 19 Schließlich baut Karlfried Graf von Dürckheim 20 mit seiner Psychologie vom gelebten Raum (in anderer Weise als Eugéne Minkowski 21 mit seinem Verständnis der gelebten Zeit) ein kritisches Spannungsverhältnis zum gewohnten Denken von Raum und Zeit in Kultur und Wissenschaft der westlichen Welt auf. Ein wesentlicher Beitrag zur gegenwärtigen Weiterentwicklung der Phänomenologie als Methode der Kritik liegt in Hermann Schmitz’ Theorie »leiblicher Kommunikation«, die über die Aussprache subjektiven Erlebens die Bewusstwerdung leiblichen Selbstseins fördern und die Kommunikation über Gefühle und Atmosphären im Raum anbahnen will. Damit tritt sie auch gegen einen sich allzumal in der technologischen Spätmoderne schnell ausbreitenden Einfluss der Abstraktionen auf die Lebenswelt entgegen. Das zu übende Sprechen-können über das eigenleibliche Befinden in (persönlichen, gemeinsamen und gesellschaftlichen) Situationen läuft dabei auf keine esoterische Übung hinaus, sondern eine Differenzierung der Wahrnehmung, die sich nicht zuletzt in einer Steigerung der Sensibilität gegenüber systemischen Kolonisierungen bewährt. An diesem Punkt werden Verbindungen zur Kritischen Theorie Adornos 22, zur Ethnopsychoanalyse Mario Erdheims 23, zur Hermeneutik des Subjekts bei Michel Foucault 24 und schließlich zu den Anthropotechniken bei Peter Sloterdijk 25 deutlich. Damit rückt das produktive Vermögen der Phänomenologie, insbeson17 18 19 20 21 22 23 24 25
Hellpach 1946, S. 61. Plessner 1980, S. 334. Straus 1960, S. 243. Dürckheim 2005. Vgl. Minkowski 1972. Vgl. insbesondere 1971 (zusammen mit Max Horkheimer). Erdheim 1994.2. Foucault 2004. Vgl. insbesondere Sloterdijk 2009.
19 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Einleitung
dere der Neuen Phänomenologie von Hermann Schmitz, für eine kritische Analyse der Vergesellschaftung des Menschen durch ästhetische Medien in einen erweiterten geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Rahmen. * Die folgenden zwanzig Beiträge sind zu thematischen Gruppen zusammengefasst. Die ersten drei Texte sind dem grundlegenden Thema der Wahrnehmung (des Raumes) gewidmet. Aufgrund ihrer Bedeutung für das ganzheitliche Erfassen von Situationen spielen Synästhesien in diesem Kontext eine besondere Rolle. Es folgen zwei Beiträge zur Ethik und Ästhetik der Ernährung. Die darin diskutierte räumliche Dimension von Nähe- und Ferne-Verhältnissen wird in phänomenologischer wie gesellschaftspolitischer Hinsicht reflektiert. Es folgen zwei größere Themenfelder. Die ersten sechs Beiträge bauen in der Diskussion von Fragen des gefühlten, er- und gelebten Raumes theoretische Brücken zur Erweiterung erkenntnistheoretischer Ansätze der Stadtforschung. Die folgenden fünf Kapitel setzen sich mit der Ontologie, Produktion und Funktion von Atmosphären in unterschiedlichen Räumen auseinander. Atmosphären stehen auch im Zentrum zweier Beiträge zur Reflexion von Kulturlandschaften. Zwei den Band abschließende Kapitel befassen sich mit Atmosphären in sepulkralkulturellen Räumen (tatsächlichen wie solchen der Imagination). Mit Ausnahme von drei Beiträgen sind die nun kapitelweise erscheinenden Texte in einer ursprünglichen Version in wissenschaftlichen Zeitschriften oder Sammelbänden erschienen. Anstelle eines singulären Fachbezuges spiegelt sich in den Publikationsorten ein interdisziplinäres Spektrum wider. So erschienen die Beiträge ursprünglich in Publikationsorganen der Naturphilosophie, Medientheorie, Architektur und Architekturtheorie, Ökonomie, Soziologie, Kunsttheorie, Ethnologie und Humangeographie. Zwei Beiträge sind bisher nur in englischer Sprache erschienen, einer nur in italienischer. Alle Texte sind einer gründlichen Überarbeitung unterzogen worden und zum Teil weitgehend neu gefasst worden. Die umfassende Endbearbeitung folgte dem Ziel der sprachlichen Vereinheitlichung, der Bereinigung von Redundanzen, die sich aus der Zusammenfassung der Texte ergeben haben, sowie der theoretischen Vertiefung.
20 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
1. Räume menschlichen Lebens Zur Ontologie von Raum und Räumlichkeit zwischen Natur und Kultur
In lebensphilosophischer Sicht kommt der Raum bei Max Scheler als Urerlebnis zur Geltung. Graf Dürckheim sah ihn als leibhaftige Herumwirklichkeit. Bei Hermann Schmitz rückt der Raum als Medium leiblichen Empfindens in den Mittelpunkt eines hoch differenzierten Systems der Philosophie 1. Die Raumontologie Kants, wonach der Raum als Form äußerer Anschauung etwas in der materiellen Welt gleichsam nebeneinander zu ordnen scheint (neben der Zeit, die in der mentalen Welt die Ereignisse nacheinander ordnet) 2, markiert einen von zwei erkenntnistheoretischen Orientierungspolen, die sich im wissenschaftlichen Denken als nützlich erwiesen haben. 3 Im Folgenden werde ich der Frage nachgehen, welche Erkenntnisse verschiedene Formen des Raum-Denkens in der kritischen Reflexion der menschlichen Existenz (in unserem Kulturkreis) vermitteln könnten. Die Frage nach der Ontologie von Raum und Räumlichkeit menschlichen Lebens zielt damit auf die Reflexion einer existenziellen Kategorie. Der Begriff des Raumes findet seit einigen Jahren in den Sozialund Geisteswissenschaften eine vermehrte Aufmerksamkeit (spatial turn). Ich will diese Sensibilität zum Anlass nehmen, um die Bedeutsamkeit bestimmter Ontologien von Raum und Räumlichkeit im menschlichen Leben auszuloten. Dabei werde ich sechs Raum-Begriffe skizzieren und abschließend an je wiederkehrenden Beispielen zum Küstenraum des Meeres und der christlichen Allegorie des Jona pointieren und konkretisieren. Jede dieser Dimensionen des Räumlichen öffnet spezifische Perspektiven der Reflexion der menschlichen Existenz auf dem Grat zwischen Natur und Kultur.
Schmitz Syst 1964 ff. Vgl. Kant 2005. 3 Eine skizzenhafte Auseinandersetzung mit den geistesgeschichtlichen Wurzeln liefert Schmitz LRG, S. 7–12. 1 2
21 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
1. · Räume menschlichen Lebens
1.1 Der mathematische Raum Lebensweltliche Assoziationen, die sich mit dem Begriff des Raumes verbinden, betreffen die Verortung materieller Dinge an Ort und Stelle. Darin steckt das Aristotelische Denken des Raumes in der Kategorie physischer Körper. 4 Körper-Dinge sind durch Substanz und Akzidenz gekennzeichnet und nehmen Raum ein. Die Grenze des einen Körpers berührt die eines angrenzenden anderen Körpers. 5 Solche Körper sind Bäume, Steine und Fische, aber auch Wolken und Wasser. Lebendigkeit (von Bäumen und Fischen) und Bewegung (von Wolken und Wasser) führen zur Veränderung der Lagebeziehungen. Im Prinzip ist der Begriff des Körpers neutral gegenüber den Variationen, die die natura naturans in einen Körper einschreibt. Ein lebender Fisch ist im mathematischen Sinne nicht anders räumlich als ein toter. Wo er gerade ist, beansprucht er Raum – solange er als Substanz ist. Die Verortung der räumlichen Dinge in Abständen zueinander »möbliert« den relationalen Raum (i. S. von Leibniz: die Ordnung koexistierender Erscheinungen). Der mathematische Raum ist verrechnungsfähig. Geodäsie und Kartographie sind in diesem Metier zu Hause. Der Begriff des mathematischen Raumes steht dem lebensweltlichen Raum-Denken nahe. Dessen Kurzschluss mit dem naturwissenschaftlichen Denken ist »ein hochstufiges Endprodukt der Entfremdung des Raumes vom Leib« 6. Der (relationale) Raum der Dinge steht im wissenschaftstheoretischen Zentrum der Humangeographie. Deshalb merkt Werlen an, dass »der Zuständigkeitsbereich des Raumbegriffs für die physische Welt nicht überschritten« werden soll. 7 Im Rahmen eines handlungstheoretischen Wissenschaftsverständnisses, das sich in der Humangeographie als Leitparadigma durchgesetzt hat, können vom Raum auch keine Wirkungen auf den Menschen ausgehen, denn diese seien stets im Bezug »auf die Handlungen einzelner« zu analysieren. 8 Dieser – jeder Lebenserfahrung widersprechende – Ausschluss von Evidenz hat wissenschaftstheoretische Gründe. So kennt die (Human-) Geographie neben dem Körper-Begriff nicht den
4 5 6 7 8
Zur Rekonstruktion von Raumbegriffen vgl. auch Reichert 1996. Vgl. auch Burkert 1996, S. 79. Schmitz LRG, S. 50. Werlen 1999, S. 222. Ebd., S. 223.
22 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Der mathematische Raum
des Leibes. Dieser ist aber am gegebenen Beispiel atmosphärischen Erlebens Resonanzmedium im phänomenologischen Sinne. Indem es Wissenschaft aber nicht darum geht, »wahre« Aussagen zu treffen, sondern solche, die sich im Kontext disziplinärer Kommunikation als erfolgreich und das heißt in aller Regel als bestandssichernd erweisen, muss der diskursive Umgang mit wissenschaftstheoretisch inkompatiblen Konzepten, Begriffen, Theoriemodulen etc. reguliert werden. Für solche Regulation bieten sich (zur Vereitelung von Widersprüchen) diverse bewährte Praktiken an: Parodierung, Diskreditierung, Ignoranz, sprachliche und definitorische Transformation mit dem Ziel der AnPassung an die Strukturen des Denkens der scientific community. Pointierung: Der Raum ist vermessen und relational geordnet Das Wasser des Meeres ist ein räumlich ausgedehntes Volumen. Ohne dieses naturwissenschaftliche Verständnis des Meeres bliebe der Prozess der globalen Klimazirkulation unverständlich. Die Bewegungen des Wassers fallen nun in die theoretische Zuständigkeit von Physik und Thermodynamik, das Leben im Meer in die der Meeresbiologie. Ein »Leben des Meeres«, wie es zum Beispiel Michelet im 19. Jahrhundert gesehen hat 9, gibt es in dieser Sicht ebenso wenig wie einen ganzheitlichen »Meeresorganismus«. 10 Auch alle Orte am Meer sind in der Logik des mathematischen Raumes gleich viel oder wenig Wert. Ihre relationale Lage ist es, die Aufmerksamkeit auf sie lenkt und nicht ihr ästhetisches Erscheinen. Das Meer und seine Küste ist in der Relationalität der sich bietenden Ordnung ein objektivierbarer Raum ökologischer Prozesse und metabolistischer Stoffkreisläufe. Das jüdisch-christliche Bild des Jona, der von einem Walfisch verschluckt wird, weil er sich einem Auftrag Gottes widersetzte, zu seiner Läuterung jedoch gerettet wird, indem ihn der Wal an einem Ufer ausspeit, bleibt diesem mathematischen und relationalen Raumbegriff verschlossen. Es würde keinen Sinn machen, Jona (mit dem Bild der russischen Puppe) als menschlichen Körper im Körper des Fisches begreifen zu wollen. Gänzlich verfehlt wäre die Anwendung des mathematischen Raumdenkens auf die Situation, in der Jona dem Maul des Fisches ent-
Vgl. Michelet 1861; dazu auch Hasse 2002.3. Welsch macht in dieser Perspektive die anthropozentrische Sicht der Natur fragwürdig (vgl. in diesem Sinn 2003).
9
10
23 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
1. · Räume menschlichen Lebens
steigt. Das naturwissenschaftliche Raumdenken stößt an Grenzen, die schon die Lebenswelt kennt.
1.2 Der symbolische Raum Die im mathematischen Raum geordneten Dinge weisen im symbolischen Raum eine Ordnung der Be-deutungen auf. Die Kommunikation über Dinge und Beziehungen im mathematischen Raum kann nur in einem symbolischen Raum gelingen, in dem die Dinge und Raumverhältnisse mit Bedeutungen verknüpft sind. Der Mensch kann sich auf menschliche Weise im mathematischen Raum nur im Gebrauch von Symbolen konstituieren. In einem Symbol ist für Hermann Schmitz eine Ganzheit zentriert, von der ein Explikationsdruck ausgeht, der eine Atmosphäre als ergreifendes Gefühl fundiert. 11 Angesprochen ist damit eine »Situation«, deren Hof mannigfaltiger Bedeutungen »als Ganzheit schon im ersten Eindruck zur Verfügung steht« 12. Ein Symbol erschließt sich nicht erst durch allmähliches Ausrechnen implizierter Bedeutungen, sondern gleichsam schlagartig mit seiner Präsenz. Der symbolische Raum ist mit ver-orteten Bedeutungen besiedelt, die nicht isomorph über den mathematischen Raum verteilt sind wie das Gras in der Prärie, sondern durch die Vitalität und Dynamik des gelebten Lebens räumlich-ganzheitlich verdichtet sind. So weist Heimat (in ihrer Raumsymbolik) eine sehr komplexe Gemengelage von Bedeutungen auf, die sich dem Beheimateten schon mit einem einzigen Eindruck in ihrer Ganzheit öffnet. 13,14 Vgl. Schmitz Bd. III/4, S. 545. Ebd., S. 430. 13 Georg Simmel (vgl. 1957.3) hob den ganzheitlich-einheitlichen Charakter des Landschaftserlebens als Form ästhetischer Naturentfremdung hervor, machte aber zugleich auf die Fülle der Existenz realer Natur aufmerksam: »Die Natur, die in ihrem tiefen Sein und Sinn nichts von Individualität weiß, wird durch den teilenden und das Geteilte zu Sondereinheiten bildenden Blick des Menschen zu der jeweiligen Individualität »Landschaft« umgebaut« (S. 142). Zur Weite des Zur-Erscheinung-Kommenden stellt er fest: »Das Material der Landschaft, wie die bloße Natur es liefert, ist so unendlich mannigfaltig und von Fall zu Fall wechselnd, daß auch die Gesichtspunkte und Formen, die diese Elemente zu je einer Eindruckseinheit zusammenschließen, sehr variabel sein werden« (S. 144). Die Natur der Dinge im mathematischen Raum wechselt hier ihre Daseinsform, indem sie über die anthropomorphe Belebung im symbolischen Raum emotionalisiert wiederkehrt. 11 12
24 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Der symbolische Raum
Die Symbolisierung von Räumen wie Dingen im Raum ist anthropologisch begründet, also mit der Natur des Menschen und den ihm gegebenen Möglichkeiten der Kommunikation sowie des Verstehens verbunden. Vor allem aber differenziert sie sich nach kulturellen Codes. Die fundamentalste Struktur, innerhalb derer sich Symbolisierungen vollziehen, ist nach Sigmund Freud polar zwischen Lust und Unlust angelegt. 15 Zwar tritt die Verbindung der Symbole mit dem gefühlsmäßigen Erleben hier am deutlichsten hervor. Jedoch ist diese einfache Kontrastierung für die meisten (verräumlichten) Symbole im alltäglichen Leben unzureichend differenziert. Die meisten Situationen treten uns in einer viel feineren Abstufung von Gefühlen entgegen. 16 Die Sprachlosigkeit gegenüber individuell (und darin leiblich) erlebten Gefühlen konfrontiert uns mit einem restriktiven Mechanismus westlicher Zivilisationsgeschichte, der im Umgang mit der Natur des Menschen zu einer Schieflage geführt hat. In der Sache des rationalen Denkens und Entzifferns von Symbolen hat sich eine relative Perfektionierung durchgesetzt, in der Sache pathischen Selbst- und Weltbewusstseins zugleich aber eine Abstumpfung der Sensibilität. Diese Ungleichheit sagt aber nichts über die Bedeutung des (als Vermögen wie als Schwäche) Kultivierten im täglichen Leben. Die Perspektive auf das Wohnen des Menschen verdeutlicht eindrucksvoll, dass auch das gleichsam »stumme« vorbegriffliche Leben mit Symbolen im persönlichen Raum geradezu konstitutiv ist für die Fähigkeit zur Beheimatung im vertraut gewordenen Milieu. Nicht zuletzt deshalb hält sich ein Mensch in seiner Wohnung anders auf als in einem Wartesaal. Die
Gärten waren schon immer als räumliche Sonderzonen charakterisiert, in denen ein symbolisches Verhältnis zum profanen und trivial genutzten Alltagsraum des gesellschaftlichen Lebens herrschte. Eine Erzählung von Strong beginnt i. d. S. mit dem folgenden Satz: »Der große Garten schlummerte im Sonnenschein eines frühen Augustnachmittags. Kein Lufthauch regte sich.« (Strong 1993, S. 114) Der Garten (und insbesondere der Friedhof) war und ist ein Raum mythischer Funktionen, der auf einem hoch abstrakten, aber dennoch unmittelbar versinnlichten Niveau eine Relation zum Leben im Milieu realer gesellschaftlicher Faktizitäten zu erbringen hatte. Welche besondere Bedeutung der räumlichen Grenze von Friedhöfen bis heute zukommt, habe ich an anderer Stelle ausführlich diskutiert (vgl. Kap. 4.3 in Hasse 2005.2) sowie Kapitel 19 in diesem Band. 15 Vgl. dazu Freud 1974, S. 208 f. 16 Zur Kritik an der psychologisch simplifizierenden Polarisierung von Lust und Unlust vgl. schon Willy Hellpach 1946, S. 83. 14
25 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
1. · Räume menschlichen Lebens
Dinge des Wohnens bilden deshalb ein vitales Bedeutungsrelief 17, die in utilitären Umgebungen dagegen nur ein Netz des Brauchbaren. Symbolisierungen unterliegen der Dynamik kultureller Transformationen. Was uns ein Raum (als lokaler Ort oder regionale Umgebung) bedeuten kann, wird durch die Drehbücher der Regionalgeschichte und der globalen Ökonomie nach dem Stand technologischer Entwicklungen akzentuiert. Im Zeitalter der Globalisierung, der erhöhten Mobilität und wiederkehrenden Klassendifferenzen gilt mehr denn je eine Metapher von Manuel Castells: »Die Eliten sind kosmopolitisch, das Volk ist ortsgebunden.« 18 Wie die Bewegung im mathematischen Raum sozioökonomisch divergiert, so auch die symbolische Verräumlichung des eigenen Lebens. Wer an einem singulären Ort sein Leben fristet, spinnt ein anderes symbolisches Netz in die Welt als jene »ortspolygamen« 19 Zeitgenossen, die sich überall auf der Welt »engagieren«, aber an keinem Ort zu Hause sind. Mit der Vermehrung der technischen Medien der Fortbewegung haben sich auch die Weisen, im Raum zu leben, flexibilisiert. Mit der zunehmenden Verfügbarkeit schneller und billiger Langstreckenverkehrsmittel konstituieren sich neue Aktionsmuster und mit ihnen neue symbolische Verhältnisse zum Raum. Wenn Peter Sloterdijk – in ganz ähnlicher Weise wie Heidegger – betont, »Leben lernen heißt an Orten sein lernen« 20, so ist damit auch die Fähigkeit gemeint, eine symbolische Ordnung in den mathematischen Raum einschreiben zu können 21, um ihn dann als be-deuteten Raum (ohne territorialen Anspruch) zu einem eigenen Raum zu machen. Wo das geschieht, fräst die Kraft individueller Lebensereignisse ein vitales Bedeutungsrelief in konkrete Orte ein. So wird der isomorphe Ort im gelebten Raum zu einem genius loci. Das Andere dieses pragmatisierten und verzweckmäßigten Verhältnisses zum Raum hatte Martin Heidegger (als argumentative Geste gegen den Druck eines sich ausbreitenden szientistischen Zeitgeistes) im Sinn, als er das Wohnen des Menschen mit einer Kultur verband, deren Aufgabe nicht zuletzt eine naturphilosophische Pointe beinhaltete: aus der strukturellen Heimatlosigkeit des Menschen das Wohnen als Aufgabe anzunehmen und das eigene Leben auf Erden als dauerhaft fragwürdig zu betrachten (vgl. Heidegger 2000 sowie Hasse 2009). 18 Castells 1998, S. 69. 19 Vgl. Beck 2001, S. 30. 20 Sloterdijk 2005, S. 408. 21 Sloterdijk spricht dies mit der Metapher »Ausdehnungslernen als Navigieren in unkomprimierbaren Raum-Zeit-Gefügen« an (ebd., S. 409). 17
26 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Der symbolische Raum
Postmoderne Informations- und Kommunikationstechnologien konstituieren ein historisch neues Dispositiv der Vergesellschaftung. Technologische Milieus, in denen sich Menschen bewegen, verändern nicht nur die gesellschaftliche Realität von Lebensräumen. Sie überformen auch die gefühls- und leiborientierte Basis von Selbst- und Welterfahrung. Was Schmiede als »Kampf um das Subjekt« 22 apostrophiert, hat seine Vorläufer in ganz unterschiedlichen Praktiken der Macht in der Unterwerfung der Individuen unter Herrschaftsdogmen. Dass die Selbstkonstitution im symbolischen Raum von neuen ImaginationsTechnologien aus dem Bereich der digitalen Medien berührt wird, hat Konsequenzen für das Selbst-, Welt- und Naturverständnis. 23 Pointierung: Der Raum wird mit Bedeutung »ausgestattet« Das Wasser des Meeres verstehen wir in einem metaphorischen und allegorischen Sinne. Ute Guzzoni merkt an, dass dieses Verstehen des Meeres sinnlicher, fließender, fühlender Begriffe bedarf. 24 Es ist der damit angesprochene situative Charakter, der in ästhetischen Begriffen etwas Ganzheitliches zum Ausdruck zu bringen vermag. Die prosaische Rede steht der diffizilen Symbolik des Meeres oft hilflos gegenüber. Solches Aushaken der begrifflichen Sprache ist in der Schwierigkeit der Übertragung gefühlsmäßiger Erlebnisqualitäten in abstrakte diskursive Symbole begründet. Ein Meister des in diesem Sinne transversalen Selbstgesprächs über die Eindrücke des Meeres war Jules Michelet 25, der die Bedeutungen des Meeres nicht nur in der denotativen Sprache der Wissenschaft, sondern auch in präsentativen Symbolen zum Ausdruck gebracht hat. Neben der Malerei (an die Meer-Bilder von Caspar David Friedrichs und William Turner sei erinnert) spielt die Musik hier eine besonderer Rolle. In einer relativ langen Reihe beispielhafter Stücke sei auf »Die Hebriden« von Felix MendelssohnBartholdy (Ouvertüre zu op. 26) von 1833 hingewiesen. Die Ouvertüre Vgl. Schmiede 2003, S. 182. Insbesondere Computerspiele justieren das Gefühl für räumliche Formen der Bewegung durch die mimetische Förderung irrealer Optionen gleichsam schwerelosen Flottierens im Raum (ähnlich Videoclips und Videoanimationen als Element von Actionfilmen). Diese spielerische Flexibilisierung des eigenen Selbst wird in Abhängigkeit von spezifischen Themen ethisch dann brisant, wenn sich mit der physischen Schwere im Raum auch humanitäre Werte auflösen und als Spielvariable Experimente provozieren. 24 Vgl. Guzzoni 2005, S. 23 ff. 25 Vgl. dazu auch Hasse 2002.3. 22 23
27 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
1. · Räume menschlichen Lebens
steht in der Geisteshaltung der Romantik und ist ein Beispiel für den ästhetischen Ausdruck von etwas im Prinzip Unsagbarem. In besonders eindrucksvoller Weise gelingt mit den Medien der Kunst (der Musik wie der Malerei) die synästhetische Übertragung einer symbolischen Bedeutung (z. B. der dramatischen Bewegtheit des Meeres) in eine komplementäre leibliche Empfindung. 26 Der Jona verschlingende Walfisch ist in der Rationalität des symbolischen Raumes nicht als materieller Tierkörper bedeutsam, sondern als Symbol für eine Einschließung, die zugleich für eine strafende Isolierung von der irdischen Welt der lebensweltlichen Ereignisse steht. Erst in dieser Dimension des symbolischen Raumes wird die Allegorie verständlich. Im symbolischen Raum erlebt sich der Mensch auf der Grenze verschiedener Arten situativen Verstehens. Die einen Raum mit Bedeutung aufladenden Symbole sind nach unterschiedlichen Graden persönlicher Betroffenheit gewichtet. Zu einem Bewusstsein dieser affektiven Reliefs gelangt das Individuum im Metier des Symbolischen erst dann, wenn es über die Selbstgewahrwerdung im gelebten Raum zu einem Nach-Denken persönlicher Empfindungen voranschreitet.
1.3 Der soziale Raum Im sozialen Raum sind die Menschen nach Beziehungen und Zugehörigkeiten gleichsam geordnet. Die Integration erfolgt durch Selbst- und Fremdzuschreibung von Identität. Der symbolische Raum ist aufgrund der Aufladung von Dingen, Ensembles, Umgebungen, Atmosphären und Szenen mit Bedeutung milieuspezifisch, also sozial differenziert. Es gibt keinen sozialen Raum gleichwertigen Mit- und Nebeneinanders. So bildet der symbolische Raum nur eine Matrix des sozialen Raumes. Symbolische Werte sind auch Medien der sozialen Unterscheidung. Pierre Bourdieu machte mit dem Begriff des symbolischen Kapitals auf die Transferierbarkeit kultureller Werte in ökonomische Werte und umgekehrt aufmerksam. 27 So können symbolische InvestiÄhnlich beeindruckende Stücke gibt es für den Wind bzw. den Sturm (man denke an die Ouvertüre »Der Sturm«, op. 109 Nr. 1, von Jean Sibelius). Zur Bedeutung von Synästhesien in der Wahrnehmung vgl. auch Kapitel 3. 27 Vgl. insbesondere Bourdieu 1976 sowie 1991. 26
28 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Der soziale Raum
tionen in geldliches Kapital nach dem Prinzip eines »strategischen Bluffs« 28 getätigt werden. Die Investition symbolischen Kapitals erleichtert den Zugang zu solchen Gruppen, die dieselben symbolischen Bedeutungen teilen, und eröffnet damit den Zugang zu anderen Kapitalsorten (monetärem Kapital sowie sozialem Kapital in Form von Beziehungen). Symbolisches Kapital stellt nach Bourdieu eine Art Kredit dar, »den die Gruppe und nur sie allein jenen gewährt, die ihr am meisten materielle und symbolische Sicherheiten geben«. Deshalb bewirkt die »Zurschaustellung von symbolischem Kapital« auch, »daß Kapital zu Kapital kommt« 29. Der symbolische Tausch hat im Spätkapitalismus eine naturphilosophische Brisanz, da er sich nicht nur auf industrielle Güter und moderne Dienstleistungen bezieht, sondern auch auf Gegenstände der Natur (Tiere, Nahrungsmittel, Böden etc.). Wenn er gerade dann auch der ethischen Legitimation bedürfte, wird er in aller Regel nur formaljuristisch, logistisch, technologisch etc. abgewickelt. Diese Symbol-Logik der Zirkulation von allem, was tauschfähig ist, gilt zum Beispiel auch für den Zugang zum Meer als Freizeitraum. So reguliert sich der Zugang zu begehrten Orten nach einem (sozio-) ökonomischen Schlüssel über Marktpreise für Dienstleistungen und Immobilien. Gegenstand subkulturellen Begehrens sind nicht abstrakte Flächen im mathematischen Raum, sondern naturekstatische Orte, deren Erleben als knappes Gut vermarktet werden kann und damit die Konstitution soziokultureller Orte der Distinktion ermöglicht. Nur über den symbolischen Tausch erklärt sich die hoch differenzierte soziale Hierarchie der Freizeiträume selbst an den Küsten der deutschen Nordsee (auf der einen Seite die Helgoländer Düne und die nordfriesische Insel Sylt und auf der anderen Seite »preiswerte« Küstenbadeorte wie Norddeich). Letztlich bedeutet die verknappte Zugänglichkeit bestimmter Orte Teilhabe an Bodennutzungen. Damit setzt sie Verfügbarkeit über ökonomisches Kapital voraus, so dass sich in Grundstückspreisen ökonomische und symbolische Werte widerspiegeln. Die Bodenrichtwertkarten der Katasterämter geben Auskunft über den lagespezifischen m2 -Preis von Grundstücken. Deren ökonomischer Wert verdankt sich der Nähe und Ferne eines Grundstücks zu bestimmten Märkten und damit zu Personen und Situationen. Ein Grundstück hat
28 29
Bourdieu 1976, S. 352. Ebd.
29 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
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folglich keinen Natur-Wert – auch nicht in schönen und begehrten Lagen. Das gilt auch für Wohngrundstücke, deren als hochwertig geltende Lagen im sozialen Raum letztlich mit dem in aller Regel erwünschten Effekt der sozialen Integration nur bewohnen kann, wer neben den monetären Mitteln auch über die habituellen Codes der Bewohner des Quartiers verfügt. »Es ist der Habitus, der das Habitat macht«. 30 So besetzen Menschen kraft ihrer sozialen Stellung symbolisch hoch- oder niederrangige Orte. Pointierung: Der Raum wird als ein be-deuteter erlebt und kommuniziert Der luxurierte soziale Raum der Distinktion wird in seinem symbolischen Relief als be-deutendes Milieu erlebt und in seiner Exklusivität einverleibt. So wird die Kultur-Natur einer Gegend in ihrem atmosphärischen Erscheinen im Medium leiblichen Erlebens zu einem sozialen Raum der Verinselung. Die Leiblichkeit des Menschen wird in ihrer kulturindustriellen Verdinglichung so auch zum Prüfstein der Frage nach der (Glaubwürdigkeit der) kulturellen Zugehörigkeit, denn nur wer nach den habituellen (und rituellen) Regeln der Clique (Subkultur) die atmosphärischen Szenen eines Habitats richtig konsumiert und kommuniziert, kann das Erlebte nach geregelten Codes ostentativer sozialer Praktiken auch wieder in kulturelle Sphären zurückspielen. 31,32 Die Ausspeiung des Jona aus dem Bauch des Fisches wird in ihrer Symbolik erst aus der Perspektive des sozialen Raumes verständlich (siehe Abb. 1.1). Dieser liefert die Syntax der verwendeten Symbole. Der Stich aus der Merian-Bibel von 1630 stellt die Rückführung des Jona in den sozialen Raum der Welt dar. Zum Bild gehört der Mythos, und danach darf Jona in die soziale Welt zurückkehren, weil er seinen
Bourdieu 1991, S. 32. Zur Bedeutung der erkenntnistheoretischen Kategorie der Leiblichkeit auf der Grenze von Phänomenologie und Soziologie vgl. Gugutzer 2002 und 2004. 32 Für den (nicht zu übersehenden ökonomistischen) Abstraktionismus der aktuellen freizeitsoziologischen Debatte ist es bezeichnend, dass Fragen der Vergesellschaftung der Leiblichkeit des naturerlebenden Menschen keine Rolle spielen; nach Adornos ästhetischer Theorie ist dieser Blick auf kulturindustriell konsumierte Natur fast rückstandslos im affirmativen Zeitgeist versickert. 30 31
30 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Der leibliche Raum
Abb. 1.1: Der Fisch speit Jona ans Land.
Fehler erkannt hat. Allegorisch treffend werden soziale Zugehörigkeit und Ausschließung mit Innen- und Außenräumen dargestellt. 33
1.4 Der leibliche Raum Menschen erleben ihre Umgebung im Medium der Leiblichkeit. Die Ordnung des leiblichen Raumes differenziert sich nach Gefühlen situativer Betroffenheit innerhalb der Spanne von spürbarer Enge und Weite. Leiblich ist auch der hodologische Raum – der Raum der Bewegung. Zum atmosphärischen Erleben des leiblichen Raumes gibt es keine DisIch hatte bereits in diesem Sinn auf die letztlich auch soziale Bedeutung der Umfriedung von Gärten und Friedhöfen hingewiesen.
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tanz. Man befindet sich in ihm. Es gibt keine Situation wachen Bewusstseins, in der man sich selbst nicht räumlich erlebt. Die von Graf Dürckheim geprägten Begriffe des »gelebten Raumes« wie der »leibhaftigen Herumwirklichkeit« heben auf »Vitalqualitäten« 34 einer Umgebung ab, die sich auf das Befinden einer Person übertragen. Kulturlandschaften werden in diesem Sinne mit Bedeutungen geladen und atmosphärisch erlebt. Daneben konstituieren sich landschaftliche Atmosphären – diesseits der Konstruktion – im natürlichen Wechsel des Lichts und der Tages- und Jahreszeiten. Was bei Theodor Lipps und Johannes Volkelt noch mit dem Begriff der »Einfühlung« beschrieben wurde, versteht Hermann Schmitz auf dem Hintergrund seines Systems der Philosophie als »leibliche Kommunikation«. Während Einfühlung monologisch erfolgt (eine wahrnehmende Person fühlt sich in die Gestalt z. B. einer Treppe ein), versteht sich leibliche Kommunikation dialogisch (die Gestalt der Treppe drückt sich über architektonische Gesten, Bewegungssuggestionen dem Wahrnehmenden gegenüber auch aus). »Die Blicke organisieren als leibliche Richtungen ein übergreifendes motorisches Körperschema.« 35 Leibliche Kommunikation ist die grundsätzlich maßgebliche Wahrnehmungsweise in der Bewegung. Deshalb geht von jedem Rhythmus (akustisch, taktil oder visuell) auch eine Bewegungssuggestion 36 aus. Bewegung konstituiert nach Scheler Räumlichkeit 37, aus der ein »Herumerlebnis« erwächst, das er als »Urerlebnis von Räumlichkeit« anspricht. 38 Mit der Bewegung öffnen sich in physischer wie in psychischer Hinsicht »Orte von etwas« 39. Auf dem Wege leiblicher Kommunikation werden wir zu Betroffenen, die ein Geschehen weniger mit den einzelnen Sinnen als vielmehr in einem ganzheitlichen Sinne leiblich räumlich wahrnehmen. »Daß etwas da ist, merken wir daran, daß es uns in irgendeinem Sinn ›auf den Leib rückt‹, und dies spüren wir elementarer und ursprünglicher als irgend etwas anderes.« 40 Solches Betroffensein zeichnet sich Dürckheim 2005, S. 23. Schmitz NGrdl, S. 128. 36 Zur Bewegungssuggestion am Beispiel des Tanzens vgl. auch Schmitz Bd. III/1, S. 173 ff. 37 Scheler spricht hier von »Vitalbewegung« (vgl. 1927, S. 297). 38 Vgl. ebd., S. 305. 39 Ebd., S. 301. 40 Schmitz Bd. III/1, S. 16. 34 35
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Der leibliche Raum
dadurch aus, dass es die mehr oder weniger stabile Organisation leiblichen Befindens »mit einem Schlage erschüttert und sozusagen über den Haufen wirft«. Man ist dann ergriffen. Auf das Zustandekommen von Atmosphären haben Geräusche, Gerüche, der Wind, Temperaturen etc. einen wichtigen Einfluss. Sie gehören ontologisch aber weder zu den Dingen noch zu deren Eigenschaften. Schmitz spricht hier von »Halbdingen«: »Sie unterscheiden sich von Dingen auf zwei Weisen: dadurch, daß sie verschwinden und wiederkommen, ohne daß es Sinn hat, zu fragen, wo sie in der Zwischenzeit gewesen sind, und dadurch, daß sie spürbar wirken und betroffen machen, ohne als Ursache hinter dem Einfluß zu stehen, den sie ausüben«. 41
Insbesondere die Halbdinge temperieren in einem atmosphärischen Sinne das Mitsein des Menschen in Umgebungen und mitweltlichen Milieus. Ein Sturm berührt in seiner andrängenden Macht das leibliche Befinden im Raum. Auf andere Weise vermittelt die Temperatur des Wasser, in dem man schwimmt, ein Gefühl für das so charakteristisch Herumwirkliche. Und so ist es auch die Helligkeit des Lichts, die einen Ort des momentanen Aufenthalts nicht nur be-richtet, sondern mit einer besonderen Erlebnisqualität gleichsam ausstattet. Der leibliche Raum ist nicht wie der Raum des Landvermessers nach metrischen Koordinaten geordnet. Im leiblichen Raum gibt es nichts Gleich-Gültiges. Ausgangspunkt individuellen Erlebens ist der absolute Ort, an dem sich das gefühlsmäßige Befinden meldet. Zwischen leiblicher Enge und Weite befindet man sich in einem reißenden Sturm auf andere Weise als in angenehm warmem Wasser. Im Sturm wie im Wasser gibt es auch kein geometrisches, sondern ein prädimensionales Volumen, das in einem umschließenden Gefühl spürbar wird. Das naturwissenschaftliche (Welt-) Bild der Natur überspringt indes diese Seite des Mitseins, indem sie nur Dinge als (kognitiv fassbare) Sachverhalte gelten lässt. Waldenfels sieht im menschlichen Leib die »entscheidende Brücke, die Natur und Kultur zusammenführt«, denn der Leib ist weder der Kultur noch der Natur eindeutig zuzuordnen. 42 So berührt das Gefühl der Scham den Leib, der sich an einer Stelle des Körpers (z. B. 41 42
Schmitz NGrdl, S. 80. Waldenfels 2001, S. 105.
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1. · Räume menschlichen Lebens
durch ein Rumoren in der Gegend des Magens) als »Leibesinsel« 43 spürbar macht. Zwar ist der organische Körper ein Naturding; sein spürendes Reagieren auf ein Erleben kündet indes von einer kulturellen Disposition symbolischer Warn- und Alarmsysteme. Der leibliche Raum ist eine Art Gegenlager zum Raum des Denkens. Wenn er auch das Andere des Denkens und der Sprache ist, so vermittelt er doch eine Erweiterung des Denkbaren über die zivilisationshistorisch aufgerichteten Barrieren des Kognitivistischen hinaus. Das leibliche Spüren drängt zur Aussage situationsspezifischen Befindens und damit zur Verständigung über Um- und Mitweltverhältnisse. Zugleich ist der leibliche Raum eine anthropologische Kategorie und daher unhintergehbare Bedingung menschlicher Existenz. Die Natur der Sinne verbindet den Menschen mit der Welt und über die Brücke der Leiblichkeit mit jedem Geschehen. Jedes Verstehen von Situationen vollzieht sich in einer kognitiven und einer affektiven Dimension: »Da der Mensch selbst zur Natur gehört, ist die Natur, die er objektiviert, niemals die ganze. […] Was hier fehlt, ist ein Wissen von der Natur, gewissermaßen von innen heraus aus dem menschlichen Natursein.« 44 Pointierung: Das eigene (Natur-) Selbst wird räumlich erlebt Der Raum des Meeres, den wir im Bereich der Küsten erleben, erschließt sich uns sinnlich durch die Ekstasen der Natur (Wind, Luft, Geräusche). Gleichsam unterhalb einer zivilisationshistorisch vermittelten Disziplinierung zu distanzierter Sachlichkeit erleben wir uns als Betroffene von diesem Geschehen, als pathische Teilhaber situativ wechselnder Naturszenen. Am Beispiel von Weite und Tiefe macht Ute Guzzoni deutlich, wie charakteristische Erscheinungsweisen des Meeres gefühlsmäßig von uns Besitz ergreifen. 45 Die synästhetischen Übertragungswege bereiten den Boden für das Verstehen solchen Erscheinens. 46 Auch die Allegorie des ausgespieenen Jona spielt auf eine DimenIm Sinn einer Zusammenfassung vgl. Schmitz LRG, S. 12–22 sowie 28–49. Gernot Böhme 2000, S. 23 f. Das Mitsein in den Ekstasen der Natur als Erleben individuellen Naturseins hatte schon Erwin Straus als pathische Form der Wahrnehmung von der eher kognitiv-erkennenden Form der gnostischen Wahrnehmung unterschieden (vgl. Straus 1960.1). 45 Vgl. Guzzoni 2005, S. 40 ff. 46 Zur Bedeutung der Synästhesien in der Wahrnehmung vgl. auch Kapitel 3. 43 44
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Der Situationsraum
sion des leiblichen Raumes an. Die Strafe des Jona ging ja nicht darin auf, ihn symbolisch aus der sozialen Welt zu isolieren. Dazu hätte es des Bildes vom Fisch nicht bedurft. Die Symbolik korrespondiert vielmehr unmittelbar mit einem leiblich komplementären Gefühl – dem der maximalen Enge im stockdunklen (und beengenden) Bauch des Fisches. Die Zumutung der Enge im Fisch kann als die leiblich angreifende Macht der symbolischen Strafe verstanden werden. Die Rückkehr in den sozialen Raum der menschlichen Gemeinschaft lässt jene leibliche Weite wiederkehren, die als Entspannung erlebt und als moralische Exkulpierung verstanden werden kann. Im beengenden Bauch des Fisches musste die Strafe im Gefühl der Scham durchlitten werden, während die Ausspeiung des Jona (im Sinne eines räumlichen Wechsels) leiblich und symbolisch Erleichterung bedeutete. Der Mensch ist in der Natur ein diese Natur nutzender und transformierender Akteur und macht sie zu einem Gegenstand der Verfügung. Der Mensch ist aber auch selbst Natur. Als solche erlebt er sich im Gefühl des Hungers, der (äußeren und inneren) Kälte, der Müdigkeit, der Lust, des Ekels etc. Solches Natursein wird aus kulturgeschichtlichen Gründen mit geringer Aufmerksamkeit bedacht. 47 Im zeitgeschichtlichen Kontext sich schnell vermehrender hypertechnischer Abstraktionsmedien läuft das leibbezogene Selbstvergessen aber auch auf eine Beschleunigung der Naturentfremdung hinaus.
1.5 Der Situationsraum Im Situationsraum überlagern sich die ontologisch verschiedenen Räume zu einer Einheit. Ein Situationsraum ist durch die wechselseitige Durchdringung aller für eine konkrete Lebenslage relevanten Raumbeziehungen gekennzeichnet. Ein Gespräch bildet ebenso eine Situation wie eine Fahrt mit dem Auto oder ein Spaziergang. Der Zusammenhangscharakter des Situativen integriert das Viele und Heterogene nach dem Maß von Bedeutungen und den von ihnen ausgehenden Betroffenheiten einer Person. »Situationen sind unübersehbar in Situationen verschachtelt, namentlich aktuelle Situationen in zuständliche Solch übergehende Haltung im Selbst- und Weltverhältnis hat mannigfaltige Gründe in der Zivilisationsgeschichte, auf die hier nicht einzugehen ist. Von besonderer Bedeutung ist der Einfluss des Christentums (vgl. Nietzsche 1977 sowie Weber 2005.1).
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1. · Räume menschlichen Lebens
und segmentierte« 48, so dass wir es bei ihnen eher mit einem In-, Überund Durcheinander als mit einem übersichtlichen Nebeneinander zu tun haben. Damit bringt sich eine holistische Perspektive zur Geltung, die dem modernen sozialwissenschaftlichen Zeitgeist so unvereinbar entgegensteht wie die Perspektive der Leiblichkeit. Die Raumwissenschaften haben sich konsensuell am metatheoretischen Bezugshorizont der Handlungstheorie und damit am methodologischen Individualismus orientiert. In dem damit verbundenen Menschenbild gilt das Individuum als verstandesmäßig über sich verfügendes Wesen. Wie die Institutionen einer Gesellschaft damit in lokale und individuelle Akteurszentren zerfallen, so gibt es auch in der Welt der Dinge und außermenschlichen Sachverhalte nur Einzelnes, das in Systemen Funktionen erfüllt. Der Holismus 49 markiert den Gegenpol zu diesem Atomismus. Ich werde an dieser Stelle den Begriff eines »situationistischen Holismus« verwenden, um den mannigfaltigen Verstrickungen individuellen Lebens methodologisch gerecht werden zu können. Schmitz’ Situations-Konzept, auf das ich mich hier beziehe, hat eine deutlich erkennbare konstruktive Nähe zum erkenntnistheoretischen Holismus. 50 Das Ganze, auf das der Holismus abzielt, geht nie in sprachlichen Sätzen auf, es liegt vielmehr in einem Hintergrund chaotisch-mannigfaltiger Bedeutungen von Situationen. Zwar merkt Martin Seel an, dass »der Sinn des Ganzen« alles andere als klar sei. 51 Jedoch ist es gerade diese Binnendiffusität situativer Ganzheiten, die Schmitz zum Anlass systematischer Unterscheidungen nimmt, um im Verstehen von ganzheitlichen Zusammenhängen erkenntnistheoretische Fortschritte erzielen zu können. Situationen sind nach Hermann Schmitz vielsagende Eindrücke. Zu einer Situation gehören drei Merkmale: (1) Bedeutsamkeit (die mindestens aus Sachverhalten, zudem oft aus Programmen und ProSchmitz WNPhän, S. 92. Der Holismus ist eine wissenschaftsphilosophische Antwort auf den sich mit den modernen Methoden der Natur- und Sozialwissenschaften ausbreitenden Rationalismus (der unter anderem im methodologischen Individualismus gipfelt). Es sind diverse holistische Strömungen zu unterscheiden, die je spezifische Akzente in der Zentrierung eines »Ganzen« setzen (z. B. hermeneutischer H., sozialer H., existenzialer H iS. Heideggers; vgl. Bertram / Liptow 2002, S. 12). 50 Vgl. Schmitz NGrdl, S. 228 ff. 51 Seel 2002, S. 30. 48 49
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Der Situationsraum
blemen besteht), (2) Binnendiffusität bzw. chaotische Mannigfaltigkeit solcher Bedeutsamkeit sowie (3) ganzheitlicher Zusammenhalt jener Bedeutungen. 52 Bedeutungen kommen dabei auf drei Ebenen vor: der der »Sachverhalte (daß etwas ist, überhaupt oder irgendwie), der Programme (daß etwas sein soll oder möge) und der Probleme (ob etwas ist).« 53 Der Begriff des chaotisch Mannigfaltigen betont die Binnendiffusität und damit die situativ unauflösbare Verklammerung von Bedeutungshöfen zu Ganzheiten. Innerhalb einer großen Breite begrifflicher Differenzierungen zwischen Situationen verschiedener Art 54 unterscheidet Schmitz persönliche Situationen (z. B. den Charakter einer Person als segmentierte Situation, die nie in einem Augenblick ganz zum Vorschein kommen kann) von gemeinsamen Situationen (z. B. die implantierende Situation der Heimat als gemeinschaftlich identitive Beziehung zu einer Gegend). Auch der Charakter eines Dinges ist eine Situation, die durch den Sachverhalt (dass etwas ist) gekennzeichnet ist, dass Protentionen die Bedeutungen zusammenfügen, die man vom Erscheinen eines Dinges unwillkürlich erwartet. 55 Der Schmitz’sche Situations-Begriff lenkt die Aufmerksamkeit aber nicht nur auf Bedeutungen, sondern auch auf den individuellen wie gesellschaftlichen Rahmen, in dem Bedeutungen ihren Sinn haben. Beachtung verdient der Hinweis auf die Binnendiffusität und ganzheitliche Verbindung von Bedeutungen und die sich daraus ergebende Folge, dass die Kommunikation von Bedeutungen nicht zwingend der sprachlichen Explikation bedarf, sondern auch Wege leiblicher Kommunikation findet und über den Habitus, eine Geste oder einen Blick vermittelt werden kann. Noch einmal tut sich damit eine programmatische Differenz zum linguistischen und konstruktivistischen Menschenbild auf, wonach das Individuum scheinbar in einer ausschließlich sprachlichen Welt lebt. 56 Der gelebte Raum des Menschen erschließt sich aus der Perspektive eines situationistischen Holismus in plastischen Ganzheiten, in Schmitz SpR, S. 47. Schmitz WNPhän, S. 89. 54 Auf die Darstellung einer Vielzahl weiterer Differenzierungen des Situations-Begriffes sehe ich aus Platzgründen an dieser Stelle ab (vgl. dazu Schmitz SitKon). 55 Vgl. auch Schmitz Bd. III/5, § 246. 56 Selbst im »moderaten Holismus« nimmt die Sprache insofern eine überhöhte Position ein, als nichtsprachliche Lebensäußerungen auf der linguistischen Kehrseite dieser Perspektive nicht in den Blick kommen. 52 53
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1. · Räume menschlichen Lebens
denen sich Bezüge zwischen konkretem Tun und Bedeutungen immer wieder aufs Neue konstituieren. In der Verknüpfung von Situationsund Raum-Begriff kommt es in einer Synthese von Bedeutungen zu einer ganzheitlichen Integration des Räumlichen, das auf einem anthropologischen und gesellschaftlichen Niveau Beachtung verdient. Der mathematische Raum ist für den Menschen Bedingung seines körperlichen In-der-Welt-Seins. Die sich im sozialen Raum konstituierenden symbolischen Verweisungen setzen die Existenz realer materieller und verorteter Dinge voraus, die im leiblichen Raum mit Bedeutungen verknüpft erlebt werden und gefühlsadäquaten kulturellen Werten korrespondieren. Auf den einzelnen Ebenen des Räumlichen vollziehen sich ebenso Wechselwirkungen wie zwischen ihnen. 57 Die Beziehungen zwischen mathematischem, symbolischen, sozialem und leiblichem Raum werden durch situationskonstitutive Bedeutungen gesteuert. Pointierung: Im situativen Raum sind die Bedeutungen Wirkgrößen eines Eindrucksganzen Das Buch Jona bliebe dem Verständnis verschlossen, nähme man einzeln, was nur im Rahmen situativer Bedeutungszusammenhänge Sinn stiftet. So liegen die Bedeutungen der Verschlingung des Jona durch den Fisch wie seiner Ausspeiung nach drei Tagen der Qual in dessen Bauch im kulturellen Hintergrund jüdisch-christlicher Mythologie. Die Allegorie des Jona im Bauch des Fisches bedient sich räumlicher Szenen, in denen Natur und Kultur in einer komplexen Beziehung zueinander stehen. Das Leben des Menschen ist durch Kultur geprägt – in der Allegorie heißt das zuallererst: in Gottes Hand. Dieses Leben verdankt sich aber zugleich auch der Natur. Diese ist christlicher Mythologie zufolge ihrerseits aber wiederum in der meta-kulturellen Hand Gottes – wie könnte sonst der Fisch den Menschen drei Tage unversehrt bergen. Der barmherzige Gott spielt sein (quasi-kulturelles) Spiel mit seiner Natur. Auch diese Bedeutung ist als Erzählung über das Menschen-Natur-Verhältnis in das Raumbild von Jona im Fisch eingeschrieben. Das Meer ist eine Situation auf der Objektseite. Dazu gehört seine Z. B. im mathematischen Raum zwischen Orten, im symbolischen Raum zwischen Bedeutungen, im sozialen Raum zwischen verorteten Bedeutungen und im leiblichen Raum zwischen Empfindungen.
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Denkräume
Weite und die Ferne des Horizonts, aber auch seine ewige Bewegung. Die Situation des Meeres beschränkt sich auf den Sachverhalt, was an ihm charakteristisch ist und zur Erscheinung kommt. Dazu gehört die Wechselhaftigkeit seines Gesichts, das zwischen Ruhe und ekstatischer Dynamik etwa bei Sturm variiert. Halbdinge (der Natur) wie Wind, Wetter, Temperaturen usw. erweisen sich als Kräfte seiner fortwährenden Veränderung, wozu auch der Wandel seiner Atmosphären gehört. 58 Mit jedem Gesichtswandel verändert sich die Situation des Meeres auf der Objektseite (d. h. den sachverhaltlichen Variationen) wie auf der Subjektseite (d. h. den gefühlsbezogenen Variationen in Bezug auf das Geschehen auf der Objektseite). Dagegen hat kein Meer Programme und Probleme; sie werden erst durch Menschen, die das Meer zum Beispiel als küstennahen Erholungsraum ästhetisch nutzen wollen, mit der sachverhaltlichen Dimension des Meeres verbunden. Im Situationsraum des Meeres sind Natur und Kultur nicht zu trennen. Das Meer erleben wir sinnlich wie gefühlsmäßig und verstehen es darin als etwas (kulturell) Bedeutsames. So haben wir zum Beispiel ein romantisches Verhältnis zu Sonnenuntergängen am Meer oder – als Ausdruck aufgeklärt-rationalistischer Selbstdistanz – eine idiosynkratische Einstellung zum kitschigen und verklärten Bild einer untergehenden Sonne. In der einen wie der anderen persönlichen Situation sind wir mit dem eigenen Körper an einer Stelle im mathematischen Raum, mit dem eigenen Leib dagegen im atmosphärischen Raum. Körper und Leib sind in der Frage ihrer Natur- bzw. Kulturzugehörigkeit hybrid.
1.6 Denkräume In einer 1951/52 gehaltenen Vorlesung setzt sich Martin Heidegger mit dem Denken auseinander. Die Erörterung mündet in keine Definition, sie bleibt vielmehr »auf dem Weg« und spitzt sich in Fragen zu, was Denken sein könnte. Ich nenne zwei Merkmale, die das Denken im Sinne Heideggers vom wissenschaftlich routinierten wie ritualisierten Denken unterscheidet. Erstens erschließt sich das Denken auf denotativ bereits ausgeschilderten Wegen keine Fortschritte der Erkenntnis. Allein der Sprung ins Ungewisse vermag substanzielle Fort-schritte 58
Vgl. dazu auch Schmitz III/5, S. 153 ff.
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zu vermitteln. Der Sprung ist stets ein Wagnis des Denkens und unterscheidet sich daher fundamental vom planmäßig im Metier propositionalen Wissens voranschreitenden Denken. 59 Der Sprung ist eine Form des Denkens und zugleich eine Einstellung zum Denken. Zweitens lässt sich nie a priori beantworten, was denkwürdig ist, weil die Gründe, etwas zu denken, in Situationen liegen und nicht in Themen: »Das Denken denkt, wenn es dem Bedenklichsten entspricht. Das Bedenklichste zeigt sich in unserer bedenklichen Zeit darin, daß wir noch nicht denken 60 […], das Bedenklichste ist das, was von sich aus den größten Reichtum des Denkwürdigen bei sich aufspart.« 61
Denken steht also zunächst vor der Aufgabe (s)einer Selbstfindung. Es geschieht nicht in der Verwaltung bestehender (und propositional erlernter) Begriffssysteme. Es muss sich auf nicht ausgetretenen Wegen ereignen und stolpernd Räume des Imaginativen erschließen. Das Heidegger’sche Denken des Bedenklichsten kehrt in Foucaults Hermeneutik des Subjekts in einer ähnlichen Weise wieder, in der es schon die griechische Philosophie beschäftigt hatte: Die Sorge um das eigene Selbst. Sie entfaltet sich unter anderem im Rahmen von »Subjektivitätspraktiken« wie »Meditationstechniken, Techniken der Erinnerung der Vergangenheit, Techniken der Gewissensprüfung, Techniken der Überprüfung der Vorstellungen, sofern sie Vorstellungen des Geistes sind« 62 und ergänzen damit auf einer Grenze zwischen dem nachdenkend-Gnostischen und dem nachspürend-Pathischen die dem Gebot des »Erkenne dich selbst« folgenden Selbsterkundungen. Foucault erdet in gewisser Weise im Rückgriff auf Alkibiades die intelligible Selbstreflexion durch ein zweites Denken, in dem das Ganze individueller Lebenssituationen in den Blick kommt und einer Prüfung unterworfen wird, in welcher die Selbstbeherrschung (Herr seiner selbst sein 63) in den Mittelpunkt rückt. In der Sorge um das Selbst werden jene Denkräume erschlossen, die Heidegger als das Bedenklichste angesprochen hatte. Die Aufgabe des Sich-selbst-Bedenkens schließt die der Reflexion der verschiedenen Formen des Räumlichen ein, die im Begriff des Si59 60 61 62 63
Heidegger 1997, S. 48. Ebd., S. 10. Ebd., S. 59. Foucault 2004, S. 27. Ebd., S. 116.
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Denkräume
tuationsraumes ganzheitlich verklammert sind. Vor allem die Bewusstmachung der Leiblichkeit und des leiblichen Raumes öffnet eine kultur- und systemkritische Perspektive auf ökonomische Dispositive der Vergesellschaftung, hat doch die Kulturindustrie die Sprache des Leibes für Macht- und Herrschaftsinteressen stets zu instrumentalisieren gewusst. Jede Kultur des Denkens, die die gesellschaftlichen Spuren solcher Politik der Kolonisierung der Leiblichkeit nicht aufnimmt, bleibt gefangen in den Netzen subversiver Machtausübungen über die kollektiven Gefühle in einer Gesellschaft. Pointierung: Das Bedenkliche der Leiblichkeit Das Meer ist eine Landschaft besonderer Art. Der Historiker Jules Michelet betrachtete es durch die Fenster abstrakter wissenschaftlicher Theoreme und aus der Perspektive leiblichen Betroffenseins von seinen Atmosphären an den Ufern des Meeres. Für diese ästhetizistische Grenzüberschreitung wurde er von »seiner« scientific community mit Verachtung und Ignoranz gestraft. 64 Auf einem Grat der Rationalitäten konfrontierte er sich mit seinem sinnlich individuellen Erleben des Meeres. In dieser Haltung oszillierender Aufmerksamkeit reiben sich nicht nur wissenschaftliche Theoreme und ästhetische Bilder aneinander; auch die doppelte Positionierung des Menschen in Natur und Kultur wird in der letztlich nicht zu leistenden eindeutigen Grenzziehung klar. Das Bedenklichste dieser Juxtastruktur dürfte in einer widersprüchlichen Selbstkonstitution des Menschen liegen, wonach er sich als Wesen der Natur zivilisationshistorisch als Ausbeuter einer äußeren wie einer inneren Natur des Menschen behauptet hat. Das vordringlichste Denken des Mensch-Natur-Metabolismus erweist sich so als eine Aufgabe der Alphabetisierung der Selbstwahrnehmung jener Seite des Menschen, auf der er selbst Natur ist. Erst eine sich ins Sprechen vortastende Selbstwahrnehmung vermag Begriffe zu finden, deren explikative Kraft eine neue Form der Kritik am Mensch-Natur-Verhältnis zu konstituieren in der Lage sein könnte. Die Geschichte von Jona dient in ihren metaphorischen wie allegorischen Ausdrucksgestalten letztlich der Erschließung eines Denkraumes, in dem Bedeutungen zwischen Himmel und Erde geordnet werden. Der Fisch ist kein Fisch und das widernatürliche dreitägige Überleben des Jona im Bauch des Fisches bedeutet nicht Verdauung, 64
Vgl. auch Kapitel 17 über Jules Michelet.
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1. · Räume menschlichen Lebens
wie seine erlösende Ausspeiung auf den Strand keine wirkliche Raumwanderung ist. Das Denken der verschiedenen Formen des Räumlichen ist eine Grenz-Passage. Auf ihr werden die Berührungen zwischen mathematischem, symbolischem, sozialem, leiblichem und situativem Raum nach-denkend bewusst. Diese Grenzen verwandeln sich dann in Nähte, die geöffnet und wieder geschlossen werden können, auf dass sich das Individuum in der Nach-arbeitung seiner subjektiven Weltverwicklungen (denkend und nachspürend) mit sich selbst konfrontiert sähe. Im konkreten tagtäglichen Leben verdichten sich die Grenzverläufe zu einer einzigen imaginären Landschaft der Nähte und Wunden, die immer da aufbrechen, wo das sich selbst nach-spürende Denken die Festigkeit selbstverständlicher Verbindungen löst. Die Performanz des Lebens bedarf ihrer eigenen Lebendigkeit halber aber auch wieder der Schließung dieser Aufbrüche. Das Idiosynkratische (im geistig-reflexiven Sinne) und das Plötzliche (im leiblich-reflexiven Sinne) vermitteln nur Unterbrechungen innerhalb der entfalteten Gegenwart.
42 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
2. Die Stadt als Raum der »Patheure«
Eine Stadt ist nicht nur relationaler Raum körperlicher Dinge und technologischer, sozialer, ökonomischer wie politischer Strukturen; sie konstituiert sich auch als eine dynamisch ephemere Sphäre der Gesten, Lichter, Gerüche und Geräusche. Die atmosphärisch-gefühlsräumliche Präsenz und Virulenz einer Stadt, ihre leiblich spürbare urbane Wirklichkeit, kommt nur selten in den Fokus sozialwissenschaftlicher Stadtforschung – obwohl der spatial turn doch eine Sensibilität gegenüber dem Raum im Allgemeinen zu versprechen scheint.
2.1 Die konstruktivistische Reduktion des Raums Tatsächlich öffnet sich der spatial turn aber nicht vorbehaltlos gegenüber dem Raum. Als Folge eines erkenntnistheoretischen Reduktionismus wird der Mensch rationalistisch und die Stadt materialistisch verzerrt. Im Zentrum steht ein relationaler Raum physischer Dinge, dessen konstruierende Urheber als kompetente Akteure gelten. Kompetent sind sie nach Anthony Giddens dann, wenn »sie normalerweise dazu in der Lage sind, für ihr Handeln in aller Regel eine Erklärung abzugeben, wenn sie danach gefragt werden.« 1 Bemerkenswert ist weniger der Grad der Illusionierung eines im Allgemeinen rationalen Subjekts als die Unsicherheit, die Giddens in seinem Mut zur (Auto-) Suggestion der Vorstellung eines selbstbeherrschten Menschen irritiert haben muss. Wenn er ihn theoretisch auch propagiert, so glaubt er an ihn doch nicht einmal selbst in der Pauschalität seiner Aussage, denn nur »normalerweise« und »in aller Regel« sei mit ihm zu rechnen. Dennoch – und gegen lebensweltlich sich zu Recht regenden Zweifel – bleibt die Vorstellung eines intelligiblen Subjekts theoretisch bestimmend. Dazu gehört die Reduktion auf seine Körperlichkeit und – 1
Giddens 1988, S. 56.
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2. · Die Stadt als Raum der »Patheure«
als deren Bedingung – die Abstraktion von seiner Leiblichkeit. 2 So ist ein kompetenter Akteur kein Freude, Trauer sowie zahllose andere Gefühle des täglichen Lebens empfindendes Wesen, sondern ein Handelnder, der in der Sache seines Handelns als sprachkompetent gilt. Auch kann kein Körper sinnliche Eindrücke wahrnehmen, die leiblich berühren und situativ im Raum atmosphärischer Milieus erlebt werden. Deshalb liegt bei Giddens der Hauptbezugspunkt der Wahrnehmung auch im Körper 3, der – so ließe sich resümieren – wie eine meat-machine funktioniert, die Sinnesdaten als Informationen sammelt und im (dinglich-materiellen) Organ des Großhirns verarbeitet. Die paradigmatische Fixierung auf einen (leiblosen) menschlichen Körper führt in die Sackgasse eines anthropologischen Reduktionismus. Abseits der paradigmatisch gelenkten Aufmerksamkeit liegt nicht nur der menschliche Leib, sondern auch der leibliche Raum. Zwar ist jedes Individuum als Körper neben anderen (auch nicht-menschlichen) Körpern im Raum der Stadt verortet. Dort ist es aber nicht nur physisch anwesend, sondern für andere Menschen auch leiblich spürbar gegenwärtig. Im mathematischen Raum bewegt es sich in einem allokativen Sinne anders als leiblich-spürend im »hodologischen Raum« 4. Als körperliche Wesen nehmen wir an einem Ort Platz ein. Als leibliche Wesen können wir auch dort sein, wo wir diesen (im mathematischen Raum) gar nicht beanspruchen. Die Lebendigkeit einer urbanen Situation verdankt sich der Gleichzeitigkeit der körperlichen und leiblichen Präsenz der Menschen. Erst in der Wechselwirkung konstituieren sich jene städtischen Aufenthalts- und Erlebnisqualitäten, die in Standortbroschüren und der touristischen Werbung als Atmosphären beschworen werden. Die Reduktion des Menschen auf ein selbstbewusst handelndes Subjekt abstrahiert von der pathischen Seinsweise einer Person. Die situative Verwicklung in die performativen Rhythmen der Stadt impliziert ja mehr als nur die Zurkenntnisnahme umweltlicher Raumqualitäten, impliziert darüber hinaus vielmehr die affektiv nach- und mitspürende
»Unter dem eigenen Leib eines Menschen verstehe ich das, was er in der Gegend seines Körpers von sich spüren kann, ohne sich auf das Zeugnis der fünf Sinne […] und des perzeptiven Körperschemas […] zu stützen.« (Schmitz LRG, S. 12). 3 Vgl. Giddens 1988, S. 97. 4 Bollnow 1963, S. 191 ff. 2
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Stadt der Patheure
Teilhabe an mitweltlichen Milieuqualitäten städtischen Lebens. Das pathische Subjekt ist das urbane Medium der gelebten Stadt.
2.2 Stadt der Patheure Als Akteure bauen wir Häuser nach einem Plan. Als Patheure geraten wir in den Bann eines Hauses und behagen uns in der Atmosphäre seiner Zimmer. Den Begriff des Patheurs leite ich von Erwin Straus’ Unterscheidung zwischen einer gnostischen und einer pathischen Form des Erkennens ab. Wenn er dem Gnostischen was »des gegenständlich Gegebenen« das Pathische als das wie »des Gegebenseins« zur Seite stellt 5, so macht er auf die ästhetische Dimension des Erkennens aufmerksam, in der wir das, was wir über uns und die Welt wissen, affektiv gewichten und mit Bedeutung ausstatten. Der Raum des Patheurs ist eine in Vitalqualitäten leiblich spürbare »Herumwirklichkeit« 6, die in Gefühlen der Enge oder Weite, Offenheit oder Verschlossenheit weniger um-, als mit-weltlich erlebt wird. Wie es den mathematischen Raum nicht neben dem leiblichen Raum gibt, so den Akteur nicht als diesen und den Patheur als jenen individuellen Menschen. Jeder Akteur ist zugleich Patheur, und jeder Patheur zugleich Akteur. Der Wechsel zwischen der einen und anderen Seinsweise vermittelt sich im Übergang von einer persönlichen oder gemeinsamen Situation 7 in eine andere. Wo das Individuum als Subjekt im Raum handelt, erlebt es zugleich als Patheur dessen phänomenale Wirklichkeit. Die weitgehende Ausblendung des Pathischen durch die Sozialund Kulturwissenschaften sieht Erwin Straus in der Methode der Wissenschaften selbst begründet: »Die mikroskopische Betrachtung, die Vertiefung in die Menge der Einzelheiten, läßt sich viel planmäßiger durchführen als die makroskopische, die Betrachtung der Grundformen.« 8 Die Phänomenologie bietet – je nach ihrer wissenschaftlichen Tradition – spezifisch differenzierte Theorien für die Durchführung solcher Betrachtungen an. 5 6 7 8
Straus 1960.1, S. 151. Vgl. Dürckheim 2005. Vgl. Schmitz WNPhän, S. 89 ff. Straus 1960.1, S. 159.
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2. · Die Stadt als Raum der »Patheure«
Die Stadt der Patheure ist keine esoterische Insel. Sie ist auch Folge dessen, was wiederum Akteure in ihr hervorgebracht haben. So wirken die von ihnen gebauten Häuser, Brücken und unterirdischen Glasfasernetze schließlich auf den Patheur im Akteur wieder zurück. Die dunklen Nachträume städtischer Hinterhöfe und finsteren Ecken einer Stadt sind nicht als solche konstruiert. Sie konstituieren sich situativ und rücken dem Individuum auf den Leib. 9 Nicht ich sehe dann die Dinge an, die Dinge kommen nun auf mich zu und entfalten eine gestische Macht. 10 Begrünte Stadträume disponieren andere herumwirkliche Erlebnisqualitäten als Hochhausquartiere, scheinbar endlos geradeaus verlaufende Straßen andere als romantizistisch geschwungene Wege. Weil die Dinge im Raum durch ihre Gesten 11 anmuten, können sie manipulativ und suggestiv auch inszeniert werden. In der Baukunst der Renaissance wurde der Diamantquader in diesem Sinne als Medium der Beeindruckung in der Fassadengestaltung repräsentativer Paläste in zentraler Lage im öffentlichen Raum eingesetzt. Die Spitzen der in eine pyramidenartige Form geschnittenen Steine ragen in den Außenraum, um durch die bewegungssuggestive Gestalt der Vielzahl spitzer Ecken das Gesicht der gesamten Fassade zu stimmen. Der in seiner Geometrie nach vorne in den Raum der Straße oder des Platzes strebende Stein droht gleichsam mit der Macht schneidender Schärfe. Die auf den Passanten zustrebende Form weist ab, sticht in einem metaphorischen Sinne und suggeriert das atmosphärische Gefühl Autorität gebietender Macht.
2.3 Mythische Räume Michel Foucault hatte mit den Heterotopien auf eine mythische Funktion von Räumen aufmerksam gemacht. Solche anderen Räume haben sich in allen Kulturen gebildet, um im Medium der Illusion gesellschaftliche Widerspruchsverhältnisse utopisch zu ent-sorgen. Die Ar-
Vgl. Straus 1960.2, S. 261. Diese Wechselwirkung zwischen Blicken und Anblicken fasst Hermann Schmitz mit dem Begriff der leiblichen Kommunikation. In der Architekturtheorie thematisiert Angelika Jäkel das Angeblickt-werden von Bauten oder deren Elementen mit dem Konzept der Geste (vgl. Jäkel 2013). 11 Vgl. ebd. 9
10
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Wissenschaft und Mythos
chitektur spielt eine zentrale Rolle in der mythischen Aufladung dieser im Raum der Stadt in dichter Folge verorteten institutionellen Räume. Mit ästhetischen Mitteln schafft sie das Milieu, in dem die Mythen so lebendig werden, dass sie das Wissen um das tatsächliche Scheitern der Utopien unbewusst machen. Im Sinne eines affektiv ganzheitlichen Weltverstehens werden die Bedeutungen der Heterotopien mehr gefühlsmäßig einge-leibt als rational einge-sehen. So konstituiert sich im umfriedeten Binnenraum des Friedhofs eine Atmosphäre des religiösen Glaubens an das ewige Leben – auf dass das naturwissenschaftlich andere Wissen um Leben und Tod zurückgedrängt und damit erträglich werde. Das komplexe realräumliche Arrangement eines Friedhofs zielt seit Jahrhunderten nicht auf eine Revision verstandesmäßigen Wissens, sondern auf die gefühlsmäßig versöhnliche Glättung seiner idiosynkratischen Ecken und Kanten. Auch zentrale Bauten im ökonomischen Raum der Stadt geben über ihre gestaltspezifischen Gesten in einem leiblichen Sinne etwas zu verstehen. So soll die in den Himmel strebende Architektur der Wolkenkratzer mächtiger Banken nicht nur unternehmenspolitische Größe symbolisieren, sondern diese affektiv im Raum der Patheure als Geste der Macht leiblich auch spürbar machen. Auf dem Wege leiblicher Kommunikation werden soziale Ordnungen durch räumliche Arrangements beglaubigt, hergestellt und justiert.
2.4 Wissenschaft und Mythos Wissenschaft, die sich paradigmatisch gegenüber der lebensweltlich evidenten Einsicht verschließt, dass es neben dem relationalen Raum der Dinge auch leibliche Räume emotionaler Orientierung gibt, kann ihre Glaubenssätze nur mythisch am Leben erhalten. Das um diesen Preis darzubringende erkenntnistheoretische Opfer ist die Leugnung der Leiblichkeit, deren theoretische Integration die Statik gemeinschaftlich geteilter Theorie- und Glaubenssätze an einen dystopischen Rand treiben würde. »Der wirkliche Mensch, wie er außerhalb der theoretischen Modelle erscheint, lebt durch die Leidenschaften, aus dem Zufall und dank der Nachahmung. Für aufklärerisch gesinnte Menschen enthalten diese Diagnosen starke Zumutungen. Wir wollen als vernünftig, organisiert, selbstdurchsich-
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2. · Die Stadt als Raum der »Patheure«
tig und originell gelten und sind in Wahrheit unberechenbar, chaosanfällig, trüb und repetitiv.« 12
Das Verstehen der Stadt in ihrer Vieldimensionalität verlangt deshalb ein grundlegendes wissenschaftstheoretisches Wachwerden gegenüber dem pathischen Raum. Wenn dieser auch in der Mitte der gelebten Stadt liegt, so wird er doch von der gnostischen Schwere zivilisationshistorisch eingeübter Wahrnehmung verdeckt. Die urbane Stadt verdankt sich zum einen der kulturellen Produkte ihrer Akteure. Zum anderen entfalten diese ihre ganze (von Akteuren auch gewollte) Wirkung doch erst in einem leiblichen Raum der Patheure – in jener Stadt, die nicht nur funktioniert, sondern auch als Heimat stiftender Raum der Identifikation emotional angeeignet wird.
12
Sloterdijk 2011.
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3. Leibliche Kommunikation und Architektur Zur Bedeutung synästhetischer Wahrnehmung
Über das Innen des architektonischen Raumes sagte der niederländische Benediktinermönch und Architekt Dom Hans van der Laan: »Im Binom Innen-Außen spielt das Innen die aktive Rolle: Wir machen das Innen, indem wir es abgrenzen, und dadurch entsteht das Außen, das ganz auf das Innen bezogen ist.« 1 In der sich dem Menschen gleichsam aufzwingenden Gestaltungsaufgabe des Hausbaus entstehen Wände, die aus der Weite des Außenraumes eine bestimmte Enge des Innenraumes schaffen. Mit den ersten von Menschen gebauten Hütten spitzt sich das Thema der leiblichen Kommunikation in einer Weise zu, dass es in der Lösung aller nur erdenklichen Gestaltungsaufgaben eine Rolle spielen sollte. In der Architektur stellen sich diese Aufgaben als solche der Schaffung und Gestaltung von Räumen, die nicht nur sichtbar und begehbar, sondern am eigenen Leib auch spürbar sind. Die runde Ecke »spricht« in ihrer Wirkung den Raumbewohner in anderer Weise an als eine beengende, tief herabhängende Decke. Das folgende Kapitel rückt die Rolle der Synästhesien im Entwerfen wie Erleben von gebauter Umwelt in den Fokus. Bei Synästhesien handelt es sich im weiteren Sinne um eine Grundform ganzheitlicher Wahrnehmung. Synästhetisches Erleben vermittelt sich auf dem Wege leiblicher Kommunikation.
3.1 Leibliche Kommunikation Mit dem Begriff der »leiblichen Kommunikation« spricht Hermann Schmitz eine grundlegende Form der Wahrnehmung an. Sie setzt kein Denken voraus und muss nicht ins intelligible Denken münden. Leibliche Kommunikation gibt es als antagonistische Einleibung in der Zuwendung eines Wahrnehmenden an einen Partner der Kommunikati1
Van der Laan 1992, S. 19
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3. · Leibliche Kommunikation und Architektur
on. 2 Als Normalfall lassen sich zwei Personen vorstellen, die ihre aufeinander zugehenden Bewegungen intuitiv so organisieren, dass sie nicht kollidieren. Solche autopoietische Abstimmung ohne wörtliche Rede wiederholt und behauptet sich täglich in den vollen Fußgängerzonen der großen Städte, in denen sich die Menschen in gegenläufigen Strömen kollisionsfrei schnell wie langsam fort- und aneinander vorbei bewegen. Leibliche Kommunikation ist aber auch als eine Form der Zuwendung eines Wahrnehmenden zu Gegenständen zu verstehen. Auch hier spricht Schmitz von antagonistischer Einleibung, denn »sie ist nicht nur unter Leibern möglich, sondern auch im Verhältnis zu einem leblosen Gegenstand wie einem heranfliegenden Stein. […] Dies liegt an den Brückenqualitäten, die sowohl am eigenen Leib gespürt als auch an begegnenden Gestalten – ruhenden, bewegten und ihren Bewegungen – wahrgenommen werden können.« 3 »Leibliche Dynamik ist von vornherein dialogisch, weil Engung und Weitung als Spannung und Schwellung an einander gebunden sind, solange das bewußte Erleben nicht aussetzt.« 4 Die leibliche Verstrickung in umgebende Räume ist so grundlegend, dass die Wahrnehmung aller architektonischen Formen a priori leiblichen Charakter hat. Mit anderen Worten: Jede Architektur wird – mag sie noch so intensiv zum Anlass des intellektuellen Streits werden – schon im Moment der Annäherung zum Gegenstand leiblicher Kommunikation. Wolfgang Meisenheimer weist darauf hin, dass Haus und Stadt in zivilisationshistorischer Sicht als Schutz- und Rückzugsbauten bzw. -Räume zu verstehen sind, die der Angst vor der Weite begegnen, indem sie der Weite Grenzen setzen und ein bergendes Innen schaffen. 5 So entstehen behagende wie ängstigende Räume der (relativen) Enge. »Das Gebaute ist, um was es sich auch immer handelt, Tempel, Wohnhäuser, Straßen, Wolkenkratzer oder auch Marktstände, als Gegenüber des menschlichen Leibes konzipiert.« 6 Die sehr schmale Gasse wird als beengend erlebt, der große Raum eines offenen Platzes in einem Gefühl der Weite. Letztlich konstituieren sich die Bedeutungen räumlichen Erlebens aber auf dem Hintergrund konkreter Situationen.
2 3 4 5 6
Schmitz Einf, S. 40. Ebd. Schmitz NGrdl, S. 123. Vgl. Meisenheimer 2010, S. 23 f. Ebd., S. 25.
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Leibliche Kommunikation
So kann die Enge einer spitzen Zimmerecke als bedrückend erlebt werden, weil sie keinen Raum der Bewegung anbietet; dieselbe Ecke kann – wenn sie Ort des Rückzugs und der Ruhe ist – aber auch als behaglich empfunden werden. Das folgende Beispiel macht die Situationsabhängigkeit der Art und Weise deutlich, in der ein leiblich ergreifendes Gefühl mit Bedeutungen verbunden ist. New Yorker Bauarbeiter stießen im Jahre 1991 auf zahlreiche Menschen, die in den dunklen Gängen und Räumen eines stillgelegten Eisenbahntunnels lebten. Die »homeless people« hatten sich in der Weite der Dunkelheit und der Enge der unterirdischen Räume mit einfachsten Mitteln eingerichtet. »Manny«, der zur Zeit des mit ihm geführten Interviews seit ungefähr einem Jahr im Tunnel lebte und Sozialhilfe bezog, sagte: »Im Tunnel fühle ich mich sicher, denn ganz egal, was du für ein Mordskerl bist, selbst wenn du ’ne Pistole hast oder eine andere Waffe – wenn du nie drin warst und nicht weißt, wohin der Weg führt –, hier ist nicht mal ein Schimmer Licht, alles stockdunkel. Da bist du aufgeschmissen. […] es ist dermaßen finster, daß du nicht mal die Hand vor den Augen siehst.« 7
Die Enge der Tunnelarchitektur wie die Weite der Dunkelheit vermittelte ihm ein Gefühl der Sicherheit. Dabei steht die Enge der Tunnelräume in einem leiblichen Dialog mit der Weite des Dunklen und der sich in einem scheinbaren Nichts verästelnden Räume. Aus der Perspektive eines in »normalen« oberirdischen Wohnräumen lebenden Menschen müssten ähnliche Bedingungen ein angstvolles Gefühl der Enge evozieren. In dieser Fremdheit der unterirdischen Welt für jeden an das Licht des Tages gewohnten Menschen sieht Manny einen wichtigen Grund für seine Sicherheit. In der Dunkelheit des Tunnels kann sich nur zurechtfinden, wer auch im Tunnel lebt. Das liegt daran, dass die Dunkelheit als »zähes Medium« in ihrer spezifischen Weite »wenig Bewegung zuläßt und gerichtete Impulse hemmt oder erst gar nicht aufkommen läßt«. 8 Für den in der Dunkelheit der unterirdischen Räume Lebenden ist das aber anders, und so kehrt sich auf dem Hintergrund der Vertrautheit der »Tunnelmenschen« mit der dunklen Weite die Erlebnisqualität des atmosphärischen Raumerlebens gleichsam herum. Die Weite der Dunkelheit und Enge der Räume vermittelt ihnen Morton, Margaret: Der Tunnel. Die Obdachlosen im Untergrund von New York City. München u. a. 1995, S. 55. 8 Schmitz Bd. III/5, S. 58. 7
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3. · Leibliche Kommunikation und Architektur
kein Gefühl des Fremd- und Bedroht-seins, sondern ganz im Gegenteil ein Gefühl des Behagt-seins. Ein Milieu, das den durchschnittlichen New Yorker Stadtbewohner auf Distanz halten dürfte, vermittelt den »Tunnelmenschen« ein Gefühl guten – zumindest vorübergehenden – Aufgehoben-seins: »Ich fühle mich wohl hier«, sagt Manny, und Larry (Bewohner eines anderen Tunnelraumes) sagt sogar explizit: »Das hier ist mein Zuhause« 9. Die Übertragung von Eigenschaften des tatsächlichen Raumes wie tatsächlicher Dinge in das leibliche Spüren findet über »Bewegungssuggestionen« und »synästhetische Charaktere« statt. Bewegungssuggestionen sind Bewegungstendenzen, »die nicht Bewegungen sind, sondern solche ankündigen, aufdrängen oder nahelegen« 10. So überträgt sich zum Beispiel die Masseneigenschaft der Dunkelheit in der Suggestion langsamer Bewegungen in das eigenleibliche Gefühl in diesem Raum. Die Bewegungssuggestion erweist sich damit als Brücke synästhetischer Charaktere, in denen sich »das Leibliche und das gegenständlich Wahrgenommene« 11 überschneiden.
3.1.1 »Klingende Profile« und »gläserne Schiffe« Über die Baukunst von Alfred Messel 12 schrieb August Endell 1909: »Seine Profile klangen, sein Relief hatte einen eindringlichen Sinn, seine Massen sprachen. Es war gar nichts Unerhörtes in diesen Bauten, keine selbständige Form; aber die erborgten Formen waren nicht mehr stumm. Sie waren so frei und genau gebildet, so sorgfältig vom Gefühl abgewogen, daß sie eben nicht mehr Phrase, sondern Klang geworden waren.« 13
Lebendig klingende Formen waren es, die Endell in der Baukunst seiner Gegenwart vermisste. Es war ihm »direkt unbegreiflich, daß im neunMorton 1995, S. 58. Schmitz Bd. III/5, S. 38. Bewegungssuggestionen, die sich an Gestalten abzeichnen, nennt Schmitz »Gestaltverläufe«, vgl. ebd., S. 40. 11 Ebd. 12 Alfred Messel (1853 bis 1909) war Architekt im preußischen Staatsdienst, Professor an der TU in Charlottenburg und Mitglied der preußischen Akademie der Künste. Er baute unter anderem das Kaufhaus Wertheim in der Berliner Oranienstraße, das Landesmuseum in Darmstadt und erarbeitete einen Entwurf für die Neubauten auf der Berliner Museums-Insel (vgl. Wasmuth, Bd. 3, S. 604). 13 Endell 1995.2, S. 69. 9
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Leibliche Kommunikation
zehnten Jahrhundert nicht erreichbar sein solle, was im achtzehnten kleine Handwerker in den entlegensten Orten gekonnt hatten« 14. Endell bedient sich in seiner Kritik nicht nur »einer« synästhetischen Aussage, um sein ästhetisches Unbehagen gegenüber dem Bauen am Beginn des 20. Jahrhunderts zum Ausdruck zu bringen; er bildet vielmehr ein differenziertes synästhetisches Ausdrucksnetz: klingende Profile, sprechende Massen, lebendige (und nicht stumme) Formen und schließlich: ein vom Gefühl abgewogenes Bauen. In der Art und Weise, wie ihm die situativ gerahmten Dinge in ihrer Bewegung erschienen sind, drücken sie sich in einer Erlebnisqualität der Lebendigkeit aus, die er im Bauen seiner Zeit vermisste. Umgekehrt machen die wenigen Sätze aber auch deutlich, dass das von ihm erwünschte (alte) Bauen selbst einer gefühlsmäßigen Lebendigkeit des Entwerfens bedürfte, eben eines »sorgfältig vom Gefühl abgewogen[en]« Bauens. Endell kritisierte damit eine fehlende leiblich-gefühlsmäßige Einstimmung in die Aufgabe des Bauens. Das Beispiel zeigt, dass Synästhesien gerade in der Vermittlung eines Verstehens komplexer Situationen stark sind. Auch weitere Beispiele werden zeigen, dass Synästhesien ihre Wurzeln im leiblichen Erleben und spürbaren Mitsein in Situationen haben. Der folgende Textauszug von August Endell über das städtische Treiben in abendlicher Dämmerung geht in der Beschreibung »leibhaftiger Herumwirklichkeiten« 15 weit über die Erfassung segmentierter Eindrücke hinaus und entfaltet seine Stärke in einer mimetischen Poetisierung, mit der Endell jene Synästhesien anspricht, die auf eindrückliche Weise die Lebendigkeit einer abendlichen Straßenszene zusammenfassen. »Die Perspektive scheint ganz zu verschwinden, es gibt kein Vorn und Hinten mehr, das Ganze gleicht einem wandelnden nächtigen Berge, über dem gespenstig die roten, trüben Lichter der Laternen aufleuchten. Und so werden aus all den Gefährten wundersame lebendige Wesen: die riesigen gelben Kasten der Postkutschen, die wandelnden, donnernden Gebäude der Automobilomnibusse und die gläsernen Schiffe der Trambahnen, die mit ihrem glänzend grünen Leib daherzugleiten scheinen, überraschend in den Kurven sich drehend, und beim Biegen in den großen Scheiben blitzende Lichter aufwerfend.« 16
14 15 16
Ebd., S. 67. Vgl. Dürckheim 2005, S. 23. Endell 1995.2, S. 198 f.
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3. · Leibliche Kommunikation und Architektur
Endells Raumerleben erfasst die Ganzheit einer Situation, in der es nicht einzelne Dinge sind, die er wahrnimmt, sondern Eindrucks- und Bewegungs-Einheiten, die ihn in der spezifischen Art ihrer Bewegung affektiv ansprechen und ihm durch Bewegungssuggestionen (»wandelnde nächtige Berge«) wie synästhetische Charaktere (»donnernde Gebäude«) vermittelt werden. Was Endell hier in der poetisierenden Rede mitteilt, drückt aus, was Annelies Argelander schon in den 1920er Jahren mit ihrer Forschung über synästhesiebedingte »Wahrnehmungsanalogien« 17 zum Gegenstand der Forschung machte.
3.1.2 Zur Geringschätzung synästhetischen Wahrnehmens Das Phänomen der Synästhesien ist so alt wie die menschliche Erkenntnis; dagegen kommt der Begriff der Synästhesie erst im 19. Jahrhundert als medizinisch-psychologischer Terminus auf. Als Synästhesien galten insbesondere intermodale Verknüpfungen von Gehör und Gesichtssinn (sog. Farbenhören). Es ging um einzel-sinnliche Reize und nicht die ganzheitliche Wahrnehmung von Situationen. 18 Daher fanden auch körperliche Empfindungen Aufmerksamkeit in der Forschung und nur am Rande leibliche Eindrücke. Synästhetische Wahrnehmungen galten lange (und zum Teil heute noch) als Abweichung von der Normalität des Wahrnehmens und wurden (außerhalb der Lebenswelt) in einem pathologisierenden Verständnis als Verwirrung der Sinne gedeutet. Zur Illustration von Synästhesien sind Beispiele verbreitet, in denen ein akustischer Eindruck auf eine Farbe, einen Geruch, einen Geschmack oder ein taktiles Gefühl übertragen wird – oder umgekehrt, ein geschmacklicher in einen farblichen, visuellen Eindruck usw. 19 So unterscheidet Cytowic zwischen »starken« (intermodalen) und »schwachen« (metaphorischen) Synästhesien. 20 Wenn in der psyArgelander 1927, S. 131. In diesem Sinne versteht die Psychologie Synästhesie als »Mitempfinden, d. h. gleichzeitiges Empfinden von zwei verschiedenen Eindrücken bei Reizung eines Sinnesorgans. Hören von Tönen bei Farbeindruck, Sehen von Farben bei Tönen, Verbindung von Sehen und Geschmack« (Dorsch 1970, S. 406). 19 Am häufigsten kommen Synästhesien nach Hinderk Emrich als »Ton-Farbe-Synästhesie« vor (vgl. Emrich 1998, S. 128). 20 Vgl. Cytowic 2002, S. 7 17 18
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Leibliche Kommunikation
chologischen Literatur auch vor allem die intermodalen Wahrnehmungs-Synästhesien Beachtung finden, so sollen hier die »metaphorischen« Synästhesien in den Mittelpunkt rücken. Synästhesien sind in ihrer wahrnehmungsspezifischen Besonderheit aber keine Metaphern. Gleichwohl erleichtert der Begriff der Metapher das bessere Verstehen einer ganzheitlichen Form des Erlebens, in der die Komplexität einer erscheinenden Situationen in dieser Komplexität ins Erleben übertragen wird. Die Synästhesien bedürfen also nicht der Sprache; sie sind vielmehr als ein integratives Vermögen der sinnlichen Wahrnehmung zu verstehen, das im Erkennen zusammenfügt, was sich im Erleben als zusammengehörig darstellt. Das Denken in Kategorien der Intermodalität hat historische Wurzeln. Relativ junge Spuren lassen sich in ausgeprägter Form am Beginn des 20. Jahrhunderts finden. So liegt auch Heinrich Maiers Psychologie des emotionalen Denkens ein atomistisches Verständnis der Wahrnehmung zugrunde. Nach seiner Auffassung pflegen sich »einzelne Gefühlselemente schneller und leichter […] zu verändern […] als die gesamte Gefühlslage«. 21 Deutlich kündigt sich darin die weitgehende Nichtbeachtung ganzheitlicher Formen der Wahrnehmung sowie der leiblichen Kommunikation an. Was von Cytowic mit dem Begriff der schwachen Synästhesien angesprochen wurde, geht bei Heinrich Maier »restlos in der Phantasievorstellung« 22 auf. Als Repräsentant des kritischen Realismus hält er sich an die Dinge und das, was sie in ihrem physischen Charakter suggerieren (etwa in Gestalt der von ihnen auf die einzelnen Sinne gehenden Reize). Ganzheitliche Erscheinungen oder die Komplexität von Situationen waren ihm so trügerisch wie in unserer Zeit dem Konstruktivismus. Selbst bei dem phänomenologisch orientierten Entwicklungspsychologen Heinz Werner fand die Synästhesie im Vermögen der Wahrnehmung nur einen hierarchisch unteren Platz. Ihr erkenntnistheoretisch minderer Rang war zugleich Ausdruck eines kulturell geprägten Verständnisses der menschlichen Entwicklung. Weil die Synästhesien nur als Protokompetenzen einer kulturell verfeinerungsbedürftigen (sachbezogenen) Wahrnehmung gedacht waren, gehörten sie ebenso in die Welt der Primitiven wie in die kleiner Kinder. Der 21 22
Maier 1908, S. 386. Ebd., S. 383.
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3. · Leibliche Kommunikation und Architektur
(nach der Bildungstradition westlicher Kultur zivilisierte) Erwachsene hatte sich in dieser Vorstellung von ganzheitlichen Formen der Wahrnehmung gelöst. 23 Deshalb komme auch das Farbenhören bei Kindern weit häufiger vor als bei Erwachsenen. 24 Die in den Synästhesien im weiteren Sinne zum Ausdruck gelangende »Komplexität der Anschauung« 25 wurde nicht als konstruktives Vermögen einer synthetisierenden Wahrnehmung aufgefasst, sondern als eine »Urschicht« 26 der Wahrnehmung, die durch Entwicklung überwunden werden musste. So schied auch Heinz Werner die Synästhesien vom »normalen« Wahrnehmen ab, um sie unterhalb der Kompetenz des »sachlichen Menschentyps« 27 zu platzieren. Synästhesie galt zwar als beachtenswertes Wahrnehmungsphänomen, aber es lag abseits menschlicher Normalität. Mit ihm tat sich ein Feld der Täuschung auf, denn unter geeigneten Umständen sei »jeder Kulturmensch synästhetischen Beeinflussungen (Hervorhebung J. H.) zugänglich«. 28 Noch heute steht in der neurophysiologischen Synästhesien-Forschung nicht die Ganzheiten erfassende »schwache« Synästhesie im Mittelpunkt, sondern ihre (vermeintlich) starke Variante der (physiologischen) Intermodalität. Wenngleich diese auch nicht mehr als pathologisch gilt 29, so betrachtet Hinderk Emrich sie doch als »eine abnormale Erregung« bzw. »eine abnormale Steigerung limbischer Erregungen«. 30 Das Denken der Synästhesien hängt (außerhalb der Phänomenologie) in erster Linie an der Logik einer hirnphysiologischen Datenverarbeitung sinnlicher Reize. In diesem Blickwinkel gelten die Synästhesien als ein archaisches Wahrnehmungselement. Die sogenannten Doppelund Sekundärempfindungen 31 liegen nur in dessen Schatten. Auch Vgl. Werner 1953, S. 62. Vgl. ebd., S. 64. 25 Ebd., S. 65. 26 Ebd., S. 66. 27 Ebd. 28 Ebd., S. 68. 29 Vgl. Emrich 1998, S. 130. 30 Ebd., S. 133. Für eine in ähnlicher Weise naturwissenschaftliche Deutung steht Arnold Wohler, wenn er die Synästhesie als Indikator dafür ansieht, »dass ein sensorischer Reiz aufgrund spezifischer struktureller Konditionen des kognitiven Systems ein jeweils sinnesspezifischer Reiz ist, der zudem in seinen Qualitäten erst durch ein kognitives System repräsentiert ist« (Wohler 2010, S. 127). 31 Vgl. von der Lühe 1998, S. 768. 23 24
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Synästhesien in der Phänomenologie
Heinz Paetzold weist darauf hin, dass in den vielen philosophischen und psychologischen Strömungen, in denen dem Phänomen nachgegangen wird, direkte Synästhesien im Unterschied zu den Übertragungen im weiteren Sinne eine unverhältnismäßig große Rolle spielen. 32 Paetzold macht aber auch auf Abgrenzungsprobleme zwischen Synästhesien und Metaphern aufmerksam. 33 Diese sind aber nicht nur der Sache geschuldet, sondern auch Produkt eines tendenziell synonymisierenden Wortgebrauchs. Sabine Gross beschreibt Synästhesien in der Literatur zum Beispiel als »eine spezifische Unterkategorie von Metaphern«. 34
3.2 Synästhesien in der Phänomenologie In der Phänomenologie rücken – entgegen dem wissenschaftlichen Denken in den alten wie den neuen Naturwissenschaften – nicht die starken, sondern die »schwachen« Synästhesien in ihrem spezifischen Vermögen zur Erfassung ganzheitlicher in den Vordergrund. Zum Regelfall wird synästhetisches Wahrnehmen erst im 18. Jahrhundert bei Johann Gottfried Herder, der von einer ganzheitlichen Sinnlichkeit des Menschen ausgeht. 35 In dem, was später mit dem Begriff der Synästhesie beschrieben werden sollte, sah Herder ein elementares Vermögen der Wahrnehmung: »Wir sind voll solcher Verknüpfungen der verschiedensten Sinne« 36, und kritisch merkt er an: »alle Zergliederung der Sensation […] sind Abstraktionen.« 37 Die Synthese einzelner sinnlicher Eindrücke zu einem übergreifenden Ganzen sah er als Aufgabe eines sensorium commune. Auch bei Merleau-Ponty ist die synästhetische Wahrnehmung nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel. Ähnliche Positionen werden später unter anderem von Ernst Cassirer (Synästhesien als »genereller Charakter des Wahrnehmungsbewußtseins« 38), Felix Krueger (»Akkord« 39 als vielstimmige Form der Wahr32 33 34 35 36 37 38 39
Paetzold 2010, S. 849. Vgl. ebd. Gross 2002, S. 58. Vgl. von der Lühe 1998, S. 769. Cassirer 2002.2, S. 37. Ebd., S. 37. Vgl. Paetzold 2010, S. 861. Krueger 1930, S. 26.
57 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
3. · Leibliche Kommunikation und Architektur
nehmung), Helmuth Plessner (»Einheit der Sinne« 40), Georg Picht (Wahrnehmung als »Vibration der gesamten Sphäre unserer Sinnlichkeit« 41) und insbesondere Hermann Schmitz (Wahrnehmung »synästhetischer Charaktere« als leibliche Kommunikation) bezogen. Dass es gerade Phänomenologen waren, die in den »schwachen« Synästhesien Konstituenten der Wahrnehmung des Menschen im Allgemeinen und darin erkenntnistheoretische Brücken zur Erfassung situativer Zusammenhänge sahen, ist Ausdruck disziplintheoretischer Identität, die nicht zuletzt als spezifische »Denkstimmung« 42 den Rahmen für ein ganz bestimmtes paradigmatisches Denken absteckt. Gerade Beispiele zur Architektur werden zeigen, dass und in welcher Weise es Sache des Bauens ist, diesseits der An- und Aussprache von Sinn und Zweck eines Bauwerkes im Wege leiblicher Kommunikation Macht zu entfalten. Dabei spielen synästhetische Formen der Wahrnehmung eine zentrale Rolle. In gewisser Weise konstituiert sich in den Bauten der Architektur ein atmosphärisch-gefühlsmäßiges Erlebnisfeld, so dass es im Prinzip sachgemäß wäre, zu sagen, »die Affekte nehmen wahr«. 43 Nach Georg Picht fassen die Sinne einzelne Informationen immer nur im Kontext der Welt auf und nicht in einem Akt der Zusammensetzung einzeln gedachter Elemente. Die »Totalität des Spiels von Wechselwirkungen der Sinnessphäre« 44 wird nicht nur als Ergebnis einer simultanen Kommunikation der Sinne aufgefasst, sondern auch als Vermögen einer Einheit von Verstand und Gefühl. Der Husserl-Schüler Hans Lipps hob die Syntheseleistung der Synästhesien hervor: »Darin daß ich einen Eindruck wiederzugeben versuche, indem ich sage, w o n a c h etwas aussieht, bzw. daß ich ihn gleichnishaft umschreibe durch ein ›so wie …‹, ›als ob …‹, betont sich gerade, wie das rechte Wort dafür notwendig fehlt […].« 45 Vgl. Paetzold 2010, S. 856. Picht 1986, S. 417. 42 Ludwik Fleck beschreibt Erkenntnis »als eine Funktion von drei Elementen […]: Sie ist eine Relation zwischen dem individuellen Subjekt, dem bestimmten Objekt und der gegebenen Denkgemeinschaft (Denkkollektiv), in der das Subjekt handelt; sie gelingt nur, wenn ein bestimmter, in der gegebenen Gemeinschaft entstandener Denkstil angewendet wird« (vgl. 2011, S. 468). 43 Picht 1986, S. 415. 44 Von der Lühe 1998, S. 771. 45 H. Lipps 1977, S. 91. 40 41
58 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Synästhesien in der Phänomenologie
Im Prinzip meinte auch Johannes Volkelt nichts anderes, als er von einer »Anknüpfung« eines »Stimmungsgehaltes« an einen Wahrnehmungsgegenstand 46 sprach. Auf dem Hintergrund eines sich breiter entfaltenden phänomenologischen Denkens der Synästhesien kann Hermann Schmitz ein systematisch differenziertes Konzept entwickeln.
3.2.1 Synästhetische Charaktere in der Neuen Phänomenologie Hermann Schmitz erkennt die Besonderheit dessen, was Cytowic mit den schwachen Synästhesien thematisierte. Im Unterschied zu ihm sieht er in den »starken« (d. h. intermodalen) Synästhesien eher »nebensächliche Epiphänomene synästhetischer Charaktere« 47. Nicht die intermodalen Synästhesie-Empfindungen gelten ihm als grundlegend für die menschliche Wahrnehmung, sondern die weitaus komplexeren, auf Situationen bezogenen synästhetischen Charaktere, die im Prozess leiblicher Wahrnehmung für »Gefühlstöne« 48 stehen. Nicht die Ähnlichkeit von Reiz und Empfindung stößt auf sein hauptsächliches Interesse, sondern die Ähnlichkeit von Eindruckssuggestion und dessen leiblicher Regung, mit anderen Worten: die »Affinität zwischen Leiblichkeit und Wahrnehmung« 49. Damit wendet er sich gegen die Simplifizierungen eines »separatistischen Sensualismus« 50, der auf der Logik aufbaut, die Eigenschaft einer Sache gehöre einer Welt der Objekte an und werde über die Einfühlung zu einem Stoff der Empfindungen. Synästhetische Charaktere unterscheiden sich nicht zuletzt dadurch von den intermodalen Synästhesien, dass sie sinnlicher Reize gar nicht bedürfen. So geht das durch Müdigkeit sich ausbreitende Gefühl der Schwere 51 ebenso wenig auf einen sinnlichen Reiz der Außenwelt zurück wie die sich so eindrucksmächtig entfaltende Stille. Als Beispiele für synästhetische Charaktere, die ohne Synästhesien auskommen, nennt Schmitz:
46 47 48 49 50 51
Volkelt 1905, S. 274. Schmitz Bd. III/5, S. 57. Ebd., S. 60. Ebd., S. 59. Ebd., S. 9 Vgl. Böhme 1995, S. 93.
59 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
3. · Leibliche Kommunikation und Architektur
»das Scharfe, Grelle, Sanfte, Spitze, Helle, Harte, Weiche, Warme, Kalte, Schwere, Massige, Zarte, Dichte, Glatte, Raue der Farben, Klänge, Gerüche, des Schalls und der Stille, des hüpfenden und des schleppenden Ganges, der Freude, des Eifers, der Schwermut, der Frische und Müdigkeit« 52.
Schmitz spricht deshalb auch nicht von Einfühlung, sondern von leiblicher Kommunikation. Deren Bedeutung geht über den Begriff der Einfühlung, wie er um 1900 in großen Werken zur Theorie der Ästhetik zum Beispiel von Johannes Volkelt 53, Theodor Lipps 54 und Wilhelm Worringer 55 entwickelt worden war, weit hinaus. Es liegt am ganzheitlichen Charakter der Wahrnehmung, dass Eindrücke in Situationen wurzeln und nicht an gleichsam frei schwebenden Dingen. Eine spitze Gestalt spricht als die Spitze dieses Steines in dieser Fassade an (s. Kapitel 5.3), das Runde nicht als das Runde im Allgemeinen, sondern als das Runde dieses Torbogens usw. Die leiblichen Resonanzen (des Spitzen, Schweren, Dumpfen, Leichten usw.) bilden das Kommunikationsmilieu, in dessen Spiegel sich die Wahrnehmung moduliert. 56 So geht etwa vom Geraden in die Höhe aufstrebender Säulen in der Architektur ein Eindruck der Stille aus. 57 Hohe Säulenarkaden im Bau weltlicher und kirchlicher Räume illustrieren das auf einem je situationsspezifischen Bedeutungshintergrund, in dem die Stille in eine Atmosphäre des heiligen oder politisch erhabenen Raumes eingeht. In Alfred Böcklins Gemälde »Toteninsel« drücken sich die senkrecht in den dunklen Himmel aufstrebenden Zypressen im synästhetischen Charakter der (Toten-) Stille geradezu mystisch aus. Die so eindrückliche Stille wird noch verstärkt durch die (nur in der letzten Bildfassung von 1886) gebeugte Haltung des Mönchs, die die Situation der Trauer (abermals mit synästhetischen Ausdrucksmitteln) zuspitzt (vgl. auch Abb. 20.1 in Kapitel 20). 58 Eindrucksvermittler sind im Allgemeinen Gestaltverläufe und Bewegungssuggestionen (der spitze Stein, der im leiblich spürenden Wahrnehmen ein Gestochen-werden von der zur Erscheinung kom-
52 53 54 55 56 57 58
Schmitz Einf, S. 40. Vgl. Volkelt 1905–1914. Vgl. Th. Lipps 1914 und 1920. Vgl. Worringer 1918. Vgl. Schmitz Bd. III/5, Kapitel 2. Wölfflin zit. bei Schmitz Bd. III/4, S. 629. Vgl. auch Hasse 2011, S. 40 ff.
60 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Synästhesien in der Phänomenologie
menden Spitze suggeriert), die sich in synästhetische Charaktere 59 übertragen. So macht die Bewegungssuggestion, die von Gestaltverläufen ausgeht (z. B. das Gefühl der Öffnung des Hauses in die landschaftliche Umgebung durch nach innen sich weitende schräge Fensterleibungen), das »Wahrgenommene und das spürbare leibliche Befinden vergleichbar« 60. Die gestalt- und bewegungssuggestiven Weisen der Darbietung des sinnlichen Materials bilden die Brücken zu den synästhetischen Charakteren, indem sie die leibliche Dynamik und damit den vitalen Antrieb ansprechen – so die epikritische Form, die sich ins spitze Grelle und Schrille verdichtet, oder die protopathische Form, die im Sinne von warm, rund und offen eher diffus bleibt. 61 Ästhetische Objekte der Architektur entfalten ihre Wirkung über die »Züge, die das fertige ästhetische Gebilde […] ausmachen und als solches wirken lassen«. 62 Derartige Züge kommen in Gestaltverläufen zum Ausdruck und werden im »Ineinandergreifen von Gestaltverläufen und synästhetischen Charakteren« 63 eindrücklich. Beide sind Baustoffe der Atmosphären, münden aber nicht zwangsläufig in diese. Züge in diesem Sinne kommen auch an Blicken vor; zum Beispiel als befremdliche Kühle, von der man sich »eigentümlich berührt« 64 fühlt. Angelika Jäkel macht darauf aufmerksam, dass nicht nur lebende Wesen, die über Augen verfügen, blicken können, sondern in einem gestischen Sinne auch von Bauten »Blicke« ausgehen. 65 Gernot Böhme beschreibt synästhetische Charaktere als Atmosphären 66, zum Beispiel der »Kälte, Wärme, Dunkel und Helle, Enge und Weite« 67, die mit den Bedeutungen in Verbindung stehen, welche den zur Erscheinung kommenden Dingen und Situationen anhängen. Ich gehe indes davon aus, dass nicht jeder synästhetische Charakter in eine Atmosphäre mündet. So geht die Gestalt eines Steines ja nur unter bestimmten Bedingungen der situativen Darbietung des sinnlichen Materials auch in eine Atmosphäre über. Der bloße Stein genügt als 59 60 61 62 63 64 65 66 67
Vgl. Schmitz Bd. III/5, S. 69. Schmitz Bd. III/5, S. 54. Schmitz LRG, S. 36. Schmitz Bd. III/4, S. 635. Ebd. Schmitz LRG, S. 39. Vgl. Jäkel 2012. Böhme 2001.1, S. 95. Ebd., S. 99.
61 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
3. · Leibliche Kommunikation und Architektur
Medium zur Konstitution einer Atmosphäre nicht. Erst der situative Rahmen disponiert ihn für ein bestimmtes atmosphärisches Erleben, etwa dann, wenn er zum Wurfgeschoss wird oder – ganz anders – wenn er als Medium der Repräsentation einer Hausfassade ihr Gesicht gibt. An synästhetischen Charakteren werden also auch soziale Gebrauchsformen der Dinge wie des Gebauten wahrgenommen. Dann sind es weniger die Gestaltverläufe und Bewegungssuggestionen des Materials, die synästhetische Brückenqualität haben; vielmehr ist es die spezifische Ordnung der Dinge, die sie für eine soziokulturelle Situation der Einräumung disponiert. So drücken sich kleinbürgerliche Enge wie großbürgerliche Offenheit in synästhetischen Atmosphären aus, die sich insbesondere durch den habituellen Gebrauch von Dingen an sozialen Orten vermitteln. Im Medium der Architektur sind es nicht die Worte, sondern Formen und Stoffe, die auf dem Wege der Gestaltverläufe und synästhetischen Charaktere Züge eines ästhetischen Gebildes zum Ausdruck bringen. 68 Sie dienen – als pneumatische Erscheinungsdimension des Gebauten – der leiblichen Ansprache durch eine atmosphärisch spürbar gemachte Gestalt. Es ist gerade Sache der Architektur, nicht allein funktionale Häuser zu bauen, sondern solche, die sich über ihren evidenten Nutzen hinaus als gestische Medien bewähren, also in einem synästhetischen Sinne unter anderem bei Benutzern über die leibliche Kommunikation von Gefühlen im persönlichen wie gemeinsamen Empfinden etwas bewirken. Bauten entfalten solche Wirkungen aber nicht über Argumente, sondern stimmende suggestive Züge, die oft genug subversiv auf das leibliche Befinden abzielen und das Mitsein der Menschen im Milieu eines Bauwerkes nach bestimmten Interessen »einstellen«. Gleichwohl kommt der synästhesierenden Rede in der Kommunikation über Architektur eine wichtige Rolle in der Übermittlung von und Verständigung über leiblich spürbares Raumerleben sowie dessen Herstellbarkeit zu (vgl. auch die Illustrationen von Endell weiter oben).
68
Vgl. Schmitz Bd. III/4, S. 635.
62 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Synästhetische Charaktere in der Architektur
3.3 Synästhetische Charaktere in der Architektur Synästhetische Charaktere kommen unter anderem in den ästhetischen Zügen an Bauten vor. Damit sind sie auch Gegenstand kreativen Denkens im Prozess des Entwerfens. Le Corbusier soll die Gestaltidee für den Entwurf der Kirche Notre-Dame-du-Haut (zwischen 1951 und 1955 in Ronchamp / Frankreich realisiert, vgl. Abb. 3.1) der Schale einer Garnele abgesehen haben, die er bei einem Spaziergang am Strand von Long Island gefunden hatte. 69 Mit einer Synästhesie im engeren Sinne hat diese Formanalogie nichts zu tun, denn Le Corbusier übertrug die biologische Gestalt eines Tieres auf die architektonische Gestalt einer Kirche. Die Anregung seines ästhetischen Schaffens verdankte sich einer mimetischen Transformation, wonach er die Form der Schale eines toten Krustentieres in die Logik einer Baugestalt übertragen hatte. Ein zweites Beispiel findet sich im architektonischen Schaffen von Erich Mendelsohn. Die Idee eines harmonisch geschwungenen und in der Straßenfront gerundeten Treppenturms (vgl. Abb. 3.2) für den Neubau des Stuttgarter Kaufhauses Schocken (1926–1928) soll ihm nicht in der Entwurfsarbeit im Atelier, sondern während eines BachKonzertes eingefallen sein. 70 So hatte ihm ein musikalisches Erlebnis eine ästhetische Form vermittelt, die er auf die Erfindung eines architektonischen Gebildes anwenden konnte. Der Rhythmus der Musik hatte ihn in eine emotionale Stimmung und damit ein leibliches Gefühl getragen, das er auf mimetischem Wege in die Idee eines gläsernen und transparenten Treppenhauses übersetzt hatte. Ein viereckiges Gebäude sieht nicht nur anders aus als ein rundes. Aufgrund seiner Gestalt nehmen wir es emotional auch in anderer Weise wahr. Das Beispiel einer Säulenordnung kann das unterstreichen. Wenn Hans Gerhard Evers vom Geist des Steins spricht, so meint er damit nichts Objektives, sondern einen sich der Wahrnehmung synästhetisch mitteilenden Ausdruck: »Wer das Glück hat, einmal die schönsten der griechischen Säulen nicht nur in Abbildungen zu sehen und nachzurechnen, sondern neben ihnen, zwischen ihnen zu stehen und zu sitzen, dem muß es gehen wie es mir immer gegangen ist: daß alle Fragen der Statik gleichgültig und wesenlos werden. Es 69 70
Vgl. Cohen 2006, S. 65. Cobbers 2007, S. 39.
63 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
3. · Leibliche Kommunikation und Architektur
Abb. 3.1: Kirche Notre-Dame-du-Haut.
ist ein ganz andres Fluidum, was die griechische Säule ausstrahlt, etwas Körperhaftes, etwas Steinhaftes, was einen von innen her ergreift, gewaltsamer und menschlicher als Statik.« 71
Auch im Eindruck des Schönen und des Hässlichen drücken sich nicht objektive Eigenschaften von Dingen aus, sondern charakteristische Typen leiblichen Empfindens, die sich an einem Gefühl ästhetischer Zuoder Abneigung stimmen. Schmitz wählt zur Veranschaulichung des Hässlichen in der Architektur unter anderem das Beispiel der monotonen Reihenbebauung, wie man sie aus den Vierteln kennt, die schnell und kostengünstig insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren in beinahe allen deutschen Großstädten errichtet worden sind. 72 Es ist nicht die Materialität der einzelnen Häuser, die den Eindruck städtebaulicher Hässlichkeit vermittelt, sondern der Gestaltausdruck des
Evers 1939, S. 95. Indes zeichnet sich ein großer Teil der Architektur der 1950er Jahre durch eine Wiederaufnahme von Stiltraditionen der 1920er und 30er Jahre aus. Nicht zuletzt aus ökonomischen, wohnungsbaupolitischen Gründen, außerhalb des Wohnungsbaus aber auch als Folge eines sich durchsetzenden internationalen Stils, brach diese »alte« Traditionslinie schon nach kurzer Zeit wieder ab.
71 72
64 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Synästhetische Charaktere in der Architektur
Abb. 3.2: Kaufhaus Schocken (Erich Mendelsohn).
Ganzen, der sich der Wahrnehmung aufdrängt. Hermann Schmitz sieht das charakteristisch Hässliche solcher Siedlungsformen in: »der reihenden, sich mitunter fast endlos dehnenden Wiederholung […], die für solche Straßenzeilen in Großstädten typisch ist. Auf diese Weise kommt nämlich Weite im Großen mit Enge, kleinlichen Formen, kraftloser Stumpfheit in den Einzelformen zusammen. […] Häßlich ist, was durch Gestaltverläufe und synästhetische Charaktere engend zurückschaudern läßt und insofern abschreckt, als es so mit einer gewissen Kraßheit privative Engung des Leibes induziert.« 73
Weil sich auch das am Konkreten, Einmaligen und Besonderen bildende ästhetische Urteil stets an allgemeinen Vorstellungen orientiert, steht das Beispiel nicht für einen Typ der Siedlung schlechthin, sondern nur für bestimmte, in beschriebener Weise durch synästhetische Charaktere des Monotonen sich aufdrängende Häuserreihen. So hat ein räumlich und physiognomisch zusammenhängendes Siedlungsgebilde ein Gesicht, das über das Ganze des Gebauten Auskunft gibt.
73
Schmitz Bd. III/4, S. 666.
65 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
3. · Leibliche Kommunikation und Architektur
Wie im lebendigen Gesicht die »innere Einheit« 74 des Lebensprozesses zur Geltung kommt, so zeigen sich auch im Gesicht eines baulichen Gebildes grundlegende Züge seines Charakters – im architektonischen Gesicht eines gläsernen Palmenhauses zum Beispiel solche der Leichtigkeit und Fragilität und in dem um 1780 von Boullée entworfenen Justizpalast 75 Züge der Mächtigkeit und moralischen Schwere staatlicher Autorität.
3.3.1 Justizpalast von Boullée (um 1780) Über die Architektur seines Justizpalastes (vgl. Abb. 3.3), der wie viele seiner Entwürfe nicht realisiert worden ist, sagte Boullée: »Um diesem Entwurf die Poesie der Architektur zu verleihen, hielt ich es für richtig, den Eingang zum Gefängnis unter den Justizpalast zu verlegen. Indem ich dies erhabene Gebäude auf die finsteren Höhlen des Verbrechens gestellt zeigte, konnte ich nicht nur durch den entstehenden Gegensatz die Vornehmheit der Architektur herausarbeiten, sondern auch in einem eindrucksvollen Bild darstellen, wie das Laster vom Gewicht der Justiz erdrückt wird.« 76
Abb. 3.3: Entwurf für einen Justizpalast (Boullée).
Boullées Beschreibung hängt in ihrer Essenz gleichsam am Faden synästhetischer Charaktere. Schon die Rede von einem eindrucksvollen Bild hat synästhetischen Charakter, klingt im Ein-Druck doch im engeren Sinne nichts Visuelles an, sondern etwas, das sich leiblich zur Geltung bringt. Die von Boullée angestrebte Ästhetik des Erhabenen sollte im Raumerleben der Architektur eine Spannung lebendig machen, in der sich Gefühle der Anziehung und der (in diesem Falle ehrfürchti74 75 76
Simmel 1957.2, S. 153. Kunsthalle Bielefeld 1971, S. 60. Ebd.
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Synästhetische Charaktere in der Architektur
gen) Distanz zu einer gespaltenen Einheit verbinden. Der zeichnerische Entwurf seines Justizpalastes sowie die ihm beigegebenen Beschreibungen machen diese angestrebte Mächtigkeit des Erhabenen unmittelbar nachvollziehbar. Im Kern vermittelt sie sich durch die Verdichtung zweier synästhetischer Eindrücke. Zum einen spricht die auf dem Gefängnistrakt lastende Schwere des Justizpalastes unmittelbar die leibliche Wahrnehmung an. Wenn wir auch zu glauben gelernt haben, alle Bedeutung vermittle sich über Symbole, so entlarvt das Beispiel diese (linguistische) Sichtweise der Dinge als verfälschend und vereinfachend. Das ins architektonische Bild der Entwurfszeichnung gesetzte schwere Gewicht der Justiz appelliert auf dem Wege leiblicher Kommunikation an das nachvollziehende Gefühl des Erdrückt-werdens, mit dem sich dann die Symbolik des Erdrückt-werdens durch die moralische Instanz der Justiz verbindet. Auch diese verdankt sich der Größe und Baumasse des geplanten Palastes. Die beinahe unermessliche Ausdehnung des gigantischen Bauwerkes suggeriert sich als lastendes steinernes Volumen, das nicht nur das Gefängnis räumlich überdeckt, sondern vor allem das Laster vom moralischen Gewicht der Justiz (und damit symbolisch vom Rechtsgefühls der Gesellschaft) niederdrückt. »Boullée arbeitet bewusst mit der Übersteigerung der Dimension ins Gigantische.« 77 Das Beispiel eines in hohem Maße kulturell codierten und formal regulierten Ortes (Justizpalast und Gefängnis) macht auf die Historizität der sich mit ihm verbindenden Gefühle und Bedeutungen aufmerksam. Insbesondere wird die Institution des Strafvollzuges auf dem historischen Hintergrund herrschender Moral verständlich. So ist auch Boullées Annotierung zu den architektonischen Gesten von Justizpalast und Gefängnis untrennbar mit gesellschaftlichen Bedeutungen seiner Zeit verzahnt. Wenn er das Gefängnis als finstere Höhle des Verbrechens anspricht, dann ist damit eine Finsternis im doppelten Sinne gemeint. In der optischen (relativen) Finsternis des Tiefgeschosses unter dem Justizpalast breitet sich der Ort der Einkerkerung der Delinquenten aus, mehr aber noch der Ort der Abscheidung der des Verbrechens schuldig gewordenen Subjekte in Höhlen. So werden die Strafffälligen aus dem sozialen Raum der Gesellschaft isoliert. Zugleich verbindet sich die am Bau synästhetisch inszenierte Situation der Finsternis des tief unter dem Gericht liegenden Gefängnisses mit 77
Brichetti 2006, S. 91.
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3. · Leibliche Kommunikation und Architektur
der Bedeutung der moralischen Finsternis des Verbrechens. Der Zusammenhang von leiblicher und symbolischer Bedeutung könnte kaum deutlicher hervortreten. Dank dieser architektonisch inszenierten synästhetischen Charaktere gelingt es Boullée, eine hoch komplexe gesellschaftliche Situation in ihren Bedeutungen zu kommunizieren, ohne ein Wort zu sagen.
3.3.2 »Fallingwater« von Frank Lloyd Wright (1935–1939) Frank Lloyd Wrights Wohnhaus »Fallingwater« (Pennsylvania) ist eines der weltweit bekanntesten Wohnhäuser, die von renommierten Architekten je entworfen wurden (vgl. Abb. 3.4). Die landschaftliche Situation des Grundstücks soll Wright auf den letztlich einzigartigen Entwurf eingestimmt haben. »Vermutlich ist nichts mit dem Einklang und dem Ausdruck großer Ruhe und Gelassenheit zu vergleichen, wie sie dort aus der Kombination von Wald, Fluss und Fels und den Elementen der Struktur entstehen.« 78
Wright hat die architektonische Umsetzung des Hauses an der Ästhetik der Landschaft orientiert und das Bauwerk als Raum des Wohnens ästhetisch in die Vitalqualität der Umgebung eingebettet. Die Schutz suggerierende Bauweise des Hauses vermittelt in seiner Lage am Hang in der Anspielung auf die Naturgestalt der Höhle ein bergendes Gefühl. 79 Mit einer Reihe detaillierter gestalterischer Mittel werden synästhetische Brücken zum Naturerleben des Ortes gebaut: Die Textur der Baustoffe folgt mit dem verwendeten Stein den natürlichen Materialien des felsigen Hanges. Die mächtig wirkenden Betonstrukturen des Hauses nehmen zum einen die horizontale Gliederung der Felsen in der Höhe des Wasserfalls auf und fügen das Haus in einer visualisierten Gestaltanalogie in das Relief ein. Zum anderen drückt sich in der Schwere der in die Weite des Hauses sich ausdehnenden Ebenen aber auch die Mächtigkeit der Natur aus, die in Gestalt des Wasserfalls sichtbar und hörbar wird. Auch die massive Lagerung gegen die Kräfte der an diesem Ort dynamischen Natur intensiviert diesen Eindruck. In Pfeiffer 2004, S. 53. Vgl. auch Hoffmann 1978 zit. bei: http://www.wright-house.com/frank-lloydwright/fallingwater.html#notes (Abruf: 04. 02. 2013).
78 79
68 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Die Bauformen
Abb. 3.4: »Falling Water« (Frank Lloyd Wright).
der Gestaltung des Hausinneren spiegeln sich die Züge der umgebenden Natur wider – in den mäandrierenden Wegen, die die offen ineinander übergehenden Räume verbinden, und in den weiten Fensterbändern, die die umgebende Wald- und Felsenlandschaft kulissenhaft in den weiten Raum des Wohnens integrieren.
3.4 Die Bauformen Der von einem Gebäude ausgehende Gesamteindruck verdankt sich neben einer Vielzahl gestalterischer Merkmale nicht zuletzt auch konkreter Bauformen. Theodor Lipps behandelt unter dem Kapitel »Formen der Raumkünste« deren sinnliches Erleben. Ich beschränke mich hier auf das Beispiel des Bogens. Die besondere Form des Korbbogens (vgl. Abb. 3.5) deute auf Spannung und Festigkeit 80 hin. An der »er80
Lipps 1920, S. 474.
69 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
3. · Leibliche Kommunikation und Architektur
Abb. 3.5: Korbbogen; ostfr. Galerieholländer.
denschweren« 81 Masse, an ihrer natürlichen »Tendenz zur Erde oder zur Breite des Bodens hin« 82, drücke sich die Schwere der Form aus. Deren Erkennen schwingt sich gleichsam in die den Dingen anhaftende Bewegungs-Suggestion ein. Die fast gerade Weite des Korbbogens suggeriert aus dem lebensweltlichen Wissen um die Fragilität solcher Konstruktionen und die zur Erde hin drückende Masse des überspannenden Gesteinsmaterials folglich auch Kraft durch Spannung und Festigkeit. 83 Diese ästhetisch in der Form anstehende Kraft weitet den Bogen horizontal, hebt ihn vertikal und hält ihn so in der Schwebe. 84 Die Masse ist in ihrer Schwere »an der Existenzfähigkeit des architektonischen Ganzen überhaupt mitbeteiligt«. 85 Schmitz sieht in den roma-
81 82 83 84 85
Ebd. Ebd., S. 475. Ebd., S. 474. Vgl. ebd. Ebd., S. 477.
70 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Die Bauformen
nischen Innenräumen die leibliche Dynamik einer »wühlenden, diffusen, gleichsam schwimmenden Spannung« 86, dagegen in gotischen Räumen eine »schwebende, zugespitzte Spannung« 87. Auch die sich selbst tragende Rundbogen-Kuppel ist ein in ihrer Schwere verharrendes Gebilde. »Das sichere in sich Verharren derselben ist dann das Verharren in der Spannung zwischen ihrer eigene Schwere und ihrem Sichweiten und -heben.« 88 Theodor Lipps ging davon aus, dass sich im Eindruck die dem Baukörper eigenen Kräfte widerspiegeln. Damit hob er auf einen wesentlich von synästhetischen Charakteren getragenen Wahrnehmungsprozess leiblicher Kommunikation ab 89, in dem physiognomische Merkmale eines Gegenstandes in einem ganzheitlichen Gestalterleben erfasst werden: »Dieser ›Eindruck‹ ist ja nichts als das innere Erleben der Entstehungsbedingungen, d. h. der Kräfte und Tätigkeiten, welche der Form ihr Dasein geben.« 90 Im Vergleich mit dem Korbbogen ist der kreisförmige Bogen »solcher Spannung bar, demgemäß leicht, innerlich frei, relativ spiegelnd über dem Raum, der unter ihm ist, hingehend oder hinschwebend«. 91 Dagegen ist der Spitzbogen (vgl. Abb. 3.6) durch ein ruhiges Dasein im Gleichgewicht gekennzeichnet. Während der Korbbogen zur Erde hin gerichtet ist, strebt der Spitzbogen in die Höhe. Es fehlt ihm die Schwere, da die Masse in die Pfeiler zurückgedrängt und von ihrer vertikalen Bewegung aufgenommen wird. 92 Nicht zuletzt deshalb erscheint der romanische Sakralbau ungleich schwerer als die gotische Kathedrale, die dank ihrer Spitzbögen fragil wirkt. Sie spricht die leibliche Raumwahrnehmung von Grund auf anders an als die romanischer Architektur. »Die scharfe, spitze, epikritische Tendenz« ist in den Bauformen der Gotik sehr präsent. Die daraus resultierende Spannung durchzieht die »gotischen Joche(n) vom Boden bis zum Scheitel des Gewölbes«. 93
Schmitz, Bd. II/2, S. 194. Ebd. 88 Lipps 1920, S. 478. 89 Lipps sprach indes nicht von »leiblicher Kommunikation«, sondern von »Einfühlung«. Diese verstand er zwar auch in einem leiblichen, aber nicht in einem dialogischen Sinne. 90 Lipps 1920, S. 475. 91 Ebd., S. 476. 92 Vgl. ebd., S. 481. 93 Schmitz Bd. II/2, S. 193. 86 87
71 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
3. · Leibliche Kommunikation und Architektur
Abb. 3.6: Spitzbogen; Swinhope / Lincolnshire UK.
3.5 Die Baustoffe und ihre Materialität Die Formung der Baustoffe suggeriert eine Materialität, über deren Wahrnehmung sich Stoffeigenschaften in Vitalqualitäten des Erlebens übertragen. Am Beispiel des Barock illustriert Hermann Schmitz die »synästhetischen Charaktere der quasi-tastbaren Konsistenz der Mas72 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Die Baustoffe und ihre Materialität
Abb. 3.7: Palazzo dei Diamanti (Ferrara).
se« mit einem Zitat von Wölfflin: »Es ist, als wäre der harte spröde Stoff der Renaissance saftig und weich geworden.« 94 Die Gestaltung der Baustoffe hat auf der Ebene ihrer (abstrakt-symbolischen wie leiblich empfundenen) Bedeutung nicht zuletzt eine politische Dimension. An anderer Stelle habe ich gezeigt, wie der Diamantquader als Medium der Inszenierung repräsentativer Bauten in zentraler Lage zur Zeit der Renaissance in diesem zweifach be-deutenden Sinne verwendet wurde (vgl. Abb. 3.7). Die Ecken der in eine pyramidenartige Form geschnittenen Steine stimmten über ihre Bewegungssuggestion des Spitzen das Gesicht der gesamten Fassade. Der in seiner Geometrie in den öffentlichen Raum ragende Stein droht gleichsam in seiner beeindruckend fassadenfüllenden Verbauung mit der Macht schneidender Schärfe. Die auf den Passanten zustrebende Form des Steins weist ab, sticht in einem synästhetischen Sinne und suggeriert das atmosphärische Gefühl Autorität gebietender Macht. Der Diamantquader war ein bewegungssuggestives Medium der Beeindruckung. Deshalb wurde er von
94
Wölfflin zit. bei Schmitz, ebd., S. 173.
73 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
3. · Leibliche Kommunikation und Architektur
Architekten für die Inszenierung eines pathischen Raums machtpolitischer Atmosphären intentional eingesetzt. 95 Seinen symbolisch bedeutenden wie emotional stimmenden Einfluss entfaltet der Baustoff auf dem Wege leiblicher Kommunikation. In diesem Beispiel steht die Wirkungsweise der Form vor der des Stoffes. Form und Material haben auf den Prozess der Wahrnehmung von Dingen erheblichen Einfluss. Ein Gegenstand erscheint auch in seiner Stofflichkeit ästhetisch – zum Beispiel durch Glattheit und Rauigkeit, Glanz und Mattigkeit, Geschlossenheit und Offenheit etc. Das Material ist nicht nur Träger oder Medium einer Form, es steht selbst unter der Logik der Ästhetik seines Erscheinens. 96 Die Frage nach der Bedeutung, die einem Stoff in der ihn erlebenden Begegnung angesehen werden kann, lässt sich aber nie allein aus seinem aktuellen phänomenalen Erscheinen beantworten. Auch die Leiblichkeit des StoffErlebens wird von Bedeutungen getragen, die ihren Grund unter anderem in historisch-gesellschaftlichen Zuschreibungen von Identität haben: »Granit, Beton und Plexiglas haben im Alltag eine nahezu abenteuerliche Geschichte der Umwertungen hinter sich.« 97 Evers zeigt, dass der Stein in der Vermittlung von Atmosphären der Macht auf mythische Bedeutungen zurückgeht. 98 Er kann dafür zahlreiche Belege anführen, unter anderem die steinerne Überwölbung der Apsis im Bau romanischer Kirchen. In dieser Bauweise verbindet sich die Form des Halbrunden mit der Materialität des Steinernen, so dass sich eine Atmosphäre herausgehobener Würde und Macht konstituiert. Die Architektur der Apsis beeindruckt ästhetisch durch Masse 99, weshalb auch die Kuppel der Apsis nicht aus Holz wie beim Kirchenschiff ausgelegt ist, sondern aus Stein. »Dieses Massewesen der Apsis aus der Erdbedeutung der Architektur […] kommt den sitzenden Priestern und ihrem Bischof […] zugut, es geht auf sie über die magische Gewalt, mit welcher der Stein den Menschen zu begaben vermag.« 100
Vgl. Hasse 2012.1, S. 106 f. Vgl. auch Wagner 2001. 97 Ebd., S. 12. 98 Vgl. Evers 1939, S. 63 ff. 99 Evers spricht hier von »Massenaufwand an Stein« und vom »dichten Massencharakter« der Apsis (ebd., S. 91). 100 Ebd., S. 92. 95 96
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Die Baustoffe und ihre Materialität
Es ist aber nicht nur die (sichtbare und spürbare) Masse des Steinernen, die den »anderen Raum« im heterotopologischen Sinne 101 so ausdrucksstark macht, sondern auch seine (bewegungssuggestive) Baugestalt. »Der glatte, konkav-halbrunde Chorschluß läßt den aus dem Kirchenschiff vordringenden Blick sich wie in einer Höhlung fangen, wo sich gemäß dem Regenschirmprinzip […] Schwellung gegen Spannung setzt und der Blick als Folge der Rundform unbestimmt gleitet.« 102
Das Beispiel der Apsis illustriert den Atmosphären konstituierenden Effekt synästhetischer Charaktere. Stein ist nicht gleich Stein, und so zeugt gerade er als einer der wichtigsten Baustoffe der Architektur davon, dass nicht erst das, was Architekten mit ihm machen, das Gesicht des Hauses gestaltet. Schon die ihm eigene Ästhetik schreibt sich in sein Gesicht ein – bei einem Sandstein anders als bei einem Granit, einem Naturstein anders als einem Betonstein. Die Ästhetik der Stoffe vermittelt sich nicht zuletzt auch in ihrem kulturellen Verstehen durch synästhetische Charaktere. Im Fassadenbau von Hochhäusern spielt der Stein eine rein verkleidende Funktion, so dass seine Verwendung vornehmlich nach ästhetischen Erwägungen erfolgen kann. Sowohl der Frankfurter Messeturm als auch der Japantower sind mit rotem Granit verkleidet. Dennoch kommt der gleiche Stein aufgrund einer Oberflächenbehandlung, die den symbolischen Charakter des Gebäudes ausdrücken sollte, auf je eigene Weise zur Erscheinung. Die Fassade des Messeturms drückt aufgrund der polierten Oberfläche im harten Glanz des Granits Eleganz und Nobilität aus (vgl. Abb. 3.8). Aber nicht deshalb liegt in der Fassade eine Geste der Distanzierung gegenüber der Stadt des Herum, sondern weil die gleichsam versiegelte und leicht reflektierende Oberfläche in ihrem Ausdruck abweist. Sie überträgt kein Gefühl der Weite, sondern eines der Enge. Der Bau verweist mehr auf sich selbst als auf seine Rolle im Raum der Stadt. Die Symbolik kommt so eindrucksvoll zur Wirkung, weil sie sich auf dem Wege leiblicher Kommunikation spürbar vermittelt.
101 102
Vgl. Foucault 2005. Schmitz Bd. II/2, S. 182.
75 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
3. · Leibliche Kommunikation und Architektur
Abb. 3.8: Messeturm Frankfurt/M. (1988–1991), polierter Granit.
Im Unterschied zum Messeturm ist die Fassade des Japantower mit sandgestrahltem rotem Granit verkleidet (vgl. Abb. 3.9). Der Stein wirkt in seiner sinnlichen Wahrnehmung offen, wenn seine (substanziellen) physikalischen Eigenschaften auch weitgehend mit dem des Messeturmes identisch sind. Der raue Stein suggeriert eine in gewisser Weise tastbare Tiefe, die sich mit dem Eindruck weiter Offenheit und weicher Behaglichkeit verbindet. Was sich an Beispielen der Architektur im Sinne einer Mikrologie der Wahrnehmung illustrieren lässt, hat seine größte kulturelle Bedeutung auf einem allgemeinen Niveau der Wahrnehmung. Deren ganzheitliches Verständnis zieht eine Revision rationalistischer bzw. intellektualistischer Menschenbilder nach sich. Was Subjekte denken, kommt nie allein als schon Gedachtes in ihre Welt. Die Synästhesien machen als Grundform der Wahrnehmung darauf aufmerksam, dass Eindrücke als Basiselemente der Wahrnehmung in ihrer Verarbeitung nie auf einen Sinn beschränkt bleiben, vor allem aber eine emotionale und leibliche Dimension entfalten, die das Milieu der Rationalität durch- und unterströmt.
76 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Die Baustoffe und ihre Materialität
Abb. 3.9: Japantower Frankfurt/M.(1993–1996), sandgestrahlter Granit.
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4. Ernährung als Dimension sinnlicher Erfahrung Eine ästhetische Kritik der Kultur des Essens und Trinkens
Die Ernährung des Menschen gehört zu den größten Selbstverständlichkeiten des täglichen Lebens. Wenn sich der Mensch ernährt, isst und trinkt er. Vor allem in der Feinheit der Techniken, mit denen er seine Nahrung vorbereitet, zubereitet und aufnimmt, unterscheidet er sich von den Tieren. Das Tier steht diesseits der Kultur. Seine Art zu fressen, ist frei von ästhetischem Kalkül. Es folgt allein dem Ziel, seinem Hunger ein schnelles Ende zu setzen. Kraft seiner Fähigkeit zur Kultur nimmt der moderne Mensch in seinen Naturbeziehungen besonders dann eine Sonderrolle unter den Lebewesen ein, wenn er isst. Zwar folgt er dabei nicht nur zufälligen geschmacklichen Neigungen, sondern auch kulturellen Orientierungen, wonach er das eine weniger als das andere bevorzugt; im Affekt zum Essen-wollen klingen jedoch Relikte seiner Natur an und damit auch die residuellen Spuren eines tierisch-archaischen Geschmackssinns, der vornehmlich den Unterschied zwischen Verdaulichem und Nichtverdaulichem kennt. In Fragen des Essens und Trinkens sehen sich Menschen besonders dann als kulturgebundene Wesen, wenn sie sich (unter bestimmten Umständen) selbst zu solchen Speisen hingezogen fühlen, die im Allgemeinen nur als mäßig schmeckend oder gar als abstoßend empfunden werden. Lebende Austern oder gebratene Schnecken werden als potentielle Nahrungsmittel von den meisten Menschen nordeuropäischer Kulturen eher mit einem Gefühl des Ekels wahrgenommen als mit Lustgefühlen, die mit kulinarischen Phantasien verbunden sind. Wer sie dennoch isst, hat in seiner (Sub-) Kultur erfolgreich gelernt, leibliche Regungen wie den Ekel unter die Herrschaft habituell gezüchteter (Selbst-) Disziplinierungen zu stellen. Gerade die Ernährung bietet sich als habituelles Feld symbolischen Handelns an. Neben den Stilen des Essens sind es aber auch die »Philosophien« der Ernährung, die in Verbindung mit der repräsentationsorientierten Darstellung sozialer Praktiken gruppenbezogene Inklusion wie Exklusion bewirken. Innerhalb soziokulturell differenzierter Ernährungspraktiken fungieren be78 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
»Ernährung« versus essen und trinken
sondere Gruppen von Nahrungsmitteln als Medien der Distinktion, um ein- oder ausgrenzende Effekte im Prozess der Zuschreibung von Identität zu kommunizieren. Es ist aber auch nicht zu bestreiten, dass neben dem Tier auch der Mensch (als Sondertier) insofern isst und trinkt wie das Vieh säuft und frisst, als er darin einem Naturbedürfnis folgt. Wenn er satt werden und seinen Durst stillen will, bringt sich der sinnliche Charakter der Ernährung zur Geltung, der mehr mit der Natur des Menschen verbunden ist, als dass er in seinem Wesen Ausdruck seiner Kultur wäre.
4.1 »Ernährung« versus essen und trinken Der Begriff der Ernährung gehört zwar zum Bestand der Alltagssprache; dennoch transportiert der Begriff eine über die Profanität des Essens und Trinkens hinausgehende Bedeutung. Implizit thematisiert er auf abstrakte Weise die humanbiologische, physiologische und biochemische Dimension des Essens und Trinkens. Der Begriff hat einen proto-wissenschaftlichen Akzent und hebt systemische Prozesse hervor, die in einer scheinbar kontrollierbaren Außenwelt ablaufen. Zur Außenwelt gehört die Körperlichkeit des Menschen, die als Abstraktion von der leiblichen Natur des vitalen Selbst abgespalten wird. Solche Selbstdistanzierung ist die erkenntnistheoretische Folge einer intellektualistischen Kultur und mündet in die Selbstverdinglichung des eigenen Selbst. Als Körper wird der Mensch zu einem Gegenstand der Behandlung. In dieser ontologischen Selbstkonstituierung dient die Ernährung weniger dem subjektiven Befinden, den Sinnen oder der Lust am guten Geschmack, als vielmehr einem Körper, den man hat wie eine organische Maschine. Wer weniger sein Essen und Trinken als vielmehr seine Ernährung bedenkt, tut das im Allgemeinen aus dieser Perspektive, in der eine instrumentelle Vernunft die Richtungen des Denkens bestimmt. Das daraus resultierende Menschenbild ist ebenso abstrakt wie von der vitalen Aktualität konkreten Lebens enthoben. Danach bedarf Arbeit – insbesondere fremdbestimmte – der Kompensation durch Ruhe, Schlaf und Entspannung, aber eben auch der Zufuhr lebensmittelchemisch systemeffizienter Nährstoffe. Der Begriff der Ernährung ist Terminus eines rational handelnden Akteurs, der nicht einfach isst und trinkt, wenn er Hunger und Durst hat, sondern seinen Hunger und Durst nach einem rationalen Versorgungsplan 79 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
4. · Ernährung als Dimension sinnlicher Erfahrung
in einer protowissenschaftlichen Haltung »bewirtschaftet«. Die Naturwissenschaften bieten sich schließlich als Partner der Kultivierung klinischer Ernährungspraktiken an. Während der Begriff der Ernährung als Resultat einer entsinnlichten Vernunft rationale Selbstbeherrschung zum Ausdruck bringt, stehen die Verben essen und trinken für eine sinnliche Situation, in der die Grenzen zwischen erlebendem Selbst und den Dingen des Essens im Milieu der Leiblichkeit verlaufen. Im Essen und Trinken fallen die Dinge (der Ernährung) und das sich leiblich gewahr werdende Individuum zusammen. Was man isst oder trinkt, führt man seinem Körper nicht wie eine Nährstoffeinheit zu – man verleibt es sich ein. Die DingOntologie der Stoffe hebt sich im Essen zugunsten von Halbdingen auf, die sich als Medien der Atmosphären des Essens erweisen. 1 Mit dem Essen und Trinken konstituieren sich Situationen leiblicher Kommunikation, in denen nicht der Gedanke die Oberhand hat, sondern die Sinnlichkeit und der Geschmack. Leibliche Kommunikation steht nach Schmitz der: »herrschenden Auffassung entgegen, wonach die Wahrnehmung ein Besuch ist, den Reize als Boten von Objekten der Außenwelt, anklopfend bei den Sinnesorganen als Pforten, von dort durch das Nervensystem geleitet, in der seelischen Innenwelt eines Subjektes abstatten, wo sie vom Verstand oder anderen Mechanismen empfangen und, nach wundersamen Verwandlungen auf der Reise, so zurechtgemacht werden, daß die Ergebnisse den Objekten, deren Boten die Reize waren, wieder einigermaßen ähneln.« 2
Die leiblich-spürende Dimension der Wahrnehmung entfaltet sich beim Essen im Sehen, Riechen und taktilen Berühren; im Schmecken und Kauen intensiviert sie sich. 3 Ohne das den Vorgang des Essens charakterisierende einleibende Gefühl, die Nahrung mit einem motorischen Körperschema zu umspinnen und zu durchdringen4, bleibt sie als etwas nur Dingliches auch affektiv fern. Schließlich verfehlt der
»Sie [Halbdinge, J. H.] unterscheiden sich von Dingen auf zwei Weisen: dadurch, daß sie verschwinden und wiederkommen, ohne daß es Sinn hat, zu fragen, wo sie in der Zwischenzeit gewesen sind, und dadurch, daß sie spürbar wirken und betroffen machen, ohne als Ursache hinter dem Einfluß zu stehen, den sie ausüben« (vgl. Schmitz NGrdl, S. 80). 2 Schmitz SSZ, S. 435. 3 Vgl. Schmitz NGrdl, S. 295. 4 Vgl. Schmitz Bd. III/1, S. 295. 1
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»Ernährung« versus essen und trinken
Biss ohne die Aufnahme einleibender Beziehungen die angemessene Kraft und verirrt sich das Kauen in der Textur des Essbaren. Die Urbedeutung des Essens (beißen und kauen 5) verweist auf einen leiblichen und körperlichen Vorgang; so auch die sprachlichen Wendungen, die sich auf befindliche Zustände beziehen: Man kann sich an etwas satt oder gesund, krank oder dick essen 6. Im Essen ist die Grenze zwischen Körper und Leib nicht zuletzt deshalb schwimmend, weil die Einverleibung des Essbaren immer das Gefühl und den organischen Apparat berührt. Die Zubereitung eines Huhnes wie seine Zerlegung mit Schere, Messer und Gabel muss den körperlichen Charakter der Nahrung soweit transformieren, dass das Tier überhaupt einverleibt werden kann. Das ist im Prinzip bei pflanzlicher Nahrung nicht anders. Gerade im Essen spiegelt sich eine Doppelstruktur menschlichen Daseins wider: Körper und Leib bilden zwei Seiten menschlicher Daseinsweisen im Raum. Als physischer Körper ist der Mensch im mathematischen Raum, als spürbarer Leib im atmosphärischen Raum. Die Wechselwirkungen sind mannigfaltig und haben zur Folge, dass Körper und Leib einem kulturellen Formatierungsprozess unterliegen. Während der Körper beschrieben und bekleidet wird, ist der Leib in seinem pathischen Vermögen Gegenstand sozialisatorischer Programmierung. Solche Programmierungen drücken sich zum Beispiel ebenso in persönlichen Geschmackspräferenzen aus wie in kulturell erlernten ästhetischen Dispositionen wie Ekel und Abscheu. Nicht nur der wissenschaftliche Ernährungsdiskurs bedient sich abstrakter (z. B. physiologischer) Modelle. Auch das populäre Sprechen über Ernährung, die Werbung und die über die Massenmedien zirkulierenden Ratgeberinformationen suggerieren schon in der Form ihrer Sprache die Einhaltung wissenschaftlicher Standards in allen Fragen der menschlichen Ernährung. Auch darin spiegelt sich ein abstraktionistisches Verhältnis des Menschen zu sich selbst wider. In der Organisation seiner Ernährung verfügt das Individuum über sein Essen und wacht aus einer Kontroll- und Management-Perspektive über die Schwankungen populärwissenschaftlich trivialisierter Messwerte. Ziel ist die energie- und funktionseffiziente wie nachhaltige Ver- und Entsorgung des eigenen Körpers. Dagegen setzt der populäre Diskurs über das Essen und Trinken, der sich in Kochbüchern und deren medien5 6
Vgl. Grimm / Grimm Bd. 3, Sp. 1162. Vgl. ebd., Sp. 1165.
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4. · Ernährung als Dimension sinnlicher Erfahrung
industriellen Nachfolgern wie TV-Koch-Shows und Zeitschriften fortlaufend variiert, andere Akzente. In der Mitte dieses Diskurses (zu dem stumm kommunizierte Bilder und ästhetische Suggestionen gehören) stehen keine pseudo-intellektualisierten Stoffwechsel-Kalküle, sondern das sinnliche Geschmacks- und kulturelle Esserlebnis.
4.2 Die Atmosphären des Essens In der sozialen Situation des Essens entfaltet sich eine Atmosphäre des Essens. Atmosphären entstehen durch die sinnlichen Eindrücke der in Verarbeitung befindlichen oder aufgetischten Speisen. Schon die von Norbert Elias in zivilisationstheoretischer Hinsicht untersuchten distinktiven Ess- und Tischsitten, die sich am Ende des Mittelalters zunächst in der Aristokratie herausbildeten, machen auf den atmosphärischen Charakter des Essens aufmerksam. Atmosphären haben nichts mit Ernährungsprogrammen gemein. Sie konstituieren sich vor allem in gemeinsamen Situationen (Tischgemeinschaft) als Folge der speziellen sinnlichen und leiblichen Bedeutungen des Essens. Das mitweltliche Mikromilieu des Essens ist von ganz anderer Art als das des Arbeitens. Situationen des Essens sind in ihrem sozialen Charakter aber auch hoch wirksame Katalysatoren der Distinktion, die über Zugang zu oder Ausschluss von sozialen Kreisen mitentscheiden. Wenn Atmosphären des Essens auch kulturell geprägt sind (Tiere symbolisieren nichts, wenn sie fressen), so ist in ihnen doch stets auch ein Moment der Natur virulent, das sich zum Einen im physiologischen Ess-Bedürfnis ausdrückt, zum Anderen in der leiblichen Anwesenheit der Essenden. Es gibt keine Atmosphäre, die man nur geistig wahrnehmen oder allein kognitivistisch konstatieren könnte, hat man sie doch dann leiblich schon wahrgenommen. Hubert Tellenbach widmete sich der Bedeutung des Schmeckens und Riechens für das Zustandekommen von Atmosphären, die er als räumlich ausgedehnte Gefühle von quasi-objektivem Charakter beschrieb. Er verstand sie als etwas Anwesendes, das aufgrund seiner Ganzheitlichkeit nicht teilbar sei. 7 »Atmosphären sind etwas, das man spüren muß, um zu verstehen, worum es in solchem Reden eigentlich
7
Tellenbach 1968, S. 60 f.
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Die Atmosphären des Essens
geht.« 8 Sie sind spürbare Schnittstellen, an denen Menschen ihr Herum in gefühlsräumlichen Qualitäten erleben. 9 Nach Schmitz 10 sind »Gefühle nicht private Zustände seelischer Innenwelten, sondern räumlich ausgedehnte Atmosphären«. 11 In deren Bann gerät man in leiblichem Spüren, nach Peter Sloterdijk in einem »Modus blinder Immersion« 12. Indem Atmosphären des Essens aber auch Medien der Distinktion sind, transportieren sie in gewisser Weise zugleich Programme für die Selbst- und Fremdzuschreibung von Identität. Mit besonderer Eindringlichkeit breiten sich Atmosphären auf dem Niveau der sogenannten »niederen« Sinne – des Riechens und Schmeckens – über Synästhesien aus. Atmosphären des Geschmacks spricht Hubert Tellenbach auch als Stimmungen an: »Erst im Gewahren von Geruch bzw. Geschmack entscheidet es sich, ob wir uns der Stimmung überlassen können, in die wir gestimmt werden.« 13 Eine Stimmung ist als Gefühl der Gestimmtheit des eigenen Selbst in ihrer thematischen Ungerichtetheit von einer Atmosphäre zu unterscheiden, die stets das eine oder andere Thema hat (das der Trauer, der Freude, der Leichtigkeit etc.). Ungerichtete Stimmungsgefühle gehen insbesondere von Geruchs- und Geschmackseindrücken des Essens aus. Bei der Entscheidung über Fragen der Ernährung sind sie nur von untergeordneter Bedeutung. So ist es auch keine rationale Frage der Entscheidung im handlungstheoretischen Sinne, sich von einer Stimmung einnehmen zu lassen. Vielmehr drückt sich eine Stimmung als leibliche Disposition aus, über die in der Regel wenig Präzises mit Worten ausgesagt werden kann: »Will aber jemand schildern, was er da erlebt hat, etwa in den Räuschen des Haschisch oder des Mescalin, dann versagt ihm das Wort, er beginnt zu stammeln oder er bedient sich solch ungewöhnlicher Ausdrücke und Gleichnisse – Böhme 1998.1, S. 55. Zur Theorie der Atmosphäre vgl. auch Kap. 11 und 12. 10 In der Skizzierung eines Atmosphärenbegriffs stütze ich mich im Großen und Ganzen auf Hermann Schmitz, dessen Phänomenologie große begriffliche Differenziertheit in der Analyse menschlicher Gefühle erreicht hat und den Vorteil für sich in Anspruch nehmen kann, ontologische Fragen der Gefühle erkenntnistheoretisch systematisch eingebettet zu haben (vgl. Schmitz Syst 1964 ff.). 11 Schmitz Gef, S. 33. 12 Sloterdijk 2004, S. 261. 13 Tellenbach 1968, S. 35. 8 9
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4. · Ernährung als Dimension sinnlicher Erfahrung
sie scheinen der Lyrik entlehnt zu sein –, daß sogleich der Skeptiker zur Stelle ist, um die Ursprünglichkeit und Angemessenheit der Schilderung zu bezweifeln.« 14
Es versteht sich von selbst, dass der in den Sozialwissenschaften heute nahezu ubiquitäre methodologische Individualismus dieser Perspektive recht hilflos gegenüber steht, ist das von Atmosphären eigenommene Individuum doch das Andere des rational handelnden Subjekts. Gleichwohl spricht einiges dafür, programmatisch formatierte Situationen der Ernährung als Ausdruck sinnhaften Handelns aufzufassen. Situationen der Ernährung sind ja gerade durch einen reflexiven Charakter gekennzeichnet, in dessen diskursivem Rahmen sich das Nach-Denken über alltägliche Situationen des Essens und Trinkens entzündet. Dagegen sind die tatsächlichen kulinarischen Mahlzeiten durch kein NachDenken, sondern sprachloses Schmecken, Riechen, Tasten, Schlucken etc. gekennzeichnet. In ihnen entscheiden nicht Argumente und gute Gründe darüber, was gegessen wird, sondern Qualitäten sinnlichen Erlebens, die mehr in einem pathischen Empfinden als in objektivierten Empfindungen aufgehen. Wer sich ernährt, stellt sich in den Kontext eines sinnlich neutralen Diskurses über die Sicherung der Voraussetzungen physiologischen Funktionierens durch die regelmäßige Zufuhr stofflicher Energie. Wer isst und trinkt, geht in seiner eigenen Sinnlichkeit auf und nicht in intellektualisierten Rechtfertigungsstrategien, deren normative Bezugspunkte als Moment kultureller Geltungssysteme höchst flüchtig sind.
4.3 Der eine und der andere Geschmack Was wir in der Moderne unter Geschmack verstehen, ist Resultat einer zivilisationshistorischen Einstellung der Sinnlichkeit nach subkulturellen Standards. Bis zum 17. Jahrhundert war die Bedeutung des Geschmacks-Begriffes auf die Reizung der Zunge bezogen, also den physiologischen bzw. spürenden Geschmacks-Sinn15. Mit Kants Kritik der Urteilskraft wurde die Bedeutung des Begriffes schrittweise entsinnlicht und zu einem ästhetischen Vermögen veredelt. Geschmack war nun weniger eine Frage lustvollen Schmeckens als eine des abgewoge14 15
Straus 1956, S. 204. Vgl. Regenbogen / Meyer 1998, S. 256.
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Der eine und der andere Geschmack
nen Urteils und damit eine Angelegenheit distanzierter Bewertung und Begutachtung – der Geschmack wird von der Vernunft okkupiert. Zwar verbindet sich Kants Begriff des Geschmacksurteils in seinen sinnlichen Fundamenten (zumindest implizit) mit der Leiblichkeit sinnlichen Geschmackserlebens. Jedoch wird bis in die Gegenwart selbst im geisteswissenschaftlichen Ästhetik-Diskurs der Geschmack in erster Linie mit einem Vermögen zum (reflektierten) moralischen Urteil verbunden. 16 Das spontane sinnliche Urteil bildet die Ausnahme. Andere Akzente setzt die Phänomenologie, die gegen die Macht szientistischer und abstraktionistischer Konstruktionen und deren Einfluss auf die zivilisatorische Entfremdung des Menschen von den Sinnen antritt. »Das Empfinden untersteht nicht dem ›Ich denke‹, das, nach Kant, alle Vorstellungen begleiten muß. Im Empfinden wird nichts apperzipiert.« 17 Jede Situation der Ernährung ist gleichsam zwangsläufig mit der Sinnlichkeit des Essens und Trinkens verbunden. Wer etwas isst und trinkt, muss sich aber nicht a priori schon deshalb auch die damit verbundenen Probleme bewusst machen. So stellt sich die Frage des Geschmacks zwar unausweichlich auf einem sinnlichen Niveau, nicht aber mit derselben Selbstverständlichkeit auch in einem ethischen Rahmen und damit als Aufgabe der Legitimation des Gegessenen. Dass man essen kann, ohne das Essen wie das Gegessene zu bedenken, ist evident. Indes liegt gerade im selbstverständlichen Essen ein sich zunehmend verschärfendes gesellschaftliches Problem von lokalem bis globalem Maßstab, denn besonders was wir essen, bedarf der Rechtfertigung, weil es aus Stoffkreisläufen der Natur, in und von denen auch andere leben, entnommen werden muss. Schon wegen der Lebensstile in den Industrieländern steht jede Entnahme von Nahrungsmitteln aus dem Kreislauf der Natur wie deren industrielle Verarbeitung unter dem Druck ethisch rechtfertigungsbedürftiger Entscheidungen. Was in der Freiraum-, Stadt- und Verkehrsplanung heute allgemein als Bei Luc Ferry spielt die sinnliche Seite des Geschmacks keine Rolle. Geschmack fasst er allein als ein philosophisches Thema des modernen Humanismus, damit als Kultur der Urteilsbildung in moralischer Hinsicht (vgl. Ferry 1992). Auch in dem 2006 erschienenen Metzler Lexikon Ästhetik wird der Geschmack mit Ausnahme versprengter Randbemerkungen als »ästhetische Urteilskraft« diskutiert und als moralisches Gefühl sowie sinnlich-geistiges, kritisches und kultiviertes Wahrnehmungs- und Unterscheidungsvermögen angesprochen (vgl. Kurbacher Schönborn 2006). 17 Straus 1956, S. 203. 16
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4. · Ernährung als Dimension sinnlicher Erfahrung
selbstverständlich angesehen wird – dass erhebliche Eingriffe in Natur und Landschaft eine Wiedergutmachung an der Natur durch sogenannten Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen zur Folge haben – steht für die industriell organisierte Beschaffung von Lebensmitteln noch aus. Zwar existieren zum Beispiel für den Fall der Überfischung bestimmter Arten Rechtsnornen zur Sicherung von Voraussetzungen zur Regeneration der Bestände. Diese Vorschriften werden politisch und administrativ aber im Allgemeinen ökologistisch verstanden und nicht als ethische Verpflichtung gegenüber dem Bestand einer Art zum einen und dem Anspruch nachfolgender Generationen auf zukunftsfähige Ressourcen der Ernährung zum anderen aufgefasst. Ethische Legitimation gegenüber Eingriffen in die Natur ist nicht nur eine Frage der Argumente, denn sie gründen in Bewertungen und damit in Gefühlen. Symbolische Bedeutungen des Essens und Trinkens sowie der Ernährung korrespondieren deshalb mit Gefühlen, die diese Bedeutungen auf einer befindlichen Ebene anzeigen. Deshalb sind in die Kommunikation naturethischer Werte stets Gefühle verstrickt. Wie die Symbole sind auch sie kulturell orientiert und historisch situiert. Die Kommunikation ethischer Fragen des (politisch korrekten) Geschmacks bezieht sich eher auf Tiere als auf Pflanzen. Das Spektrum der Arten, die in ethischer Hinsicht affizieren, belegt anschaulich die Anfälligkeit des spätmodernen Menschen für Romantisierungen und Idealisierungen. Was sich ethisch auf Robben und Wale projizieren lässt, läuft bei Kabeljau und Tiefseegarnele leer (vgl. auch Kap. 5). Den Wal musste man aus der Zoologie der Fische erst herausnehmen, bevor er sich als Objekt der Sentimentalisierung eignete. Die Möglichkeiten, mit einem Schalentier dasselbe zu tun, sind schon deshalb begrenzt, weil sich der Krebs nicht als Partner der Vermenschlichung anbietet. Die in einem sentimentalistischen Boden keimende ästhetische Freude am idealisierten Tier setzt den moralischen Kummer voraus. 18 So hat auch die lange Jahre währende Kritik an der Käfighaltung von Legehennen darin ihre Wurzeln. Zwar ist die Kritik an der Massentierhaltung zugleich eine Kritik an der Nahrungsmittelindustrie; indem sie aber mehr auf moralischem Kummer als auf sinnlicher Erfahrung beruht, repräsentiert sie jenen Typ gleichsam trockener Kritik, die sich oft ganz abhebt von jenem vitalistischen Schnittpunkt im Mensch-Tier-Verhältnis, der in der Verspeisung des Tieres (oder eines 18
In diesem Sinn Nietzsche (vgl. Dorschel 2005, S. 18).
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Die symbolische Codierung der sinnlichen Dimension von Lebensmitteln
Teiles von ihm) sinnlich konkret wird. Kritik, die im Felde der Theorie entspringt und auch darin wieder verebbt, bleibt tendenziell schwach, denn sie verliert den Bezug zur Sinnlichkeit des eigenen Selbst und vermag deshalb den sentimentalen Impuls als Teil einer allgemeinen industriegesellschaftlichen und darin systematischen Anästhetik nicht zu ent-decken.
4.4 Die symbolische Codierung der sinnlichen Dimension von Lebensmitteln Es gibt kein Lebensmittel, das nicht (spätestens im Falle seines Verzehrs) eine sinnliche Dimension kulinarischen Erlebens entfalten würde. Viele Lebensmittel stehen aber darüber hinaus in einem kulturellen bzw. kulturhistorischen Bedeutungskontext, in dem etwas vom Wesen des Essbaren zur Geltung kommt und damit ein Bezugspunkt explizit wird, auf den hin das Bedenken des Essens gerichtet werden kann. Schon in der griechischen Mythologie wird eine synästhetische Brücke zwischen der Sinnlichkeit des Essens und Trinkens einerseits und den kulturellen Bedeutungen des Ess- und Trinkbaren andererseits gespannt, indem auf einem synästhetischen Weg ein sinnliches Geschmacksempfinden mit einem kulturellen Symbol verknüpft wird. Der süße Wein, den Dionysos als Mittel der Verführung einsetzte, steht in seiner Ambivalenz als Todes- und Lebensmacht symbolisch für göttliche Weisheit. 19 Auch die mythologische Bedeutung des Apfels gründet in der verführerischen Sinnlichkeit des Geschmacks. In der Genesis führt sein verbotener Genuss zum Ausschluss des Menschen aus dem Paradies. Die Göttin Eris schließlich, die einen Apfel vergoldet und mit den Worten: »für die Schönste« zwischen die Göttinnen Hera, Athene und Aphrodite warf, potenzierte über die sinnliche Exotisierung des Apfels sein obsessives Potential. Das wohlschmeckende Obst wird zum Medium des Zwistes um einen ästhetischen Rang und damit zum »Zankapfel«. Eine Folge des entbrennenden Streites ist der Trojanische Krieg. 20
Vgl. Lurker 1991, S. 822 und Tripp 1974, S. 156 ff. Vgl. Tripp 1974, S. 200. Ein weiteres Beispiel ist die Milch. Die existenzielle Bedeutung der Muttermilch – des ersten Nahrungsmittels eines Säuglings – wird, nachdem
19 20
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4. · Ernährung als Dimension sinnlicher Erfahrung
Wein und Apfel sind Lebensmittel, in denen Verbindungen zwischen sinnlichem Geschmack und symbolischer Bedeutung noch recht offen zu Tage liegen. Die berauschende Wirkung des Weines ist doppelt codiert; sie bedeutet zum einen Leben, zum anderen Tod. Die Schönheit des Apfels lockt auf der Seite des Guten wie des Bösen und wird zum Symbol der Versuchung. Mythologien boten im Altertum narrative Synthesen des Weltlichen mit dem Göttlichen an. Damit waren auch die Lebensmittel Medien der Konstruktion einer Weltordnung, die der Macht der Menschen entzogen waren. Wenn Lebensmittel in der Gegenwart mit kulturellen Symbolen aufgeladen werden, folgen die Codes weltlichen Spuren. Aber auch dann werden sie narrativ aufgeladen, wenngleich ihre kulturellen Bedeutungen nun eher einer Logik der Ökonomie als der Götter geschuldet sind. Auf synästhetischem Wege werden zum Beispiel sinnliche (Geschmacks-) Eigenschaften mit positiv assoziierten landschaftlichen Atmosphären verbunden, um die beworbene Ware zu adeln und so ihren gewinnbringenden Absatz zu beschleunigen. In der Bierwerbung ist schon lange ein Klischee erfolgreich, wonach die atmosphärische Frische einer Landschaft im Sinne einer Ähnlichkeitsgleichung auf die sinnlich-geschmackliche Frische einer Biermarke übertragen wird. In einem viele Jahre in Kino und TV nur leicht variierten Werbespot wurde der herbe Charakter der friesischen Landschaft nach demselben Prinzip mit dem herben Geschmack eines Bieres verknüpft. Im verdeckten Hintergrund solcher Arrangements sind zudem geschlechtsspezifische Synästhesien wirksam: Danach ist die wilde Natur von Watt, Dünen und offener See eher an männliche Adressaten gerichtet, während die sinnlich-symbolischen Inszenierungen männlicher Protagonisten potentielle Käuferinnen affizieren sollen. Das Prinzip der Synthese sinnlicher und symbolischer Bedeutungen wird in der Lebensmittelwerbung sogar auf kulinarisch eher weniger ansprechende Nahrungsmittel angewandt. Die olfaktorische Ästhetik eines gereiften Camembert-Käses wurde in einem einschlägigen Werbesetting für ein traditionsreiches Markenprodukt durch das Bild einer verführerisch inszenierten blonden Protagonistin mit roter Kappe und leicht geöffnetem Décolleté in die reine Sinnlichkeit transponiert. Die postmodernen Narrative dienen Strategien der Verfühder an Hera saugende Herakles die Milch verschüttete, so dass sie ans Firmament flog, in der Milchstraße mit kosmologischer Bedeutung aufgeladen (vgl. Lurker 1991, S. 482).
88 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Die symbolische Codierung der sinnlichen Dimension von Lebensmitteln
rung, kommunizieren dissuasive Versprechen und ästhetisieren profane Realität. Je nach Art des Produkts und seiner Käuferschicht bedient sich die Werbung auch sinnenferner Argumente der Ernährung, um Absatz versprechende Produkteigenschaften zu konstruieren. Damit schert sie in die Spur jener Alimentationspraxen ein, in deren Mitte weniger der Wunsch nach sinnlichen Geschmacksgenüssen steht als ein rational abgeklärtes Interesse an einer vernünftigen Ernährung. So wird der (sinnliche) Genuss von Straußenfleisch vor allem deshalb als außergewöhnlich angepriesen, weil er sich – ernährungswissenschaftlich – mit hohen Qualitätsstandards verbindet. Straußenfleisch sei so gut wie cholesterinfrei und stamme von freilaufenden Tieren. In der aktuellen Nahrungsmittelwerbung fällt eine starke Betonung ernährungsphysiologischer, lebensmittelchemischer sowie anderer wissenschaftlich beglaubigter Qualitätsattribute auf. Der ernährungsbewusste Zeitgenosse isst nichts ohne beglaubigte Prüfung angebotener Stoffeigenschaften – nichts, nur weil es schmeckt. Er bedenkt sein Essen, bevor er isst, wenngleich dieses Bedenken einen starken selbstbezogenen Akzent hat und nur einen schwachen, der die Ethik des So-Essens reflektiert. Zu einer politischen Desensibilisierung gegenüber der Forderung nach gesunder und ethisch legitimierbarer Nahrung führt die nicht abreißende Kette sogenannter Nahrungsmittelskandale, die den Wunsch nach physiologisch, kulinarisch und ethisch gutem Essen ins Utopische verschiebt. Mit der Babynahrung erfolgt in modernen Gesellschaften der biographische Einstieg in die industrialisierte Ernährung. Jenseits der Muttermilch kommen die ersten essbaren Stoffe nicht vom Baum und nicht aus der Erde, sondern aus dem Glas oder der Dose. Da das fabrizierte Püree ein sinnliches Abstraktum ist, bedarf es der Beglaubigung seiner Qualität. Babynahrung soll wegen ihrer (nachgewiesen) gesunden, nährstoffreichen und leicht schluckbaren Eigenschaften überzeugen – weniger wegen ihres Geschmackes. Auf den ersten Blick scheinen die Hersteller von Hunde- und Katzenfutter ganz andere Akzente zu setzen. Da Haustiere keine Kandidaten der Zivilisation sind, darf in der Tierfutterwerbung zur Einheit kommen, worüber der aufgeklärte Mensch hinausgewachsen ist: »absolutes Freßvergnügen, Wohlbefinden und dauerhafte Gesundheit«. Dabei lassen die Futtermittel für das hoch emotionalisierte Haustier – jedenfalls dem Versprechen nach – nicht weniger an Qualität erwarten als Babynahrung. Katzenfutter soll 89 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
4. · Ernährung als Dimension sinnlicher Erfahrung
höchsten Ansprüchen gerecht werden und alle wichtigen Vitamine und Mineralstoffe enthalten. Andere Sorten warten mit »Lachs & Kabeljau in Soße« bzw. mit »gekonnt verfeinertem, zarten Gartengemüse« auf. Im Vergleich der Werbung von Menschen- und Tiernahrung werden diskursive Unterschiede evident. In der Art und Weise, wie Menschen (offiziell) über ihre Ernährung kommunizieren, spielt die sinnliche Lust am Essen und Trinken eine weit geringere Rolle als in der Kommunikation über das Futter der Haustiere. Die sich darin ausdrückende Distanz zur eigenen Natur spitzt sich im Schweigen über die Qualität der Nahrung für Nutztiere der industriellen Massenproduktion zu. Nur das hoch emotionalisierte Haustier ist auch in der Frage guten Fressens und Saufens ein Partner der Sorge. Was wir uns dagegen essend einverleiben, wird nur vom Ende einer Tierbiographie gesehen. Während das Haustier als sinnliches Wesen erlebt wird, kommt die Sinnlichkeit von Schwein und Rind erst im Prozess der Verwandlung zum Nahrungsmittel in den Blick (Problematik von Tiertransporten und Schlachtmethoden etc.). Die Ethik der Ernährung wie des genussvollen Essens und Trinkens bedarf in modernen Gesellschaften aus Gründen der Aufrechterhaltung einer florierenden Ökonomie der Begehrnisse der systematischen Anästhesie der Produktion von Nahrungsmitteln – mit anderen Worten: einer Beschleunigung der Entkoppelung von Essgenuss und dem Wissen um die Aufzucht von Tier und Pflanze. Die industrielle (Massen-) Produktion von Hühner- und Schweinefleisch (zum Zwecke massenhafter Konsumption) potenziert diese Distanz, indem ihre Organisation die Ferne zu den menschlichen Sinnen garantiert. Am Ende einer produktionsbedingten Verschwiegenheitskultur ist der Konsument vom Wissen ent-sorgt, wie die Tiere vor ihrer Transformation ins ansprechend verpackte Lebensmittel gelebt haben. Zivilisationstechnische Vorkehrungen der räumlichen Auslagerung der Tierproduktion, -verarbeitung, -distribution und -zubereitung aus der Wahrnehmungszone der Konsumption (vor allem aber von den Bühnen des gastronomischen Verzehrs) vereiteln das Erschrecken angesichts dessen, was wir essen, wenn wir es uns schmecken lassen. »Die Menschen drängen im Laufe der Zivilisationsbewegung alles zurück, was sie an sich selbst als tierische Charaktere empfinden. Ganz ähnlich drängen sie es auch in ihren Speisen zurück.« 21 Die Zu21
Elias 1997, S. 253.
90 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Die symbolische Codierung der sinnlichen Dimension von Lebensmitteln
bereitung und Anrichtung der Tiere kultivieren sie in einer Weise, wonach möglichst wenig vom aufgetischten Fleisch als etwas vom Tier noch erkennbar ist. Auch in der Fischverarbeitung beschleunigt sich der Trend zur Anästhetisierung des Tierischen. Das Projekt einer sinnlichen Erfahrung moderner Alimentationspraxen fände hier einen prädestinierten Ausgangspunkt zur Reflexion und Revision selbstverständlicher und ent-sinnlichter Formen der Ernährung. Ich gehe von der optimistischen These aus, dass die Bereitschaft zur stummen Teilhabe an einem System der Verbergung und Absehung von ethisch bedenklichen Praxen der Nahrungsmittelproduktion angesichts einer aktuell stark steigenden Nachfrage nach sogenannten Ökoprodukten wenigstens ansatzweise gebrochen ist. Diese optimistische Deutung subjektiver Ernährungsprogramme wird indes durch jenen Konsumententyp konterkariert, der im Namen einer unbedachten Genussorientierung narzisstisch genug ist, die Maximierung eigenen situativen Wohlergehens ganz ohne jeden ethischen Anspruch anzustreben, und nur deshalb nach guter, sauberer und effizienter Qualität verlangt. Wer eine Möhre und ein Huhn strukturell nach denselben Qualitätsansprüchen kauft wie Winterreifen oder Putzmittel, bewegt sich jedoch jenseits aller Ethik. Sinnliche Erfahrung, die ins Politische reicht, überschreitet den engen Kreis belangloser Sinnenspektakel, wie sie in der schulpädagogischen Praxis beliebt sind. Im Sinne des Begriffes geht Er-fahrung durchs Eigene des Erlebens hindurch. Wo das Ästhetische die Ökonomie strukturiert und die Ökonomie ästhetizistisch wird, erklärt sich das Sinnliche aber nicht mehr allein aus der Logik der Sinne, sondern aus der Spannung zwischen selbstreflexiver Erfahrung und politisch-ökonomischer Rekonstruktion der systemischen Formatierung der Sinnlichkeit des Menschen. Angesichts globaler Nahrungs- und Genussmittelmärkte könnte der normative Wunsch nach einer Rückkehr zu regionalen und ökologisch nachhaltigen Ernährungsformen aber eher neoromantischer Fluchtpunkt aus einem Dilemma sein als eine realistische ernährungspolitische Alternative 22 zur amoralischen Massenproduktion von Lebensmitteln.
22
Vgl. Antoni-Komar 2006.
91 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
4. · Ernährung als Dimension sinnlicher Erfahrung
4.5 Die sinnliche Transformation des Essens Seit Jahrhunderten ist das Essen Gegenstand kultureller Transformation. Meist ist nur von jenen Verfeinerungen die Rede, in deren Vollzug das Essen und Trinken zu einer Sache einer gehobenen Kultur, elaborierter Sitten und – heute würde man sagen – besserer Lebensstile geworden ist. Norbert Elias dokumentiert eine am Ende des Mittelalters beginnende Wandlung sinnlich-ästhetischer Präferenzen zu sozialen, das heißt distinktiven Praktiken, die man heute nur noch selten als Tischsitten bezeichnet. 23 Während im Mittelalter noch mit den Händen gegessen wurde und die beim Essen auftretenden Affekte in ihrer Artikulation nur wenig eingeschränkt waren, setzte mit der Einführung von Essgeräten eine zweifache sinnliche Distanzierung ein – erstens vom Gegenstand der Nahrung und zweitens vom Vorgang des Essens. Zwei Beispiele: (1.) Nachdem man die Suppe zwar noch aus einer gemeinsamen Schüssel, aber schon nicht mehr aus gemeinschaftlich genutzten Kellen trank, sich vielmehr eines eigenen Löffels bediente, wurde es »nötig, seinen Löffel, bevor man ihn in die Schüssel tauchte, mit der Serviette abzuwischen. Und manchen Leuten genügt selbst das nicht mehr. Dort darf man den einmal gebrauchten Löffel überhaupt nicht mehr in die gemeinsame Schüssel tauchen, sondern muß sich einen neuen dafür geben lassen.« 24 (2.) In der Oberschicht der mittelalterlichen Gesellschaft war es üblich, das ganze in der Küche zubereitete Tier auf der Tafel zu präsentieren. Das Zerlegen war Ehrensache des Hausherrn oder Privileg angesehener Gäste. 25 Im 17. Jahrhundert hörte das öffentliche Zerlegen des Tieres in Frankreich auf. Die Gründe lagen in einer Verkleinerung des Haushalts wie der Familieneinheiten, der Aussonderung von Erzeugung und Verarbeitung aus dem Hause und der räumlichen Trennung des Schlachtens vom Wohnen. In der modernen Nahrungsmittelindustrie sind die Lebensmittel nicht nur abstrakter geworden, auch die Verarbeitungs- und Fertigungsprozesse haben sich durch Maschinisierung, Konservierung und Verpackung so weit verändert, dass die sinnlichen Brücken zwi23 24 25
Vgl. Elias 1997. Ebd., S. 235. Ebd., S. 252.
92 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Die sinnliche Transformation des Essens
schen einem (Halb-) Fertigmenü und der Präsenz eines Referenz-Tieres nahezu perfekt zerbrochen sind: Fischstäbchen, Brühwürfel und Tiefkühlkost werden in verschwiegenen und ästhetisch oft anrüchigen Praxen produziert, dem Konsumenten aber als kulinarische Waren zugeführt. In der Kultivierung von Formen der sinnlichen Distanzierung vom Gegenstand des Essens wie des Essens selbst wird das sinnlich Gemiedene ins symbolisch Peinliche verwandelt und aus der Sicht der Gesellschaft verbannt. So versteht es sich schon lange von selbst, dass Babynahrung dank ihrer industriellen Verarbeitung des sprichwörtlichen Vorkauens nicht mehr bedarf. Die Schlachthöfe sind nicht in Hörweite, sondern im Nirgendwo außerhalb der Stadt. Ihre Exterritorialisierung demonstriert das moderne Ernährungsdilemma. Was nicht nur symbolisch, sondern auch sinnlich als anstößig empfunden wird, bedarf der Verbergung. Die Ohren und Nasen sind von Rohem entwöhnt – soweit es die sentimentalen Idiosynkrasien ernährungsbedingter Tötungen betrifft. Weil das anstößige und anrüchige Schlachten aber unhintergehbare Voraussetzung der vor allem großstädtischen Versorgungssicherheit mit Nahrungsmitteln ist, kommt kein Weg der Läuterung in Sicht. Selbst die Reduktion des Konsums tierischer Produkte hebt den Grund der Verbergung strukturell nicht auf. Die Esskulturen haben sich zu allen Zeiten subkulturell differenziert und diversifiziert. Während die sinnliche Beziehung zum lebenden wie getöteten Tier zwischen Distanz und Nähe vor allem in den oberen Schichten kultiviert wurde, sorgte die Industrialisierung der Herstellung von Halbfertigwaren für die Verbreitung kulturell vereinheitlichter und abstrakter Standards, die mehr oder weniger lückenhaft alle gesellschaftlichen Schichten erreicht haben. Dass mit den sinnlichen Grenzen die ethischen fielen, war und ist kein Nebeneffekt räumlicher Separierung des übel Riechenden und als anrüchig Empfundenen, sondern Bedingung der Ermöglichung einer Massen erzeugenden Industrie, deren System kaum Spielräume für das ethische und ästhetische Veto toleriert. Mit der maschinistischen Tier- und Pflanzenproduktion wie -verarbeitung geht eine Ent-sorgung von Gefühlen der Empfindlichkeit und Verantwortlichkeit einher. Der Zwang zum konkurrenzfähigen Marktpreis justiert nicht nur die Verfahren der Nahrungsmittelproduktion, sondern auch die sinnliche Beziehung zum fabrizierten Material des Essens. Im Konsum von Fast- und ChillFood boomt das ernährungskulturelle Paradigma einer weitestgehend entsinnlichten Hybrid-Nahrung. Dabei beschränkt sich Fast-Food lan93 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
4. · Ernährung als Dimension sinnlicher Erfahrung
ge schon nicht mehr auf McDonalds und Burgerking, erreicht vielmehr auch teure Nischen der Gastronomie (insbesondere in der Nähe von Bürostädten) zum Beispiel in Gestalt von Sushi, um dann aber schnell das Spektrum symbolischer Praktiken des Essens in allen Schichten der postmodernen Gesellschaft um ein (beliebiges) Segment anzureichern. Convenience-Produkte implizieren ein Verschwinden dessen, was ihnen zugrunde liegt. Tiefgekühlte Zwiebelwürfel hinterlassen keinen Geruch auf den Fingern, geometrisierter und panierter Fertig-Fisch in Folie wird in Gänze zum essbaren Abstraktum. So wird auch das Essen vom Wissen um das Gegessene entbunden. Immer weniger Menschen können in modernen Gesellschaften (insbesondere in Einpersonenhaushalten) im engeren Sinne des Wortes ihre Nahrung noch selbst kochen, so dass mit der Verneblung der Herkunft der Nahrungsmittel auch das individuelle Vermögen ihrer Zubereitung schwindet. Tradiertes, praktisches und auf Sinnenbewußtsein 26 gestütztes Wissen um die Nutzbarkeit von Rohem für die Herstellung einer Speise wird vermehrt von industriellen Serienprodukten samt der ihnen eigenen Geschmacksstandards überlagert und abgelöst. Mit Blick auf die in traditionellen Gesellschaften üblichen Tieropfer, die im Falle des menschlichen Verzehrs den Göttern zu bringen waren, fordert Dieter Hoffmann-Axthelm: »Zwischen uns und dem Tier, das wir essen, muß wieder ein Gitter sein, das unseren Zugriff beschränkt, mäßigt, nach Zeit, Menge Ort und Angemessenheit reguliert.« 27 Ein solches Gitter richtet sich im Prozess einer sinnlichen Erfahrung alltäglicher Praxen der Ernährung auf – aber nicht als esoterisches Nachspüren des Genusses, sondern als kritisch nach-denkendes Innehalten angesichts einer zivilisatorisch voranschreitenden Distanzierung von der äußeren wie inneren Natur, die wir selbst sind. Solches Innehalten verfremdet den Blick auf das Gewohnte und öffnet damit Perspektiven der Erfahrung über die Sinnlichkeit des Essens hinaus. Es erscheint ganz selbstverständlich, dass wir in der Ernährung sinnliche Erfahrungen machen. Dennoch gehe ich vom Gegenteil aus. Im Unterschied zu ubiquitären Sprachroutinen, wonach Erfahrung in ihrer Kontingenz für nahezu alles steht, was in irgendeiner Weise das subjektive Erleben tangiert, verstehe ich Erfahrung als eine Form der kritisch nach-denkenden Be-SINN-ung, die sich deutlich vom unbedachten 26 27
Vgl. zur Lippe 1987. Hoffmann-Axthelm 2006, S. 13.
94 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Die sinnliche Transformation des Essens
Dahintreiben in sinnlich-gefühlsmäßigen Situationen unterscheidet. 28 Die Frage, was wir warum zu einem Gegenstand der Erfahrung machen, beantwortet sich weniger aus der Logik der Ernährungsgegenstände als durch die Rekonstruktion der kulturellen Voraussetzungen dessen, was den konkreten Kern von Ernährungspraktiken ausmacht. Bedenklich werden vor allem jene Bereiche der Ernährung, die der sinnlichen Wahrnehmung entzogen sind. Damit verbindet sich die Aufgabe sinnlicher Erfahrung mit der politischen Rekonstruktion einer globalen Ökonomie und Ideologie der Ernährung wie des Essens und Trinkens.
28
Vgl. in diesem Sinn Gadamer 1960, Gehlen 1936, Bollnow 1970 und zur Lippe 1987.
95 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
5. Nähe- und Ferneverhältnisse im Essen Das Beispiel der Garnele
Was Menschen moderner Gesellschaften essen, entnehmen sie üblicherweise weder dem eigenen Garten, noch bedarf das individuelle Sattwerden der Tötung eines Tieres. So banal und evident dieser Sachverhalt auch sein mag, so drückt er doch ein historisches Produkt des Zivilisationsprozesses aus, worin auch eine Geschichte der ästhetischen Zurückdrängung aller mit der Nahrungszubereitung verbundenen Vorgänge zum Ausdruck kommt. Die menschliche Ernährung ist hinsichtlich der Wertschöpfungsprozesse in der Nahrungsmittelwirtschaft ein zentrales Thema der Wirtschaftsgeographie, der Agrargeographie oder – im gegebenen thematischen Rahmen – der Geographie der Meere.
5.1 Essen – ein Thema der Wirtschaftsgeographie? Mit dem alltäglichen Konsum von Lebensmitteln verbinden sich auf zwei Ebenen ethische Fragen. Unser Wissen über die Produktion von Nahrungsmitteln führt angesichts der Autorität geltender kultureller Werte (moralische Prinzipien oft) in konflikthafte Kaufentscheidungen. Wenn wir dagegen in einem naiven Sinne essen, was uns angeboten wird und schmeckt, ohne etwas (Genaues) über das Einverleibte zu wissen, müssen wir uns selbstverschuldete Unwissenheit als Grund für den Mangel an moralischer Zurechnungsfähigkeit vorwerfen lassen. Beide Situationen sind Ausdruck vielschichtiger Distanz- und Näheverhältnisse und haben einen mehr oder weniger direkten Einfluss auf die Wertschöpfungsprozesse in der Nahrungsmittelwirtschaft (unkritischer Konsum vs. Nachfrage nach ethisch sauberen Produkten, Verzicht auf den Handel mit ethisch nicht durchsetzbaren Produkten vs. Entwicklung ethisch akzeptabler Angebotsstrukturen etc.). Dennoch werden in der Wirtschaftsgeographie Distanz und Nähe selten in einem wahrnehmungstheoretischen, das heißt auch ethischen und äs96 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Ethische Implikationen des Essens
thetischen Fokus gesehen. Distanz- und Nähe-Verhältnisse werden meist erst in letzter Instanz – und dann oft implizit – aus der Perspektive psychologisch konnotierter Konzepte betrachtet. Bathelt und Glückler unterscheiden räumliche Nähe von kultureller/institutioneller, organisatorischer und virtueller Nähe 1; Haas und Neumair bringen mit der Kategorie sozialer Nähe 2 eine Perspektive zur Geltung, die deutlicher als der überkontingente Begriff kultureller Nähe auch ökonomisch wirksame Wertzuschreibungs- und -aberkennungsroutinen in den Blick nimmt. Das folgende Kapitel widmet sich den ethischen Implikationen, die mit den globalen Kreisläufen der industriellen Produktion, fischereiwirtschaftlichen Gewinnung, Verarbeitung, Distribution und Konsumption eines marinen Organismus verbunden sind – der Garnele. Eine Art steht dabei exemplarisch für viele andere, die wir in gewisser Weise blind essen. Ethische Lasten, die einem Produkt anhaften, stehen in mannigfaltigen Verflechtungszusammenhängen zu kulturellen Bedeutungen und Affekten. Schließlich gibt es Produkte (zum Beispiel aus dem sogenannten fairen Handel), die von Konsumenten als ethisch ent-lastend gedeutet werden und damit in einer Beziehung zu vielfältigen normativen Problemen stehen, die aus dem Konsum und Verzehr von Nahrungsmitteln resultieren.
5.2 Ethische Implikationen des Essens Die anthropologischen und naturphilosophischen Reichweiten des Essens sind kein Thema der Alltagssprache, wenn sie den Alltag auch prägen. Die Freiheit der Wahl der Nahrungsmittel gehört zu den elementarsten Selbstverständlichkeiten einer demokratischen Gesellschaft. In seiner kulturellen Formatierung und abstrakten Codierung spiegeln sich im Essen jedoch Grundzüge eines kulturspezifisch gelebten Mensch-Natur-Metabolismus wider, die in anthropologischer Hinsicht aufschlussreich sind. Dabei bilden Konkretheit und Sinnlichkeit auf der einen Seite und Abstraktheit und Rationalität auf der anderen Seite eine schwierige Beziehung, die letztlich das kulturell und ökonomisch regulierte Verhältnis des Essenden zum Gegessenen gestaltet. 1 2
Vgl. Bathelt / Glückler 2002, S. 49 f. Vgl. Haas / Neumair 2007, S. 22.
97 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
5. · Nähe- und Ferneverhältnisse im Essen
In den Mittelpunkt rücken im Folgenden ästhetische und ethische Distanz- und Näheverhältnisse zu den Gegenständen der Ernährung, die vielfältige lebensweltliche Ausdrucksformen finden (Erwerb, Zubereitung, Verzehr tierischer und/oder pflanzlicher Produkte). Die Garnele soll exemplarisch dazu dienen, die ethischen Implikationen der Produktion, Distribution und Konsumtion eines tierischen Nahrungsmittels in den Blick zu nehmen. Die Rekonstruktion von Wegen, die es zurücklegt, bevor es in der kulinarischen Welt kulturell als Delikatesse auf dem Grat zwischen Banalität und Exotik auftaucht, führt zu einer Kritik moderner Formen der Ernährung wie der Wahrnehmung. Jede kulinarische Veredelung der Essbedürfnisse setzt Appetit voraus, der erst – nach der Stillung existenziellen Hungers – den nötigen Feinsinn des Genusses mit sich bringt. Je mehr sich die archaische Situation des Hungers in der des Appetits entschärft, wird der natürliche Impuls durch kulturelle Präferenzen in Bahnen gelenkt. Kulinarische Ess-Lüste definieren nun die Objekte der Begierde wie die Formen ihrer Einverleibung. Zu den abstrakteren und kultivierten Formen gehört das Essen aus vernünftigen Gründen, wonach die Wahl der Nahrungsmittel weniger lustbetont erfolgt, sondern zum Beispiel durch Gründe der Gesundheitsvorsorge oder eine gefühlsmäßig verankerte Haltung der Schonung (mit-) gesteuert wird. Unter ethischen Vorbehalten darf es nicht bedingungslos schmecken. Als bewusst geltende Ernährungskulturen folgen unterschiedlichen Zielen der Nachhaltigkeit: (a) Eine Haltung der Schonung ist richtungsweisend, wenn das Essen von Respekt gegenüber anderen Arten getragen wird. Dann werden die gegessenen Tiere ex post mit Rechten ausgestattet. Für eine sozioökonomische Facette von Nachhaltigkeit (b) steht die Orientierung an der Norm der Gerechtigkeit gegenüber den Menschen in den Herkunftsgebieten spezieller Nahrungsmittel (aus der Dritten Welt), deren billig erkaufter Arbeit man den eigenen Genuss verdankt. (c) Gesundheitsbewusste Ernährungspraktiken fokussieren die Nachhaltigkeit eigenen Wohlergehens. Diese und andere Einstellungen wirken direkt oder indirekt auf den Handel mit Nahrungsmitteln ein. Wenn Ermann darauf hinweist, dass der Kauf von Konsumgütern in hohem Maße von Werten abhängig ist, die das Gewicht von Affekten haben, dann trifft dies in besonderer Weise für kulinarische Güter zu (im Unterschied zu Kartoffel und Möhre). 3 3
Vgl. Ermann 2007.
98 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Ethische Implikationen des Essens
Den meisten Ernährungsgewohnheiten liegt keine ethisch reflektierte, sondern lediglich eine gelebte Moral zugrunde. Sie ist nicht in gesprochenen Diskursen zuhause, sondern in profanen Tätigkeiten des Lebensmittelerwerbs, Kochens und Essens. Aber auch dann kann das Individuum in seinem täglichen Tun moralischen Sätzen folgen. So hindert die meisten Menschen christlich geprägter Kulturen das Mitleid daran, lebende Tiere zum Zwecke der eigenen Ernährung selbst zu töten. Solche Moral verdankt sich in ihrem sozialpsychologischen Funktionieren aber einer Abspaltung des (rational) Naheliegendsten – der notwendigen Tötung von Tieren durch andere Menschen bzw. deren Maschinen. Auch Gründe der Vernunft sind in moralische Dilemmata verstrickt. So muss das (proto)wissenschaftlich aufgeklärte Bedürfnis nach gesunder Ernährung nicht schon a priori mit den Werten übereinstimmen, die sich aus der Anwendung ökologischer und tierethischer Maßstäbe auf die Produktion von Nahrungsmitteln ergeben. Ökologische Ansprüche können im Widerspruch zu politischen und ethischen Normen fairen Handels mit Produzenten aus Ländern der Dritten Welt stehen. Es gibt kein praktisch lebbares Gleichgewicht zwischen den Einsichten der Vernunft und den Lüsten der Sinne. Im Unterschied zum Fressen der Tiere lastet auf dem menschlichen Essen – oberhalb existenzieller Not des Überlebens – ein ethischer Legitimationsdruck. Aus kulturellen Gründen (Religion wie Politik) ist der moderne Mensch nicht nur sich selbst, sondern auch anderen gegenüber moralisch verpflichtet. Im Unterschied dazu muss sich kein Tier für die Art und Weise rechtfertigen, in der es anderer Tiere habhaft wird. Nur wo Routinen der Ernährung und des Essens durch die Sprengkraft kritischen Denkens brüchig werden, können sie sich für das ethische Selbstgespräch öffnen. Auf diesen Pfad führt unter anderem die Exotisierung dessen, was wir essen. In den folgenden Schritten soll die Garnele als kulinarisches Nahrungsmittel um dieser Exotisierung willen zunächst in zoologisch-biologischer Sicht ihre Selbstverständlichkeit verlieren. Ein kritischer Blick auf Fischerei und Zucht wird die Bedingungen der Produktion erhellen – bis zur ökologischen und toxikologischen Verortung des Tieres im Distributionssystem der globalen Nahrungsmittelwirtschaft. Schließlich soll die kulturelle Rekonstruktion von Formen des Garnelenkonsums auf eine mythische Ebene des Essens aufmerksam machen, die lebensweltlich zwar wirksam, nicht aber evident ist.
99 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
5. · Nähe- und Ferneverhältnisse im Essen
5.3 Rudimente zur Biologie der Garnele Garnelen werden im Volksmund – aber auch in bestimmten Regionen der Nordseeküste – als Krabben bezeichnet. Im zoologischen Sinne ist dieser Name falsch, weil er unter den Krustentieren für eine eigene Familie steht (der Taschenkrebs ist eine der bekanntesten Krabbenarten). Während mit Krabbe meistens die Nordseegarnele gemeint ist, stehen die Begriffe Shrimp, Scampi und Gamba für Arten, die deutlich größer sind als die Nordseegarnele. Alle gehören zu den Zehnfußkrebsen. »Die Zehnfüßer sind mit ihren rund 10.000 Arten eine der artenreichsten Crustaceengruppen.« 4 Neben den Garnelen gehören Langusten und Hummer zu ihnen. Die kleinste Garnelenart ist nur einen Millimeter lang, die größte Langustenart erreicht eine maximale Länge von 0,6 Meter. Garnelen gliedern sich in zwei Unterordnungen: die Caridea mit rund 2.000 und die Penaeidea mit 380 bekannten Arten. Die Nordseegarnele (crangon crangon) gehört der Gruppe der Caridea an; ebenso die sogenannte Tiefseegarnele und die in Aquakulturen gezüchteten Arten. Die Food and Agriculture Organization of the United Nations nennt 343 Arten von wirtschaftlichem Interesse. In Aquakulturen werden derzeit aber lediglich acht Arten gezüchtet. 5 Der Körper garnelenartiger Dekapoden ist zweigeteilt (Abb. 5.1). Fast die Hälfte der Länge des Tieres entfällt auf den Kopf (Cephalothorax). Wie der Kopfteil, so hat auch der hintere, in sechs bewegliche Segmente gegliederte Körper (Pleon) einen Chitinpanzer, in dem sich das nutzbare Fleisch befindet. Die ersten beiden von fünf Laufbeinpaaren (Peraeopoden), die unter dem Cephalotorax ansetzen, tragen endständige Scheren zur Bewältigung der Nahrung. Dahinter befinden sich unter dem Pleon fünf Paare gut entwickelter Schwimmbeine (Pleopoden). Die Garnele kann sich infolge ihrer anatomischen Ausstattung auf drei Arten fortbewegen: mit Hilfe der Laufbeine schreitet sie vor- und rückwärts, und dank der Pleopoden kann sie schwimmen. Ruckartige Schläge mit dem Schwanzfächer bewirken (bei schlagartigem Einknicken des Pleon) blitzschnelle rückwärts gerichtete (Flucht-) Bewegungen. 6 Garnelen verfügen über drei Sinnesorgane: Statocysten (zur Sicherung des Gleichgewichts), gestielte Facettenaugen von rudi4 5 6
Westheide / Rieger 1996, S. 561. Vgl. Bailey-Brock / Moss 1992, S. 9 Vgl. Stresemann 1992, S. 526 f.
100 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Rudimente zur Biologie der Garnele
Abb. 5.1: Anatomie einer Garnele.
mentärem Sehvermögen und Sinnesborsten. Differenziert entwickelt ist im Unterschied zu den Augen das Tast- und Geruchsorgan der kurzen mehrästigen und langen einästigen Antennen, die als Chemosensoren fungieren und die Konzentration von Protein und Proteinderivaten in potentieller Nahrung erkennen. 7 Die Atmung erfolgt über Kiemen. Den wechselnden Salzgehalt (vor allem im Bereich des Wattenmeeres) können die Tiere aktiv osmoregulieren. Je nach Wassertemperaturen gibt es zwei bis fünf Bruten pro Jahr. Aus den hohen Reproduktionsraten ergibt sich eine immense Individuenzahl von Garnelen (ein weibliches Tier produziert in seinem ca. dreijährigen Leben bis zu 18.000 Eier). Der Lebensraum der Nordseegarnele liegt im küstennahen Bereich. Mit der Ebbe treiben die Tiere seewärts, mit der Flut kehren sie zurück. Die Jungtiere halten sich im Brackwasser auf, die alten im Offshorebereich. 8 Die natürliche Reduktion der Crangon-Bestände in der Nahrungskette übersteigt die fischereibedingte Reduktion um ein Vielfaches. Garnelen gehen nachts auf Nahrungssuche und graben sich während des Tages in den sandigen oder schlickigen Meeresboden ein; die Farbe der Tiere passt sich der unmittelbaren Umgebung an. Garnelen sind in ihrem massenhaften
7 8
Bailey-Brock / Moss 1992, S. 18. Ebd., S. 15.
101 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
5. · Nähe- und Ferneverhältnisse im Essen
Vorkommen in den marinen Ökosystemen eine wichtige Nahrungsgrundlage für Fische und andere Meeresbewohner. Kleine Arten sind als Zooplankton für Wal und Robbe unentbehrlich. Die meisten Dekapoden sind Räuber und Aasfresser. Unabhängig von Nahrungsspezialisierungen leisten sie als Detritusfresser und Feinpartikelsammler einen wichtigen Beitrag zur Gleichgewichtserhaltung in der Ökologie der Meere.
5.4 Fischerei, Zucht und Verarbeitung Garnelen werden in den Küstengewässern fast aller Weltmeere gefischt. Die Garnelenfischerei hat eine rund 2.000 Jahre lange Tradition. An der Nordseeküste wurden anfangs stehende Fanggeräte verwendet (Reusen, Granatkörbe, Hamen), die in ländlichen Küstenregionen in der Nebenerwerbsfischerei mitunter noch heute gebräuchlich sind und bis in die 1960er Jahre in der kleinen Küstenfischerei auch gewerbsmäßig eingesetzt wurden. Der dieselmotorbetriebene Kutter, der sein Fanggerät (Baumkurre) seitlich über den Wattboden zieht, befährt die Watten der Nordsee seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Vorläufer der Baumkurrentechnik gibt es in Frankreich seit dem 14. Jahrhundert. Mit der steigenden Nachfrage auf den Märkten (vor allem in den USA, Japan und Europa) gewinnt die Zucht in Aquakulturen seit den 1980er Jahren schnell an Bedeutung. 9 In asiatischen Ländern spielt sie in der Belieferung der globalen Märkte heute die größte Rolle. 10 Während 1994 noch 70 % der weltweit konsumierten Shrimps aus Fängen kamen, 11 importierten die USA (einer der weltweit größten Importeure) im Jahr 2000 schon 50 % ihres Shrimpbedarfs aus Aquakulturen. 12 Die globale Garnelen-Jahresproduktion lag 2000 bei 36 Mio Tonnen; der Anteil aus Aquakulturen hat sich von 1990 bis 2003 von 680.000 auf 1,3 Mio t fast verdoppelt. Deutsche Importeure führten im Jahr 2000 knapp 25.000 t Garnelen ein, davon 58 % aus Drittländern wie
Zur wirtschaftlichen Relevanz mariner Aquakulturen vgl. besonders Uthoff 1999. Vgl. Menasveta 1992, S. 691; besonders bedeutsam sind Shrimp-Aquakulturen in Thailand und Bali. 11 Vgl. Backhaus 1997, S. 730. 12 Vgl. Ngoan 2000, S. 10. 9
10
102 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Fischerei, Zucht und Verarbeitung
Abb. 5.2: Garnelen im Reisfeld (chinesische Alltagskeramik).
Thailand, Bangladesh, Indien, Vietnam. 13 In China befinden sich gegenwärtig die weltweit größten Shrimp-Aquakulturen. 14 Seit 1978 wird die Technologie der Aquakultur durch die National Fish and Shrimp Culture Conference forciert. Am Beginn dieser Entwicklung (1980) deckten die vorhandenen Shrimp-Becken eine Fläche von 9.340 ha ab; nur sieben Jahre später hatte sie sich auf das 14-fache (131.300 ha) ausgedehnt. 15 Moderne Zuchtbecken haben eine Größe von je 50 bis 100 ha. Wie in den meisten asiatischen Ländern geht auch in China die Methode der Shrimp-Aquakultur auf eine lange Kulturgeschichte zurück; sie begann vor rund 300 Jahren mit der Anlage künstlicher Buchten im Einflussbereich der Tide. 16 Als nachhaltig ist die traditionelle Garnelenzucht in Reisfeldern anzusehen (Abb. 5.2). 13 14 15 16
Vgl. BFAFI 2003. Vgl. Xin / Ning 1992, S. 688. Vgl. ebd., S. 686. Vgl. ebd., S. 681.
103 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
5. · Nähe- und Ferneverhältnisse im Essen
Bei dem weltgrößten Shrimp-Produzenten haben extensive, das heißt naturschonende und nachhaltige Formen der Zucht heute keine wirtschaftliche Bedeutung mehr. Da in den chinesischen Küstengewässern mehr als 100 Shrimp-Arten leben, von denen 40 wirtschaftlich relevant sind, 17 spielt neben der Zucht die Fischerei weiterhin eine ökonomisch wichtige Rolle. In zahlreichen asiatischen Betrieben sind die Zuchtmethoden nicht nachhaltig. Besonders gravierende ökologische Schäden entstehen durch die großflächige Rodung von Mangrovenwäldern, die für die Anlage der rund ein Meter tiefen Zuchtbecken in tropischen Küstenregionen Asiens vorgenommen wird. »Weltweit macht die Zerstörung von Mangroven durch Aquakulturen etwa 10 % der Gesamtzerstörung dieser Biotope aus.« 18 Neben dem Verlust wichtiger Lebensräume ist von langfristigen Rückwirkungen auf das globale Klima auszugehen. Als Folge der intensiven Teichbewirtschaftung ist das produzierte Garnelenfleisch oft mit Chemikalien- bzw. Medikamentenrückständen kontaminiert. In südostasiatischen Garnelen werden nach Studien der FAO und WHO immer wieder Rückstände von Antibiotika und Chemotherapeutika nachgewiesen. Systematisches Monitoring ist aber schwierig, so dass keine »genaue Abschätzung der Verbraucherexposition« möglich ist. 19 Aber auch durch Exkremente und verfaulende Futterreste wird das Wasser der Teiche so stark verschmutzt, dass als Folge des absinkenden Sauerstoffgehalts täglich 30–50 % Frischwasser zugeführt werden muss. Das unter anderem durch Stickstoff und Phosphate belastete Wasser wird zur Entsorgung in die offene See geleitet. 20 Was nicht über die Vorfluter abfließt, sedimentiert auf dem Boden der Becken, die nach einer Nutzungsdauer von fünf bis zehn Jahren stillgelegt werden müssen 21 und aufgrund ihrer Kontamination mit Antibiotika und Chemikalien über Jahre für weitere Nutzungen ausfallen. 22 Wegen der langfristigen Entwertung durch toxikologische DegradieVgl. ebd., S. 677. Deutscher Bundestag: Drucksache 14/6706 (2001), S. 173. 19 In Ländern mit einem höheren durchschnittlichen Pro-Kopf-Konsum stellt sich die Problematik mit anderem Nachdruck als in Ländern mit geringeren Konsummengen. So ist der Verbrauch in Frankreich doppelt so hoch wie in Deutschland und in Spanien fast doppelt so hoch wie in Frankreich (vgl. BFAFI 2003). 20 Vgl. auch Xin / Ning 1992. 21 Nach Backhaus in der Regel nach 5 Jahren (vgl. 1997, S. 32). 22 Vgl. Moos 2005. 17 18
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Fischerei, Zucht und Verarbeitung
rung entfällt auch die traditionelle (Folge-) Nutzung der Flächen für den Reisanbau. Aquakulturen werden als Mono- und Polykulturen betrieben. In Polykulturen werden neben Shrimps auch Fische gezüchtet und/oder Reis angepflanzt. 23 Der ökonomische Aufwand zum intensiven Betrieb von Monokulturen ist kostentreibend. Als Folge des hohen Tierbesatzes wie der damit einhergehenden massenhaften Umsetzung von Biomasse wird der Einsatz von Medikamenten unumgänglich. Weil die damit verbundenen Kosten letztendlich zur Verteuerung der Produktion führen, geht man (zum Beispiel in Vietnam) zur Erzielung höherer Marktpreise zur semi-intensiven Zuchtmethode über. 24 Als in den 1980er Jahren unter dem erwartungsvollen Label Blaue Revolution Aquakulturen eingeführt wurden, erhoffte insbesondere die Weltbank eine Verbesserung der Welternährungssituation und bezuschusste deshalb einschlägige Investitionen. Tatsächlich hat sich die industrielle Garnelenzucht aber eher in die Logik wohlstandsgesellschaftlicher Nahrungsmittelmärkte eingegliedert, als dass sie zur Linderung des Hungers in den ärmsten Ländern der Welt beigetragen hätte. In asiatischen, lateinamerikanischen und (zunehmend auch in) afrikanischen Küstengewässern ist die industrielle Shrimpzucht nicht nur ökologisch problematisch, sondern auch regionalökonomisch für die Bevölkerung in den Produktionsgebieten von Nachteil (Zerstörung der Lebensgrundlagen kleiner Fischerei- und Fischzuchtbetriebe). Vergleichsrechnungen zeigen, dass die Garnelenzucht – von wenigen Unternehmen abgesehen – keinen nennenswerten Beitrag zum Wohlergehen regionaler Bevölkerungsgruppen leistet. 25 Seit Mitte der 1980er Jahre erfolgt zum Beispiel die vietnamesische Produktion zum größten Teil in Monokulturen auf gerodeten Flächen der Mangroven. In Vietnam liegen die Anlagen der Shrimp-Zuchtbecken vor allem in den Mangrovenwäldern. Für 1990 gab das Ministry of Aquatic Products eine realistisch erschließbare Fläche von 200.000 ha im Bereich des Mekong-Delta an (vgl. Quynh 1992, S. 737), das vor dem Vietnam-Krieg eine Fläche von 250.000 ha umfasste und selbst nach Aufforstungsmaßnahmen im Jahre 1986 erst wieder bei 100.000 ha lag (vgl. ebd., S. 733). Auf der einen Seite führt die Nutzung der Mangroven zur ökologischer Degradation, auf der anderen Seite berufen sich gerade Vietnamesen darauf, dass sie durch Aufforstungen Kultur-Flächen für die Zucht geschaffen haben (vgl. Quynh 1992, S. 741). 24 Vgl. ebd., S. 753. 25 Nach einem Vergleich der Umweltschutzorganisation Greenpeace erforderte die Bewirtschaftung eines 40 ha großen Reisfeldes Mitte bis Ende der 1990er Jahre 50 Arbeiter, die Bewirtschaftung eines Garnelenteiches aber nur 5 Personen (vgl. Greenpeace 23
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5. · Nähe- und Ferneverhältnisse im Essen
Greenpeace wirft der Weltbank vor, mit der Finanzierung der Zuchtbecken (im Rahmen von sogenannter Entwicklungshilfe) für den Aufbau einer ökologisch nicht nachhaltigen Zuchtmethode mit verantwortlich zu sein. 26 Der WWF kritisiert bekannte Einzelhandelsketten der Lebensmittelbranche, weil sie durch den Verkauf gefischter Arten an der ökologischen Degradierung der Meere mitwirken. Der Verzehr auf See gefischter Shrimps könne kaum ökologisch sein, wenn »beim Fang dieser kulinarischen Leckerbissen […] Unmengen anderer Meeresbewohner ungewollt mit gefangen« werden. 27 Nach Informationen der Lighthouse Foundation werden werden beim Fang von »1 Tonne Shrimp gar bis zu 15 Tonnen Fisch getötet«. 28 Wegen der Beifangproblematik gelten auf See gefischte Garnelen nur bedingt als Alternative zu Zucht-Shrimps. Angesichts eines in Westeuropa stark an wirtschaftlicher Bedeutung expandierenden Marktes sogenannter Bio-Produkte werden vermehrt auch Bio-Garnelen aus Aquakulturen angeboten. Damit geht unter ökonomischen Gesichtspunkten eine lukrative symbolische Verschiebung der Garnele von der Künstlichkeit industrieller Massenproduktion zur Natürlichkeit (qua Zuchtmethode) einher. Die Glaubwürdigkeit im Allgemeinen nur implizit kommunizierter Natürlichkeitszuschreibungen soll durch standardisierte Gütekriterien bekannter Öko-Vermarkter bekräftigt werden. Die hoch detaillierte – aber doch überregulierende – Richtlinie eines Verbandes für ökologischen Landbau definiert zahlreiche Eckwerte für die Produktion von Garnelen in ökologischen Aquakulturen. 29 Abgesehen von diversen Vorschriften, die nur scheinbar qualitätssichernde Effekte haben können, dürften wirksame Kontrollen zur Einhaltung der aufgestellten Normen fraglich sein. Viel grundlegender ist aber die durch Ökovermarkter ausgeklammerte Frage, inwieweit Tiere aus Aquakulturen überhaupt als ökologisch angesehen werden können. 2001). Da die meisten Zuchtbecken eine Größe von 50 bis 100 ha haben (vgl. Quynh 1992, S. 740), liegt der Arbeitsplatzeffekt bestenfalls bei einem Fünftel der Quote eines Reisfeldes. 26 Vgl. Greenpeace 2003. 27 WWF Deutschland 2005: Lidl-Märkte: Bei Fischen nichts gelernt. http://www.wwf. de/presse/details/news/lidl-maerkte-bei-fischen (08. 05. 2007). 28 Lighthouse Foundation. Stiftung für die Meere und Ozeane: http://www.lighthousefoundation.org/index.php?id=82; Abruf: 06. 02. 2014. 29 Vgl. Naturland 2006.
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Fischerei, Zucht und Verarbeitung
Die Fischerei der grauen Nordseegarnele (Crangon crangon) scheint im Unterschied dazu weitestgehend unproblematisch zu sein. Selbst unter der Beobachtung der Wattenmeer-Nationalparkverwaltung rückt ihre Befischung nicht in den Mittelpunkt einschneidender Kritik. Lediglich das Problem der Beifänge findet die wachsame Aufmerksamkeit von »Umweltschützern«. 30 Unabhängig davon gelten die Fangmethoden kaum als bestandsgefährdend, vor allem wenn die Winterschonzeiten eingehalten und keine schweren Fanggeschirre eingesetzt werden, die den Meeresboden und die dort lebenden Benthosarten schädigen. Neben dem Beifang stellen jedoch untermaßige Garnelen ein Problem dar, wenn sich die Menge der gefangenen Jungtiere im Vergleich zu den Fangmengen der 1960er Jahre auch deutlich reduziert hat. 31 An dieser Entwicklung hat die Verminderung der Zahl an Nordseekuttern keinen Anteil, da die Erträge moderner Schiffe im Unterschied zu ehemals kleinen Holzkuttern stark angestiegen sind. 32 Dennoch sind nach der Untersuchung von Testfängen, die von der Schleswig-Holsteinischen Nationalparkverwaltung durchgeführt worden sind, Bestandsrückgänge zu verzeichnen, die sich im Vergleich zu den Erträgen zurückliegender Dekaden in abnehmenden Garnelengrößen dokumentieren. 33 Im Unterschied zu den Fangmethoden in der Nordsee steht die Weiterverarbeitung von Garnelen unter beträchtlichem LegitimationsIn der europäischen Garnelenfischerei sterben zwischen 8 und 30 % aller Jungschollen (vgl. Nationalparkamt Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer 2007). 31 Während in der Nordseefischerei um die Jahrhundertwende Garnelen nur mit großen Netzmaschen (10 bis 12 mm) gefangen wurden, gewann Ende der 1920er Jahre die Futtergarnelenfischerei an Bedeutung. Mit engeren Netzmaschen wurden nun auch große Mengen Futtergarnelen gefangen. Nach dem Kochen wurden diese zum Schälen zu kleinen Tiere noch an Bord gepresst, um sie nach der Anlandung in sog. Darren zu trocknen und danach insbesondere dem Hühnerfutter beigeben zu können. Der Fang kleiner Garnelen wurde in den 1960er Jahren sogar durch die weitere Senkung der Maschenweite auf 7 mm forciert. Heute entfällt nur noch ein relativ kleiner Anteil (2.700 t) auf sog. Futtergranat. Die Fangmenge der deutschen Krabbenfischerei lag 2012 bei 12.450 Tonnen (Landwirtschaftskammer Niedersachsen (vgl. http://www.lwk-nieder sachsen.de/index. cfm/portal/7/nav/1095/article/22178/rss/0.html; Abruf: 22. 06. 2013). Da der Preis für Futtergranat pro Kg aber lediglich bei 3 Ct liegt, besteht kein wirtschaftliches Interesse mehr, Tiere zu fangen, die sich nicht als Speisegarnelen (mit einem Erzeugerpreis von bis zu 2,60 Euro) vermarkten lassen (Henn 2006, S. 47). Im ersten Halbjahr 2013 lagen die Preise sogar bei 5 bis 6 0/Kg (vgl. Landwirtschaftskammer Niedersachsen). 32 Vgl. Berghahn / Vorberg 1997, S. 7 33 Nationalparkamt Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer 2007. 30
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5. · Nähe- und Ferneverhältnisse im Essen
druck. Als Folge hoher Löhne in Deutschland und anderen westlichen Industrieländern wird der überwiegende Teil der angelandeten Fänge von niederländischen Großhändlern mit Kühllastzügen nach Marokko transportiert, um die gekochten Tiere dort in speziellen Fabriken schälen zu lassen. Das gewonnene Fleisch wird gereinigt, konserviert, verpackt und abermals mit Kühltransportern in die Distributionszentren der großen Lebensmittelmärkte nach Nordeuropa zurücktransportiert. So lastet auch auf weitgehend naturverträglich gefischten Nordseegarnelen die ökologische Hypothek einer interkontinentalen Transportlogistik, die einzig dem Ziel ökonomischer Nachhaltigkeit folgt.
5.5 Die Garnele als Nahrungsmittel Ernährungsgewohnheiten unterliegen nicht nur kulturellen Einflüssen, sie sind vor allem deren Produkt. Auch deshalb mahnten Bowler / Ilbery für die Agrargeographie mehr Aufmerksamkeit gegenüber der Gesamtheit der relevanten Nahrungsketten an, 34 gehören zu ihnen doch auch die mit dem Erleben wie der rationalen Bewertung eines Nahrungsmittels verbundenen Variablen. Ein aufgeklärtes Ernährungs-Bewusstsein präferiert natürliche Nahrungsmittel, folgt politischen Gerechtigkeits-Überzeugungen (fairer Handel) und akzeptiert dafür relativ hohe Marktpreise, die sich am Mythos guter Waren orientieren. Garnelen gelten als Delikatessen und unterscheiden sich damit von profanen Nahrungsmitteln, die wie Kartoffel oder Mohrrübe ohne (geschmacks-) ästhetischen Anspruch in erster Linie sättigen sollen. Das Schalentier wird als etwas Besonderes verzehrt, kann aber wegen seiner Erschwinglichkeit doch heute von jedermann erworben werden. Garnelen sind in ihrer Symbolik mehrfach codiert – zum einen sind sie Medien der Distinktion (je größer die Art, desto größer ist im Allgemeinen auch der symbolische Mehrwert), zum anderen profane Nahrungsmittel. Bis ins 19. Jahrhundert galt das Fleisch der verschiedenen Krebsarten keineswegs als Delikatesse. Insbesondere an den Küsten waren Garnelen ein wichtiger Proteinlieferant für die einfachen Leute. Mit steigendem Lebensstandard rückten sie in der symbolischen Hierarchie des Essbaren nach oben. In den 1950er bis 70er Jahren waren Krabben 34
Vgl. Bowler / Ilbery 1987, S. 328.
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Der ästhetizistische Rahmen des Ethischen
aufgrund ihres relativ hohen Preises kein gewöhnliches Nahrungsmittel mehr. Erst seit Garnelen als Folge globaler Produktions-, Verarbeitungs- und Vermarktungsketten dem Konsumenten massenhaft (vor allem aus asiatischen Aquakulturen) zur Verfügung stehen, sinkt nicht nur der Preis, sondern auch der Wert auf der Skala der Exklusivität kontinuierlich ins Feld der normalen Lebensmittel ab. Als Folge niedriger Preise, sozialer Trends und Konsummoden nimmt der Absatz von Speisegarnelen (vornehmlich aus Aquakulturen) auf dem deutschen Markt seit Jahren deutlich zu. 35 War die Garnele einst lebenswichtiger Proteinlieferant für arme Küstenbewohner, so ist sie heute eine von jedermann bezahlbare Populärdelikatesse. Im Unterschied dazu ist der Hummer schon wegen seiner raren Bestände und hohen Marktpreise ein reines Medium der Distinktion.
5.6 Der ästhetizistische Rahmen des Ethischen: Zur Ungleichzeitigkeit zivilisationsbedingter Ent- und Hyper-Versinnlichung der Nahrungsmittel Die Befriedigung ästhetischer Bedürfnisse zieht nicht selten ethische Probleme der Rechtfertigung nach sich. Je˛drusik macht auf sozio-ökonomische und sozio-kulturelle Differenzen aufmerksam, die als Folge eines südpazifischen culinary tourism die regionale Bevölkerung negativ treffen. 36 Jackson et al. diskutieren ethische Probleme aus der Zuckerproduktion in armen Ländern. 37 Ähnliche Probleme stellen sich in der Produktion sogenannter Bioenergierohstoffe, die ihrerseits (entgegen öko-ideologischen Dogmen der Nachhaltigkeit) Hungersituationen in Ländern der Dritten Welt zu verschärfen in der Lage sind. 38 Die meisten ethisch-ästhetischen Implikationen industriell erzeugter Nahrungsmittel sind unsichtbar. Die technologische wie distributionslogistische Abkoppelung der ästhetischen Seite des Essens von seinen verborgenen Rückseiten hat sich zivilisationsgeschichtlich bis in die Gegenwart so weit radikalisiert, Von 15.400 t in 2000 auf 21.300 t in 2005 (vgl. Sommer 2006, S. 99). Vgl. Je˛drusik 2007, S. 119. 37 Luxuskonsum vs. Mangelsituation in Erzeugerländern (vgl. Jackson et al. 2008, S. 21). 38 Vgl. Windhorst 2007 sowie Hasse 2008.3. 35 36
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5. · Nähe- und Ferneverhältnisse im Essen
dass das Wissen um das Gegessene erst erarbeitet werden muss. In der Produktion und Konsumption von Lebensmitteln wird ein Riss immer größer, auf dessen einer Seite die sichtbaren und sinnlich genießbaren Dinge verfügbar sind und auf dessen anderer Seite deren Genese abgedunkelt ist. So führen komplex verzahnte Produktions-, Weiterverarbeitungs-, Endbearbeitungs- und Distributionsmethoden zu einer epistemischen Abschottung gegenüber allem, was man im Prinzip über ein Nahrungsmittel wissen könnte. Das so entstehende Un-Wissen ist aber keine Nebenfolge der technologischen Modernisierung, sondern Bedingung des ästhetizistischen Genusses. Im alltäglichen Umgang mit Nahrungsmitteln wird deutlich, was für viele Bereiche der Kultur gilt: Es besteht ein Grund-Folge-Zusammenhang zwischen Entsinnlichung (im Bereich der niederen Sinne) und partieller Hyper-Versinnlichung (im Bereich kultureller Ästhetisierungen). Diese ästhetische Ambivalenz des Essens wie des Essbaren ist seit dem Mittelalter einer kontinuierlichen Wandlung unterworfen, dies mit der Folge, dass die Sinnlichkeit des Menschen auf bestimmte sinnliche Genüsse fokussiert wurde. Was den Sinnen und dem moralischen Geschmack eher Qualen als Lüste bereitete, verschwand in den Hinterzimmern der Wohnungen, der Häuser und der Städte – in die Küchen und die Schlachthöfe (siehe auch Kapitel 4). In modernen Gesellschaften vergrößern nicht nur die Begriffe die Distanz zum Seienden, 39 sondern auch die technischen Prozesse. Wo die industrielle Herstellung der Nahrungsmittel den Tieren ihre Gestalt nimmt oder sie gar zu etwas ganz Neuem und Anderem macht (zum Beispiel im Fisch-Stäbchen), radikalisiert sich die Entfremdung und Distanzierung von der äußeren Natur. Nahezu alle Prozesse der Zivilisation lassen sich schleichend in alltäglichen Praktiken nieder und brechen nicht schlagartig in sie herein. So weiß der durchschnittliche Massenkonsument in aller Regel auch wenig oder nichts von der strukturellen Ausblendung dessen, was im Schatten des Gegessenen technisch produziert, ökologisch degradiert und Hungernden als notwendige Nahrung entzogen wird. Dieses verborgene Wissen gehört zu den dunklen Eigenschaften der Nahrungsmittel, die ihnen (wie toxikologische Zugaben) nicht anzusehen sind. Der kulinarische Konsum von Garnelen macht auch auf die Komplexität dieser Situation aufmerksam, steht doch die massenkulturelle 39
Vgl. Blumenberg 2007, S. 33.
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Der ästhetizistische Rahmen des Ethischen
Konsumption auf dem Boden einer ästhetischen Abstraktion, die beispielhaft für die moderne industrielle Nahrungsmittel-Produktion ist. 40 Worauf Norbert Elias im Allgemeinen aufmerksam machte, konkretisiert und aktualisiert sich am Beispiel der Produktion und des Verzehrs von Garnelen: Mit der Ausblendung von Produktionsgeschichten verfeinern sich die ästhetisierungsorientierten kulinarischen Praxen. Die sinnliche Seite des vergessen Gemachten kehrt dann im Genuss potenziert (aber verdeckt) wieder zurück und kompensiert auf einem grundlegenden Niveau einen allgemeinen Sinnlichkeits- und Wahrnehmungsverlust im Prozess der Modernisierung. Dem Rückzug des Menschen von seinen sinnlich-archaischen Wurzeln korrespondiert eine kompensatorische Gegenbewegung, wonach zum Beispiel in der »spezifischen Oralität der Moderne die ›verzweifelte‹ Bemühung enthalten [ist], die Welt zu fassen zu bekommen, sich einzuverleiben, sich ihrer zu vergewissern«. 41 So steckt auch in der Lust am sinnlichen Genießen des Essens das »Andere des Vergesellschafteten« 42. Das (wieder-) versinnlichte Verhältnis zum Gegessenen bleibt gespalten. Wenn das Anfassen der Speisen mit den Fingern in unserer Kultur mit den guten Sitten auch weitgehend als unvereinbar gilt, so kennt auch diese Regel ihre Ausnahmen. Vom Berührungsverbot ausgenommen ist unter anderem das Schälen gekochter oder gebratener Garnelen als Moment einer ästhetisch-kulinarischen Praxis. Darin drückt sich nicht nur eine Sitte aus, sondern auch eine zivilisatorische Verwindung von Entfernungen zur inneren wie äußeren Natur. Das Essen aus bzw. mit der Hand hat »etwas entschieden Individualistischeres als das mit Messer und Gabel, es verknüpft den Einzelnen unmittelbar mit der Materie«. 43 Der Umstand, dass die Menge der industriell zubereiteten Krebsund Weichtiere zwischen den Jahren 2003 bis 2005 von 6.300 auf 9.602 Tonnen (+ 52,4 %) gestiegen ist (Fisch-Informationszentrum 2007, 23) und im Jahre 2010 bei gut 11 Tonnen 44 lag, lässt erwarten, dass der sinnliche Faden zum Tier in der Zukunft noch dünner wird. 45 Schon Zum globalisierten Agrarmarkt vgl. Whatmore 1995, S. 48. Kleinspehn 1987, S. 370. 42 Ebd., S. 416. 43 Simmel 1998.2, S. 186. 44 Fischinformationszentrum 2013, S. 23. 45 Der Marktanteil der Krebs- und Weichtiere an den Fisch und Fischereierzeugnissen lag in Deutschland im Jahre 2012 bei 12,1 % (vgl. Fischinformationszentrum 2013, S. 9). 40 41
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die sichtbare Form, in der die Garnele über die Ketten der Produktion und Distribution den Konsumenten als kulinarische Spezialität schließlich erreicht, fördert die Einstimmung in ein Halbwissen. Damit ist eine Zurichtung der Wahrnehmung auf kulturalische Schwundstufen und eine defizitäre Reflexion verbunden. Die Massenmedien (Kochbücher, Illustrationen der Nahrungsmittelwerbung etc.) zeigen die Garnele beinahe ausschließlich in angerichteter Form; Darstellungen des rohen toten Tieres sind selten. Die Thematisierung und Abbildung des lebenden Wesens fällt in die wissenschaftliche Zuständigkeit der Meeresbiologie sowie (bestenfalls) biologischen Bildung. Krill kennt dagegen – zumindest dem Namen nach – noch der (Halb-) Gebildete, weil der sich davon ernährende Wal (seit er in der Moderne von den Fischen zu den Säugetieren aufgestiegen ist) ein prädestinierter Kandidat der Sentimentalisierung ist und als biosphärischer Partner dazu taugt, systemische wie systematische Verrohungen im Umgang mit den Arten der Tierwelt emotional wiedergutzumachen. Weitgehend unklar dürfte dagegen der Umstand sein, dass Krill im Prinzip mit dem identisch ist, was man sich als Krabbe, Scampi oder Gamba schmecken lässt. Was den Krill als Nahrung des Tieres letztlich von der des Menschen trennt, ist weniger eine zoologische als eine epistemologische Grenze im emotionalisierten Mensch-Natur-Verhältnis.
5.7 Das ethisch und ästhetisch gespaltene Verhältnis zum gegessenen Tier Was wir essen, ist in seinen Herkünften wie in seiner Zusammensetzung in aller Regel diffus und unserem Alltagswissen weitgehend entzogen. So liegt auch über der nahrungsmittelindustriellen Garnele ein langer Schatten materieller, technologischer, pharmazeutischer, chemischer und symbolischer Bearbeitungen und Transformationen. Darin ist die Garnele beispielhaft für die meisten (tierischen) Produkte der modernen Nahrungsmittelindustrie. Mit der abstraktionistischen und hygienebedingten Verschiebung der Ekelschwelle wird das ästhetische Verschwinden des Organismischen zu einer unverzichtbaren Eigenschaft der Ware Fisch, Schwein oder Kuh. So kommen immer mehr ernährungswirtschaftliche Nutztiere gleichsam verschwiegen aus dem Nichts, um nach ihrer Drappierung eine hyperästhetisierte Rolle in subkulturell differenzierten Ernährungskulturen zu spielen. Das ästhe112 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Das ethisch und ästhetisch gespaltene Verhältnis zum gegessenen Tier
tische Verhältnis zum Essen ist dreifach geregelt: erstens durch ästhetizistische Normen der Zubereitung des Essens, zweitens durch subkulturell differenzierte Esskulturen und drittens im Sinne einer integralen Gesamtwirkung durch eine Kultur der Aufmerksamkeit, die die sinnliche wie epistemische Nähe und Ferne zum Essen und Gegessenen auf komplexe Weise reguliert. Mit der Industrialisierung der Produktion, Konservierung, Lagerung, Verpackung und Distribution der Nahrungsmittel wie der Normierung ihrer Zubereitung werden zuerst die Brücken zum getöteten Tier abgebaut, um sodann dem ethischen Eingedenken seiner strukturell-technischen Überwältigung als maschinistische Form der Naturaneignung jeden greifbaren Anlass zu nehmen. Während im Mittelalter in der Oberschicht oft das »tote Tier oder größere Teile des Tieres als Ganzes auf den Tisch« kamen 46, hatte die Verfeinerung der Tischsitten auch in dieser Hinsicht eine Distanzierung von der Natur zur Folge. Die Zerlegung des Tieres in isolierte und in gewisser Weise abstrakte Stücke zum individuellen Verzehr erfolgte zunächst in einem Nebenraum, später in der Küche, wo es zu einer Sache der Frau gemacht wurde, das Unansehnliche im Verborgenen zu verrichten. Tischsitten bzw. Esskulturen hatten und haben keinen Eigenwert, sondern stehen für ein je spezifisches Verhältnis zur inneren wie äußeren Natur. Wer anders isst, isst falsch und riskiert sein Fremdwerden in der Wahrnehmung signifikanter Anderer. Aber es gilt auch: Wer das uns Fremde isst, »wird feindselig mit seinen als unrein, minderwertig oder suspekt erachteten Speisen identifiziert«. 47 Die ökonomische Pointe liegt darin, dass Speisen, die einstweilen wegen ihrer psychologisch entfernten Herkunft kulturell als fremd empfunden werden, einer ästhetisierten Markteinführung bedürfen, die die lustvolle Überwindbarkeit der Fremdheitsbarriere zu kommunizieren in der Lage ist. Was Elias einst an den Schlachthöfen festmachte, setzt sich auf globalem Niveau heute mit High-Tech-Methoden in allen Bereichen der Nahrungsmittelindustrie fort. Die ökologisch ruinöse und toxikologisch bedenkliche Produktion von Garnelen, wie sie in einigen asiatischen Ländern vorkommt, ist die Kehrseite der verschwiegenen Tötung von Schwein und Rind im Schlachthof am schwach besiedelten Rande der Stadt. Auch die Verwertung tierischer Reste muss am Ende 46 47
Vgl. Elias 1997, S. 251. Ebd., S. 246.
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5. · Nähe- und Ferneverhältnisse im Essen
ästhetischen Ansprüchen genügen. Das sogenannte Food-Design nimmt auch diese Aufgabe wahr. Die Kreation neuer Synthesen geht aber viel weiter; sie entwindet das Tier tendenziell ganz aus den Produktions- und Verarbeitungsketten. Das Beispiel der Garnele weist auch hier die Richtung. An die Stelle der Fleischessenz wirklicher Garnelen tritt in der Nahrungsmittel-Herstellung vermehrt ein synthetisch produziertes Geschmacksimitat, das aus Bindemitteln, Fischteilen, Gewürzen und Zusatzstoffen besteht. »Die Zutaten dieses Blendwerks werden zu einer Masse verrührt und anschließend in die gewünschte (naturalistisch aussehende) Form gepresst.« 48 Mit einem ethisch motivierten Artenschutz hat die Einführung solcher Surrogate aber nicht das Mindeste zu tun. Die nahrungsmittelindustrielle Veredelung von Fischresten strebt vor allem eine Effizienzsteigerung von Wertschöpfungsketten an. 49 Das High-Tech-gestützte Geschmacks-Klonen eröffnet heute ökonomische Horizonte der Veredelung dessen, was man zu früheren Zeiten Hund oder Katze zum Fraß vorwarf. Namen wie Krebs-schwänze oder Reh-rücken schaffen im Medium der Sprache eine weitere Distanz zum Leben zoologischer Individuen. Das Zerreißen des (em-) pathischen Bandes zur leiblichen Existenz der Tiere ist Bedingung des unbeschwerten Genusses. Das existentielle Band zu den Tieren, von denen wir leben, reißt auch deshalb, weil wir die vitale Bedeutung des Essens und Trinkens heute kaum mehr nachfühlen können. 50 In den Wohlstandsgesellschaften der Ersten Welt ist an die Stelle der Hungersnot ja schon lange ein »Hunger« nach Genussstoffen und kulinarischen Medien getreten, wenngleich als Folge einer anhaltenden Neoliberalisierung des Arbeitsmarktes auch Situationen der Mangelernährung als eine postfordistische Facette ökonomisch prekärer Lebensverhältnisse vermehrt zu beobachten sind. Als Produkt der globalen Nahrungsmittelindustrie erweist sich die Garnele auch als exemplarisches Medium der Beschleunigung der Divergenz zwischen Reichtum und Armut. Das für die Aufzucht von ZDF: Delikatessen aus dem Chemielabor. Ein Blick hinter die Kulissen der Lebensmittelindustrie; http://www.zdf.de/ZDFde/drucken/0,6753,2299972,00.html; Abruf: 15. 04. 2008. 49 Vgl. Schamp 2008. 50 Vgl. Simmel 1998.2, S. 184. 48
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Umriss einer holistischen Ethik des Essens und der Natur
Shrimps in Aquakulturen eingesetzte Fischmehl 51 entzieht der armen Bevölkerung in afrikanischen oder asiatischen Küstenregionen den zum Leben notwendigen Fisch. Die Initiative zum Schutz der Hochund Tiefsee Deepwave und das FoodFirst Informations- & AktionsNetzwerk (FIAN) prangern deshalb alle Formen des Garnelenfangs wie der Garnelenzucht als Protein-Piraterie an. Der von Harald Lemke angesprochene »nutritive Schuldzusammenhang« zwischen dem Töten und Verspeisen anderen Lebens konkretisiert sich in dem Umstand, dass mit den gegessenen Garnelen indirekt zugleich andere verfütterte Arten mitkonsumiert werden. 52 Der globale Handel begründet einen ökonomischen und ökologischen Zusammenhang zwischen luxurierten Lebensstilen auf der Nordhalbkugel und einer sich dramatisierender Armut auf der Südhalbkugel. Der Umstand, dass die Fischereiwirtschaft nicht moralischen Sätzen, sondern der ökonomischen Rationalität von Wertschöpfungsketten gehorcht, setzt den weltweiten Nahrungsmittelkreislauf unter einen ethischen Rechtfertigungsdruck. Umso mehr muss es verwundern, dass ethische Fragen in der sozialwissenschaftlichen Thematisierung der Stoffwechsel-Beziehungen im Mensch-Natur-Verhältnis auch in der Geographie weit hinter ökologischen Argumenten eine eher marginale Rolle spielen. 53
5.8 Umriss einer holistischen Ethik des Essens und der Natur Die mit der menschlichen Ernährung verbundenen Werte werden zum Gegenstand der normativen Ethik, sobald die sich im Essen artikulierenden Selbst- und Weltverhältnisse im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf das Mensch-Natur-Verhältnis kritisch durchleuchtet werden. Am Beispiel der Garnele rückten hier soziale, ökologische, ökonomische und politische Praktiken der Fischerei, Produktion in Aqua-Kulturen, Formen der Verarbeitung, Distribution und des Handels ebenso in den Brennpunkt ethischer Reflexion wie der subkulturell codierte Verzehr. Im Fokus einer holistischen Ethik wird in einem ganzheitli-
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Je Kg Krebsfleisch 2 bis 5 Kg Fischmehl (vgl. Moos 2005). Vgl. Lemke 2007, S. 438. So z. B. Heynen et al. 2006.
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5. · Nähe- und Ferneverhältnisse im Essen
chen Sinne zusammengeführt, was in den pluralen Praktiken individuellen Lebens nur bruchstückhaft aufscheint. Die Idee des Holismus läuft dabei nicht auf eine esoterische Verganzheitlichung von Weltbetrachtungen hinaus, sondern – im Wissen um die Begrenztheit der Rekonstruierbarkeit dessen, was man theoretisch wissen kann – auf das bescheidene Projekt des Verstehens jener vernetzten Spuren, in deren Verweisungszusammenhängen wir uns täglich bewegen. Die ethische Revision lässt sich von zwei Seiten bzw. aus zwei Perspektiven betreiben: zum einen von der Seite der metabolistischen Durchgangsstadien der Produktion von Nahrungsmitteln und zum anderen von der Seite der Konsumption wie dessen gefühlsmäßigen Erlebens. Der erste Weg vollzieht sich auf einer Gegenstandsebene und durchdringt objektivierbare Verflechtungen dessen, was wir essen. Damit wird die ethische Legitimation der Einverleibung des Gegessenen angestrebt. Der zweite Weg vollzieht sich als Selbstverstehen auf der Erlebnisebene des Essens. Diese Reflexion schließt die mit dem Vollzug des Essens verbundenen »subjektiven Sachverhalte« 54, wie das Schmecken und die Lust am Essen, ein. In der phänomenologischen Durchdringung des Essens wird die kulturtheoretische Dimension scheinbar nur individueller Esslüste und Essbedürfnisse sichtbar: Welche mit dem Essen verbundenen Empfindungen symbolisieren individuell wie kollektiv spezifische Formen gelingenden Lebens? Für postmodern transformierte Erlebnisgesellschaften stellt sich damit die Frage, wie luxurierte Ernährungskulturen ethisch zu legitimieren sind, die eine Verschärfung der Ungleichheit zwischen dem eigenen Leben und dem anderer ebenso bedeuten und die Überlebensperspektiven (vor allem) zoologischer Arten schmälern. Ein politisch weltbezogener Diskurs über die Zulässigkeit dessen, was wir essen, aktualisiert sich in jährlicher Folge in der multilateralen Vereinbarung fischereiwirtschaftlicher Quoten. Ethische Argumente sind es dann aber nicht, die zur Festsetzung zulässiger Höchstmengen führen, sondern sachliche Erwägungen naturwissenschaftlich-ökosystemischer und politischer Rationalität. Dennoch sind auf einem unausgesprochenen kulturellen Hintergrund auch hier naturethische Werte virulent. Begriffe wie Überfischung oder illegales Fischen ergeben sich aus keinem Naturgesetz der Notwendigkeit; sie sind soziale und politi-
54
Vgl. Schmitz Hö, S. 41.
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Umriss einer holistischen Ethik des Essens und der Natur
sche Konstrukte, die auf die Wertmaßstäbe einer Kultur bezogen sind. Dasselbe gilt für die Definition des umweltethisch brisanten Begriffs Beifang (s. o.). Was angesichts spezialisierter Fischereitechniken heute als Bei-fang verstanden und in Zukunft als Beitrag zur Naturschonung überwunden werden kann, stellt für hungerleidende Küstenbewohner (zum Beispiel in Afrika) einen willkommenen Fang dar. Wenn die Prognose der FAO auch zutreffen mag, dass in den kommenden Dekaden eine starke Zunahme der Bedeutung ethischer Fragen in der Fischerei zu erwarten ist, so bleibt doch die Akzeptabilität moralischer Appelle im Umgang mit Arten der Natur von vielfältigen gesellschaftlichen (nationalstaatlichen bis multilateralen) Regelungen abhängig: »They are prompted by very significant trends in demography, excessive pressure on aquaculture, concentration of economic power, globalization, increasing role of the market, new biotechnologies (particulary genetic engineering) and the information revolution.« 55
Die Bioethik rückt die Legitimation bestimmter Lebenformen ins Zentrum. Das menschliche Leben spielt eine zentrierende Rolle, ohne damit einer anthropozentrischen Ethik das Wort zu reden. Der Schutz des eigenen Körpers vor Unversehrtheit verlangt die Schaffung eines Ortes, an dem ein gelingendes Leben gelebt werden kann. 56 Wenn Brenner den Raum des Politischen dann zum einen an der subjektiven Eigenleibwahrnehmung festmacht, zum anderen aber auch an den kommunikativen Beziehungsgeflechten, wodurch die Individuen miteinander verbunden sind 57, öffnet sich ein Feld politischen Handelns. Die ethische Legitimation individuellen Essens hat politische Implikationen, weil die Konsumenten in ihren selbstverständlichen Alimentationspraktiken stumme Teilhaber globaler Zirkulationsprozesse von Waren, Dienstleistungen und Wertvorstellungen sind. Die Auseinandersetzung mit den Rückwirkungen eigener Ernährungsgewohnheiten auf das Leben anderer Menschen wirft die Frage nach dem Zusammenhang zwischen individuellem ästhetischem Genuss und kollektiver gesellschaftlich-politischer Verantwortung und Gerechtigkeit auf. Wo dagegen die Reichweiten kultureller Ess-
55 56 57
FAO 2007. Vgl. Brenner 2006, S. 221. Vgl. Seel 1991, S. 222.
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5. · Nähe- und Ferneverhältnisse im Essen
gewohnheiten auf das betroffene Leben (und Sterben) leiblicher Tiere in den Mittelpunkt rücken, tauchen Fragen nach dem Zusammenhang zwischen ästhetischem Genuss und pathisch nach-fühlender Beziehung zu jenen leidensfähigen Tieren auf, die unseren Genuss erst ermöglichen. In diesen Fokus rücken eher Säugetiere als niedere Arten. Gleichwohl ist unser Wissen über das Schmerzempfinden sogenannter niederer Arten zu ungenügend, um den ethisch bedenklichen Umgang zum Beispiel mit Schalentieren, Schnecken oder Muscheln umstandslos zu ent-sorgen. Die Beziehung zu den Tieren hatte Elias als weitgehend zerbrochen dargestellt. In der Tat scheint sie aber weniger zerbrochen als vielmehr durch sentimentale, romantizistische und nostalgische Gefühle verzerrt zu sein. Der Vergleich zwischen der Zubereitung von Garnelen und Hummern macht das deutlich. Während im Abkochen lebender Speisegarnelen hierzulande kein ethisches Problem gesehen wird, lebt das Veto gegen das Kochen lebender Hummer immer wieder auf. Der Hummer unterscheidet sich aber lediglich in seiner Größe und zoologischen Stellung innerhalb der Familie der Dekapoden von der Garnele. Das für diese unterschiedliche Bewertung ausschlaggebende Mitleid bezieht sich genau genommen auch nicht auf das Leiden von Tieren, sondern das persönliche Empfinden, das von einem kulturell gezüchteten Einfühlungs-Reflex in ein Bild leidensfähiger Tiere ausgelöst wird. Größere Arten (wie zum Beispiel der Wal) eigenen sich für solche Projektionen besser als jenes massenhaft wimmelnde Zooplankton, das der Wal verschluckt. Wo die Gefühle in ihrer kulturellen Verankerung in korrespondierenden Bedeutungen durchschaubar werden, öffnet die ethische Kritik Perspektiven für die Revision eigenen Tuns und die Initiierung politischen Handelns. Die epistemischen Ansatzpunkte einer in dieser Weise zwischen Welt- und Selbstverwicklungen oszillierenden Ethik sind trotz zivilisatorisch vorangeschrittener Abstraktionsniveaus in beinahe allen gesellschaftlichen Systemen heute verfügbarer, als es die zivilisationstheoretischen Thesen von Elias erwarten lassen. Auf der einen Seite trüben die Effekte der Globalisierung zwar die Einsicht in die Zusammenhänge zwischen arrivierten Ernährungskulturen, ökonomischen Prozessen und ökologischen Degradierungen. Auf der anderen Seite öffnet die hypermoderne Informationsgesellschaft aber auch vielfältige Wege zur Ausleuchtung epistemischer Brachen, wenn diese auch primär allein durch faktenbezogenes und sachverhaltliches Wissen gefüllt werden können. Dieses wäre jedoch der Rohstoff für einen 118 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Umriss einer holistischen Ethik des Essens und der Natur
ethischen Diskurs, der sich als Selbstgespräch über das Essen und das Gegessene – gleichsam gegen das Ver-Gessen – durchs Dickicht des alltäglich Unbewusst-Gemachten 58 einen Weg erst bahnen müsste.
58
Vgl. Erdheim 1984.
119 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
6. Stadt als diffuser Begriff Zur Erhellung und Verschattung des Wirklichen durch kontingente Begriffe
Die Frage nach der Dimension des sozialwissenschaftlichen Stadt-Begriffes führt in eine Anschlussfrage: Wie kann die Distanz zwischen Begriff und dem von ihm Bezeichneten in einer Weise reduziert werden, die zum einen die theoretische Verständigung ermöglicht, zum anderen aber auch ein diskursives Milieu für die Kommunikation von Ideen schafft, die über den Rand des bereits Definierten hinausschießen können? Jeder Begriff, der im Selbstverständnis seiner Disziplin einen paradigmatisch zentralen Rang einnimmt, erzeugt mit seinen konnotativen Bedeutungscollagen einen semantischen Schatten, in dem potentielle Gegenstände fokussiert, andere aber auch kommunikativ aus dem Verkehr gezogen werden. Ein Begriff ist die Vorstellung einer Sache, eines Sachverhaltes oder einer an Komplexität noch größeren Situation. Begriffe haben: »weitgehend nicht mit dem Gegenwärtigen zu tun […], sondern mit dem Abwesenden, Entfernten, Vergangenen oder Zukünftigen«. 1 Die Frage nach der begrifflich bedingten Konstitution eines Forschungsgegenstandes zielt daher auch weniger auf den Umstand, dass Begriffe schlechthin Distanz erzeugen. Es kommt mehr auf die Qualität der Distanz an und die damit verbundenen erkenntnistheoretischen Konsequenzen. Beachtung verdienen insbesondere die stummen Voraussetzungen im Gebrauch programmatischer Begriffe, die in der Eröffnung einer forschungsleitenden Perspektive einen innovativen Einfluss entfalten könnten. Insofern birgt jeder Begriff gerade im Schatten nicht-explizierter Bedeutungen eine Ressource für das Bedenken der Frage, ob etwas ist, was es im Licht spezialisierter Begriffe zu sein scheint. Seit Menschen in Städten leben, bedienen sie sich einer oder mehrerer sprachlicher Formeln, um ihre spezifische (urbane) Lebensform von anderen mehr oder weniger vergleichbaren, insbesondere aber von 1
Blumenberg 2007, S. 33.
120 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
6. · Stadt als diffuser Begriff
nicht-urbanen – das sind in aller Regel ländliche – Lebensformen zu unterscheiden. Die Lebenswelt bringt mit ihrer zivilisatorischen Variation und ihrem geschichtlichen Vorschreiten je situationsangemessene Ausdrucksweisen hervor. So kann das im Fluss des Lebens Begegnende – als Bedingungen gelingender Verständigung – medial differenziert mitgeteilt werden. Dabei steht die wörtliche Rede in ihrem spezifischen Mitteilungscharakter (von prosaischen bis zu poetischen Formen) neben anderen zum Beispiel gestischen, habituellen, mimischen etc. Ausdrucksformen. Die Abstraktionsbasis lebensweltlicher Kommunikation ist vor allem die unwillkürliche Lebenserfahrung, die (zwar nie ganz, aber doch weitgehend) nicht an abstrakten Selbst- und Weltvorstellungen Maß nimmt, sondern am vorsprachlich-leiblichen Mitsein in Situationen. Das darin zur Geltung kommende gefühlsmäßige Moment der Kommunikation ist neben dem des rationalen Erkennens in der Lebenswelt richtungsweisend. Dieses Verhältnis zwischen einem emotionalen und rationalen Bezug zum Wirklichen (d. h. dem phänomenal Erscheinenden) ist im sozial- und geisteswissenschaftlichen Zugriff auf die Welt zugunsten der Seite intelligiblen Erkennens (über-) gewichtet. Der abstrakte Begriff lenkt die Aufmerksamkeit, während die subjektive (individuelle wie kollektive) emotionale Verwicklung des Wissenschaft betreibenden Individuums in sein Weltgeschehen zurücksteht. In dieser Haltung der Distanzierung vom unwillkürlichen Verbunden-sein mit einem Erkenntnisgegenstand (hier der Stadt) liegt insofern ein wissenschaftstheoretisches Problem, als sich mit der rationalistischen Haltung die Frage verbindet, ob wissenschaftlich hervorgebrachte Erklärungskonstrukte in wirklichkeitsangemessener Weise zur Darstellung bringen, was lebensweltlich erfahren werden kann. Das Interesse an der Findung verallgemeinerungsfähiger Aussagen verlangt indes in einem erkenntnistheoretisch produktiven Sinne die systematische Professionalisierung einer wissenschaftlichen Erkenntnishaltung (darin liegt die Aufgabe von Wissenschaftstheorie und Methodologie). Indem diese Haltung aber nicht (abstrakt) der Wissenschaft zu eigen ist, sondern als Denkstil und Sensibilität der Aufmerksamkeit vom individuellen, personalen Wissenschaftler einverleibt wird, ist sie Moment seiner personalen Identität und entspricht im Prinzip damit jenem rational-schizoiden Persönlichkeitstyp, den Eugéne Minkowski beschrieben hat. 2 2
Vgl. Minkowski 1927, S. 200 ff. sowie Passie 1995, S. 112.
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6. · Stadt als diffuser Begriff
Für den Persönlichkeitstyp des rational-schizoid Kranken ist nach Minkowski charakteristisch: »Er empfindet nichts in seiner unmittelbaren Wirkung (bezogen auf innere Beweglichkeit und Intuition, J. H.) auf ihn, sondern bringe bzw. übersetze alles erst in seine kalte Welt von Abstraktionen, um es dann wieder zu verarbeiten.« 3
Wenn die Disposition des Wissenschaftlers diesem Persönlichkeitstyp zumindest sehr ähnlich ist, so ist sie doch gesellschaftlich nicht nur normalisiert, sondern über die Zuschreibung von Dignität kommunikativ auch geschützt; die gesellschaftliche Kommunikation mit Wissenschaftlern und über Wissenschaft und ihre Produkte genießt im Vergleich mit der lebensweltlichen Kommunikation einen Sonderstatus. Schon allein deshalb, weil der Großteil wissenschaftlicher Hervorbringungen in vielen Wissensbereichen von unbestreitbarer gesellschaftlicher Nützlichkeit ist, repräsentiert der Persönlichkeitstyp des Wissenschaftlers nichts Pathologisches, wenn auch er in seinem Wahrnehmungsverhältnis zur Welt (in produktiver Weise) aus dem Gleichgewicht geraten ist. Dies auch deshalb nicht, weil keine Wissenschaft betreibende Person ganz in ihrer professionellen Rollenidentität aufgeht. Inwieweit auf einer Grenze persönlicher Identitäts-Segmente Konflikte in der Verwertung epistemisch divergierender Wissensformen auftreten und ins wissenschaftliche Arbeiten und die Schaffung von Begriffen durchschlagen können, werde ich später im Rahmen eines Exkurses zur Bedeutung des Irrationalen im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess diskutieren. Die Rede über die Stadt ist in diskurstheoretischer Hinsicht zwischen lebensweltlichen und wissenschaftlichen Aussagen gespalten. Welche Dimensionen des emotionalen Mitseins in städtischen Lebensformen entgleiten dem wissenschaftlich-rationalen Zugriff auf die Stadt? Diese Frage leitet die folgenden Überlegungen zu Funktion und damit auch zu Stärke und Schwäche sowie Fokussierung und Verschattung eines extrem heterogenen, pluralen und widersprüchlichen Gegenstandes. Hierbei wird es besonders darum gehen, eine phänomenologische Perspektive auf die Stadt zur Geltung zu bringen, um jene Atmosphären und Situationen der performativ sich konstituierenden wie der planvoll konstruierten Stadt zu umreißen, die vom Mainstre3
Passie 1995, S. 112.
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Der Begriff der Stadt als unscharfe Bezeichnung
am der sozialwissenschaftlichen Stadtforschung weitgehend ausgeblendet werden. Damit soll der Theorierahmen erweitert werden, durch den Wissenschaft Stadt als plurales gesellschaftliches Gebilde verständlich machen kann.
6.1 Der Begriff der Stadt als unscharfe Bezeichnung Forschung, die sich prozessimmanent mit der Frage nach der Art ihres Gegenstandes konfrontiert, gelangt an einen fruchtbaren Punkt der Unterbrechung ihrer eigenen Wissensproduktion. Solches Innehalten beeinflusst das Denken in einem produktiven Sinne, denn es lässt nicht mehr selbstverständlich gelten, was durch diskurskulturelle Übereinkünfte gegen bestandsgefährdende Fragen imprägniert ist. Die Unterbrechung führt als Steckenbleiben im Gewohnten im Sinne von Martin Heidegger an einen Ort des Denkens, an dem sich das Bedenkliche offenbart, das »von sich aus den größten Reichtum des Denkwürdigen bei sich aufspart«. 4 In eine Ortschaft des Denkens gelangt man im Sprung und nicht im Festhalten an tradierten Begriffs-Hygienen. Das aporetische Stehenbleiben erzwingt insbesondere solche Begriffe, die (trotz ihrer Distanz zum Seienden) an ihrer eigenen Kontingenz leck geschlagen sind. Das geschieht zum Beispiel dann, wenn ein diskursiv bewährter Begriff – wie Stadt – sich in seinem bezeichnenden Vermögen als zu kurz erweist. Blumenberg versteht einen Begriff in seinen stets optional über tradierte Auslegungen hinausschießenden Vermögen als »Instrumentarium für Möglichkeit«. 5 Damit kommen ihm nicht nur beschreibende Aufgaben zu, sondern auch solche, die neue Horizonte des mit dem Begriff Denkbaren erschließen. Folglich muss er »vielfach umfangreicher sein als das (Instrumentarium für Möglichkeit, J. H.) für akute, also leibhafte und leibnahe Wirklichkeit«. 6 Ein Blick in die Geschichte der geographischen Stadtforschung7 macht schnell deutlich, inwieweit diagnostizierte Realität (von Wirklichkeit ganz zu schweigen) zu guten Teilen erst eine Hervorbringung durch Begriffe und Konzepte, also theoretische Aufmerksamkeiten ist und 4 5 6 7
Heidegger 1997, S. 59. Blumenberg 2007, S. 75. Ebd. Am Beispiel anderer Disziplinen ließe sich das in ähnlicher Weise zeigen.
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6. · Stadt als diffuser Begriff
damit Produkt eines Wechselspiels von Sehvermögen und Sehbehinderung. Der Begriff der Stadt ist notwendigerweise diffus. Wäre er das nicht, könnte er nicht jenen Überhang möglicher Bedeutungen schon bergen, der die Überraschung garantiert. Er ist daher eher ein Suchbegriff als einer der treffsicheren Identifizierung. Im zentralen Nervensystem einer Disziplin orientieren Begriffe das theoretische Denken. Nachhaltig eindeutige Unterscheidungen vermögen sie nur bedingt zu fundieren. Sie rauschen auf einer produktiven wie auf einer rezeptiven Seite, und nur so kann der Prozess der Forschung offen bleiben für nicht antizipierbare Abweichungen von tradierten Deutungs- und finanzierten Forschungs-Programmen. Zu solcher Offenheit gehört eine gewisse Virulenz der wissenschaftstheoretischen Denkkulturen einer Disziplin. Einerseits implizieren die paradigmatisch wie programmatisch zentralen Begriffe eines Faches (wie der der Stadt in der Humangeographie oder Stadtsoziologie) optionale Offenheit und bieten sich als Medien der Erschließung von Zonen interdisziplinären Neulandes an. Andererseits sichern sie den Weg zurück in die traditionellen Wissensbestände einer Disziplin ab.
6.2 Die Rolle von Welt- und Menschenbildern Nicht erst streng gegenstandslogische Begriffe, sondern schon sozialwissenschaftliche Welt- und Menschenbilder wirken auf das (begriffliche) Denken der Stadt ein. Als die primären Baustoffe städtischer Realität gelten substanzielle Dinge, die in bestimmter Weise sind, das heißt als Körper mit symbolischen Eigenschaften verwendet, betrachtet und erlebt werden. Mit diesem Denken in Kategorien von Substanz und Akzidenz lässt sich die Stadt als Heimat aber ebenso wenig erklären wie als Konflikt-, Wirtschafts- oder Kulturraum. Der methodologische Individualismus, wonach handlungsfähige Subjekte über eine Welt der Dinge verfügen, nährt die idealistische Fiktion eines Raumes, dessen körperlich-materielle Ordnung allein durch rational operierende Akteure hervorgebracht wird. Eine neue theoretische Sensibilität gegenüber dem menschlichen Körper weicht zwar den Grat zur Seite des Leib-Denkens auf 8, stützt sich aber unübersehbar auf ein weiterhin 8
Vgl. Schroer 2005 sowie Gugutzer 2004.
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Die Rolle von Welt- und Menschenbildern
einseitig stoffliches Bild eines in seiner Körperlichkeit aufgehenden Menschen. 9 Damit Raum als Körper und Körper als Raum innerhalb des paradigmatischen Rahmens der Raumsoziologie je kompatibel bleiben können, klammert Markus Schroer in seiner wissenschaftstheoretischen Rekonstruktion philosophischer Raum-Begriffe konsequent solche Konzepte bzw. Autoren aus, die dieses Denken durcheinanderbringen könnten: Karlfried Graf von Dürckheim, Erwin Straus und vor allem Hermann Schmitz. Zwar taucht Bernhard Waldenfels auf, jedoch nicht dessen Leibphänomenologie. 10 Solche Auslegungen produzieren nicht nur theoretische Blicke, sondern auch einen metatheoretischen Sichtschutz. Am gegebenen Beispiel kommt ein solcher mit dem Blick auf das Lebendige einer Stadt, das in einem vitalistischen Sinne oberhalb bloß körperlich-stofflicher Mechanismen und Maschinismen zu finden wäre, zuvor. Aus dem Fokus gerät damit die sich in persönlichen wie gemeinsamen Gefühlen konstituierende atmosphärische Stadt, deren situative Dynamik nicht intendiertes Produkt von Handlungen ist, sondern mehr oder weniger zufälliger Effekt performativer Ereignisströme. Die Sichtblenden der Handlungstheorie verengen das Denken der Stadt und ihrer Räume auf einen rationalistischen Fokus, in dessen Mitte Handlungsketten von Akteuren stehen. Was jemand tut oder lässt, gilt als intelligibel fundiert und deshalb ex post auch als rechtfertigungsfähig. Man handelt aus Gründen, über die man Auskunft geben kann. 11 Dieser Mensch ist eine brain-machine. In dieser Sicht gälte dann (kontrafaktisch) auch, dass Akteure Städte allein herstellen, nicht aber zugleich auch erleben. Dinge sind dann nur bedeutsam als Stoffe, die bewegt, bedacht und symbolisch codiert werden können. Das diesem Denken zugrundeliegende Menschenbild unterscheidet sich kategorial von dem der philosophischen Ästhetik, wie es zum Beispiel in der Arbeit des Stadtplaners Hans Boesch anklang, der vom »Leib der Stadt« 12 sprach. Boeschs Denken ist
Das kommt z. B. in dem aberwitzigen Regress auf eine Ontologie zum Ausdruck, wonach es keinen diskursunabhängigen Körper geben könne – als wäre ein materieller Körper (gleichsam leiblos) in der Lage, auf Situationen zu antworten (vgl. Schroer ebd., S. 32). 10 Vgl. Schroer 2005. 11 Vgl. Giddens 1988, S. 55 ff. 12 Boesch 2001, S. 48. 9
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6. · Stadt als diffuser Begriff
gegenüber der ereignisoffenen Verlaufsstruktur menschlichen Lebens und damit für jene Seinsweise sensibilisiert, in der ein pathisches Mitsein in Umgebungen und Situationen mitunter großen Einfluss auf persönliche Situationen haben kann. Der sozialwissenschaftlich vorherrschende Begriff des Handelns und das daran angepasste Menschenbild legt den Menschen im Unterschied dazu (reduktionistisch) auf bestimmte Kompetenzen fest. Was handeln heißt, ist dann in Diskursen durch Deklarationen und Konventionen machtvoll abgesteckt. Rüdiger Bittner greift den dem methodologischen Individualismus inhärenten Reduktionismus mit einem Verweis auf das Vermögen von Tieren an. Danach können nämlich auch Tiere als Handelnde angesehen werden: »Aus Gründen Handelnde sind Tiere, die sich ihren Weg durch die Welt schnüffeln. Sie haben die Welt nicht unter Kontrolle. Sie sind hingegeben dem, worauf sie treffen.« 13 Bittner sieht den Menschen zwar als handelndes Wesen, nicht aber schon deshalb Handlung als reinen Ausdruck von Intellektualität, sondern vor allem als Ausdruck von Vitalität. Dieser Handlungsbegriff geht davon aus, dass der Mensch seine Welt – zumindest in der Sphäre seines Alltages – nie in Gänze im Griff hat. Der in seinen gefühlsbezogenen Suggestionen so dicht verwobene Raum der Stadt bewegt die Individuen (in anderer Weise als in ländlichen Idyllen des Heimatlichen) neben rationalen Handlungsofferten durch sinnliche Eindrücke und Ereignisse zu konkretem Tun oder Lassen. Diese in der Handlungstheorie (auch in ihrem strukturationstheoretischen Teil) abgedunkelte Sicht auf das vergesellschaftete Sein erinnert in einer Umkehrung der Perspektive an Gesellschafts- und Subjekttheorien, die sich der fremdbestimmenden, suggestiven wie dissuasiven Einfädelung der Individuen in systemische Interessenkalküle widmeten, wie die kulturtheoretischen Schriften Sigmund Freuds, die Kritik der Kulturindustrie von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer oder die Eindimensionalität des Menschen von Herbert Marcuse. Auch Alexander Mitscherlichs Pamphlet über die Unwirtlichkeit der Städte setzte sich programmatisch mit der Affektdynamik der gelebten Stadt auseinander.
13
Bittner 2005, S. 198.
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Begriff und Metapher
6.3 Begriff und Metapher Indem Begriffe Produkt und Ausdruck einer erkenntnistheoretischen Haltung zum bezeichneten Gegenstand sind, erzeugen sie ihren Beitrag zur Beschreibung und Erklärung (von etwas) eher im Binnenraum ihrer Herkunftstheorie als in einem transdisziplinären Feld. Aus dessen Perspektive schwimmt der Terminus Stadt daher auch in diffusen Konnotationen, verliert sich schnell in pluralen Deutungen und löst sich an Bedeutungsrändern ins Vieldeutige auf. Diese Unschärfe begünstigt den Aufstieg des Begriffes zur Metapher. Metaphern leisten nichts Genaues im Sinne eines eindeutigen Bezeichnens. Ihre Stärke und Aufgabe liegt vielmehr darin, Mannigfaltiges in eins zu fügen, Ungeordnet-Vieles in eine integrierende, aber auch bedeutungsüberschüssige Form zu transferieren. Die Metapher ist als Meta- und Megasymbol in gewisser Weise eine sprachliche Collage, die nicht zuletzt in ästhetischen Bereichen (der Lebenswelt wie der poetischen Literatur) zu Hause ist. Sie integriert die Vakanzen eines Begriffes und fungiert wie ein Schwamm, der flottierenden Sinn aufsaugt, um Optionen für die Synthese von Bedeutungen anzubieten. Die Metapher schafft Denkwürdigkeit dessen, was sich assoziativ mit ihr verbindet. Wo der Begriff der Stadt als wissenschaftlicher Terminus zwischen Metapher und Mythos auf dem Grat steht, reklamiert sich die Arbeit an seinen Essenzen, das heißt zunächst an der Explikation tatsächlicher und möglicher Bedeutungen. Wegen ihrer Mängel an Eindeutigkeit kann die Metapher, sofern sie im wissenschaftlichen Diskurs auftaucht, auch in die Erfahrungskrise führen. Sie entfaltet dann ähnliche Wirkungen wie in der Lebenswelt, wo sie in ihrer Transformation zum Mythos 14 ganz im Narrativen aufgeht. In der Lebenswelt kompensiert der Mythos die Risse im Wirklichen und den Schmerz an chronischem Mangel durch die kompensatorische Stärkung von Hoffnungen, Versprechen und Suggestionen. In der Wissenschaft fungiert er ganz ähnlich, indem er Erfahrung dort blind macht, wo sie die Bedeutung wissenschaftstheoretisch zentraler Begriffe ins Fragwürdige treiben würde. So hat der Begriff der Handlung im sozialwissenschaftlichen Mainstream in diesem Sinne einen mythischen Rang.
14
Vgl. in diesem Sinn Blumenberg 2007, S. 75.
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6. · Stadt als diffuser Begriff
6.4 Zur Ontologie der Stadt Auf dem Hintergrund dieser Ein- und Ausblendungen werde ich im Folgenden nicht die Stadt der Akteure in den Mittelpunkt meiner Überlegungen stellen, sondern die Stadt der Patheure (siehe auch Kapitel 2). Dabei wird jene Seite im Wesen der Stadt in ein gewisses Spannungsverhältnis zur Stadt der Akteure und Handlungsentwürfe treten, die durch affektive Beziehungen geprägt ist und in einem linguistischkonstruktivistischen Sinne nicht gelesen werden kann. In dieser begrifflichen Annäherung folge ich einer verdeckten Ontologie der Stadt, die durch einen handlungstheoretischen und konstruktivistischen Stadt-Begriff zwar nicht ausgeräumt, aber doch verstellt wird. Diese Perspektive erfasst nicht die intentionale Herstellung der Stadt, sondern die Teilhabe am städtischen Leben. So steht nicht die Stofflichkeit der Stadt im Mittelpunkt, sondern jener »Leib der Stadt«, den Hans Boesch 15 – nicht frei von Metaphern und versteckter Kritik an szientistischen Denkstilen – dem rationalistisch disponierten Denken der Raum- und Planungswissenschaften entgegensetzt. Dass sich der Begriff des Leibes nicht unter den des Körpers subsumieren lässt, versteht sich aus der ontologischen Differenz zwischen den Begriffen. Zwar bilden Körper und Leib in der Wirklichkeit des lebenden Menschen eine unaufhebbare Einheit. Aber es ist doch gerade das Wechselspiel zwischen beiden, in dem schon die Investition von Aufmerksamkeit Ausdruck der befindlichen Situierung einer Person ist. In Situationen ist ein Mensch körperlich, weil er sich als physischer Organismus an einem Ort befindet. In Situationen ist er aber auch leiblich, weil er in bestimmter Weise – genauer sollte man sagen, in ge-stimmter Weise – da ist. Angesichts der anthropologischen Bedingtheit der generellen Stimmung menschlichen Seins in Situationen ist es durchaus bemerkenswert, dass die sozialwissenschaftliche Sichtbeschränkung durch die theoretischen Präliminarien des methodologischen Individualismus so mächtig werden konnte, dass sogar die Selbstgewahrwerdung leiblichen und gefühlsmäßigen Befindens durch individuelle WissenschaftlerInnen bis zur (Selbst-) Ignoranz abstumpfte. Begriffe, die nicht aus der Welt geordneter terminologischer Systeme kommen, sondern im Prozess pathischer Teilhabe am gelebten 15
Vgl. Boesch 2001.
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Die Stadt als Gegenstand der Phänomenologie
Leben gerinnen, fragen nicht nach Erfolgschancen in einem vermessenen Feld des diskursiv (begrenzt nur) Möglichen. Ein Begriff der Stadt, der sich mit dem des gelebten Stadt-Raumes verbindet, bietet sich als Brücke an, um (unter günstigen diskursiven Umständen der Bereitschaft zum Neu- und Umdenken) zu jenen Sprüngen abheben zu können, die nach Heidegger ins Nach-Denken des Bedenklichsten führen. Solche mit den Metaphern wiederum verwandte Ausdrücke für Situationen vitalen Erlebens folgen nicht den im Windkanal des Mainstreams geglätteten Sprachroutinen und auch keiner Disziplin terminologisch geeinter Diskursfamilien. Beim Sprung ins Bedenken der gelebten Stadt entsteht eine Aufmerksamkeit, in der die Stadt gleichsam von innen erscheint. Die Stadt der geteilten Affekte ist ein Raum »chaotisch mannigfaltiger Ganzheiten«, die Hermann Schmitz als binnendiffuse Situationen anspricht. In solcher Binnendiffusität ist mehr zusammen als getrennt. Die Gefühle sind nun das Bündelnde, auf dessen intensionalem Strang die Bedeutungen jene Knoten bilden, an denen Einzelnes in Situationen gerinnt.
6.5 Die Stadt als Gegenstand der Phänomenologie Die phänomenologische Annäherung an die Stadt als Erkenntnisgegenstand folgt einem methodologisch von Grund auf anderen Weg als das akteurszentrierte Denken der Sozialwissenschaften. Die Abstraktionsbasis für die Bildung einer theoretischen Aussage zum Beispiel über einen städtischen Sachverhalt liegt auf der Ebene emotionaler Befindlichkeiten in mitweltlichen Milieus und nicht auf der rationalen Tuns. Sie entfaltet sich vor einem leiblichen Horizont der affektiven Verwurzelung in Situationen und nicht vor einem Horizont geistig disponierter Handlungen bzw. Handlungsentwürfe. In der paradigmatischen Sicht der Phänomenologie steht die Stadt auch nicht als eine Welt sinnlicher (d. h. physiologistischer) Reize im Mittelpunkt, sondern als Welt leiblich bewegender Eindrücke. Dass diese nicht bei sich bleiben und ein irgendwie abgeschottetes Unwesen diesseits jeder rationalen Beziehung zur Welt führen, sondern das Denken, Tun und Handeln auch gerade zu stiften und intentional auszurichten in der Lage sind, ergibt sich aus der anthropologischen Rolle der Leiblichkeit. Umso mehr reklamiert sich ein Mitdenken der affektiven Seite menschlichen Seins in gesellschaftlichen Situationen. 129 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
6. · Stadt als diffuser Begriff
Das Verstehen der Stadt hat stets zwei Seiten. Die eine widmet sich der Logik der Konstellationen und die andere der Logik der Situationen. In Konstellationen ist Einzelnes relational zueinander geordnet, wie es zum Beispiel die Systemtheorie analysiert. In Situationen geht dieses Einzelne (bzw. das einzeln Gedachte) von vornherein in Ganzheiten auf. Stadtforschung denkt konstellationistisch, wenn sie ihren Gegenstand im Sinne sozialwissenschaftlicher Methodologie aus je isolierten Blickwinkeln als Welt objektivierbarer Strukturen, Lagen, Beziehungen, Stoffeigenschaften und symbolischer Bedeutungen analysiert. Situationistisch operiert sie dagegen dann, wenn sie individuelles wie kollektiv-subjektives Erleben der Stadt zum Ausgangpunkt ihrer Analysen macht. Die Erforschung solch pathischer Selbst- und Weltbeziehungen (im städtischen Kosmos) spielt in der sozialwissenschaftlichen Stadtforschung gegenwärtig aber eher eine marginale Rolle. Die so entstehende Lücke wird vor allem von der Phänomenologie ausgefüllt. In den Sozialwissenschaften hat insbesondere der Konstruktivismus die Aufmerksamkeit auf kognitive Akte der Herstellung der physischen, sozioökonomischen, kulturellen und symbolischen Stadt eingeengt. Erkenntnistheoretisch relevante Gegenstände – unter ihnen auch städtische Räume – werden danach als lesbar bzw. decodierbar angesehen, weil ihnen als Ausdruck menschlichen Handelns eine gewisse Linearität an Sinn und rationalistischer Plausibilität unterstellt wird. Indes ist diese Fokussierung des individuell und gesellschaftlich Hergestellten durch ein Übersehen dessen erkauft, was sich im Ästhetischen verdichtet und vor rund 100 Jahren in den Geisteswissenschaften große Beachtung gefunden hat. 16
6.6 Grenzen der Rationalität Selbst im phänomenologischen Diskurs der Gegenwart spielen die Arbeiten des Philosophen Richard Müller-Freienfels, der in den 1920er Jahren eine Philosophie der Individualität schrieb, in deren erkenntnistheoretischem Mittelpunkt eine Theorie des Irrationalismus steht, keine bemerkenswerte Rolle. Müller-Freienfels knüpfte seine Arbeit an Einschlägig relevante Werke sind zum Teil in mehreren Auflagen erschienen (so die hier zitierten Arbeiten von Richard Müller-Freienfels, Johannes Volkelt oder Theodor Lipps).
16
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Grenzen der Rationalität
Einfühlungstheorien an, wie sie vor allem von Johannes Volkelt 17 und Theodor Lipps 18 ausgearbeitet vorlagen. Damit rückte er in einem ganz spezifisch sensibilisierten erkenntnistheoretischen Habitus eine Kraft der Aufmerksamkeit ins Zentrum seiner Lehre, die von Sinnesempfindungen, ganzheitlichen Eindrücken und einem damit verbundenen intuitiven Vermögen der menschlichen Wahrnehmung ausging. Was Müller-Freienfels als irrational ansah (im Unterschied zu rationalen Vollzügen des Erkennens) unterscheidet sich vom heutigen Verständnis des Irrationalismus dadurch, dass ihm das Irrationale nicht als minderwertige und der Rationalisierung erst noch bedürftige Vorstufe kognitiven Erkennens galt, sondern als anthropologische Bedingung jeder rationalen Erkenntnis. Müller-Freienfels strebte eine antireduktionistische Erkenntnistheorie an – wie sie heute insbesondere von Hermann Schmitz vertreten wird –, um »nicht bloß das rationale Denken, sondern alle übrigen Erkenntnismöglichkeiten in ihrer Bedeutung zu würdigen und nicht in deren Unterdrückung, sondern in ihrer harmonischen Zusammenarbeit mit der Ratio das Ideal des Erkennens zu finden.« 19
Im Hinblick auf die Stadtforschung springt der von Müller-Freienfels verwendete Begriff der erfühlten Räumlichkeit schon deshalb ins Auge, weil er sich in seinem Zustands-Charakter ontologisch vom Gegenstands-Charakter des dinglich erfüllten Raumes unterscheidet. 20 Neben den objektlogischen Strukturen eines Raumes fällt die Aufmerksamkeit auf ein Etwas, das wir diesseits abstrakter Anschauung in ihm empfinden. 21 Beachtung findet damit die affektive Seite im Tun sogenannter Akteure, auf der sie wie Patheure agieren. Das Interesse von Müller-Freienfels fällt damit auf eine unsichere Konstitutionsgröße wissenschaftlichen Wissens – die affektive Dynamik des Subjekts, das in der sozialen Welt der Stadt situiert ist und aus dieser Situiertheit am performativen Ereignisfluss des urbanem Raumes teilhat. Indem Stadtforscher a priori Wohnende (meistens in der Stadt) sind, können sie in erkenntnistheoretischer Hinsicht ihrem Erkenntnis-Objekt nie in einer affektlosen Weise gegenüber-stehen. Sie sind 17 18 19 20 21
Vgl. Volkelt 1905, 1910, 1914. Vgl. Lipps 1914 und 1920. Müller-Freienfels 1922, S. 4 Vgl. ebd., S. 210. Ebd.
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6. · Stadt als diffuser Begriff
stets (wenn auch in aller Regel implizit) Moment dessen, was sie zum Thema ihrer Forschung machen. An dieser Stelle ist daher ein kurzer wissenschaftspsychologischer Exkurs angezeigt, der einige Argumente zur Diskussion stellt, die dem Widerspruch und seiner Bewältigung gewidmet sind, wonach die Welt der Stadt viel weniger affektneutral ist, als das im vorherrschenden wissenschaftlichen Denken der Stadt vorausgesetzt wird.
6.7 Zum Verhältnis von Rationalität und Irrationalität in der Wissenschaft Im Fluss des Lebens sieht Müller-Freienfels zwei Strömungen: einen irrationalen Strom des Werdens und einen Strom, der das Irrationale ordnet und verallgemeinert. 22 Er lässt keine Zweifel daran, dass die schöpferischen Kräfte nicht durch das Universale, sondern das irrational Individuelle gespeist werden. 23 Die Ratio ist für ihn letztlich eine abgeleitete Funktion, die darin besteht, »einen irrational bereits begonnenen Prozess mit Bedacht zu verlängern und zu erweitern« 24. Konsequent ist seine Schlussfolgerung, dass das Leben (bzw. die Individualität) als eigene Denkform anzuerkennen sei. 25 Neben der Rationalität intellektuellen Denkens sieht Müller-Freienfels die Irrationalität emotionalen Denkens, dessen Psychologie der Philosoph Heinrich Maier 26 schon eine umfassende systematisch angelegte Studie widmete. Als Aufgabe der Vernunft stellt sich auf diesem Hintergrund die Synthese verschiedener Denkformen, wozu die Intuition gehört. 27 In unserer Zeit sieht Wolfgang Welsch in Anlehnung an JeanFrançois Lyotard 28 die Zuständigkeit für solche rationalitätsübergreifenden und transversalen Synthesen in der Vernunft. 29 Müller-Freienfels ging an diesem Punkt deutlich weiter. Für ihn erschöpfte sich die
22 23 24 25 26 27 28 29
Vgl. Müller-Freienfels 1921, S. 87. Ebd. Müller-Freienfels 1922, S. 96. Vgl. Müller-Freienfels 1921, S. 207. Vgl. Maier 1908. Vgl. Müller-Freienfels 1922, S. 5 Vgl. Lyotard 1986. Vgl. Welsch 1987, S. 295 ff.
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Zum Verhältnis von Rationalität und Irrationalität in der Wissenschaft
Aufgabe der Vernunft nicht in der Synthese von Rationalitäten, denn, »nur aus dem Wechselspiel zwischen individuellem Werden und dem Streben zur Rationalisierung können die Erscheinungen des Lebens begriffen werden«. 30 Die Frage nach einer möglichen Differenz zwischen verschiedenen Konzeptionen einer Transversalität der Vernunft muss aber insofern offen bleiben, als sich theoretisch auch das Irrationale – in dessen Mitte Gefühle stehen – als spezielle Form von Rationalität verstehen ließe. Auch Gefühle folgen in ihrer Arbeit und Kommunikation mit der Ratio je eigenen Regeln, die unter anderem Gegenstand von Psychoanalyse und Ethnopsychoanalyse sind. Wenn Müller-Freienfels kritisch anmerkt, »wenigstens für alle durch rationale Logik geschulten Köpfe gilt, dass sie der Irrationalität der Welt nicht gerecht werden« 31, dann impliziert dieser Gedanke eine manifeste Wissenschaftskritik. Die methodologisch gesicherten Regeln der Beschränkung der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit aufs rational Analysierbare erzeugen nicht nur die diesem Blick gemäßen, also spezifischen Erkenntnisprodukte; sie spiegeln auch eine Macht der Disziplin wider, wonach die sich in ihrem paradigmatischen Rahmen versammelnden Individuen einer Community dem Anpassungsdruck dieses Regelwerks unterworfen werden. Erst wo sich diese (Selbst-) Disziplinierung in einer das Denken des Mainstreams gleichsam dogmatisch bestimmenden Isolierung von Objektmerkmalen zulasten einer Erfassung ihrer affektiven Unterströmung zuspitzt, kommt es zu jener erkenntnistheoretisch (strukturellen) Absehung vom eigenen Selbst und seiner Beziehung zur erscheinenden Welt. Als Produkt dieser methodologischen Reinigung optionalen Denkens wird ein Filter generiert, der all jene Momente menschlichen Seins abscheidet, die unter einem kulturellen Verdacht des Irrationalen stehen und damit in wissenschaftstheoretischer Hinsicht als minderwertig gelten. Müller-Freienfels spricht hier von fiktiver Rationalisierung, die »einfach über alles Irrationale hinwegsieht und die Menschen schlechthin so behandelt, als ob sie konstant und als ob sie gleiche Größen wären. Sie übertreibt innerhalb des Umkreises der Individualitäten alles Rationale und lässt das Irrationale als unwesentlich beiseite.« 32
30 31 32
Müller-Freienfels 1921, S. 87. Ebd., S. 207. Ebd., S. 116.
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6. · Stadt als diffuser Begriff
Jules Michelet, der im 19. Jahrhundert gegen die Regeln seiner Disziplin (der Geschichte) verstieß, indem er sich auf seine wissenschaftlichen Objekte auch emotional einließ und über die dabei zustande kommenden ästhetischen Eindrücke und Empfindungen im sprachlichen und terminologischen Territorium der Wissenschaft zu schreiben begann, sollte die Ächtung und Disziplinierung seines Ansatzes zu spüren bekommen. 33 Die Engführung der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit aufs Rationale (bzw. das unter die Regeln des Rationalen noch Pressbare) ist in der Gegenwart keineswegs überwunden. In der Humangeographie, in deren wissenschaftstheoretischem Mainstream jede Lebensäußerung, die sich nicht als intelligible Handlung interpretieren lässt, als deren Nebenfolge im Sinne eines Abfallproduktes menschlichen Handelns betrachtet wird, werden diese metatheoretischen Scheuklappen weitaus deutlicher als in der methodologisch und paradigmatisch heterogeneren Soziologie. Dennoch sind auch deren große Diskursströme von einer Ökologie dessen beherrscht, was mit tradierten szientistischen Mitteln aufgeschlossen werden kann. Die Frage nach der Fokussierung wie Defokussierung wissenschaftlicher Analysesysteme incl. sprachlicher Modelle abstrakter Repräsentation läuft letztlich auf unterschiedliche Definitionen dessen hinaus, was überhaupt als Wissen (von wissen-schaftlichem Interesse) angesehen werden soll bzw. darf. Ein bildungspolitisch reduktionistischer Wissens-Begriff (kurzgeschlossen mit einem Umbau der Bildungsinstitutionen zu maschinistischen Ausbildungsapparaten) stärkt jenes pragmatische Wissensverständnis, das sich im Propositionalen genügt und vor allem die Anforderungen des Marktes bedient. Zugleich setzt aber auch ein Prozess des kritischen Redigierens grundlegender Methoden des wissenschaftlichen Denkens und des systemischen Erwerbs von Wissen ein. So wenden sich zum Beispiel Karen Gloy 34 ebenso wie Gernot Böhme 35 alten Denkformen der Geisteswissenschaften zu, um zu prüfen, welche Rolle diese in der Analyse aktueller gesellschaftlicher Verhältnisse spielen könnten. Das kritische Redigieren eher verdeckter als explizierter Denkvoraussetzungen wissenschaftlichen Handelns könnte zu einer Neu33 34 35
Vgl. Michelet 1987. Vgl. Gloy 2007. Vgl. besonders Böhme 1987.
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Die Stadt ist ein situativer Raum
bestimmung forschungsleitender Aufmerksamkeiten führen. Als Folge einer Integration von Fragen der pathischen und befindlichen Seite des Stadt-Menschen müssten ganz neue Themen in den Mittelpunkt von Programmen der Stadtforschung rücken, die derzeit bestenfalls in extra-disziplinären Nischen oder im freien Raum der Interdisziplinarität untersucht werden. Mit der weitgehend noch ausstehenden (Wieder-) Entdeckung der Vitalität städtischen Lebens würde auch ein Rahmen für ein neues wissenschaftstheoretisches Denken der Stadt neu abgesteckt. Der folgende Versuch, den phänomenologischen Begriff der Situation für die Stadtforschung nutzbar zu machen, folgt diesem Interesse.
6.8 Die Stadt ist ein situativer Raum Was immer Stadtforschung in interdisziplinären Denkräumen Stadt nennt, schließt a priori ein, was sich in Situationen vitalen Lebens in ihrem Raum ereignet. 36 Eine diesen pathischen Strömen gegenüber ausgeprägte theoretische Sensibilität verbürgen die unterschiedlichen lebensphilosophischen Strömungen in der Philosophie, in besonderer Weise die Phänomenologie. Deren Perspektive läuft aber nicht auf die Pointe hinaus, an die Stelle wissenschaftlicher Theorien die Beliebigkeit von Geschichten des alltäglichen Lebens zu setzen. Vielmehr bietet zum Beispiel der von Hermann Schmitz entwickelte Situationsansatz einen erkenntnistheoretisch tragfähigen Boden zur Erfassung raumbezogener Gefühle in der Stadtforschung. Schmitz unterscheidet Situationen auf der Subjektseite und Situationen auf der Objektseite (vgl. auch Kapitel 1 und 8). Der Unterschied liegt in der Perspektive, aus der man über ein Erleben sprechen kann. Eine Situation auf der Subjektseite setzt Betroffenheit voraus, eine Situationen auf der Objektseite Distanz, aber darin doch die Fähigkeit zum nachvollziehenden Verstehen. Für die Stadtforschung heißt dies, dass auf qualitativem Wege erhobenes empirisches Material über den »gelebten Raum« (Dürckheim) der Stadt aus zwei Perspektiven thematisiert werden kann. Erstens aus der Distanz wissenschaftlicher Introspektion, um die Befunde als Widerspiegelung eines gesellschaftlichen Prozesses zu erklären, der Situationen auf der Objektseite strukturiert; zweitens als Beleg für die 36
Vgl. Hasse 2007.1.
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6. · Stadt als diffuser Begriff
Vielfalt von Aussagen über Situationen subjektiven Stadterlebens. Dieser Dualismus drückt sich tendenziell auch in der Methodologie der Sozialwissenschaften aus, die ja neben Methoden zur Analyse objektivierbarer gesellschaftlicher Strukturen auch Verfahren zur Erhellung subjektiver Perspektiven anbietet. Der Versuch, die Stadt als Situation aufzufassen, ginge vom Erleben der Individuen aus, um so eine durch pathische Teilhabe gekennzeichnete Konstitutionsebene von Stadt in den Blick zu bekommen. Die phänomenologische Perspektive ist mit dem Körper-Geist-Dualismus ebenso unverträglich wie mit üblichen handlungstheoretischen Reduktionismen. Sie wendet sich einer Seinsweise der Stadt zu, in der ein atmosphärischer und darin gefühlsmäßiger Raum als etwas (chaotisch-mannigfaltig) Zusammenhängendes – und nicht konstellationistisch aus Teilen Zusammengesetztes – verständlich wird. 37 Urbanität dürfte sich gewiss zu einem beträchtlichen Teil einer schier unübersehbaren Verkettung von Handlungen im städtischen Raum verdanken, letztlich aber doch erst begreiflich werden, wenn die symbolischen Codes des Urbanen mit den ihnen korrespondierenden Gefühlen zusammengedacht werden. Mit seinem Beitrag über das Geistesleben der Großstädter sprach Georg Simmel schon vor mehr als 100 Jahren das Wechselspiel zwischen Rationalität und Nervosität (also Affektivität) städtischen Lebens an. 38 Zwar sind Städte zu groß, um sie methodologisch als Mega-Situation zu begreifen. Derweil könnten in der Analyse von Stadt-Räumen unterschiedliche Maßstabsebenen von Situationen des Städtischen unterschieden und damit Erlebnisweisen von Stadt offengelegt werden, in denen als Zusammenhängendes sichtbar würde, was in handlungstheoretischer Perspektive nur als Segmentiertes betrachtet wird. Im Hinblick auf die Nützlichkeit für die Sozialwissenschaften werde ich in Umrissen die Brauchbarkeit des bereits angesprochenen Situations-Begriffes von Hermann Schmitz für die Stadtforschung in einigen weiteren Punkten differenzieren. Schmitz führt den Begriff der Situation auf einem elementaren Niveau der Erkenntnistheorie ein 39, um auf die Fundierung individuellen Lebens in einer Tiefenschicht der Bedeutungen aufmerksam zu machen, die auf einer subjek37 38 39
Vgl. Großheim 2004. Vgl. Simmel 1998.3. Vgl. Schmitz NGrdl.
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Die Stadt ist ein situativer Raum
tiven und einer objektiven Ebene wirksam sind. »Aller menschlicher Umgang mit einzelnen Sachen und Themen beruht demnach auf einem Verhältnis zu Bedeutungen, die in chaotischer Mannigfaltigkeit der Einzelheit von etwas zu Grunde liegen.« 40 Der Begriff der Mannigfaltigkeit darf nur sehr bedingt mit Vielfalt übersetzt werden, die man sich noch als eine übersichtliche Ordnung vorstellen könnte. Der Begriff der Mannigfaltigkeit hebt vielmehr auf die »Unentschiedenheit hinsichtlich Identität und Verschiedenheit« 41 ab, mannigfaltige Bedeutsamkeit changiert also in ihrem intensionalen Bereich des Mehrdeutigen. Nach Schmitz sind »Situationen […] die primären Heimstätten, Quellen und Partner allen menschlichen und tierischen Verhaltens«. 42 Bedeutungen kommen in dieser Perspektive auf drei Ebenen vor: der der »Sachverhalte (dass etwas ist, überhaupt oder irgendwie), der Programme (dass etwas sein soll oder möge) und der Probleme (ob etwas ist)«. 43 Sachverhalte, Programme und oft (aber nicht immer) auch Probleme konstituieren eine Situation. Da sich mit einer Stadt nicht nur ein Sachverhalt, ein Programm und ein Problem identifizieren lässt, sind Städte plurale Situationsgefüge. Jede Stadt konstituiert sich in einer changierenden Gemengelage verschiedener Situationen. Was in der Megasituation Stadt in bestimmter Weise ist, drückt sich nie in einem singulären Sinne aus; es sind die Sichtweisen auf eine Stadt, in deren Wahrnehmung (ganz gleich, ob sinnlich-intuitiv oder theoretisch-intentional) nie die ganze Stadt existiert, vielmehr nur ein thematischer Raum erkenntnistheoretisch isoliert wird (ethnische Vielfalt, Wohnen, Nutzungskonflikte, Altlastenproblematik etc.). Nichts an, von und in der Stadt kommt in seinem situationsspezifischen Charakter im Augenblick der Zuwendung von Aufmerksamkeit mit allen integralen Bedeutsamkeiten ganz zum Vorschein. Die Bedeutungsverschachtelungen sind zu differenziert und mannigfaltig. Schmitz spricht für diese Fälle von segmentierten Situationen. 44 Gleichwohl mag es Fälle der Wahrnehmung geben, in denen spezifisch-ganzheitliche Erscheinungsweisen der Stadt bedeutsam werden, wie im Erleben einer
40 41 42 43 44
Schmitz WNPhän, S. 91. Schmitz NGrdl, S. 68. Schmitz WNPhän, S. 91. Ebd., S. 89. Vgl. ebd., S. 91 f.
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6. · Stadt als diffuser Begriff
Stadtsilhouette aus der Ferne. Es handelt sich aber dann um ein Ganzes, das nur dank großer (räumlicher, psychologischer o. a.) Distanz als fiktive Einheit das Erleben bestimmt. Ein solcher Blick auf die generalisierte Stadt abstrahiert aber von allem, was sie als gelebten Kosmos gerade – in der Gemengelage von Situationen – konstituiert. Ein gesellschaftstheoretisches Veto stellt sich jeder Phänomenologie der Stadt dann entgegen, wenn sie den Anspruch erhebt, einzig erschöpfende Analyse zu sein. Jede methodologische Fixierung auf die Erlebnisperspektive der Subjekte liefe ebenso auf eine Vereinseitigung hinaus, wie sie durch die Handlungstheorie von der ontologisch gleichsam anderen Seite des Menschen praktiziert wird: Stadt ist auch und gerade da, wo sie nicht unmittelbar sinnlich erlebbar ist – in Kapitalströmen, institutionellen Strukturen, sozialen Netzwerken und Dispositiven der Macht. Aber auch umgekehrt gilt, dass Stadt ist, wo sie nicht an Dingen und Handlungen identifiziert werden kann, sondern sich situativ in der performativen Teilhabe am atmosphärischen Raumerleben aktualisiert. Angesichts einer politischen Ökonomie der Sinne und der Sinnlichkeit wie einer Kulturindustrie der Gefühle ist das konsequente Wachwerden der Sozialwissenschaften für den Leib hinter dem Körper, die Gefühle hinter dem intelligiblen Denken und das Performative hinter der Handlung überfällig. Es gibt keinen lebenden Körper ohne Leib und keinen Menschen, der sich nicht in Situationen diesseits neuronaler Ströme emotional erlebt und auf diesem irrationalen Weg Situationen evaluiert, um schließlich darin wieder rational zu agieren.
6.9 Zum Beispiel: Der Slum als Situation der Megapolis Am Beispiel boomender lateinamerikanischer Mega-Cities wird der Situationscharakter der Stadt konkreter. Während die europäische Stadt in der Tradition der demokratischen Teilhabe ihrer Bürger steht und deren größte Not durch die sozialstaatliche Intervention mildert 45, kennt die weitgehend planlos aus dem Boden schießende Megapolis Lateinamerikas, Asiens und Afrikas keine Gerechtigkeitsversprechen. So öffnet sich insbesondere seit der Beschleunigung der Globalisierung in den boomenden Mega-Cities der Dritten Welt die Schere zwischen 45
Vgl. Hartmut Böhme 2000.
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Zum Beispiel: Der Slum als Situation der Megapolis
extremster Armut und obszönem Wohlstand immer weiter. Die sich sozioökonomisch spaltende Stadt lässt sich aus emotionaler Distanz gegenüber den Sachverhalten luxurierten Wohlstands bzw. existenzieller Armut aus einer amoralischen Perspektive als Megasystem des Gewinnens und Verlierens theoretisch analysieren. Dieser strukturalistischen Betrachtung der kulturell und ökonomisch zerbrechenden Stadt ist das phänomenologische Situations-Konzept wenig hilfreich. Auf dem Gebiet der Systemanalyse von Kapital-, Waren- und Machtströmen verfügen Soziologie und politische Ökonomie selbst über erkenntnistheoretisch griffigere Instrumente. Ertragreiche Einblicke verspricht das phänomenologische Situations-Konzept dagegen in der Analyse der subjektiven Verwicklungen der Stadtbewohner in das städtische Geschehen, aber auch in Strukturen der Macht. Dabei stellt sich schon die materielle Seite von Slums als Ausdruck einer spezifischen Situation dar. In Slums sind die Baumaterialien des Wohnens nicht Glas, Stahl und hochwertige Kunststoffe, sondern Plastikmüll, Abfallholz und Blech aus dem Bauschutt offizieller Stadtquartiere. Angesichts so unterschiedlicher Umkleidungen der Orte des Wohnens erweisen sich schon die Materialien in ihrem Erscheinen als Medien der Atmosphären. Dabei bedeuten sie aus der Innenperspektive der Armut (qua Betroffenheit) etwas anderes als in der empathisch teilhabenden Sicht vorüberziehender Touristen, dem wachsamen Blick administrativer Aufsichtsbeamte oder dem gemeinwohlorientierten Engagement eines Streetworkers. Die unterschiedlichen Bedeutungen sind aber nur in der oberflächlichen Betrachtung Ausdruck je eigener Perspektiven; vielmehr bringen sie im Sinne eines Spiegels persönlicher oder gemeinsamer Situationen Lebens-Bedeutungen zur Geltung. Situationen sind die Herde, an denen diese sich als symbolische und affektive Filter der Selbst- und Weltwahrnehmung herauskristallisieren. Während Hütten aus Wellblechresten und Plastikmüll in ihrem atmosphärischen Erscheinen die sachverhaltliche Dimension der Situation der Armut ästhetisch zuspitzen, bedeuten auch die Dinge luxurierten Wohnens nicht nur saturierten Wohlstand; sie bringen diesen atmosphärisch als Ausdruck der Situation herausgehobener sozioökonomischer Sicherheit der Lebensführung auch zur Erscheinung. 46 In solchen Kontexten entfaltet sich schließlich Zur Situation der Slums in den Megacities der Peripherie des Wohlstandes vgl. Davis 2007.
46
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6. · Stadt als diffuser Begriff
eine ganze Reihe weiterer Situationen mit den ihnen zugehörigen Programmen und Problemen (Delinquenz vs. bürgerliche Karriere). Neben den Sachverhalten 47, die unter anderem die Verfügung über Geld und Dinge disponieren, sind es vor allem Programme und Probleme, die Ausdruck objektiver und subjektiver Sachverhalte sind, wie sie auf diese auch zurückwirken. Was Menschen wollen, ist Thema von Programmen, und was sie fürchten und erleiden, ist Ausdruck von Problemen, die (unter Umständen) mit Programmen überwunden werden können. Das gilt nicht nur für Bewohner von Slums, sondern in gleicher Weise für Eliten in Ökonomie, Administration und Politik. Auch das Tun und Lassen großer Akteure folgt Programmen. Nur liegen diese in anderen Bedeutungsreliefs als die marginalisierter Gruppen. Folglich unterscheiden sich vor allem die Programme und Probleme zwischen jenen Gruppen von Individuen, deren Lebenspraxen sich zwischen frei wählbaren Alternativen entfalten können, und jenen, die an systemischen Schnittstellen über keine Wahl verfügen. Vor allem die Programme mächtiger Akteure haben einen großen Anteil an der gesellschaftlichen Fremdzuschreibung von Identität, die weniger dem Slum in semiotischer Hinsicht zugeschrieben, als vielmehr seinen Bewohnern über praktische Maßnahmen der Politik zugemutet wird. So kommt zum Beispiel im ordnungspolitischen Zugriff auf Marginalsiedlungen weniger die Situation des Leidens am gelebten Elend in den Fokus der Planung als die kulturpolitische Situation der Stadt, für deren Image die moralisch anklagende Präsenz von Armensiedlungen zur Schande wird. Die Probleme der Bewohner sind nicht die der Machthaber einer Stadt. Die Programme, die eine Veränderung einer Situation anstreben, divergieren folglich in einem höchst konfliktiven und ungleichen Spiel der Macht. So war und ist es anlässlich großer internationaler Konferenzen in der Megapolis immer wieder ein für opportun gehaltenes Mittel, Slums zur Reinigung des öffentlichen Stadtbildes dem Erdboden gleichzumachen. 48 Wenn das Planieren illegaler Siedlungen als Geste der Macht auch Ausdruck eines politischen Programms ist, so hat solches Handeln doch nie eine allein systemische Dimension. Auch polizeiliche Vollstreckungsakteure können in ihrem Tun und Lassen langfristig sich selbst gegenüber nur konsistent bleiben, wenn sie ihr Tun in die Bedeutungsordnung der 47 48
Vgl. Schmitz SitKon, S. 45. Vgl. Davis 2007, S. 111.
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Zum Beispiel: Der Slum als Situation der Megapolis
sie rahmenden gemeinsamen Situation in einer Weise einbetten können, die nicht nur rationalen, sondern vor allem emotionalen Zuspruch garantiert. So sehr die Stadt im bürokratischen und systemischen Blick ihrer Akteure (rhetorisch) auch auf abstrakte und funktionalistische Strukturen und Prozesse reduziert werden mag, so existiert doch hinter der Fassade einer eher prozeduralen Verwaltung der Stadt eine Dimension der affektiven Teilhabe an ihrem Leben, wenn deren Bezugspunkte im Vergleich zur Welt der Slumbewohner auch in gänzlich anderen Bedeutungshöfen liegen (Identifikation mit den Praktiken obrigkeitlicher Macht). Zu jeder Stadt gehört der Dissens zwischen Interessengruppen, die die Stadt (im Sinne des »gelebten Raumes«) auf je eigene Weise vor allem zum eigenen Wohlergehen leben wollen. Weniger die Menschen sind verschieden, als die sie implantierenden (gemeinsamen) Situationen. Wo die Stadtforschung sich in Abstraktionismen vom situativen und leiblich widerfahrenden Leben der Menschen isoliert und entfernt, entfremdet sie sich von ihrem Gegenstand. Die aus solcher Forschung entstehenden Forschungsprogramme können letztlich keine Forschungsbefunde generieren, die Bedeutsames über das gelebte Leben in den Städten zu Tage fördern. Städte sind nicht nur einer langen und im Prinzip unaufhörlichen kulturhistorischen Transformation unterworfen. Schon mit dem Wandel der gebauten Dinge des Städtischen verändern sich auch die Erlebens- und Erlebnisweisen der Stadt. Die Protokolle der Transformation der Stadt geben Auskunft über gelebte Synthesen von Sinn und Bedeutung sowie Sinnlichkeit und Sinn. Stadtforschung bedarf folglich keines statischen, sondern eines dynamischen Stadtbegriffes. Der in ihren Gesichtern, Funktionen, Prozessen und Strukturen chaotischmannigfaltigen Stadt entspricht ein diffuser Stadt-Begriff, dessen konnotativen Latenzen den Charakter eines erkenntnistheoretischen Schwammes haben. Nur ein zu möglichst vielen Seiten hin offener Begriff der Stadt fordert zur permanenten (Neu-) Bestimmung seines Gegenstandes heraus. Das impliziert schon deshalb die theoretische Integration der pathischen Dimension menschlichen Lebens, weil die gelebte Stadt den Grundstrom jeder urbanen Dynamik bildet.
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7. Stadtraum im Gleichgewicht Das eine und das andere (Be-) Denken der Stadt
Georg Simmel legte mit seinem Aufsatz über die Großstädte und das Geistesleben 1 einen wichtigen Grundstein für unser heutiges Verständnis von Urbanität. In Abgrenzung zu Nietzsche sah Simmel die Stadt als Lebensraum eines jeden Einzelnen, der durch »qualitative Einzigkeit und Unverwechselbarkeit« 2 gekennzeichnet ist. Zugleich ist sie jedoch der Raum, in dem sich der Mensch im Allgemeinen findet. Die Stadt – insbesondere die Großstadt – entfaltet ihre Potenz als »Platz für den Streit und für die Einigungsversuche«3. Urbanität liegt nicht im schönen Schein edler Hochhausfassaden, teurer Boutiquen und der Firmenrepräsentanz mächtiger Global Player. Sie liegt im Selbstverständnis der Stadtbürger und ihrer Bereitschaft zur Einigung über den Rahmen möglichen Lebens unter dem Vorzeichen der Differenz. Diese Bereitschaft setzt die Verinnerlichung von Werten wie Toleranz, Distanziertheit, aber auch Blasiertheit und ein maßvolles Desinteresse am Treiben des Nächsten voraus. Solche mehrdimensionale »Zurückhaltung« ist dabei mehr gefühlsmäßige als rationale Voraussetzung der Fähigkeit, die Stadt als einen Kosmos des Vielen, Bunten, Nicht-Passenden, Widerstreitenden, Ekstatischen und Ver-rückten selbst mit-leben zu können. Die für die (Selbst-) Organisation großstädtischen Lebens konstitutive »Urbanität« macht darauf aufmerksam, dass es nur asymmetrische Gleichgewichtszustände gibt. Die Stadt ist im Gleichgewicht, wenn sie die kulturelle Kraft aufbringt, Ungleichgewichte auszuhalten.
1 2 3
Simmel 1998.3. Ebd., S. 132. Ebd.
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Gleichgewichte und Ungleichgewichte in stadträumlichen Entwicklungen
7.1 Gleichgewichte und Ungleichgewichte in stadträumlichen Entwicklungen Keine Stadt befindet sich im engeren Sinne in einem (vor allem kulturellen) Gleichgewicht, weil dies eine isomorphe Stadt ohne Differenz – eine leblose Stadt voraussetzen würde. In der Psychologie der Stadt spielt die Utopie des Gleichgewichts dennoch eine zentrale Rolle, wenn dieses dann auch nicht als harmonistisches, sondern relationales Gleichgewicht gedacht wird. Dieses drückt sich in einer urbanen Kultur aus, die die im sozialen, politischen und ökonomischen Raum auftretenden Koordinations- und Steuerungsprobleme zu lösen vermag. Relationale Gleichgewichte werden nicht an Gleichheit identifiziert; vielmehr stellen sie sich einer kritischen Stadtöffentlichkeit politisch mündiger Bürger als stadtkulturelle Aufgabe der Herstellung, Beherrschung, Neudefinition und historisch-situativen Aktualisierung bis auf Weiteres prozessfähiger Situationsgefüge. Schon der Gleichstand der beiden Schalen einer Waage ist kein einfaches Gleichgewicht. Was auf der linken Schale X wiegt, befindet sich mit der rechten Schale im Gleichgewicht, wenn das darin Befindliche auch X wiegt. Damit ist aber nichts über die Qualität der Quantitäten gesagt. So hat man es auch nur mit einem bedingten Gleichgewicht zu tun, wenn sich in der linken Schale der Waage ein Apfel und in der rechten eine genauso schwere Birne befindet. Wer Verschiedenes in einem Vorgang wiegt, will nicht das Wesen des Gewogenen vergleichen, sondern nur dessen Gewicht. Die Rede, dass etwas im Gleichgewicht schweben kann, 4 wie zum Beispiel Vertragsverhandlungen in einer angespannten Atmosphäre, spricht unsichere Gleichgewichte an. Auch und gerade Unsicheres kann im Gleichgewicht sein; unsicher in diesem Sinne ist dann die Differenz zwischen Ungleichem. Sein Wiegen verlangt daher absichernde Begleitmaßnahmen, die das Ziel haben, im Bereich der sozialen Welt vor allem Widersprüche diskursiv und prozedural zu beherrschen. Insbesondere im politischen Raum der Stadt kann auch Gegensätzliches ein Gleichgewicht bilden: konservative und revolutionäre Programme für politisches Handeln 5, deren bleiernes Gleichgewicht letztendlich in der Blockade möglicher Handlungen zum Ausdruck kommt und damit den Stillstand zur Folge hat. Der 4 5
Grimm / Grimm Bd. 7, Sp. 8089. Ebd., Sp. 8094.
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7. · Stadtraum im Gleichgewicht
Begriff des politischen Gleichgewichts erinnert daran, dass Gleichgewicht und Ungleichgewicht in einem fragilen Wechselwirkungsverhältnis stehen, das durch die Taktiken und Praktiken von Kontrahenten getaktet wird. Zwischen Ungleichgewichten vermitteln Kräfte der Lebendigkeit und Lebensdynamik. Sie fließen aber nicht frei, folgen vielmehr Werten und Normen, wie sie sich an Interessen und Ziele binden. Sie wirken aber auch als atmosphärische Mächte in einem autopoietischen Sinn auf die Organisation von Übergängen zwischen Ungleichgewichtszuständen ein. Auch der Gleichgewichtszustand einer mittleren Stimmung 6 verdankt sich des Erlebnishintergrundes immer wieder wechselnder Schwankungen zwischen tiefen und hohen Stimmungen und damit ungleichen Befindlichkeiten. Das Gefühl für eine mittlere Stimmung setzt ein implizites Wissen um die Wechselhaftigkeit emotionaler Situationen voraus. Im gelebten Leben der Menschen sind (z. B. politische oder ökonomische) Gleichgewichte stets an konkrete Situationen gebunden. Im sozialen Kosmos der Stadt werden spannungsreiche Situationen lebensweltlich als ungleichgewichtig empfunden. Sie werden in der Regel gemieden und gelten deshalb als überwindungsbedürftig. Mit anderen Worten: Was die Menschen aus ihrer lebensweltlichen Perspektive als ungleichgewichtige Spannung erleben, drückt sich in Situationen aus, die aufgrund ihres ganz spezifischen GleichgewichtsCharakters meist als inakzeptabel oder bedrohlich empfunden werden. Die Sehnsucht nach Gleichgewichtszuständen ist nach Arnold Gehlen anthropologisch begründet. Danach folgt der Mensch einem »instinktähnlichen Bedürfnis nach Umweltstabilität« 7, um den »Rhythmus der Welt zu stabilisieren« 8. Der Mensch lebe selbst aus der Stabilität (dem Gleichgewicht) rhythmischer Kreisprozesse. Die Einsicht in den Umstand, dass auch diese nur von Ungleichgewichten vorangetrieben, in Bewegung und damit am Leben gehalten werden, wird vom Mythos des runden Gleichlaufs der Dinge verstellt.
6 7 8
Ebd., Sp. 8095. Gehlen 1957, S. 14. Ebd.
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Stadtforschung im (Un-) Gleichgewicht
7.2 Stadtforschung im (Un-) Gleichgewicht Stadtforschung produziert Wissen über die sich wandelnden Strukturen der Stadt, im Besonderen wie im Allgemeinen. Zu den zentralen Forschungsthemen gehören soziokulturelle und sozioökonomische Prozesse, in deren Folge sich die Stadt als Lebens- und Wirtschaftsraum verändert. In der Gegenwart sind es besonders globalisierungsbedingte Umbrüche, die den Rahmen der Vergesellschaftung des Menschen unter strukturell veränderte Bedingungen stellen. Globalisierungsbedingte Situationen der Zuspitzung sozioökonomischer Differenzen prägen sich als ungleichgewichtiges Gefüge verarmter und luxurierter Lebensformen besonders in den Städten aus. In welcher Weise die Situation einer Stadt als Gleich- oder Ungleichgewichtszustand identifiziert wird, ist von theoretischen Konzepten und damit von Wissen abhängig. Wissenschaftliches Wissen wird aber nicht in einem idealen epistemischen Raum, sondern auf dem Hintergrund disziplintheoretischer Präliminarien generiert und ist folglich spezifischen (nicht zuletzt normativen) Setzungen unterworfen. Es folgt innerhalb der (wissenschaftlichen) Disziplin einer Disziplin(ierung) des Denkens, die das soziale Produkt kommunikativ erreichter Übereinkünfte ist, das Eine als Dieses und das Andere als Jenes zu beschreiben und zu erklären. Wissen ist damit in einem inner- wie interdisziplinären Rahmen situiert. Die Theoreme funktionieren idealtypisch in der Situation prozedural und sozial anerkannter sowie mit diskursiver Geltung ausgestatteter Kommunikationsbereiche innerhalb einer sogenannten scientific community. Innerhalb dieser Kreise werden Irritationen durch ungleichgewichtige (nicht kompatible) Theorieelemente in aller Regel in einem autopoietischen Prozess der Selbstreinigung ausgefiltert oder paradigmatisch getrimmt, auf dass das innovative Potential neuer Denkimpulse durch die Herstellung von Konsensfähigkeit auf ein psychologisch verkraftbares Maß abgefedert wird. 9 Wie dem Wiegen ungleicher Güter Bewertungen zugrunde liegen, so setzt auch der (sich oft wertneutral gebende) Prozess der Produktion wissenschaftlichen Wissens Bewertungen voraus, die Denkbares zulassen oder abscheiden. Deshalb kann Planungstheorie auch nicht von normativen zugunsten empirischer Orientierungen abrü9
In diesem Sinn auch Kuhn 1969.
145 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
7. · Stadtraum im Gleichgewicht
cken, wie es Selle vorschlägt. 10 Auch die Distanzierung von Theorie zugunsten eines pragmatischen, realitätsnahen Nachdenkens über das planerische Handeln muss in die Irre führen 11, versteckt sich doch im Begriff der Realitätsnähe die Alltagstheorie, dem Leben in einer bestimmten – eben theorie-freien – Art des Denkens besonders nahe kommen zu können. So drückt auch der Wunsch nach Theoriedistanz bei gleichzeitiger Priorisierung der Empirie – zulasten von Normativität – die Sehnsucht nach einem erträglichen und lebbaren Gleichgewicht des Denkens aus, das uns den Blick für Realitäten öffnen möge. Die Realität der Stadt offenbart sich aber tagtäglich in einer chaotischen Dynamik (im Sinn von Georg Simmel in einem kaleidoskopisch changierenden Charakter), welche weniger das lebensweltliche als das theoretische Denken herausfordert. Das planungstheoretische Denken der Stadt käme mit den dynamischen Entwicklungsprozessen der gelebten Stadt erst dann in ein Gleichgewicht, wenn es diese nicht in einer linearen und homogenisierten Theorie (szientistisch) sterilisieren, sondern dem Chaos Stadt mit chaotischer Theorie begegnen würde.
7.3 Wissen – Kommunikation – Denken Die zentrale Vermittlungsweiche der Stadtplanung sieht Klaus Selle in der Kommunikation von Wissen. 12 Das gilt prinzipiell auch für das Wissenschaftssystem im Allgemeinen. Wo die epistemische Differenz zwischen wissenschaftlichem Wissen und dem einer Praxis zugrundeliegenden Gebrauchswissen kommunikativ aufgehoben wird, entsteht ein neues epistemisches Gleichgewicht – zunächst unabhängig von der Frage einer Verbesserung der Praxis aus der Perspektive ihrer Funktionalität. Plausibel ist in dieser Sicht auch die hohe Gewichtung von Fachwissen, das ebenso die Erzielung von Planungsfortschritten trägt wie die Erreichung von Forschungserfolgen in der Wissenschaft maßgebend (wenn auch nicht ausschließlich) vermittelt. Szientistisch-rationalistisches und darin propositionales Fach-Wissen ist indes dadurch gekennzeichnet, dass es von allem, was ein Mensch aus seinem Leben 10 11 12
Vgl. Selle 2004, S. 153. Vgl. Peters 2004, S. 10. Vgl. Selle 1997.
146 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Wissen – Kommunikation – Denken
situativ weiß, abstrahiert und bestenfalls auf konzeptionalisierte Derivate über das pathische Wissen des Lebens verdichtet. Folglich sind wissenschaftliche Sprach- und Aussagesysteme in einem internen epistemologischen Gleichgewicht, wenn sie sich in einem externen Ungleichgewicht gegenüber dem Erfahrungswissen befinden, das Menschen im Fluss ihres gelebten Lebens erworben haben. Dieses disparate Verhältnis epistemischer Strukturen ist aber nur scheinbar die Folge der rationalistischen Wissensverwertungs- und Gebrauchs-Logik von (Stadt-) Forschung bzw. Wissenschaft im Allgemeinen. Auf einem tieferen Niveau drückt sich in dieser epistemischen Divergenz eine zivilisationshistorisch begründete Priorisierung kognitivistischen Wissens und Marginalisierung emotionalen Wissens aus. Ihre Grundlagen hat diese Hierarchisierung in der griechischen Philosophie 13 und in den Werten des Christentums. Die Kulturgeschichte der erkenntnistheoretischen Abwertung von (pathischem) Wissen aus dem Bereich der unwillkürlichen Lebenserfahrung hat lange Schatten, die sich über den Grundstrukturen abendländischen Denkens und Fühlens ausbreiten. 14 So wird die Schieflage wissenschaftlichen Wissens auf stumme Weise prolongiert und zugleich kulturell normalisiert. Eine Art des Wissens 15, das in stadt- wie planungstheoretischen Diskursen bestenfalls an poetischen Rändern wuchert, verbirgt sich in inkorporiertem »Sinnenbewusstsein« 16, das pathischen 17 Charakter hat und in der Erinnerung an individuelle und biographisch unverwechselbare Erlebnisströme ankert. Sinnenbewusstsein hat kein Wissen zum Beispiel um die messbaren Proportionen der zu einem städtischen Platz hinabführenden Treppe; aber es kennt das (eingeleibte) Abstands-Gefühl zwischen den Stufen. Es hat kein Wissen um den objektiv-exakten Verlauf des Weges, der am Teich vorbeiführt; aber es kennt die Stolperstellen am Teich neben der alten Buche, die auf keiner Karte verzeichnet sind. Das aus diesem Wissen erwachsende Gehen ist habitualisiert. Es folgt keiner mental map, sondern einer feeling map. Dass gerade das Wissen um die Stadt der mit Affekten besiedelten Schmitz Weg/Bd. 1 Vgl. Schultze 1881. 15 Dass man Wissen haben und kennen kann, unterscheidet das Wörterbuch der philosophischen Begriffe (Kirchner / Michaëlis 2004, S. 736). 16 Zur Lippe 1987. 17 Im Sinn von Erwin Straus jenes Wissen, das sich im Wesentlichen auf die Erinnerung eigener Teilhabe an einem lebendigen Prozess verdankt (vgl. Straus 1960.1). 13 14
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7. · Stadtraum im Gleichgewicht
Orte im wissenschaftlichen Diskurs weder einen reputationsfördernden Tauschwert hat, noch ihm ein sachlicher Gebrauchswert zuerkannt wird, macht auf diskursive Strukturen aufmerksam, die mit einer ganz bestimmten kognitive Ordnung der Dinge verbunden sind. Das pathische Empfindungswissen der Menschen bildet im Sinne Foucaults ein Außen propositionalen und disziplintheoretisch gereinigten Wissens. Es ist von den (wissenschafts-) kulturell herrschenden Diskursen abgeschirmt und lebt zu seinem wohl größten Teil nicht in der terminologischen Fachsprache; es befindet sich vielmehr in einer Art unausgesprochenem Latenzzustand. So diszipliniert die diskursive Macht konsensueller Übereinkünfte das Denken und Nicht-Denken auf stumme Weise, so dass auf dem Niveau von heimlichem Wissen ein Gefühl für unsagbares Wissen entsteht. Pathisches Wissen umfasst aber nicht nur eine große Vielfalt von Wissbarem und in der Sache der subjektiven Stadt-Berührung Aussagbarem. Vor allem repräsentiert es eine epistemische Domäne, die innerhalb der sozialwissenschaftlichen Stadtforschung etwas Unreines symbolisiert, das bestenfalls als Rohstoff wissenschaftlicher Veredelung durch abstrakte Theorien betrachtet wird. Das wissenschaftliche Wissen der Stadtforschung begründet – so die Konsequenz – ein tiefes Ungleichgewicht gegenüber dem Wissen über gelebte Milieus. Selbst der Versuch, dieses auszudrücken 18, gleitet an den begrifflich formatierten Fassaden der disziplinären Diskurse ab – und wird in einem diskursiven Außen abgelegt. Indes befindet sich das paradigmatisch geeichte Fachwissen in einem inneren Gleichgewicht. Kraft der verzerrenden und Identität zuschreibenden Macht, die ihm in der habituell ritualisierten und szientistisch inszenierten Kommunikation zuteil wird, entstehen Ungleichgewichte zwischen einer pragmatischen und einer poetischen Welt, einer kognitiven und einer affektiven, einer denotativen und einer konnotativen, einer abstraktionistisch fixierten und einer vitalistisch flüssigen Welt. Einfluss auf die systemische Konstellation gesellschaftlicher Funktionsfelder haben die offiziellen, kulturell starken Wissensformen. Das zivilisationshistorisch in seiner kommunikativen Geltung abgewertete pathische Wissen vermag allein auf lebensweltliche Situationen Einfluss
In diesem Sinn vgl. Walter Benjamins Passagenwerk (1989) sowie Gemälde über städtische Situationen von George Grosz.
18
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In der Provinz wissenschaftlicher Diskurse
auszuüben und steht damit von vornherein in einem vergleichsweise schwachen Feld der Macht.
7.4 In der Provinz wissenschaftlicher Diskurse Das szientistisch-konstruktivistische Denken der Stadt ist aus kultur-, zivilisations- und wissenschaftshistorischen Gründen weitgehend blind gegenüber der gelebten Wirklichkeit der Stadt. Das Wissen über ihren ge- und erlebten Raum ist anderer Art als das lineare Fachwissen über die Lage von Häusern und den Verlauf von Straßen oder die demographische Entwicklung städtischer Quartiere. Dem Ungleichgewicht zwischen den epistemischen Formen des einen und des anderen Stadt-Wissens korrespondiert ein Ungleichgewicht des Sprechen-Könnens im einen wie im anderen Diskurs. Während die Sprache der Sozialwissenschaften fest-stellenden Charakter hat, rauschen die lebensweltlichen Narrative – mit der Folge einer Inkommensurabilität der Sprachspiele. Die abstraktionistische Wissenschaftssprache ist gegenüber einer Welt des Wirklichen stumm, deren Verwebungen eher mit ganzheitlichen Aussagen als mit segmentierenden Identifizierungen beschrieben werden können. Als Folge einer langen kulturellen Tradition der abwertenden Ächtung emotionaler Aussagen in der Ersten Person mangelt es an einem kulturell verbreiteten Vokabular zur Beschreibung befindlicher Situationen in Mitwelten, Situationen, Atmosphären und Stimmungen. Dieses wissenschaftliche Nicht-sprechen-können vergrößert das Ungleichgewicht zwischen abstraktionistischer Rede über die Stadt und potentiellen Erzählungen über das Leben der Stadt. Die Stadt repräsentiert sich im sozial- bzw. raumwissenschaftlichen Wissen in anderer Weise als im pathischen Wissen (bzw. im Sinnenbewusstsein), dessen Wirklichkeiten nicht in Systemen, sondern in der Lebenswelt liegen. An den Rissen und Brüchen zwischen diesen beiden diskursiven Welten gabeln sich die Formen der Kommunikation: Innerhalb des Sprach- und Begriffssystems der Wissenschaften sind die Abstraktionismen mit sich im Einklang. Außerhalb ihrer diskursiven Geltungssphäre – in der performativen Teilhabe am Leben der Stadt – gilt der abstraktionistische Code wissenschaftlicher Sprachen als das Andere dessen, was sich im Fokus individuellen Befindens über den pathischen Raum der Stadt aussagen ließe. So äußern sich Kunst und Poesie zu 149 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
7. · Stadtraum im Gleichgewicht
einer (phänomenalen) Wirklichkeit der Stadt, die zwar in einem komplementären Verhältnis zur wissenschaftssprachlich konstituierten (objektlogischen) Realität der Stadt steht; ein Gleichgewicht zwischen der einen und der anderen Rede ergibt sich aus Gründen der Inkommensurabilität aber nicht. Der wissenschaftlich formatierte Diskurs über die Stadt steht auf einem Fundament, das einen allgemeinen und damit fiktionalen Menschen voraussetzt und von der situativen und chaotischen Dynamik städtischen Lebens weitgehend absieht. Was Simmel am Geistesleben der Großstädte festmachte und wir heute Urbanität nennen, kehrt als kulturelles Prinzip, das Eine gleichberechtigt neben dem Anderen zu sehen, im wissenschaftlichen Denken über die Stadt nicht wieder. Die Theorie der Stadt ist nicht urban, weil sie nicht chaotisch ist im Sinne einer fruchtbaren Mischung sich diskursiv fremder Episteme. Sie ist provinziell im Sinne des Wortes, weil sie bei sich bleibt und die Grenzen der Geltungsansprüche eigener Sätze nicht überschreitet. Der auf dem Resonanzboden individuellen Befindens unaufhörliche Geschehenscharakter des Wirklichen, der sich keiner wissenschaftssprachlichen Fest-stellung fügt, führt deshalb auch zu keiner Verwirrung der wissenschaftlichen Diskurse. Deshalb reißt der performative Strom der Lebensereignisse das Gleichgewicht des Ungleichen auch nicht aus dem Lot, und das provinzielle Denken sozialwissenschaftlicher Theorien kann sich konsolidieren und gegen die vorgängige Vitalität des gelebten Lebens der Menschen abschirmen. Es kann sich wegen seiner polaren Spannung zu den pathischen Epistemen letztlich auch nur dann aufrechterhalten, wenn es mit so viel autosuggestiver Macht ausgestattet ist, dass selbst die verdeckte Angst des Wissenschaftlers gegenüber der unberechenbaren Virulenz des Wirklichen im eigenen Leben wirkungsvoll unterdrückt werden kann. 19 Die Ungleichgewichte des Wissens spiegeln sich im Leib des Forschenden als Entfremdung von seinem Gegenstand wider, indem er das diffuse Wissen um die Differenz zwischen theoretischen Vorstellungen über die Stadt und eigenem individuellen Stadt-Erleben nicht nur kognitiv, sondern auch emotional spaltet und zwei personale Identitäten lebt.
19
In diesem Sinn auch Meier-Seethaler 1997.
150 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
8. Zum Situationscharakter des Wohnens Kann man »Wohnen« üben?
Der Begriff des Wohnens scheint sich von selbst zu verstehen. Aus diesem Grunde merkte Martin Heidegger an: »Als ob wir das Wohnen je bedacht hätten!« 1 Insbesondere unter der kulturellen Macht zweckrationalistischen Denkens werden existenzielle Sinnfragen durch Sachfragen nicht nur überlagert, sondern oft auch verdrängt. Die lebensweltlich-existenzielle Dimension des Wohnens wird auf diese Weise diskursiv getilgt. Die gleichsam zweckfreie Frage nach dem Wohnen erscheint beinahe anachronistisch. Indem das Wohnen Thema und Gegenstand politischen, ökonomischen und administrativen Handelns ist, versteht es sich im Allgemeinen von selbst. Kombinierte Begriffe wie altersgerechtes, barrierefreies, betreutes, schönes oder sicheres Wohnen stecken dagegen einen Rahmen zweckrationalen Sprechens ab. Derweil wird die Verständigung über die lebensphilosophische Bedeutung des Wohnens in einen diskursiv diffusen Hintergrund verschoben. In ähnlicher Weise verständigen sich Menschen in der Sache erfolgreich über Lebensmittel, Lebensversicherungen und selbst über Lebenspläne, ohne noch eines explizierten und reflektierten LebensBegriffes zu bedürfen. Dabei ist es nicht allein die ewige Wiederkehr des Gleichen, die das Denkwürdige in den Schlaf des Selbstverständlichen treibt. Vor allem ist es die Trägheit, das immer Wiederkehrende nicht doch – von Zeit zu Zeit – mit bohrenden Fragen ins eigene Leben zurückzuholen. Nicht die bösen Geister setzen dem Menschen zu, merkt Peter Sloterdijk an, »es sind Routinen und Trägheiten, die ihn zu Boden drücken und deformieren« 2.
1 2
Heidegger 2000, S. 48. Sloterdijk 2009, S. 640.
151 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
8. · Zum Situationscharakter des Wohnens
8.1 Wohnen – eine Orientierung Im Wohnen kommt ein anthropologischer Zug menschlichen Lebens zur Geltung. Wohnen vollzieht sich im Raum und an einem Ort. Dabei liegt der Ort der Wohnung in einem Raum des Herum, wie der Ort der Wohnung selbst ein ausgedehnter Raum ist, der Bewegung ermöglicht, wie den eigenen Blick nach Draußen und den fremden Blick vom Draußen. Die Wohnung ist ein schützender Behälter-Raum und sie ist schließlich ein atmosphärischer Raum, dessen Vitalqualitäten sich von Situation zu Situation verändern. Wohnen unterscheidet sich grundlegend von zweckgerichteten Formen der Raumnahme. Der Raum des Wohnens steht in mannigfaltigen Beziehungen zur Welt des Wohnenden. Er ist ein Raum des Menschen, der seine Welt aus der Situation seines Lebens erlebt, entfaltet und gestaltet. Die Lebenswelt bildet den Resonanzrahmen, in dem das eine oder andere Wohnen möglich oder – zum Beispiel unter der Bedingung der Armut – zwingend wird. Ein Mensch wohnt in verschiedenen räumlichen Maßstabsdimensionen: Wohnung, Haus, Umgebung, Land und Erde. Die Art der Wohnung, ihre Größe, die in ihr befindlichen Dinge und nicht zuletzt die sich »über« ihnen entfaltenden Atmosphären spiegeln den Geschehenscharakter des Wohnens wider. Im Wohnen drückt sich aber vor allem die Situation eigenen Lebens aus. Graf Dürckheim sprach in diesem Sinn von Herumwirklichkeit 3, die ein Mensch – z. B. in seiner Wohnung – als eine mit ihm verwachsene Wirklichkeit empfindet. Die Metapher Dürckheims macht auf eine die einzelnen Maßstabsdimensionen überspannende Form wohnender Selbstentfaltung aufmerksam, die insbesondere im anthropologischen und lebensphilosophischen Denken für fruchtbare Unterscheidungen im Verständnis des Wohnens zwischen Haus und Erde sensibilisiert. Wenn Menschen in einer Wohnung, einem Haus, einer Umgebung, einem Land und auf der Erde wohnen, dann gestalten sie in diesen verschiedenen Räumen das Wohnen auf je besondere Weise. Heidegger beschreibt das Wohnen als die Weise, »wie die Sterblichen auf der Erde sind« 4. In der Mitte dieses Gedankens steht der Gang des Lebens, und erst danach der Wandel des Wohnens. Das SichAufhalten auf der Erde ist hier nicht im profanen Sinne des (Wohn-) 3 4
Vgl. Dürckheim 2005. Heidegger 2000, S. 35.
152 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Die Wohnung als Hort von Situationen
Räumlichen zu verstehen. Um das auszudrücken, bedient sich Heidegger der Metapher des Gevierts (Himmel und Erde, die Göttlichen und die Sterblichen). Damit spricht er existenzielle Grundstrukturen an, zu denen sich der Mensch in seinem Leben in Beziehung setzt – zu den zwei Seiten der Natur (natura naturans und natura naturata), dem Unerklärbaren und der Endlichkeit des eigenen Selbst. 5 Einwohnen geschieht in der Zeit, die nach Abschluss Verhaltenssicherheit stiftender Orientierung bis auf weiteres in einer Ordnung des Gleichen gerinnt. Insbesondere das Wohnen entfaltet seine behagende Erlebnisqualität auf dem Boden des vertraut Gewordenen. Das Leben des Gewohnten bewirkt in gewisser Weise eine Sedierung des Selbst-, Raum- und Zeiterlebens, einen Modus des Erlebens, in dem das Fragwürdige in ein Außen verschoben ist. Wo das gewohnte Wohnen aber unterbrechungslos auf der Stelle tritt und durch die habituell verinnerlichte Wiederholung gewöhnlich wird, erstarrt es zum bloßen Anwohnen. Das Wohnen ist denkwürdig. Mit Heidegger gehe ich davon aus, dass das Bedenken des Wohnens eine Voraussetzung subjektiver Selbstgewahrwerdung ist. Dieser große lebensphilosophische Anspruch trägt der existenziellen Bedeutung des Wohnens Rechnung. Diese kommt ihm zu, weil sich der multiple Raum des Wohnens durch Vitalqualitäten auszeichnet, die es nur im umfriedeten Bereich des Wohnens gibt – auch wenn die Wohnung ein Nomadenzelt ist, das gleichsam als »mobilisierter Ort« mit den Wohnenden durch einen scheinbar isomorphen Raum wandert. In keinem anderen erlebten Raum überlagern sich persönliche Situationen in so großer Dichte wie im persönlichen Raum der Wohnung.
8.2 Die Wohnung als Hort von Situationen Es ist Ausdruck modernen Selbst- und Weltverständnisses, alles uns Bedeutsame in Teile zu zerlegen, um aus der Analyse der Einzelheiten entscheidungsrelevante Schlüsse ziehen zu können. Diese Fällung von Zusammenhängendem in Elemente setzt das Ganze als eine Konstellation voraus. So lässt sich auch das Wohnen in Themen und Handlungsfelder zerlegen: solche der Ökonomie (Kosten der Wohnung oder des 5
Zur Metapher des Gevierts vgl. Biella 2000.
153 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
8. · Zum Situationscharakter des Wohnens
Hauses, des Lebensunterhalts etc.), der Technik (Heizsysteme, Wärmedämmung etc.), des Sozialen (Formen des Zusammen- oder Alleinlebens) usw. Solche Thematisierung des Wohnens ist in der Verfolgung pragmatischer Zwecke unverzichtbar. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich im Wohnen in erster Linie ein Lebenszusammenhang ausdrückt, der im umfriedeten Raum zur Geltung kommt. Hermann Schmitz macht mit seinem Konzept der Situation auf den ganzheitlichen Lebenszusammenhang von Bedeutungen aufmerksam. Eine Situation ist durch den bedeutungsverklammernden Zusammenhang von Sachverhalten (dass etwas ist), Programmen (dass es etwas sein soll) und Problemen (ob etwas ist) gekennzeichnet. 6 Neben gemeinsamen gibt es persönliche Situationen. Im Wohnen stehen gemeinsame und persönliche Situationen in einem Wechselwirkungsverhältnis. Das gemeinsame Wohnen in einer Wohnung orientiert sich schon in der Einrichtung mit Dingen an gemeinsamen Wünschen, die (im besten Falle) durch freiwillige Konsensfindung entstanden und nicht oktroyiert sind. Aber auch der allein Wohnende lebt in sozialen Zusammenhängen, die in den Bereich individuellen Wohnens hineinreichen. Kein Wohnen beschränkt sich auf den Raum der Wohnung. Auch die Stadt – bzw. der Stadtteil – wird be-wohnt. Der Herumraum, der die Wohnung im Außen umgibt, dient insofern dem Wohnen, als er durch vielfältige Bewegungsroutinen zur Verrichtung des täglichen Lebens mit dem inneren Raum der Wohnung verzahnt ist. Die sich im gelebten Raum der Wohnung entfaltenden Vitalqualitäten sind situativ gebunden und Ausdruck gelebter Zeit. Situationen des Wohnens wandeln sich oft schlagartig – aus Gründen der Stimmungen, der Atmosphären oder als Folge äußerer Bedingungen (z. B. der plötzlich im Wohnumfeld auftretende Lärm eines Gegenstandes, der zu Boden fällt und zerbricht, oder eine Gefängnistür, die ins Schloss fällt und den engen Raum des Aufenthalts gegenüber dem Außen des Innenraumes der Anstalt verschließt). Über viele dieser Bedingungen verfügen die Wohnenden; aber da sind auch Kräfte und Mächte wirksam, die außerhalb individueller Handlungsfelder liegen, das AkteursDasein unterbrechen oder ganz außer Kraft setzen. Der Rückzugsraum des Wohnens kann in besonderer Weise als affektiver Situationsraum verstanden werden, in dem die intentional gestaltende Kraft der Sub-
6
Vgl. z. B. Schmitz SitKon 2005.
154 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Die Lagerung persönlicher in gemeinsamen Situationen
jekte leicht hinter eine pathische Disposition des Mitseins in Geschehensflüssen zurücktritt.
8.3 Die Lagerung persönlicher in gemeinsamen Situationen Persönliche Situationen zeichnen sich dadurch aus, dass nur eine Person sie im eigenen Namen (in der Ersten Person) aussagen kann. Im Zentrum der persönlichen Situation liegen Bedeutungen, die – an Gefühle und Empfindungen gekoppelt – subjektives Erleben widerspiegeln. So drücken sie auch das Erleben des Gemeinsamen im Lebensraum der Wohnung aus. An zwei Beispielen soll dieser Zusammenhang skizziert werden. 7
8.3.1 Wohnen im Kloster Im Rahmen einer Studie über das Wohnen an gesellschaftlichen Rändern habe ich mit zwei Kapuzinern über ihre Wohnsituation im Kloster gesprochen. Pater R. und Pater E. stellen Hinweise auf das gemeinschaftliche Leben im Kloster in den Mittelpunkt der Beschreibung ihrer Wohnsituation: »Wir haben Gemeinschaftsräume, das Refektorium, das Recreatorium, das eine ist der Essensraum und das andere der Raum, wo wir abends zusammensitzen und diskutieren. […] Die Räume sind natürlich alle auch geprägt durch wichtige Zeichen unseres Glaubens.«
Erst nach ausführlichen Bemerkungen über Art und Bedeutung der Gemeinschaftsräume weist Pater R. darauf hin, dass jeder Bruder auch sein eigenes Zimmer habe. Die Zimmer sind weder groß, noch komfortabel ausgestattet; in jedem »befindet sich ein Schrank, ein Bett, ein Schreibtisch, und es sind noch Dusche und WC angeschlossen«. Der je individuell verfügbare Sanitärbereich ist beiden Patern rechtfertigungsbedürftig. Sie sprechen von »Frankfurter Luxus«. Pater E.: »Die meisten haben Jahrzehnte mit einem Gemeinschaftswaschraum gewohnt.« Die Räume der Brüder seien im Frankfurter Kloster auch deshalb besser als bei den Kapuzi7
Vgl. Hasse 2009.
155 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
8. · Zum Situationscharakter des Wohnens
nern im Allgemeinen ausgestattet worden, weil das innerstädtisch gelegene Kloster weder über einen Garten noch einen Kreuzgang oder Hof verfügt. Pater E. kann sich gut an weit einfachere Zellenausstattungen erinnern: »Als ich damals in den Orden eingetreten bin […] gab es Zimmer mit Bohlen – geschrubbte Holzbohlen drin – keine Vorhänge, keine Blumen […] aber ein Bett mit Stroh.« Die Satzungen des Kapuzinerordens enthalten zahlreiche Aussagen über die Gestaltung der Wohnräume. Darauf bezogen merkt Pater E. an: »Wir müssen in bescheidenen, einfachen Häusern leben, dort wie Pilger und Fremde wohnen. […] Die Häuser sind ein Raum, wo wir hingehören, aber eben ein Raum, der sich einteilt in die Verantwortung der Brüder, Gebet, Kirche […] Gebetsraum, das ist ganz wichtig, mit eigenen Vorschriften.«
Das Haus werde von der Lebensform bestimmt, »dem Gebet und der Beziehung zu Gott und zueinander wie den Aufgaben«. Von herausragender Bedeutung sind nicht die eigenen Zimmer, sondern die Räume, die gemeinschaftlich genutzt werden. Sie dienen der Erfüllung der Aufgabe einer gelebten Gemeinsamkeit im Kloster. Diese bettet jeden Einzelnen auch in die gemeinsame Situation des Glaubens ein. So sahen die beiden Kapuziner im Refectorium und Recreatorium zwei für ihr Wohnen in besonderer Weise bedeutsame Räume. Die Gemeinschaftsräume stiften eine Identität des klösterlichen Lebens, die in der Gestaltung der Räume zum Ausdruck kommt. Der Sinn des Wohnens erschließt sich bei den Kapuzinern aus einer Maßstabsperspektive, die säkularen Lebensformen fremd ist. Zunächst ist die räumliche und religiöse Perspektive auf das Kloster von Belang und erst danach die Perspektive individuellen Wohnens in einem eigenen Raum. Der Gemeinschaftssinn der Brüder verdichtet sich in den gemeinschaftlich genutzten Räumen. Deshalb kommt im klösterlichen Wohnen der Gestaltung dieser Räume mit identitätsstiftenden Symbolen auch besondere Bedeutung zu. Wenn die Gemeinschaftsräume, und nicht die individuellen Klausen, auch das Zentrum des Lebens und Wohnens im Kloster bilden, so haben doch auch die persönlichen Räume der Mönche eine wichtige, gleichwohl nachgeordnete Funktion. »Das ist einfach schön, dass wir sehr gute Räume haben mit viel Holz. Jeder von uns hat einen Raum, der Gott sei Dank eine Tür hat, die man zumachen kann, und wo ich sein darf […] ich darf es auch einrichten und schmücken.
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Die Lagerung persönlicher in gemeinsamen Situationen
Das ist ein Stück Allerheiligstes für uns Brüder. Es dient unserer Seele. Wir haben ein Dach über dem Kopf und wir haben ein Dach über unserer Seele, wie man so schön sagt. Das ist so etwas, wo wir auch persönlich etwas Kraft schöpfen. Und dann natürlich die Gemeinschaft, im Gebet.« (Pater E.).
Der persönliche Wohnraum ist nicht mehr eigener Wohnraum als der Gemeinschaftsraum persönlicher Raum ist. Dennoch spielt er im Gefüge der Räume und der sich mit ihnen verbindenden Aufgaben eine besondere Rolle. Er ist Raum der Kontemplation und der Katharsis. Eine Tür, die man schließen kann, umfriedet den persönlichen Raum und verleiht ihm eine Vitalqualität (Dürckheim), die der Regeneration verbrauchter Kräfte entgegenkommt. Deshalb wird der eigene Raum auch nicht als Hort persönlicher Dinge angesehen. Da es zu den Regeln der Kapuziner gehört, an keinem Ort, sondern im Glauben heimisch zu sein, versteht es sich von selbst, dass sie schon von sich aus keine Güter anhäufen wollen. Rein lebenspraktisch würden sie diese beim Umzug in ein anderes Kloster auch nur behindern. 8.3.2 Wohnen in der Seemannsmission Wenn Seeleute, die über lange Jahre zur See gefahren sind, in die Zeit des Ruhestandes kommen und ihr Leben an Land »zu Ende« bringen sollen, finden sie sich oft in einer prekären Situation, weil sie an Land keine sozialen Anbindungen haben und über keine eigene Wohnung verfügen. Eine gleichsam institutionalisierte Not-Heimat finden sie dann in den Seemannsheimen der deutschen Seemannsmission. In deren Häusern finden sie in einfach eingerichteten Einzelzimmern ein neues Zuhause. Zum persönlichen Wohnbereich gehört in aller Regel eine Nasszelle mit Dusche und WC. Für die soziale Selbstverortung im Haus der Mission sowie in der Situation des neuen Wohnens spielen die Gemeinschaftsräume eine zentrale Rolle. Seit ein paar Jahren ist der ehemalige Seemann F. im Hamburger Seemannsheim neben der Kirche St. Michaelis (Am Krayenkamp) mit seinem ersten (und einzigen) Wohnsitz gemeldet. Er hat über 30 Jahre in Mannschaften auf Hochseeschiffen gearbeitet. Oft gibt es nach vielen Jahren der Seefahrt keine sozialen Netze mehr an Land, in denen sich ein ehemaliger Seefahrer beheimaten könnte – falls er sie zu Zeiten der aktiven Seefahrt je hatte. Die alten Dauerbewohner der Seemannsheime leben dann (im Erzählen ihrer Geschichten) mehr in der 157 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
8. · Zum Situationscharakter des Wohnens
Vergangenheit ihrer Seefahrerei als in der Gegenwart ihres Lebens in der Mission. Die verklärende Rückwendung in die narrative Heimat einer erinnerten Gemeinschaft auf See wird dadurch verstärkt, dass die Heime hauptsächlich von aktiven Seeleuten genutzt werden, die aus verschiedenen – heute eher außerplanmäßigen 8 – Gründen für eine oder mehrere Wochen nicht auf ihren Schiffen sind. In den Häusern der Mission geben sie den Alten dann durch ihre Anwesenheit wie durch das Gespräch Gelegenheit, sich auf ihre vergangene SeefahrerBiographie zurückzubesinnen und sich ex post immer wieder aufs Neue ihrer (zunehmend fiktional werdenden) Seemannsidentität zu vergewissern. Diese soziale Einbindung ist für F. das Wichtigste an seiner aktuellen Wohnsituation. Er hofft, »dass es so lange wie es geht so bestehen bleibt. Dass man die Möglichkeit hat, hier anzuklopfen. […] Gemeinschaft.« Die Gemeinschaft erscheint in doppelter Hinsicht als soziales Bindemittel – als eine Art Überlebenskitt. Zum einen wird sie als eine tatsächliche Gemeinschaft mit denen empfunden, die mit ihm im Ruhestand sind und die Seefahrt biographisch hinter sich haben. Im Seemannsheim bilden diese alten Seeleute nun eine fragile Gemeinschaft. Sie leben aus der geteilten Erinnerung an eine (historische) Gemeinschaft, deren lebensweltlich vitale Bindungskraft im Dauerwohnsitz des Seemannsheims aber zunehmend brüchig wird, so dass sich die soziale Vereinzelung zuspitzt. Zum anderen wird eine Gemeinschaft mit und bei aktiven Seeleuten gesucht, die kommen, eine Zeit bleiben und wieder gehen. Aber auch diese Gemeinschaft ist fragil, denn die aktiven Seeleute kommen aus einer neuen 9 und modernen Seefahrt, in der es die Gemeinschaft nicht mehr gibt, die für die alten Seeleute so prägend war. Indes wissen die Alten um die größer werdende Differenz zwischen dem einen und dem anderen Seemannsleben, und so schwim-
Manche Seeleute sind zu einem längeren Landaufenthalt gezwungen, wenn ihr Schiff zum Auflieger wird, d. h. wegen nicht gezahlter Hafengebühren von der Hafenbehörde an die Kette gelegt wird, bis die Rechnung beglichen ist; Beispiele dazu finden sich in Gerstenberger / Welke 2004, S. 65 f. 9 Als neue Seefahrt wird die seit den 1970er Jahren durch die Globalisierung revolutionierte Seefahrt angesprochen, die sich durch eine Reihe von Merkmalen von jener alten Seefahrt unterscheidet, die bis in die 1970er Jahre betrieben wurde. Aus der Welt der alten Seefahrt in diesem Sinn berichtet der interviewte Seemann in der Hamburger Mission. 8
158 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Die Lagerung persönlicher in gemeinsamen Situationen
men sie auf dem Boden einer zunehmend fiktional werdenden Selbstvergewisserung ihrer Seemannsidentität. Das Erleben der gemeinsamen Situation mit aktiven Seeleuten spielt für F. eine wichtige Rolle. Sie ist ihm »eine große Hilfe«. Die Möglichkeit der Kommunikation unter Seeleuten bietet ihm die Mission. »Die Älteren, die ewig gefahren sind, die sind gezeichnet für das Leben. Die kommen alleine gar nicht gut zurecht.« Die soziale Welt des Heims helfe, über diese persönlichen Probleme hinwegkommen zu können: »Und das hier ist der Vorteil. Dass hier immer, wenn jemand mal moralisch einknickt oder was, dass man dann runtergehen kann. Dort hat man jemanden zum Unterhalten.« Besonders diese biographischen Aussagen zeigen, dass F.s Wohnen in der Mission weniger mit der Beheimatung in einer behaglichen Wohnung im engeren Sinne zu tun hat als mit der Rücksicherung seines Lebens in einer sozialen Situation, die ihm hilft, sein Leben zu führen. F. lebt im Sinne eines Proto- oder Semi-Wohnens auf einem Grat. Der Aufenthalt in einem Heim der Seemannsmission ist Ausdruck eines heimatlosen Lebens, das nun gleichsam auf der Stelle tritt. Atmosphärische Erlebnisqualitäten spielen eine zentrale Rolle; sie stützen eine Stimmung des So-leben-könnens. Vor allem die Gespräche mit noch fahrenden Seeleuten vermitteln ihm die Möglichkeit der Einfühlung in eine empfundene Gemeinschaft, die für seine Seemannsidentität von zentraler Bedeutung ist. Auf je unterschiedliche Weise zeigen beide Beispiele die wechselseitige Verstrickung einer persönlichen Situation des Wohnens mit einer gemeinsamen. Beide sind aber nur zu verstehen, wenn sie als Ausdruck eines je individuellen (nur in der ersten Person aussagbaren) Lebens begriffen werden. Während die Lebenssituation der Kapuziner durch die Situation der Glaubensgemeinschaft sinnstiftend getragen wird und Kraftfeld für die Vergewisserung der persönlichen Identität ist, lebt der Seemann seine persönliche Situation in einer hybriden Gemeinschaft. Das Gespräch mit den fahrenden Seeleuten stützt und spaltet seine Identität zugleich. Er ist nur noch formal unter seinesgleichen, denn die modernen Seeleute sprechen von einer anderen Seefahrt. Dennoch bietet ihm das Wohnen in der Mission einen emotional bergenden und umfriedenden Raum. Er kann sich in der Erinnerung an sein Leben in seiner persönlichen Situation stützen und – wenn auch auf prekäre Weise – finden. 159 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
8. · Zum Situationscharakter des Wohnens
8.4 Zur Bedeutung der Dinge Das Wohnen steht in einem Rahmen von Bedingungen, wie es diese schafft. BeDINGungen machen auch die Dinge des Wohnens. Bei den Kapuzinern sind es die Zeichen ihres Glaubens, die dingliche Ausstattung der Gemeinschaftsräume und die einfache Einrichtung der eigenen Klause; beim Seemann ist es in besonderer Weise die Atmosphäre eines Gemeinschaftsraums, die durch Zeichen der Seefahrt entsteht (Positionslampen, Fahnen, Rettungsringe etc.). Ohne Dinge gäbe es keinen Raum des Wohnens, weder den der Wohnung im engeren Sinne noch den des Stadtraumes, als Wohnraum im weiteren Sinne. Das gilt noch für den, der unter freiem Himmel mit den Dingen der Natur wohnt. Der Obdachlose, der auf der Platte lebt, bedarf noch einer minimalen mobilen Habe; ebenso benötigt er Dinge in seinem temporären Übernachtungsumfeld, die ihm Sicherheit geben. Jeder Wechsel der Dinge provoziert deshalb das Nachdenken des wohnend gelebten Raumes wie der darin gelebten Zeit. Mit der Tilgung alter wie der Hereinnahme neuer Dinge wird ein Vorher durch Aktualität überblendet und in eine veränderte Ordnung gestellt. Was wir im Wohnen das Behagende, Umfriedende, Bergende und atmosphärisch Umhüllende nennen, entsteht nicht zuletzt durch Dinge, die mit Bedeutungen angehäuft sind. Sie vermitteln ein Wohnen, das Raum und Zeit situativ zusammenfasst. Nicht der stilvolle Tisch vermittelt eine Form vitalen Wohnens im persönlichen Raum, sondern der Tisch, dem die Spuren biographisch bedeutsamer Geschichten anhaften: »Hier der Tisch, ein ganz verrücktes krauses Möbel, ein Ausziehtisch mit einer fürchterlichen Schlosserarbeit. Aber unser Tisch, unser Tisch! Wißt Ihr, was das heißt? Wißt Ihr, welche herrlichen Stunden wir da verlebt haben? Wenn die Lampe brannte! Wie ich als kleiner Bub mich abends nie von ihm trennen konnte, und Vater immer das Nachtwächterhorn imitierte, so dass ich ganz erschreckt ins Kinderzimmer lief.« 10
Wenn auch nicht nur herrliche Stunden an jenem Tisch verronnen sein mögen, so repräsentiert dieser Tisch doch mannigfaltig in-, über- und durcheinander liegende Geschichten, die aufgrund der sich in ihnen zeigenden leiblichen Erinnerungsspuren nicht auf Symbole zu reduzieren sind. Der Tisch repräsentiert im Prinzip – das ist die Essenz der 10
Loos 2008.1, S. 19 f.
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Das Wohnen üben
kurzen Beschreibung des Wiener Architekten Adolf Loos – nie situationsfreie Bedeutungen. Am gegebenen Beispiel werden gemeinsame Situationen angesprochen, in die persönliche Situationen eingeschmolzen sind – hier solche aus der Kindheit von Adolf Loos. Wenn Loos das Lernen des Wohnens als Aufgabe sieht, so schließt diese notwendig die Übung ein. Es stellen sich Übungsaufgaben der Selbstbesinnung im Sich-Einrichten im Einwohnen. Ziel der Übung kann es dann auch sein, die Macht der Standardisierung der Wohndinge durch serielle Moden abzuwehren. Heidegger wollte über einen existenzphilosophischen Imperativ das Wohnen in die Fragwürdigkeit treiben, um es dem Nach-Denken zugänglich zu machen: »Genug wäre gewonnen, wenn Wohnen und Bauen in die Fragwürdigkeit gelangten und so etwas Denkwürdiges blieben.« 11 Deshalb sieht er das Wohnen auch als etwas, das man in seinem Wesen lernen muss. 12 Jedes Lernen bedarf der Übung.
8.5 Das Wohnen üben Das Wohnen ist keine Technik, die sich perfektionieren ließe wie eine handwerkliche Kunst oder ein artistisches Können. Im Wohnen verortet sich der Mensch in einem anthropologischen Sinne. Es bedarf der Gestaltung von Wohnmilieus, die letztlich dem Leben dienen. Sie müssen gebaut und gepflegt werden. 13 Hierin kündigt sich das Thema des Übens an. Es umfasst neben dem Einrichten-können von Wohnmilieus auch das verantwortliche Vorausdenken-können dessen, was mit diesem Bauen bewirkt wird. Zum Bauen gehört nämlich vor der Errichtung architektonischer Bauwerke schon die dingliche Einrichtung der Wohnung – auch wenn nur mobile Dinge bewegt und durch ihre Verortung temporäre Ortsqualitäten geschaffen werden. Wenn Heidegger das Schonen als Wesen des Wohnens ansieht, dann spricht er damit nicht ökologisch orientierte Praktiken der Nachhaltigkeit an, sondern eine Form der Selbstverwirklichung, die als Folge eigenen Wohnens zukünftiges Leben weder einschränkt, geschweige denn unmöglich macht. Dieses schonende Einwohnen ist nicht zu üben wie ein 11 12 13
Heidegger 1951, S. 48. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 35.
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8. · Zum Situationscharakter des Wohnens
handfertiges Können. Die Übung des Wohnens vollzieht sich in drei Feldern: erstens dem atmosphärisch sensiblen Herstellen-können von Wohnmilieus, zweitens dem bewussten Aussagen-können der auf diese Weise hergestellten Vitalqualitäten und drittens dem Zusammendenken-können aller das Wohnen betreffenden Anforderungen auf das Ziel der Gewahrwerdung eigenen Lebens im umfriedeten Bezirk der eigenen Wohnung. Während sich das menschliche Leben als übendes vollzieht 14, lässt es sich selbst im engeren Sinne doch nicht üben. Das Üben bezieht Bollnow deshalb auf die Verbesserung spezifischen Könnens 15, der Fähigkeit zum selbständigen Wissenserwerb, der Differenzierung disziplinierender Techniken der Konzentration, der Erreichung größtmöglicher Genauigkeit in einer Beschreibung 16 oder der Einverleibung einer artistischen Technik der Körperbeherrschung. So stößt sich das Üben von einem Nicht-Können ab und strebt nach einem Immer-besser-Können, weshalb es lebensgeschichtlich auch in keiner reiferen Altersphase als abgeschlossen betrachtet werden kann. Sloterdijk und Bollnow stimmen in vielem überein, was das Üben in seiner Bedeutung für das menschliche Leben betrifft: Der Mensch ist seinem Wesen nach ein Übender, der die Grenzen zum Unmöglichen immerzu aufs Neue hinausschiebt. Während Bollnow das Üben auf eine Kultur der Wiederholung zum Zwecke speziellen, partiellen bzw. besonderen Besser-könnens beschränkt, ist es für Sloterdijk eine »Anthropotechnik« der Selbststeigerung. Das Üben sichert jene Vertikalspannung, die den Menschen auf dem Boden subjektiven Wollens mit einem Mehr- und Besser-Können verbindet. Wenn sich im Wohnen die aktuelle Situation individuellen Lebens räumlich und örtlich ausdrückt, so ist jedes So-wohnen gelebter Ausdruck eines Lernerfolges auf dem Weg zum (gleichsam methodischen) Wohnen-können. Sloterdijk erinnert (nach Bollnow) daran, dass es kein Nicht-Üben gibt. Auch das Seinlassen des Übens will geübt sein. Indes führt die Übung »als langes Training in Lernvermeidungsoperationen« in die »manifeste Dummheit« 17. Nicht einfache Übungstechniken des Einrichtens sind hier im 14 15 16 17
Vgl. Sloterdijk 2009 sowie Bollnow 1978. Vgl. Bollnow 1978, S. 27. Vgl. Bollnow 1975, S. 121 ff. Sloterdijk 2009, S. 645.
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Das Wohnen üben
Blick auf das Üben des Wohnens gemeint. Für solches Können der modischen Adaption von Stilen hatte vor mehr als 100 Jahren schon Adolf Loos nur Spott als Antwort. Im Wohnen steht vielmehr eine Art der Übung zur Disposition, welche die (wohnende) Arbeit an der personalen Identität vorantreibt, um den Prozess gewohnheitsmäßiger »Selbstwiederherstellung« 18 zurückzudrängen. Das Üben konzentriert sich in diesem Sinne auf die Fähigkeit zur selbständigen und selbstverantwortlichen Lebensführung. Diese Bedeutung korrespondiert auch der etymologischen Bedeutung des Übens (üben als moralisches Aufdie-Probe-stellen, das In-Bewegung-versetzen einer Person oder deren Prüfung)19. Wer sich zu oder nach etwas übt, strebt nicht nur nach Verbesserung eines Könnens, sondern nach der Verbesserung seiner selbst im Ganzen 20. Das Üben ist in diesem etymologischen Spiegel eine aufs Ganze der Person gehende »Anthropotechnik« der Selbstverfeinerung. Auch bei Graf Dürckheim strebt die Übung nach einer Veränderung im Sein des Menschen: »Üben hört auf, nur ein Mittel zur Ausbildung eines Könnens zu sein«, es hat »nichts anderes im Auge als den verwandelten Menschen.« 21 Üben berührt damit die Ebene der Kultivierung des eigenen Lebens, das sich im Wohnen ausdrückt. Üben vollzieht sich in der Wiederholung und ist schon daher kein Vergnügen. Es bedarf nicht der Anstrengung notorischer, sondern selbstreflexiver Wiederholung. In seiner lebensweltlichen Praxis steht das Wohnen indes in einer antinomischen Spannung zum übenden Leben. Wohnend gleitet der Mensch in die behagende Weite entspannender Atmosphären. Im monotonen Gleichlauf habitueller Routinen und in einer stummen Pflege des Selbstverständlichsten und Immer-Gleichen vermittelt die Wiederholung aber kein Aufwärts, sondern ein Verweilen, in dem die Vertikalspannung in den Ruhepol des umfriedeten Raums der Wohnung ausgleitet: entspanntes Ausüben statt anstrengendes Üben. Auch das Gewöhnen an etwas, das zum Gewohnten führt, verdankt sich der Übung. 22 Wenn Adolf Loos sagt: »Wir müssen wohnen lernen« 23, spricht er damit nicht den entspannenden Charakter ausübenden Wohnens an, sondern die Anstrengung des Übens. Das 18 19 20 21 22 23
Ebd. Vgl. Grimm / Grimm Bd. 17, Sp. 57 ff. Vgl. ebd. Sp. 70. Zit. bei Bollnow 1978, S. 65. Vgl. Grimm / Grimm Bd. 17, Sp. 67. Loos 2008.2, S. 107.
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8. · Zum Situationscharakter des Wohnens
Wohnen übend in die eigene Hand zu nehmen, läuft auf die Unterbrechung der Ausübung entspannender Ruhe hinaus, die ihren Ausgang nie an objektiven Gegebenheiten nehmen kann, sondern am Eigensinn des Wohnens und an Situationen eigenen Lebens. Der Wohnende spricht in diesem Üben in der Ersten Person zu sich. Im Spiegel subjektiver Betroffenheit erscheint der persönliche Raum des Wohnens auch als ein Raum der Macht. Als mächtig spiegeln sich aber lange nicht nur interpersonale Beziehungen im Sinne von Max Weber, sondern auch Wirkungen, die von Dingen, Situationen und Atmosphären ausgehen, die das wohnende Individuum selbst inszeniert hat. Abermals sind es die vertrauten Dinge, die das Denken versiegeln, es zugleich aber auch evozieren. Geschichten von Situationen des Wohnens spiegeln sich in den Spuren, die den Dingen anhaften wie Schmutz, Beschädigung, Verfärbung oder Abnutzung. 24 So kommen die Dinge in einer Eindrucksqualität zur Erscheinung, die die Frage bereithält, ob es so weiter gehen soll. Die palimpsesthaft mit Geschichten und Bedeutungen überschriebenen Dinge stellen in ihrem Erscheinen diskrete Sinnfragen. Indem sie aus der gelebten Zeit im gelebten Raum wurden, was sie sind, bezeugen sie eine vergangene Biographie. Mit der ganzen Macht ihrer Geschichte stürzen sie aber auch ins Aporetische. Die zum Erscheinen der Dinge gehörenden Spuren des Gelebten suggerieren ein sich aus dem Schwung der Geschichte ergebendes Immer-so-weiter. Damit stellen sie die Frage nach diesem Weiter aber auch aporetisch ins Offene. Wird der hinter den Fassaden profaner Nützlichkeit der Dinge liegende Hintersinn zum Anlass der Übung der Unterbrechung der Ausübung entspannenden Wohnens, so rückt das sich im Wohnen situativ ausdrückende Leben in den Schnittpunkt kritischer Revision. Diese Übung der Unterbrechung des Gewohnten berührt nie allein den inneren Ort der Wohnung, denn dieser wird in einer mannigfaltig verstrickten Wechselwirkung mit dem umgebenden (meist städtischen) Raum, zu dem der Ort der Wohnung gehört, gelebt. Noch einmal: Kann man das Wohnen üben? Heidegger setzte das Wohnen unter einen hohen Anspruch der Selbst- und Weltreflexion. Dies schon deshalb, weil der Mensch im Wohnen folgenreiche Beziehungen anbahnt und lebt. In der Form, das eigene Leben in der wohnenden Verortung und Verräumlichung so oder anders zum Ausdruck zu bringen, situiert er sich zu sich selbst, zu anderen, zu Dingen und 24
Vgl. Serres 2009.
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Das Wohnen üben
zur Natur. Um die Folgen eigenen Wohnens bewusst zu machen und bewusst leben zu können (ausdehnend oder beschränkend), unterstellt er das Wohnen einer Aufgabe der Schonung. Deren Akzeptanz setzt das Bedenken des eigenen Wohnens (d. h. auch seiner situativen BeDINGungen) voraus. Der Satz Heideggers »Als ob wir das Wohnen je bedacht hätten!« beinhaltet einen Imperativ. Wenn es auch nicht zum Selbstverständlichsten gehört, das eigene Wohnen zu bedenken, fordert er doch dazu auf, das Wohnen in die nicht-alltägliche Denkwürdigkeit zu treiben. So unterstellt er, dass es dem Menschen möglich ist, sich in die Aufgabe zu finden, die Arbeit des Bedenkens auf sich zu nehmen. Damit stellt sich eine Aufgabe des Übens.
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9. »Ein apfelgrüner 2CV« Über die Schwierigkeiten, einen Ort zu beschreiben
Der »Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen« 1 (Original: »Tentative d’Epuisement d’un Lieu Parisien«) ist eine tentative Annäherung an einen Ort oder – mit einem Wort aus dem Originaltitel – der Versuch der Ausschöpfung seiner Vitalität. Auf knapp fünfzig Druckseiten knüpft der französische Schriftsteller Georges Perec (1936–1982) eine chronologische Kette von Ereignissen, die die Raum-Zeit des Ortes in verschiedenen Zeitfenstern lebendig werden lässt. Er beschreibt nicht, was geschehen ist, er notiert in einer außerordentlich nüchternen Sprache Gegebenheiten und Sachverhalte einer in Segmenten aufscheinenden Wirklichkeit. Dabei verzichtet er auf sprachliche Ästhetisierung, denn er wollte keinen schönen Text verfassen, sondern den Versuch einer Beobachtung (in seinen Erfolgen und Vergeblichkeiten) illustrieren.
9.1 Einstimmende Zusammenfassung Wenn Perec am 18. 10. 1974 auf der Terrasse des Café de la Mairie notiert: »Ein 96er fährt vorbei. Ein 87er fährt vorbei. Ein 86er fährt vorbei. Ein 70er fährt vorbei. Ein »Grenelle Interlinge«-Laster fährt vorbei.«, so provoziert er die Frage, wovon eigentlich Zeugnis abgelegt wird. Was sollte ihn angesichts der Gleichzeitigkeit aller in einem Moment an einem Ort geschehenden Ereignisse dazu gezwungen haben, ausgerechnet diese Aufzählung aufzuschreiben. Ist er es nicht vielmehr selbst, der von sich Zeugnis ablegt, indem er einen Einblick in sein Beobachten gewährt? So gilt der Versuch, einen Platz zu beschreiben, weniger der Sache des Platzes, als vielmehr der Sache des Versuchs, etwas zu beschreiben. Nur auf den ersten Blick ist der beinahe im Jargon eines Buchhalters geschriebene Text banal, wenn es auch tatsäch1
Perec 2010.
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Einstimmende Zusammenfassung
lich um Banalitäten geht. Gleichwohl verlangt die schier endlose Kette protokollierter Beiläufigkeiten doch eine ausdauernde und aufmerksame Lektüre. Erst die Wiederholung von Fall zu Fall variierender Gewöhnlichkeiten (Perec selbst sprach vom »Infra-Gewöhnlichen«) lässt einen Taumel im Immer-gleichen aufkommen, aus dem heraus ein Moment jener Faszination spürbar wird, die den Autor an seine Orte getrieben und für kurze Zeit an ihnen gehalten haben mag. Die Wiederholung erweist sich als eindrucksvolle Methode, um die Ereignis-Amplituden eines Platzes zum Ausdruck zu bringen und ein in gewisser Weise pathisches Nacherleben anzubahnen. Die monotone Aufreihung ähnlicher Abläufe hat aber auch Methode, indem der willkürliche Abbruch der Aufzeichnungen diese selbst fragwürdig macht. In diesen immer wieder auftauchenden Situationen hintergründiger Selbstgespräche schreibt er – wenn auch nur in kurzen Einschüben – anders und Anderes. Er betrachtet dann nicht mehr den Platz, sondern sich selbst im Spiegel seiner Platzbeschreibungen. Warum dieses und nicht jenes aufschreiben? Woher kommt das Interesse an Linienbussen oder 2CVs, einer alten Frau oder einem Baguette, das aus einer Papiertüte hervorguckt? Was macht die Aufmerksamkeit für Tauben, die eine Platzrunde drehen, müde? Perecs Büchlein ist kein wissenschaftlicher Text, aber er birgt methodologischen Sprengstoff, denn seine Platzbeschreibungen drücken in ihrer methodischen Form der Dokumentation ein Geschehen aus, das sowohl um- als auch mitweltlichen Charakter hat. Schon in der Thematisierung dieser zwischen einem »Um« und einem »Mit« des Weltlichen wird die Situation des wissenschaftlichen Beobachters im Hinblick auf seine affektive Beziehung zum Gegenstand seiner Beobachtungen fragwürdig. Perecs Buch hat zwei Seiten; zum einen schlägt der Autor mit seinen unorthodoxen Einlassungen auf die Lebendigkeit eines Platzes eine Seite des Wirklichen auf, die aus dem Blickwinkel der Wissenschaften extramundan anmutet. Zum anderen ist es die selbstreferentielle Methode seiner Einlassung auf einen Raum, die nicht nur das In-der-Welt-sein Perecs, sondern auch das des Wissenschaftlers exotisiert, entwindet dieser sich doch – ganz anders als Perec – aus dem Dilemma zwischen »Engagement und Distanzierung« 2 in aller Regel mit Theorien und abstrakter Sprachakrobatik, also durch Distanzierung. Perec macht im Sinne einer produktiven Verwirrung auf Pro2
Elias 1987.
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9. · »Ein apfelgrüner 2CV«
zesse des Städtischen aufmerksam, die im Fokus der Stadtforschung wenig Beachtung finden. Sein Blick auf einen Schatten der Forschung fordert daher methodologische Fragen zur wissenschaftstheoretischen Selbstkonstitution sozialwissenschaftlicher Stadtforschung heraus.
9.2 Der Raum eines Platzes Georges Perec gilt als Großmeister der Literatur. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen für seine Werke, unter anderem für den Roman »Das Leben. Gebrauchsanweisung«. 3 Die längste Zeit seiner Berufstätigkeit arbeitete er als Archivar im Hôpital Saint-Antoine in Paris. Diese Beschäftigung mag ihn dazu motiviert haben, das Prinzip des Archivierens auch auf andere Welten anzuwenden. Seine häufigen Umzüge innerhalb von Paris mögen zur Steigerung seines Interesses an der Dynamik städtischen Lebens beigetragen haben. Den »Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen«, schrieb Perez an drei Tagen im Oktober 1974 (dem 18., 19. und 20., Freitag bis Sonntag) und an verschiedenen Orten rund um den Place Saint-Sulpice im 6. Arrondissment für die Dauer von ungefähr je eineinhalb Stunden. 4 Die protokollähnlichen Aufzeichnungen sind meistens auf die Essenz eines Ereignisses verdichtet und im Telegrammstil niedergeschrieben. Nur gelegentlich finden sich knappe Erläuterungen über drei oder vier Zeilen, die etwas vom registrierten Geschehen erklären, es hinterfragen oder pointieren. Sein Interesse galt nicht der exakten Autopsie eines Ortes, vielmehr all dem, »was man in Allgemeinen nicht notiert«. Perec wandte sich dem Nebensächlichen zu, dem, »was keine Bedeutung hat, […] was passiert, wenn nichts passiert«. So widmet er sich im engeren Sinne weniger dem Platz als den Rhythmen performativen Lebens, die ihre Bahnen durch den Raum ziehen und mit den verschiedenen Sinnen wahrnehmbar sind. Im Nachwort des Übersetzers heißt es, Perec sei nie am Extraordinären interessiert gewesen, sondern am Infraordinären, am Infra-Gewöhnlichen, an den Hintergrundgeräuschen, wie er selbst über sein Interesse schrieb. Perec 2009. Mitunter lässt sich aus den Aufzeichnungen die Dauer seines Aufenthalts an einem Ort ablesen; so befand er sich am 18. in der Zeit von 17:10 Uhr bis ca. 18:45 Uhr auf der Terrasse des Café de la Mairie.
3 4
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Der Raum eines Platzes
Hin und wieder scheint aus der Aufreihung performativer Ereignisse im Strom städtischen Pulsierens der rote Faden einer Chronologie hervor. Scheinbar nur zufällige Abläufe lassen sich mitunter zu Sequenzen verknüpfen, wenn innerhalb des Beobachtungszeitraums evidente Sinn-Beziehungen zwischen Einzelelementen erkennbar werden. Erst dann verbindet sich Einzelnes zu einer Ereigniskette – zum Beispiel der einer Trauerfeier: Läuten der Glocken, Menschen betreten die Kirche, ein Bestattungsunternehmen bringt einen Trauerkranz – viel später werden dann Kränze aus der Kirche getragen und »der Leichenwagen fährt davon, gefolgt von einem Peugeot 204 und einem grünen Méhari. […] Das Totengeläut hört auf.« Solche Ereignisketten, die einen zusammenhängenden Sinn erkennen lassen, bilden aber eher die Ausnahme. Durch die Notierung des Peugeot 204 und grünen Méhari 5 wird dieser Kontext ja auch nicht zufällig wieder aufgehoben und ins Beliebige zerstreut. Die Lebendigkeit des Platzes ist für Perec nicht Produkt von Handlungen intelligibler Akteure; sie macht auf eine andere Raumqualität aufmerksam – den städtischen Platz als Resonanzraum dahinströmenden Lebens. Es kommt Perec auf die Resonanzen selbst an und erst in zweiter Linie auf den mitunter situativ aufblitzenden Sinn eines Geschehens. Er sammelt nicht Zeichen einer verborgenen sozialen Ordnung, sondern aus Zusammenhängen entbundene Phasen unterschiedlichster Aktionen, die die Vitalität des Ortes ausdrücken. Wie Photographien nur Zeichen sind, »die nicht richtig abbinden, die gerinnen wie Milch« 6, so sind auch Perecs Aufzeichnungen Schnappschüsse mit den Mitteln der Sprache. Sie liefern allein Hinweise auf ein unerschlossenes Ganzes, auf Situations-Mikrologien eines Platzes. Perec schreibt auf, was scheinbar ohne Bedeutung ist, nicht nur Dinge und deren Farben, den Habitus von Menschen, sondern auch Geräusche, die Art des Lichts, in dem das eine und andere zur Erscheinung kommt, einen Geruch, der ihm zuweht, oder die sich wandelnden Stimmungen von Menschen, die mitunter wiederholt, aber doch stets als situativ andere im Feld der Beobachtungen auftauchen: »Die beiden Knöllchenangestellten vom Vortag kommen vorbei; heute wirken sie sorgenvoll«. Ein »Méhari« war ein offener Freizeit-Pkw von Citroën, der Ende der 1960er bis 80er Jahre auf der Karosserie des Citroën 2CV gebaut wurde. 6 Barthes 1985. 5
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9. · »Ein apfelgrüner 2CV«
Schon auf dem thematischen Niveau der ausschöpfenden Erfassung eines Platzes liefert der Text eine Fülle von Anregungen für eine kritische Revision raumwissenschaftlicher Analysen weit über den Raumtyp des Platzes hinaus. In den Mittelpunkt rückt die Frage, in welchen Erscheinungsweisen sich die »Vitalqualität« eines »gelebten Raumes« 7 ausdrückt. Die Sensibilisierung für das dem Handeln Vorausgehende, es Begleitende und ihm Nachlaufende öffnet sich nicht nur gegenüber Zufälligkeiten, sondern auch gegenüber der atmosphärischen Macht dahinfließenden städtischen Lebens, dessen Sinnstrukturen der Wahrnehmung des situativ distanzierten Betrachters fern bleiben, wenngleich sie auch die Erlebnisqualität eines Raumes konstituieren. Damit erweist sich die Art und Weise der die Raum-Zeit eines Ortes gestaltenden Performativität als eine Resonanz von Handlungen, Tätigkeiten, habituellen Ausdrucksweisen, Gesten usw. So gesehen steckt in Perecs Arbeit zugleich eine Mahnung an die allein handlungstheoretisch sich konstituierenden Wissenschaften, ihren Blick über die Grenzen des Rationalen und (vermeintlich) Berechenbaren hinaus zu öffnen. Der Autor sensibilisiert für die Ent-deckung eines Forschungsfeldes, das in den Raumwissenschaften derzeit noch ein Schattendasein fristet – die Atmosphären und die Performativität des städtischen Raumes.
9.3 Versuch einen Platz zu erfassen – ein Selbstversuch? Perec folgt einer zweifachen Aufmerksamkeit; sie ist auf einen Raum gerichtet, zugleich aber auch auf seine Aufmerksamkeit selbst. Deshalb spiegelt er seine Platzerfassung – als Moment ihrer Prozesshaftigkeit – immer wieder an ihren eigenen Befunden. Er nimmt seine Beobachtungen zum Anlass zugespitzter Selbstbefragungen zur Methode der Beobachtung. So eicht er sein registrierendes Vorgehen an Erfolgen und Fehlschlägen. Seine selbstreferentiellen Bemerkungen – oft nur Halbsätze, wie auch die meisten seiner Beschreibungen des Platzgeschehens – haben einen scheinbar banalen Charakter: »Es ist fünf nach vier. Müdigkeit der Augen. Müdigkeit der Worte.« Darin klingt indes ein wissenschaftspsychologisches Thema an, das in der methodenkritischen Begleitung der Produktion wissenschaftlichen Wissens 7
Vgl. Dürckheim 2005.
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Versuch einen Platz zu erfassen – ein Selbstversuch?
kaum Beachtung findet, obwohl gerade dadurch die Frage nach der Disponiertheit forschungsspezifischer Kreativität dem wissenschaftskritischen Diskurs entzogen wird. Dass die Erträge wissenschaftlichen Arbeitens nicht nur durch die intellektuelle Beherrschung theoretischen Wissens strukturiert und artikuliert, sondern auch durch äußerst mannigfaltige Formen leiblicher Befindlichkeit des Forschenden ge-stimmt werden, entgeht damit der Wissenschaftssoziologie und -kritik als Forschungsfeld. Was der wissenschaftliche Diskurs aus Gründen sprachkultureller Diszipliniertheit und kollektiver Selbstdisziplinierungen unter dem Druck vorherrschender Denkstimmungen 8 ignoriert, spricht Perec aus: »Ich trinke ein Vittel, während ich gestern einen Kaffee getrunken habe (inwiefern verändert das den Platz?)«. Die Frage ist rhetorisch, weiß er doch, dass es nicht der Platz (auf der Objektseite) ist, der sich durch das, was er gerade zu sich nimmt oder an sich geschehen lässt, ein anderer wird, sondern er selbst es ist, der sich in seiner Aufmerksamkeit, seiner Konzentration, wie insgesamt in der affektlogischen Disposition seiner persönlichen Situation verändert. Insofern wird schließlich auch »der« Platz ein anderer, denn für den Beobachter gibt es ihn nur in der Welt seiner erlebten Eindrücke. Während Planer einen Platz konstruierend entwerfen und tiefbautechnisch ins Werk setzen lassen, konstruiert Perec »seinen« Platz nicht; er konstituiert sich in seinem Erleben in der Raum-Zeit seiner Anwesenheit. Perec lässt sich überraschen. Die den Platz kreuzenden Linienbusse bilden eine rhythmische Kette immer wiederkehrender Ereignisse. Dabei sind es aber nicht die Busse, die er im engeren Sinne beschreibt, sondern vielmehr noch ihr immerwährendes Ankommen und Abfahren; so setzt er das rhythmische Leben des Platzes in ein sprachliches Bild. Die Methode der notorischen Wiederholung kommt einem Sprachspiel gleich, das als komplementäre Form der Monotonie der Ereignisse ein atmosphärisches Moment des erlebten Raumes freilegt. Das Immer-gleiche in einer abstrahierenden Sprache nur zu vermerken (dass die Busse nach einem beinahe vorhersehbaren Takt kommen, halten und weiterfahren), wäre nicht dasselbe gewesen. Wenn er schließlich, nachdem er Carola Meier-Seethaler macht mit Ludwik Fleck deshalb darauf aufmerksam, dass »Denkstile« nie in einem wissenschaftssystematischen und rationalistischen Sinne »rein« sind, sondern in vorherrschenden »Denkstimmungen« aufgehen (vgl. 2007.1, S. 79).
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9. · »Ein apfelgrüner 2CV«
über viele Seiten jeden kommenden und weiterfahrenden Bus notiert und mitunter knappe Bemerkungen dazu abgegeben hat, überraschend aufschreibt: »Autobusse fahren vorbei. Ich verliere vollständig das Interesse an ihnen«, weist er nicht nur auf eine gewisse Übersättigung von der Regelmäßigkeit wiederkehrender Ereignisse hin. Insbesondere macht er nachspürbar, dass und wie die Wiederkehr des Ähnlichen die Wahrnehmung in ihrem Festsitzen in Protentionen gegenüber der tatsächlichen Variation von Geschehnissen abstumpft: »Zwangsvorstellung von apfelgrünen 2CVs.« Die scheinbar so profane Bemerkung impliziert die wissenschaftspsychologische und methodenkritische Frage nach den Einflüssen, die uns ein Interesse an etwas verlieren lassen. Die Aufmerksamkeit gegenüber Dingen und Prozessen der Forschung resultiert nicht allein aus der Logik der Sache und deren Bedeutung in übergeordneten Systemen. Dass sie durch Motive zumindest mitgeprägt wird, die mit der Ästhetik des Forschungsprozesses, mit erwarteten und erwünschten Befunden zu tun haben, kommt in der folgenden Anmerkung zur Sprache: »Warum die Busse zählen? Sicher weil sie wiedererkennbar und regelmäßig sind: Sie unterteilen die Zeit, sie rhythmisieren die Hintergrundgeräusche; im Zweifelsfall sind diese vorhersehbar.« Auch die Not der Interpretation, die im Fluss des alltäglichen Lebens durch das automatische Einspringen von Erfahrungswerten (taken for granted world) gleichsam ent-sorgt wird, karikiert er in der Pointierung einer mehrdeutigen Beobachtung: »Ein kleines Mädchen, flankiert von seinen Eltern (oder seinen Kidnappern), weint.« Interpretation ist ein Wagnis. Auch eigene (rare) Deutungen des Platzgeschehens bietet er deshalb auf subtile Weise dem Zweifel an. Wenn er mitunter nicht eine anonyme alte Frau oder irgendeinen hinkenden Mann über den Platz gehen sieht, sondern zum Beispiel Paul Virilio, über den er zu wissen vorgibt, er wolle »Gatsby den Widerlichen am Bonaparte anschauen«, bleibt im Dunkeln, ob es tatsächlich Virilio gewesen ist. In der Markierung einer namentlich ansprechbaren Person in den Heerscharen anonymer Menschen verleiht er dem Wunsch Ausdruck, im Hin- und Hergezogensein zwischen Distanz und Nähe einen persönlichen Orientierungspunkt zu setzen. Persönlich dürfte die tatsächliche Identifizierung Virilios schon deshalb gewesen sein, weil er mit ihm (und Jean Duvignaud) die Zeitschrift Cause commune herausgab. Methodologisch gewendet, scheint die Frage auf, unter welchen Bedingungen wir Personen, die im Forschungsfeld auftauchen, einen Namen ge172 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Versuch einen Platz zu erfassen – ein Selbstversuch?
ben und uns damit aus der Disziplin zur Distanz befreien. Dasselbe gälte für eine nicht der Logik der Sache geschuldete Aufwertung einer Einzelheit zu einer Besonderheit. An die Stelle der zu Beginn seiner Aufzeichnungen schier endlos notierten Ströme von Linienbussen treten am Ende Citroen-Modelle. Auch sie sind Momente einer Kette ähnlicher Ereignisse, die – wie zuvor die Busse – einer Metamorphose der Aufmerksamkeit unterliegen. Zunächst finden sie eine ihr Auftauchen und Verschwinden würdigende Beachtung. Dann werden sie plötzlich als Medien der Anästhesie zu Undingen. Wenn immer wieder (apfelgrüne) 2CVs gesehen werden, verfängt sich die Offenheit des Blicks in einem fixen Raster von Erwartungen. Auch dahinter verbirgt sich letztlich aber wieder nur eine Fußnote zur Methode der Beobachtung wie zur Wissenschaft als Methode schlechthin: Was sieht man, wenn immer nur Ähnliches allein mit geringen Variationen zur Erscheinung kommt und sich ein Sog aufbaut, der alles in sich hineinzieht, was sich in vorausschießende – jede unvoreingenommene Interpretation vereitelnde – Seherwartung einfügen lässt? Wenn die Beobachtungen gegen Ende des Büchleins wieder denen seines Anfangs ähnlich werden, wird abermals die Perspektivität des Beobachtens als Akt eines stets nur in Grenzen gelingenden Ausschöpfens von Wirklichkeit fassbar: »Vorbeifahrt eines 63ers […] Vorbeifahrt eines 63ers […] Vorbeifahrt eines 63ers […] Vorbeifahrt eines 96ers […] Vorbeifahrt eines 63er-Busses […] Vorbeifahrt eines 96ers«. Die Dinge und Eindrücke wiederholen sich, und die Methode, einen Platz zu erfassen, verfängt sich in sich selbst. Im Verlauf des gesamten Textes wurde sie immer wieder unterströmt von selbstreferentiellen Störungen des reibungslosen Notierens scheinbar objektiv benennbarer Ereignisse in einem übersichtlichen Raum. An seinem Ende stürzt schließlich der gesamte Versuch in die Fragwürdigkeit dessen, was er hervorgebracht hat.
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10. Stadt und Gefühl Zur postmodernen Ästhetisierung der Städte
Seit den 1990er Jahren werden die Metropolen (zunächst) der westlichen Welt einem umfassenden ästhetischen Lifting unterzogen. Die Kulturpolitik der Städte (aber auch die Repräsentationspolitik der Global Player) setzt nach dem Ende des Kalten Kriegs und mit der Beschleunigung der Globalisierung vermehrt auf die Erwirtschaftung symbolischer Gewinne. Die postmoderne Ästhetisierung der Städte baut dabei auf das Prinzip der Dissuasion 1. Nicht Argumente sollen den Zeitgeist bewegen, sondern Gesten der Bereicherung des städtischen Lebens. Ästhetisierte Fassaden, aufgehübschte Quartiere oder Designprodukte ohne Gebrauchswert repräsentieren Bedeutungen kulturellen, sozialen und ökonomischen Aufstiegs und sind mit entsprechenden Gefühlen verbunden. Die ästhetisch getrimmte Stadt soll im Medium der Faszination zugeneigte Aufmerksamkeit wecken und keine idiosynkratischen Empfindungen auslösen. Sie soll nicht die Kritik der sie konstituierenden Verhältnisse evozieren, sondern Gefühle des Gefallens und des Heimatlichen stiften. Der folgende Beitrag setzt sich mit der Frage auseinander, welcher Logik die vielen Arten ästhetisierender Inszenierungen der Städte folgen, mit welchen Mitteln die immersiven Szenen kommuniziert werden und wie sie letztlich auf der Seite der erlebenden Individuen an ihr Ziel gelangen. Mit der Thematisierung der Gefühle rückt das menschliche Erleben in den Mittelpunkt. Im Denken des Mainstreams der Sozialwissenschaften gelten Gefühle weithin als Undinge. Sie sind nicht unter die materiellen Dinge zu subsumieren, nicht unter die Symbole und auch nicht unter die Handlungen, stehen aber in einer unmittelbaren Beziehung zu Dingen, Symbolen und Handlungen. Gerade dann, wenn sogenannte Akteure räumliche Milieus verändern, werden sie zu Der Begriff der »Dissuasion« ist hier und im Folgenden im Sinne von Jean Baudrillard (1983) zu verstehen – als Geste der radikalen Verführung, welche den suggestiven Charakter eines Geschenks hat.
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Der postmoderne Glanz der Städte
wichtigen Stimmungs-Medien. Experten für die Aufladung von Situationen mit Gefühlen sind vor allem Architekten, Designer, Lichtkünstler und Landschaftsgärtner. Diese agieren oft ohne hoch differenziertes explizites Wissen, greifen vielmehr auf implizites Erfahrungswissen zurück. Schon deshalb ist die Frage nach der Ontologie und Wirkungsweise von Gefühlen (im und durch den Raum) ein Politikum, dies umso mehr, da sich Gefühle als tragende Medien der Kommunikation von Bedeutungen erweisen.
10.1 Der postmoderne Glanz der Städte Die in den europäischen Metropolen seit den 1990er Jahren (in den USA und Großbritannien rund 10 Jahre früher) einsetzende Ästhetisierungswelle hat das Bild der urbanen Nachkriegsmoderne nachhaltig verändert. Das ästhetizistische Engagement zur Aufwertung atmosphärischer Erlebnisqualitäten folgt einem Bündel multivalenter, vor allem ökonomischer und politischer Interessen, aber auch kulturellen Strömungen. Der Erneuerung ästhetischer Formen liegt in aller Regel kein Interesse zugrunde, das dezidiert in allen Einzelheiten ausgesagt werden könnte. Die Überschreibung von Plätzen oder öffentlichen wie privaten Gebäudefassaden folgt oft weniger minutiösen Plänen als einem autopoietischen Prozess der Veränderung, der sich mehr aus der Diffusität des Zeitgeistes speist als aus explizierten Programmen. Stets sind Kulturen (allzumal städtische) einem Wandel von Lebensstilen und der ihnen zugrundeliegenden Werte unterlegen. So wurden die bis in die 1970er Jahre in einem großen Teil der Gesellschaft westlicher Staaten herrschenden materialistischen Werte in den 1990er Jahren durch sogenannte »postmaterialistische Werte« 2 abgelöst bzw. um sie erweitert. Als postmaterialistisch galten unter anderem ethisch reflektierte Werte selbst- und vor allem umweltverantwortlicher Lebensformen. Die neuen postmaterialistischen Werte, die nie die ganze Gesellschaft erreichten, sollten sich schon in den 1990er Jahren in den postmodernen Strömungen eines wertbezogenen Relativismus weitgehend wieder verlieren. In der Situation der aufbrechenden neoliberalen Krise der Sozialstaaten gewannen – im Prinzip bis in die Gegenwart – ästhetische Qualitäten eines schönen Lebens immens 2
Vgl. Abramson / Ingelhart 1995.
175 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
10. · Stadt und Gefühl
an Bedeutung. Der neue Zeitgeist ist (im heimlichen Wissen um die prekäre Dauersituation struktureller Krisenanfälligkeit von Ökonomie und Gesellschaft) durch eine postkritische Grundhaltung gekennzeichnet. Freizeit- und erlebnisorientierte Ansprüche verbinden sich mit ästhetischen Erlebniserwartungen, die auch auf die privaten und öffentlichen Räume gerichtet werden. Darin kommt eine narzisstische Wende in der Selbstkonstitution des postmodernen Subjekts zum Ausdruck – eine sozialpsychologisch-kompensatorische Ent-sorgung der Individuen im Medium des Ästhetischen. Diesem gesellschaftlich induzierten Wandel der Selbst- und Weltwahrnehmung wohnte eine Tendenz zur Entpolitisierung inne, die lebensweltlicher Ausdruck der durch Lyotard dargelegten dilemmaartigen Strukturen des Widerstreits war und noch ist. 3 Zur kulturellen Beherrschung des inkommensurabel Erscheinenden erwies sich die Haltung der Offenheit (im Sinne von Indifferenz) als geeignet. Im Rückenwind ihrer Diffusion breitete sich lebenspraktisch eine oberflächenorientierte Kultur relativistischer Gleich-Wertigkeit aus, worin sich die von Georg Simmel im Geistesleben des Großstädters genannten Merkmale urbanen Lebens so weit verdichten, dass sie schließlich in Gestalt postmoderner Neutralisierung von Gefühlen der Verantwortung gegenüber anderen ein antiurbanes Moment im Urbanen offenbaren. Das Ästhetische erweist sich bis heute als Medium der Konzentration und Kompensation von Indifferenz. Es stärkt die Lust am (Selbst-) Erlebnis und bietet sich unter der Bedingung einer allgemeinen Ästhetisierung des Lebens als Medium der Distinktion an. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks stürzten nicht nur die letzten Säulen der Utopie eines gerechter (als im kapitalistischen Westen) geglaubten Gesellschaftsmodells in sich zusammen. Als Folge einer globalen Rekonfiguration der Märkte gerieten neben den Unternehmen auch die Kommunen unter einen verstärkten politischen und ökonomischen Konkurrenzdruck. Die globalisierungsbedingte Öffnung der Handelsschranken brachte neben Entfaltungsmöglichkeiten auch neue Wege und Perspektiven der Selbstzuschreibung von Identität mit sich. Zur Ausschöpfung – bis hin zur Übertreibung – des Möglichen boten sich unter anderem neue Bühnen ästhetizistischer Selbstinszenierung. Im Medium der Sinne und der Sinnlichkeit strebten Unternehmen wie öffentliche Institutionen (zunächst vor allem im 3
Vgl. Lyotard 1989.1.
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Der postmoderne Glanz der Städte
Westen) danach, kulturelle, ökonomische und politische Potenz zu demonstrieren. Exzentrische und darin affizierende Gesten des Bauens, Überschreibens und szenographischen Umprogrammierens drückten sich sowohl in Formen der (a) Präsentation wie solchen der (b) Repräsentation aus. Die Logik der Präsentation (a) ist semiotisch offen und lässt dem kulturellen Spiel von Assoziation, Collage und performativer Adaption weitgehend freien Lauf. Ihr Medium ist die Faszination des Erlebens. Am Effekt einer präsentativen Veredelungspolitik der Städte partizipieren die Unternehmen in ähnlicher Weise wie öffentliche und staatliche Institutionen (Standort- und Milieuqualitäten). Der unter der Kondition der Postmoderne bereits eingeleitete Entpolitisierungsprozess konnte sich nun noch einmal beschleunigen. Die aufgehübschte Stadt stiftete mit ihren Atmosphären der Gefälligkeit Identität 4, die von personaler Sinnsuche weitgehend entkoppelt war. Unter den Vorzeichen einer postkritischen Subjektkonstitution differenzierte sich ein Apparat kulturindustriell formatierter Empfindungsregime. Der lebensweltliche Verlust an Systemübersicht wie an Hoffnung auf die Durchsetzungsfähigkeit lokaler und demokratisch legitimierter Institutionen der Macht wird bis in die Gegenwart (subkulturell hoch differenziert) in einer Affektlogik 5 des schönen Scheins erträglich gemacht – durch die Präsentation ästhetizistisch arrangierter Kompensationswelten. Die Repräsentation (b) folgt einer vergleichsweise linearen Logik. Sie kommuniziert Deutungsangebote, die je nach ihrer systemischen Funktion ökonomisch, politisch und/oder kulturell programmiert sind. Die Vorzeigebauwerke der Konzerne kommunizieren einen Überschuss an Bedeutung und spielen mit dem Zauber, indem sie Glaubwürdigkeit, Seriösität, Macht und Vertrauenswürdigkeit suggerieren. In strukturell ähnlicher Weise bedienen sich die großen staatlichen Institutionen in ihrer (landschafts-) architektonischen Selbstinszenierung der Mittel radikaler Verführung. Während das ästhetizistische Interesse der Konzerne ökonomisch codiert ist, zielen öffentliche Institutionen auf gefühlsmäßig identifikationswürdige Unterwerfung unter die Autorität des souveränen Staates – nicht über politische Zwänge, sondern die dissuasive Wirkung der Faszination. Das ästhetisierte Bild der 4 5
Vgl. Müller / Dröge 2005, S. 101. Ciompi 1982.
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Stadt repräsentiert in der Gegenwart einer ökonomisierten Kultur wie einer kulturalisierten Ökonomie nicht zuletzt Lebensstile, deren entpolitisierender Gehalt in der (schönen) Form des Ästhetischen zum Ausdruck kommt. So vermitteln zum Beispiel Werbeflächen, die fassadenfüllend über Baustellen gespannt sind, nicht nur (Vor-) Bilder der Mode, angesagten Designs oder trendiger Lebensstile; implizit vermitteln sie auch eine Anästhesie des Schmutzigen und Provisorischen, das sie rein materiell verdecken. Die in ihrem reinen Glanz aseptisch erscheinende Stadt wird zum Standard einer ästhetisch gewordenen allgemeinen Wahrnehmungs- und Erlebniserwartung. Die physische Reinigung der Stadt spiegelt in einem ihrer Tiefeneffekte die postkritische Reinigung der Wahrnehmungsregime wider; Oberflächen- und Tiefenästhetisierung 6 stehen in einem komplexen Wechselwirkungsverhältnis. Deshalb geht die Wahrnehmung ästhetisierter Formen, Gestalten und Situationen der Repräsentation auch weder im visuellen Sehen noch im symbolischen Verstehen allein auf. Die »Wahrnehmungs- und Aneignungsweise der Wirklichkeit« 7 wurzelt tief in subjektiv einverleibten Beziehungsmustern, die das individuelle wie gesellschaftliche Leben in ihrem Verhältnis zu den Systemen von Ökonomie, Politik und Kultur regulieren. Die ästhetisch-suggestive Untermauerung des Wirklichen ist Ausdruck der Logik eines ästhetischen Dispositivs im Sinne von Foucault. 8 Die aktuellen Ästhetisierungsoffensiven kommunizieren verdeckte Arrangements nicht-sprachlicher (aber dennoch diskursiver) Kräfte der Macht und leisten als »dominante Tendenz der kulturellen Entwicklung in der Gegenwart« 9 einen Beitrag zur universellen Ästhetisierung gesellschaftlichen Lebens, der seine maximale Wirkung je nachhaltiger entfalten kann, desto subkutaner – diesseits der gesprochenen Worte und rationalen Handlungen – nicht der Verstand, sondern die Gefühle an-gesprochen werden. Faszination besonders ergreifender Art verdankt sich der Steigerung des Erlebens weltlicher Dinge (von Rathäusern, Firmenzentralen, Gerichtsgebäuden, Brücken etc.) ins Erhabene. Schon die Weltausstellungen zur Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert dienten in einem kulturellen Effekt der Kom6 7 8 9
Vgl. in diesem Sinn Welsch 1993. Müller / Dröge 2005, S. 100. Vgl. Foucault 1978. Müller / Dröge 2005, S. 95.
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Zum Verstehen ästhetischen Raumerlebens
munikation von Faszination durch das technisch Erhabene. Das Erhabene durchbricht die Grenze vom Rationalen ins Irrationale so wirkungsvoll, weil es intensive Gefühle weckt, deren Anziehung in einer situativ unauflösbaren Ambivalenz liegt – im Gefühl der Einheit des Schönen und Hässlichen oder der Faszination und Zurückschreckung. 10
10.2 Zum Verstehen ästhetischen Raumerlebens Das Erleben räumlicher Umgebungen vollzieht sich im Medium emotionaler Teilhabe. Erleben hebt sich als pathische Form gefühlsmäßigen Mitseins von der erkenntnisorientierten Einstellung ab, die durch emotionale Distanz gegenüber einem Erkenntnisgegenstand gekennzeichnet ist. Letztere verdankt sich einer rationalen Einstellung, die die affektive Verbindung zu einem Geschehensakt oder Gegebenen strukturierend, fokussierend, intentional und damit im Modus der Affektbeherrschung zurückdrängt. Das vom Mainstream der Sozialwissenschaften auch gegenwärtig noch geteilte Menschenbild steht aufgrund seiner handlungstheoretischen Zuspitzung des Menschen auf eine brain-machine dem Sachverhalt recht hilflos gegenüber, dass die Gefühle im menschlichen Leben nicht arbiträr sind, sondern eine richtungsgebende Rolle spielen. Der szientistisch als allein intelligibel imaginierte Mensch wird so auf eine gleichsam halbierte Existenz reduziert – auf die Vorstellung eines sich selbst gegenüber rechenschaftsfähigen Wesens. Diese kognitivistische Fiktion des Subjekts fungiert wissenschaftspsychologisch als mythische Idealisierung eines beherrschbar gedachten und in der Folge methodologisch beherrschbar gemachten Objekts szientistischen Denkens. Erst nach der paradigmatischen Abtrennung der Gefühle, Triebe und affektiven Impulse von der Vitalität einer Person eignet sich dieses konstruierte, artifizielle Subjekt für die Errichtung und Aufrechterhaltung der (narzisstischen) Illusion einer erkenntnistheoretisch beherrschbar geglaubten Welt. 11 Ich gehe deshalb davon aus, dass im Überspringen der Gefühle wie des (Raum-) Erlebens ein Bereich der Vergesellschaftung ausgeblendet Zum Erhabenen bei Kant und Burke vgl. Lyotard 1989.2. Die Isolierung des Menschen auf seine rationalistische Seinsweise ist Thema einer der Phänomenologie inhärenten Kulturkritik (vgl. dazu zum Beispiel Vorrede zu Schmitz Hö).
10 11
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wird, der für das Verstehen menschlichen Lebens von sozial- und systemintegrierender Bedeutung ist. Um diese methodologisch abgespaltene und verdrängte Seite menschlicher Existenz skizzenhaft zu erhellen, werde ich im Folgenden Perspektiven der Phänomenologie, deren wissenschaftstheoretischer Gegenstand (aus der Lebensphilosophie hervorgehend) in der Reflexion pathischer Situationen liegt, in wichtigen Grundlinien umreißen. Dabei werde ich mich vor allem auf alte Ansätze in der Philosophie, Psychologie und Psychiatrie beziehen, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der zivilisationshistorisch verdrängten leiblichen Existenz des Menschen widmeten. Innerhalb dieser lebensphilosophischen Sensibilisierung spielen vor allem Arbeiten von Karlfried Graf von Dürckheim, Erwin Straus, Ludwig Binswanger, Otto Friedrich Bollnow, Jürg Zutt und anderen eine Rolle. Von aktueller Bedeutung ist insbesondere die Phänomenologie von Hermann Schmitz. Damit kann es aber nicht getan sein, denn die paradigmatische Abisolierung menschlichen Erlebens aus dem wissenschaftlichen Produktionsprozess ist keine unbeabsichtigte (gleichsam unschuldige) Nebenfolge wissenschaftlichen Tuns. Zu eng ist die personale Beziehung zwischen den professionellen Rollen im System der Produktion offiziellen Wissens und der emotionalen und leiblichen Gewahrwerdung individuellen Lebens außerhalb der Zwänge und Versuchungen der Disziplin 12, als dass die Spaltung ohne System geschehen und aufrechterhalten werden könnte. Der entscheidende Punkt in der wissenschaftlichen Reflexion menschlichen (Raum-) Erlebens liegt deshalb in der wissenschaftspsychologischen Frage, was leiblich existierende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dazu bringt, eine so artifizielle Fiktion menschlicher Existenz zu suggerieren, die der eigenen, tagtäglich sich wiederholenden Lebenserfahrung von Grund auf widerspricht.
Hier ist ausdrücklich die männliche Form gewählt, weil die neueren Reflexionen zur methodologischen Ausblendung nicht-rationaler Seinsweisen des Menschen insbesondere von Philosophinnen, Phänomenologinnen, Psychologinnen etc. verfasst sind. Um die Jahrhundertwende und noch in den 1920er Jahren wurde dieser Sachverhalt dagegen vorwiegend von namhaften Geisteswissenschaftlern geführt.
12
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Zum Verstehen ästhetischen Raumerlebens
10.2.1 Der »gelebte Raum« Ästhetisierungen laden städtische Räume mit kulturell zirkulierenden Symbolen und ihnen komplementären spürbaren Gefühlsqualitäten auf. So wird ein Raum durch seine Verknüpfung mit Bedeutungen zu einem Ort vom Charakter einer Herumwirklichkeit (Dürckheim), der das intelligible und das leibliche Subjekt anspricht. Im Folgenden soll die gefühlsmäßige Erlebniswirkung im Mittelpunkt stehen. Aus der Perspektive aktuellen Erlebens wird eine Umgebung in einem leiblich-räumlichen Sinne als immaterielle Umhüllung empfunden. 13 Solche Vitalqualitäten (Dürckheim) des Raumes werden in der Philosophie (insbesondere der Phänomenologie) als Atmosphären angesprochen. Ihre Wahrnehmung vermittelt sich durch leibliche Kommunikation (Schmitz). Anstelle leiblicher Kommunikation sprach man um die Jahrhundertwende unter dem starken geisteswissenschaftlichen Einfluss großer Ästhetik-Theorien von Einfühlung. 14 Während der Begriff der Einfühlung die aktive Seite des Wahrnehmenden betont, geht der Begriff der leiblichen Kommunikation weiter, indem er dem dialogischen Charakter der Wahrnehmung zur Geltung verhilft. Danach sind auch die Partner der Kommunikation (zum Beispiel Dinge, räumliche Arrangements, Landschaften) insofern aktiv, als sie ihr Erscheinen fortlaufend verändern, so dass sich Atmosphären und die sie rahmenden Situationen mitunter kurzfristig verändern. So ist die spiegelverglaste Fassade eines postmodernen Wolkenkratzers nie ein und dieselbe Fassade. Ihr Gesicht verändert sich (auf der Objektseite des Erscheinens) schon durch den Lauf der Sonne, den Wechsel des Wetters, die Zu- oder Abschaltung der künstlichen Illumination etc., so dass die Gefühle des Wahrnehmenden in besonderer Weise berührt werden. Die Lebendigkeit des Wahrnehmungsgeschehens ist folglich nicht nur durch die Lebendigkeit einer Person geprägt, sondern ebenso durch die physiognomisch zum Ausdruck kommende Lebendigkeit der Dinge. Leibliche Kommunikation hat man sich nicht in einem einseitigen Sinne als Hinwendung von Aufmerksamkeit zu den Dingen vorzustellen. Leibliche Kommunikation ist dialogisch, als auch die Dinge aufVgl. Frers 2007. Maßgeblich waren seinerzeit besonders die Ästhetik-Theorien von Volkelt (1905, 1910, 1914), Lipps (1914 und 1920) und Worringer (1918).
13 14
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grund ihrer Physiognomik sich in bestimmter Weise zeigen und die sich ihnen hinwendende Wahrnehmung ansprechen. In solcher Art leiblicher Kommunikation konstituiert sich jener gelebte Raum, den Dürckheim als Herumwirklichkeit bezeichnete. Damit meinte er keinen relationalen Abstandsraum, sondern ein mit Erinnerungen, biographischen Assoziationen und situationsbezogenen Gefühlen besiedeltes Herum: »Immer war mir das Feld und der Wald und der Fels und die Gärten nur ein Raum, und du machst sie, Geliebte, zum Ort.« 15 Dieser Ort reicht in seinem Erleben »weit über die Funktion und das Gebiet der sinnlichen Wahrnehmung« 16 hinaus. Wenn Graf Dürckheim von »leibhaftiger Herumwirklichkeit« sprach, dann betonte er damit weniger ein er-lebtes, als ein ge-lebtes Verhältnis zum umgebenden, mit Gefühlen aufgeladenen Raum. Das gelebte Verhältnis zu einer Umgebung wird durch einen Prozess des persönlich situativen Hingezogen-Werdens in den Bann einer Umgebung oder des Abgestoßen-werdens von ihr gestimmt. Ein gelebter Raum »ist in seiner jeweils leibhaftigen und bedeutungsvollen Ganzheit ›gegenwärtig‹ in Gesamteinstellung, Haltung, Gerichtetheit und Zumutesein, man hat ihn im ›Innesein‹, hat ihn in den Gliedern und im Gefühl, in Leib und Herz […]« 17
Dürckheim betonte mit dem gelebten Raum schon den Situationscharakter der Wahrnehmung, in dem die Distanz zwischen dem Drinnen eines er-lebenden Individuums und dem Draußen erlebter Weltgegebenheiten aufgehoben war. Das leibliche Individuum ist im gelebten Raum in einem vitalistisch-existenziellen Sinne gleichsam drin. Es gibt in dieser Sicht nicht die Welt der Dinge auf der einen Seite und die Welt des eigenen Erlebens (der Dinge) auf der anderen Seite. Die Dinge werden durch ihren Anmutungscharakter, durch ihr ästhetisches Erscheinen und ihre atmosphärische Präsenz situativ zu etwas vom aktuellen Selbst. In dieser phänomenologischen Perspektive ist die Polizeisirene, die zur episodischen Klangkulisse einer jeden Stadt gehört, nicht als physikalisches Schallereignis von Belang, sondern als atmosphärischer Eindruck, der auf die persönliche Situation (einer
15 16 17
Vgl. Goethe 1937. Binswanger 1947, S. 16. Dürckheim 2005, S. 26.
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Stimmung) einwirken kann. Erwin Straus verdeutlicht den Situationscharakter der Wahrnehmung am Beispiel der (unheimlichen, trauten, wohltuenden und peinigenden) Stille 18. Das Verständnis dialogischen Erlebens räumlicher Milieus fügt sich nicht ins konstruktivistische Denken der modernen Sozialwissenschaften, das paradigmatisch auf Prozesse der Bewusstseinsbildung und Handlung abhebt. Ein Verständnis menschlicher Existenz 19 ist den Sozialwissenschaften weitgehend fremd. Für sie gibt es neben Dingen nur Eigenschaften, die diesen in einem gesellschaftlichen Prozess konstruierend beigegeben werden. Es wird sich zeigen, dass diese Perspektive eine ontologische Beschränkung impliziert, die selbst in der Analyse gesellschaftlicher Prozesse der planvollen Hervorbringung von Erlebnisqualitäten zu starken Verkürzungen führt. Die Vorstellung des gelebten Raums bedarf der Ergänzung durch die Vorstellung einer gelebten Zeit, denn es gibt keinen Raum diesseits der Zeit. Als Dürckheim seine Untersuchungen zum gelebten Raum veröffentlichte, erschien von Eugène Minkowski eine Studie zum Thema Le temps vécu (die gelebte Zeit) 20. Minkowskis Vorbemerkung zur Räumlichkeit des Erlebens ist der Dürckheims ähnlich. Auch er unterstreicht einen Raumbegriff, der sich dadurch vom euklidischen Raum unterscheidet, dass sich das Leben im Raum ausbreitet, »ohne deshalb eigentliche geometrische Ausdehnung zu haben«. Den gelebten Raum versteht er als irrationalen, a-mathematischen und a-geometrischen Raum, als »Ausdehnung des Ichs im Raum ohne Ortsveränderung«. So verstandene Ausdehnung hat keinen physikalischen, sondern gefühlsmäßigen Charakter und oszilliert zwischen den Polen leiblicher Enge und Weite. Minkowski entwickelt sein Verständnis vom gelebten Raum am Distanz-Phänomen. Über die Qualität von Distanz sagt er: »Sie will und kann eigentlich nicht überwunden werden, da sie mit uns geht, sie verbindet eher als daß sie trennt, sie wächst weder, noch nimmt sie ab mit der Entfernung der Dinge, sie hat keine Grenzen, sie hat mit einem Wort nichts Quantitatives.« 21
Gelebte Distanz entspricht in einer objektivierten Form der »Weite des Lebens«. Minkowski macht diese Weite an vitalen Äußerungen fest, 18 19 20 21
Vgl. Straus 1978, S. 89 sowie Guzzoni 2010. Vgl. Binswanger 1947, S. 102. Vgl. Minkowski 1933. Minkowski 1972 S. 236.
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die sich in einem Raum abspielen, den wir vor uns haben und der in gelebten Distanzen orientiert ist – in einer Weite, die sich als leibliches Gefühl konstituiert, ohne sie aus der Kraft der Vernunft zu machen. Dies ist aber auch eine Weite, die durch die mögliche Bewegung im tatsächlichen (physischen) Raum erst ermöglicht werden muss. Auch Rudolf zur Lippe wendet sich – auf dem Hintergrund der Lebensphilosophie – gegen die Spaltung von Raum und Zeit. Er illustriert das am Beispiel des Verweilens, einer Form der Wahrnehmung, die sich kontemplativ auf ihr Gegenüber einlässt. »Im Verweilen gewinnen wir die Aufmerksamkeit, die uns wahrnehmen lässt.« 22 In der Logik eines kognitivistisch-akteurszentrierten Menschenbildes mag solches Verweilen zwar als gelebte Zeit verstanden werden, nicht aber als genutzte Zeit, vielmehr als Null-Zeit, weil sie auf dem Hintergrund eines neurophysiologistischen Wahrnehmungsverständnisses ohne Reize auskommt und deshalb auch kein nervenelektrisches Rohmaterial empfängt, das durch Prozesse im Neocortex zu kognitiven Strukturen zusammengebaut werden könnte. Die verweilende Aufmerksamkeit erschließt sich ihr herumwirkliches Milieu (ähnlich wie die Anschauung) in einer pathischen Einlassung, die der Mimesis verwandt ist. Medium des Raumerlebens ist unter dem Aspekt des gelebten Raumes das Pathische, auf dessen Bedeutung Erwin Straus im Unterschied zum Gnostischen (begrifflich und rational distanzierendes Erkennen) aufmerksam gemacht hat (vgl. auch Kapitel 2). Straus versteht unter dem pathischen Moment der Wahrnehmung jene leibliche Kommunikation, in die wir uns »mit den Dingen auf Grund ihrer wechselnden sinnlichen Gegebenheitsweise« (mimetisch) einlassen. Dies sind nicht Eigenschaften der Dinge, die man mit Begriffen de-finieren könnte, sondern Weisen ihres situativen Erscheinens. Deshalb betrachtet er das Pathische auch als Dimension ursprünglichen Erlebens. »Es ist darum der begrifflichen Erkenntnis so schwer zugänglich, weil es selbst die unmittelbar-gegenwärtige, sinnlich-anschauliche, noch vorbegriffliche Kommunikation ist, die wir mit den Erscheinungen haben.« 23
22 23
Zur Lippe 2010. Straus 1960.1, S. 151.
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10.2.2 Der atmosphärische Raum 24 Zu den leiblich spürbaren Räumen mit Vitalqualität, die wir nicht analytisch erkennen, sondern ganzheitlich (»mit einem Schlage« 25) wahrnehmen, gehören die Atmosphären. Sie sind ubiquitär, es gibt keine menschliche Umgebung ohne Atmosphäre. Deshalb leben wir in einer gewissen Selbstverständlichkeit mit ihnen. Zwar reagiert man auf die spürbare Präsenz von Atmosphären; nur werden sie in aller Regel nicht sprachlich thematisiert. Man verhält sich in ihnen und zu ihnen, sucht sie, weil sie behagen, oder weicht ihnen aus, weil sie beengen oder bedrohen. Solche Atmosphären thematisiert Gernot Böhme (im Rückgriff auf Schmitz) am Beispiel der Dämmerung, der Musik, der Kirchenarchitektur usw. 26 Im Erleben der Stadt spielen sie eine zentrale Rolle. 27 Im städtischen Raum durchdringen und überlagern sich die Atmosphären. Auch Urbanität hat einen atmosphärischen Kern. Aber sie ist nicht Produkt materieller Stadt-Dinge und Stadteindrücke, wenn diese (wie der schöne Schein edler Hausfassaden, der Glanz nobler Kaufhäuser oder das ökonomisch Erhabene architektonischer Prachtbauten) auch als Katalysatoren der symbolischen und gefühlsmäßigen Herausbildung von Urbanität fungieren. So ist auch die ästhetisierte Stadt nur mediales Moment von Urbanität. Diese selbst spiegelt sich in der Heterogenität und Widersprüchlichkeit städtischer Lebensrhythmen wider. Gefühle der Urbanität werden zum einen durch persönliche Befindlichkeiten im Raum der Stadt gestimmt, zum anderen aber auch durch das situative Erscheinen von Dingen und Orten. StadtGefühle wirken auf das Zustandekommen von Urbanität ein. Aufgrund ihrer symbolischen und gefühlsmäßigen Komplexität können über Urbanität keine Aussagen getroffen werden wie über Verkehrsströme oder die Art der Bebauung im Zentrum einer Metropole. Urbanität ist nicht rationalisierbar. Das mag ein Grund sein für die kontinuierliche Debatte um ihr Wesen. Atmosphären sind räumlich ausgedehnte Gefühle, und diese sind nach Hermann Schmitz 28 »nicht private Zustände seelischer InnenwelVgl. auch Kapitel 12 bis 16. Schmitz LRG, S. 33. 26 Vgl. zum Beispiel Böhme 1998.1. 27 Vgl. Hasse 2012.1. 28 In der Skizzierung eines Atmosphären-Begriffs stütze ich mich im großen und ganzen auf Hermann Schmitz, dessen Phänomenologie große begriffliche Differenziertheit 24 25
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ten, sondern räumlich ausgedehnte Atmosphären« 29, in deren Bann man in leiblichem Spüren gerät. Der Ort einer Atmosphäre ist in einem Dort, das gefühlsmäßig ergreifende Kraft entfaltet. Dieses Dort einer Atmosphäre wirft die Frage nach dem Hier des Wahrnehmenden auf. Schon die Frage nach dem Wo des Blickes verunsichert die scheinbar so selbstverständliche Verortung des Sehenden in einem Hier und des Gesehenen in einem Dort. So merkt Jürg Zutt an: Ich bin »auch dort«, wo mein Blick ruht. »Daß ich dort, draußen, bei den erblickten Dingen bin, ist der Grund, warum ich nicht erlebe, aus meinem dunklen Leib hinauszuschauen, wie ein Leuchtturmwärter, sondern in einem allseits offenen Raum zu sein, dort, wo mein Blick ruht, wo ich eben auch bin.« 30
Was sich schon für den Blick in dieser Weise sagen lässt, gilt mit Nachdruck für das Wahrnehmen von Atmosphären, die die euklidisch geprägte Dichotomie eines Hier und räumlich davon getrennten Dort aufhebt. Weil man Atmosphären nicht aus rationalistischer Distanz, sondern nur in der (pathischen) Teilhabe als etwas »am eigenen Leibe, aber nicht als etwas vom eigenen Leib« 31 wahrnehmen kann, wäre es auch völlig sinnlos, Atmosphären als Ausdruck der Körperlichkeit des Menschen zu verstehen. Atmosphären vermitteln sich über Sprache, Geste, Mimik, Stimmung und andere Ausdrucksformen. Allen ist der Umstand gemeinsam, dass sie Situationen begründen. Nicht jede Atmosphäre greift aber in das individuelle Befinden ein. Man kann sie auch aus emotionaler Distanz wahrnehmen. Sie bleibt dann in gewisser Weise äußerlich und springt nicht in das eigene affektiv-leibliche Befinden über; sie ergreift nicht, sondern bleibt eine Situation, die man (kognitiv) im Griff haben und rational begreifen kann. Deshalb unterscheidet Schmitz zwischen einem »Fühlen als Wahrnehmen des Gefühls als einer Atmosphäre und Fühlen als affektives Betroffensein davon«. 32 Er macht so einen Unterschied zwischen einem objektiven und in der Analyse menschlicher Gefühle erreicht hat und den Vorteil für sich in Anspruch nehmen kann, ontologische Fragen über Gefühle erkenntnistheoretisch systematisch eingebettet zu haben (vgl. Schmitz Syst 1964 ff.). 29 Schmitz Gef, S. 33. 30 Zutt 1953, S. 348. 31 Schmitz Bd. III/5, S. 118. 32 Schmitz Gef, S. 48.
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einem subjektiven Charakter von Atmosphären. Subjektiv ist für Schmitz eine (atmosphärische) Situation, wenn sie nur in der Ersten Person ausgesagt werden kann, objektiv, wenn jeder sie aussagen kann. 33 »Objektivität« gibt es bei Atmosphären aber nur in einem »präobjektiven« 34 Sinne, weil Atmosphären aufgrund ihres ontologischen Charakters keine Objekte sind – in Atmosphären kann man hineingeraten »wie in das Wetter« 35. Wenn eine Atmosphäre Einlass in das eigene befindliche Mitsein findet, gewinnt sie Macht über Stimmungen (vgl. auch Kapitel 12). Die Nähe zwischen Atmosphären und Stimmungen verdient insbesondere in der kulturwissenschaftlichen Stadtforschung Beachtung 36, weil jede (zum Beispiel kulturindustrielle) Inszenierung städtischer Atmosphären letztlich auf die stimmungsmäßige Affizierung von Individuen abzielt, oft um diese zu einem bestimmten Tun zu bewegen. Dieses hat als Folge seiner affektiven Bewirkung in aller Regel auch nicht den Charakter einer Handlung, sondern ist über Gefühle oft unbewusst vermittelt. Auch die durch städtisches Leben entstehende Urbanität entfaltet ihre soziale, politische und kulturelle Wirkung in der Stadtgesellschaft ja erst, wenn sie in die Befindlichkeit der Stadtbewohner eingesickert ist, also qua Einverleibung den individuellen wie gemeinsamen Stimmungsgrund des Städters getönt hat. Zu einem Gefühl kann ein Individuum aber auch Distanz durchs (kognitive) Denken herstellen. Voraussetzung ist individuell verfügbares Wissen zur Aussage von Gefühlen. Mit der Möglichkeit der Reflexion der eigenen Betroffenheit von einem atmosphärischen Gefühl verbindet sich die Option der Kritik. Erst wenn Gefühle benannt worden sind, können sie ins analytische Fadenkreuz der Kritik genommen werden. Deshalb bleibt jede zeitgemäße Stadtforschung auch so lange hinter ihren Möglichkeiten der Ent-deckung systemischer Verwicklungen von Subjekten zurück, wie sie so tut, als meistere das Individuum sein Leben als ein rational über sich verfügender Akteur. Dies umso mehr, als Gefühle, die im städtischen Leben kulturelle Indikatoren sind, nie bei sich bleiben, sondern (unter anderem auf dem Wege der Synäs-
33 34 35 36
Ebd., S. 51. Schmitz Bd. III/2, S. 103. Ebd., S. 134. Vgl. ausführlich Hasse 2006.1 sowie 2008.2.
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thesien) mit symbolischen Bedeutungen verschmelzen. Zur Bedeutung gehört ein Gefühl und zum Gefühl eine Bedeutung. Wie sich das Leben in den Städten als Folge technologischer, kultureller und ökonomischer Innovationen verändert, so auch durch die damit einhergehenden Atmosphären. Während die zum Beispiel von Walter Benjamin in seinem Passagenwerk 37 be- und umschriebenen Atmosphären noch auf dem schweren Boden einer lokalen und an den Dingen haftenden Kultur gediehen, zeichnen sich die Atmosphären globalisierter Lebensweisen in den Metropolen zunehmend durch Gegenstandslosigkeit aus. Deshalb spricht Michel Serres von einem Übergang der Welt des Atlas in eine Welt des Hermes, in der unser Werk dem der Engel – im Sinne von Boten – gleicht. 38 In der Tat intensivieren sich mit dem Vorrücken der sogenannten Informationsgesellschaft, Wissensgesellschaft, Dienstleitungsgesellschaft etc. von den Sozialwissenschaften oft übersehene immersive Kräfte, die geradewegs dazu geschaffen sind, um auf die Gefühle der Menschen einzuwirken. Indem der öffentliche Raum zunehmend hinter der ubiquitären Präsenz der Massenmedien verschwindet39, wird er zugleich frei für die Zirkulation postpolitischer Suggestionen schönen Lebens, die an Gefühle der Einstimmung in ein widerstands- und widerspruchsloses Treiben in den modischen Strömungen kulturindustrieller Verheißungen appellieren. Um die hier virulenten immersiven Kräfte verstehen zu können, die sich in ihrer Wirkung der leiblichen Kommunikation von Bedeutung durch Atmosphären bedienen, müssen jene immateriellen Medien der Kommunikation, wozu auch Atmosphären gehören, in ontologischer Hinsicht von den Dingen unterschieden werden. Hermann Schmitz hat mit der Entdeckung der Halbdinge eine Klasse von Weltgegebenheiten in einer ihnen eigenen Wirkungsweise offengelegt. Halbdinge vermitteln sich durch Eigenschaften, die doch mehr sind als pure Eigenschaften. »Sie unterscheiden sich von Dingen auf zwei Weisen: dadurch, daß sie verschwinden und wiederkommen, ohne daß es Sinn hat, zu fragen, wo sie in der Zwischenzeit gewesen sind, und dadurch, daß sie spürbar wirken und betrof-
37 38 39
Vgl. Benjamin 1989. Vgl. Serres 2005. Vgl. Müller / Dröge 2005, S. 124.
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fen machen, ohne als Ursache hinter dem Einfluß zu stehen, den sie ausüben.« 40
Er nennt zum Beispiel Empfindungen, Geräusche, Gerüche, Tempi und Temperaturen; auch der Wind, das Licht, die Freude, die Faszination und die Bedrücktheit sind Halbdinge. Es ist evident, dass sich gerade unter der Bedingung sich exponentiell pluralisierender High-TechProdukte insbesondere großstädtische Lebensformen vermehrt durch jene Neuen Medien kulturell konstituieren und auf Formen und Rhythmen der Bildung von Identität einwirken. Es sind unter anderem jene postmodernen Ästhetisierungen, die in ihrem Halbding-Charakter den »›nüchterne[n] Wirklichkeitssinn‹ der Moderne« zerrinnen lassen. 41
10.2.3 Rationalität und Irrationalität im Stadtleben Mit dem Abschmelzen politischer Bedürfnisse der Selbstkonstitution und dem komplementären Voranschreiten einer entsorgten Lust am schönen Leben gewinnt das Ästhetische identitätsbildende Macht und kulturelle Bedeutung. 42 Die postmoderne Auflösung der Grenze zwischen Ästhetik und Ökonomie führt dazu, dass Gefühle als Ressource der Dissuasion in systemische Differenzierungsprozesse integriert werden können. In der Konsequenz stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Rationalität und Irrationalität. Allein die kulturindustrielle und ideologiestrategische Relevanz der Gefühle macht darauf aufmerksam, dass der rationalistisch dominierte Blick der Sozialwissenschaften der »Kolonisierung« urbaner Lebenswelten 43 nicht gerecht wird, »weil der Rationalismus keine angemessene Antwort ist, mit der Unordnung der Städte umzugehen, und er unsere emotionalen und unbewußten Reaktionen auf jedweden Aspekt städtischen Lebens ignoriert.« 44
Damit taucht die Frage nach der Virulenz des Irrationalen im (städtischen) Leben auf. 40 41 42 43 44
Schmitz NGrdl, S. 80. Zimmerli 1988, S. 17. Vgl. Müller / Dröge 2005, S. 103. Vgl. Habermas 1985. Kevin Robins, nach Müller / Dröge 2005, S. 170.
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Der Begriff des Irrationalen ist heute negativ konnotiert und steht für eine minderwertige Schwundstufe affektgetrübter lebensweltlicher Erkenntnis. Darin drückt sich im spätmodernen Leben die kulturelle Abwertung aller nicht-rationalen Dimensionen menschlichen Lebens aus. Richard Müller-Freienfels sah noch in den 1920er Jahren das Irrationale in einem produktiven Verhältnis zum Vermögen der Rationalität. Irrationalismus verstand er als das Bestreben, »außer dem rationalen Erkennen noch andere Erkenntnismittel zur Geltung zu bringen«. 45 Im alleinigen Fußen von Erkenntnis auf dem Rationalismus sah er eine einseitige philosophische Weltanschauung. So stellte er dem intellektuellen Erkennen das emotionale Erkennen zur Seite, welches sich einfühlender und schöpferischer Kräfte verdanke. 46 Beide Formen der Erkenntnis standen für ihn nicht in einem additiven, sondern gestuften Aufbau von Erkenntnisleistungen. »Die Ratio hat also im Grunde weiter gar keine Funktion, als irrational Entstandenes zu verallgemeinern, d. h. einen irrational begonnenen Prozeß mit Bedacht zu verlängern und zu erweitern.« 47
Jede richtungsweisende Erkenntnis sah er affektiv begründet: »Alle großen Erkenntnisse sind intuitiv, d. h. irrational konzipiert und nur nachträglich in rationale Form gegossen worden.« 48 So unvereinbar diese Position auch mit dem gegenwärtig anerkannten sozialwissenschaftlichen Menschenbild des handelnden Subjekts ist, weist sie eine große Nähe zur Phänomenologie und deren Kritik an einer konzeptionellen Reduzierung menschlicher Erkenntnis-Vermögen auf abstraktionistische Denk-Leistungen auf. Daraus ergeben sich weitreichende wissenschaftstheoretische Konsequenzen, die sich schon darin ankündigen, dass das Individuum nicht hinreichend mit den Erkenntnismitteln einer Handlungstheorie (zum Beispiel nach Anthony Giddens) zu beschreiben ist. Auch der Wahrnehmungsprozess lässt sich nicht auf eine geistige Informationsverarbeitung reduzieren 49, und schließlich wird die Leiblichkeit des Müller-Freienfels 1922, S. 2 Zur Philosophie des Irrationalismus von Richard MüllerFreienfels vgl. auch Kapitel 6. 46 Ebd., S. 186 f. 47 Müller-Freienfels 1921, S. 96. 48 Ebd. 49 »Perception is organized via anticipatory schemata while simultaneously mentally digesting old.« (Giddens 1984, S. 46). 45
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Zum Verstehen ästhetischen Raumerlebens
Menschen in der Fixierung auf seine Körperlichkeit (body) übergangen. 50 Vielmehr ist das seine Stadt leiblich lebende Individuum auf schwer aussagbare Weise in seinem räumlichen Milieu verwurzelt. Affektive Dispositionen konstituieren sich aber nicht nur, sie werden auch durch planvolles Handeln anderer hergestellt oder durch den Zeitgeist disponiert. Schließlich werden Gefühle nach Mario Erdheims Ethnopsychoanalyse dort unbewusst gemacht, wo sie die Stabilität einer Kultur bedrohen 51, denn: »Das gesellschaftlich Unbewusste ist gleichsam ein Behälter, der all die Wahrnehmungen, Phantasien, Triebimpulse aufnehmen muss, die das Individuum in Opposition zu den Interessen der Herrschaft bringen könnte.« 52
Michel Foucault hat sich in seiner Heterotopologie aus der Perspektive mythisch aufgeladener Räume diesem Thema gewidmet und gezeigt, wie die Vielfachcodierung von Orten gesellschaftlich herrschende Realität mit mythischen Illusionierungen überschreibt. Die Funktion anderer Räume geht darin auf, eine Wirklichkeit in der Suggestion realisierter Utopien zum Verschwinden zu bringen. 53 Die unter anderem über die Architektur anderer Räume kommunizierten Mythen vermitteln sich durch Bilder, Szenen, Praktiken, Dispositive – und das heißt immer zugleich durch Gefühle. Diese disponieren eine persönliche Situation als spezielles Verhältnis zum eigenen Selbst wie zu den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Die großstädtische Kultur ist – allzumal im Gewand der sie formatierenden Ökonomie – mit mythischen Bildern gesättigt, die Träger von Versprechen sind. Diese entfalten ihre dispositive Macht im »Außen der Sprache« 54. Über die Identifikation mit Symbolen gehen sie in Gefühle über, um schließlich systemisch tragende Bedeutungen in die Subjekte einzuverleiben. Drei Beispiele sollen knappe Konkretisierungen anbieten.
Vgl. ebd., S. 47. Vgl. Erdheim 1984, S. 221. 52 Erdheim 1988, S. 275. 53 Vgl. Foucault 2005. 54 Das Außen ist für Foucault ein Abgrund, der sich jenseits rationalistischer Denk- und Erfahrungsordnungen auftut – nicht als dunkle Spalte der Unvernunft, sondern als eine eigene Rationalität, in der die Vernunft Orientierung findet (vgl. Foucault 1987, S. 51). 50 51
191 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
10. · Stadt und Gefühl
10.3 Städtische Illumination – sentimentales Licht Schon in der christlichen Mythologie steht das Licht für die »theophore Metapher schlechthin« 55. Die Allegorie göttlichen Lichts kommuniziert religiöse Bedeutungen im Bereich der sinnlichen Wahrnehmung. Die großen Lichtevents postmoderner Kulturspektakel wollen die Stadt als eine säkulare Erlebniswelt schön und zum Gegenstand der Begeisterung machen. Der Mythos schönen Lebens wird so in die Erlebniswirklichkeit der sozialen Welt getragen. Atmosphären des Lichts entfalten immersive Macht über Stimmungen, indem sie den Stadtbewohner für ein Lebensgefühl disponieren, das sich in kulturelle Bedeutungen überträgt (vgl. auch Kapitel 15). Die alljährlich in den Städten christlicher Kulturen installierte Weihnachtsbeleuchtung strebt die Schaffung einer emotionalisierten Situation im (Konsum-) Raum der Stadt an. Die Arrangeure sentimentalen Lichts greifen in ihrer ästhetischen Arbeit oft aber nur auf ein großes Reservoir impliziten Wissens zurück. Die nachhaltige Wirkung einschlägiger Methoden verdankt sich synästhetischer Effekte, die nur bedingt bewusst intendiert und kalkuliert werden, sondern eine Folge der Anwendung von implizitem Erfahrungswissen sind. 56 Weihnachtliche Stimmungsbilder werden in der lebensweltlichen Rezeption nicht in einem semiotischen Sinne (Zug um Zug) decodiert, sondern situativ-ganzheitlich empfunden und in ihrer Gefühlswirkung und Bedeutung einverleibt. Voraussetzung einer stimmungsmäßigen Sentimentalisierung ist die affektive Bereitschaft, sich auf dem Hintergrund christlicher Mythologie auf eine weihnachtliche Stimmung überhaupt einzulassen. Dann kann die evozierte Stimmung aber einen so starken sentimentalen Sog erzeugen, dass selbst säkulare Szenen städtischer Beleuchtung in die weihnachtliche Atmosphäre hineingezogen werden, sofern sich die potentiell ergänzenden Szenen für eine stimmungslogische Integration anbieten. So fügt sich zum Beispiel die illuminierte Sandsteinfassade repräsentativer gründerzeitlicher Gebäude sinnlich und symbolisch in das weiche atmosphärische Bild einer Weihnachtsillumination ein, weil das in den rauen, gelblichen Sandstein einsinkende weiche Licht die Symbolik des Weihnachtlichen erThiel 2006, S. 233. Zur Lippe spricht in diesem Sinn von »Sinnenbewusstsein«, das sich durch einen hohen Grad an Inkorporiertheit von Wissen auszeichnet (vgl. 1987).
55 56
192 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Gärten: Emotionale Grünräume
gänzt. Sinnliche Wärme stimmt dann mit der christlich-mythologischen Bedeutung symbolischer Wärme überein. Aufgrund des ubiquitären (pathischen) Wissens um die Ästhetik weihnachtlicher Szenen entfalten die hergestellten Atmosphären aber auch dann gefühlssuggestive Macht, wenn die psychologische Ferne zur christlichen Mythologie affektive Distanz sichert. Selbst dann ist die Atmosphäre in ihrer Stimmungsoffensivität wahrnehmbar.
10.4 Gärten: Emotionale Grünräume Die planvolle Anlage städtischer Grünflächen wird in der Gegenwart pragmatisch legitimiert. Wenn Grüngürtel, Gärten und Parks auch eine Funktion im Mikroklima der Stadt haben mögen, so werden sie doch in erster Linie als Erholungs-, Entspannungs- und Erlebnisräume der Kontemplation erlebt. Damit erfüllen sie im sozialen und physischen Dichteraum der Stadt eine psychologische Entlastungsfunktion. Im Unterschied dazu waren die großen Landschaftsgärten des 18. und 19. Jahrhunderts (am Rande der Städte) immersive Symbol- und Gefühlsräume, die über gepflanzte Atmosphären Stimmungen evozieren, romantische Naturvorstellungen ausdrücken sollten und im symbolischen Rahmen der politischen Idee der Aufklärung standen. Die konzeptionellen Grundlagen eines emotionalisierenden Gartenbaus lieferte Christian Cay Laurenz Hirschfeld mit einer umfassenden Theorie der Gartenkunst (1779 bis 1785). Er gab minutiöse Gestaltungsanweisungen, in deren Umsetzung bestimmte Atmosphären erzeugt werden konnten, um Sinnlichkeit und Vernunft in Einklang zu bringen. 57 Ein spezieller Garten, der sich bis in die Gegenwart mit dem Anspruch einer Gefühlsübertragung verbindet und in der Physiognomie der europäischen Stadt ein buntes Bild unterschiedlichster Formen hinterlassen hat, ist der christliche Friedhof (vgl. auch Kapitel 19). Aufschlussreich ist der Wandel in der Gestaltung der Friedhöfe um die Wendezeit vom 18. zum 19. Jahrhundert, als eine Hinwendung zur Symbolik der Ästhetik des englischen Gartens (und damit zur Natur) erfolgte. Die romantische Naturwahrnehmung veränderte nicht nur die kognitive Vorstellung vom Tod, sondern auch das gefühlsmäßige Verhältnis zur Endlichkeit menschlichen Lebens. Der allgemeine Trend 57
Vgl. Niedermeyer 1996, S. 54.
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10. · Stadt und Gefühl
zur Naturidealisierung führte so auch über die räumliche und dingliche Gestaltung des Friedhofs zu einer symbolischen Besänftigung von Todesvorstellungen. Wenn Hirschfeld auch geringen Einfluss auf die Friedhofsarchitektur hatte und sich nur auf wenigen Seiten seines Werkes zu diesem Thema äußerte, so machen seine Anmerkungen doch sehr deutlich, wie die Programmierung des Friedhofsraumes durch numinose Atmosphären geschehen sollte und konnte. Die Begräbnisplätze, »die demnächst außer den Städten anzuweisen sind«, sollten eine »ruhige, einsame und ernste Gegend« sein. »Sie gehören zu der melancholischen Gattung von Gärten. Der Platz muß allerdings durch niedrige Mauern, oder Graben, oder Zaun eine Beschützung, aber keine ängstliche Einsperrung haben. […] Ein finsterer angränzender Tannenwald, ein dumpfigtes Gemurmel fallender Wasser in der Nähe, vermehrt die heilige Melancholie des Orts. Die Bäume müssen durch braunes und dunkles Laub die Trauer der Scenen ankündigen.« 58
Solche Anweisungen lassen sehr deutlich erkennen, wie Hirschfeld über die Inszenierung von Atmosphären synästhetische Potentiale leiblicher Kommunikation planmäßig für die Erzielung intendierter Stimmungseffekte einsetzte. Er wollte einen Gegensatz zur »geräuschvollen Bühne der Welt« schaffen, um der Bedeutung des Platzes gerecht zu werden: »Das Ganze muß ein großes, ernstes, düsteres und feyerliches Gemälde darstellen, das nichts Schauerhaftes, nichts Schreckliches hat, aber doch die Einbildungskraft erschüttert, und zugleich das Herz in eine Bewegung von mitleidigen, zärtlichen und sanftmelancholischen Gefühlen versetzt.« 59
10.5 Architektur und Mythos Wenn Architektur die Gemüter erregt, entzündet sich üblicherweise ein Streit um Passendes und Unpassendes, Schönes und Hässliches, Gekonntes und Missglücktes. Dem Streit um Formen, Regeln und Geschmacksurteile liegen aber Gefühle zugrunde, wenn diese auch nicht explizit den Verlauf einer Debatte bestimmen. Wie im Mut, so drückt
58 59
Hirschfeld 1973, S. 118. Ebd., S. 119.
194 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Architektur und Mythos
sich auch im Gemüt eine leibliche Regung aus. Deshalb verweist die Rede von der Erregung der Gemüter auch zu Recht auf die Gefühlsgrundlagen, aus deren bewertender Kraft ein Urteil erwächst. Weil große Architektur den Menschen nicht nur durch ihre pragmatische Funktion diente, sondern auch etwas (meist Bedeutendes) repräsentieren sollte, spricht sie an. Es wäre aber zu naiv gedacht, ansprechende Architektur allein an ihrem ästhetischen Gefallen zu messen. Ästhetisches Bauen dient der Begründung eines gelebten Verhältnisses zu Umgebungen. Architektur fungiert dann als bedeutungslenkende Weiche zwischen profanen Aufgabenerfüllungen auf der einen Seite und kulturellen Steuerungsfunktionen auf der anderen Seite. Ein Gefängnisbau dient in pragmatischer Hinsicht (als hermetische Architektur) der Einschließung und Disziplinierung von Delinquenten (vgl. auch Kapitel 3). Die Zweckerfüllung bedürfte auf diesem Niveau, zum Beispiel zur Errichtung einer unüberwindlichen Mauer, allein effizienter Baustoffe. Wenn die Eingangsgebäude von Gefängnissen – vor allem im 19. Jahrhundert – jedoch über das bautechnisch Nötige hinaus prächtige Bauformen aufwiesen und kulturelle Größe wie moralische Schwere darstellten, kommunizierte diese Ästhetik ein Gefühl der Würde, das der Autorität des Staates und der Macht seiner Institutionen gemäß war. Der Sinn der Strafverbüßung im Interesse der Gesellschaft wurde damit auf besonders eindrucksvolle Weise glaubwürdig gemacht. Der Staat hätte die Bedeutung seiner Gefängnisse für die Gesellschaft auch in Papieren verkünden können. Dann wäre er aber auf die Wirkung der Worte und die abstrakte Symbolisierung beschränkt gewesen. Besondere Nachhaltigkeit erreichen symbolische Appelle gerade dann, wenn sie über den Weg der Allegorisierung in die Gefühlsregime der Menschen eingeprägt werden. Viel verdeckter entfaltet sich dieser Bewirkungszusammenhang in scheinbar symbolfernen, funktionalistischen Profanbauten. So dienen Parkhäuser in den Zentren der Städte einer scheinbar geradezu selbstverständlichen Aufgabe: der Stapelung des ruhenden Verkehrs, der ohne seine temporäre räumliche Verdichtung an speziellen Orten den arbeitenden innerstädtischen Verkehr zum Ersticken brächte. Die Idee des Parkhauses folgt, in Europa seit Beginn des 20. Jahrhunderts (in den USA nach dem Ersten Weltkrieg), scheinbar allein diesem Zweck. Dass Parkhäuser neben ihrer funktionalen Seite aber auch ein ästhetisches Gesicht in der Innen- und Fassadengestaltung haben, scheint in der Sache zunächst überflüssig. Die ersten in Europa errichteten Park195 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
10. · Stadt und Gefühl
häuser waren Tempel der Inthronisierung des Automobils. 60 Sie dienten neben ihrer siloartigen Stapelfunktion auch der kulturellen Einordnung des Automobils, das als fortschrittsverheißendes Symbol einer neuen Zeit gefeiert wurde. Die ästhetische Gestalt der ersten Bauwerke dieses neuen Typs, die von renommierten Architekten entworfen wurden, produzierte somit auch keinen kulturellen Überschuss an Bedeutung, sondern ein symbolisches Bindeglied zwischen Kultur und Ökonomie. Die Ästhetik des Parkhauses durchlief historische Wandlungen, die kaum in einem ursächlichen Zusammenhang mit der Verbesserung der pragmatischen (bes. technischen) Funktion des Parkhauses gestanden haben. In erster Linie spiegelte sich im Bild der Architektur die je herrschende kulturelle Bedeutung des Automobils in der Gesellschaft wider. Stets fungierte die Ästhetik als Appell an die Gefühle – historisch pendelnd zwischen programmatischer Hässlichkeit (in der Zeit der ökologistischen Ächtung des Automobils) und postmodernem Glanz seiner postkritischen Fetischisierung (am Beginn des 21. Jahrhunderts). Seit der Steigerung des Verkehrsaufkommens ins Absurde kommt eine weitere ästhetische Funktion hinzu: die kontrafaktische Suggestion der Möglichkeit eines guten Lebens auf der verkehrstechnologischen Grundlage eines kulturell und politisch ungebremsten Individualverkehrs in den Städten. Besonders unter dieser Bedingung wird die dissuasive Funktion der Ästhetisierung am Bau für die vernetzten Belange der Automobilindustrie deutlich. Ästhetik und Ökonomie verschmelzen in der Postmoderne zu einem unaufhebbaren Funktionszusammenhang. Alle drei Beispiele machen auf die große Bedeutung von Gefühlen in der kulturellen Konstitution einer Gesellschaft aufmerksam. Gefühle, die der autopoietischen Optimierung von systemischem Sinn dienen, können die größte wirkungsspezifische Nachhaltigkeit dann entfalten, wenn sie als Folge der Unbewusstmachung (Erdheim) ihrer Gründe gegenüber individuellem wie kollektivem Verstehen abgeschirmt sind. Kulturindustrie appelliert nicht an die Rationalität, sondern die Gefühle.
60
Vgl. Hasse 2007.2.
196 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Wissenschaftspsychologische Konsequenzen
10.6 Wissenschaftspsychologische Konsequenzen Es konnte gezeigt werden, dass Gefühle nicht nur eine wichtige Rolle im Leben der Menschen spielen, sondern auch in systemischer Hinsicht (insbesondere Ökonomie, Kultur und Politik) höchst pragmatischen Interessen dienlich sind bzw. gemacht werden können. Ihre zivilisationshistorische Abdrängung in private, lebensweltliche, religiöse, psychosoziale bis therapeutische Sonderräume spiegelt sich in einer bestenfalls marginalen Integration in den paradigmatischen Aufbau der Sozialwissenschaften wider, die im deutschsprachigen Raum unter einem sehr starken Einfluss angelsächsischer Debatten stehen. Zuletzt sind die Gefühle in neurowissenschaftlicher Sicht in evaluative Kognitionen uminterpretiert worden. 61 Selbst die philosophische Emotionsforschung erliegt einer bedingten Rationalisierung der Gefühle, wenn deren grundsätzliche Gerichtetheit (auf ein Objekt) vorausgesetzt wird. 62 Damit ist den Stimmungen, die ja gerade durch thematische Diffusität und Ungerichtetheit gekennzeichnet sind, nicht gerecht zu werden. In wissenschaftstheoretischer Hinsicht ist die ontologische Absehung von der Leiblichkeit des Menschen zugunsten seiner physischen Körperlichkeit noch weitaus einschneidender, denn auf der so geschaffenen Verzerrungsgrundlage können leibliche Regungen – wie die Gefühle insgesamt – der Kategorie des Mentalen zugeschlagen und damit wissenschaftstheoretisch tendenziell annulliert werden. Rudolf zur Lippe sieht in der Euklidisierung des Raumes, die den leiblichen Gefühlsraum samt der Wirklichkeit der Atmosphären und Stimmungen vom Gegebenen abzieht, eine »Geographie der Gewalt« 63. Diese drückt sich in der rationalistischen Vereinseitigung des Menschen zum Akteur aus und damit in einem Menschenbild, in dessen Mitte ein Subjekt als stets Macht über das eigene Selbst habendes Wesen steht. Lyotard brandmarkte schon im »Widerstreit« 64 die Unterwerfung eines Anderen (i. S. des Inkommensurablen) unter den Druck der vereinheitlichenden Formel des Konsenses als illegitime Gewaltausübung. Im Konsens der scientific community aktualisiert sich jene Geographie der Gewalt, nach der im Namen der Macht der (wissen61 62 63 64
Vgl. Roth 1994. Vgl. Weber-Guskar 2009, S. 35 f. Vgl. zur Lippe 2010. Lyotard 1989.1.
197 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
10. · Stadt und Gefühl
schaftlichen) Disziplin der Widerstreit zwischen rationalem Denken und gefühlsmäßigem Empfinden zugunsten eines reinen Verstandesmenschen entschieden wird. Die Ausklammerung der menschlichen Gefühle und die damit einhergehende Extraktion des Irrationalen als das Andere des Rationalen bleiben aber nicht im Schonraum der Theorie, sondern disponieren methodologisch die Konzeption von Vorhaben der empirischen Forschung. So wird aus dem Menschen herausgefällt, was sich seiner forschungsmethodischen Erfassbarkeit nicht fügt. Die »Geometrisierung des Menschen« 65 ist wissenschaftskulturell routinisiert; deshalb ist sie wissenschaftspsychologisch brisant. Was schon in der bürgerlichen Gesellschaft des westlichen Kulturkreises auf angstvolle Abwehr stößt 66, stellt im gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Denken eine prekäre Idiosynkrasie dar: die Leiblichkeit des Menschen und die an sie gebundenen Gefühle, die auf dem Hintergrund rationalistischer Welt- und Menschenbilder das Irrationale schlechthin repräsentieren. Die Fixierung aufs Kognitive lässt selbst Wissenschaftler (und Wissenschaftlerinnen) übersehen, dass Gefühle noch im Zentrum der wissenschaftlichen Forschung virulent sind; besonders in den (stummen) Übereinkünften, die das soziale Band der sogenannten scientific communities flechten. Die diskursive Einstimmung auf ein Set gültig gesprochener Theorien drückt sich in gemeinsamen Denkstilen aus. Carola Meier-Seethaler macht mit Ludwik Fleck deshalb darauf aufmerksam, dass »Denkstile« nie in einem wissenschaftssystematischen und rationalistischen Sinne »rein« sind, sondern in vorherrschenden »Denkstimmungen« aufgehen. 67 Schon die Übereinstimmung in theoretischen Grundauffassungen hat eine affektive Dimension. Was kognitive Zustimmung findet, wird auf dem Boden emotionaler Zustimmung zum Maß des Denkbaren. Erst dann verbürgt ein Denkstil auch die richtige Ausrichtung von Wissenschaft. Der versteckt emotionale Charakter wissenschaftlicher Diskurse treibt daher in besonders nachhaltiger Weise auch die Artikulation wissenschaftlicher Kritik an. Schon der Wille zur Kritik, »der mit einer Stimmung, einer Leidenschaft, einem Gefühl, mit einer Moral oder Ethik
65 66 67
Zur Lippe 2010. Vgl. zur Lippe 1996, S. 101. Meier-Seethaler 2007.1, S. 79.
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Wissenschaftspsychologische Konsequenzen
der Kritik verbunden ist« 68, geht jeder noch so rationalen Aussage voraus. Wenn der norwegische Philosoph Arne Næss seinen »Widerwillen bei der Art von Zuweisung, die den Intellektuellen keinen Raum für Gefühle zugesteht« 69, als Grund für seine lebensphilosophische Forschungen zum Zusammenhang von Gefühl und Ästhetik angibt, dann platziert er sich in seiner Kritik gerade deshalb auch nicht außerhalb der Wissenschaft. Er unterstreicht vielmehr die Virulenz jener Erkenntniskräfte, die vom herrschenden Zeitgeist sogenannter communities für außerwissenschaftlich erklärt worden sind, den Prozess der kreativen Initiierung wie des produktiven Fortgangs des Forschungsprozesses aber gerade vermitteln. Der Umstand des Wechselwirkungsverhältnisses zwischen Affekten und Kognitionen kann aber schon deshalb keine Bedrohung für eine einvernehmlich betriebene Wissenschaft darstellen, weil der Zusammenhang von Gefühl und Intellekt in anthropologischer Hinsicht als unaufhebbar angesehen werden muss. Erst auf dem Hintergrund szientistisch überhöhter Reinheits-Ansprüche an den Rationalitätsgrad wissenschaftlichen Denkens wird die Überlagerung von Kognitionen durch Affekte als inakzeptable Verunreinigung bewertet und empfunden. Eine gemeinschaftlich geteilte Denkstimmung schafft so den gefühlsmäßigen Rahmen für eine »Affektlogik« 70 der Verteidigung, deren aufgebotene Argumente vom »Denkkollektiv« 71 in ein kognitives Gewand gekleidet werden. Im »reinen« Rationalitätsanspruch sieht Hilge Landweer daher auch die Gefahr einer »kollektiven Selbsttäuschung«.72 Meier-Seethaler spricht in diesem Sinne die Gefahr des Irrationalismus im Zentrum jener Denkkulturen an, die sich betont rationalistisch präsentieren und ihre eigene emotionale Teilhabe am Prozess eigenen Forschens verschweigen oder gar leugnen. »Auf der kollektiven Ebene heißt dies, dass eine Gesellschaft, die wenig Wert auf eine bewusste Gefühlskultur legt, für irrationale Unterströmungen besonders anfällig ist.« 73 Dabei sieht sie Irrationalität im Bereich des Unreflektierten und unbewusst Übernommenen (von lebensweltlichen
68 69 70 71 72 73
Demirovic 2008, S. 10. Næss 2009, S. 24. Ciompi 1982. Meier-Seethaler 2007.2, S. 37. Landweer 2007, S. 65. Meier-Seethaler 2007.2, S. 37.
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10. · Stadt und Gefühl
Meinungen bis wissenschaftlichen Theorien). 74 Die affektive Unbewusstmachung durch Verdrängung des Affektiven aus dem wissenschaftlichen Produktionsprozess wird über die Sozialisation des wissenschaftlichen Nachwuchses u. a. dadurch tradiert, dass schon Studierende dazu angehalten werden, in wissenschaftlichen Hausarbeiten wie der wissenschaftlichen Rede (Referate etc.) konsequent auf den Gebrauch der Ersten Person zu verzichten. Was in der Pädagogik mit den Begriffen des heimlichen Lehrplans und der schwarzen Pädagogik ins Fadenkreuz bildungsphilosophischer Kritik gerät, bestimmt in anverwandelter Form auch den Lauf der Dinge im sozialen System der Wissenschaft. Letztlich folgenreich wird solch schwarze Sozialisation in der blinden Anpassung an angesagte Theorien, die so zu Dogmen werden. Damit kommt eine kontraproduktive Seite des Irrationalismus in der Wissenschaft zum Ausdruck. In psychologischer Sicht illustrierte schon Willy Hellpach den irreduziblen Charakter der irrationalen Untermauerung wissenschaftlichen Forschens im Allgemeinen. Dieser Umstand sei schon der anthropologisch begrenzten Fähigkeit des Menschen geschuldet, nicht von allem absehen zu können, was ihm widerfahre und bedeutend sei. Es liege im »Wesen der Individuation, dass sie rationaler Generalisation nur begrenzt und nicht in Anwendung ihres Wesentlichen zugänglich ist […] auch das Wahrnehmen löst sich nur unvollkommen vom Erleben, vom Wünschen, von der Sehnsucht; ohne Ergebniswunschbilder gäbe es überhaupt keine Forschungsleidenschaft, und ohne sie keine wissenschaftliche Erkenntnis.« 75
Damit hebt er eine produktive Seite des Irrationalismus hervor. Deshalb bezeichnet er die Zündung neuer (nicht nur bahnbrechender) Ideen durch außerrationale Impulse als irrationale Ursprungssituation. Weil ein irrationaler Impuls im Wissenschaftssystem planmäßig aber der Rationalisierung zugänglich gemacht wird, sei Wissenschaft gegen andauernden Irrationalismus gefeit. Eine psychologisch andere Rolle spiele dagegen die irrationale Inhaltsbeschaffenheit, »die bis zum Widersinn« 76 gehen könne. Eine solche liegt auch der systematischen Absehung von den menschlichen Gefühlen in den Sozialwissenschaften zugrunde. Schon das Wissen um die eigene Lebenswirklichkeit steht in einem kategorialen Wider74 75 76
Ebd. Ebd., S. 53. Hellpach 1937, S. 21.
200 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Wissenschaftspsychologische Konsequenzen
spruch zur szientistischen Abstraktionspraxis im wissenschaftlichen Handeln, das ja vom selben Individuum praktiziert wird, das sich zum Bespiel im Schmerz leiblich erfährt. Die Vereitelung der Thematisierung dieses strukturellen Widerspruchs hat systemimmanente Gründe. Die Funktion einer nicht-verunreinigten rationalistischen Kommunikation wissenschaftlichen Wissens wird so in den Mythos gekleidet und damit Wissenschaft in eine Sonderwelt ausgeräumt. Der Hinweis Hellpachs auf die irrationale Inhaltsbeschaffenheit von Aussagen berührt eine Achillesferse wissenschaftlicher Identität, die der Illusion hingegeben ist, »daß es in der Wissenschaft nur auf ein Bewußt-machen der Wirklichkeit ankommt, statt – wie es in der Tat ist – auf eine ganzheitliche Stellungnahme unseres Ich zur Wirklichkeit.« 77
Die affektiven Unterströmungen der Rationalität wissenschaftlichen Arbeitens sind auch auf der Inhaltsebene systemisch bedingt, generiert sie sich doch autopoietisch im Prozess wissenschaftlichen Arbeitens. Schon die Fixierung der Aufmerksamkeit auf eine oder wenige unter vielen (interdisziplinär) verfügbaren Theorien bringt eine affektive Orientierung wissenschaftlichen Handelns zur Geltung. Diskursive Machtpraktiken, die protorational kommuniziert werden, steuern das Denken nach Maßgabe solcher Theorien, die qua (emotionaler) Identifikation geradezu libidinös besetzt sind. Zwar ist es auch die einer Sache geschuldete Argumentation, die den Zusammenhang und Zusammenhalt einer Gruppe von WissenschaftlerInnen vermittelt. Aber es ist doch nicht nur die Rationalität des Arguments, wodurch die Gemeinschaft entsteht, sondern das Gefühl der Zusammengehörigkeit durch gemeinschaftlich geteilte Welt- und Menschenbilder. Der affektive Kern der Gemeinschaft bringt letztlich auch jene soziale Billigung hervor, die die systematische Absehung von der Banalität der Gefühle im täglichen Leben und damit von einer vitalen Dimension menschlicher Existenz goutiert.
77
Müller-Freienfels 1936, S. 72 (Hervorhebung im Original).
201 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
11. Atmosphären der Stadt Die Stadt als Gefühlsraum
Städte sind Räume pluraler Intensitäten. Ihr physischer Raum präsentiert sich in einer Dichte, in der die Bauten in gedrängter Ordnung und Unordnung neben-, in-, mit- und übereinander stehen. Im sozialen Raum berühren und überlagern sich die Lebensformen, stoßen sich ab und treten in einen autopoietischen Austausch. Im ökonomischen Raum entfaltet die Stadt Rhythmen der Werttransformation und -konsolidierung. In einer Bankenmetropole folgen all diese Bewegungen einem anderen Takt als in einem Behördenzentrum oder einem Standort der Schwerindustrie. Wenn sich bestimmte Großstadttypen auch nach ähnlichen Wachstumsmustern entwickeln, so entstehen und wandeln sich Städte doch, gleich einer Biografie, im Verlauf ihrer besonderen (individuellen) Geschichte. Die jeder Stadt eigene Authentizität kann sich nur dann schon in einem ersten Eindruck atmosphärisch zeigen, wenn die Essenz des Authentischen ausdrucksstark genug ist, um sich der Wahrnehmung ohne suchende Anstrengung der Aufmerksamkeit mitzuteilen. Da diese atmosphärische Präsenz in der Wahrnehmung aber nie an allen Orten der Stadt zugleich und in gleicher Intensität lebendig ist, bleibt die Atmosphäre der ganzen Stadt diffuser als die räumlich begrenzter Orte. Nur im Sinne eines flimmernden Bildes lässt sich zum Beispiel in Hamburg eine maritime Atmosphäre ausmachen, in manchen Städten des Ruhrgebiets eine beklemmend kleinbürgerliche und in Berlin eine turbulent dynamische. In der Stadtwerbung werden solche luftigen Erlebnisqualitäten gerade dann beschworen, wenn sie sich für die idealisierende Klischeebildung anbieten. Konkret lokalisierbar ist eine Atmosphäre insbesondere an einem überschaubaren Ort. Der spürbare Ausdruck ihrer Wirklichkeit erwächst aus einer situativen Synthese all dessen, was in einer Gegend zur Erscheinung kommt: die Dinge an ihren Orten, die Temperatur der Luft, das Wehen des Windes, das natürliche oder künstliche Licht, vor allem aber die Formen der Präsenz von Menschen. Gernot Böhme ver202 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Atmosphären im Allgemeinen
steht die Atmosphäre einer Stadt als die »subjektive Erfahrung der Stadtwirklichkeit, die die Menschen in der Stadt miteinander teilen«. 1 Dazu gehört nicht nur die Gegenwart derselben Dinge im Raum, sondern auch der Rhythmus städtischen Lebens bzw. die Arten und Weisen, wie Menschen die (mikrologische) Stadt leben. Insbesondere in großen Städten zerfällt das Leben in eine tendenziell endlose Vielfalt der Formen und Stile. Entsprechend unterschiedlich sind die Orte, an denen sich dieses Leben performativ ereignet. Und so verbinden sich städtische Atmosphären in einem pluralen Sinne mit einem kaleidoskopischen Bild des städtischen Raumes. Wenn die großen Magistralen und fragilen Netze der Verkehrsadern auch alle Orte miteinander verbinden, so bleibt das Ganze doch ein gebrochenes Gebilde, ein Raum, der seine Energie aus einer Unwucht generiert und nicht aus der Kraft eines harmonischen Megasystems (vgl. dazu auch Kapitel 7). Die Differenz zwischen den physischen, sozialen und ökonomischen Räumen der Stadt wird an Grenzverläufen sichtbar und spürbar. Wie man eine klimatologische Atmosphäre an der Art und Zusammensetzung der Atemluft bemerken kann, so die Atmosphäre städtischer Räume an ihrer Milieuqualität. Was für die Wohnung im engeren Sinne gilt, ist im erweiterten Wohnraum der Stadt nicht grundsätzlich anders. Räume des persönlichen Aufenthalts sind immer auch persönlich bedeutsam. Sie berühren uns affektiv und deshalb können wir sie gar nicht in einer rein rationalen Haltung wahrnehmen. Mitunter sind es gerade Reisen in noch wenig vertraute oder ganz unbekannte Räume, die die affektive Beziehung zu Umgebungen schlagartig bewusst machen. Atmosphären sind aber nicht an positive Erlebnisqualitäten gebunden. Zu Unorten, die uns abstoßen, gehen wir unvermittelt und spontan auf Distanz, weil ihr atmosphärischer Ausdruck mit abweisenden Erlebnisqualitäten assoziiert wird.
11.1 Atmosphären im Allgemeinen Die Reflexion der Bedeutung des Atmosphärischen im Raum der Stadt dient dem vertieften Verstehen ihrer sozialen, kulturellen, ökonomischen und politischen Dimensionen. Es wird sich zeigen, dass Atmosphären – oberhalb dessen, was auf einem höchst vagen Niveau mit der 1
Böhme 2006, S. 139.
203 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
11. · Atmosphären der Stadt
Atmosphäre einer Stadt assoziiert wird – insbesondere mikrologischen Orten anhaften. Sie gehören zum Leben der Stadt wie ihre Verkehrsströme, sie kommen und gehen mit dem situativen Wandel des Urbanen. Sie sind an diesem Ort anders als an jenem, konstituieren sich aus der Präsenz der Dinge und Dynamik des Lebens von selbst oder werden zum Gegenstand interessengeleiteter Herstellung. Sie haben ihre je eigene Bedeutung im Leben der Menschen wie in der Eigenart und Geschichte eines Ortes. Wo sie nach einem systemischen Kalkül und Interesse produziert werden, erfüllen sie als affektive Dispositionen in einem ideologischen, ökonomischen oder politischen Kontext Funktionen. Was sind Atmosphären? Wie und wodurch erscheinen sie uns? Wie lenken sie unsere Aufmerksamkeit? Welche Rolle spielen sie im Leben (in) der Stadt und wo sind sie zu verorten? In den letzten zehn Jahren sind Gefühle und Atmosphären vor allem in den Geisteswissenschaften differenziert diskutiert worden. 2 Im Folgenden werde ich einen thematisch fokussierten Überblick zum Verständnis von Atmosphären geben und diese allgemeinen Orientierungen beispielhaft auf die Stadt beziehen. Atmosphären sind Gefühle Atmosphären sind spürbare Schnittstellen, an denen Menschen ihr Herum in gefühlsräumlichen Qualitäten erleben. Sie sind in ihrer Wirklichkeit, wenn auch in anderer Weise als Dinge. Sie sind anders »lokalisiert« als ein Haus im Häusermeer der Stadt. Sie umweben einen Ort, hüllen ihn ein und machen ihn zu einem situativ besonderen Ort. Nach Schmitz 3 sind sie räumlich ausgedehnt 4, in ihrem räumlichen Charakter aber nicht dreidimensional, sondern »prädimensional«, das heißt Grundlegend vgl. Schmitz Syst 1964 ff.; Zusammenfassung zum Thema »Atmosphären als Gefühle« (vgl. Schmitz Gef). Neben Hermann Schmitz hat sich vor allem Gernot Böhme mehrfach dem Thema der Atmosphären zugewendet (vgl. u. a. 1995). Eine Zusammenfassung aus philosophischer Sicht bietet auch Griffero 2010. 3 In der Skizzierung eines Atmosphärenbegriffs stütze ich mich im Großen und Ganzen auf Hermann Schmitz, dessen Phänomenologie große begriffliche Differenziertheit in der Analyse menschlicher Gefühle erreicht hat und für sich in Anspruch nehmen kann, ontologische Fragen der Gefühle erkenntnistheoretisch systematisch eingebettet zu haben (vgl. Schmitz Syst 1964 ff.). 4 Vgl. Schmitz Gef, S. 33. 2
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Atmosphären im Allgemeinen
die Volumina haben keine messbare Form. Ihr »ausgefülltes« Volumen hat keine Flächen und ist im Unterschied zu einem physischen Körper unteilbar. An ihrem Erleben sind »Mächtigkeit, Energie, Kraftentfaltung und Andringen gegen Widerstand wesentlich beteiligt«. 5 Atmosphären sind Gefühle, die in gelebten Situationen wurzeln. In einer Atmosphäre befindet man sich nicht wie in einem umbauten Raum, sondern wie in der Wärme oder der Dunkelheit. Solche Erlebnisqualitäten werden als flüchtige und nicht ding-fest zu machende Intensitäten erlebt – als etwas »am eigenen Leibe, aber nicht als etwas vom eigenen Leib« 6. Gefühlsmäßige Wirklichkeiten kann man nicht haben wie einen Gegenstand oder dessen (zum Beispiel ökonomischen) Wert. Die Kommunikation über Atmosphären (mit den Mitteln der Sprache, aber auch der Gesten, Mimik, Malerei, Bildhauerei, Musik und Architektur) vollzieht sich in besonderer Weise über synästhetische Eindrucksqualitäten, die das Gefühl, das eine Atmosphäre macht, mit komplementären symbolischen Bedeutungen verbindet. Unter anderem ist es Sache der Synästhesien, diese zwei Hälften eines Ganzen zusammenzubringen und zusammenzuhalten. So findet das Gefühl, sich im urbanen Raum einer Stadt zu bewegen, in der Rede von der »Lebendigkeit« der Stadt einen sprachlich angemessenen Ausdruck, wenn eine Stadt im biologischen Sinne auch nicht lebendig sein kann. Der synästhetischen und der metaphernhaften Rede gelingt es deshalb besonders und vor allem besser als der denotativen Rede, den mannigfaltigen und ganzheitlichen Charakter einer Atmosphäre gleichsam mit einem Schlage zur Geltung zu bringen. Deshalb sagt Peter Sloterdijk über Atmosphären, man gerate im »Modus blinder Immersion« 7 in sie hinein. Atmosphären sind lebendig Städte unterscheiden sich durch ihre je eigene bauphysiognomische Gestalt, ihre Siedlungs- und Kulturgeschichte, ihre ökonomische Struktur und eine mehr oder weniger große Vielfalt an architektonischen Stilen voneinander. Aber auch ihre atmosphärische Präsenz
5 6 7
Schmitz Bd. III/1, S. 388. Schmitz Bd. III/5, S. 118. Sloterdijk 2004, S. 261.
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11. · Atmosphären der Stadt
hat einen je eigenen Charakter – mehr auf dem Niveau der Quartiere als dem der ganzen Stadt. Auf das Erscheinen und Erleben einer Atmosphäre wirkt die Art und Weise wesentlich ein, in der sich Menschen in einer Gegend aufhalten und bewegen. Dabei sind es nicht erst Handlungen, die spürbare Milieuqualitäten hervorbringen, sondern schon Bewegungsrhythmen, Blicke und Gesten etc. Lebendigkeit ist Situationen zu eigen, in denen die Vielfältigkeit des Lebens einer Stadt in einem Erlebnis-Ganzen aufgeht. Lebendigkeit ist nicht in einem semiotischen Sinne lesbar. Sie drückt sich im performativen Fluss menschlichen Treibens aus, in dem insbesondere zwei Strömungskräfte virulent sind: eine aktive und eine scheinbar passive. Der Fußgänger, der eine Straße überquert, hat in einem anderen Sinne aktiv an der Dynamik des Städtischen teil als der Bauherr eines Wolkenkratzers. Wenn beide auch Akteure sind, so doch in ganz anderer Weise – der Fußgänger im Sinne performativer Dynamik und der Bauherr im Sinne intentionaler Aktivität. Aber auch der bewegungslos auf einer Bank dasitzende Greis mit seinem Stock gestaltet in seinem Da-Sein die Erlebnisqualität dieses Ortes aktiv; er ist aber kein Akteur im üblichen Sinne, sondern ein Patheur, 8 der im handlungstheoretischen Sinne gar nichts tut. Ohne Patheure wäre die Stadt nur eine funktionalistische und aseptische Welt von Prozessabläufen. Atmosphären sind unteilbar Da Atmosphären ganz in ihrem Erscheinen aufgehen, sind sie etwas Unteilbares. Hubert Tellenbach merkte dazu an: »Es gibt in der Behandlung des Atmosphärischen keine Möglichkeit der Reduktion […] Atmosphärisches ist etwas Anwesendes.« 9 Dennoch entziehen sich Atmosphären weitgehend der Fassbarkeit durch unsere gewohnte Sprache. Gernot Böhme bezeichnet sie daher als »etwas Unbestimmtes, schwer Sagbares« 10. Die sprachliche Explikationsnot dürfte auch daraus resultieren, dass Atmosphären nicht lokalisierbar sind wie Dinge, die an einer Stelle im relationalen Raum ihren identifizierbaren Ort haVgl. Hasse 2010. Tellenbach 1968, S. 61. In diesem Sinn (»Spüren von Anwesenheit«) vgl. auch Böhme 2001.1, S. 45. 10 Böhme 1995, S. 21. 8 9
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Atmosphären im Allgemeinen
ben. Böhme, der sich in seinem Atmosphären-Ansatz primär auf Hermann Schmitz stützt, spricht sie als »Zwischenphänomene« an, die weder ganz der Seite eines Subjekts noch ganz der eines Objekts zugerechnet werden können. 11 Was er ontologisch einen Zwischenraum nennt, möchte ich in einem prozessualen Sinne als Umschlagsraum bezeichnen, der gleich einer Weiche das in einem Raum (aus emotionaler Distanz) Wahrnehmbare in ein situativ spürendes Mitsein überträgt. Atmosphären sind Situationen Schon die Alltagssprache kennt den Begriff der Situation. Er meint etwas Zusammenhängendes und Verfugendes. An dieses Grundverständnis knüpft Hermann Schmitz mit seinem phänomenologischen Konzept der Situation an, das den ganzheitlichen Zusammenhang von Bedeutungen 12 in seinen theoretischen Mittelpunkt stellt. 13 Solche Zusammenhänge kommen in gemeinsamen und persönlichen Situationen vor. Individuelle Formen des Erlebens städtischer Szenen sind den persönlichen Situationen zuzurechnen, die aber auch durch das Leben in und Erleben von gemeinsamen Situationen gestimmt werden. Stadtpolitische Ästhetisierungen, wie sie zum Beispiel aktuell durch die historisierende Rekonstruktion mittelalterlicher Bauwerke in der Frankfurter Römerbergbebauung vonstatten gehen, zielen dagegen auf die Konstruktion gemeinsamer Situationen ab, das heißt auf eine Gleichschaltung kollektiven Stadterlebens, das im Einrasten von Klischees Dispositive der Wahrnehmung ermächtigen soll. Vgl. ebd., S. 22 sowie Böhme 2001.1, S. 55. Bedeutungen kommen in einer Situation auf drei Ebenen vor: (a) auf der Ebene der »Sachverhalte (daß etwas ist, überhaupt oder irgendwie), (b) der Programme (daß etwas sein soll oder möge) und (c) der Probleme (ob etwas ist)«. Situationen bestehen mindestens aus Sachverhalten, oft auch aus Programmen und Problemen (vgl. Schmitz WNPhän, S. 89). 13 Vgl. ebd., S. 35. Das Schmitz’sche Situationskonzept kann an dieser Stelle nicht im Detail dargestellt werden. Es ist gleichwohl für das Verständnis von Atmosphären und den mit ihnen kommunizierten Bedeutungen von grundlegender Wichtigkeit. Im Einzelnen vgl. Schmitz WNPhän, S. 89 ff. sowie über das Schmitz’sche Konzept der Situation Großheim 2005. Ich sehe an dieser Stelle vom existenzphilosophischen Situationsbegriff ab, wie er von Jaspers entwickelt wurde, weil er existenzielle Grenzsituationen fokussiert und nicht Situationen des dahinfließenden Lebens abseits existenzieller Krisen (vgl. dazu Jaspers 1971 sowie Bollnow 2009, S. 184 ff.). 11 12
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11. · Atmosphären der Stadt
Damit rückt die (kulturindustriell imprägnierte) Atmosphäre der inszenierten Stadt in die Nähe eines dissuasiven Massenmediums. Immersive Macht entfaltet sie als unaussprechliche Ganzheit, als eine affektiv zudringlich werdende Situation. Atmosphären der Natur Nicht alle Atmosphären, derer man in Städten gewahr werden kann, sind Produkt menschlicher Intervention. Wenngleich zahllose unter ihnen auch Ergebnis planender Herstellung sind, so wird jede Stadt doch auch im Medium erscheinender Natur erlebt. Wie die klimatisch bedingten Jahreszeiten alles Erscheinende atmosphärisch rahmen, so die innerhalb des Klimas wechselnden Situationen des Wetters. 14 Sie wirken unmittelbar auf die Wirklichkeit städtischer Räume ein. Ekstatische Naturerscheinungen machen das besonders deutlich. So wird die sich in einem aufziehenden sommerlichen Gewitter zusammenbrauende schwüle und drückende Atmosphäre spätestens im Ausbruch des Gewitters so mächtig, dass sie die kulturelle Atmosphäre des technisch Erhabenen in einem Wolkenkratzerquartier ganz zu verdrängen vermag. Die schneidende Kälte des Winters »schärft« die kantigen Hochhäuser einer Metropole, so dass sie uns anders erscheinen als in lauen sommerlichen Temperaturen, die auch da eine Weichheit suggerieren, wo die Materialität der gläsernen Haut eines Hochhauses »objektiv« doch unbestreitbar hart ist. Atmosphären haben Macht Wenn Atmosphären Stimmungen prägen, geht von ihnen Macht über die Gefühle aus. Ob und in welcher Nachhaltigkeit sie sich entfalten, wird nicht ausschließlich von der immersiven Macht einer Atmosphäre disponiert, sondern auch von der Grundstimmung, in der sich ein Individuum oder eine Gruppe befindet. Daher sind die Grenzen zwischen stimmungsmäßiger Selbstbeherrschung und systemischer Subjektkolonisierung durch Atmosphären oft nicht klar zu ziehen, zum Beispiel dann, wenn politisch ideologisierende Atmosphären auf das persönliche (und mehr noch auf das kollektive) Befinden einwirken sollen und mit moralischen Appellen und gesellschaftlichen Werten verknüpft 14
Vgl. zum Thema auch Seel 1991, Böhme 1989 sowie Großheim 1999.2.
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Atmosphären im Allgemeinen
werden. So haben die großen Macht demonstrierenden Gesten des nationalsozialistischen Demagogie-Apparates in Gestalt beeindruckender Aufmärsche und Lichtdome nicht zuletzt einen so großen Einfluss gehabt, weil die atmosphärischen Inszenierungen mit ihrem historischen Vorschreiten an demagogisch schon erreichte Stimmungs-Standards im Denken und Fühlen der Masse anknüpfen konnten. Aber es sind nicht nur Menschen, die im Medium der Atmosphären Macht über andere Menschen ausüben. Auch landschaftliche Atmosphären oder solche des Wetters können in das persönliche Befinden einsickern. Schließlich liegen Atmosphären über sozialräumlichen Situationen und spiegeln etwas von der aktuellen performativen Dynamik des Lebens an diesem Ort wider. In diesem Sinne kann die gelebte Spießigkeit kleinbürgerlichen Milieus bis an die Grenze der Unerträglichkeit in bedrückender Weise zudringlich werden. Macht wird hier nicht im Sinne von Max Weber verstanden 15, sondern in einem philosophischen Sinne als Vermögen, auf etwas einzuwirken. 16 Sie geht auch von Blicken oder Gesten aus, die der Intentionalität eines durchsetzungsinteressierten Willens gar nicht bedürfen. Atmosphären sind Halbdinge Schon der Hinweis auf den Gefühlscharakter von Atmosphären und ihre Lebendigkeit lässt erwarten, dass es sich bei ihnen nicht um Dinge im üblichen Sinne handelt. Aufgrund ihrer ontologischen Eigenart ordnet Schmitz mit den Gefühlen auch die Atmosphären der von ihm begründeten Kategorie der Halbdinge zu. Er hat damit zu einer Differenzierung des Seienden beigetragen, deren erkenntnistheoretische Nützlichkeit in den Sozial- und Gesellschaftswissenschaften noch kaum erkannt worden ist. Halbdinge unterscheiden sich von Dingen unter anderem dadurch, »daß sie verschwinden und wiederkommen, ohne daß es Sinn hat, zu fragen, wo sie in der Zwischenzeit gewesen sind«. 17 Im UnterVgl. auch Weber 2005.2, S. 38. Hermann Schmitz definiert Macht als »das Vermögen, einen Vorrat beweglicher Etwasse in gerichtete Bewegungen zu versetzen, dieses im Verlauf zu führen oder Bewegungen anzuhalten« (Legit, S. 5). 17 Schmitz NGrdl, S. 80. Aus Platzgründen kann hier keine detaillierte Auseinandersetzung mit dem Begriff des »Halbdings« stattfinden. Ich verweise an dieser Stelle auf Schmitz Bd. III/5, bes. § 245. 15 16
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11. · Atmosphären der Stadt
schied zu einem materiellen Gegenstand, den man von einem Ort zum anderen trägt und der folglich dann nicht mehr hier, sondern dort ist, gibt es (in phänomenologischer Perspektive) auf die Frage, wo ein peitschender Sturm ist und was er tut, wenn er das Meer nicht mehr aufwühlt, keine sinnvolle Antwort. Man kann nur danach fragen, in welcher Weise ein Sturm stürmt, ob er tobt oder – zu einem Wind abgeflaut – seicht übers Land streicht, ob er von hinten oder von vorne kommt usw. Sein Gesicht ist wandelbar, sein Charakter – das Wehen – dagegen nicht. Auch eine Atmosphäre wird als ein »durch Einleibung fesselndes Halbding« 18 zudringlich. Halbdinge sind in ihrem Erscheinen flüchtig, in ihrem Erleben aber immersiv. Indem sie sich mit den Dingen verbinden, fügen sie auch diesen ein Moment des Transitorischen und Temporären hinzu. Atmosphären und Synästhesien Die maßgebliche Wahrnehmungsweise von Atmosphären vollzieht sich im Wege leiblicher Kommunikation. Was (theoretisch) über einzelne Sinne wahrgenommen wird, bildet im leiblichen Erleben eine Ganzheit, die weniger mit dem Auge gesehen oder mit dem Ohr gehört als durch ein Spüren von Eindrücken erschlossen wird – so die sommerliche Wärme als Gefühl der Weite am eigenen Leib (und nicht am Körper) und die winterliche Kälte als schneidende Engung. Solche Eindrücke vermitteln sich über intermodale Qualitäten. Das »Helle (des Lichts, der Farben und ›aufstrahlenden‹ Töne), das Warme und Kalte (der Farben, Stimmungen usw.), das Weiche (des Wortklangs ›weich‹ z. B.) sind synästhetische Charaktere«. 19 Sie bilden die Brücken zwischen sinnlichem Wahrnehmen und leiblichem Spüren (ausführlich vgl. auch Kapitel 3). Deshalb können Atmosphären auch die Qualität einer Empfindung im physiologischen Sinne haben. In architekturpsychologischen Untersuchungen stellte Rittelmeyer fest, »dass einige Studenten in einer Umgebung mit ›warm‹ wirkenden Farben (wie gelborange) mit einer leichten Erhöhung ihrer Hauttemperatur in der Brustregion reagierten. Bei ›kühleren‹ Farben (z. B. weißblau) reagierten sie dagegen mit einer leichten Absenkung der Hauttemperatur. […] ›Äußerer‹ 18 19
Schmitz Bd. III/5, S. 127. Schmitz LRG, S. 36.
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Das Übergehen (und die Wiederaneignung) der Gefühle
(visueller) und ›innerer‹ (thermischer) Eindruck verschmelzen also zur synästhetischen Anmutungsqualität des Bauwerkes. […] Erst diese gesamtleibliche Aktivität macht das Wahrnehmungserlebnis aus, das keineswegs ein bloßer Gehirnvorgang ist.« 20
11.2 Das Übergehen (und die Wiederaneignung) der Gefühle In dem von abstrakten technischen Apparaten und der Macht von Systemrationalitäten gelenkten Geschehen in spätmodernen Gesellschaften gilt die Rede über Gefühle nur unter Vorbehalt als akzeptabel. Die Enttabuisierung der Artikulation von Gefühlen erfolgt in Abhängigkeit von der Art einer Situation. So wird die Kommunikation von Gefühlen vor allem bei Gegenständen öffentlicher Erregung von Akteuren politischer Parteien gerne in den Dienst (wahlkampf-) strategischer Kalküle gestellt. Wo moralische Entrüstung, Mitleid, Wut oder andere emotionale Regungen politischen Interessen entgegenkommen, werden sie programmatisch geradezu »abgerufen«. Außerhalb solcher (meist nur temporär) eingerichteten Korridore der Gefühlsartikulation gilt die Kommunikation persönlicher Gefühle bestenfalls als nebensächlich, meist als Privatsache oder gar als Ausdruck mangelnder Fähigkeit zur Abstraktion. Wenn es in der kulturellen Toleranz gegenüber emotionalen Aussagen auch geschlechtsspezifische Differenzen, demografische Sonderzonen und zeitgeistabhängige Konjunkturen gibt, so fällt die detaillierte Rede über Gefühle atmosphärischen Erlebens im Allgemeinen unter ein Tabu. Das aphasische Verhältnis zu Atmosphären ist Niederschlag eines zivilisationshistorisch gewachsenen intellektualkulturellen Paradigmas, das eine Außenwelt von einer persönlichen Innenwelt unterscheiRittelmeyer 2009, S. 237 f. Die synästhetische Wahrnehmung architektonischer Atmosphären, von der Rittelmeyer berichtet, sei durch den Hinweis auf die Gestaltung des Verkaufsraums eines Frankfurter Herrenausstatters ergänzt. Das Geschäft befindet sich in den Räumen einer ehemaligen Konditorei. Die Wände sind weiß gefliest; der Raum ist hoch und offen. Von der Decke hängen Industrieleuchten, die grell-weißes Licht auf die weich wirkenden textilen Auslagen werfen, welche auf rohen, grob strukturierten Holzflächen liegen. Der Ladenbesitzer berichtet, dass Kunden im Sommer oft anmerken, die Atmosphäre wirke auf sie angenehm kühl. Darin wird deutlich, dass sich der Eindruck der Kühle von einem scheinbar nur visuellen Eindruck in ein doppeltes Gefühl überträgt – das einer Atmosphäre und einer physiologisch spürbar werdenden Empfindung.
20
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11. · Atmosphären der Stadt
det. Dabei ist die Außenwelt »auf bequem identifizierbare, quantifizierbare und manipulierbare Merkmalssorten reduziert«, während »abgegrenzte private Innenwelten […] den Personen zur Selbstbemächtigung im Verhältnis zu den unwillkürlichen Regungen anvertraut werden«. 21 Wenn Hermann Schmitz anmerkt: »Nichts scheint mir dafür zu sprechen, daß das moderne Affektleben weniger von ergreifenden Atmosphären durchstimmt und geprägt ist als z. B. das der Alten« 22, ist damit viel über die lebensweltliche und systemische Bedeutung atmosphärischer Milieus gesagt. Nicht nur die Einrichtung einer Wohnung folgt dem Ziel, über Funktionalität hinaus erwünschte atmosphärische Raumqualitäten zu schaffen. In der Entscheidung für den Umzug in ein anderes Wohnquartier sind sie oft von ausschlaggebender Bedeutung. In der Stadtwerbung wie in der Vermarktung von Büro- und Gewerbeflächen gelten Atmosphären sogar als weiche Standortfaktoren. Angesichts ihrer großen Bedeutung im persönlichen wie gesellschaftlichen Leben führt die lebensweltliche Not genauen Sprechens über Gefühle und Atmosphären zu einer Zweiteilung der Menschen in Produzenten und Rezipienten. Wer ohne halbwegs differenziertes pathisches Selbstbewusstsein von Atmosphären eingenommen wird, gerät tendenziell blind in deren Gefühlsraum. Gegen die stumme Akzeptanz oder Verweigerung von Atmosphären mahnt die Neue Phänomenologie eine Übung leiblicher und hermeneutischer Intelligenz an. 23 Dabei kann sie für ihr Programm der Realphabetisierung einer gefühlsadäquaten Sprache geltend machen, dass »in den Sinnesorganen eben die Substraktionsanthropologie« nie »konsequent exerziert werden kann«. 24 Schon aus Gründen des praktischen Funktionierens der Menschen in gesellschaftlichen Systemen »muss ein Stück von Naturverhaftetsein geduldet werden«. 25 Hierbei geht es nicht um die Natur des physischen Körpers, sondern um jene Natur, in der sich eine Person im leiblichen Gewahrwerden von Situationen eigenen Lebens selbst Schmitz SpR, S. 9 Anfänge der Distanzierung von den Gefühlen macht Hermann Schmitz schon in der griechischen Philosophie fest (vgl. Schmitz LRG, S. 7–12). Seit dem Spätmittelalter wird sich das Individuum in der Sache seiner eigenen Gefühle kontinuierlich fremder (vgl. u. a. Elias 1986). 22 Schmitz Bd. III/3, S. XVIII. 23 Vgl. Schmitz Bew, Kap. 7 24 Zur Lippe 1987, S. 23. 25 Ebd. 21
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Atmosphären als Gegenstände der Konstruktion
erfahren kann. 26 Schon kleine Erfolge in der Anbahnung sukzessiven Sprechenkönnens über die von Atmosphären hervorgerufenen Befindlichkeiten schaffen Anknüpfungspunkte für ein Nach-Denken über deren Macht. Damit stärken sich auch die Optionen einer Kritik der ästhetischen Ökonomie. 27 Vielperspektivisches Denken über die Konstruktion wie Konstitution von Atmosphären ist Voraussetzung für ein (selbst-)bewusstes Verhältnis zur Gestaltung von Erlebnisqualitäten im privaten und öffentlichen Raum. Das Programm ihrer Bewusstmachung läuft daher auch nicht auf einen esoterischen Eskapismus hinaus, sondern – allzumal in spätmodernen Zeiten – auf eine Übung der Emanzipation des Individuums. 28
11.3 Atmosphären als Gegenstände der Konstruktion Auf dem kulturellen Hintergrund einer geradezu ubiquitären Not differenzierten Sprechens über Gefühle und Atmosphären konnten sich fachlich spezialisierte Professionen von Ästhetik-Experten etablieren und ökonomisch wie kulturpolitisch unentbehrlich machen. Vom Gärtner und Landschaftsarchitekten über den Lichtdesigner, (Innen-)Architekten, Bühnen- und Maskenbildner bis zum Werbefotografen hat sich ein ganzes Cluster ästhetizistischer Akteure etabliert. Sie schaffen pathische Welten, die spezifischen Interessen und Zielen unterworfen werden. Sie geben der Stadt ein architektonisches Gesicht, schaffen kontemplative Räume der Erholung in Grünanlagen, inszenieren mythische Räume auf Friedhöfen, sind nicht zuletzt aber auch der (Kultur-)Politik und Ökonomie in der Manipulation von Wünschen und Sehnsüchten der Menschen zu Diensten. Ein ganzes Heer von Akteuren der atmosphärischen Umwölkung von Räumen macht sich Wissensvorsprünge im zielgerichteten Arrangement immersiver Gefühlsinseln zunutze, um suggestive Milieus für Zwecke einer radikalen Verführung29 zu disponieren. Die Logik solcher Inszenierungen rechnet nicht nur mit dem Unbewussten, sie baut vielmehr auf eine Unbewusstmachung gängelnder kulturindustrieller Praktiken, die sich der 26 27 28 29
Vgl. Böhme 1991, Kap. II.4. Vgl. Böhme 2001.2. Vgl. in diesem Sinn auch Foucault 2004. Vgl. Baudrillard 1983.
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11. · Atmosphären der Stadt
anästhesierenden Macht des Ästhetischen bedienen. 30 Atmosphärisches Konstruktionswissen bewährt sich aber auch diesseits der Warenästhetik 31 als epistemisches Kapital zur Produktion machtvoller Inszenierungen. Die lange Zivilisationsgeschichte der Übergehung der Sinnlichkeit ist gleichsam Bedingung der Professionalisierung einer systematischen Stimmung von Gefühlen und Atmosphären. Die kirchliche Liturgie verdankt ihren Erfolg nicht nur einem hoch komplexen Stimmungswissen, das für die nachhaltige Stiftung gemeinsamer Situationen im heiligen Raum der Kirche unverzichtbar war und ist (Inszenierung des Lichts, der Farben, der Klänge und der Gerüche); ihre so eindringlich affizierende Macht konnte sie erst entfalten, weil ihre Adressaten dem inszenierten Milieu gestimmter Räume eher halbbewusst und sprachlos als reflektiert und eloquent gegenüberstanden. Nichts anderes gilt im Prinzip für die Inszenierung von Kirchenmusik, die schon im Römischen Reich atmosphärischen Zielen folgte. Die Grünraumgestaltung stützt sich noch heute auf ein von Christian Cay Laurenz Hirschfeld 1779–1785 32 in mehren Bänden dokumentiertes detailreiches Wissen, an dem es dem durchschnittlichen Gartenbenutzer mangelt. Und schließlich war rhetorischer Erfolg bereits in der griechischen Antike nicht nur von argumentativem Können abhängig, sondern insbesondere von der Macht zur suggestiven Beeindruckung durch die atmosphärische Präsenz des Redners, mit anderen Worten: von emotionaler Überraschung bis Überwältigung.
11.4 Zum Verhältnis von Atmosphären und Stimmungen Von den Atmosphären sind die Stimmungen zu unterscheiden, wenn auch beide Begriffe in der Alltagssprache oft synonym verwendet werden (vgl. auch Kapitel 12). Diese assoziative Nähe lässt vermuten, dass es etwas Verbindendes gibt, das sich der einfachen Benennung entzieht. Das »Fühlen als affektives Betroffensein« von Atmosphären unterscheidet sich dadurch von deren emotional distanzierter Wahrneh-
30 31 32
Vgl. Erdheim 1984. Vgl. Haug 1997. Vgl. Hirschfeld 1973.
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Zum Verhältnis von Atmosphären und Stimmungen
mung, dass die im Raum gleichsam anstehenden Affekte subjektiv virulent werden und in das eigene Befinden einsinken. In der unmittelbaren Betroffenheit gehen leibliche Wahrnehmungen affektiv nahe. 33 Tellenbach betrachtete die Atmosphäre als »eine unpersönliche Wirklichkeit«, die Stimmung dagegen als »die Einheit von Ich- und Weltgefühl«. 34 Nach Johannes Volkelt ist eine Atmosphäre »auf eine bestimmte Person, eine bestimmte Sache, ein bestimmtes Ereignis oder auf eine Anzahl solcher« 35 gerichtet und hat in dieser Ausrichtung ihr Thema. Im Unterschied dazu ist eine Stimmung thematisch nicht gerichtet: 36 »Unter Stimmungen sind solche Gefühle zu verstehen, denen die Vorstellung eines bestimmten Gegenstandes, auf den sie sich bezögen, fehlt.« 37 Sobald sich das mit einer Atmosphäre verbundene Gefühl so tief im individuellen Betroffensein festfrisst, dass es eine persönliche Stimmung grundiert, verliert es seinen thematischen Bezugspunkt, und »die Stimmung, die im Raume lebt, ist meine Stimmung«. 38 Die (reinen) Stimmungen versteht Hermann Schmitz deshalb als »Urschicht, den Boden oder Hintergrund« eines Gefühls. 39 Hat eine Stimmung das personale Befinden getönt, öffnet sie den so Betroffenen für mögliche Infizierungen durch atmosphärisch gerichtete Gefühle, die sich in einen aktuell situativen Stimmungsgrund einfügen. Eine Stimmung »öffnet« aber nicht nur; sie schirmt auch ab (vgl. dazu ein Beispiel bei Rilke, s S. 230 in Kapitel 12). Atmosphären und Stimmungen sind keine Eigenschaften von einzelnen Dingen. Wir spüren sie als etwas um uns herum, Stimmungen als etwas an uns. Während die »unpersönliche Wirklichkeit« einer Atmosphäre nach Buytendijk durch »einbettendes Erleben« 40 als »Einheit von Präsenz und Sinn einer gelebten Wirklichkeit« 41 erlebt wird, spiegelt sich in der Stimmung eine »Einheit von Ich- und Welt-Gefühl« 42. 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42
Vgl. ebd., S. 138. Tellenbach 1968, S. 9 Volkelt 1905, S. 206. Vgl. Schmitz WNPhän, S. 192. Volkelt 1905, S. 206. Lipps 1920, S. 190. Schmitz Bd. III/2, S. 263. Ebd. Buytendijk 1968, S. 9 Ebd.
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11. · Atmosphären der Stadt
Die Atmosphäre ist außerhalb meiner selbst, die Stimmung grundiert einen aktuell-affektiven Empfindungsgrund. Stimmungen disponieren das eigene Selbst und damit auch die Sensibilität der Wahrnehmung von Atmosphären. Von Stimmungen getragen, erleben wir etwas uns Begegnendes heute in dieser und morgen in jener Weise. Die Stimmungen, die den Grund unseres So-seins bilden, stehen in einem engen Wirkungszusammenhang mit dem Erleben von Atmosphären. Wo diese für bestimmte Situationen inszeniert werden, impliziert ihr Entwurf bereits eine Stimmung der Affekte. Schon deshalb sind Atmosphären keine Marginalien. Sie tragen unser affektives Stadterleben zwischen Identifikation und Idiosynkrasie. Ob wir uns im Raum der Stadt beheimaten können und wollen, ist nie allein von den Atmosphären einer Stadt abhängig, sondern auch von den persönlichen Stimmungen, das heißt der affektiven Beziehung zum Leben in der Stadt im Allgemeinen wie zum Leben in dieser Stadt im Besonderen. Es wäre daher naiv, Atmosphären der Stadt nicht auch als politische, zumindest aber politisierbare Medien der Kommunikation anzusehen. Wenn Stadtplanung und -politik zu guten Teilen auch in der Gegenwart noch dem Geist der Charta von Athen 43 folgt, so geht sie doch von der Grundannahme aus, dass die Menschen gerne in ihrer Stadt leben wollen. Ein so nüchtern erscheinender Begriff wie Aufenthaltsqualität meint am Ende nichts anderes als eine den Menschen an einen Ort bindende atmosphärische Raumqualität.
11.5 Zur sinnlichen Erlebbarkeit von Atmosphären Atmosphären kommen zur Erscheinung, indem sie sich zeigen. Dennoch wirken schon segmentierte Eindrücke als Katalysatoren des Aufmerkens. Segmentiert ist dabei aber nicht Einzelnes, sondern eine in sich zusammenhängende Eindrucksqualität, die aus der Ganzheit einer Atmosphäre hervortritt. Die folgenden zehn Konkretisierungen sollen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – auf Eindrucks-Vermittler aufmerksam machen, die uns das Ganze einer Atmosphäre im Raum der Stadt – aus der Perspektive von Segmenten – näher bringen.
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CIAM 2001.
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Zur sinnlichen Erlebbarkeit von Atmosphären
Baukultur Architekturhistorisch in je charakteristischen Stilen entstandene Stadtquartiere tragen den Stempel ihrer Zeit und lassen die Kultur als Stimmgabel 44 des Gebauten vorscheinen. Bauwerke drücken den Zeitgeist aus und damit das Ganze des Denkens, Wünschens und Wollens einer Epoche. Der ästhetische Ausdruck der gebauten Physiognomie städtischer Teilräume überträgt sich in ein atmosphärisches Raumgefühl in dieser Gegend. So sah schon Karl Friedrich Schinkel das Wesen der Architektur im Gefühl angesiedelt. 45 Das kognitive Verstehen städtischer Räume setzt architekturhistorisches Wissen voraus, das die Zuordnung von Baustilen zu Epochen erlaubt. Das darüber hinausgehende Verstehen der mit Baugestalten verbundenen Erlebnisformen verlangt dagegen eine hinreichend differenzierte Sensibilität der Einfühlung in synästhetische Übertragungswege von Symbolen in Gefühle wie umgekehrt. Gerüche Vor ihrem Umbau zur HafenCity roch die alte Hamburger Speicherstadt nach Gewürzen und gemahlenem Kaffee, weil diese Dinge in den kaiserzeitlichen Bauten gelagert wurden. Am Ufer eines Flusses riecht es anders als in der Mitte der vom Verkehr durchströmten Stadt. Das Mikroklima eines Stadtquartiers im Grünen fühlt sich nicht nur anders an als eine steinerne Häuserwüste, es riecht auch anders. Manchen Orten haften unverwechselbare Gerüche an. Sie gehören zu ihnen wie die Kirche zum Dorf. Bei hoher affektiver Bindung an einen Ort schreiben sich Geruchseindrücke biografisch so tief in die Erinnerung ein, dass sie noch nach langer Zeit der Abwesenheit wiedererkannt werden. Wie Findlinge der Erinnerung überdauern sie selbst den Wandel von Orten und werden dann, wenn sich die Vitalqualität eines Ortes verändert hat, zu unerfüllten Geruchserwartungen. Über Gerüche legen wir uns nicht nachdenkend Rechenschaft ab, indem wir Sinnesreize addieren; wir nehmen sie »mit einem Schlage« 46 atmosphärisch wahr. Gernot Böhme sieht sie als »ein wesentliches Element der Atmosphäre einer Stadt, vielleicht sogar [als] das Wesentlichste« 47. 44 45 46 47
Sloterdijk 1993, S. 63. Vgl. zu Karl Friedrich Schinkel auch Neumeyer 2002, S. 224 sowie Kruft 2004, S. 343. Schmitz Bd. III/1, S. 21. Böhme 1998, S. 150.
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11. · Atmosphären der Stadt
Licht und Schatten Wie Geräusche und Gerüche gehören auch die Lichtverhältnisse zu den Erzeugern von Atmosphären. 48 Aufgrund seiner besonderen visuellen Zudringlichkeit entfaltet das Licht große Macht über emotionales Raumerleben. Schon wegen seiner mythologischen Bedeutungsfülle ist es dicht mit kulturellen Symbolen geladen. Die Baumeister der gotischen Kathedralen haben es verstanden, religiöse Bedeutungen mit Gefühlen zu verbinden; deshalb konnten sie ekstatische Lichtgestalten zur Konstruktion numinoser Atmosphären in einem göttlichen Lichtraum inszenieren. 49 Zu einem Gegenstand ästhetischer Stadtgestaltung wird das Licht als immaterieller Baustoff am Ende des 19. bzw. Beginn des 20. Jahrhunderts. Licht schafft nicht nur Helligkeit; es ist selbst sichtbar und emotionalisiert Dinge und Orte. Seit seiner Erfindung gilt das elektrische Licht als Symbol pulsierenden städtischen Lebens. In ästhetizistischen Ekstasen postmodernen Bauens ist es in seiner entfesselten Vielfarbigkeit und Fluoreszenz immersives Medium der Fassadenbespielung. Die Stadt konstituiert sich im Medium illuminativer Atmosphäre in einer zweiten Wirklichkeit. Dabei folgt die Ästhetik des Lichts der Logik eines Dispositivs. In der sakralen Lichtwelt der Kathedrale dient es der christlichen Mythologie, in der postmodernen Stadt der Durchsetzung dissuasiver Strategien der Verführung. Diesseits jeder Zweckgebundenheit ist das natürliche Licht in seinen atmosphärischen Variationen eines der mächtigsten Medien des Stadterlebens. Geräusche Schrift und Bild sind die kommunikativen Leitmedien der Gegenwart. Auch darin drücken sich zivilisationshistorische Spuren der Intellektualisierung unserer Wahrnehmung aus. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Wirkliche nicht in Schrift und Bild aufgeht. Der übers Pflaster gehende Passant ist nicht nur sichtbar, seine Schritte sind auch hörbar. Wer sich geräuschlos schleichend durch eine Gasse bewegt, weckt ein Gefühl der Furcht. Die Glocke im Kirchturm geht in ihrem Wesen ganz als Geräuschding auf, und so stimmt sie die Bewohner der Stadt atmosphärisch auf die Stunde des Gebets ein. Auch der 48 49
Vgl. z. B. Böhme 1998.2, S. 156 ff. Vgl. LCI Bd. 3, S. 96.
218 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Zur sinnlichen Erlebbarkeit von Atmosphären
gebaute Raum wird in den Resonanzen des ihn durchströmenden Lebens lautlich wahrgenommen. Steen Eiler Rasmussen thematisierte in den 1950er Jahren eine plurale sinnliche Erlebniswelt der Geräusche – in Tunnels, in hallenden Räumen, auf offenen Plätzen oder an den verschiedenen Arten des Straßenverkehrs. Es sind aber nicht nur die (einzelnen) materiellen Stoffe, die ihren eigenen Klang haben – Holz anders als Stahl und Glas anders als Beton. Auch die gebauten Räume der Stadt erzeugen ihre je eigenen lautlichen »Resonanzen« 50, die sich in ihrem anzeigenden und hinweisenden Charakter mit der Identität eines Ortes verbinden. Geräusche können, ganz ähnlich wie Gerüche, einen Ort prägen und ihn zu diesem unverwechselbaren Ort machen, wie das Knirschen der Schritte auf den Kieselsteinen eines Weges oder das hallende Klacken der Absätze auf den Steinplatten eines überdachten Platzes. August Endell sprach im Wissen um Klanglandschaften von den Stimmen der Stadt: »Man muß nur einmal hinhören und den Stimmen der Stadt lauschen. Das helle Rollen der Droschken, das schwere Poltern der Postwagen, das Klacken der Hufe auf dem Asphalt, das rasche scharfe Stakkato des Trabers, die ziehenden Tritte des Droschkengaules, jedes hat seinen eigentümlichen Charakter, feiner abgestuft als wir es mit Worten wiederzugeben vermögen.« 51
So wirkt die Lautlichkeit aufgrund der Unausweichlichkeit, in der sie uns erfasst, durchströmt und umhüllt, auf bedingungslos einnehmende Weise. Luft Luft ist nur mittelbar an der Bewegung von Wolken, Laub oder auffliegenden Dingen wahrnehmbar. Wir spüren sie durch Gerüche, die Luftfeuchtigkeit, vor allem aber durch die wehende Bewegung von Wind und Sturm. Im Wind entstehen Atmosphären, die sowohl etwas leiblich Unruhiges mit sich bringen als auch die Dinge in der äußeren Welt in Bewegung versetzen. Im Medium der Luft überlagern sich die klimatologischen und die am eigenen Leib spürbaren Atmosphären. Dunst sehen und spüren wir als Hindernis des Sehens, zugleich aber 50 51
Vgl. Rasmussen 1980, S. 217. Endell 1984, S. 24.
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11. · Atmosphären der Stadt
auch an unscharf werdenden und zu mystischen Gestalten ausfransenden Dingen, das heißt an der veränderten Art des Sehens wie am Gesehenen. Im Dunst – und mehr noch im Nebel – wird das Atmen bewusst; die Luft ist in einem diffusen Sinne widerständig. Schwere Luft hängt in und über der Stadt und macht sie leise und undurchsichtig. Neben der schweren Luft macht schlechte Luft darauf aufmerksam, dass es sie überhaupt gibt. Schlechte Luft hat oft eine verborgene Herkunft in Dingen oder Geschehnissen. Wie als übel und hässlich empfundene Orte gemieden werden, so auch die Zonen schlechter Luft. Schließlich bedeutet das Luftmachen durch den Abbruch einengender Bauten weniger einen Rückbau zugunsten innerstädtischer Freiluftschneisen denn die Befreiung von einem atmosphärischen Gefühl der Beengung durch die Vergrößerung von Luft-Räumen. Wenn es in der Alltagssprache heißt, etwas liege in der Luft, so ist damit stets unausgesprochen eine Atmosphäre gemeint. Der Begriff der Stadtluft hebt (im Unterschied zur Landluft) in einem atmosphärischen Sinne auf die »gesamten Lebensbedingungen einer Stadt« ab. 52 Und noch im rechtssprichwörtlichen Verständnis ist die »frei machende Stadtluft« ein atmosphärisches Synonym für das im Mittelalter von Herrenlasten relativ freie Leben in den Städten. Eine weitere Metapher, die auf die Atmosphäre einer ganzen Stadt verweist, steckt im Titel des Militärmarsches Berliner Luft, der am Ende des 19. Jahrhunderts das freie Lebensgefühl in der Stadt glorifizierte. Die Luft ist ein multiples Medium städtischer Atmosphären, wenn sich das Konnotationsfeld der Stadtluft in Zeiten verkehrspolitisch motivierter Luftreinhaltungspolitik, emissionsbedingter Umweltzonen und Feinstaubplaketten auch auf ein ökologisches Thema zu verengen scheint. Rhythmen der Bewegung In der Bewegung der Menschen drückt sich habituell etwas vom atmosphärischen Charakter eines Ortes aus, der immer ein Ort in der Zeit ist und sich in der Bewegung von Dingen, Halbdingen und Menschen verzeitigt. Dinge (Straßenbahnen oder Güter) bewegen sich anders als Halbdinge (Wind oder Licht) und abermals anders als Menschen in ihrer eigenleiblichen Teilhabe am Bewegungsfluss der Stadt. Von den Rhythmen des Sich-Bewegens sind jene des Sich-selbst-Bewegens zu 52
Grimm / Grimm Bd. 17, Sp. 480.
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Zur sinnlichen Erlebbarkeit von Atmosphären
unterscheiden. Eilig vorübergehende Menschen vermitteln der Wahrnehmung einen anderen Eindruck als schlendernde, »shoppende« oder flanierende. Der eilig Selbst-Gehende ist dagegen im Rhythmus seines So-Gehens nicht nur Ausdruck für andere, sondern sich selbst befindlicher Spiegel seiner persönlichen Situation. Aber auch sitzend oder stillstehend ist der Mensch in seinen Gesten und Blicken in Bewegung. Über eine Brücke gehend erschließt sich der Raum des städtischen Herum in anderen Perspektiven und Achtsamkeiten als fahrend in einem Automobil und wieder anders auf der Stelle stehend. Im subjektiven Erleben verwischt die Grenze zwischen der Bewegung des Körpers im physischen Raum und dem leiblichen Gefühl des Sich-selbst-Bewegens. Die kulturelle Bedeutung eines Bewegungsraumes stimmt die Rhythmen des Gehens ebenso wie die persönliche Gestimmtheit für diesen Raum. So gehen die Konsumenten in der Einkaufszone einer Stadt anders als die Mönche im Kreuzgang ihres Klosters. Blicke und An-Blicke Atmosphären können ihre immersive Wirkung nur entfalten, wo sie auch spürbar werden. Was außerhalb unseres subjektiven Erlebnisfeldes liegt, wissen wir nur vom Hörensagen. Erst in der Teilhabe am Leben der Stadt konstituieren sich Inseln des Mit-Seins und damit Einund Ausblicke. Diese werden aber auch durch Orte gebahnt und gerichtet. Der Blick aus einem Fenster, aus der Position eines Hauses oder dem Lebensraum eines Quartiers geht indes nicht im visuellen Blicken auf. In der Anschauung verstrickt sich das Individuum in ein plurales sinnliches Spiel mit dem Gegebenen, worin dem aktiven Blicken ein Angeblickt-Werden korrespondiert. Nicht nur Menschen und Tiere blicken; auch Dinge wie Häuser, Brücken oder Kirchtürme blicken, wenn auch in anderer Weise. Dieses metaphorische Blicken spricht Angelika Jäkel mit dem Konzept der architektonischen Geste an. 53 Damit ist keine lebendige Geste der Zuwendung gemeint, sondern eine Suggestion (»Bewegungssuggestion« im Sinne von Hermann Schmitz), die die Aufmerksamkeit des Anschauenden bannt und Prozesse der (leiblichen) Kommunikation eröffnet.
53
Vgl. Jäkel 2012.
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11. · Atmosphären der Stadt
Kleidung und Habitus von Menschen Wie ein Bauwerk durch seinen architektonischen Stil bekleidet ist und sich in einem Gesicht sowie durch eine Gestik zu erkennen gibt, so drücken sich Menschen durch ihre Kleidung aus, die im engeren Sinne habituelle Bedeutung hat. Wo sich Menschen durch charakteristische Bekleidungsstile anderen zeigen, verorten sie sich durch eine Selbstzuschreibung von Identität im sozialen Raum der Stadt. So sind Bürostädte nicht nur an ihren Bauten erkennbar, sondern auch an der Kleidung und dem Habitus der Angestellten. Was man an diesen Menschen sieht, ist nur bedingt am Ding-Charakter ihrer Kleidung in einem semiotischen Sinne abzulesen. Ihr sozialer Gebrauch will atmosphärisch die Zugehörigkeit zu einem sozialen Feld ausdrücken. Wer sich in einer charakteristischen und damit selbstidentifizierenden Weise kleidet, will sich nicht in Sätzen erklären, sondern durch sein ganzheitliches Erscheinen beeindrucken: »The medium is the massage« 54. Anwesenheit von Tieren Elias Canetti berichtet über ein tollwütiges Kamel, das in Marrakesch zum Schlachthaus geführt werden sollte: »Die Luft um das Kamel war von Angst geladen; am meisten Angst hatte es selbst.« 55 Der luftartig einhüllende Charakter dieser Atmosphäre drängt sich in der packenden Beschreibung dank der metaphernhaften Rede nachhaltiger auf, als er in noch so detaillierter Genauigkeit von Einzelheiten hätte dargelegt werden können. Das Tier ist nicht nur in seiner Körperlichkeit anwesend; auch seine leibliche Angst ist an diesem Ort – wenn auch in anderer Weise als sein physischer Körper – gegenwärtig. Sie zieht die anwesenden Menschen in ein Gefühl existenzieller Enge hinein. In einer höchst kleinräumlichen Situation keimt eine Atmosphäre, die die Aufmerksamkeit bannt. Die Anwesenheit von Tieren tönt die Atmosphäre eines Ortes. Eine Beschreibung von Rilke illustriert die Stimmung der Atmosphäre eines mikrologischen Ortes durch die Gegenwart einer Katze, die »die Stille noch größer macht, indem sie die Bücherreihen entlang streicht, als wischte sie die Namen von den Rücken«. 56 Auch für Canet54 55 56
McLuhan 1969. Canetti 2010, S. 10. Rilke 1997, S. 43.
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Zur sinnlichen Erlebbarkeit von Atmosphären
ti ist die ruhende Katze Symbol und leiblich spürbarer Ausdruck der Stille: »Man sieht die steinernen Stufen, die in die Etage führen, und oben findet man eine Katze vor. Sie verkörpert die Lautlosigkeit, nach der man sich gesehnt hat.« 57 Präsenz von Dingfamilien Die Dinge werden im Raum der Stadt in ihrem sozialen Gebrauch zu milieugebundenen Medien. Ein Milieu ist als »(selbst-)organisierte und (selbst-)koordinierte Rollen- und Verhaltensstruktur« (temporär) auf spezifische Räume bezogen. 58 Die Orte, die sich die Angehörigen einer in diesem Sinne autochthonen Gruppe aneignen, werden zugleich Orte für die zu ihnen gehörigen Dinge. An solchen milieuspezifischen Synthesestellen von Mensch und Artefakt sind unter anderem soziokulturell relativ homogene Wohnquartiere sowie Orte des Konsums, habitueller Praktiken oder der Repräsentation kollektiver Lebensstile erkennbar. Als atmosphärische Medien der Symbolisierung von Milieuzugehörigkeit wirken die Dinge über ihre erkennbare soziale Verortung. Wo sich die Dinge der Upper Class räumlich konzentrieren, verweisen sie in ihrer sinnlichen Präsenz symbolisch und atmosphärisch auf den Raum einer spezifischen Wohn- und Lebensenklave. Imaginäre Grenzen werden im sozialen Raum zwar auch durch die Platzierung von Dingen gezogen. Dabei sind sie im engeren Sinne aber habituelle Medien der atmosphärischen Selbstzuschreibung von Identität. Die Bedeutung der Dinge in der Konstitution von Atmosphären darf nicht den Eindruck erwecken, dass alle Atmosphären von Dingen ausgehen, aber nicht von deren Um-Raum. Diesem Irrtum unterliegt Niklas Luhmann, wenn er betont, dass Atmosphäre »nie der Raum selbst« sei, weil er als »Medium niemals sichtbar werden kann«. 59 Luhmann verkennt dabei, dass Raum im Medium der Atmosphäre spürbar werden und ganz ohne Dinge räumlich ausgedehnt sein kann, wie die Stille. Deshalb trifft das handlungstheoretische Raumverständnis von Martina Löw auch nicht den Charakter von Atmosphären: »Raum entsteht im Handeln als relationale (An-)Ordnung und strukturiert als 57 58 59
Canetti 2010, S. 28. Patzelt 2007, S. 197. Luhmann 1997, S. 181 f.
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11. · Atmosphären der Stadt
solche das Handeln.« 60 Wie das Beispiel der Stille oder der Gewitteratmosphäre zeigt, konstituieren sich Atmosphären auch völlig unabhängig von menschlichen Handlungen. Schon gar nicht sind es immer Handlungen im soziologischen Sinne, die Atmosphären hervorrufen oder auf sie einwirken.
11.6. Zusammenfassung Die folgende Zusammenfassung pointiert und annotiert Merkmale von Atmosphären, die sich in den Durchquerungen von Räumen unterschiedlichster Art in den Kapiteln dieses Bandes konkretisieren. Atmosphären … … vergegenwärtigen uns die gelebte Seite der Stadt. Diese konstituiert sich in einer großen Mannigfaltigkeit subjektiver (individueller wie kollektiver) Erlebniswirklichkeiten, die räumlich und zeitlich variieren. Situative Befindlichkeiten, Interessen, Gruppenzugehörigkeiten, aber auch das wechselnde Wetter oder der Wandel der Jahreszeiten lassen das objektiv Gegebene in immer neuen Wirklichkeiten aufscheinen. … machen auf eine Ontologie des leiblich spürbaren Raumes aufmerksam. Dieser steht im Gegensatz zum mathematischen Raum der relational platzierten körperlichen Dinge. Während der mathematische Raum nach messbaren Abständen gegliedert ist, konstituiert sich der leibliche Raum der Atmosphären in Gefühlen der Enge und Weite. … machen auf eine Wirklichkeit jenseits der Dinge aufmerksam. Wenn die Dinge im physischen Raum auch das sichtbare Bild der Stadt gleichsam füllen, so werden räumliche Vitalqualitäten doch durch Erscheinungsweisen geprägt, die nicht von den Dingen im engeren Sinne ausgehen. Die Dinge begegnen uns in grellem Licht und fahlem Schatten, in lähmender Hitze und beißender Kälte, in lärmendem Toben und dunkler Stille, das heißt in halbdinghaften Medien, die die Atmosphären eines Ortes oder einer Situation prägen. … werden in ihrer Sinnlichkeit kulturabhängig erlebt. Emotionale Sensibilitäten wirken auf kognitives Verstehen ebenso ein, wie kognitive Verstehensroutinen Gefühle konstituieren. Affektive Dispositio60
Löw 2001, S. 210.
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Zusammenfassung
nen erzeugen Betroffenheiten oder schirmen sie ab. Ebenso öffnen oder verschließen kognitive (zum Beispiel ideologische) Deutungsmuster Atmosphären in ihrem emotionalen Erleben. … bestreiten den universalen Geltungsanspruch konstruktivistischen Denkens. Zwar werden städtische Atmosphären zum Beispiel durch die Gestaltung von Plätzen, Parks und Einkaufsmeilen oder die Illuminationen eines Flussufers von ästhetischen Gestaltern (wie Architekten, Lichtkünstlern, Designern) intentional gemacht. Keine Atmosphäre geht aber je ganz auf das konstruierte Werk eines Akteurs zurück. Schon ihre Herstellung baut auf ein bewegendes Moment, das sich jeder festlegenden Planung entzieht. … heben die Trennung von Raum und Zeit auf. Im atmosphärischen Raumerleben gibt es keine Zeit diesseits des Raumes und keinen Raum diesseits der Zeit. Mitweltliches Erleben entfaltet sich in der Raum-Zeit der Aktualität eines Zeit-Ortes. »Wahrnehmung ist immer zeitlich und örtlich bestimmt« 61 – sie lebt aus der Wirklichkeit eines Ortes. … bilden Inseln inkludierenden Erlebens. Wie die Gewächshäuser des 19. Jahrhunderts im Raum der Stadt exotische mikroklimatische Inseln bildeten 62, so erscheint die beheimatende Atmosphäre im Raum der Wohnung oder des Quartiers als eine Insel umfriedender Zugehörigkeit. 63 Atmosphärische Inseln breiten sich aber nicht nur auf der Ebene der räumlichen Mikrologien der Wohnung, des Hauses oder des Quartiers aus. Ihre schützend einkapselnden Effekte entfalten sich noch auf nationalem Niveau. Auf diesem ist es wohl zuallererst die Sprache, die ein Gefühl des Bei-den-Gleichen-seins stiftet, während jenes unsagbare Gefühl des Zuhause-seins in der Vertrautheit mit einer Gegend aufgeht. … machen die künstliche (kulturell konstruierte) Beschränkung des Menschen auf seine geistige und intellektualistische Daseinsweise augenfällig. Die moderne Fiktion des rational handelnden AkteursMenschen abstrahiert von seiner leiblichen Involviertheit in Umgebungen. Die planende Herstellbarkeit von Atmosphären (in KaufZur Lippe 2010, S. 113. Vgl. Sloterdijk 2004, S. 338 ff. 63 Am Beispiel der Phonotope pointiert Sloterdijk die selbstimmunisierende Funktion der Volksmusik gegenüber Eindrücken des Fremden. Ablenkende und zugleich einhüllende Funktion hat die Musikberieselung in Kaufhäusern (vgl. 2004, S. 377 ff.). 61 62
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11. · Atmosphären der Stadt
häusern 64, Kirchen, Gerichtssälen etc.) kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich subjektive Erlebnisqualitäten konstituieren können, die dem Programm ihrer Inszenierung zuwiderlaufen. … sind kein Gegenstand routinierten Sprechens. Darin kommt nicht grundsätzlich eine Grenze des Aussagbaren zur Geltung, sondern ein Verstummen sprachlicher Eloquenz im Metier der Gefühle als Folge einer zivilisationshistorischen »Dämpfung der Affektäußerungen«. 65 Was der Kompetenz zur sprachlichen Artikulation aber entzogen ist, kann nicht umstandslos zum Gegenstand der Kritik werden. Atmosphären spiegeln die Wirklichkeit einer Stadt auf der Ebene ihres Erlebens wider. Damit öffnet sich zwar ein Spiegel der Subjektivität, deshalb aber nicht a priori auch ein Feld der Beliebigkeit, konstituiert sich Subjektivität doch auf zwei dialektisch ineinander verwobenen Ebenen: Zum einen entsteht sie auf dem biografischen Hintergrund persönlicher Erfahrungen und Prägungen, hat also einen im engeren Sinne individuellen Rahmen. Zum anderen steht dieser aber nie außerhalb der Gesellschaft. Sozialisation vollzieht sich in kollektiven wie kollektivierenden Mustern, die durch die Normen und Werte soziokultureller Gruppen strukturiert werden. So schwingen auch im Erleben und Verstehen von Atmosphären stets bestimmte soziokulturell differenzierte Relevanzsysteme in Gestalt von Gefühlsregimen und Deutungsmustern mit. Wie die Rede über Städte nur im Rahmen einer Referenzkultur konsistent sein kann, muss sich auch die Thematisierung von Atmosphären der Stadt in diesem Rahmen bewegen. Die hier diskutierten Merkmale von Atmosphären der Stadt beziehen sich auf die europäische Stadt. Wie afrikanische und ostasiatische Städte erlebt und atmosphärisch inszeniert werden, müsste Thema eines Kulturvergleichs sein.
64 65
Vgl. Kazig 2012. Elias 1969, S. 328.
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12. Atmosphären und Stimmungen Gefühle als Medien der Kommunikation
Den Begriff der Atmosphäre verwenden wir in einem zweifachen Sinne – zum einen zur Beschreibung der Gashülle, die die Erde umgibt und deren Zusammensetzung sich mit naturwissenschaftlichen Methoden untersuchen lässt; zum anderen zur Beschreibung jener auratischen Umwölkungen, die sich zwischen Menschen konstituieren. Die Erdatmosphäre ist ein naturwissenschaftlicher Gegenstand. Im Unterschied dazu werden Atmosphären des Gefühls von einer Reihe paradigmatisch und methodologisch zwar heterogener, in jedem Falle aber nicht-naturwissenschaftlicher Disziplinen zum Gegenstand gemacht. 1 Genaugenommen werden sie mit Ausnahme der Philosophie (insbesondere Phänomenologie) von den meisten Sozialwissenschaften aber eher angesprochen als systematisch in theoretische Erklärungsund Aussagesysteme integriert. Im Unterschied zu den Gasen der Erdatmosphäre ist der ontologische Status der Atmosphären des Gefühls vieldeutig und je nach wissenschaftstheoretischer Perspektive auch umstritten. Ich werde mich im Folgenden mit der Ontologie von Atmosphären und Stimmungen auseinandersetzen und dabei vom theoretischen Ausgangspunkt der Neuen Phänomenologie der Frage nachgehen, welche Rolle Atmosphären und Stimmungen gesellschaftlich spielen.
Atmosphären des Gefühls werden unter anderem angesprochen von den Gesellschaftswissenschaften (unter anderem Soziologie), den Kunstwissenschaften (unter anderem Musik, Malerei), den Erziehungswissenschaften (unter anderem Schulpädagogik), der Psychologie (unter anderem ökologische Psychologie), der Architektur (unter anderem Architekturtheorie), den Geisteswissenschaften (unter anderem Philosophie, insbesondere Phänomenologie). Das Spektrum ließe sich bis in die Sinologie und Japanologie erweitern.
1
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12. · Atmosphären und Stimmungen
12.1 Zur Ontologie von Atmosphären und Stimmungen In der deutschen Mythologie des Mittelalters standen Sommer und Winter (ähnlich wie Tag und Nacht) in einem metaphorischen Verhältnis des Kampfes zueinander. Die Jahreszeiten Frühling, Sommer, Herbst und Winter waren noch nicht entmythologisiert, noch nicht zu kalendarischen Jahreszeiten profanisiert. Der frühe Sommer begann nicht an einem bestimmten Datum, sondern er setzte mit der wahrnehmbaren Häufung von Anzeichen seiner bevorstehenden Ankunft allmählich ein (blühende Blumen, der erster Storch, der erste Maikäfer und andere). Der nahende Sommer kündigte sich in charakteristischen Naturerscheinungen an. Dazu gehörten auch bestimmte »Naturekstasen« 2 wie das Blühen erster Frühlingsblumen. So ging der Frühling dem Sommer nicht nur im Gestaltwandel der Natur voraus; als Atmosphäre wurde er in einem pathischen Sinne mitweltlich auch erlebt. Aus diesem Fluss des Erlebens heraus wurde er sinnlich in gewisser Weise auch verstanden. Das ist auch in der High-Tech-Postmoderne nicht anders. Zwar wissen die Menschen (meist) nur Rudimentäres über Klima und Wetter im naturwissenschaftlichen Sinne, lebensweltlich gilt ihnen deshalb auch nicht dieses Wissen als relevanter Anzeiger für einen Wandel der Jahreszeiten, sondern das leibliche Spüren von Witterungen. So hat es nichts mit klimatologischem Faktenwissen zu tun, wenn man sich von einer jahreszeitlichen Veränderung des Klimas und des Wetters mitgenommen fühlt. Deshalb werden Situationen von Frühling und Sommer auch mehr mit Frühlings- und Sommer-Empfindungen als mit detailliertem Wissen um die klimatologischen Entstehungsgründe von Frühlings- und Sommerwetter assoziiert. Auf den nahenden Sommer stimmten sich die Menschen noch lange nach dem Mittelalter mit Ritualen ein, in deren Vollzug sich sommerliche Atmosphären konstituierten. In einer (sozialen) Atmosphäre der Festlichkeit wurde der Frühling empfangen. Die Rituale waren unterschiedlich und vielfältig: »Hier tragen kinder einen hahn, dort eine krähe oder einen fuchs umher […]«. 3 Der Winter wird auf diese Weise ausgetrieben (Todaustragen). Ergreifende Redensarten ergänzten die zum Teil allegorischen Inszenierungen. Bildliche Rede und Gernot Böhme spricht damit ein charakteristisches »Sich-von-sich-aus-Zeigen« der Natur an (vgl. 1991, S. 131 ff.). 3 Grimm 1985, S. 637. 2
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Zur Ontologie von Atmosphären und Stimmungen
habituelles Spiel dienten als Brücken der Verknüpfung kultureller Bedeutungen mit leiblichem Empfinden. Noch heute ist vom An-bruch des Sommers (wie des Tages) aber vom Ein-bruch des Winters (wie der Nacht) die Rede. Während das Anbrechende mit einem Beginn und guten Ankünften assoziiert wird, steht ein Ausbruch für Bedrohliches, Überfallendes oder Hereinbrechendes. 4 Die gefühlsmäßigen Bedeutungen dieser und anderer Metaphern sind dem Wissen der heute lebendigen Alltagssprache weitgehend entronnen. Die Bedeutung von Atmosphären im gesellschaftlichen Leben ist dagegen ungebrochen, wenn sich ihre Situationen im Laufe der Jahrhunderte auch geändert haben, denn Atmosphären stehen mit den ihnen eigenen Bedeutungen stets in ihrer Zeit. Ein in der Rezeption des Schmitz’schen Atmosphären-Verständnisses immer wieder diskutierter Punkt ist die gleichsam zweifache affektive Tönung, die Atmosphären zu eigen ist. Schmitz unterscheidet »Fühlen als Wahrnehmen des Gefühls als eine Atmosphäre und Fühlen als affektives Betroffensein davon«. 5 Dieses Verständnis unterscheidet zwischen einem objektiven und einem subjektiven Charakter von Atmosphären. Subjektiv ist für Schmitz eine (atmosphärische) Situation, wenn man nur im eigenen Namen aussagen kann, was man von ihr zu spüren bekommt. Subjektivität sieht Schmitz damit weniger im Subjekt begründet als in der Eigenart von Sachverhalten, Programmen und Problemen (den Elementen einer Situation). Objektiv ist eine Situation folglich dann, wenn jeder sie aussagen kann. 6 Objektivität gibt es bei Atmosphären insofern aber nur in einem eingeschränkten Sinne, weil sie aufgrund ihres ontologischen Charakters gar keine Objekte sein können. Schmitz spricht sie daher auch als präobjektiv an. 7 Über die Situation einer Atmosphäre der Trauer, wie man sie einem Trauerzug ansehen kann, der auf dem Friedhof einem Sarg folgt, kann in diesem Sinne jeder eine Aussage treffen, der über eine gewisse (em-)pathische Sensibilität verfügt. Im Unterschied dazu kann aber nur ein individuell tatsächlich vom Gefühl der Trauer Betroffener über diese (seine) Trauer-Stimmung etwas aussagen. Vgl. Grimm 1985, S. 621 f. und 626. Ein Vulkan bricht aus, ein Unglück überfällt jemanden, und ein Unwetter oder ein schlimmes Schicksal bricht herein. 5 Schmitz Gef, S. 48. 6 Ebd., S. 51. 7 Schmitz Bd. III/2, S. 103. 4
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12. · Atmosphären und Stimmungen
Deshalb sieht Schmitz präobjektive Atmosphären als unpersönliche Atmosphären an, in die man hineingerät wie in das Wetter. 8 Man ist von einer solchen Atmosphäre so lange affektiv nicht betroffen, wie man in einer affektiv distanzierten Beziehung zu ihr steht. Mit anderen Worten gesagt, bleibt eine Atmosphäre so lange präobjektiv, wie sie einen umweltlichen und keinen mitweltlichen Charakter hat. Wie das Beispiel der Trauer zeigt, kann man aber auch eine auf Distanz gehaltene Atmosphäre gefühlsmäßig wahrnehmen. Sie bleibt dann in gewisser Weise äußerlich und springt nicht in das eigene affektiv-leibliche Befinden über; sie ergreift nicht, sondern bleibt eine Situation, die man (kognitiv) begreift und (als etwas Umweltliches) nachvollziehen kann. Das Fühlen als affektives Betroffensein von solchen Atmosphären unterscheidet sich von der eher gegenstandsbezogenen Wahrnehmung einer Atmosphäre dadurch, dass an die Stelle der Distanz das persönliche Betroffensein tritt und der Affekthaushalt des wahrnehmenden Individuums ergriffen wird. Die Situation einer Atmosphäre geht dann affektiv nahe und es entsteht ein leiblich ergreifendes Gefühl situativer Teilhabe. Eine Grenze zwischen Atmosphären und Stimmungen markiert jene Beschreibung von Rilke, in der Malte eine Atmosphäre lachender Menschen (emotional distanziert) wahrnimmt, die Gruppe der Lachenden ihn aber in den affektiven Bannkreis der (affektiv geteilten) Stimmung gleichsam eingemeinden will, wozu sich Malte aber emotional nicht in der Lage sieht: »und die Leute hielten mich auf und lachten, und ich fühlte, daß ich auch lachen sollte, aber ich konnte es nicht.« 9 Diese von Rilke beschriebene Gefühlsdivergenz impliziert eine Unterscheidung von Atmosphären und Stimmungen, an der es nicht nur in der Alltagssprache, sondern auch im vorherrschenden konstruktivistisch formatierten sozialwissenschaftlichen Diskurs mangelt. Nach Johannes Volkelt ist eine Atmosphäre »auf eine bestimmte Person, eine bestimmte Sache, ein bestimmtes Ereignis oder auf eine Anzahl solcher« 10 gerichtet und hat in dieser Ausrichtung ihr Thema. Atmosphären finden sich deshalb auch in Situationen auf der Objektseite, sind also als spürbare Milieuqualitäten an einem Ort wahrnehmbar und – da sie im Außen der sie wahrnehmenden Person(en) liegen – möglicher Ebd., S. 134. Rilke, S. 47. 10 Volkelt 1905, S. 206. 8 9
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Zur Ontologie von Atmosphären und Stimmungen
Gegenstand intersubjektiver Verständigung. Im Unterschied dazu ist eine Stimmung thematisch nicht auf etwas außerhalb persönlichen Befindens gerichtet. 11 Wenn Atmosphären auch ebenso Gefühle sind wie Stimmungen, so unterscheiden sich beide doch ganz wesentlich. Der Raum einer Atmosphäre hat umweltlichen Charakter, der leibliche und persönliche Raum einer Stimmung hat mitweltlichen Charakter. Dennoch kann eine Atmosphäre zur Stimmung werden, sobald sich das mit ihr verbundene Gefühl so tief im individuellen Betroffensein festfrisst, dass es eine allgemeine persönliche Stimmung grundiert. Die Atmosphäre verliert dann ihren thematischen Bezugspunkt, intensionalisiert ihren Gefühlskern, der sich im Moment des Betroffenseins in die persönliche Situation verschiebt: »die Stimmung, die im Raume lebt, ist meine Stimmung.« 12 Die (reinen) Stimmungen versteht Schmitz auch als »Urschicht, den Boden oder Hintergrund« eines Gefühls. 13 Hat eine Stimmung das personale Befinden getönt, öffnet sie den so Betroffenen für mögliche Infizierungen durch weitere atmosphärisch gerichtete Gefühle, die sich in ihren Bedeutungen in den aktuellen Stimmungsgrund einfügen. Eine Stimmung öffnet aber nicht nur für die affektive Verinnerlichung anderer bedeutungskomplementärer Gefühle. Gegenüber Atmosphären, die sich der Grundstimmung nicht fügen, schirmt sie auch ab. So kann die Atmosphäre der Fröhlichkeit einer Gruppe Feiernder, wie man sie in der Gegenwart dieser Menschen ohne affektive Teilhabe an der Situation des Feierns wahrnehmen und atmosphärisch eben auch spüren kann, nur dann in den persönlichen Stimmungsgrund eingehen und zu einer eigenen fröhlichen Stimmung werden, wenn man sich von der atmosphärisch präsenten und leiblich andrängenden Dynamik fröhlicher Gefühlsäußerungen auch mitnehmen lassen will. Tellenbach betrachtete eine Atmosphäre deshalb als »eine unpersönliche Wirklichkeit« (Hervorhebung Tellenbach), eine Stimmung dagegen als »die Einheit von Ich- und Weltgefühl«. 14 Er reinigt dann aber sein eigenes Denken in einem szientistischen Sinne, indem er Aussagen über Atmosphären den Anspruch der Wissenschaftlichkeit abspricht, weil wegen »der Nicht-Objektivierbarkeit des Atmosphäri11 12 13 14
Vgl. Schmitz WNPhän, S. 192. Lipps 1920, S. 190. Schmitz Bd. III/2, S. 263. Tellenbach 1968, S. 9
231 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
12. · Atmosphären und Stimmungen
schen niemand zur Anerkennung seiner Gegebenheiten gezwungen werden kann«. 15 Dies mag für eine Stimmung gelten, die nur in der Ersten Person ausgesagt werden kann, nicht aber für präobjektive Atmosphären, über die jeder, der sich in ihren Wirkungsraum begibt, verständigungs- und einigungsfähige Aussagen zu treffen fähig ist. Die Verfahren der qualitativen Sozialforschung bieten spätestens seit den 1980er Jahren methodisch differenzierte Wege zur Analyse von Atmosphären. 16 Dass solche Studien in der Forschungspraxis bisher weitgehend ausgeblieben sind, sagt mehr über die Welt- und Menschenbilder der Sozialwissenschaften aus als über Grenzen der wissenschaftlichen Exploration von Atmosphären. Atmosphären übertragen den von ihnen ausgehenden Eindruck nachhaltiger in das eigenleibliche Spüren als dreidimensionale Dinge. Das liegt insbesondere daran, dass Atmosphären ganz in ihrer Äußerung aufgehen. Ihre ergreifende Macht über Stimmungen entfalten sie gerade dann, wenn sie über die Zündung von Betroffenheit in das eigenleibliche Spüren überspringen. Dann wird die Atmosphäre als ein »durch Einleibung fesselndes Halbding« 17 auf dem Niveau der Stimmung zudringlich. Das insbesondere von Hermann Schmitz entwickelte phänomenologische Atmosphären-Konzept erweist sich auf dem Hintergrund der ontologischen Abgrenzung der Atmosphären von den Stimmungen dort auch als politisch bedeutsam, wo Atmosphären als spürbare Medien der Kommunikation intentional hergestellt werden. Das geschieht planvoll, also in der Verfolgung spezifischer Interessen zum Beispiel in der Grünraumplanung, in der Dekoration in Kaufhäusern, in der Mode, in der Lichtplanung und in der Architektur, um nur wenige Beispiele zu nennen. Gegenstand der atmosphärischen Kommunikation sind dabei stets Bedeutungen, die sich auf dem kollektiven Erfahrungshintergrund einer Kultur wortlos, also von selbst verstehen. So dient die Inszenierung von Oberbekleidung im ansprechend gemachten Milieu spezifischer Kaufhausatmosphären nicht der Information über die aktuellste Mode. Auf einem Niveau der Tiefenästhetisierung bieten solche Inszenierungen vielmehr distinktive Medien der soziokulturellen Ebd., S. 60. Mit der Analyse der Atmosphäre einer Straße habe ich ein empirisches Beispiel in diesem Sinn geliefert (vgl. Hasse 2002.2). 17 Schmitz Bd. III/5, S. 127. 15 16
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Atmosphären als Stimmungsmedien
Selbstverortung an. So werden die Waren in einem pseudomusealisierenden Sinne ausgestellt, um sie qua Ästhetisierung als Objekte der Selbst- wie Fremdzuschreibung von Identität dem potentiellen Käufer anzubieten. Die damit kommunizierten Bedeutungen, die in aller Regel subkulturell adressiert sind, lassen sich aber nicht auf einem linearen Wege in Stimmungen übertragen, da sie zunächst den ausgestellten Dingen unauflösbar anhaften. Indes dient ihre atmosphärische Inszenierung der Weckung von Begehrlichkeiten, die zwar auf Dinge (hier der Mode) gerichtet sind, sich aber als Gefühl eines Haben- und Sein-wollens in eine den Dingen zugeneigte Kauf- bzw. Konsumstimmung umsetzen soll. Damit offenbaren sich die intentional hergestellten Atmosphären (aus unterschiedlichen Gründen) als Medien der Affizierung von Stimmungen. Das heißt im Allgemeinen: Die in gesellschaftlichen Systemen wurzelnden Atmosphären gehen in ihrem systemischen Sinn in der Zündung von Stimmungen erst auf. Ich werde am Schluss des Kapitels zwei Beispiele solcher Atmosphären- und Stimmungspolitik etwas näher ausführen. Dabei wird sich vor allem zeigen, dass atmosphärische Attacken und dissuasive Strategien darauf angelegt sind, das sich seiner selbst bewusste und handlungsfähige Subjekt immersiv zu kolonisieren. In der planvollen Kommunikation im Medium der Atmosphären wird das subjektive und gesellschaftlich kollektive Fühlen auf Systemfunktionalität hin gestimmt – das Subjekt wird zum Subjekt-Objekt.
12.2 Atmosphären als Stimmungsmedien Unabhängig von der Frage, ob man Atmosphären (mit Schmitz) einen präobjektiven Status zuweist, sie (mit Böhme) ontologisch in einem Raum zwischen Subjekt und Objekt verortet oder, wie ich das selber beschrieben haben, als Umschlagsraum von Bedeutungen und Gefühlen begreift, so wirken sie doch als nicht dingliche Eindrücke (als Halbdinge par excellence) auf das menschliche Tun ein. Atmosphären lassen sich deshalb auch als affektiv spürbare Beziehungen zum eigenen Selbst wie zur Welt der Dinge, Ereignisse und anderer Menschen auffassen. Stimmungsmächtig werden sie dann, wenn sie das Gefühl grundbefindlichen Seins tönen. Da sich Menschen aber immer in irgendeiner Grundstimmung befinden, nehmen sie aus deren affektivem Rahmen auch die Vielfalt situativ wechselhafter Atmosphären wahr. 233 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
12. · Atmosphären und Stimmungen
Die persönlichen Stimmungen bilden einen Resonanzboden, auf dem weltliches Geschehen erlebt wird. Als Folge des Umstandes, dass Atmosphären ästhetische Medien leiblicher Kommunikation sind, können sie in keinem hermetischen Sinn auf eine bestimmte Stimmungswirkung hin inszeniert werden. Dennoch wirken sie (im Sinn phänomenaler Wirk-lichkeit) an der Ordnung der Dinge mit, indem sie die Welt in ihrer lebendigen Dynamik affektiv erlebbar machen. Die in der performativen Prozesshaftigkeit städtischen Lebens keimende Überraschung ist Moment der Nichtberechenbarkeit ihrer Geschehensverläufe. Orte, von denen eine besondere Anziehung ausgeht (von Plätzen über Bauwerke bis zu Landschaften), verdanken sich in ihren Atmosphären nur bedingt der Gestaltung von Dingen. Von ebenso großer Bedeutung sind die nur in Grenzen disponierbaren Modalitäten ihres Erscheinens – man denke nur an die atmosphärische Macht von Licht, Geruch, Lautlichkeit und schließlich von Klima und Wetter. So konstituiert sich eine Atmosphäre als immaterielles ganzheitliches Amalgam gleichsam zwischen und über der Ordnung der Dinge. Auch Atmosphären, deren situative Mächtigkeit in den Rhythmen der Natur begründet ist, gehen unter bestimmten Bedingungen in die persönliche Stimmung ein. Ein Beispiel dafür liefert Theodor Storms Gedicht »Die Stadt« 18, von dem oft nur die letzte Zeile (»Du graue Stadt am Meer«) zitiert wird. Bei Storm kommt eine Atmosphäre der Stadt zur Sprache, in der sich ein spürendes Wittern des Husumer Wetters ausdrückt. Storm schreibt nicht über die Situation eines heißen Tages im Sommer, sondern die eines feuchten und in der Sicht verhangenen Tages im Herbst. Seine persönliche Stimmungssituation ist diesem Wetter gegenüber aufgeschlossen, sonst hätte ihn die Atmosphäre des Wetters nicht affizieren können. Weitere Zeilen des Gedichts zeigen, wie sich Erscheinungsweisen des Wetters über bewegungssuggestive Brücken der Wahrnehmung in die Atmosphäre der grauen Stadt am Meer übertragen: »Der Nebel drückt die Dächer schwer / Und durch die Stille braust das Meer / Eintönig um die Stadt«. Schon diese drei Zeilen künden von einem Bewussthaben segmentierter atmosphärischer Situationen, die in einem melancholischen Bild der grauen Stadt zu einer Einheit verschmelzen. In das Empfinden der drückenden Schwere des Nebels haben sich mehr spürbare als sichtbare Eindrücke übertragen; das Halbdurchsichtige des Nebels suggeriert eine diffuse Masse, die 18
Storm 1975.
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Atmosphären als Stimmungsmedien
sich niederdrückend mit dem Gefühl der Schwere verbindet. Dieses Gefühl wird durch die Stille noch verstärkt, die sich auf dem Hintergrund des hörbar brausenden Meeres erst mit so großer Eindrucksmacht erhebt. Drei weitere Zeilen aus der zweiten Strophe verbreitern das melancholische Stimmungsbild der grauen Stadt am Meer: »Die Wandergans mit hartem Schrei / Nur fliegt in Herbstesnacht vorbei / Am Strande weht das Gras«. Wie das Brausen des Meeres die Stille vergrößert, so kontrastiert das seichte Wehen des Grases am Strand den harten nächtlichen Schrei der Gans, der als nächtliches Herbstereignis noch härter wird. Die Dichte der einzelnen Situationssegmente, die ihre synästhetische Macht erst im Ganzen des Gedichts freigeben, geht in einer umwölkenden Atmosphäre der Eintönigkeit auf. Das Beispiel illustriert auf dem Maßstab einer Kleinstadt eine mit gestaltreichen Eindrücken vielschichtig aufgeladene Atmosphäre. Die Bedeutung der Halbdinge konkretisiert, was Böhme mit den Erzeugenden einer Atmosphäre anspricht. Die Dinge werden erst in ihrer Verbindung mit den sie der Wahrnehmung zudrängenden Halbdingen zu Medien atmosphärischen Spürens. Nicht die Wandergans an sich stimmt die Atmosphäre, sondern ihr harter Schrei, nicht das Gras, sondern sein seichtes Wehen. Bevor ich zwei Beispiele für die Stimmungsmacht gesellschaftlich konstruierter Atmosphären skizzieren werde, sollen drei Entstehungswege von Atmosphären deutlich machen, unter welchen Bedingungen Atmosphären Stimmungen induzieren können. Zum Ersten gehen Atmosphären (auch wenn sie gesellschaftlich konstruiert sind) nie in Gänze im Kalkül menschlichen Handelns auf. Hier ist insbesondere an jene Atmosphären zu denken, die nach Gernot Böhme in Ding-Ekstasen begründet sind, also in ihrem sich der Aufmerksamkeit aufdrängenden »Aus-sich-Heraustreten« 19. Ein Ding kann über seine olfaktorische Wahrnehmung eine Atmosphäre des Geruchs konstituieren und das Dasein in dessen Umgebung »damit gleichsam ins Schwingen« bringen. 20 Ähnliches geschieht im Leuchten städtischer Illumination Böhme 2001.1, S. 131 f. »Die pathische Dimension des Riechens ist wie eine Kommunikation mit dem eigentlichen Dasein der Dinge (oder Wesen), in welcher das Dasein gleichsam ins Schwingen gebracht wird in der Erschütterung der Seinsschichten.« (Henri Maldiney, zit. bei Buytendijk 1968, S. 10).
19 20
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12. · Atmosphären und Stimmungen
oder im Tönen einer Kirchenglocke. Während für diese Fälle eine menschliche Mitwirkung insofern noch gegeben ist, als sich von Menschen gemachte Dinge mitunter (je nach ihrer Art) in Ekstasen zeigen können, markieren die Natur-Ekstasen selbst einen ästhetischen Bereich, der in einem weitgehenden Sinne 21 nicht in Grund-Folge-Beziehungen zu menschlichen Aktivitäten steht. Natur-Ekstasen wie die Bewegung einer Trauerweide im Wind oder das als Folge einer schwülen Wetterlage dräuende Gewitter, konstituieren Atmosphären, die aufgrund der Unverfügbarkeit der auf sie einwirkenden Halbdinge der Natur (Wind, Wetter, Gewitter etc.) selber unverfügbar sind. Dennoch wird das Verhältnis zu solchen Atmosphären oft gesellschaftlich formatiert. So bilden kulturspezifische Mentalitäten nicht nur einen Denk-, sondern – mehr noch – einen Gefühlshintergrund für das Erleben bestimmter Atmosphären. Damit ist auch die kulturelle Stimmbarkeit der Individuen und Gruppen durch Atmosphären vorformatiert. Einen am Himmel zuckenden Blitz sind wir erst dann in der Lage, in einer Atmosphäre des Erhabenen zu erleben, wenn wir uns des wirksamen Schutzes durch einen Blitzableiter sicher sein können. 22 Niemand, der auf freier Flur schutzlos von einem schweren Gewitter überrascht wird, dürfte dagegen emotional für ein naturidealisierendes atmosphärisches Blitz-Erleben offen sein. Atmosphären entstehen zum Zweiten im Verlauf sozialer Prozesse. Dazu bedarf es keiner Dinge. So spricht man von einer aufgeheizten oder angespannten Atmosphäre auf der einen und einer freundlichen oder konstruktiven Atmosphäre auf der anderen Seite. »Die Atmosphäre ist so schlecht wie seit Jahrzehnten nicht mehr«, hieß es in den Zeitungen anlässlich der Spannungen zwischen Washington und Berlin wegen der politischen Differenzen angesichts des von den USA im März 2003 initiierten Irakkrieges. Noch lange nach dessen offiziellem Ende wird die Atmosphäre auf dem internationalen Flughafen von Bagdad von manchen Zeitungen als unwirklich beschrieben. Die Reihe ließe sich durch zahllose Beispiele ergänzen. Wenn soziale AtmosphäIch spreche hier insofern nur von einer »weitgehenden« Distanz zu Grund-Folge-Beziehungen zu menschlichem Tun, weil auch Naturdinge durch die Hand des Menschen in die Welt gesetzt werden (können), so dass auch die mit dem ekstatischen Erscheinen der Natur-Dinge dann verbundenen Ekstasen in gewisser Weise am Faden menschlicher Tätigkeiten hängen, wenn auch in anderer Weise als bei Dingen, die im eigentlichen Sinn gemacht sind, wie eine Tasse oder ein Spiegel. 22 Vgl. Bartels 1989. 21
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Atmosphären als Stimmungsmedien
ren auch aus der Dynamik situativen Geschehens heraus entstehen, so können sie doch auch zielgerichtet evoziert, verstärkt und instrumentalisiert werden, um Stimmungen hervorzurufen oder zu verändern. Soziale Atmosphären können ihren Einfluss in diskursiven Praktiken entfalten, um einen Diskurs im engeren Sinne (als Diskurs der Sprache) durch ästhetische Interventionen gleichsam stimmungspolitisch zu lenken 23 und damit dessen Ergebnis zu beeinflussen. Atmosphären sind zum Dritten immer Medien leiblicher Kommunikation. Indem die Leiblichkeit des Menschen aber zivilisationshistorisch ins diskursive Abseits der Sprachlosigkeit gedrängt worden ist, sind leiblich spürbare Eindrucksqualitäten für die meisten Menschen kein Thema eloquenten Sprechens. Umgekehrt ist die zivilisationsbedingte Sprachnot in der Explikation und Benennung von Gefühlen für professionelle Atmosphären-Konstrukteure daher eine epistemische Ressource auf dem Wege zur Erzielung maximaler Wirkungsgrade. Mehr noch verdanken sich die Medien des Ästhetischen in der Entfaltung ihrer suggestiven Kräfte ausdrücklich dieser strukturellen Sprachlosigkeit, wenn sie im Sinne eines Dispositivs im Foucault’schen Verständnis eingesetzt werden. Der Stimmungs-Erfolg inszenierter Atmosphären setzt also zweierlei voraus: erstens einen lebensweltlichen Analphabetismus in der Kommunikation subjektiver Gefühle und zweitens professionelle Routinen in deren suggestiver Ansprache. So kann die durch die Innenarchitektur eines Kaufhauses inszenierte Atmosphäre erst deshalb mehr oder weniger nachhaltig ihr Ziel der Konsumstimmung erreichen, weil der ästhetische Eindruck vom Kaufhauskunden in aller Regel nicht bewusst wahrgenommen wird, sich vielmehr in den dunklen Korridoren halb- bis unbewusster Reaktionen ausbreitet, um sich in einer abgesunkenen Kartographie von feeling maps festzusetzen. Der Bruch zwischen Prozessen leiblicher Wahrnehmung auf der einen Seite und einem daraus resultierenden Tun auf der anderen Seite kommt dann der Konsolidierung und Differenzierung gesellschaftlicher Systeme entgegen, wenn die Kopplungen zwischen systemisch induziertem Sollen und individuell begehrtem Wollen verdeckt bleiben. Dieses Prinzip der epistemischen Spaltung, das heißt der Entfremdung der Massen von ihrem eigenen Tun durch systematische Manipulation wie Unbewusstmachung ihrer Affekte ermächtigt die Kulturindustrie, deren Funktion in der Gesell23
Vgl. Waldenfels 1991, S. 292.
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12. · Atmosphären und Stimmungen
schaft von Adorno und Horkheimer in gesellschaftstheoretischer und von Marcuse in triebanalytischer Perspektive analysiert worden ist. Von der rationalistischen Handlungstheorie werden diese systemgenerierenden und -erhaltenden Prozesse weniger geleugnet als stumm übergangen. Atmosphären, die im systemtheoretischen Sinne intentional konstruiert sind, folgen Handlungs-zielen. Die Erreichung angestrebter dissuasiver Ziele setzt Macht-Wissen über leibliche Kommunikation voraus, welches der Unterwerfung anderer unter fremdbestimmende Herrschaftskalküle dient. Machtwissen zur sozialen Konstruktion von Atmosphären zum Ziele der Stimmung von Individuen und Gesellschaften wird in verschiedenen Sozialtheorien in je spezifischer Akzentsetzung thematisiert: Sigmund Freud spricht vom Spiel mit dem Unbewussten, Jean Baudrillard von Strategien der radikalen Verführung (Dissuasion), Mario Erdheim von systematischer Unbewusst-machung und Michel Foucault vom Ereignis im Außen des Diskurses. Ich werde im Folgenden am historischen Beispiel der Gartenkunst und am aktuellen Beispiel der postmodernen Ästhetisierung der Städte knapp erläutern, wie stimmungsgenerierende Atmosphären nicht im imaginären, sondern tatsächlichen Raum inszeniert werden.
12.3 Gärten als konstruierte Gefühlsräume und atmosphärische Stimmungsmedien Mit dem Sesshaftwerden der Menschen und dem ortsgebundenen Wohnen beginnt die Geschichte der Gartengestaltung. Gärten gehören zum Raum des Wohnens, in dem sie die Gefühle ortsbezogener »Raum-Dämonen« 24 bündelten. Aufgrund ihrer ästhetischen Gestaltung sollten sie sich programmatisch und auch tatsächlich als atmosphärische Räume dem Erleben der Menschen aufdrängen. Mit toten und lebendigen Dingen (Steinen, Mauern, Figuren, Häusern und Pflanzen) wurden sie angelegt – als begehbare Allegorien, in denen sich das aktuelle Leben mit der Vision einer utopischen Welt verbindet 25, wurden sie erlebt. Raum und Zeit der Gegenwart verlieren sich im ästhetischen Weichbild des Gartens und die realen gesellschaftli24 25
Sloterdijk 2006, S. 59. Vgl. Stichwort »Mythos« bei Vetter 2004, S. 373–376.
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Gärten als konstruierte Gefühlsräume und atmosphärische Stimmungsmedien
chen Verhältnisse treten in einen Hintergrund des Denkens. Gärten sind mythische Räume, deren Atmosphären gezüchtet werden. Michel Foucault thematisiert die Mythen als narrative Elemente, die von Ordnungen erzählen, die es in der gesellschaftlichen Realität nicht gibt. Der heterotopologische Raum des Gartens kittet die Risse zwischen Utopie und Dystopie, um im Metier des Gefallens bestehende Ordnungen zu zementieren und damit gesellschaftliche Widersprüche dem Bewusstsein zu entziehen. Nach Foucault leben die Mythen nicht nur in Geschichten, die in der Nacherzählung weitergegeben werden. Auf komplexe und verdeckte Weise teilen sie sich auch durch die ästhetischen Formate und gestaltsuggestiven Gesten des heterotopen Raumes mit. Die Medien des Mythischen sind zunächst die materiellen Dinge des Gärtners. Aus ihrer Komposition erwächst eine architektonische Raum-Ordnung, in der die Atmosphären als immersive Umwölkungen entstehen. Wenn die Dinge auch ihre Ausstrahlung haben, so gehen sie als sinnliche und bedeutende Medien doch erst in einem atmosphärischen Amalgam auf. Die Atmosphäre eines Gartens ist gewisser Weise Ausdruck einer wirkungsvollen Garten- (bzw. Landschafts-) Gestaltung, deren Idee in der räumlichen Reifizierung eines »affektlogischen« 26 Raumprogramms liegt. In seinem sinnlich affizierenden Gehalt ist der Garten dämonisierender Gefühls- und in seinem semiotischen Gehalt mythischer Erzählraum. Im tatsächlichen Raum des Gartens verbinden sich beide Dimensionen eindrucksmächtig und wirkungsvoll. Weil Gärten Räume der Illusion sind, müssen sie vom Rest der Welt getrennt sein. Deshalb sind Gärten mit Mauern, Hecken, Zäunen, Wassergräben oder ähnlichem umfriedet. Erst in seinem Binnenraum kommt ein Garten als heterotoper Raum, als ästhetische Gegen-Wirklichkeit zu sich. Das Wort Garten verweist auf seine Herstellungsgeschichte: Garten kommt von Gerten; das sind biegsame Stangen und Zweige 27, die man früher benutzte, um einen Ring oder Kreis zu schlagen, der den Garten einzäunte, einhegte oder umfriedete. 28 Die Umfriedung bildet einen »Rand des Draußen« 29, um die »abgründigen 26 27 28 29
Vgl. Ciompi 1982. Vgl. Grimm / Grimm Bd. 25, Sp. 3742. Vgl. Grimm 1985, S. 1391. Schmitz Bd. III/4, S. 245.
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12. · Atmosphären und Stimmungen
Erregungen abzuhalten, zu dämpfen und einer harmonischen Gefühlskultur anzupassen« 30. Solche Umfriedung schafft einen realräumlich behagten und atmosphärisch behaglichen Raum. Das Behagen ist auch ein charakteristisches Merkmal des bürgerlichen Hausgartens; es dient dazu, einen Außenraum atmosphärisch als erweiterten Raum des Wohnens zu erschließen. Die mythische Funktion von Gärten überschreitet in kulturhistorischer Hinsicht aber die Bindung des Gartens an das Wohnen in einem Haus, denn auch außerhalb des Wohnhauses haben Gärten die Funktion, das Durchschlagen der Dystopien in die existenzielle Sorge ästhetisch abzufedern. Wir unterscheiden in der Geschichte der europäischen Gartenarchitektur zwei Großformen: den barocken (französischen) und den landschaftlichen (englischen) Garten. Der barocke Garten ist durch eine strenge Geometrie seiner Architektur gekennzeichnet. Die gesamte Ordnung ist auf den Ort des Schlosses und darin das Schlafzimmer des Aristokraten bezogen. Die Gartengestaltung strebt über ihre formale Geometrie und die systematische Gliederung figuraler Elemente der Antike die Konstruktion eines semiotischen Raumes an, der (intellektuell) verstanden und – im Sinne seiner Symbolik – gefühlsmäßig als Raum einer schönen und guten Ordnung erlebt werden sollte. Der barocke Garten war ein aristokratischer Symbolraum, der im 18. Jahrhundert die Macht über das Volk ästhetisch zum Ausdruck brachte. Methoden der Raumcodierung waren gärtnerische Pflanz- und Schnitt-Techniken sowie die Positionierung von Statuen, die mit narrativen Symbolen der griechischen und römischen Mythologie vernetzt wurden. Der barocke Garten spricht in seinem ästhetischen Erscheinen auf mehreren Ebenen. Die semiotische Struktur konfiguriert gleichsam die Möglichkeiten des ästhetischen Garten-Erlebens, denn die im Realraum reifizierten Bedeutungen können erst nach-empfunden werden, wenn der Garten als Raum der Chiffren kulturell verstanden wird. Kein Garten kann daher sein atmosphärisches Programm allein über die in ihm inszenierten und mit Bedeutungen geladenen Dinge erfüllen. Die Garten-Ordnung im Ganzen soll als Herrschaftsgeste derer erlebt werden, die herrschen. Die synästhetische Sprache seiner Inszenierung situiert eine Schwellensituation, in der Sinnlichkeit und Sinn in einer ganzheitlichen Erlebnisqualität aufgehen. Die ästhetische Erfahrung der Szenerie konnte in ihrer Zeit nur jenem ge30
Ebd., S. 259.
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Gärten als konstruierte Gefühlsräume und atmosphärische Stimmungsmedien
sellschaftlichen Kreisen zugänglich werden, die über das (historische Herrschafts-) Wissen zum Verstehen der ganzen Situation verfügten. Erst das komplexe Situationsverstehen eröffnete dem aristokratischen Menschen zur Zeit des Barock auch die Möglichkeit habitueller Teilhabe am aristokratischen Wohnen im Außenraum des Gartens. Wer dagegen – als Bürger des einfachen Volkes – das ästhetische Bild des Gartens in seiner Herrschaftssymbolik nicht zu verstehen wusste, erlebte dessen Atmosphäre allein in der Bildhaftigkeit einer sichtbaren Ordnung, die vor allem eine dressierte Natur zur Anschauung brachte. Die gesellschaftlich konstruierte Atmosphäre des französischen Gartens kann auf einer allein sinnlichen Ebene zwar erlebt, aber nicht erfahren (d. h. verstehend erschlossen) werden. Zwar greifen Erleben und Erfahren im Metier des Ästhetischen ineinander. Erfahrung verlangt aber – anders als gefälliges Erleben – eine zur Sprache und zum Nach-Denken des Erlebten vordringende Reflexion sinnlicher und kulturell codierter Eindrücke. So stimmte der Garten nach seiner Öffnung für das Volk ganz im Sinne seiner aristokratischen Programmierung ein ästhetisches Gefallen am Immer-Gleichen und Genormten. Die sich damit vollziehende heimliche Identifikation des nicht besonders hochgebildeten Gartenbesuchers mit der Herrschaft über das eigene Selbst gehört zur Stimmungslogik des französischen Gartens wie zur Ideologie seines schönen Scheins. Die räumliche Ordnung des englischen (oder landschaftlichen) Gartens strebt im Unterschied zur Programmatik des barocken Gartens keine Naturunterwerfung an. Die Ordnung folgt auch keiner ostentativen Geste der Demonstration politischer Macht. Vielmehr will sie das Freiheitsdenken des späten 18. Jahrhunderts ästhetisch zum Ausdruck bringen. Der englische Garten stellt in gewisser Weise umgekehrt das gebaute Bild (scheinbar) frei wachsender Natur in den Dienst einer romantischen Idee: »Zurück zur Natur«. Historisch entsteht damit ein gartenästhetischer und atmosphärischer Kontrast, in dem der barocke Garten nun als unnatürlich gilt 31. Der englische Garten bedeutet nicht nur Versöhnung von Mensch und Natur; er macht sie atmosphärisch auch spürbar. Treffend kommt die Ambivalenz des ästhetischen Ausdrucks in einer Aussage von Shaftesbury aus dem Jahre 1711 zum Ausdruck. Darin beschreibt er das Ideal des Gartens als eine »Ausgewogen-
31
Vgl. Sühnel 1996, S. 71.
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12. · Atmosphären und Stimmungen
heit, die schweigend eine herrschende Ordnung, Frieden, Harmonie und Schönheit atmet«. 32 Die atmosphärische Programmatik des englischen Gartens war eine in Gänze andere als die des französischen Gartens. Dies betrifft das Erleben seiner Atmosphären wie das Verstehen des damit Bedeuteten. Der Garten von Dessau – Paradigma für den englischen Garten schlechthin – war für seinen Initiator Fürst Franz von Anhalt-Dessau ein »kleines Friedens-, Aufklärungs- und Gartenreich« 33. Die ästhetische Gestaltung dieses Landschaftsgartens steht in einem unauflöslichen historischen Zusammenhang mit den Bedeutungsfeldern der Geisteshaltung zur Zeit der Aufklärung. »Die Aufklärung im Gartenreich erhob sich in der Lebenswirklichkeit und Programmatik des Wörlitzer Gartens […] über die rationale Aufklärung in Deutschland, indem sie die Sinnlichkeit mit der Vernunft in Einklang zu bringen versuchte.« 34
Im Garten gingen folglich Ethik und Ästhetik in einer Einheit auf, so dass es sich geradezu von selbst versteht, dass die atmosphärisch im Landschaftsgarten inszenierte Idee der Aufklärung über das sinnliche Raumerleben hinaus gehen und das Individuum in seinem gesellschaftlichen und historischen Selbstverständnis stimmen sollte. In der Gestaltung des englischen Gartens spielte die Ästhetik des Erhabenen eine zentrale Rolle, wenn sie auch nur an wenigen Orten des Gartens zur Geltung kam. Ihr theoretischer Bezugspunkt war die Theorie von Burke, wonach der affektive Gemütszustand der Furcht und das »Gefühl der Grenzenlosigkeit in Beziehung zum Bewußtsein des Individuums« gesetzt wurde. 35 Als erhaben werden in diesem Verständnis paradoxe Gefühle im Naturerleben aufgefasst, die in ihrer Größe so ergreifend sind, dass sich in ihnen ein Zustand des Schreckens mit einem Gefühl des Angenehmen koppelt. 36 Volkelt unterstrich mit dem (seinerzeit gebräuchlichen) Begriff der Einfühlung das selbstreferentielle Moment des Erhabenen: »Indem wir den übermächtigen Gehalt einfühlen, erleben wir zugleich eine Steigerung unseres SelbstShaftesbury zit. bei Sühnel 1996, S. 73. Vgl. Niedermeier 1996, S. 52. 34 Ebd., S. 54. 35 Pochat 1996, S. 35. 36 Einen hoch differenzierten unter anderem auf Burke zurückgehenden Begriff des Erhabenen findet man bei Volkelt 1910, S. 104–187. 32 33
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Gärten als konstruierte Gefühlsräume und atmosphärische Stimmungsmedien
gefühls«. 37Aufgrund der Paradoxie des Empfindens stellt das Erhabene die Existenz selbst auf die Probe. Es kann in seiner widersprüchlichen Spreizung nicht bei sich bleiben wie ein Gefühl des Schönen, das in (Selbst-) Gefälligkeit ruht. Ähnlich wie das Erhabene bleibt auch das Melancholische (das oft in der Ruinenromantik atmosphärisch in Szene gesetzt wurde) nicht folgenlos, sondern appelliert an leiblich induziertes, mitfühlendes Denken. Die von Christian Cay Lorenz Hirschfeld im 18. Jahrhundert entwickelte fünfbändige Theorie der Gartenkunst darf als eine signifikante und unverzichtbare Quelle umfassenden Expertenwissens in der Herstellung von Gartenatmosphären gelten. Hirschfelds Werk buchstabiert ein Alphabet der Atmosphärenkonstruktion mit den gestalterischen Mitteln der Vegetation. Zu den methodischen Werkzeugen der Erzielung bestimmter Gefühlseffekte gehört in besonderer Weise die Konstruktion synästhetischer Brücken, über die sich ein sinnlicher Eindruck mit einem bestimmten Empfinden verbindet. 38 Hirschfelds Werk zeigt, wie Atmosphären auf der Grundlage differenzierten, systematisch und theoretisch entwickelten (Herrschafts-) Wissens über die Ansprache der menschlichen Gefühle rational hergestellt werden können. Hirschfeld widmet sich nicht nur der Programmatik englischer Gärten. Er gibt auch Empfehlungen für die Gestaltung von Friedhöfen, die als Spezialgärten angesehen werden müssen und in der Kultur des Wohnens eine sepulkralkulturelle Sonderform atmosphärischer Raumgestaltung bilden (vgl. auch Kapitel 19). Hirschfeld setzte die (gepflanzten) Dinge in ihren synästhetischen Wirkungen als Atmosphären vermittelnde Medien ein. Über die Gefühlssuggestionen, die sich dieser Wirkungen verdankten, wollte er einen leiblich spürbaren Gegensatz zur geräuschvollen Bühne der Welt schaffen, der der Bedeutung des Platzes angemessen sein sollte, weshalb Friedhöfe ihre numinose Atmosphäre auch nur in einer ruhigen, einsamen und ernsten Gegend 39 entfalten können: »Das Ganze muß ein großes, ernstes, düsteres und feyerliches Gemälde darstellen, das nichts Schauerhaftes, nichts Schreckliches hat, aber doch die EinEbd., S. 139. »Die Klarheit des Wassers […] theilet allen Gegenständen umher Munterkeit und Freude mit. […] Die Dunkelheit hingegen, die auf Teichen und anderen stillstehenden Gewässern ruhet, verbreitet Melancholie und Traurigkeit« (Hirschfeld 1990, S. 92 f.). 39 Vgl. Hirschfeld 1973, S. 118. 37 38
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12. · Atmosphären und Stimmungen
bildungskraft erschüttert, und zugleich das Herz in eine Bewegung von mitleidigen, zärtlichen und sanftmelancholischen Gefühlen versetzt.« 40
12.4 Die postmoderne Stadt im schönen Schein Im Zeichen der Globalisierung verschärfen sich die Modalitäten des interkommunalen und unternehmenspolitischen Wettbewerbs. Die Differenzen zwischen Zentrum und Peripherie werden deutlicher und das Verhältnis von Ort und Raum passt sich diesen Veränderungen an. Unter den Bedingungen steigender Abgrenzungs- und Unterscheidungszwänge avanciert das Ästhetische zu einem Leitmedium kommunalpolitischer, unternehmerischer wie lebensstilspezifischer Repräsentationen. Um die Funktion des Ästhetischen im Rahmen postmoderner Vergesellschaftung verständlich zu machen, differenziert Wolfgang Welsch zwischen zwei Ebenen des Ästhetischen. Allein an Oberflächenwirkungen ablesbare Effekte von Ästhetisierungen führen zu einer »Ausstattung der Wirklichkeit mit ästhetischen Elementen« 41 – einer Überzuckerung des Realen mit ästhetischem Flair. Beim schönen Schein bleibt es aber nicht, denn das Ästhetische dringt in alle Lebensbereiche vor – bis in die symbolische Überschreibung der eigenen Haut, die Inszenierung des Habitus und eine an kulturellen Moden und Märkten immer wieder aktualisierte Inszenierung von Lebensstilfragmenten. Die Oberflächenwirkungen verbinden sich schließlich mit einer Tiefenschicht im Selbst- und Weltverhältnis des Menschen. Oberfläche und Tiefe verhalten sich dabei nicht in einem konjunktiven, sondern in einem disjunktiven Verhältnis zueinander. Sie treffen aufeinander – wie die Sprache und die Dinge im Foucault’schen Denken – in einer isomorphen Dynamik der Durchkreuzung, aber doch als Moment einer Praktik der Macht. Die immersiven Intensitäten des Atmosphärischen, die zwischen der Oberfläche ästhetischen Gefallens und der Tiefe leiblichen Begehrens fragile Fäden spinnen, sind zum einen Produkt zielgerichteter ästhetischer Interventionen an der Schnittstelle von System und Lebenswelt. Zum anderen können sie aber auch als Sedimente einer kulturindustriellen Autopoiesis verstanden werden. So sind es auch nicht erst und nicht allein die Atmosphären im engeren 40 41
Ebd., S. 119. Welsch 1993, S. 14.
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Die postmoderne Stadt im schönen Schein
Sinne, die das Fühlen und Wollen der Menschen im Sinne ihrer affektiven Anpassung an den Zeitgeist gleichsam justieren. Schon im Atmosphärischen der erscheinenden Dinge bahnt sich eine Macht der Atmosphären an, bevor das einzelne Ding in seiner Situierung in einer (unteilbaren) Atmosphäre aufgeht. In der gegenwärtigen, hoch flexibilisierten Ökonomie ist die Warenästhetik schon lange nicht mehr das zentrale Medium der Kommunikation von Bedürfnissen. Weit über tauschwerte Dinge und Dienstleistungen hinaus ist die eigenleibliche Anwesenheit in spezifischen (eben tauschwerten) atmosphärischen Räumen zum Gegenstand von Begehrnissen 42 avanciert. Solches Mitsein im atmosphärischen Dunst des Besonderen, Distinktiven und Exklusiven geht ganz im atmosphärischen Spüren und Dasein mit anderen auf. Das Ästhetische hat sich als (kulturindustrielles) Medium der »radikalen Verführung« 43 in die Dinge hineingefressen, sich zugleich aber auch völlig von den Dingen gelöst. Das Beispiel der Illumination des öffentlichen Raumes soll an dieser Stelle beispielhaft eine Repräsentationsform illustrieren, die über die technische Produktion von Atmosphären die kulturhistorische Aktualisierung postmoderner Urbanität bewirkt (vgl. auch Kapitel 15). Kulturhistorisch war das Licht immer mit Bedeutungen verbunden. Oft fungiert(e) es über seine profane Funktion der Beleuchtung und Erhellung von Orten auch als Medium der Ideologiebildung. Nach der Erfindung des Gaslichts am Ende des 18. Jahrhunderts und des elektrischen Lichts rund hundert Jahre später gewann der atmosphärische Charakter von Lichtinszenierungen massenkulturell an Bedeutung. Die neue Technologie der elektrischen Beleuchtung, die in wirkungsvollen Illuminationen der Galerien, Passagen und großen Kaufhäuser in Paris, London und später auch in Berlin angewendet wurde, konnte über die industrielle Produktion großer Mengen lichttechnischer Apparate, vor allem von Glühbirnen, schnell zu einer nicht mehr wegzudenkenden Signatur urbaner Kultur aufsteigen. Die Magie des Gaslichts war zwar noch lange stärker als die Faszination des elektrischen Lichts, 44 dennoch vermochten die im Vergleich zum Gaslicht hellen, seinerzeit sogar als grell empfundenen Leuchtkörper (z. B. in der Lichtreklame) über eine neue »›Lichtarchitektur‹ die Dynamik der Groß42 43 44
Zur Ökonomie der Begehrnisse vgl. Böhme 2001.2. Vgl. Baudrillard 1983. Zur Kulturgeschichte des Lichts vgl. Schivelbusch 1983.
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12. · Atmosphären und Stimmungen
stadt zu visualisieren«. 45 Schon in den 1920er Jahren rückt das atmosphärische Bild der illuminierten Stadt ins Zentrum großer architektonischer Entwürfe gebauter Urbanität. Der sinnlich erlebbare und atmosphärisch begehbare Licht-Raum der Stadt erwies sich schnell als synästhetisches Medium der Kommunikation politischer und kultureller Symbole. So liegt es nur nahe, dass die neuen lichten Milieus des Urbanen ihren Einfluss auf die Stimmung der Stadtbewohner haben sollten. Das inszenierte Licht ist – ähnlich wie der Geruch und die Lautlichkeit – reines Medium der Atmosphären, das darauf angelegt war, ein gestimmtes Mitsein im Gefühlsraum des Er- und Beleuchteten zu wecken. Besonders nachhaltig waren diese transversalen Knoten, wo Projekte der Illumination bzw. Situationen des Lichts politische, ökonomische oder kulturelle Bedeutungen mit bestimmten sinnlich-ästhetischen Qualitäten verknüpften und der schöne Schein sich – dank seiner suggestiven Kraft – subversiv entfalten konnte, vom Rezipienten also weder bemerkt noch rational reflektiert wurde. Die Verdecktheit affizierender Wirkungen war und ist der Schlüssel zur Durchsetzung obsessiver und kulturindustriell nachhaltiger Wirkungen. Wege der radikalen Verführung öffnen sich vor allem dann, wenn sich das atmosphärische Licht-Erleben (präreflexiv) im Erleb-NIS festsetzt. Weil sich das Erlebnis in seinem affektiven Verinselungscharakter als ein Solitär der Gefühle dekontextualisiert, ist es in seiner psychologischen Funktion von der Option der kritischen Reflexion getrennt. 46 Trotz aller Obsessionen, die ästhetizistische Akteure auf den Zauber des künstlichen Lichts projiziert haben, waren sie doch nur scheinbar Herrscher über die von ihnen eingesetzten Methoden der Affizierung. Der Lichtplaner ist ein Semi-Akteur, der zwar die Rahmenbedingungen seiner Illumination technisch definieren kann. Auf die von einer realisierten Licht-Situation ausgehenden Stimmungen hat er aber nur mittelbaren Zugriff. Dennoch spielt er den aktiven Part in einem ungleichen Dialog zwischen Akteuren und Patheuren. In einer eher konsumtiven Rolle befindet sich der kulturindustriell sozialisierte Konsument, der im Allgemeinen kein kritischer Rezipient ist, sondern mehr Objekt als Subjekt. Die systemisch erfolgreiche Kommunikation durch das Medium Binder 1999, S. 355. Zum psychologischen Charakter des Erlebens sowie des Erlebnisses vgl. Dilthey 1958; zusammenfassend Cramer 1972.
45 46
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Die postmoderne Stadt im schönen Schein
der Atmosphären des künstlichen Lichts setzt diese stumm bleibende und unter die Haut gehende Affizierung voraus, die das sensible NachDenken des schönen Scheins vereitelt. Zwischen dem Wissen professioneller Licht-Produzenten und dem der Rezipienten, die in Fragen der sinnlichen Wahrnehmung ungeschult sind, tut sich ein epistemischer Graben auf. Im Allgemeinen verfügt nur der Produzent über das Wissen um die Optionen der Verführung, so dass das operative Wissen professioneller Dienstleister im Metier des Ästhetischen als eine Ressource der Macht zur Steuerung sozialer Situationen verstanden werden muss. 47 Die großen Lichtspektakel der jüngeren Geschichte waren oft auch dann als politisch machtvolle Gesten entworfen, wenn sie vornehmlich als kulturelle Ausdrucksformen des Technischen erschienen sind – wie auf den Weltausstellungen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Im Nationalsozialismus dienten illuminative Inszenierungen als teuflische Medien der Ideologiebildung. Auf den unterschiedlichsten Wegen sollten die inszenierten Atmosphären künstlichen Lichts »auf das ›Gefühlsleben‹ der Massen Einfluß nehmen« 48. Als Stimmungsgeneratoren unterwarfen sie die Massen im Medium des Gefallens der politischen Herrschaft. In der Gegenwart dienen die illuminativen Atmosphären der aufgehübschten Stadt kulturpolitischen Zielen oder unternehmenspolitischen Repräsentationskalkülen. Gerhard Auer unterscheidet unter anderem »chiffrierte, narrative, suggestive, ornamentale, theatralische Illumination« 49. Jede dieser Arten des Lichtmachens spricht auf spezifische Weise Gefühle an. Das warenästhetisch chiffrierte Werbe-Licht kommuniziert andere Bedeutungen und Versprechen als das theatralische Licht postmoderner Hochhausilluminationen, das Atmosphären des ökonomisch Erhabenen in Szene setzt, um Assoziationen der Macht zu wecken. Aber auch die Narrative der atmosphärischen Licht-Bilder rauschen, und so entfalten die ästhetisch verkleideten Fassaden keine kalkulierbare Wirkung. Sie oszillieren zwischen Affirmation, Kritik und bedeutungsoffener Interpretation, liegen also auf einem Grat: auf der einen Seite angezogen vom Sog kulturindustrieller Verführungen und auf der anderen Seite dem möglichen Kentern ins Fragwürdige ausgesetzt. Wo die Programme urba47 48 49
In diesem Sinn vgl. Schmitz SitKon, S. 255–268. Neumann 2002, S. 78. Auer 2004, S. 7
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12. · Atmosphären und Stimmungen
ner Atmosphären der Illumination in ihrer Rezeption entschlüsselt, also verstanden werden, verlieren sie ihre meist verdeckte Macht über die Gefühle der Menschen und damit auch ihr Stimmungspotential. Atmosphären des künstlichen Lichts konstituieren in ihrer großstädtischen Gesamtwirkung ganzheitliche Situationen, deren disperse Topographien feeling maps begründen, auf denen sich das urbane Leben der Stadt orientiert. Anders als im historischen (barocken oder englischen) Garten fließt die illuminative Atmosphäre des metropolitanen Kunstlichts in pluralen und fraktalen Bedeutungen. Im sozialen Kosmos der postmodernen Metropolen sind die Subkulturen durch singuläre und lineare Codes nicht mehr erreichbar. Deshalb sind die ästhetischen Gestalten formal flexibilisiert. Nicht zuletzt deshalb geraten die ästhetisierten Orte mehr und mehr in einen Rahmen kontingenter Unordnung der Bedeutungen. Mit der postmodernen Flexibilisierung von Ethik und Ästhetik laufen die Atmosphären des Lichts wie die anderer Inszenierungen des Urbanen nicht nur programmgerecht an ihr Ziel, sondern auch ins Leere. Der Moment der radikalen Verführung ist zugleich der ihrer Annullierung.
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13. Zur kommunikativen Macht von Atmosphären Zur Bedeutung von Atmosphären im Regieren der Stadt
Eine Atmosphäre ist der befindliche Spiegel dessen, was um uns herum ist. Deshalb sind Atmosphären auch ubiquitäre Phänomene. Sie geben zu spüren, was sich in Worten nur schwer sagen lässt. Insbesondere in Städten sind sie einem mitunter schnellen Wandel unterworfen; sie liegen neben- und übereinander und haften Orten sowie Situationen an. Eine postmoderne Villa drückt sich in ihrem Erscheinen auf andere Weise aus als ein Reihenhaus. Neue atmosphärische Räume der Stadt verdanken sich oft großräumlicher Innenstadterweiterungen, wie sie zum Beispiel im Zuge von Hafenrevitalisierungen in den letzten 10 bis 15 Jahren in zahlreichen Städten entstanden sind. Atmosphären disponieren das Erscheinen und Erleben städtischer Räume. Über die räumlichen Grenzen der visuellen Wahrnehmung hinweg vermitteln sie sich in Bildern, in Situationen anwesender Gegenwart dagegen mit weit größerer Nachhaltigkeit in einem ganzheitlichen Sinne als leiblich spürbare Raumqualitäten. Ich komme auf meinen ersten Satz zurück, in dem ich eine Atmosphäre als befindlichen Spiegel dessen umschrieben habe, was um uns herum ist. So ist zum Beispiel ein Baum auf einem städtischen Platz nicht irgendein Baum, sondern diese Linde, die in ihrem Erscheinen von Situation zu Situation als eine andere gegenwärtig ist – rauschende Linde an einem lauen Frühlingsmorgen oder blattloser, erstarrter Baum an einem verschneiten Tag im Februar. Was wir von der Situation der Linde an unserem Mitsein – in der Gegend des Baumes – emotional spüren, nennen wir eine Atmosphäre. Die Linde geht in ihrem atmosphärischen Erscheinen also über sich selbst im engeren Sinne hinaus; sie ist dieser Baum in seiner Umgebung und –wenn wir uns in seiner Umgebung befinden – in unserem Erleben. Das Wechselspiel von Ausdruck und Eindruck ist bei komplexen Gegenständen oder gar ganzen Gegenden weitaus unübersichtlicher. Mit gleichsam chaotischen Situationen haben wir es im atmosphärischen Erleben von Städten bzw. städtischen Vierteln, Quartieren oder revitalisierten Häfen 249 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
13. · Zur kommunikativen Macht von Atmosphären
wie in Hamburg und Rotterdam zu tun. So erweitert die Hamburger HafenCity die Stadt nicht nur, sie pluralisiert sie auch in ihrer Physiognomie und architektonischen Gestalt. Mit dem Kop van Zuid wurde vor rund 20 Jahren in Rotterdam ein ähnliches Projekt zur Erschließung ehemaliger Hafengebiete in der Nähe der Innenstadt initiiert. In Hamburg wie in Rotterdam repräsentiert der neu entstandene metropolitane Glanz eine Utopie der europäischen Stadt des 21. Jahrhunderts. Es sind vor allem die Atmosphären, die die Stadt für ihren programmatisch intendierten Weg des innovativen Aufbruchs in eine neue Zeit stimmen. Dieses Stimmen ist mehr als nur ein Einstellen, wie man es bei technischen Geräten kennt. Die atmosphärische Stimmung der Stadt zielt auf die Umstimmung ihrer Wahrnehmung. Über die ästhetische Sprache der Gestalt von Häusern, Brücken und Straßen öffnen sich damit auch neue mediale Wege der Zuschreibung von Identität. So liften Atmosphären das Stadtimage oder beschweren es und steigern oder mindern damit die Attraktivität der Stadt als Wohnraum.
13.1 Was sind Atmosphären? Was sind Atmosphären, was kommunizieren sie und auf welche Weise entfalten sie Macht? Unter Atmosphäre verstehen wir in einem naturwissenschaftlichen Sinne die Gashülle der Erde, in der sich der Klimawandel vollzieht. Wir sprechen aber auch dann von Atmosphäre, wenn eine »herumwirkliche Vitalqualität« 1 als mitweltlicher Ton eines Ortes spürbar wird. Wie wir die Luft einatmen und über Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Wind als etwas Eindrucksmächtiges auch fühlen, so umhüllen uns auch die Atmosphären einer Stadt als etwas Wolkiges. Indem sie auf spürbare Weise etwas vom Wesen eines Ortes kommunizieren, stimmen sie uns auf dessen Rhythmus ein. Sie lassen uns wortlos verstehen, wie etwas um uns herum ist. Deshalb sind soziale Atmosphären auch Anzeiger für zwischenmenschliche oder gesellschaftliche Situationen. In diesem Anzeigen kommt etwas zur Geltung, was sich nicht in sichtbarer, zählbarer oder messbarer Gestalt zeigt, dennoch aber Gewicht und Bedeutung hat. Was in einer Stadt zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten geschieht, ist oft atmosphärisch spürbar, bevor sich Genaues darüber sagen lässt. Neben dem Begriff der 1
Dürckheim 2005.
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Was sind Atmosphären?
Atmosphäre kennen wir eine Reihe anderer Namen, die auf Ähnliches verweisen: Dunstkreis, Klima, Ambiente, Anmutung, Umwölkung 2, Aura und Stimmung. In einem metaphorischen Sinne habe ich an anderer Stelle Atmosphären als Haut der Stadt angesprochen. 3 All diese Begriffe verweisen auf etwas unmittelbar Gegenwärtiges, das sich der Aussage in der gewohnten Sprache weitgehend entzieht. So spiegeln sich im Medium der Atmosphären auch die aktuellen (sozio-) ökonomischen Krisen der europäischen Stadt wider, die sich im Zuge einer bankenkapitalistischen Neoliberalisierung zuspitzen. Phänomenologisch beachtenswerte Hinweise auf das Wesen einer Atmosphäre finden wir in Willy Hellpachs »Sinne und Seele« aus dem Jahre 1946. So spricht Hellpach vom »Witterungsbild« 4 und vom »Hörbild« 5 einer Landschaft. Wie beim klimatologischen Wetter viele witterungs-bedingte Sachverhalte zu diesem Wetter verschmelzen, verbinden sich auch im Stadterleben viele Sachverhalte, Situationen und Erscheinungsweisen zu einem atmosphärischen »Akkord«. 6 In ihm sind – neben einem Witterungs- und Hörbild – situationsspezifische Bewegungs-, Geruchs- und Gestaltbilder in ständiger Bewegung. Einen Akkord kann man ebenso wenig in einzelne Klänge auflösen, um ihn genauer zu hören, wie man einen Schatten heller machen kann, um ihn besser zu sehen. In der Metapher des Akkords klingt jene unaufhebbare Ganzheit an, die jeder Atmosphäre eigen ist. Ein Satz von Georges Perec konkretisiert das: »Ich liebe meine Stadt, aber ich vermöchte nicht genau zu sagen, was ich an ihr liebe.« 7 Räumen, zu denen man schon eine Beziehung hat, weil man gelernt hat, mit und in ihnen zu leben, haftet die Atmosphäre immer wiederkehrender Situationen an. Noch einmal ist es Perec, der keine Definition abgibt, wenn er über die Atmosphäre eines Dorfes schreibt, stattdessen aber ein situatives Bild von ihr vermittelt, wenn er über raumgebundene Gefühle spricht und die aufmerksame Art und Weise, in der Gegend eines Dorfes zu sein: »Man wird die Stellen kennen, an denen es noch Krebse gäbe […] jeden Tellenbach verwendete den Begriff zwar in einem psychiatrischen Sinn (vgl. 1968, S. 111). Er lässt sich aber bruchlos auf die Charakterisierung atmosphärischen Stadterlebens anwenden. 3 Vgl. Hasse 2000, S. 118 und 133. 4 Hellpach 1946, S. 63. 5 Ebd., S. 64. 6 Ebd., S. 61. 7 Perec 1994, S. 80. 2
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13. · Zur kommunikativen Macht von Atmosphären
Montag käme Madame Blaise zum Waschen« 8, und schließlich: »Man würde auf die Rückkehr der Jahreszeiten warten.« 9 Eine Atmosphäre kann uns – wenn sie in ihrer Eindrucksmacht das subjektive Befinden gestimmt hat – in eine andere Welt versetzen. Dann prägt sie nicht nur das Erleben des Herumwirklichen; dann spiegelt sie auch etwas von der Art und Weise wider, wie es einem im atmosphärischen Milieu eines Raumes ergeht. Mit dem Begriff des »Ergehens« 10 sprach Willy Hellpach eine uns heute weitgehend fremde Bedeutung des Mitseins in räumlichen Milieus an. Was er meinte, ähnelt dem, was Dürckheim mit dem Begriff des gelebten Raumes ausdrückte und schon von Bollnow nicht verstanden wurde, weil er der Auffassung war, dass man einen Raum nur er-leben könne. 11 Bollnows nicht-metaphorisches Denken verkannte das Potential der performativen Dynamik persönlicher wie gemeinsamer Situationen, ist es doch die gelebte Lebendigkeit einer Stadt, die Urbanität als vitale Raumqualität je aktuell erst hervorbringt. Weil Bollnow nur das Erleben als theoretisch und lebenspraktisch vorstellbare Beziehung zu einem Raum (hier der Stadt) gelten ließ, entging ihm die den gelebten Raum charakterisierende Einheit von Ereignis und Aktion. In dieser Einheit erst konstituiert sich jenes Milieu, das das persönliche Ergehen in einem situativen Raum stimmt und als aktive wie zugleich passive Disposition verstanden werden kann. Das Hellpach’sche Ergehen hat zum einen den Charakter eines Widerfahrnisses, verweist zum anderen aber auch auf ein Hineingehen und Aufgehen in etwas. So haben beide Begriffe einen pathischen und keinen gnostischen Akzent 12, bedeuten somit eine mitspürende Daseinsweise in Umgebungen. Mit dem Begriff des Pathischen spricht Straus diese affektive Involviertheit in ein Milieu an. Das Individuum ist dann nicht auf eine rational erkennende Fixierung des »Was« eines Gegebenen gerichtet, sondern auf das »Wie« dessen Gegebenseins im eigenen Empfinden. Vor allem die pathische Dimension der Spürbarkeit von Atmosphären wirft die Frage nach ihrem räumlichen Charakter auf: Wo ist eine Atmosphäre, wenn wir sie wahrnehmen? Die im Folgenden knapp zu diskutierenden AntEbd., S. 88 f. Ebd. 10 Hellpach 1946, S. 64 f. 11 Vgl. Bollnow 1963. 12 Vgl. auch Straus 1960.1, S. 151. 8 9
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Was sind Atmosphären?
worten werden je nach wissenschaftstheoretischer Perspektive zum Teil stark voneinander abweichen. Im Blick des Konstruktivismus, der das Denken der Sozialwissenschaften in der Gegenwart geradezu dogmatisch lenkt, gälte eine Atmosphäre als mentale Vorstellung, die wir auf das Wahrgenommene projizieren, um sie dann am sinnlich Vernommenen nur wiederzuerkennen. Der Ort dieser mentalen Repräsentationen wäre das Großhirn, in dem die Rekonstruktion physiologistisch-abstrakter, körperimmanenter Konstruktionsprozesse Aufschluss über den Verlauf neuronaler Prozesse gäbe. Indes lassen schon einfache Beispiele, wie das folgende von Hellpach über die sinnlich empfundene Qualität von Luft, die Grenzen dieses abstraktionistischen wie simplifizierenden Denkens erkennen: »Vor großen Schneefällen hat die Luft oft einen merkwürdig ›rauhen‹ und dabei ›bleiernen‹, also ›schweren‹, drückenden Charakter; nach dem Schneefall ist sie vielleicht wesentlich kälter, trotzdem wirkt sie jetzt ›animierend‹, ›wie Champagner‹, fast ›prickelnd‹, ›belebend‹.« 13
Dass es sich hier nicht um Projektionen handelt, sondern um sinnlich vernommene, leibliche Eindrücke klimatologischer Eigenschaften der Luft, die sich synästhetisch ins gefühlsmäßige Wetter-Erleben übertragen, ist evident. Im Erleben städtischer Atmosphären darf aber grundsätzlich nicht übersehen werden, dass auch (und oft vor allem) massenmedial vermittelte Vorstellungen in eine Atmosphäre gleichsam hineingesehen werden. So treten gerade im Bereich gesellschaftlicher Atmosphären 14 (konstruierte) Zuschreibungen von Identität zu solchen Identitätsmerkmalen in Beziehung, die sich aktuell und situativ konstituieren. Im phänomenologischen Blick käme es folglich nicht auf die organische (jeder bewussten Erfahrung entzogene) Bildung von Vorstellungen im Großhirn an, sondern auf das Verstehen leiblicher Atmosphären-Berührungen. Gernot Böhme, der sich in seinem AtmosphärenAnsatz auf Hermann Schmitz stützt, spricht Atmosphären als »Zwischenphänomene« 15 an, die weder ganz der Seite eines Subjekts noch ganz der eines Objekts zugerechnet werden können. 16 Da mir der 13 14 15 16
Hellpach 1946, S. 62. Vgl. Böhme 2001.1, S. 89 f. Vgl. ebd., S. 55. Vgl. ebd.
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13. · Zur kommunikativen Macht von Atmosphären
zwischenräumliche Charakter der Atmosphären angesichts der zumindest potentiell mächtigen kommunikativen Dynamik einer Atmosphäre zu indifferent erscheint, möchte ich den atmosphärischen Raum in einem prozessualen Sinne als Umschlagsraum bezeichnen, der gleich einer Weiche das in einem Raum Wahrnehmbare in ein situativ spürendes Mitsein überträgt. In diesem Sinne stehen Atmosphären in einem ephemeren Sinne in unserer Herumwirklichkeit gleichsam an – als Ausdruck eines objektiv Gegebenen. Im Unterschied zu Böhme versteht Hermann Schmitz Atmosphären als räumlich ausgedehnte Gefühle, die weder im Subjekt, noch in einem Dazwischen, sondern auf einer Objektseite liegen, so dass sich Individuen emotional zu ihnen in Beziehung setzen können. Solches In-Beziehung-setzen schließt die Möglichkeit der Identifizierung ebenso ein wie die der Distanzierung. Ich will deshalb im Folgenden zwischen Atmosphären und Stimmungen unterscheiden.
13.2 Atmosphären und Stimmungen 17 Hellpachs Rede von »atmosphärischen Stimmungen« 18 macht darauf aufmerksam, dass es nicht nur die Stimmung eines singulären Typs gibt. Es sind vielmehr unterschiedliche Herkünfte und Bedeutungen von Stimmungen zu bedenken. Ich trenne an dieser Stelle die Stimmung von der Atmosphäre 19, wenngleich sie bei Gernot Böhme wie bei Hermann Schmitz als Spezialfall der Atmosphäre begriffen wird. 20 Indes spricht für die Sonderung der Stimmungen, dass ihre analytische Trennung den Blick frei macht für die kritische Reflexion der kommunikativen Funktion von Atmosphären, die als Medien der Architektur und Stadtplanung (zumindest implizit) darauf gerichtet sind, die Menschen auf einem affektiven Stimmungs-Niveau zu berühren. Aber Vgl. auch Kapitel 12. Hellpach 1946, S. 64. 19 Vgl. auch Hasse 2006.1. 20 Böhme unterscheidet die folgenden atmosphärischen Charaktere: gesellschaftliche, synästhetische, kommunikative, Bewegungsanmutungen und Stimmungen (vgl. 2001.1, S. 89 f.). Danach ist die Stimmung eine Form der Atmosphäre (vgl. auch Schmitz Bd. III/2, S. 216). Stimmung sieht er als Gefühl der Weite, wie z. B. das Gefühl sinnloser Leere (vgl. ebd., S. 227); nicht als Stimmung, sondern Erregung versteht er Gefühle, die (auf etwas) gerichtet sind (vgl. ebd., S. 264). 17 18
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Atmosphären und Stimmungen
auch Atmosphären, die sich – etwa als solche des Wetters – diesseits von Handlung und Interesse situativ konstituieren, kommunizieren Bedeutungen. Individuell ergreifen sie nur dann eine Stimmung, wenn sie sich stimmungs-logisch in die persönliche Situation einfügen. Zunächst sind Stimmungen »Grundbefindlichkeiten des menschlichen Daseins« 21 und damit Ausdruck der Natur des Menschen. Da sich ein Individuum (in Bewusstseinszuständen) immer in einer Stimmung befindet, folgt daraus für Bollnow, dass die Welt auf diesem Hintergrund affektiv immer schon ausgelegt ist. 22 Auch die Affekte gründen in ihren gesteigerten Erregungsformen in den Stimmungen. 23 Wenn Hellpach von einer »atmosphärischen Stimmung« 24 spricht, so ist damit im Unterschied zu einer Grundbefindlichkeit ein diese affektiv überprägender atmosphärischer Eindruck gemeint, mit anderen Worten, der eine Grundstimmung affizierende Ausdruck einer Atmosphäre. Diese setzt sich dann als Gefühl im individuellen Befinden gleichsam fest und wird zu einer atmosphärischen Stimmung. Umstimmungen durch eine Atmosphäre können in unvorhersehbarer Weise durch Ereignisse oder Widerfahrnisse ausgelöst werden; im gesellschaftlichen Rahmen werden sie oft intentional und interessenorientiert inszeniert. Wenn eine in diesem Sinne gemachte Stimmung »auf eine Trübung des kritischen Bewußtseins zielt«, spricht Bollnow von »Stimmungsmache«. 25 Sedierende Atmosphären der Manipulation kommen nicht in die soziale Welt wie Atmosphären des Wetters. Sie sind hergestellte dissuasive Medien der Kommunikation, die sich immer wieder aufs Neue bewähren müssen, wenn sie von Individuen, Kollektiven oder Institutionen (diesseits der Überzeugungskraft von Argumenten) eingesetzt werden, um Macht auszuüben. Der systemische Erfolg kulturindustrieller Arrangements verdankt sich insbesondere der Manipulation von Stimmungen durch Atmosphären. Die olfaktorische Erschließung der Konsumbereitschaft von Kaufhauskunden belegt das ebenso (innerhalb eines hoch differenzierten Spektrums innenarchitektonischer Instrumente des Atmosphären-Designs) wie die postmodern-gemüt-
21 22 23 24 25
Bollnow 1995, S. 34. Bollnow bezieht sich hier auf Heidegger. Ebd., S. 57. Vgl. ebd., S. 159. Hellpach 1946, S. 64. Bollnow 1995, S. 146.
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13. · Zur kommunikativen Macht von Atmosphären
liche Illumination großstädtischer Citybereiche in Zeiten neoliberalisierungsbedingter Spaltungen sozioökonomischer Lebensbedingungen. Aber auch ohne unmittelbar ökonomisch motivierte Interessen werden städtische Atmosphären qua Architektur oder auch nur mit den Mitteln identitätszuschreibender Rede hergestellt. So mag der mindestens seit den 1920er Jahren in der Stadt Hamburg kulturpolitisch beschworene »amphibische Charakter« 26 (heute ist eher von maritimer Atmosphäre die Rede) auch in der Gegenwart noch an vielen Orten der Stadt als eine spürbare Herumqualität präsent sein. In seiner Diffusität und Allgemeinheit macht er aber nicht a priori auch schon den Gehalt einer Stimmung aus. Zur Stimmung kann eine maritime Atmosphäre an solchen Orten werden, an denen der ganzheitliche Charakter des Maritimen so eindrucksmächtig zur Erscheinung kommt, dass er das individuelle Befinden ergreift. Diese optional stimmungstangierende Macht entfalten Atmosphären aufgrund ihrer potentiell mitweltlichen Räumlichkeit. Sprechen wir von Umwelt, denken wir uns als Gebende und Nehmende; sprechen wir dagegen von Mitwelt, denken wir uns als Vernehmende. Im Modus des Vernehmens wird der Impuls zur Veränderung einer (Um-) Welt von einem sensibel nachspürenden Mit-Sein überlagert. 27 Zwar werden Atmosphären auch durch das Erscheinen umweltlicher Dinge (z. B. der Architektur) gleichsam gestiftet; sie sind selbst aber doch keine Dinge, sondern Gefühle, die wir als mitweltliche Essenzen im Moment der Betroffenheit von ihnen erleben. Zweifellos bieten sich die Mittel der Stadtplanung, Architektur und Freiraumplanung an, um städtische Orte für bestimmte Situationen und die ihnen folgenden Atmosphären zu stimmen. Solch planerischen Interventionen sind nicht zweckfrei, sondern verfolgen die Absicht der Evozierung situationsspezifischen Erlebens – und »Ergehens« 28. Der Ort steckt dabei in aller Regel nur den Rahmen für eine Situation ab, in der sich Atmosphären als Medien der Kommunikation erweisen. Ich werde im Folgenden die kommunikative Funktion von Atmosphären hervorheben.
Fritz Schumacher (in den 1920er Jahren Oberbaudirektor in Hamburg) sah die Stadt durch einen »amphibischen Charakter« gekennzeichnet (vgl. Schubert 2001, S. 135). 27 Vgl. auch Binswanger 1964, S. 513. 28 Vgl. dazu Hellpach 1946, S. 65. 26
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Atmosphären sind Medien der Kommunikation
13.3 Atmosphären sind Medien der Kommunikation Begreift man Kommunikation im Allgemeinen als Herstellung sozialer Beziehungen, so geht dieses Verständnis weit über seine Begrenzung auf die wörtliche Rede und die habituellen Gesten hinaus. Kommunikation schließt nun alle Ausdrucksformen ein, die Bedeutungen vermitteln. Daher ist auch jedes architektonische Bauen ein ästhetisches Kommunizieren. Zwar folgen solche atmosphärologischen Inszenierungen einem Programm, streben also bestimmte affektive Dispositionen an. Jedoch entziehen sich die erwünschten Wirkungen schon auf dem Maßstabsniveau eines baulichen Ensembles – erst Recht auf dem einer ganzen Stadt – ihrer linearen Berechenbarkeit. Im atmosphärischen Bauen wie in der Herstellung orts- sowie quartierbezogener Atmosphären gibt es weder unmittelbares Programmieren noch einfaches Verstehen. Dennoch wird gerade im interkommunalen Wettbewerb der Großstädte mit der Herstellung von Atmosphären die Durchsetzung kollektiver Wahrnehmungs-, Deutungs- und Erlebnisweisen angestrebt, um im Ranking der Städte symbolisch begehrte Plätze zu belegen. Am Beispiel der Stadt Hamburg kommuniziert das Klischee der maritimen Atmosphäre ein Element für die Zuschreibung stadtspezifischer Identität: Hamburg soll als Hafen zur Welt, als Stadt am seeschifftiefen Wasser wahrgenommen werden. Aber maritime Atmosphären lassen sich auf keinem direkten Wege inszenieren. Sie verdanken sich komplexer Wirkungseffekte, die Hellpach einen Akkord nannte. Sie vermitteln sich zum Beispiel durch die Schaffung offener Bewegungsräume am Wasser – in der Hamburger HafenCity im Bereich der Promenaden unterhalb der Warften – oder durch die Herstellung ästhetisch spannungsreicher architektonischer Räume, in denen die historische wie aktuelle Vitalität einer Hafenstadt spürbar wird – in der HafenCity durch die räumliche und atmosphärische Nachbarschaft von postmoderner Bebauung und kaiserzeitlicher Speicherstadt. Auf dem Wege der Atmosphären werden auch wettbewerbspolitisch relevante Wunschprogramme kommuniziert – so das der innovativen, kreativen oder zukunftsorientierten Stadt. Solche Erlebnisbilder bleiben aber Klischees, solange sie nicht durch lokale Atmosphären beglaubigt werden, die zum Beispiel von Quartiersbewohnern mit positiven Aufenthalts- und Lebensqualitäten oder von Jungunternehmern mit erwünschten Standorteigenschaften assoziiert werden. Hellpach sprach 257 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
13. · Zur kommunikativen Macht von Atmosphären
solches pathische Aufgehen im Milieu eines Raumes treffend mit dem Begriff des Ergehens an. Selbst durch Normen (z. B. der Bau- oder der Ordnungsbehörden) werden atmosphärische Raumqualitäten induziert, weil sie auf die Performativität der gelebten Stadt Einfluss nehmen. Durch normative Regulierungen können atmosphärische Qualitäten verändert oder auch zunichte gemacht werden. Die Sperrung wassernaher Gebiete für Fußgänger oder die Aufstellung von Schutzgittern kann zur Umprogrammierung eines ursprünglich offen zugänglichen Raumes in einen Raum der Sicherheit führen. Dessen spezifisches Ordnungs-Programm überprägt dann andere mögliche Vitalqualitäten. Atmosphären lösen sich auf und neue konstituieren sich. Es liegt auf der Hand, dass gelingende Stadtplanung der Konstitution von kommunikativen Atmosphären entgegenkommt, also Milieuqualitäten schafft, in denen sich Menschen nicht voneinander abwenden und gegeneinander isolieren, sondern sich für die produktive Begegnung öffnen. Alexander Mitscherlich beklagte in seiner »Unwirtlichkeit der Städte« ein funktionalistisches und rationalistisches Planungsdenken, das Stadtquartiere hervorbrachte, die sich destruktiv auf die Sozial- und Affektbeziehungen der Menschen auswirkten. 29 Alfred Lorenzer merkte konkretisierend wenig später an, »wenn die gebaute Stadtumwelt angemessen ist, weil sie den Phantasiebedürfnissen der einzelnen entspricht, dann wird ein persönliches, affektiv lebendiges Engagement möglich – dann öffnen sich die Individuen ihrer Umwelt und auch ihrer Mitwelt gegenüber.« 30
Gelingende Stadtplanung führt zur Entwicklung einer angemessenen Stadtumwelt. Angemessen ist sie dann für die Bewohner der Stadt, wenn sie Räume der Phantasie und solche der emotionalen Identifizierung schafft – und nicht nur maschinistische Stadtmodule – und auf diese Weise kommunikative Atmosphären entstehen lässt. In diesen Spiel-Räumen entfaltet sich jene Macht, die die Individuen für das Leben eines Gemeinsinnes stärkt.
29 30
Vgl. Mitscherlich 1972. Lorenzer 1968, S. 72 f.
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Atmosphären entfalten Macht
13.4 Atmosphären entfalten Macht Alle Maßnahmen der direkten wie indirekten Stadtgestaltung, die auf die Veränderung, Überlagerung oder Konstruktion von Atmosphären einwirken, entfalten in einem spezifischen Sinne Macht über das Erleben der Stadt und das Ergehen in der Stadt. So geht auch von administrativen Entscheidungen atmosphärologische Macht aus, wenn ihre Umsetzung die Wirklichkeit von Atmosphären tangiert. Macht kommt hier nicht in einer Verfügung über materielle Dinge oder Rechte zur Geltung, sondern in dem Vermögen, das Dasein an konkreten Orten »zum Schwingen zu bringen«. 31 Auf diese synästhetische Weise sprach Buytendjk jene atmosphärische Erlebnisqualität an, die für Hubert Tellenbach den Charakter einer affektiven »Umwölkung« 32 hatte. Im Milieu solcher Umwölkungen entfaltet sich atmosphärologische Macht. Unter Macht wird hier nicht im Sinne von Max Weber die Chance verstanden, »innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht«. 33 Im Unterschied zu diesem politikwissenschaftlichen und soziologischen Machtbegriff steht ein philosophisches Begriffsverständnis, wonach Macht als Vermögen aufgefasst wird, auf etwas oder jemanden einzuwirken. 34 Macht geht danach auch von Gesten aus, die der Intentionalität eines durchsetzungsinteressierten Willens gar nicht bedürfen. Gesten machen aber nicht nur Menschen, wenn sie miteinander kommunizieren, auch Bauwerke vermitteln sich mehr oder weniger eindrucksstark durch Gesten. Solche Gesten des Gebauten 35 werden von Architekten und Bauherren intentional (wenn auch oft aus einem diffusen Erfahrungswissen) als Medien der Beeindruckung, der Lenkung der Aufmerksamkeit, der subtilen Suggestion, der Ideologiebildung etc. eingesetzt. Gerade deshalb ist es im Hinblick auf das Foucault’sche Verständnis des Regierens geboten, die Aufmerksamkeit Vgl. Buytendijk, 1968, S. 10, Fußnote 3 (auf das Riechen bezogen). Mit diesem Begriff bezeichnete Hubert Tellenbach die Wirkung von Atmosphären. Dabei verwendete er den Begriff in einem psychiatrischen Sinne; er lässt sich aber bruchlos auf das Erscheinen von Atmosphären anwenden (vgl. 1968, S. 111). 33 Weber 2005.2, S. 38. 34 Hermann Schmitz definiert Macht als »das Vermögen, einen Vorrat beweglicher Etwasse in gerichtete Bewegungen zu versetzen, diese im Verlauf zu führen oder Bewegungen anzuhalten« (Schmitz Legit, S. 5). 35 Zur Geste in der Architektur vgl. auch Jäkel 2012. 31 32
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13. · Zur kommunikativen Macht von Atmosphären
auch auf ästhetizistische Gesten der Macht zu lenken, die sich in Atmosphären ausdrücken. Das Foucault’sche Verständnis von Gouvernmentalität meint »ein strategisches Feld von Machtverhältnissen in einem allgemeinen und nicht nur politischen Sinn« 36 und schließt damit die Ästhetisierung als (dispositives) Medium der Macht ein. Oft hat das Wissen für den Entwurf wie die Umsetzung atmosphärologischer Kalküle einen mehr impliziten als bewusst differenzierten und theoretisch reflektierten Status. Dennoch greifen die Produzenten städtischer Atmosphären als Akteure in die Wirklichkeit des Urbanen ein. Umso mehr besteht für sie wie ihre weitgehend unbewusst nur berührten Adressaten die Notwendigkeit der Sensibilisierung gegenüber ästhetischen Prozessen im Bauen wie Erleben der Stadt. Solche Sensibilität ist für die Produzenten von Atmosphären die Basis für die ethische Legitimierbarkeit affizierender Zugriffe auf individuelle Befindlichkeiten und Stimmungen, wenngleich solche Legitimation sich allein als fiktive Aufgabe stellt. Während Bauten in der Frage der Statik wie des Brandschutzes einer akribischen Prüfung unterzogen werden, stellt sich in einer der Bedeutung von Gefühl-Emissionen gegenüber desenibilisierten Kultur die Notwendigkeit der Legitimation affektiver Zumutungen durch Gebautes gar nicht erst. Für das im pathischen Sinne nur affizierte Individuum, dem ein atmosphärisches Arrangement unbemerkt unter die Haut geht, hat solche Sensibilität im Falle ihrer kommunikativen Verfügbarkeit den Rang einer politischen Handlungskompetenz, denn sie birgt zumindest die Option der Kritik von Machtkalkülen der Herstellung städtischer Räume durch Planer, Politiker, Architekten und ökonomische Akteure. Erst explizites Wissen um die Erlebniswirkung ästhetischer Praktiken vermag den Gesten atmosphärischer Macht die Spitze zu nehmen.
13.5 Atmosphären verstehen – im Regieren der Stadt wie des eigenen Selbst Das Regieren der Stadt liegt nie allein in der Hand politischer und ökonomischer Machteliten. Auch die Bürger der Stadt wie ihre temporären Bewohner regieren die Stadt, indem sie sie leben, denn Regieren beschränkt sich nicht auf intelligibles Handeln. Politisch brisant wie sub36
Foucault 2004, S. 314.
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Atmosphären verstehen – im Regieren der Stadt wie des eigenen Selbst
til wird das Regieren gerade dort, wo es sich in den von der Utopie des homo rationalis verschatteten Kraftfeldern der Gefühle entfaltet. Die politische Dynamik der Gefühle folgt dabei zwei gegenläufigen Pfaden. Auf einem Pfad der politisch-ideologischen und ökonomischen Kolonisierung werden die Individuen als Objekte in Situationen verstrickt. Dieser Weg setzt Wissen um die weitgehende Unbewusstmachung instrumentalisierender Wirkungsketten der Stimmung von Gefühle jener voraus, an die die kulturindustriellen oder politisch-ideologischen Programme als Dispositive der Macht adressiert sind. Auf einem zweiten Pfad werden Gefühle als Ressource des eigenen Selbst erschlossen und Strategien des Umgehens mit ihnen alphabetisiert. Damit rückt das individuelle Subjekt ins Zentrum selbstbezogenen wie selbstbewussten Regierens. Dies ist nicht das hedonistische Subjekt, das sich in einer Ökonomie der Begehrnisse verliert, sondern das über sich selbst herrschende Subjekt, jenes Subjekt der Stoiker, das auch in Foucaults Verständnis des Regierens den Ausblick auf die Utopie eines sich selbst in die Hand nehmenden Subjekts leitet. Seit wir über die moderne Stadt nachdenken, wissen wir nicht nur um die Heterogenität ihrer Bauwerke, sondern vor allem um den widerstreitenden Charakter ihrer sozialen Formen und Prozesse. So ist keine Stadt allein Lebensraum ihrer Bürger – viel mehr »Versammlung von Bürgern und Deserteuren« 37, also jenen, die das urbane Milieu der Stadt generativ leben und jenen, die ihre Human-Ressourcen plündern. Schon darin liegt ein Grund dafür, dass die Stadt nicht (allein) auf dem Boden berechenbarer Handlungsentwürfe regiert wird; Regieren ereignet sich mit großer Macht in einem performativen Sinne in einem Hexenkessel, den Sloterdijk einen »psychodynamischen Reaktor« 38 nennt. Dessen Affektdynamik speist seit der Postmoderne nicht nur den diskursiven und produktiven Streit um die gute Gestalt der Stadt; sie entlädt sich auch in Ekstasen des schönen Scheins, um in der Anästhesie jede politische Kraft zu zerstreuen. Die »politische Stadt (löst sich) endgültig auf ins ästhetische Phänomen« 39, wenngleich das Politische gerade im Metier des Ästhetischen und der Atmosphären sein postmodernes Unwesen treibt. Atmosphären sind Medien der Kommunikation, und so kom37 38 39
Sloterdijk 2007, S. 185. Ebd., S. 221. Ebd., S. 186.
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13. · Zur kommunikativen Macht von Atmosphären
munizieren sie nicht nur in einem linearen Sinne Milieuqualitäten, Bedeutungen und Beziehungen, sondern auf subtilen Wegen auch Programme zur Aufhebung von Spannungen, um gesellschaftliche Grundwidersprüche mit ästhetizistischen Mitteln scheinbar zu neutralisieren. In diesem Sinne fungiert auch die postmoderne Illumination der Stadt, wenn sie sich auch mit dem ästhetischen Ziel der Steigerung von Urbanität sowie dem ökologisch-pragmatischen Ziel der Energieeinsparung legitimiert. In ihrem dissuasiven Effekt entfalten die anheimelnden Atmosphären der Dämmerung eine euphemistische Macht der Dissuasion. Und so überlagern sie die latenten Spannungen, die über den sozioökonomischen Grenzgürteln zwischen den großstädtischen Quartieren der Globalisierungsgewinner und denen ihrer Verlierer liegen. Beieinander liegen damit aber nicht nur Atmosphären des Wohnens, sondern auch solche der sozialen Verwerfungen. So dispers die Praktiken der Macht im Raum der Stadt ihre Wirkung entfalten, so zerstreut ist auch das Regieren. Es vollzieht sich in asymmetrischer Kommunikation und kann sich einem Ideal reibungsarmer Verläufe nachhaltig nur dann nähern, wenn die Bürger der Stadt wieder vermehrt bereit werden, am Regieren teilhaben zu wollen und für die Herstellung begegnungsoffener Atmosphären der Kommunikation einzutreten. In den Fokus rückt damit nicht die förmliche Partizipation von Bürgern an Planungsprozessen, sondern – dem griechischen Prinzip der Stoiker folgend – die individuelle Fähigkeit, sich im Namen der Gesellschaft aller und ihrer Interessen um sich selbst zu kümmern. »Indem den Bürgern beigebracht werde, sich um sich selbst (anstatt um ihre Güter) zu kümmern, lernten sie auch sich um die Polis selbst (anstatt um deren materielle Angelegenheiten) zu kümmern.« 40
Das impliziert die selbstreflexive Legitimation der Arten und Weisen, die Stadt zu leben. In Zeiten der Zuspitzung materialistischer Genuss- und Profit-Exzesse um den Preis der Vermehrung materieller Nöte Dritter steht jede Hoffnung auf das Keimen einer postmaterialistischen Sorge um das eigene Selbst auf dünnem Eis. Die Lust am Überfluss ist aber ambivalent, denn sie trägt die Sorge um ein ungebrochenes Immer-so-Weiter in sich. Die beste Vorbereitung auf die nicht absehbaren Ereignisse des Den Anspruch der Sorge um sich selbst leitet Foucault aus der griechischen Philosophie der Stoiker ab (vgl. 2004, S. 600).
40
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Atmosphären verstehen – im Regieren der Stadt wie des eigenen Selbst
Lebens liegt folglich darin, »die Prinzipien zu kennen, die die Welt regieren«. 41 Zweifellos gehört zur guten Kenntnis der Welt nicht nur das propositionale Wissen um Sachverhalte objektiver Weltgegebenheiten, sondern auch hermeneutisches Wissen um die affektive Verstrickbarkeit in Situationen und die subjektiven Gründe atmosphärischen Berührt-werdens. An diesem Punkt verliert die Frage nach den Interessen am Zuwachs der Selbstbeherrschung durch Welterkenntnis beinahe an Bedeutung, denn es kommt auf den Effekt der Einübung dieser antizivilisatorischen Aufmerksamkeit für das eigene Selbst an. Dieser liegt in einer Vermehrung hermeneutischen Wissens, ohne dessen Differenzierung weder der Globalisierungsgewinner oder Profiteur neoliberaler Umverteilungen seine Gewinne sicher wähnen noch der Verlierer seine Lage verbessern kann. Letzterer gewinnt nicht erst im institutionellen politischen Kampf Macht über sich selbst, sondern schon wenn er nachzuspüren lernt, wessen er um seiner und anderer willen bedarf, und sich so in die Lage versetzt, sich gleichsam kathartisch gegenüber dissuasiven Offerten zu immunisieren. Dagegen steht dem Nutznießer ökonomischer Umverteilungen im Projekt seiner Selbstsorge ein schmerzhafterer Weg bevor, denn was er als Deserteur, das heißt als zwar rechtmäßiger, aber moralisch meist illegitimer Profiteur, aus einer Gesellschaft sozioökonomisch eher wenig Gleicher gelernt hat sein Eigen zu nennen, verliert sich unter dem Druck einer Ethik des Selbst ins Fragwürdige. Spielräume subjektiver Selbstkonstitution wollte Foucault zugunsten einer kathartischen Selbstbesinnung erschließen. Wenn er die »Entstehung neuer Subjektivitätsformen« 42 forderte, so zielte er damit nicht auf das moderne Subjekt der emanzipierten Durchsetzung seiner Interessen wie der persönlichen Unabhängigkeit von politischer Gängelung; vielmehr setzte er auf transversale Praktiken der Sorge um das eigene Selbst, die konsequenterweise aus einer veränderten »Auseinandersetzung mit der Realität der Welt« 43 folgten. Deshalb legte er neben der Kultivierung von Technologien des Selbst und dem Vermögen der Selbsterkenntnis Wert auf ein »Gegenwärtig-Machen der Zukunft […], damit in Zukunft die Wirklichkeit dessen, was als Übel betrachtet werden
41 42 43
Ebd., S. 608. Gros 2004, S. 665. Foucault 1993, S. 46.
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13. · Zur kommunikativen Macht von Atmosphären
könnte, zunichte wird«. 44 Damit baut er auf die Kraft der Einbildung und die Macht der Meditation. Der sich auf Kosten Dritter Saturierende – jener Profiteuer der Neoliberalisierung – begegnet in der kritischen Selbsterkenntnis dem Hegemonialprinzip der Ökonomisierung im Kern seiner eigenen Identität; er sieht nicht nur die Dinge und die soziale Welt ökonomisiert, sondern notwendig auch sich selbst in seiner Rationalität und Affektivität als ein ökonomisiertes Subjekt. Der tatsächliche Vollzug einer Umkehr zu ethisch tragfähigen Maximen subjektiver Lebensformen bleibt gleichwohl abhängig von einem affektiven Impuls des Innehaltens im eigenen Namen. Auch diese Wahl bedarf einer normativen Orientierung. Eine solche Ordnung des Bedenkens subjektiv hergestellter Weltbezüge hatte Martin Heidegger mit der Metapher des Gevierts 45 vorgeschlagen. Es böte sich für das ethische Bedenken gelebter Beziehung zwischen dem sozialen Raum der Stadt und dem eigenen Selbst an. Foucault’sche Gouvernmentalität, die gerade in der sorgenden (und darin reflexiven) Beziehung zu sich selbst einen mächtigen Hebel gegen die politische Macht bildet 46, setzt auf das Ereignis affektiver Berührung. Mit dem Stoiker Epiktet resümiert Foucault seine Hermeneutik des Subjekts als eine affektive Selbstkontrolle, »sich bewußt zu machen, ob einen das Vorgestellte berührt oder bewegt« 47. So läuft die Hermeneutik des Subjekts in einem wesentlichen Teil auf eine Sensibilisierung und Alphabetisierung der Wahrnehmung hinaus. Im Zentrum stehen nicht die Dinge und der Körper, sondern die Affekte und der Leib in den Auswirkungen auf Dinge und Körper. Solange die Individuen den Atmosphären ihrer Welt wie den eigenen Stimmungen mit einer zivilisationshistorisch abgestumpften Sensibilität gegenüberstehen, folgen sie den ästhetisierten Spuren der Verführung kulturindustrieller Suggestionen und hängen auch dann noch am Faden der Dissuasion, wenn sie glauben, eigenen Pfaden zu folgen. Das Regieren der Stadt ist ein asymmetrisches Spiel; es geschieht nicht nach Plänen der Wohlfahrt und nicht an einsehbaren Orten, sondern in einem diffusen Akkord derer, die die Stadt leben. Partizipationsorientiertes und intelligibles Regieren bildet dabei nur eine 44 45 46 47
Foucault 2004, S. 574. Zur Metapher des Gevierts vgl. auch Heidegger 2000. Vgl. Foucault 2004, S. 313. Ebd., S. 613.
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Atmosphären verstehen – im Regieren der Stadt wie des eigenen Selbst
Seite. Die andere ist die der performativen Dynamik der gelebten Stadt, die es nie ohne den ephemeren Dunst der Atmosphären gibt. Intendiertes Herstellen und zufälliges Geschehen greifen in diesem Prozess ebenso ineinander wie Verstand und Gefühl. Gerade in Zeiten der Hyperästhetisierung der Städte provoziert sich die Sorge um das eigene Selbst auf dem Grat einer anästhetisierenden Zuspitzung des Ästhetischen. Mit der Erinnerung und Gewahrwerdung der Affekte verschieben sich die Machtverhältnisse, die sich im atmosphärischen Raum leiblich spürbar offenbaren.
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14. Die Brache Eigenart und Atmosphäre
Brachen sind in ihrer sinnlichen Präsenz Vergangenheitsgestalten menschlicher Raumnutzung. Sie ziehen die Aufmerksamkeit in einer Ungleichzeitigkeit von Gefühlen der Faszination und Abweisung auf sich. Im tatsächlichen Raum sind sie visuell sichtbar, im atmosphärischen Raum leiblich aber auch spürbar. Ihre atmosphärische Präsenz wird an jener Schnittstelle wahrnehmbar, an der Menschen ihr Herum in gefühlsräumlichen Qualitäten erleben. Atmosphären sind keine Dinge und deshalb auch nicht im Raum lokalisiert wie diese. Sie umweben einen Ort und machen ihn zu einem situativ besonderen Ort. 1 Die durch eine Atmosphäre vermittelte Stimmung ist von der Atmosphäre selbst zu unterscheiden. Während letztere ihren Ort auf der Objektseite hat, dort wo die Brache in ihrem komplexen dinglichen und situationsspezifischen Charakter zur Erscheinung kommt, konstituiert sich die durch sie evozierte Stimmung im Rahmen der persönlichen Situation eines Individuums. Der eine Atmosphäre kennzeichnende Bezug zu einem Gegenstand hebt sich in der Stimmung auf. Sie färbt die Grundbefindlichkeit einer Person, die schließlich von dem sie evozierenden Eindruck unabhängig ist.
14.1 Eigenart von (Industrie-) Brachen Das Charakteristische einer Brache wird im Erleben ihres räumlichen Zusammenhangs gegenwärtig. Wenn es »auf« einer Brache bzw. in ihrer Gegend auch Einzelnes gibt, das in gewisser Weise brachentypisch ist (zerbrochene Fensterscheiben, leerstehende Bauten, berstender Asphalt), so kommt sie doch in ganzheitlicher Weise zur Erscheinung (vgl. Abb. 14.1). Eine Brache lässt sich deshalb auch als Situation verstehen, deren Bedeutungen sich zu einer verschwomme1
Zum Konzept der Atmosphären bei Hermann Schmitz vgl. auch Kapitel 11 und 12.
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Eigenart von (Industrie-) Brachen
Abb. 14.1: Städtische Brache (Emden).
nen – aber nicht verworrenen 2 – Einheit verdichten. Charakteristisch ist die Vergangenheitsgestalt einer menschlichen Raumnutzung. Sie konkretisiert sich im Bild der von Menschen oft tragisch zurückgelassenen Produkte kulturlandschaftlichen Schaffens. Tragisch ist dabei nicht das Bild der Brache, sondern die darin von kultureller Geschichte kündenden Bedeutungen. Diese weisen nicht nur auf den physischen Verfall von Bauten und Dingen hin, sondern auch auf den krisenhaften Niedergang von Ideen, Lebensperspektiven und Hoffnungen. So verbindet sich in der Ästhetik der Brache das Erhabene (vgl. auch unten) mit dem Tragischen, das nach Johannes Volkelt nicht Dingen, sondern allein Menschen zukommt; 3 das Tragische kann sich aber durch Dinge, die Werte repräsentieren, ausdrücken. 4 Vgl. Großheim 2004. Vgl. Volkelt 1917, S. 48 ff. 4 Nach Max Scheler gehört die Zeit, »in der etwas verloren geht und vernichtet wird […] zu den Erscheinungsbedingungen des Tragischen« (Scheler 1955, S. 154). Nun führt aber nicht jede Vernichtung eines Wertes zum Tragischen, sondern nur die eines höheren Wertes. Es muss aber nicht ein Widerstreit in einem dialogischen Sinne sein, der über die Zerstörung zum Tragischen führt. Im Falle des »tragischen Knotens« ist die Wertzerstörung mit einem Akt positiven Wirkens unmittelbar verbunden: »Wo wir 2 3
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14. · Die Brache
Die Gestaltvielfalt räumlich ausgedehnter Industriebrachen verdichtet sich in der Ruine. Vor allem in Nordeuropa macht nicht nur sie einen Prozess des Übergangs von einer Raumnutzung in eine Brache augenfällig, sondern schon die sich im Verfall befindenden Gebäude. In diesem Prozess bzw. dem bereits eingetretenen Zustand des Verfalls wird der Konstruktionscharakter der bauend vollzogenen Trennung zwischen innen und außen (insbesondere durch die baukulturellen Medien Dach, Wand, Fenster und Tür) bewusst. Aber es sind nicht nur abgedeckte Dächer und einfallende Türen, die die Wahrnehmungsroutinen zerbrechen. Insbesondere das Eindringen der wild wachsenden Natur ins (ehemals) Innere des Hauses macht in der Durch- und Zersetzung der Wand das Ende der Architektur im Raum der Brache sichtbar (vgl. Abb. 14.2). Das gilt selbst für die Trennung von Raum und Zeit, die sich atmosphärisch in der Erlebnisform einer raumzeitlichen Vitalqualität 5 aufhebt. Für Kai Vöckler steht die Ruine »zwischen zwei Ewigkeiten: der sich endlos ausdehnenden Vergangenheit und der immerfort stattfindenden Gegenwart.« 6 Mehr noch inszeniert sich in ihrer werdenden Gestalt der raumzeitliche Zusammenhang allen Geschehens. Es ist gerade die Brache, die sich als Beispiel
unmittelbar eine Wirksamkeit anschauend miterleben, die, indem sie einen hohen Wert realisiert, gleichzeitig und im selben Aktus des Wirkens diesem Wert oder einem anderen, zu ihm wesenhaft gehörenden Wert die Bedingung der Existenz untergräbt, da ist der Eindruck des Tragischen am vollkommensten und reinsten« (ebd., S. 159). Eine solche Situation des Tragischen liegt im Falle der Industriebrache im Allgemeinen dann vor, wenn nicht die Unfähigkeit eines Unternehmensleiters – als Folge falscher Sachentscheidungen – zum Niedergang einer Fabrik und damit zur Brache geführt hat, sondern eine historische Verkettung katastrophaler Umstände. Mit anderen Worten: Es gibt im Vorfeld des Tragischen gar keine Freiheit der Wahl (vgl. ebd., S. 162). Der Wert der Sicherheit der Arbeitseinkommen für Hunderte oder Tausende von Menschen ging ja bei vielen Industriebrachen – zum Beispiel des Ruhrgebietes – in dem Moment verloren, in dem die Produkte aus der Zeit gefallen waren und auch die Organisation der Produktion nicht mehr den Standards der Zeit entsprach. Die Art und Weise des Betriebs der Produktions- und Arbeitsstätten implizierte also schon deren Niedergang, der letztlich nur Ausdruck ist einer »wesenhafte(n) Weltkonstitution, von der das Ereignis als »Beispiel« vor uns steht« (ebd., S. 157). Deshalb spricht Scheler auch von einer »Unvermeidbarkeit und Unentrinnbarkeit« des Tragischen (ebd., S. 163). Dessen Merkmal ist auch, dass das Ereignis, das zum Tragischen führt, »völlig »notwendig« erscheint, aber gleichwohl auch völlig »unberechenbar« eintritt.« 5 Vgl. Dürckheim 2005. 6 Vöckler 2009.
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Eigenart von (Industrie-) Brachen
Abb. 14.2: Ruine auf einer Industriebrache (Köln-Deutz).
eines »existenziellen Raumes« 7 aufdrängt, weil sich in der sichtbar werdenden Vergänglichkeit der Raum mit der Zeit verbindet. »Diese Verbindung ereignet sich als Geschichte, die ihre Energieströme einem Ort mitteilt.« 8 So haftet der raunzeitlichen Vergangenheitsgestalt der Brache der Eindruck einer Krise an – Auflösung der Form und Verfall ihrer Materialität. Zwar ist auch die ackerbauliche Brache durch räumliche Leere (eines Feldes) gekennzeichnet. Ein Acker fällt aber nicht auf dem Scheitelpunkt misslingender Bewirtschaftung brach. Mit dem Ziel der Effizienzsteigerung künftiger Nutzungen wird er planmäßig in den Zustand der Brache versetzt. Die Ruhe der Bodennutzung ist also Phase einer zyklischen Ordnung, dient der Kräftigung des Bodens und damit der nachhaltigen Sicherung seiner Fruchtbarkeit. Weil das Bild der landwirtschaftlichen Brache die Erwartung des frühlingshaften Erblühens neuer Pflanzen schon vorwegnimmt, scheinen in ihm auch weniger die Zeichen des Verfalls vor als die Anbahnung neuen Wachsens und Gedeihens. Deshalb gilt die Sozialbrache – das längerfristige oder 7 8
Zur Lippe 2010, S. 111. Ebd.
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14. · Die Brache
dauerhafte Ausfallen einer Nutzung aus ökonomischen Gründen – im engeren Sinne auch nicht als landwirtschaftliche Brache. Die Industriebrache ist dagegen kein Raum regenerativer Ruhe, in deren Atmosphäre sich die Vitalität einer neuen produktiven Kraft schon ankündigt. Die Zeit ihrer postindustriellen Ruhe wirft einen schicksalhaft erscheinenden Schatten auf ausgeräumte Flächen und tote Bauten. Hallen, Plätze und Wege sind vom Leben und Arbeiten der Menschen verlassen. Im Unterschied zur Brache des Ackers gibt die Industriebrache in ihrer Gestalt keine Antwort auf die Frage nach den Gründen ihrer Verlassenheit. Das ins Dach wachsende Efeu, Verbotsschilder und improvisierte Metallzäune künden nur diffus vom menschlichen Scheitern und der Vergeblichkeit der Fortführung einer Nutzung. Kaum andere Orte als Brachen und die auf ihnen zu Ruinen verfallenden Bauten geben so deutlich zu erkennen, wie die Zeit mit dem Raum im Erleben zur Einheit kommt. Deshalb gibt es den gelebten Raum Dürckheims nicht ohne die gelebte Zeit Minkowskis und umgekehrt. Im sichtbaren Zerfall verräumlicht sich die Zeit, wie sich der Raum – in dem die Dinge an ihren Orten sind – verzeitigt. In der rätselhaften Verlassenheit und Stille des Ortes, in der Präsenz stillstehender Maschinen, leerer Häuser und berstender Dinge sowie der gleichzeitigen Lebendigkeit eines alles erfassenden Vergehens wird die Brache zur ästhetischen Sensation im engeren Sinne. Sie steht ästhetisch auf dem Grat des Erhabenen. In ihrem räumlichen Erscheinen ist sie von einer Gleichzeitigkeit gegensätzlicher Gefühle geprägt. Wie das Hässliche die Aufmerksamkeit abstößt und bindet, so ist die Brache faszinierend und bedrohlich. In ihrer sukzessiven Zersetzung durch Verwitterung und Überwucherung sowie in der Auflösung jeder Ordnung ist sie ein Symbol des Chaos. Ihre verfallsbedingte Umgestaltung steigert die Komplexität lokaler Gestalten, so dass sich die gewohnte Wahrnehmung des Städtischen im Ganzen der unübersichtlichen Vielfalt der Eindrücke verliert. Im Chaos der Brache verschwimmen die Grenzen zwischen Identität und Verschiedenheit. Die Ruine ist noch als Maschinenhaus erkennbar, aber doch auch schon etwas sich in die Unbestimmtheit Auflösendes. Darin ist sie Allegorie der Endlichkeit allen Lebens. Als ein Ort, der die Fassungen seiner Ordnung verliert, ist die Brache eine seismische Zone des Ästhetischen. Die politische und gesellschaftliche Stabilität verbürgende Ordnung städtischen Lebens zeigt in der chaotischen Überformung ehemals funktionierender Stätten ihr Vexierbild. Ihre ästhetische Ambivalenz 270 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Atmosphäre der Verlassenheit
verdankt die Brache ihrer Assoziation mit dem Chaos. Die Psychoanalytikerin Joanne Wieland-Burston merkt an: »Die Lust am Chaos ist unbewusst, denn bewusst klammern wir uns an die Ordnung.« 9 Gegen den Schein des massenkulturell und massenmedial eindeutig Gemachten breitet sich in der Atmosphäre der Brache das Gefühl der latenten Allgegenwart des dystopischen Kenterns der großen Utopie ewig funktionierender Organe von Stadt und Gesellschaft aus.
14.2 Atmosphäre der Verlassenheit Aus der räumlichen Leere des brach daliegenden Ackers erwächst eine atmosphärische Leere, in der sich die monotone Ästhetik des Ortes spiegelt. Die Industriebrache ist aber nicht leer in diesem Sinne. Sie ist verlassen und drückt im Verlassen-sein von einst oszillierender Lebendigkeit den Rückzug einer sozialen Welt aus. An dieser Atmosphäre der Verlassenheit hängt das Blei der Furcht vor einer unsicheren Zukunft der Verstetigung des Scheiterns. Die tatsächliche Verlassenheit der Bauten im Quartier der Brache wird in einer Atmosphäre der Verlassenheit spürbar. Der sichtbare Wandel der Dinge berührt den modalzeitlich aufscheinenden Horizont der Zukunft und mündet in die Furcht vor einem existenziellen Verlassen-werden. Zwar ist die Brache ein transversaler und deshalb in einem mehrdimensionalen Wandel befindlicher Raum; aber die Dauer seines Zustandes wie die Perspektive seines optionalen Übergangs in die Raum-Zeit einer anderen Geschichte bleibt im Dunkeln. Schon diese ins Ungewisse sich atmosphärisch ausdehnende Offenheit macht die Brache zu einem Raum der Beunruhigung, der sich als Atmosphäre der Verlassenheit zu spüren gibt. In gewisser Weise ist die Brache in ihrer Gegenwart von der Geschichte verlassen. Ihr räumliches Milieu konstituiert sich in einer »äußerste[n] Steigerung und Erfüllung der Gegenwartsform der Vergangenheit«. 10 Der Übergang von der Atmosphäre der Verlassenheit in eine Stimmung wird nicht vom Zufall gelenkt, sondern durch den Grad der Betroffenheit vom atmosphärischen Erleben und damit von der persönlichen oder gemeinsamen Situation einer Person. So weckt die At9 10
Wieland-Burston 1989, S. 35. Simmel 1998.1, S. 124.
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14. · Die Brache
mosphäre der Verlassenheit erst dann auch eine Stimmung des Verlassenseins, wenn sich eine aktuelle Lebenssituation im Eindruck der Brache allegorisch widerspiegelt. Dagegen ist die gemeinsame Situation sogenannter kreativer Berufsgruppen, die in den Rest- und Reliktbauten auf Brachen so oft anzutreffen sind (von Architekten über Künstler und Werber bis zu Unternehmensberatern), durch ein konstruktives Verhältnis zum Chaos geprägt. Im Wissen um eigene generative Potentiale vermittelt dieselbe Atmosphäre der Verlassenheit dann keine Stimmung des Verlassens-seins, sondern – beinahe in einem umgekehrten Sinne – eine Stimmung des Aufbruchs. Der atmosphärische Raum der Brache bildet ein Milieu für die kreative Herstellung von Bedingungen ökonomischen Erfolgs und sozialen Prestiges. Die Atmosphäre der Verlassenheit konstituiert auf diesem Hintergrund sogar eine Stimmung der Geborgenheit: Der Raum der Brache bedeutet im Bedeutungsmilieu der gemeinsamen Situation sogenannter Kreativer nicht Sorge und Furcht, sondern ästhetische Anregung, Chaos und Unordnung deuten nicht auf Apokalypse, sondern auf eine Ausgangssituation für die Schaffung von Neuem. Die Brache ist für kreative Unternehmer kein dunkler Ort der Resignation, sondern ein Ort der Umwölkung durch ein anregendes und anmutendes Milieu. Welche Bedeutungen Atmosphären im Raumerleben gewinnen, hängt vor allem davon ab, ob eine Brache als Gegenstand potentieller Aneignung oder als Ausdruck gescheiterter Geschichte Aufmerksamkeit findet. Als optionaler Raum der Aneignung kommt sie in den Fokus denkender und planender Verfügung. In der Bewertung einer Brache als »»Rest-« bzw. Reservefläche für neue Nutzungen oder auch als mögliche ökologische Ausgleichsfläche« 11 kommt es indes nur marginal auf deren Atmosphäre und Ästhetik an. Als Gegenstand rückt die Brache in ihrer Tauglichkeit für etwas in den Fokus. Im Unterschied dazu hat sie aber auch einen Gegebenheitswert, der weniger um- als mitweltlich zur Anschauung kommt und atmosphärisch ausdrückt, was sie in ihrer Eigenart als transitorischer Raum ist. Die Wahrnehmung des ästhetisch erscheinenden Raumes ist – zumindest lebensweltlich – nicht kategorial von der seiner Brauchbarkeit getrennt. Atmosphärische Eindrücke sind in ihrem Erleben nicht isoliert gegenüber programmatischen Nützlichkeitserwägungen. Wenn das Milieu atmosphärischer Industriebrachen wegen seiner anregen11
Brunotte 2002, S. 201.
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Die Brache in der Stadt
den Ästhetik von Kreativen so geschätzt wird, dann liegen einer solchen Bewertung hybride Eindrücke zugrunde, in denen das anregend Erscheinende zugleich als Ausdruck des Nützlichen empfunden wird. Nicht zuletzt wird die Brache in der scheinbaren Ferne geordneter Nutzungsansprüche zu einem Raum temporär und situativ wechselnder Nutzungen. So wird er – bis auf weiteres – zur relativ sicheren Zone des improvisierten Aufenthalts für Obdachlose, als weitgehend menschenleerer Raum zur Schattenzone für die Abwicklung illegaler Geschäfte, als zurückgelassener Raum zum Labor unkonventioneller und experimenteller Selbstverwirklichung für Jugendliche oder als verkehrsfreier Raum zum Refugium für Hundehalter.
14.3 Die Brache in der Stadt Die inner- oder randstädtische Brache steht in einer spannungsreichen Beziehung zur Stadt. Das Chaos der Brache verspottet und konterkariert die an ihren Oberflächen ästhetisierte Stadt, die im Schein des Geschönten ewige Prosperität suggeriert. Schmutz, Verfall und sich auflösende Ordnungen verbinden sich atmosphärisch zu einem Bild dystopischen Scheiterns des Integrations- und Fortschrittsversprechens der Stadt. Darin gibt die Brache ihre mythische Verwandtschaft mit der Ruine zu erkennen. Beide sind Wunden der Stadt 12 und aporetische Klippen in der urbanen Flut des Ästhetisierten. Gleichwohl steht ihre aufrüttelnde Wirkung auf einem Grat, denn eine Wunde der Stadt bietet sich kaum als Medium der Identitätszuschreibung von Stärke an. Schon in der Vergangenheit fand die Ruine als leidvoller Ort der Geschichte in ihrer »potentiell aufrüttelnden Wirkung« 13 selten Beachtung. Von wenigen zu Denkmalen erklärten Erinnerungsorten abgesehen, wurde sie nicht zum Menetekel des Scheiterns menschlicher Entwürfe, sondern als Ausdruck psychischer Abwehr angstbesetzter Assoziationen meist zum Medium romantizistischer Verklärung. Als authentisches Original der Geschichte überdauert sie eher in philosophischen Diskursen denn als tatsächliche Form des Dahinrottens inmitten der lebendigen Stadt. Während die Ruine aus der Geschichte gleichsam zurückgeblieben 12 13
Vgl. Hasse 2000. Wirth 1989, S. 550.
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14. · Die Brache
ist, ragt die Industriebrache als Symbol des Scheiterns in die Zukunft hinein. Die Ruine wird vom ungebremsten Wuchern der Spontanvegetation als Ort der Verklärung ästhetisch vollendet und – dem Denkmal ähnlich – mnemosynisch in der Geschichte festgeschrieben. Im Binnenraum der Brache weckt das unkontrollierte Vordringen alles überwuchernder Gewächse inmitten der pulsierenden Stadt das Gefühl schicksalhaften Unterliegens in einem globalen Wettbewerb um siegreiche Standorte der Ökonomie. Wenn die Brache auch ein transitorischer Raum ist, so will sie doch nicht hingenommen werden. Ihr schneller physischer und ästhetischer Wandel fügt sich als Sinnbild des Aufbruchs nur dann in zukunftsverheißende Projektionen ein, wenn sie auf dem Horizont ihrer produktiv-revitalisierenden Überwindung gesehen wird. Dann folgt ihre Atmosphäre der Verlassenheit keiner Ästhetik der Kompensation, sondern der progressiv-generativen Beunruhigung. Stürzt sie jedoch über den Grat der Hoffnung auf bevorstehende Neuanfänge in die Situation der Dauer, wird sie zur Wüstenei. Aber selbst dann noch haftet ihr der abgestandene Wunsch nach einer Rückkehr städtischer Vitalität an. Das Plädoyer für die »dauerhafte Brache« 14 läuft auf eine Quadratur des Kreises hinaus. Ihre Verstetigung überführt sie in einen mnemosynischen Park, macht sie zu einer Heterotopie und somit zum »didaktischen Präparat« 15 einer industrie- und regionalhistorischen Heimat-Kunde. Provokant ist sie nur im Zustand der temporären Starre – als Stachel im Fleisch der lebendigen Stadt. Wo sich die Brache in Zeiten ökologistischer Hyperästhesie als Rohstoff der Autosuggestion eines utopisch ersehnten Friedens mit der Natur als Ökotop anbietet, verliert sie sich an den Mythos. In Gestalt einer mit dem Garten verwandten re-naturierten Oase der Zivilisation kann sie das Verlorene nur erträglich machen – dies um den Preis der Unbewusstmachung der Frage, wie ein Leben und Arbeiten in und mit der Natur in der Zukunft gestaltet werden könnte. So trifft die grüne Industriebrache auf den Mythos der romantischen Naturversöhnung, wie man sie in Gestalt konservierter Ruinen kennt, die in England als sentimentale Orte von Touristen gesucht werden (vgl. Abb. 14.3) oder in ihrer gemütsschweren Inszenierung die Idee und Ästhetik des Englischen Gartens zuspitzen. Die Ästhetisierung städti14 15
Vgl. in diesem Sinn Selle 1993 sowie Brock 1986. von Moos 2007, S. 29.
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Die Brache in der Stadt
Abb. 14.3: Konservierte Ruine (Thornton Abbey / Yorkshire UK).
scher Brachen hat wenig mit ihrer mnemosynischen Bewahrung zu tun, dafür viel mit der ästhetizistischen Unbewusstmachung des möglichen Scheiterns der Utopie der Stadt. Was Eberhard Hempel 1948 auf dem Erfahrungs- und Erlebnishintergrund kriegszerstörter Städte über die Bedeutung der Ruine anmerkte, gilt in ganz ähnlicher Weise heute für die Industriebrache: »Die Zeugen der Vergangenheit dürfen unser Leben nicht beherrschen, aber sie müssen doch hineinwirken, da in ihnen das Fundament, auf dem auch unsere Gegenwart ruht, sichtbar wird.« 16 So überlebt die Brache nicht in der postindustriellen Romantik und »dramatischen Selbstinszenierung des Veraltens einer Epoche der Produktion« 17, sondern nur in ihrer Temporalität – als Raum einer letztlich politisch virulenten Affizierung. Allein als transitorischer Ort, dem die Hoffnung auf eine Wiederkehr der turbulenten und vitalen Stadt atmosphärisch fest aufsitzt, stiftet sie jene Denkwürdigkeit, in der im Sinne von Martin Heidegger das bauende Verhältnis der Menschen zur Welt fragwürdig werden kann. 16 17
Hempel 1948, S. 91. Selle 1993, S. 25.
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15. Atmosphären des Lichts – Immersive Medien des Urbanen Künstliches Licht zwischen kulturindustrieller Sedierung und einer Kritik der Stadt Atmosphären des Lichts gibt es in der Natur wie in der gebauten Welt der Stadt. Jeweils entfalten sie Kräfte, die auf menschliche Stimmungen einwirken. Natürliche Atmosphären des Lichts entstehen unabhängig von menschlicher Tätigkeit. Manche unter ihnen sind so eindrucksstark, dass sie sich zum Erlebnisklischee verzerrt haben (Sonnenauf- und -untergang, Mondschein). Von Menschen gemachte Atmosphären bedürfen des Einsatzes technischer Mittel. Schon in der Antike waren im Bereich des Wohnens einfachste Leuchtmittel gebräuchlich, um emotionale Umfriedungen zu schaffen; seit dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert gab es in Griechenland und Kleinasien einfache Lampen. Wenn die Beleuchtungstechnik auch über Jahrhunderte relativ einfach geblieben war, so kommt doch gerade im ästhetischen Wandel von Öllampen zum Ausdruck, dass der Einsatz künstlichen Lichts nicht nur utilitären Zwecken folgte. Es erfüllte schon früh eine wichtige soziale Funktion der Ästhetisierung des Wohnraumes und damit auch eine Aufgabe der Repräsentation. So hatte man zum Beispiel im zweiten vorchristlichen Jahrhundert die Öllampe im alten Rom zu einer Art Kronleuchter weiterentwickelt, dessen Leuchtstärke sich sogar bedingt regulieren ließ. 1 Aber nicht nur die (innere) Wohnung ist ein Raum der Ästhetisierung und Behagung durch Atmosphären, denn Menschen wohnen nicht nur in Häusern oder Wohnungen, sondern auch im offenen (und öffentlichen) Raum der Stadt. Auch dieser Raum ist Wohnraum 2, wenn er auch mit anderen Mitteln emotionalisierend umfriedet wird als der persönliche Raum der Wohnung. Deshalb spielen auch in der ästhetischen Gestaltung der Stadt als Wohnraum die Atmosphären des Lichts eine wichtige Rolle. Im öffentlichen Raum geht deren Bedeutung sogar über die von Leuchte und Lampe in privaten Räumen hi1 2
Vgl. Neuburger 1919, S. 239 ff. Vgl. Hasse 2008.1.
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Atmosphären des Lichts und Urbanität
naus, denn der öffentliche Raum ist medialer Raum der Repräsentation ökonomischer und politischer Akteure. Damit wird er zu einer Bühne dispositiver Praktiken der Illumination. 3 Technisch erzeugte Atmosphären des Lichts städtischer Illumination umkleiden die Architektur und prägen temporär das ästhetische Erscheinen der Stadt (in der Zeit der Dämmerung und Dunkelheit). Atmosphären des Lichts sind deshalb auch – im Unterschied zu festen Bauten – ätherische Medien der Urbanität. Sie wirken nicht nur auf das Gesicht der Dinge ein, sie stimmen auch das Gefühl des Stadtbürgers, indem sie seine Stadt mit beheimatungsfähigen Vitalqualitäten aufladen oder in einem fremden Licht erscheinen lassen. Illuminationen wie twist and turns (Wien) oder fold space (São Paulo) von Holger Mader, Alexander Stubic und Heike Wiermann leisten diese irritierende Verfremdung im Medium abstrakter Lichtspiele und -effekte (vgl. Abb. 15.1 und 15.2). Solche Installationen unterscheiden sich kategorial von der Lichtwerbung, die schon aufgrund ihrer ökonomischen Abhängigkeit in den Grenzen ästhetischer Wahrnehmungsroutinen des Städtischen bleiben muss. Folglich strebt sie nach Identifikation und nicht nach Provokation oder Irritation. Dagegen setzt Illumination, die sich im Bereich der Kunst entfaltet, tradierte Routinen der Wahrnehmung zumindest sektoral außer Kraft und öffnet diese damit für ein partielles, situatives oder auch nur thematisch gebundenes Be- und Neudenken der Stadt.
15.1 Atmosphären des Lichts und Urbanität Atmosphären sind leiblich spürbare Konstituenten von Urbanität. Das Konzept Urbanität impliziert eine Vorstellung der Stadt, in der auch Atmosphären des Lichts eine Rolle spielen, auch wenn Urbanität in ihrem kulturellen Kern an der Lebensweise der Stadtbewohner identifiziert wird. Am deutlichsten hatte Georg Simmel konkretisiert 4, was wir heute Urbanität nennen. Im Zentrum seines Essays über die Großstädte und das Geistesleben steht eine den Städter charakterisierende Grundhaltung der Distanz. Sie ist habituelles Moment seiner personalen Identität. So unterscheidet sich der Stadtbewohner gerade in seinem urbanen Selbstverständnis vom Bewohner ländlicher Räume, der 3 4
Vgl. auch Hasse 2004. Vgl. Simmel 1998.3.
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15. · Atmosphären des Lichts – Immersive Medien des Urbanen
Abb. 15.1: Uniqa Tower Wien (Mader – Stublic – Wiermann).
sich in einem sozial engmaschigen, übersichtlichen und distanzlosen Netz selbst verorten muss, wie er in diesem von der Gemeinschaft der Dorfes aber auch verortet wird. Die kulturelle Form von Urbanität ist im Wesentlichen eine Folge der baulich geschlossenen Gestalt der Stadt. Wo die Menschen in räumlicher Enge und großer Dichte nebeneinander denselben Raum bewohnen und nutzen, reklamieren sich soziale Praktiken des Miteinander-Lebens, die auf Konfliktreduzierung ausgelegt sind. So bringt die urbane Lebensform emotional distanzierte Dichte immer wieder aufs Neue hervor. In der Konsequenz führt der Städter im engen Neben- und Miteinander des Vielen und Verschiedenen aus der Anregung der Differenz und der chronisch schwelenden sozialen Krise sein Leben. 5 Angelus Eisinger bezeichnet Urbanität als Deshalb bezeichnen Häußermann und Siebel Urbanität auch als »Fähigkeit, diese krisenhafte Existenz zu leben« (vgl. 1997, S. 305).
5
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Atmosphären des Lichts und Urbanität
Abb. 15.2: SESC Pompéia, Sao Paulo 2008 (Mader – Stublic – Wiermann).
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15. · Atmosphären des Lichts – Immersive Medien des Urbanen
»»missing link« zwischen Architektur und städtischer Gesellschaft«. 6 Während sich das Wahrnehmungsklischee der urbanen Stadt an ihrer physischen Größe, mithin an ihrer räumlichen Ausbreitung und dreidimensionalen Höhe orientiert, konstituiert sich ihre Atmosphäre zwar auch im dicht und hoch bebauten Raum, aber darüber hinaus vor allem auf einem sozialen und performativen Resonanzhintergrund von Urbanität als Lebensgefühl. Eine wichtige Einflussgröße für dessen Zustandekommen ist das soziale Leben in der Stadt und damit die Art und Weise, nicht nur in der Stadt zu wohnen, sondern die Stadt auch zu leben. 7 Atmosphären des Lichts wirken in unterschiedlichster Weise auf die plural disponierte Urbanität einer Stadt ein. Zum einen verdanken sie sich dem Erscheinen der physiognomischen Stadt und damit ihrer ästhetischen Präsenz. Zum anderen spiegeln sie das kulturelle Leben des Stadtbürgers wider. Szenen der Illumination setzen den gebauten Raum ins Licht und lassen Architektur in spezifischer Weise erscheinen. Atmosphärisches Licht ist kein sehend machendes Licht wie das der Straßenbeleuchtung. Es kommuniziert kulturelle Bedeutungen, die im Falle ästhetizistischer Marketingkonzepte eher einer warenästhetischen Logik unterliegen und viel weniger dem Ziel der Verwandlung des öffentlichen Raumes in einen Raum der Kunst oder der Anregung zu einem Nachdenken über die Stadt folgen. Technisches Licht erzeugt – je nach seiner immersiven Qualität – Atmosphären, die die Gefühle der Menschen tangieren, bisweilen sogar attackieren. Kommunikation im Medium des Lichts setzt (die Weckung von) Aufmerksamkeit voraus. Ohne sie setzt sich kein Bild in der individuellen und kollektiven Erinnerung fest; sie vermittelt erst die Identifizierung mit einem Wert. Im ökonomischen und politischen Kampf um Aufmerksamkeit werden deshalb besonders solche Techniken der Affizierung eingesetzt, die ihre nachhaltige Macht über die Menschen im Wege leiblicher Kommunikation entfalten. Dabei sind es vor allem die Synästhesien, die kulturelle Bedeutungen mit gefühlten sinnlichen Eindrücken verbinden (vgl. Kapitel 3). Aber auch umgekehrt folgen kulturelle Bedeutungen empfindungskomplementären (leiblichen) Gefühlen. Im Unterschied zur Kirchenarchitektur der Gotik, die in eine Eisinger 2004, S. 96. Deshalb habe ich an anderer Stelle die Metapher vom »Leib der Stadt« eingeführt (vgl. Hasse 2002.1).
6 7
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Diskurse über Licht und seine atmosphärische Wirkung
christliche Mythologie und Symbolsprache eingebunden war, 8 ist die symbolische Codierung städtischer Atmosphären des Lichts durch säkulare Werte programmiert, wenn die Szenen mitunter auch auf mythische Motive zurückgreifen.
15.2 Diskurse über Licht und seine atmosphärische Wirkung Maßnahmen der Illumination des öffentlichen Raumes sind im Allgemeinen kein Thema der kommunalen Planung, obwohl die durch den Einsatz technischen Lichts hervorgerufenen Veränderungen städtischen Erscheinens nachhaltigere Wirkungen haben können als die Ausweisung eines Bebauungsplanes. In dieser Differenz drücken sich nicht nur bau- und planungsrechtliche Spezialisierungen aus, sondern auch Hierarchisierungen innerhalb des Bauens. Als Baumaßnahmen im engeren Sinne gelten Veränderungen im physischen Raum, aber nur im Sonderfall gestalterische Maßnahmen, die mit immateriellen Baustoffen realisiert werden. Das »Bauen« mit Licht kennt das Baurecht nur in raren Ausnahmen. Ästhetisierende Illuminationen gelten nicht als potentiell »schädliche Umwelteinwirkungen« im Sinne des § 1 BImSchG, weshalb es auch keine Grenzwerte gibt. Der ordnungsrechtliche Begriff des Bauens unterscheidet sich kategorial von dem, was Martin Heidegger mit Bauen verbunden hatte. Für ihn war jede Gestaltung der bewohnten Welt ein Bauen, das dem Wohnen dient. Deshalb hatte er es auch einer ethischen Pflicht der Rechtfertigung unterworfen. In der Stadtplanung existiert keine diskursive Begleitprognostik, in deren Mittelpunkt die Frage nach Sinn und Bedeutung von Atmosphären des Lichts für das städtische Leben stünde. Tatsächlich mangelt es aber nicht nur an einer wachen Aufmerksamkeit der städtischen Öffentlichkeit. Auch fehlt es an einer wissenschaftlichen Diskussion der sozialpsychologischen Implikationen von Eventisierungen und Ästhetisierungen der Cities. So wird die gegenwärtige Praxis der Aufhübschung der Städte durch Illuminationen zwar durch einen in der Sache reich differenzierten und diversifizierten licht-technischen Diskurs begleitet; einen komplementären kulturwissenschaftlichen Diskurs gibt es dagegen nur in Spurenelementen. Auch Großveranstaltungen wie 8
Vgl. Stalling 1974.
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15. · Atmosphären des Lichts – Immersive Medien des Urbanen
die alle zwei Jahre in Frankfurt am Main stattfindende Luminale feiern das euphemistische Leuchten der glänzend gemachten Stadt, ohne seine kulturellen Effekte einer differenzierten öffentlichen Debatte zuzuführen. Die wenigen wissenschaftlichen Diskurse, die sich der Bedeutung ästhetizistischer Dispositive für die Massenkultur widmen, vollziehen sich abseits des Mainstreams und entkoppelt vom städtischen Leben. Im Unterschied dazu wurden in den 1910er und 20er Jahren die seinerzeit zahlreichen lichttechnischen Innovationen intensiv in ihrer Bedeutung für eine Erlebnissteigerung von Architektur diskutiert. Weigel sah das Licht als »Werkzeug und als Stimmungsmittel« 9, so dass man von einem gewissen »Sinnenbewusstsein« (zur Lippe) wird ausgehen können, wonach das Licht als Baustoff besonderer Art behandelt und bedacht worden ist. An den Diskussionen im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts beteiligten sich selbst Lichttechniker wie Joachim Teichmüller, der das lichttechnische Institut an der Technischen Universität Karlruhe gründete. Ein zentrales Thema lag in der kulturellen Bedeutung künstlichen Lichts und seiner Atmosphären für das städtische Leben. Teichmüller war es auch, der einen Unterschied zwischen Architekturlicht und Lichtarchitektur machte. Während er den Einsatz technischen Lichts als bloßes Be-Lichtungsmittel auf die (pragmatische) Stufe des Architekturlichts stellte, sah er in der Lichtarchitektur die Kunst der Schaffung besonderer Verbindungen von Lichtinszenierungen mit architektonischen Gebilden. In der Lichtarchitektur sollte die Zusammenwirkung von Bauwerk und Lichtwerk eine ganz bestimmte Raumgestalt zur Geltung bringen. Wenn diese Differenzierung auch auf zwei Klassen der Illumination aufmerksam macht, so wird die Grenze zwischen beiden praktisch oft kaum zu ziehen sein, denn im Prinzip kann jede illuminative Verwandlung eines Bauwerks sowohl auf Architekturlicht als auch auf Lichtarchitektur zurückgehen. Nachhaltigere Unterscheidungskriterien könnte dagegen eine kritische Analyse der Intentionen des LichtMachens liefern, folgt die eine wie die andere Art der Illumination von Bauten doch einer je eigenen Rationalität.
9
Köhler / Luckhardt 1956, S. 123.
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Zur Ontologie von Atmosphären des Lichts
15.3 Zur Ontologie von Atmosphären des Lichts Atmosphären des Lichts sind zunächst Atmosphären im Allgemeinen und damit im Raum ausgedehnte Gefühle. Sie vermitteln sich nach Hermann Schmitz im Wege leiblicher Kommunikation, werden als etwas am eigenen Leib, aber nicht als etwas von sich (als etwas vom eigenen Körper) empfunden. Atmosphären sind Grundelemente der menschlichen Wahrnehmung und haben Situationscharakter. Als impressive Situation kommen sie in einem Moment ganz zum Vorschein. Schmitz spricht für diese Fälle von einer »Wahrnehmung mit einem Schlage«, in der vielsagende Eindrücke augenblicklich ganz zum Vorschein kommen (in der Mannigfaltigkeit der sich in ihnen überlagernden Bedeutungen). 10 Es ist bemerkenswert, dass inszenierte Atmosphären des Lichts auch praktisch auf diese hoch komplexe Beeindruckungsund Erlebniswirkung hin konzipiert werden. Ihren gefühlsmäßigen Effekt (zwischen Dissuasion und Irritation) können illuminative Atmosphären nur entfalten, weil sie nicht gleichsam »Zug um Zug« (in einem rekonstruierenden, einzelne Sinnesdaten zu einem konstellationistischen Konstrukt zusammensetzenden Akt) wahrgenommen, sondern schlagartig als Ganzheit affektiv treffen und ihre stimmende Wirkung entfalten. Licht-Designer wie Licht-Künstler entwerfen ihre suggestiven Lichtgestalten, wenn sie auch sehr unterschiedlichen Rationalitäten folgen, auf einen Wahrnehmungsmodus hin, den es dem radikalen Konstruktivismus zufolge gar nicht geben kann, denn Lichtplanung vollzieht sich nie im Rahmen reiner Planbarkeit; sie bedarf der Kreativität, Assoziation wie des Experiments. Deshalb ist sie auch vom Risiko der Vergeblichkeit überschattet. Dasselbe gilt im Prinzip für das Erleben atmosphärischen Lichts. Es variiert intersubjektiv und verläuft noch nicht einmal auf dem Niveau kollektiver Wahrnehmungsschablonen auf einem gemeinsamen Weg. Für Atmosphären des Lichts ist es charakteristisch, dass sie sich in ihrer Ontologie kategorial von Dingen unterscheiden. Schmitz hat eine Reihe von Erscheinungen, zu denen innerhalb der Gefühle auch die Atmosphären gehören, als Halbdinge definiert. Halbdinge unterscheiden sich von Dingen unter anderem dadurch, »daß sie verschwinden und wiederkommen, ohne daß es Sinn hat, zu fragen, wo sie in der
10
Vgl. Schmitz LRG, S. 33.
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15. · Atmosphären des Lichts – Immersive Medien des Urbanen
Zwischenzeit gewesen sind«. 11 Sie haben einen flüchtigen, aber dennoch immersiven Charakter, der besonders dem ephemeren Wesen von Atmosphären zu eigen ist. Deshalb bietet sich das Licht auch in besonderer Weise für die Kommunikation existentieller Gefühle und Bedeutungen an. Atmosphärische Situationen der Helligkeit und Dunkelheit begründen aufgrund ihrer raumbildenden Erlebniswirkung herumwirkliche (Dürckheim12) Gefühle, die Stimmungen von archaischer Bedeutung grundieren. Die angst- wie hoffnungsbesetzten Assoziationen mit der Helle und dem Dunkeln kehren deshalb auch als Atmosphären in den heidnischen Mythen wieder und werden schließlich in vielfarbigen Bedeutungshöfen von der christlichen Mythologie vereinnahmt. In der christlichen Mythologie steht das Licht für die »theophore Metapher schlechthin«13. Das atmosphärisch bestimmende und Bedeutung vermittelnde Element in der bildlichen Darstellung der »Erschaffung des Menschen« 14, der »Vertreibung aus dem Paradies« 15 und vieler weiterer Bilddarstellungen der Merian-Bibel ist jeweils das Licht (vgl. Abb. 15.3 und 15.4). Mit der Allegorie des »göttlichen Lichts« wird somit eine kulturelle (religiöse) Bedeutung im ästhetischen Bereich der Sinnlichkeit ausgedrückt. So werden Gefühle und Symbole synästhetisch ineinander geschmolzen. Mäßige Wirkung haben Atmosphären, wenn sie allein rational verstanden werden; größte Wirksamkeit entfalten sie dagegen, wenn sie in ein Gefühl der Stimmung übergehen, wenn Individuen und gesellschaftliche Gruppen von einer Bedeutung auch leiblich ergriffen werden und ganz unter ihrem Bann stehen. In der Aufklärung wird die auf die menschliche Vernunft verweisende Bedeutung des Lichts mit der rationalen Erkenntnis verbunden. In der modernen Architektur des Neuen Bauens der 1910er und 20er Schmitz NGrdl, S. 80. Halbdinge sind auch Licht und Schatten, Wärme und Kälte oder Heiterkeit und Trauer. Sie sind maßgeblich an der gefühlsmäßigen Wahrnehmbarkeit von Atmosphären beteiligt. Auch die Stille ist ein Halbding, und es macht keinen Sinn, sie anstelle ihres ganzheitlich atmosphärischen Charakters auf ein physikalisches Verständnis der Abwesenheit von Geräuschen zu reduzieren. Stille ist (wie die Leere eines Platzes, oder das Licht, in dessen Glanz die Fassade des Rathauses erscheint) weder Ding noch dessen Eigenschaft. 12 Dürckheim 2005. 13 Thiel 2006, S. 233. 14 Merian-Bibel, S. 23. 15 Ebd., S. 41. 11
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Zur Ontologie von Atmosphären des Lichts
Abb. 15.3: Die Erschaffung des Menschen.
Abb. 15.4: Vertreibung aus dem Paradies.
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15. · Atmosphären des Lichts – Immersive Medien des Urbanen
Jahre wird es als Medium der Reinheit mystifiziert. Einer der herausragendsten Licht- und Glas-Architekten im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts war Bruno Taut 16 (neben Walter Gropius, Hans Scharoun und Wassili Luckhardt 17). Aus dem Affekt gegen eine »verstaubte, verfilzte, verkleisterte Welt der Begriffe, der Ideologien, der Systeme« dachte er die »gläserne« Vision einer gewaltlosen Welt: »Hoch das Durchsichtige, Klare! Hoch die Reinheit! Hoch der Kristall!« 18 In der Glassymbolik gingen mittelalterliche Bedeutungen auf, die etymologisch in der christlichen Mythologie ihre Wurzeln hatten, wonach Lichtdurchlässigkeit, Helligkeit und Klarheit für höchste Reinheit standen. 19 Das Licht spielte in der Symbolik des Neuen Bauens metaphorisch eine zentrale Rolle. »Die Menschheit sollte aus den dunklen Kerkern der steinernen Mietskasernenstadt, den Klauen des Staates und der Geißel des rechten Winkels befreit und ans Licht geführt werden.« 20
Der beschworene Mythos wurde bauend durch Architektur ins Werk gesetzt. Die gleichsam errichteten Atmosphären sollten vor allem ein Gefühl für die kommunizierte Bedeutung vermitteln. Die großen Lichtevents sogenannter Lichtkünstler 21, die in der Gegenwart gefeiert werden, wollen die Stadt diesseits utopischen Denkens als eine profane Erlebniswelt der Menschen schön und begeisterungsfähig machen. Aber zweifellos trägt auch der postmoderne Äs-
In der Taut’schen Glasarchitektur kam eine moderne Variante der Säkularisierung von Prinzipien des gotischen Kathedralenbaus zur Geltung (zur Glasarchitektur bei Taut vgl. auch Prange 1991). 17 Sie unter anderem bildeten die sogenannte Gläserne Kette, eine hauptsächlich aus Architekten bestehende Künstlergemeinschaft. Die zahlreichen Illustrationen zu dem 1956 von Walter Köhler verfassten Buch »Lichtarchitektur« wurden von Wassili Luckhardt beigetragen. 18 Taut 2001, S. 54. 19 Grimm / Grimm Bd. 7, S. 7661. 20 Neumeyer 2002, S. 63. 21 Im Bereich der Lichtkunst sind Künstler von sogenannten »Künstlern« zu unterscheiden, die sich qua Selbstzuschreibung von Identität zum Künstler erklärt haben, aber in der Sache ihres Schaffens doch nicht im engeren Sinne im Metier der Kunst tätigt sind. Während Lichtkünstler eine Veränderung der Wahrnehmung intendieren, ohne dabei ökonomische oder politische Interessen zu verfolgen, realisieren sogenannte Lichtkünstler oft von Immobilieneigentümern, Kommunen oder Konzernen beauftragte Illuminationsprojekte und unterstellen ihre Kreativität damit den Interessen Dritter. 16
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Die Illumination des Profanen: das Parkhaus als exzentrischer Ort
thetizismus 22 einen Mythos schönen Lebens in die soziale Welt. Mit der kulturkritischen Selbstannullierung der Kulturkritik wird der Baustoff Licht zu einem Instrument der Dissuasion (Baudrillard 23). Die Ankopplung der sinnlichen Wahrnehmung an bedeutungsgeladene Gefühle wird nicht zeit-, wahrnehmungs- und ideologiekritisch diskutiert, sondern subdiskursiv praktiziert. Atmosphären des Lichts wirken aber nicht erst in ihrer visuellen Offensivität. Nachhaltig zudringlich werden sie in ihrer scheinbar harmlosen, tatsächlich aber immersiven Präsenz. Sie dringen weder in den gebauten Körper der Stadt ein noch in die lebenden Körper der Menschen. Aber sie disponieren den seine Stadt leiblich empfindenden Stadtbewohner für Haltungen, Einstellungen, Lebensformen und Werte. So wird auch jede Atmosphäre des Lichts, die Gebäudefassaden umhüllt und den offenen Raum der Stadt mit Gefühlsqualitäten auflädt, über das Erleben der Menschen zu einem Moment von Urbanität. Die folgenden drei Beispiele werden strukturelle Wirkungsweisen atmosphärischer Illuminationen skizzieren und konkretisierend der Frage nachgehen, in welcher Beziehung sichtbare und spürbare Formen von Urbanität zueinander stehen.
15.4 Die Illumination des Profanen: das Parkhaus als exzentrischer Ort Parkhausarchitektur folgt in ihrer Gestaltung allgemeinen architektonischen Trends und stilistischen Moden. 24 Als konkretes Bauwerk, das einem hoch spezialisierten Zweck dienen soll, steht seine Ästhetik aber in einer engen Beziehung zu seiner Funktion. Diese geht allerdings nicht im utilitären und profanen Charakter des Bauwerks auf, sondern ist darüber hinaus auch Spiegel der verdeckten Symbolik einer automobilen Großstadtkultur. Zwar dient ein Parkhaus (als Hoch- oder als Tiefgarage) in verkehrsplanerischer Sicht allein der stapelnden Verdichtung des ruhenden Verkehrs. Darin ist der Gebäudetyp einem Lagerhaus, Silo oder Speicher verwandt. Die Funktion eines Parkhauses
22 23 24
Vgl. dazu Hasse 2004. Vgl. Baudrillard 1983. Ausführlich dazu vgl. Hasse 2007.2.
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15. · Atmosphären des Lichts – Immersive Medien des Urbanen
besteht aber nicht zuletzt auch in der symbolischen Bekräftigung des Mythos der verkehrstechnischen Funktionsfähigkeit der inneren Stadt. Auf einem kulturellen Niveau dient die gesamte Ästhetik der Architektur eines Parkhauses der narrativen Fundierung eines Mythos, der sich in einer offenen und einer verdeckten Dimension atmosphärisch ausdrückt. Offen ist die Illusionierung eines reibungslosen Individualverkehrs in der modernen Gesellschaft. Verdeckt bedeuten Form und Gestaltsprache der Architektur aber auch die moralische Ent-Sorgung aller Schattenseiten des Individualverkehrs (Lärm, Emissionen, Flächenverbrauch und vieles anderes) ins kollektive Unbewusste der Gesellschaft. Im ideologischen Windschatten solcher Entsorgung wird über die Herstellung atmosphärischer Beeindruckungseffekte das Automobil als heimlicher Fetisch einer postkritischen Gesellschaft beglaubigt. Seit Beginn des Jahrtausends ist der Pkw wieder 25 ein herausragendes kulturelles Medium der Ästhetisierung, Repräsentation und damit vor allem der Distinktion. Als solches zielt es in seinen symbolisch codierten Gebrauchskulturen wie in seinem sinnlichen Erscheinen auf die Affekte und nicht den Verstand; es kommuniziert sich dank wirkungsvoller Synästhesien – auf die die Architektur des Parkhauses systematisch baut – selbst atmosphärisch. Das postmoderne Parkhaus beglaubigt und nobilitiert die Fetisch-Funktion des Automobils. Wie dieses steht auch seine ästhetisierte Repräsentationsarchitektur ganz unter dem atmosphärischen Schein des (vermeintlich) Besonderen. Ein in floureszierendem Licht als Quasi-Kunstwerk erscheinendes Parkhaus (vgl. Abb. 15.5) vermittelt sich in seinem architektonischen Stil nicht mehr (wie in den 1960er und 70er Jahren, als das Auto verpönt war) durch nackte und kalte, sondern kulturell hochwertige Baumaterialien, mit deren symbolischer wie bewegungssuggestiver Wirkung Atmosphären des Besonderen geschaffen werden. Diese unterscheiden sich semantisch von der Atmosphäre puristischer Funktionalität, die sich in der Zeit ökologisch motivierter Kritik an der Verkehrspolitik der autogerechten Stadt in einer nüchternen Parkbeton-Ästhetik widerspiegelte. Postmoderne Lichtatmosphären rahmen gebaute Bühnen und adeln
In den 1920er Jahren war der Pkw aufgrund seiner Novität in ähnlicher Weise ein Fetisch und Anzeiger für wirtschaftliches Wohlergehen und kulturellen Stand. Auch in dieser Zeit waren die Hochgaragen ästhetisch herausragende Orte (vgl. ebd.).
25
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Die Illumination des Profanen: das Parkhaus als exzentrischer Ort
Abb. 15.5: Tiefgarage am Ossenmarkt (Groningen / Niederlande).
mit dem Automobil den Individualverkehr, der in seiner gegenwärtigen Form Ausdruck einer strukturellen Krise staatlicher Macht ist, gesellschaftliche Entwicklungen wirksam und nicht nur symbolisch zu steuern. Jede gebaute Atmosphäre erfüllt ihre Aufgabe mit den Mitteln und für die Empfindungskulturen ihrer Zeit. Die atmosphärische Gestaltung der Groninger Tiefgarage will ein Gefühl der Behaglichkeit in einem Raum stiften, der wegen seiner im Allgemeinen als kalt und abweisend empfundenen Raumqualitäten von Filmemachern gern als Ort für die Darstellung gewaltkrimineller Handlungen genutzt wird. Die symbolische Wirkung architektonisch inszenierter Parkhaus-Atmosphären geht aber über ihre lineare Affektlogik hinaus. Auf einem mythischen Niveau sichert sie auch die Langlebigkeit der Illusion der Beherrschbarkeit des innerstädtischen Individualverkehrs durch gute Planung. So wird durch eine Quadratur des Kreises, der schon die Idee des Parkhauses aufsitzt, der heterotope Charakter dieses ArchitekturTyps gegen seine desavouierende Thematisierung geschützt. Zur Urbanität, die sich im Bild der Stadt physiognomisch ausdrückt, gehört nicht nur die Architektur des Parkhauses, die es als bauliche Form auf dem Lande nicht gibt, sondern auch das atmosphärisch auf die Spitze getriebene Spiel mit disparaten Bedeutungen. Es charakterisiert den Stadtbewohner, dass er selbst die größten Widersprüche in eine Einheit der Differenz zu fügen vermag. Auch darin kommt Urbanität als Geisteshaltung zum Ausdruck. Die Ästhetisierung eines Pro289 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
15. · Atmosphären des Lichts – Immersive Medien des Urbanen
fanbaus par excellence veranschaulicht nicht zuletzt die Ansprechbarkeit des Stadtbewohners für gefühlsmäßige und symbolische Überschüsse. Im Prinzip ist das ins »rechte Licht« gesetzte Parkhaus eine euphemistische Geste. Obwohl der automobile Individualverkehr insbesondere zu den frühabendlichen Stunden nicht nur Konsumenten in die Kernstadt bringt, sondern auch Abgase, Lärm und Gefahr, wird er vom illuminativ und farblich inszenierten Parkhaus begrüßt und willkommen geheißen. Die auf nackte Funktionalität reduzierten »hässlichen« und in ihrem Inneren oft finsteren Parkhäuser der 1960er und 70er Jahre wären in der Gegenwart eines differenzierten Wissens um die klima- und umweltpolitische Brisanz eines »freien« Individualverkehrs das umweltethisch gebotene Zeichen der Zeit. Das wäre aber eine (fiktive) Architektur ohne Bauherren, denn weder kommunal noch privatwirtschaftlich betrieben sind Parkhäuser Orte moralischer Läuterung, vielmehr zeitgeistige Medien einer Kultur des Automobils. Zum einen ist die Großstadt der Ort der Kritik gesellschaftlicher (Fehl-) Entwicklungen. Zum anderen ist die Kultur der Urbanität aber auch durch eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber Differenzen gekennzeichnet. Diese Haltung kommt der Verschleierung des normativen Widerspruchs zwischen Ästhetik und Funktion entgegen. Diese wird noch dadurch unterstützt, dass die Betreiber gleichsam leuchtender Parkhäuser das Argument gesteigerter Benutzerfreundlichkeit (optimierte Sichtverhältnisse, transparente Leitsysteme durch neue Lichttechnologien) für sich geltend machen können. Scheinbar ist die Entdeckung einer der banalsten Architekturtypen als Kandidat der Hyperästhetisierung bedeutungslos, folgen die Produktionsmittel des schönen Scheins doch nur der Logik ohnehin herrschender architektonischer Stile. Indes nistet sich der Mythos bevorzugt im Gesicht des »Normalen« ein, um auf subkutane Weise seine Geschichte vom sinnlichen und genussvollen Leben in der schönen Stadt zu erzählen.
15.5 Weihnachtsbeleuchtung Öffentliche Weihnachtsbeleuchtung strebt die Schaffung einer emotionalisierten Situation im (Konsum-) Raum der Stadt an. Sie fungiert als programmatisches Medium der Bewirkung sentimentalen Lichts. Die Arrangeure können in ihrer ästhetischen Arbeit auf ein großes Reser290 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Weihnachtsbeleuchtung
voir tradierter Praktiken zurückgreifen. Auch hier verdanken sich die einschlägigen Methoden in ihrer Wirkung synästhetischer Effekte, die oft weniger bewusst intendiert und kalkuliert werden, sondern ein intuitives Moment szenischen Erfahrungswissens als Ausdruck ästhetischer Professionalität zur Geltung bringen. 26 Weihnachtliche Stimmungsbilder werden in ihrer Rezeption nicht in einem semiotischen Sinne decodiert, sondern situativ-ganzheitlich empfunden und in gewisser Weise einverleibt. Voraussetzung für das Gelingen einer sentimentalisierenden Illumination ist die affektive Bereitschaft, sich auf dem Hintergrund der christlichen Mythologie auf eine Weihnachtsstimmung überhaupt einzulassen (vgl. Kapitel 12). Entsprechende Einstimmungsangebote werden illuminativ nach synästhetischen Standards inszeniert. So dient zum Beispiel gelbes Licht, das sich mit Assoziationen des Weichen und Gedämpften verbindet, der Kommunikation von Bedeutungen, die eher dem Weichen als dem Harten zu eigen sind. Auf diese Weise werden positive emotionale Assoziationen des Weihnachtlichen geweckt. Daneben haben kulturindustrielle Wahrnehmungsklischees ein großes Gewicht in der Ansprache einer massenmedial sozialisierten Gesellschaft. Dann sind es leuchtende Engel, blinkende Sterne, schillernde Christkinder, goldfarben glänzende Geschenkpakete und ein schier endlos differenziertes Spektrum von (Vor-) Weihnachtskitsch, der aufs Gemüt geht und in aller Regel mit offenen Appellen zum außergewöhnlichen, quasi sakralisierten Konsum verführen soll. Das Beispiel der Weihnachtsbeleuchtung illustriert anschaulich, in welcher Weise Synästhesien kulturelle Stimmungskulissen integrieren. Trotz zirkulierender (weihnachtlicher) Bedeutungsformate gelangt eine sentimentalisierende Inszenierung nur an das Ziel der Tönung des Empfindens konkreter Individuen, wenn sich eine (hergestellte) Atmosphäre auch in eine persönlich ergreifende Stimmung überträgt. Das Beispiel macht ganz allgemein aber auch darauf aufmerksam, dass eine gelingende Sentimentalisierung durch Atmosphären des Lichts eine gleichsam rahmende Hintergrundbeleuchtung voraussetzt (vgl. Abb. 15.6). Dörfliche Illumination im stockdunklen öffentlichen Raum wirkt wie ein semiotisches Derivat, das seine Stimmungswirkung so wenig entZur Lippe spricht diese Kompetenz mit dem Begriff »Sinnenbewusstsein« an, das sich durch einen hohen Grad an Inkorporiertheit von Wissen um ganzheitliche Situationen und Wirkungen auszeichnet (vgl. 1987).
26
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15. · Atmosphären des Lichts – Immersive Medien des Urbanen
falten kann wie eine hölzern rezitierte Textstelle poetischer Zeilen der Romantik (vgl. Abb. 15.7).
15.6 Licht-Kunst im öffentlichen Raum Nicht alles, was mit dem Etikett von Licht-Kunst in die öffentliche Debatte getragen wird, hat auch etwas mit Kunst zu tun. Postfordistische 27 Illuminationsspektakel gehören zu jenen Veranstaltungen, die von ihren Kreateuren gern im Metier der Kunst verortet werden, in ihrer gesamten Rationalität aber doch viel mehr die Grundzüge einer ästhetischen Ökonomie repräsentieren. 28 Sie bleiben insofern aber nicht im Bereich der Visualität, als sie die »Wahrnehmungs- und Aneignungsweise der Wirklichkeit als kulturelles Beziehungsmuster« 29 der Menschen in der Gegenwart formen. Was im Bild der Stadt die physiognomische Seite von Urbanität nur auf einer Oberflächendimension charakterisiert, sickert auf einer ästhetischen Tiefendimension in das Bewusstsein der Individuen ein. 30 So stiftet die durch gefühlige Atmosphären aufgehübschte Stadt eine Identität 31, die von personaler Sinnsuche entkoppelt und in den Apparat kulturindustrieller Empfindungsregime eingebunden ist. Während die großen internationalen Illuminationsevents der Logik eines ästhetischen Dispositivs folgen und als »dominante Tendenz der kulturellen Entwicklung in der Gegenwart« 32 einen Beitrag zur universellen Ästhetisierung gesellschaftlicher Lebensbereiche leisten, steht die Kunst außerhalb massenkultureller Symbolsysteme. Licht-Kunst etabliert zwar ihrerseits einen Diskurs, indem sie von einem Außen der Sprache auf das Denk-, Sag- und Fühlbare einwirkt. Im Unterschied zu kulturpolitisch und ökonomisch induzierten Illuminationen ist die Kunst aber in keiner ökonomischen und kulturindustriellen Rationalität verankert. Vielmehr folgt sie einem Prinzip der Irrationalität, das Richard Müller-Freienfels in den 1920er Jahren als Zur Dialektik von Postmoderne und Postfordismus vgl. Jameson 1986 sowie Harvey 1987. 28 Vgl. Böhme 2001.2. 29 Müller / Dröge 2005, S. 100. 30 Vgl. dazu auch Welsch 1993. 31 Vgl. Müller / Dröge 2005, S. 101. 32 Ebd., S. 95. 27
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Licht-Kunst im öffentlichen Raum
Abb. 15.6: Weihnachtsbeleuchtung (Alte Oper / Frankfurt/M.).
Abb. 15.7: Weihnachtsbeleuchtung im ländlichen Raum (Insel Baltrum).
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15. · Atmosphären des Lichts – Immersive Medien des Urbanen
Quelle der Kreativität diskutierte (vgl. auch Kapitel 6). Licht-Kunst, die in diesem Sinne einem irrationalen Impuls folgt, ordnet die Weltbezüge auf dem Horizont kreativer Sinngebungen neu und irritiert damit das vorgängige Denken und Fühlen der Menschen. Licht-Kunst schafft Atmosphären der Verfremdung, die in einem von Grund auf anderen Verhältnis zur Urbanität stehen als jene am physiognomischen Bild der Stadt zur Erscheinung kommende Urbanität ästhetischer Sichtbarkeit. Damit trägt Licht-Kunst im Gegensatz zur kulturindustriellen Eventisierung zur idiosynkratischen Wahrnehmung der postfordistischen und neoliberalisierten Stadt bei. Deshalb steht die Licht-Kunst auch im Zentrum eines kulturellen Verständnisses von Urbanität als Geisteshaltung, die mit der Differenz nicht nur lebt, sondern sie zum Anlass nimmt, das Gegebene denk- und fragwürdig zu machen. Urbanität vermittelt dann ein Bedenken der Stadt wie ihres Lebens. Die Atmosphären künstlerisch gestalteten Lichts geben diesem Nach-Denken Impulse für die reflexive Rekonstruktion des Zusammenwirkens von Emotionalität, Rationalität, Handlung und pathischer Teilhabe. Illuminationen mit der einleuchtenden Kraft der Thematisierung der Stadt sind indes selten. Ein herausragendes Beispiel für das Arrangement einer doppelt codierten Atmosphäre bietet die Illumination Brandgrens des niederländischen Künstlers Jeroen Everaert (Mothership / Rotterdam) (vgl. Abb. 15.8). Jeroen Everaert eventisiert mit seiner Installation die Stadt nicht als einen süffigen Raum kuturindustriell austauschbarer ästhetizistischer Bilder. Vielmehr bringt er für den größten Teil der Stadtbevölkerung, die den Zweiten Weltkrieg nicht erlebt haben, die Situation der Bombardierung von Rotterdam durch deutsche Flieger in Erinnerung. Schon darin liegt ein politischer Effekt der Selbstgewahrwerdung der Rotterdamer Bürger in einer Facette ihrer (Stadt-) Geschichte. Die Inszenierung wirkt aufgrund ihrer lichttechnischen Realisierung bedrohlich. Sie baut eine synästhetische Brücke zur pathischen Annäherung an das Unvorstellbare. Die räumliche Verortung der Lichtgestalt orientiert sich nicht an zufälligen Grenzen, sondern an der Brandgrenze (Brandgrens), markiert also – bezeichnenderweise aus der Luft – die Grenze zu jenem innerstädtischen Raum des ehemals alten Stadtzentrums, der durch Bomben zerstört wurde. Die Inszenierung sitzt aber nicht im historischen Blick auf vergangene Geschichte fest, sondern schießt in die Verbildlichung einer aktuellen Frage der Stadtentwicklung in die Zukunft voraus. 294 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Licht-Kunst im öffentlichen Raum
Abb. 15.8: »Brandgrens« (Jeroen Everaert – Mothership / Rotterdam).
Im Zuge der Postmodernisierung der großen Städte hat sich in Rotterdam seit den 1990er Jahren im ehemaligen Hafenbereich jenseits der Maas (Kop van Zuid) ein für europäische Hafenstädte beispiellos innovativer Wandel vollzogen. 33 Als Folge dieser Dynamik gibt es heu33
Ein in gewisser Weise vergleichbares – in seinem Bauvolumen sogar größeres – Vor-
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15. · Atmosphären des Lichts – Immersive Medien des Urbanen
te neben der (ehemals) alten Innenstadt ein zweites innerstädtisches Zentrum, das durch die Erasmusbrücke an die »alte« Stadt angeschlossen ist. So besteht die eine Stadt Rotterdam nicht nur aus zwei Zentren, sondern auch aus zwei Welten, deren doppelte Physiognomie durch kategorial verschiedene architektonische Symbolsprachen chrarakterisiert ist. Es dürfte kaum eine Stadt in Nordeuropa geben, die sich innerhalb von nur 15 Jahren so einschneidend erneuert hat wie Rotterdam. Aus dieser Erneuerung ist aber auch eine starke Differenz innerhalb der Stadt erwachsen, so dass sich die Frage nach der zukünftigen Synthese der Stadt und ihrer Teile aufs Neue stellt. Die Thematisierung dieser verhaltenen und spannungsreichen Annäherung vermittelt die Illumination von Jeroen Everaert zugleich. Darin ist sie politisch, denn sie fördert die Lebendigkeit von Urbanität wie die Entfaltung ihrer kulturellen Kraft für eine Entwicklung der Stadt, deren Richtung sich am Empfinden der Stadtbewohner orientiert – auf dem Boden ihrer Utopien, Wünsche und Visionen zukünftiger Formen urbanen Lebens.
haben wird im Ausbau der Hamburger HafenCity seit Beginn des Jahrtausends realisiert.
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16. Atmosphären im heiligen Raum Zur Autorität von Gefühlen im heterotopen Raum
Aus der Sichtferne bilden Kirchen signifikante Objekte im Panorama der Stadt. Trotz »vorschreitender Säkularisierung« 1 sind sie als Zeichen christlicher Religiosität sichtbar. Das Monopol der Höhe haben die kirchlichen Bauten in Zeiten boomender Hochhausarchitektur indes verloren. Wenn die Stadt Frankfurt am Main in ihrer Hochhauspolitik auch nicht für andere deutsche Städte repräsentativ sein mag, so drückt sich doch in ihrem Fernbild etwas für Metropolen der westlichen europäischen Welt Charakteristisches aus: In der Gegenwart sind es nicht mehr religiöse, sondern vor allem ökonomische Bedeutungen, die ihr kulturelles und politisches Gewicht in der Berührung des Himmels zur Geltung bringen. Gleichwohl muss das bauphysiognomische Überwuchern von Sakral- durch Profanbauten – vor allem der Versicherungskonzerne und Bankenzentralen – nicht den Sturz religiöser Werte bedeuten. Vielmehr aktualisiert sich das Ordnungsgefüge zwischen weltlichen und religiösen Bedeutungen auch in der Ver-Ortung der Kirchen im Bild des städtischen Raumes bauhistorisch und -kulturell stets aufs Neue.
16.1 Kirchen als heterotope Bauten Die Kirche steht aber nicht nur im Raum der realen Stadt. In der mythologischen Himmelsstadt (Himmlisches Jerusalem) 2 wird sie zu einem quasi-architektonischen »Gehäuse für die Ecclesia, die Gemeinschaft der Heiligen mit den Gläubigen«. 3 Gehäuse in einem räumlichen und heterotopologischen Sinne sind auch die Kirchen im Raum der vornehmlich von ökonomischen Gesetzen bestimmten Welt. Als Stadt 1 2 3
Vgl. Werhahn 2012. LCI Bd. 2, S. 518. Ebd.
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16. · Atmosphären im heiligen Raum
der Gläubigen in der Stadt der Weltlichen ist die Kirche durch Elemente der Außenraumgestaltung symbolisch gegenüber der weltlichen Stadt separiert (z. B. durch Engel in den Mauern). Schon als Bau-Körper gibt die Kirche im Raum der weltlichen Stadt ihren Charakter als Heterotopie zu erkennen. In ihrer gesamten Bauphysiognomie deutet sie sich als anderer Raum an. Sie ist anders als jeder andere Raum der Stadt. Ihr Mythos macht sie zu einem Ort tatsächlich realisierter Utopien 4, mit anderen Worten zu einer mikrologischen Welt, in der die Widersprüche zwischen gesellschaftlichen Realitäten und christlichen Werten aufgehoben sind. Das Kirchenportal markiert die Grenze gegenüber einem doppelten Drinnen. Kirchen stehen in einem phänomenologisch bemerkenswerten Spannungsverhältnis zwischen Innen- und Außenraum. Ihr heterotoper Charakter impliziert schon eine Programmatik der Innenraumgestaltung, die den Mythos des Ortes eindrucksmächtig zu verstehen gibt. Deshalb lässt sich ein Kirchenschiff auch nicht nach pragmatischen Erwägungen seiner Benutzbarkeit herstellen wie ein profaner Bau. Er erscheint zunächst als ein vom Außenraum durch Wand, Dach, Tür und Fenster relativ abgeschlossener Raum. In seiner architektonischen Inszenierung ist er vor allem Civitas, Gemeinschaft der Gläubigen. Diese religiöse Bedeutung vermittelt sich durch Objekte und liturgische Arrangements, insbesondere aber durch ihre immersive Atmosphäre der »Umhüllung«. 5 Zwar sind es auch die Objekte, deren Erscheinen und deren Bedeutungen zur Konstitution von Atmosphären beitragen. Letztlich (kirchen-) raumschaffende Macht haben jedoch nicht-dingliche Eindrücke, in denen sich der Charakter des sakralen Raumes atmosphärisch verdichtet: Raumgröße, -weite und -höhe, Art der Lichtführung, akustische Resonanzen, Farben und die Mächtigkeit der Säulen, um nur einige ästhetisch impressive Medien der Wahrnehmung zu nennen. In sakralräumlichen Szenographien wird die sich im äußeren Gesicht des Bauwerkes schon ankündigende Michel Foucault spricht Heterotopien auch als andere Räume mit Orts-Charakter an: »Es gibt […] wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplazierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind; gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können« (Foucault 1990, S. 39). 5 Lars Frers (vgl. 2007) spricht Atmosphären als Umhüllungen an, die Orte gleichsam fließend umschließen. 4
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Der sakrale Raum als sinnlich-ästhetischer Raum
Symbolik atmosphärisch intensiviert und spürbar verdichtet. So konstituiert sich ein christlich-mythologischer Bedeutungszusammenhang, den der äußere Bau in seiner Physiognomie und Ästhetik ins Bild der Stadt setzt. Im Moment des Überschreitens des Portals öffnet sich das Kirchenschiff als plurale sinnliche Erlebniswelt, in der sich die ganze immersive Eindrucksmacht des heterotopologischen Mythos spürbar ausbreitet – anders in der gotischen Kathedrale als im nachkriegszeitlichen Kirchenneubau. Vergleichbare Gefühle einer räumlichen Umschließung gibt es außerhalb von Kirchen im Raum der Stadt nicht. Die Wirklichkeit sakraler Räume konzentriert sich in atmosphärischen Milieus.
16.2 Der sakrale Raum als sinnlich-ästhetischer Raum Schon in der architektonischen und liturgischen Rauminszenierung wurde und wird eine affektive Erlebnissituation antizipiert und in der Anwendung professionellen Gestaltungswissens von Kirchenbaumeistern und Zeremoniaren realisiert. In den Kalkülen beider spielt der Einfall des natürlichen Lichts eine wichtige Rolle. Auf die Bedeutung des Halbdunklen zur Erzeugung dämmrigen Lichts wies schon Rudolf Otto hin. 6 Das Dämmrige komme dem Erleben von Stille und der Ergriffenheit durch eine göttliche Atmosphäre entgegen und begünstige das Aufkeimen von Situationen der Kontemplation. Das Halbdunkel entspreche »in der Sprache der Töne […] dem […] Schweigen«. 7 Die »affirmative Nichthaftigkeit« 8 des Halbdunkels verbindet sich mit der Stille, die zugleich als Schwere erlebt wird. 9 Synästhetische Übertragungen von sinnlichen Eindrücken auf kulturelle Bedeutungen disponieren den atmosphärischen Raum für die Wahrnehmung göttlicher Atmosphären. Stellvertretend für viele Anmutungsqualitäten sei auf die Wirkung von Weihrauch (als heiligem Räucherwerk) verwiesen, dessen Gebrauch in der morgenländischen Kirche schon auf das vierte, in der
6 7 8 9
Vgl. Otto 1924, S. 81. Ebd. Guzzoni 2010, S. 83. Ebd., S. 90 ff.
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16. · Atmosphären im heiligen Raum
abendländischen auf das siebte Jahrhundert zurückgeht. 10 Weihrauch belebt und entspannt, weshalb er (ambivalente) Gefühle des Erhabenen evoziert. Seine sinnlich manipulative Wirkung dient der affektiven Programmatik des mythischen Raumes. Die durch die vom leicht berauschenden Geruchserleben ausgelösten Synästhesien sichern den Übergang des Sinnlichen in eine Sphäre religiöser Bedeutungen. Wenn es bei Stifter heißt, dass der Weihrauch »sich oben mit den sonnenstrahlen vermählte und von ihnen vergoldet ward« 11, so ist damit nicht nur eine Ästhetik des Auges gemeint, sondern mehr noch die von Düften ausgehende atmosphärisch-ganzheitliche Wirkung. »Indem wir den Duft gewahren, nehmen wir an der Atmosphäre teil« 12, sagte Hubert Tellenbach.
16.3 Zum Zusammenhang von Atmosphäre und Bewegung Der atmosphärische Raum ist auch ein Raum der Bewegung. Sie erschließt Wege vom Draußen ins Drinnen und umgekehrt. In seinem physischen Körper macht sich der Mensch auf den Weg in das Bauvolumen der Kirche. Sobald aber der Innenraum in seinem Kontrast zum Außenraum der lärmenden Stadt spürbar wird, treten beide Körper – der des Menschen wie der der Kirchenarchitektur – in ihrer Materialität zurück und das leibliche Erleben des atmosphärisch umwölkten Raumes in den situativen Vordergrund. Das Drin-sein im sakralen Gefühlsraum konstituiert sich auf dem Hintergrund der persönlichen Situation in Gefühlen der Enge und Weite und ist im Rahmen von Messen und Gottesdiensten in aller Regel in die gemeinsame Situation der Gemeinde eingebettet. Der Zusammenhang zwischen leiblicher Disposition, Raumatmosphäre und Bewegung lässt sich besonders deutlich am Beispiel des Gehens im klösterlichen Kreuzgang herausstellen. Die Art des Gehens wird von Situationen disponiert, und so haben auch die Rhythmen des Gehens einen wichtigen Grund in der atmosphärischen Situation jeweiligen Gehens. Das Gehen auf einer Einkaufsstraße folgt einem anderen Rhythmus als das Gehen der Mönche unter dem Gewölbe eines 10 11 12
Grimm / Grimm Bd. 15, Sp. 737. Ebd. Tellenbach 1968, S. 47.
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Zum Zusammenhang von Atmosphäre und Bewegung
klösterlich-mittelalterlichen Kreuzganges. Zwar war der Kreuzgang in erster Linie eine effektive Wegeverbindung zwischen den verschiedenen Orten eines Klosters, 13 zunächst also ein »überdachter Wegraum, der täglich viele Male begangen wurde« 14, weil er nahezu alle für das klösterliche Leben wichtigen Orte verband (Klosterkirche, Kapitelsaal, Refektorium bis hin zu den Vorratsräumen und der Küche). Es wäre aber falsch, den Kreuzgang nur auf seine praktische (verkehrsinfrastrukturelle) Funktion zu reduzieren. Gerade wegen seiner hohen Frequentierung bot er sich als Medium der Herstellung einer gemeinschaftlichen Identität durch das Zelebrieren religiöser Praktiken an. Deshalb waren es religiöse Rituale und die ihnen zugrunde liegenden situationsspezifischen Bedeutungen, die den Habitus des Gehens in diesem Zeit-Raum disponierten. Der Kreuzgang war aber ein Raum verschiedener Formen des Gehens, je nachdem ob er durch die Situation des sepulkralkulturellen Raumes, des Raumes der betenden Besinnung, der geistlichen Lesungen, der stillen Andacht, der Meditation, der Prozession, der rituellen Fußwaschung, der Belehrung der Oblaten und Novizen, der »Fürbitte in der Sterbestunde des schwer erkrankten Propstes« 15 und so weiter disponiert war. Aus einer Handschrift des 16. Jahrhunderts zitiert Siart zur Geschichte des Klosters Lüne: »und unmittelbar danach sangen wir die Sext und die Non, indem wir die Bußpsalmen mit der Litanei im Umschreiten des Kreuzgangs gesungen haben.« 16 Im Umschreiten kommt eine der Situation des Betens angemessene Weise des Gehens zur Geltung. Dies ist kein Gehen, das voran will; es ist ein abgemessenes Gehen, ein bedächtiges, feierliches, trauerndes und würdevolles Gehen. 17 So versteht es sich von selbst, dass bei vielen rituellen Anlässen, die im Gehen vollzogen wurden (z. B. stille Andacht, Meditation, Gedenken der Toten, Grablegung), die Wege eher würdig abgeschritten als einfach nur abgelaufen wurden. Die Beispiele mögen eindrucksvoll illustrieren, dass die zyklische Teilhabe an der ritualisierten Abfolge religiöser Praktiken die atmosphärische Aufladung des Kreuzgangs zum heiligen Raum im Sinne
13 14 15 16 17
Vgl. Jacobsen 2004, S. 37. Siart 2008, S. 11. Ebd., S. 292. Ebd., S. 288. Grimm / Grimm Bd. 15, Sp. 1730 und 1932.
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16. · Atmosphären im heiligen Raum
von Rudolph Otto 18 zur Folge hatte. Die Teilhabe am religiösen Klosterleben impliziert die habituelle Einverleibung religiöser Lebensprinzipien, die sich auch im Gehen ausdrücken. Da der Kreuzgang in seiner Architektur die christlichen Glaubenswerte, die das klösterliche Leben getragen haben, auch zum Ausdruck bringen sollte, war er ein religiöser Raum. Dessen Atmosphäre behielt er auch in jenen (Zwischen-) Zeiten, in denen er nur Ort profaner Verrichtungen des täglichen Lebens war (z. B. Ort der Reinigung des Geschirrs und der Kleidung, Ort der Schreiber und Buchmaler).
16.4 Macht durch Einfluss Die Wirkungsmacht des heiligen Raumes verdankt sich einer pluralen Raumgestaltung, zu der verschiedene Professionen ästhetischer Arbeiter ihren Beitrag liefern. Aber sie verdankt sich auch einer lebendigen Nutzung des Gebäudes, die als Herumwirklichkeit 19 im leiblichen Erleben eines an-wesenden und um-webenden Gefühls spürbar wird. Solche atmosphärischen Gefühle haben Macht. »Innerhalb des Kirchengebäudes ist der Altarraum und innerhalb des Altarraumes ist der Altar ein Ort unerhörter Machtfülle.« 20 Solche Macht geht von Anmutungsqualitäten aus, die Orte umhüllen. Sie bestimmen Verhalten, beeinflussen »Gestimmtheiten« 21 (Stimmungen) und werden dabei stets als ganzheitliche Eindrücke erlebt. 22 Zu Stimmungen werden Atmosphären, wenn sie das Grundbefinden einer persönlichen Situation (um-)stimmen (vgl. auch Kapitel 12). Solche Stimmungen durch Betroffenheit hervorzurufen, ist das Ziel der Programmierung von Atmosphären – nicht nur in der Gestaltung sakraler Räume, sondern auch in der innenarchitektonischen Inszenierung von Kaufhaus-Konsumwelten oder in der Ästhetisierung von Freizeit-Gegenwelten. Wenn Gernot Böhme darauf hinweist, dass Vgl. Otto 1924. Vgl. Dürckheim 2005. 20 Umbach 2005, S. 184. 21 Ebd., S. 310. 22 Hubert Tellenbach merkte ganz in diesem Sinne an: »Mit Absicht sprechen wir hier nicht von einem »Ganzen«, weil dieses die Vorstellung von Teilbarkeit induziert, welche hier absurd ist« (1968, S. 59 f.). Daraus folgt für ihn: »Es gibt in der Behandlung des Atmosphärischen keine Möglichkeit der Reduktion« (S. 61). 18 19
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Macht durch Einfluss
kirchliche Räume Institutionen angehören, »die auch die Interpretationsgewalt für das beanspruchen, was in diesen Räumen erfahren werden mag« 23, so heißt dies auch, dass es zur Ausübung solcher Gewalt gehört, auf die Konstitution von Stimmungen Einfluss zu nehmen. Wolfgang Marx spricht auch dann vom sakralen »Stimmungsraum«, »wenn die gestaltete Raumatmosphäre mit ihrem Ausdrucksgehalt denjenigen, der ihn und sich in ihm erfährt, in den Gemütszustand freier […] rein ästhetisch konzentrierter Kontemplation versetzt«. 24 Der hier zur Geltung kommende Begriff der Macht unterscheidet sich kategorial vom soziologischen Machtbegriff Max Webers, der Macht als die Chance verstand, »innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen«. 25 In der Produktion einer architektonisch, illuminativ und liturgisch inszenierten Aura der Macht im sakralen Raum entfalten sich nicht unmittelbar soziale Kräfte, sondern Variablen der Steuerung von Gefühlen. 26 Daher kann Macht auch von Blicken, Gesten oder Atmosphären ausgehen, und ebenso von Dingen, die als synästhetische Medien (z. B. Reliquien) Gefühle evozieren und diese mit christlichen Bedeutungen verknüpfen. Macht entfalten Bewirkungskräfte, die in der Planung sakraler Räume gleichsam darauf ausgelegt sind, Menschen affektiv zu berühren, in gewisser Weise sogar gefangen zu nehmen, um in der gemeinsamen Situation der Gemeinschaft Gläubiger ein religiöses Programm zu aktualisieren. Während die von der Architektur eines Gerichtssaals ausgehende atmosphärische Macht die aktuelle Gegenwart staatlicher Autorität nicht nur sichtbar, sondern leiblich auch spürbar macht, so soll die Macht des heiligen Raumes das Gefühl der Gegenwart Gottes evozieren. Im Kirchenraum gewinnt also etwas Einfluss auf eine religiöse Erlebnisqualität, die nicht in einem dinglichen Sinne da, sondern im Herumraum spürbar ist. Zweck der (Innen-) Architektur eines Kirchenbauwerks ist es auch, über die Atmosphäre des heiligen Raumes eine Stimmung religiöser Andacht hervorzurufen. »Wäre der Zweck nur der, daß sich die Gemeinde unter sicherem Dach und bei freund-
23 24 25 26
Böhme 2003, S. 114. Marx 1994, S. 36. Weber 2005.2, S. 38. Vgl. Schmitz Legit, S. 5
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16. · Atmosphären im heiligen Raum
licher Zimmertemperatur versammeln kann, dann bedarf es keiner besonderen Anstrengung.« 27
16.5 Die Macht numinoser Atmosphären Die Macht zur Bewirkung von Atmosphären folgt einer programmatisch orientierten ästhetischen Rationalität. Deshalb unterscheidet sich die (Konsum-) Atmosphäre in einem Kaufhaus auch fundamental von der Atmosphäre der Andacht im heiligen Raum. In seinem Buch Das Heilige sprach Rudolph Otto diese mit dem Begriff des Numinosen an, das keine Deutungs- und Bewertungskategorie 28 ist, sondern ein Gefühl des mysterium tremendum, das in »schwebender, ruhender Stimmung versunkener Andacht« 29 im Raum der Kirche gegenwärtig wird. Wie das Numinose, so ist auch das ihm verwandte Erhabene ein ambivalentes Gefühl. In der Faszination vom Technisch-Erhabenen verbindet sich ein überwältigendes Gefühl der Beeindruckung mit dem eines gleichzeitigen Schauderns angesichts wirkmächtiger Potenzen des Gemachten. Diese Gleichzeitigkeit eines Hingezogen- und Distanziert-seins folgt im Fall der Atmosphäre des heiligen Raumes spezifischen Sinnorientierungen. Die Gefühlsambivalenz des Numinosen wird als Geheimnis empfunden, das schauervoll erlebt wird. In der ästhetischen Inszenierung des sakralen Raumes geht es daher auch nicht darum, Bilder christlicher Mythologie im ikonographischen Sinne narrativ zu illustrieren oder ein Bild Gottes symbolisch vorzustellen. Nach Friedhelm Mennekes soll ein Bild – nicht anders als ein einfallendes Licht – die Stellungnahme, die Nachdenklichkeit und Problematisierung des eigenen Selbst herausfordern. 30 Der sakrale Raum soll sich nicht als ästhetischer Schauraum bewähren, vielmehr zu einer Umkehr des Sehens bewegen. Dabei komme es nicht auf den objekthaften Gegenstand der Wahrnehmung, sondern
Marx 1994, S. 40. Dieses Ziel wird in Abhängigkeit vom sozialen und gesellschaftlichen Ort einer Kirche durch situativ je angepasste Formen der Raumgestaltung realisiert. So wird zum Beispiel die Ästhetik einer Bürgerkirche von der einer Herrscherkirche zu unterscheiden sein, ebenso die eines Domes von der einer Dorfkirche. 28 Vgl. Otto 1924, S. 5 29 Ebd., S. 12. 30 Vgl. Mennekes 2008, S. 52. 27
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Atmosphärologische Medien
die Art des Wahrnehmens an – auf die Umkehr zum eigenen Selbst. 31 Darin liegt nach Mennekes auch die Rolle von Kunst im sakralen Raum. Die »Gemeinsamkeit des religiösen und künstlerischen Verhaltens« sah auch Georg Simmel darin, »daß das eine wie das andre seinen Gegenstand in eine Distanz weit jenseits aller unmittelbaren Wirklichkeit hinausrückt – um ihn uns ganz nahe zu bringen, näher, als je eine unmittelbare Wirklichkeit ihn uns bringen kann.« 32 Die Macht des Numinosen bindet den Hinzutretenden an das Gefühl einer fruchtbaren Ohnmachtserfahrung, die an existenzielle Fragen des eigenen Lebens anknüpft. Der sakrale Raum beansprucht in seinem atmosphärischen Ausdruck die Selbstverortung in einer Situation des Ernstes. Das Numinose entfaltet nach Hermann Schmitz in der subjektiv angenommenen Autorität des Gefühls eine Gewissensqualität des Ernstes. 33 Nur die Situation des Ernstes lässt im sakralen Raum jene »Energiezonen« 34 entstehen, die durch architektonische, dingliche und atmosphärische Inszenierungen in segmentierten Situationen aufgebaut werden.
16.6 Atmosphärologische Medien Wenn Friedhelm Mennekes auf die Erschwerung der Wahrnehmbarkeit kirchlicher Raumatmosphären durch Überfüllung mit Dingen und Symbolen aufmerksam macht 35, so heißt dies doch nicht, dass die Ästhetik des Kirchenraumes keiner Gestaltung bedürfte. In der Umkehr wird dies deutlich. Die nach dem Zweiten Weltkrieg errichteten protestantischen Kirchenneubauten vereiteln ja nicht aufgrund ihrer Überfüllung, sondern in Folge ihrer kahlen Leere das Aufkeimen numinoser Atmosphären. Dabei spiegeln sie in ihrer Antifiktionalität nur wider, was den Protestantismus programmatisch ausmacht. Beeindrucken soll das Wort und nicht das Bild. Luther zog daraus unmissverständliche Konsequenzen für das Verhältnis zwischen Protestantismus und Kirchenbauwerk: »Es were besser, das man alle kirchen und stifft
31 32 33 34 35
Vgl. ebd., S. 52. Simmel 1957.1, S. 129. Vgl. Schmitz III/4, S. 87. Mennekes 2008, S. 50. Vgl. Mennekes 2009, S. 91.
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16. · Atmosphären im heiligen Raum
ynn der wellt außwutzelett und tzu pulver verbrentt«. 36 Über die lutherische Kirche sagte Otto: »Die Kirche wurde Schule, und ihre Mitteilungen gingen dem Gemüte indertat […] mehr und mehr nur ›durch die schmale Ritze des Verstandes‹ zu.« 37 Das Leitbild eines ästhetischen Purismus macht sich die lutherische Kirche noch heute zu eigen. So betont Klaus Raschzok auf einem Treffen der Kirchenbauvereine der Evangelischen Kirche: »Evangelische Kirchenräume lassen sich als konsequent funktional gestaltete Raumhüllen verstehen, die in der Interaktion mit den in der gottesdienstlichen Feier kopräsenten Körpern der Feiernden zu einem konstitutiven Element des gesamten Ereignisses werden.« 38
Die Hervorhebung der Körper der Anwesenden ist hier bezeichnend für ein tiefes Missverständnis, das auch das Zustandekommen eines in gewisser Weise aseptischen Verhältnisses zum ästhetisierten Kirchenraum verständlich macht. Körper können zwar einen mathematischen Raum in einem dinglich-materiellen Sinne strukturieren; aber sie können keine Atmosphären wahrnehmen, weil sie sich im leiblichen Raum ausbreiten. Wie physische Körper und neuronale Sinnesreize, so gehören auch der spürende Leib und ein ihn affektiv berührender Eindruck zusammen. Eine abstrakt-symbolistische und intellektualistische Theologie will ihren heiligen Raum allein aus der Teilhabe der Gläubigen am Gemeinschaftserleben der Gemeinde generieren, aus der gemeinsamen Situation 39 der sich versammelnden Personen. So unterstreicht Raschzok für den Bau evangelischer Kirchen »ein funktionalistisches Verständnis des Kirchenraumes, das heilige Räume nur im sozialen Gebrauch kennt. Außerhalb des Gottesdienstes werden diese Räume wieder zu normalen Alltagsräumen.« 40 Implizit werden damit Ansprüche an die Förderung der Konstitution von numinosen Atmosphären durch Architektur, Szenographie Zitiert bei Umbach 2005, S. 212. Otto 1924, S. 126. 38 Raschzok 2010, S. 13. 39 Hermann Schmitz unterscheidet die gemeinsame Situation von der persönlichen Situation (vgl. auch Schmitz Sit). 40 Ebd., S. 16. Entsprechende Programme für den Neubau von Kirchen teilte auch der Kirchenbauer Rudolph Schwarz. So meinte er, »der heilige Raum müsse in der Gemeinde und ihrem Tun gründen, aus der Liturgie errichtet werden und mit ihr wieder versinken« (Weiser 2002, S. 28). 36 37
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Atmosphärologische Medien
und Raumgestaltung im weitesten Sinne negiert. Indes stellt sich die Frage, ob und wie sich ein heiliger Raum allein im sozialen Milieu einer Glaubensgemeinschaft atmosphärisch konstituieren soll, wenn Bauformen und -materialien ein solches Zustandekommen aus phänomenologischer Sicht mitunter massiv behindern. So erweckt zum Beispiel klares Fensterglas, wodurch das helle bis grelle Licht der Sonne ungebremst und ungefiltert einfallen kann, in der Ausleuchtung des Kirchenschiffs Assoziationen eines funktionalen Gebrauchsraumes und ein Empfinden nackter Kälte. Dagegen bewirkt dämmriges Licht neben seiner Symbolik des Verborgenen zugleich auch ein sinnlich spürbares Gefühl der Wärme. Das Dämmrige steht als Situation auch in einer Kontrastbeziehung zum grellen weltlichen Leben. In seinem Halbdunkel kontrastiert es den Unterschied zwischen dem bergenden Gefühl des Drinnen im Raum der Kirche und dem a-religiösen Treiben im Draußen der Stadt. Die Gestaltung sakraler Räume, wie immer sie auch ausgeführt werden mag, kann in der durch sie entfalteten Macht schon deshalb nie auf religiöse Bedeutungen begrenzt werden, weil kirchenräumliche Inszenierungen in phänomenologischer Perspektive stets auch a-religiöse Bedeutungen kommunizieren, die am Erscheinen baulicher und dinglicher Gestalten wahrgenommen werden. Das Helle, Dunkle und Halbdunkle setzt sich je nach allgemeinen Prinzipien der Wahrnehmung in ein bestimmtes Empfinden und Befinden um. Die Einschreibung des Hellen, Dunklen und Halbdunklen in christliche Bedeutungshöfe spielt daher zunächst keine Rolle. Das Beispiel der Baustoffe, die bei der Errichtung von Kirchen verwendet werden, macht deren synästhetischen Einfluss auf das atmosphärische Raumerleben deutlich. In Sichtbeton gegossene Wände und Fassungen von Deckenfenstern, wie sie in der Industriearchitektur üblich sind, strahlen – wenn sie im Kirchenbau zum Einsatz kommen – raue Kälte aus und ersticken das Aufkeimen einer bergenden und umfriedenden Atmosphäre schon im Keim. Der harte Gussstein steht der Programmatik der gemeinschaftsstiftenden Begegnung im sozialen Raum im Wege. Dass dieser soziale Raum in seiner Spezifik ein sakraler Raum ist, spielt dabei eine nachgeordnete Rolle. Das Beispiel des protestantischen Purismus in der Reduktion der Kirchenarchitektur auf eine Aufgabe des Hochbaus pointiert die Frage nach der Herkunft der Atmosphären. Es muss an dieser Stelle offen bleiben, ob sie allein durch die (immersive) Macht des Wortes hervor307 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
16. · Atmosphären im heiligen Raum
gerufen werden können oder nicht doch der Unterströmung durch immersive Medien der Szenographie und Baukunst bedürfen. Es wäre Aufgabe der Phänomenologie, im Sinne »einer historischen, theologischen und glaubenspraktischen Erweiterung« 41, weiter gespannte wahrnehmungstheoretische Erwägungen in die Reflexion atmosphärischer Räume einzubeziehen.
16.7 Raum der Besinnung Keine sakrale Atmosphäre zwingt in eine religiöse Stimmung. Gleichwohl konstituiert sie sich auch gegenüber dem Nichtgläubigen als numinose Eindrucksmacht – mit Otto als »schwebende(r), ruhende(r) Stimmung versunkener Andacht«. 42 Die ästhetische Anmutung des Raumes begünstigt in der Kontemplation ein Wachwerden für das eigene Selbst. Deshalb appellieren Kirchenräume in ihrer immersiven Raumwirkung auch an eine »anamnetische Vernunft« 43, die nicht die intellektualistische Reflexion, sondern die pathische 44 Selbstgewahrwerdung vermittelt. In Zeiten der Säkularisierung der Gesellschaft kommt diesem Weg der Rezeption kirchlicher Bauten zunehmende Bedeutung zu, führt er doch in die Denkwürdigkeit des eigenen Selbst im Gefüge dessen, was Martin Heidegger mit dem Geviert von Himmel und Erde, den Sterblichen und den Göttlichen angesprochen hatte. Auch der säkulare Kirchentourist begibt sich im Moment des Betretens einer Kirche mit einem Bein unter die Macht des heiligen Raumes, der nicht a priori schon ein Raum Gläubiger ist. Schon das Interesse, einen Kirchenraum nicht nur zu sehen, sondern sich in seiner mächtigen Atmosphäre auch selbst zu erleben, weist auf eine pathische Dimension dieses Interesses hin. Wer den Raum einer Kirche nicht allein aus bildungsbürgerlichen Gründen der Schau kunsthistorisch und kirchen- wie architekturgeschichtlich interessanter Dinge betritt, sondern auch seiner Atmosphäre wegen, steht unter der Macht der Erwartung einer Selbst-Begegnung und damit auch im Wirkungsfeld des heiligen Raumes. 41 42 43 44
Bertrand-Pfaff (o. J.), S. 3 Otto 1924, S. 12. Nach Johann Baptist Metz, vgl. ebd., S. 4 Vgl. auch Hasse 2012.2.
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17. Die Küste als gelebter Raum und die Sprache der Wissenschaft Formen ästhetischer Anschauung an den Rändern der Wissenschaft Küsten sind transitorische Räume, Gegenden des Sowohl-als-Auch, Räume der Durchgänge und Durchkreuzungen. Die meisten Küsten lassen sich geographisch nur ungenau bestimmen, denn die Elemente Erde und Wasser berühren, überlagern und durchmischen sich, ohne eindeutige Grenzen zu bilden. Umgekehrt ist es gerade die Vielfalt der elementaren Durchmischungen, die eine in sich höchst mannigfaltige und oft charakteristische Physiognomie der Küste entstehen lässt. Küsten sind Grenzgürtel und dynamische Räume. Ein paradigmatischer Raum der Vermischungen in das Wattenmeer.
17.1 Die eine und die andere Küste Das spezifische Zusammentreffen der Elemente Erde, Wasser und Luft weckt Aufmerksamkeiten, die sich zum Teil als Interessen beschreiben lassen. Küsten sind Räume der Ermöglichung, unter anderem Vernetzungszonen der Verkehrssysteme zu Wasser und zu Lande. Aufgrund der Besonderheiten des Wetters und des Klimas sind Küsten bevorzugte Erholungsräume. Das gilt auch da, wo schon andere Nutzungen Platz genommen haben, wie in der Nähe von Raffinerien oder Industriehäfen. Aufgrund ihrer ökologischen Besonderheit sowie zweckorientierten Nutzungen werden Küsten von verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen zum Forschungsgegenstand gemacht. In den Fokus rücken dann Naturstrukturen und -prozesse sowie soziale, ökonomische, politische und technologische Beziehungen, die sich im Laufe der Geschichte herausgebildet haben. Wo sich die verschiedenen Nutzungen so mannigfaltig differenzieren und überlagern, durchkreuzen sich mit den Interessen auch die ihnen zugrundeliegenden Rationalitäten. Die Unterschiede zwischen pragmatisch handelnden Zugriffen sowie wissenschaftlichen und ästhetischen Perspektiven auf Küsten und Meere lassen in ihrer Heterogenität je eigene imaginäre Räume ent309 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
17. · Die Küste als gelebter Raum und die Sprache der Wissenschaft
stehen. Kategoriale Differenzen bestehen zwischen lebensweltlichen und wissenschaftlichen Perspektiven, wenn sich in der Lebenswelt – im Bereich der unwillkürlichen Lebenserfahrung – auch ein Überschneidungsfeld mit geisteswissenschaftlichen Themen bildet. Die Lebenswelt bezieht einen großen Teil ihrer Erfahrungen aus der Wirklichkeit des situativ Erscheinenden.1 Die Wissenschaften beziehen ihre Erfahrungen und ihr Wissen dagegen aus Experiment, systematischer Beobachtung und der kreativen Anwendung begrifflicher Abstraktionssysteme. Das Wissen der unwillkürlichen Lebenserfahrung steht folglich schon methodologisch in einem Verhältnis der Inkommensurabilität zum wissenschaftlichen Wissen. Das Lehrbuch der Geographischen Meeres- und Gewässerkunde thematisiert das Meer in seiner ökosystemischen Bedeutung. Die Betrachtung stützt sich nicht auf einen Mythos und nicht auf ästhetische Eindrücke, sondern allein auf objektivierbare und quantifizierbare Sachverhalte: Das Meer deckt 71 % der Erdoberfläche ab; seine räumlichen Eigenschaften werden an Flächen und Volumina definiert 2 und damit auf dem Niveau eines relationalen bzw. mathematischen Raumes erklärt. Dieses physikalische Verständnis des Meeres als Körperraum bestimmt auch die Gliederung der Meere und Küstenräume, die im Allgemeinen zweidimensional gedacht werden. Größe und Fläche eines Landes oder eines Meeres werden üblicherweise in Quadratkilometern angegeben. Von der dritten Dimension (Tiefe und Höhe) wird in aller Regel abstrahiert. Es ist zwar selbstverständlich, dass sowohl der Boden unter als auch die Luft über der gedachten Fläche einer Gegend zu dieser Gegend dazugehört. Soweit Tiefen und Höhen für bestimmte Flächen-Nutzungen relevant werden, regeln spezielle Normen einschlägige Nutzungsrechte (z. B. aus dem Bergrecht, Baurecht oder Luftfahrtrecht). In der Perspektive des Erlebens sind solche Rechtskonstruktionen entbehrlich. Die alltägliche Nutzung des Raumes schließt a priori die Tiefe und die Höhe innerhalb rechtlich nicht reglementierter Zonen ein. Objektiv ist der Mensch zum Beispiel im Gehen in seinem physischen Gewicht wie in seiner Vertikalität im dreidimensionalen Raum. Zum Beispiel ist der Wattboden der Gezeitenküsten infolge seiner Die Umstände dieses Erscheinens einer imaginären Realität als Wirklichkeit sind Gegenstand der Phänomenologie (vgl. auch Böhme 2001.1, S. 64). 2 Vgl. Marcinek / Rosenkranz 1989, S. 42. 1
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Die eine und die andere Küste
Plastizität ein nachgebendes Element von spürbarer Tiefe – im Gegensatz zur trittfesten Felsenküste. Unter der tastbaren Schicht geht der Boden weiter, im Watt anders als im Fels. Höhen und Tiefen erschließen sich im sinnlich-taktilen Kontakt. Mit der Luft ist es etwas anders. Spürbar ist sie durch Temperatur, Feuchtigkeit, Druck und Bewegung. In diesem taktilen Erfassen und sinnlichen Begreifen erschließt sich Luft (anders als Boden) leiblich. Die Höhe ist in ihrer visuellen Wahrnehmung entscheidend von den möglichen Blickweiten in den tiefhängenden, freien oder offenen Himmel abhängig. Die Reichweite des Blickes schwankt im subjektiven Erleben auch mit dem Wechsel des Wetters. Das Problem der Abgrenzungen, das sich im Raum der Küste ja nicht nur auf die (unsichere) Grenze zwischen Meer und Land bezieht, sondern auch alle Erlebnisweisen erscheinender Natur betrifft, wird in der situativen Perspektive des Individuums noch diffuser, als es in topographischer Hinsicht in der Differenzierung zwischen einem objektivierbaren Dieses und Jenes schon ist. Vor jeder auf Begriffe sich stützenden Reflexion befindet sich zum Beispiel der Bewohner eines Küstenraumes in dessen atmosphärischer Gegend. Atmosphären sind aber keine subjektiv beliebig wahrnehmbaren, sondern quasi-objektive Erlebnisqualitäten, die der intersubjektiven Verständigung zugänglich sind. Deshalb wird das Meer an der Küste auch nicht nur individuell, sondern im Allgemeinen in ähnlicher Weise anders erlebt als ein Ort des Hinterlandes. Im weit hinter der Küste gelegenen Binnenland verliert sich schließlich die Atmosphäre einer vom Meer geprägten Küstenlandschaft. Aus einer sinnlich distanzierten Perspektive stützt sich die Kommunikation über Meer und Küste allein auf die Sprache, die sich – fern ihrer Signifikate – an Wissen, Hörensagen und abstrakten Begriffen orientiert. Schließlich – auch dies darf nicht übergangen werden – wird das Meer aus der Perspektive der Küste abermals anders erlebt als aus der des Meeres, das heißt hier besonders aus der Situation der Seefahrer. 3 Die Differenzen multiplizieren sich noch einmal im Blick auf die situativ höchst wechselhaften Erscheinungsweisen des Meeres an der Küste wie auf See. Carl Schmitt zeigt in seiner weltgeschichtlichen Betrachtung, wie sich aufgrund der Seeherrschaft der Engländer im 19. Jahrhundert deren Weltbild verändert hatte. »Die englische Welt dachte in Stützpunkten und Verkehrslinien […] Die Insel selbst aber, die Metropole eines solchen auf der rein maritimen Existenz errichteten Weltreiches wird dadurch entwurzelt und entlandet« (2001, S. 94).
3
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17. · Die Küste als gelebter Raum und die Sprache der Wissenschaft
Spiegelglatte und ruhige See kommt atmosphärisch anders zur Erscheinung als aufgepeitschte oder gar vom Orkan durchwühlte und tobende See. Mit Perspektiven und Erscheinungsweisen verändern sich die räumlich erlebbaren Eigenschaften von Meer und Küste. Ein und derselbe tatsächliche Raum wird zu diesem und jenem Erlebnisraum. Wenn es die Raumwissenschaften zu ihrer Sache machen, Räume, Orte, Beziehungen zwischen ihnen und ihre Bedeutung für den Menschen zu thematisieren, so tun sie das in abstrakten Perspektiven, die eines Rückgriffs auf emotionales Erleben nicht bedürfen. Wo die subjektive Perspektive in den Fokus empirischer Studien gelangt, sind es vornehmlich Handlungen und Handlungsentwürfe, die zum Forschungsgegenstand werden, und nur marginal Affektbeziehungen zu Ort und Raum. Damit wird die befindliche Dimension des im Raumbzw. an einem Ort-seins so lange vom Forschungsinteresse abgespalten, wie sich keine Kausalbeziehungen zu rationalen Akteursentscheidungen rekonstruieren lassen. Diese intellektualistisch-aseptische Haltung widerspricht aber selbst dem lebensweltlichen Erfahrungswissen individueller Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich ja tagtäglich selbst leiblich in Situationen verwickelt erleben. Wie sie zum konkreten Erleben und Befinden ihrer Forschungs-Subjekte Distanz beziehen, so spalten sie sich selbst als rationale Subjekte von einem dunklen und privatistischen Dasein emotionalen Befindens ab. Die Differenz zwischen unwillkürlicher Lebenserfahrung und wissenschaftlicher Erkenntnismethode lässt sich an der Frage nach dem Volumen des Meeres verdeutlichen. Was in ozeanographischer Sicht auf eine mehr oder weniger genaue mathematische Antwort hinausläuft, stellt sich dem Schwimmer kategorial ganz anders dar. Wenn er sich auch im Wasser nicht nur seitlich bewegen, sondern tauchend auch nach unten und dann wieder nach oben schwimmen kann, verschließt sich die mathematische Dreidimensionalität des Wasservolumens bzw. -körpers seinem Erleben, müsste er es doch dann in flächenhaften Begrenzungen, also zum Beispiel durch Kanten und Ecken erfahren. Aus der Perspektive des Eingetaucht-seins in das Volumen wird es dagegen in prädimensionaler Weise erlebt. »Es ist dann als tragende und widerstandleistende Masse gegeben, die als solches Volumen hat, aber nirgends eine Fläche und daher auch keine Kante oder Ecke aufweist.« 4 Nicht jedes Volumen muss also in der Erlebnisper4
Schmitz Bd. III/1, S. 387.
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Die eine und die andere Küste
spektive Dreidimensionalität aufweisen, auch wenn sich dies im Fokus der Wissenschaften von selbst zu verstehen scheint. Schmitz spricht in diesen Fällen, die auch für Schall und Geruch gelten, von einem prädimensionalen Volumen. So wird auch der weiche Boden, in den man beim Gehen einsinkt, nicht als dreidimensionales Volumen erlebt, sondern als prädimensionales Herum. Das Beispiel zeigt, dass die zwischen beiden kategorial verschiedenen Formen der Wahrnehmung (einer lebensweltlichen versus naturund sozialwissenschaftlichen) bestehende Differenz nur unter den besten Bedingungen verständigungsorienierter Kommunikation durch transversales Denken und Sprechen im Sinne eines wechselseitigen Wissenszuwachses überwunden werden kann. Die Formen der Anschauung liegen auch deshalb so weit auseinander, weil sich mit Begriffen anderes erfassen und beschreiben lässt, als im Medium sinnlicher Wahrnehmung spürbar wird. Was Schmitz »leibliche Kommunikation« nennt, ist kein Sprechen in der wörtlichen Rede, sondern ein leiblich spürendes Erfassen von Eindrücken: »Man spürt am eigenen Leibe, was der vielsagende Eindruck zu sagen hat.« 5 Das heißt nicht, dass es keine begriffliche Sprache mit Brückenqualität gäbe, die – sofern sie differenziert genug ist – recht treffend Auskunft über solches situative Eindruckserleben geben könnte. Auch umgekehrt kann die abstrakte begriffliche Sprache Sensibilitäten wecken, auf deren entfaltetem Horizont die sinnliche Wahrnehmung aufmerksamer auf Situationen oder auch nur auf Sachverhalte gerichtet werden kann. Der erkenntnistheoretisch tiefe Graben zwischen einem abstraktionistischen (szientistischen) und einem sinnlich-leiblichen (lebensweltlichen) Weltzugang ist zivilisationshistorisch begründet. 6 Trotz aller Wege zur Aussage von leiblichem Befinden bleibt ein unsagbarer Rest, weil »der eigentliche Gegenstand des Selbstbewußtseins (das Subjekt-Objekt des strengen, reinen Selbstbewußtseins) keiner Kennzeichnung ganz zugänglich oder, wie ich dafür kurz sage, unsagbar« ist. 7 Zu diesen Barrieren und partiellen Inkommensurabilitäten kommen gesellschaftliche Normen und nicht zuletzt Tabus hinzu, die regeln, worüber mit welchem kommunikativen Geltungsansprüchen in welchen Situationen und diskursiven Gemeinschaften gesprochen werden darf. Dazu 5 6 7
Schmitz LRG, S. 39 f. Vgl. Schmitz Einf, S. 19–27. Schmitz Bd. I, S. 11.
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gehört die stumme Regelung des Umgangs mit dem von der Rede innerhalb bestimmter Rationalitätsbezirke Ausgeschlossenen.
17.2 Küste und Meer – in der Sprache der Naturwissenschaften Konrad Buchwald schreibt im Vorwort zu seinem Buch über den ökologischen Zustand der Nordsee: »Die Krisensituation der Nordsee läßt sich nicht mehr wegdiskutieren.« 8 Darauf folgend legt er eine sachlich differenzierte und umfassende Analyse des ökologischen Zustandes der Nordsee vor. Das tut er als Naturwissenschaftler, und das heißt in der Abstraktion von persönlichen Beziehungen zum Gegenstand seiner Forschung. Die thematische Orientierung hat theoretischen Charakter, und sie folgt Paradigmen, Begriffen und Konzepten, die im Urteil der scientific community als relevant gelten. Buchwald spricht als Wissenschaftler und nicht als Ästhet. Er spricht nicht von einer Küste als Landschaft, sondern von einer Küste als Öko-System, das er in seinen Funktionskreisläufen und umweltbezogenen Austauschbeziehungen analytisch beschreibt. Wenn dabei dennoch von einer Krisen-Situation die Rede ist, so ist diese mit dem Verständnis einer Konstellation assoziiert, in der systemische Mikrologien, nicht aber ganzheitlich verklammerte Zusammenhänge von theoretischer Bedeutung sind. Mit anderen Worten: Die von Buchwald angesprochene Krisensituation impliziert ein Denken in ökologischen Systemen. Das diesem naturwissenschaftlichen Krisen-Begriff vorausgehende krisenhafte MenschNatur-Verhältnis bleibt in einem verschwommenen Hintergrund unausgesprochen. Es versteht sich im Prinzip für einen Naturwissenschaftler von selbst, dass es in der Analyse der Naturdinge (natura naturata) und -prozesse (natura naturans) um eine abstrakte Rekonstruktion von Konstellationen geht, die nicht an einer vom Menschen am eigenen Leib erlebten Natur spürbar werden, sondern an einer versachlichten, im Experiment erschließbaren Natur zu analysieren sind. In diesem Denken gibt es zwar systemisch konzeptionalisierte Körper, aber keine affektiv auf Eindrücke reagierende Leiber. Und selbst im sozialwissenschaftlichen Denken wird der Mensch neben seiner geistig-kognitiven Präsenz als handelnder Akteur in seiner physischen Körperlichkeit gedacht, nicht dagegen in seiner leiblichen und mitwelt8
Buchwald 1990.
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Küste und Meer – Atmosphären ästhetischen Erlebens
lichen Vitalität. Er ist materieller und symbolischer Konstrukteur von Kultur-Naturen. Seine gefühlsspezifische Beziehung zur (eigenen) Natur wird als privatistische Marginalie und projektionistische Konstruktion abgewertet und damit in den Bereich geistig-kultureller Verfügung über Natur eingeordnet. 9 So spalten Natur- und Sozialwissenschaften den Menschen (a) in ein physisch-materiell-körperliches und (b) in ein metaphysisch-immateriell-geistiges Wesen auf. Beide Stränge bieten sich für die forschende Introspektion in einen a-pathischen Fleisch- und Geist-Körper an. Das heißt nicht, dass dieser Körper im naturwissenschaftlichen wie im sozialwissenschaftlichen Sinne keine Empfindungen haben kann. Diese werden nur entweder (hirn- und sinnesphysiologisch) als Ströme gemessen oder (semiotisch) als symbolisches Handeln gedeutet. Als affektive Befindlichkeiten bleiben sie im Außen des Diskurses. An zwei Beispielen poetischer Texte über Küstengegenden werde ich exemplarisch die Perspektive des erlebenden Subjekts vertiefen. So soll die schon einleitend skizzierte Struktur wissenschaftlich-diskursiver Rede über Küsten und Meere mit poetischen Sprachen kontrastiert werden. Die Polarisierung folgt dabei der Intention, im ästhetischen Blick auf die Natur von Küste und Meer den naturwissenschaftlichen Blick auf dieselben Räume zu verfremden und umgekehrt. Damit rückt auch die Frage in den Fokus, inwieweit natur- und geisteswissenschaftliche Diskurse in ihrem denkenden Umgang mit Natur von der Seite der Ästhetik erkenntniserweiternde Impulse erhalten könnten.
17.3 Küste und Meer – Atmosphären ästhetischen Erlebens Die folgenden beiden Beispiele stehen für diskursive Annäherung an naturekstatische Situationen der Küste und der offenen See. Sie zeigen, wie Aussagen über affektives Raumerleben mit den Mitteln der wörtlichen Rede zum Ausdruck gebracht werden können. Dabei ist die beeindruckende Genauigkeit bemerkenswert, wenn sie auch anderer Art ist als jene der naturwissenschaftlichen Methoden. Als genau erweisen Zur Bedeutung symbolisch geregelter Naturverhältnisse vgl. auch Elias 1986, zur Bedeutung der symbolischen und damit konstruktivistischen Wahrnehmung von Landschaft Simmel 1957.3.
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sich nun nicht exakte und denotative (in ihrer Bedeutung hermetische) Termini, sondern konnotative und rauschende Umschreibungen, die die subjektive Involviertheit in ein Situationsgeschehen zum Ausdruck bringen. Das erste Beispiel ist der Erzählung Der Malstrom von Edgar Allan Poe gewidmet und das zweite wird sich etwas ausführlicher mit der Historiographie Das Meer von Jules Michelet befassen. Beide Autoren sind Repräsentanten der Romantik und daher der subjektiven Perspektive des Raum- und Mitwelterlebens sensibel zugewandt. So stehen die poetischen bzw. ästhetischen Aussagen über das Erleben von Küste und Meer den denotativen Beschreibungen der Naturwissenschaften kontrastierend gegenüber.
17.3.1 Der Malstrom (Edgar Allan Poe) Poes Malstrom enthält höchst differenzierte Beschreibungen einer Situation der vor der norwegischen Küste tobenden See. »In fünf Minuten war die ganze See bis nach Vurrgh hin zu zügelloser Wut aufgepeitscht, aber zwischen Moskoe und der Küste hatte der Aufruhr seine stärkste Gewalt. Hier hob sich die weite Wasserfläche, von tausend einander widerstreitenden Strömungen zerfurcht und zernarbt, plötzlich wie in rasenden Zuckungen, springend, brodelnd, zischend, in zahllosen gigantischen Strudeln kreisend, und wirbelte, stürzte mit einer Schnelligkeit nach Osten, wie man sie sonst nur bei jäh heranfallendem Wasser antrifft.« 10
Die sprachliche Präzision der Beschreibung gibt eine ekstatische Situation des Meeres wieder. In ihrer Suggestivität und synästhetischen Ausdrucksstärke appelliert sie an ein mitschwingendes Empfindungsund Vorstellungsvermögen. Bezugsraum und -gegenstand ist die in wilder Bewegung tobende See. Poe spricht im zitierten Beispiel weniger von seinem eigenen stimmungsmäßigen Befinden als vom empfundenen Erscheinen der ekstatischen See. Genaugenommen ist es aber weder die See noch Poe, worum es in diesen Zeilen geht. Treffender wäre es, das Beschriebene als »Situation« 11 zu verstehen, in der die Poe 1959, S. 183. Zum Begriff der »Situation« vgl. auch Schmitz NGrdl, S. 67 ff. Der Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty verwendet den Begriff des Situationsraumes als einen individuellen Raumbegriff, der nach einer Öffnung der theoretischen Aufmerksamkeit über
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Turbulenz der See in der (imaginierten) Erlebnisgegenwart des Edgar Allan Poe ausbricht. Situationen können immer nach zwei Richtungen beschrieben werden: im Hinblick auf Dinge und ihr Erscheinen wie im Hinblick auf den von diesem Erscheinen ausgehenden Eindruck, der ein erlebendes Individuum affiziert. In einer Situation bilden Objekt- und Subjektseite zwei Hälften einer Medaille. 12 Poe gelingt hier die ästhetische Präzision einer Aussage über ein Geschehen auf der Objektseite, hier die aufgewühlte See. Insofern liefert er wertvolle Elemente einer Physiognomik des Meeres. Beachtung verdient dabei die Genauigkeit der Beschreibungen. Dieses Attribut kommt Poes ganzer Erzählung zu, deren immersive Eindrucksschilderungen zum einen auf Momente bzw. impressive Situationen sich ereignender Geschehnisse bezogen sind, zum anderen aber auch auf das Ganze dieser Geschehnisse. Die pathische und mitnehmende Art von Poes sprachlichen Ästhetisierungen übt eine gewisse Macht auf die Imagination des Lesers aus. Die atmosphärischen Situations-Protokolle appellieren in ihrer Genauigkeit und aufgrund ihrer synästhetischen Suggestivität an das mimetische Miterleben einer sich zuspitzenden Katastrophe. 13 Poe ist in seinen Empfindungen in gewisser Weise zerrissen. Die Detailgetreue, in der er sich der Objektseite einer Naturekstase widmet, investiert er nicht in gleicher Weise auch in die Beschreibung der Subjektseite seiner (imaginierten) Situationsverwicklung. Man findet
die rationalistische Verstandesebene hinausgreift und das erlebende Subjekt als Moment dieses Raumes ansieht (vgl. 1966, S. 125). 12 Martin Seel weist auf die Bipolarität der Reflexion ästhetischer Eindrücke hin. Gerade in der Situation des Erscheinens bilden Selbst- und Gegenstand(sbereich) eine Einheit. Die Reflexion holt beide Seiten dieser Situation im Selbst- und Gegenstandsbezug ein (vgl. 1996). 13 Edgar Allan Poe drückt sich nicht zuletzt deshalb so treffend aus, weil er die Brücke synästhetischer Charaktere benutzt. Dabei kommt es auf die Übertragung situationsgebundener Bedeutungshöfe in das Wahrgenommene an. Im Wahrgenommenen wirken (synästhetische) Charaktere als Eindrücke, die mit Regungen übereinstimmen, welche am eigenen Leib gespürt werden (vgl. Schmitz Bd. III/5, S. 57). So vermag der Sturm im Dahinpeitschen über das flache Land zugleich dem Gefühl der Einschnürung korrespondieren, der laue Luftzug dagegen einem Gefühl des Verströmens in die Weite der Landschaft. Der gängigere Begriff der Synästhesie reduziert dagegen einen sinnlichen Reiz allein auf einen semantischen Übersprung, dem eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Reiz zugesprochen wird (im Sinne von rot = warm); vgl. auch Kapitel 3.
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hierzu kaum mehr als spärliche Hinweise, dass ihm übel und schwindlig wurde. Für diese Enthaltsamkeit liefert er folgende Erklärung: »Einen Orkan wie den, der damals losbrach, schildern zu wollen wäre Torheit. Die ältesten Seeleute von Norwegen haben niemals dergleichen erlebt. Wir hatten unser Segel eingezogen, bevor er uns recht erfaßt hatte, aber bei dem ersten Stoß gingen unsere beiden Masten über Bord, als wären sie abgesägt worden, und der Hauptmast nahm meinen jüngsten Bruder mit, der sich zu seiner Sicherheit an ihm festgebunden hatte.« 14
Poe suspendiert damit jede Erwartung, seine Sprache könne im Bereich seines persönlichen Betroffen-seins auch nur annähernd jene Genauigkeit erreichen, wie er sie in der Darstellung des Schiffbruchs bieten kann. Anstelle dessen erklärt er, warum er so nicht schreiben kann. Der Grund dieser Absage weist Ähnlichkeit mit wissenschaftlichen Praktiken der Sprach-Reinigung auf, wenn beide Methoden des Überspringens auch ganz unterschiedlichen Zielen folgen. Hier wie dort kommt es im Denken und Schreiben zu einer Subjekt-Objekt-Spaltung. Im diskursiven Bereich der Wissenschaft darf sich nur das intellektualistisch denkende Subjekt artikulieren, und dies auch nur zur Sache. Das mitfühlende, gefühlsmäßig betroffene Subjekt schwingt sich gleichsam auf die Objektebene hinüber und bringt sich damit selbst im eigentlichen Sinne zum Verschwinden. Das in der Diskurskultur der scientific community kategorisch als unaussprechlich Geltende wird isoliert und separiert. Poes Verzicht hat etwas andere Gründe. Im Aussparen selbstbezogener (Affekt-) Beschreibungen schützt er sich selbst gegen gefühlsbezogene Introspektion. Dieser Ausschluss gilt aber nicht für die Subjektseite seines Erzählens generell. Der Teilhabe an seinem intellektualistischen Mitsein im Geschehen widmet er gar die verstiegensten Bemerkungen. Diese wechseln entweder von der Subjektseite auf die Objektseite oder sie beziehen sich aus einer Metaperspektive theoretisierender Reflexion nur noch vermittelt auf sein Erleben. Auf das Desaster des Schiffbruchs wirft er bevorzugt einen kognitiv-denkenden Blick. Noch in der nervenzerfetzenden Dauer des anhaltenden Kampfes ums Überleben erklärt er sich die naturwissenschaftliche Seite der Ereignisse. Selbst im Inneren des Strudels denkt er noch und erklärt sich (plötzlich gegen den Schwindel, der ihn im Strudel soeben noch fast zerrissen hätte) die Kraft der Gravitation, dank derer er samt der 14
Poe 1959, S. 190.
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Schmacke (dem Boot) nicht in den unendlich scheinenden Schlund hinabstürzte. Zu diesem Schreiben bezieht er eine rationalistische Distanz, vielleicht auch als Rechtfertigung für den an dieser Stelle völlig unverständlichen Verzicht auf eine Illustration seines leiblichen Befindens: »Ich muß wohl wahnwitzig gewesen sein, denn ich fand sogar Unterhaltung darin, Spekulationen über die verschiedene Schnelligkeit, mit der sie [Dinge im Strudel, J. H.] in den Schaum da unten stürzen würden, anzustellen.« 15 Nach all den schrecklichen Ereignissen, die in weniger als einem Tag sein »Haar von glänzendem Schwarz in Weiß« 16 verwandelten, seine Glieder schwächten und seine Nerven zugrunde richteten 17, fand er abermals so viel Distanz zu all diesem Grauen, dass er, kaum dem Untergang entronnen, von intellektuellen Qualen geplagt war, so dass er einen alten Lehrer aufsuchte, um sich die Eigenschaften geometrischer Körper als schwimmende Trümmer im Strudel erklären zu lassen. Die Erzählung eines katastrophalen Geschehens dehnt die Spanne zwischen emotionaler Verwicklung und rationalistischer Abstandnahme, ohne einen ästhetischen Riss aufklaffen zu lassen. Das im Prinzip Inkommensurable einer gleichsam doppelten Verwicklung in eine existenzielle Situation wird durch eine formal einheitliche Sprache zusammengehalten. Dennoch bildet sich ein Vakuum zwischen seiner Rede über die Objektseite und der letztlich ausbleibenden Beschreibung seines gefühlsmäßigen Befindens. Dieses Verhältnis spannt sich sogar dadurch noch, dass er zwischen beiden Polen seines Schreibens hin und her springt. So lässt er seine inszenierte Selbstbeherrschung im Moment des größten Chaos in einer Ästhetik des Erhabenen gipfeln: »Ich begann zu erwägen, welche Erhabenheit darin läge, eines solchen Todes zu sterben, und wie töricht es von mir sei, angesichts einer so wunderbaren Offenbarung von Gottes Macht an ein so armseliges Ding wie mein eigenes persönliches Leben zu denken.« 18
Gernot und Hartmut Böhme nehmen diese Äußerung zum Anlass der Vermutung, Poe müsse die Kant’sche »Kritik der Urteilskraft« gekannt haben. 19 Poe steht als Erzähler mit einem Bein im rationalistischen 15 16 17 18 19
Ebd., S. 197. Ebd., S. 180. Vgl. ebd. Poe 1959, S. 194. Vgl. Böhme / Böhme 1996, S. 281 f.
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Denken. Als solcher lässt er sich vom Geschehen mitreißen und ist äußerst genau in seinen Beschreibungen, was an und mit den Dingen und »Halbdingen« 20 geschieht. Diese Sprache unterscheidet sich trotz ihrer Genauigkeit von der der Wissenschaften, welche nicht konnotativ, sondern in einem denotativen Sinne präzise ist. Sie nimmt nicht am pathischen Mitsein in existenziellen Begegnungen Maß, sondern am Objektivierungsanspruch wissenschaftlicher Termini. Eine quasi-wissenschaftliche Denkhaltung bzw. rationalistisch-intellektualistische Perspektive nimmt Poe immer dann ein, wenn er sich in seiner Sprache der Grenze seines leiblichen Befindens nähert. Bevor er über seine Betroffenheit sprechen müsste, reißt er das Ruder auf die theoretisierende Seite hinüber und reflektiert in einem abstraktionistischen Duktus. Darin ist er den Wissenschaften näher als in seiner so detaillierten objektbezogenen Erzählform.
17.3.2 Das Meer (Jules Michelet) Michelet ist wie Poe ein Repräsentant der Romantik. Und doch setzt er in seiner Art zu denken und zu schreiben ganz andere Akzente. Ein kategorialer Unterschied liegt schon in der Perspektive, die er in seinen Texten jeweils eingenommen hat. Wo Edgar Allan Poe in seinem ästhetischen Ausdruck für sein gefühlsmäßiges Empfinden und Befinden keine Ausdrucksform sucht, ist Jules Michelet hoch differenziert. In seiner ästhetischen Aufmerksamkeit widmet er sich der Küste als Situation, um sie von zwei Seiten her zu beschreiben: von der Seite der individuellen Teilhabe am Geschehen, das sich auf der Ebene des Erlebens immer auch atmosphärisch darstellt, und von der Seite des Erscheinens und der Bewegungen, in denen sich das Geschehen auf der Objektseite ins Bild setzt. Die kategoriale Differenz zu Poe besteht darin, dass Michelet neben seiner ästhetischen Einstellung auch eine pragmatische einnimmt Hermann Schmitz verwendet den Begriff der Halbdinge, um die erkenntnistheoretische Lücke zwischen Substanz und Akzidenz zu schließen. Halbdinge unterscheiden sich nach Schmitz »von Dingen auf zwei Weisen: dadurch, dass sie verschwinden und wiederkommen, ohne dass es Sinn hat, zu fragen, wo sie in der Zwischenzeit gewesen sind, und dadurch, dass sie spürbar wirken und betroffen machen, ohne als Ursache hinter dem Einfluß zu stehen, den sie ausüben, viel mehr als die Wirkung selbst« (Schmitz NGrdl, S. 80).
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und damit eine Brücke zur gegenstandsbezogenen Theorie schlägt. So pendelt Michelet zwischen beiden Wahrnehmungseinstellungen und damit auch zwischen zwei Rationalitäten. Seine streng historiographischen Analysen über die im 18. Jahrhundert aufkommende und dann schon bald zunehmende touristische Bedeutung bestimmter Küsten 21 für die Gründung von Seebädern fasst er in einer wissenschaftlichen Sprache ab. 22 In dieser Art des Schreibens bezieht er Distanz zu sich selbst als emotional erlebendem Subjekt. Er nimmt dasselbe erscheinende Meer an den Küsten der Bretagne aber auch zum Anlass, um seinem momentanen Befinden in minutiöser Genauigkeit des sprachlichen Ausdrucks nachzugehen. Michelet zeichnet in besonderer Weise die Fähigkeit aus, zwischen pragmatischer und ästhetischer Aussage wechseln zu können, ohne auf der je einen oder anderen Seite ein qualitatives Defizit zu hinterlassen. Besonders für den ästhetischen Teil seines Schreibens gilt, dass er – wie Roland Barthes anmerkte – seinen Körper direkt an die Sprache anschließen konnte, ohne dass seine Worte rationalistisch synchronisiert werden mussten. 23 Oft trennt er die Sprachbereiche auch gar nicht, sondern macht ästhetische Einsichten für die Differenzierung gegenstandsbezogener Aussagen nutzbar: »Das Wasser des Meeres beruhigt keineswegs durch Transparenz […] Das Meerwasser ist dicht und schwer; es schlägt fest zu. Wer sich hineinwagt, fühlt die Kraft, die ihn nach oben trägt. Wohl hilft es dem Schwimmer, doch es beherrscht ihn; er fühlt sich wie ein schwaches Kind in der Wiege der starken Hand, welche ihn ebensogut zerbrechen kann.« 24
Der kulturelle Boden für derart gefühlsbezogene Aussagen von Eindrücken der Natur war erst im 18. Jahrhundert bereitet. Die neue Offenheit gegenüber den Gefühlen ist Produkt romantischer Malerei und Schriftstellerei. Unter den Küsten sind es besonders die des Wattenmeeres, die wegen der mit ihrer Symbolik des Vergänglichen herausgehobene Aufmerksamkeit finden (vgl. Corbin 1994, S. 215 ff. sowie speziell zum Wattenmeer Fischer 2001). Der romantisierte ästhetische Blick ist in seiner Besonderheit stets Rationalität kompensierender Spiegel wissenschaftlicher Erkenntnisfortschritte. So hat z. B. die Geologie im 18. und 19. Jahrhundert erheblich zu einer Stärkung der Vergänglichkeitssymbolik beigetragen (vgl. ebd., S. 159). 22 Der Franzose Michelet war Historiker, der ein mehr als 20-bändiges systematisches Gesamtwerk zur französischen Geschichte verfasste. So war sein 1861 erschienenes Buch »Das Meer« zunächst eine umfangreiche Historiographie des Meeres; dass daraus zugleich ein emphatisches Bekenntnis zur Landschaft der Küsten wurde, sollte die Kultur wissenschaftlichen Denkens und Schreibens irritieren. 23 Vgl. Barthes 1980, S. 16. 24 Michelet 1987, S. 17. 21
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Bezeichnend ist – wie schon bei Poe – die Verwendung von Symbolismen, die auf synästhetische Charaktere verweisen (vgl. auch Kapitel 3). Diese spielen auch in der folgenden Textstelle über die Sprache der See eine zentrale Rolle: »Und wieviel andere Stimmen hat sie nicht noch! Sobald sie erregt ist, kontrastieren ihre Klagen und tiefen Seufzer mit der Stille des düsteren Ufers. Es scheint sich zu sammeln, um die Drohung derjenigen anzuhören, die es gestern noch in liebkosendem Plätschern umschmeichelte. Wird die See nicht bald noch ganz anders zu ihm sprechen? Ich möchte es nicht heraufbeschwören. Ich will hier nichts von den entsetzlichen Konzerten sagen, die sie vielleicht noch aufführen wird, von ihren Duetten mit den Felsen, den Baßstimmen und dem dumpf grollenden Donner, den sie in die Höhlen hineinträgt, noch von den verblüffenden Hilfeschreien, die man zu hören glaubt. Nein, nehmen wir sie in ihren ernsten Tagen, wo sie stark ist ohne gewalttätig zu sein.« 25
Was Gernot Böhme und Hartmut Böhme schon in Poes Beschreibungen als wertvollen Beitrag zu einer Physiognomik des Meeres hervorhoben, findet sich bei Michelet in vielerlei Hinsicht in noch mannigfaltigerer Weise. Er schreibt in und aus einem medialen Zwischenraum, in dem er sich in sensibler Achtsamkeit für das Erscheinen der Küste öffnet. Er schreibt über Situationen, in denen natura naturata und natura naturans zu einer Gestalt verlaufen und die Dominanz der Stoffe zurücktritt. Vielleicht trifft der Begriff der Atmosphäre am ehesten jenen »gelebten Raum« 26, in dem sich Michelet denkend und schreibend bewegt. Solange er sich für die ästhetische Wahrnehmung offenhalten kann, fällt die Grenze zwischen den verorteten Dingen und dem StandOrt des eigenen Körpers. Ort des Erlebens ist der absolute Ort des empfindenden Leibes. Michelets Buch über das Meer ist Sachbuch und philosophisches Traktat in einem. 27 Seine Sprache brachte Michelet heftige Kritik ein, die Vertreter seiner wissenschaftlichen Gemeinschaft zum Anlass nahmen, sein Gesamtwerk zu diskreditieren; durch literarisches Lob komplementierte man ihn pauschal aus seiner wissenschaftlichen Disziplin hinaus. 28 Aktuell ist das von Michelet demonstrierte Vermögen zur Trans25 26 27 28
Ebd., S. 20. Vgl. Dürckheim 2005. Vgl. Wintermeyer 1987, S. 318. Vgl. ebd., S. 323.
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versalität, das im philosophischen Diskurs der Postmoderne so oft reklamiert wurde. Michelet gelingt es, transversale Brücken zwischen den Sprachspielen zu schlagen, zwischen den Rationalitäten seines Denkens und Sprechens, sowie zwischen den Formen des Ausdrucks. 29 Was im philosophischen Postmodernismus-Diskurs auf ein Redigieren der Moderne im Allgemeinen hinauslaufen sollte und konkret die Brechung hegemonialer Geltungsansprüche einer (zentralistischen) Sprache bedeutete, praktizierte Michelet auf idealtypische Weise. In der Art seines Ausdrucks sprach er von der unaufhebbaren und mannigfaltigen Verwobenheit von (pragmatischem) Denken und (korresponsivem, imaginativem und kontemplativem) Fühlen. In das Medium, über das Michelet dachte und schrieb, war er nicht nur als kognitiv, intellektuell und notwendig abstrakt Denkender involviert. Er war es auch als emotionaler »Bewußthaber« 30 seiner selbst. Er bezieht seine aktuelle Lebens-Situation bewusst auf den Gegenstand seines schreibenden Tuns. Den Faden dieses gefühlsmäßig-ganzheitlichen Lebensbezuges lässt Michelet nie abreißen. 31 Die rationalitätsübergreifende und darin transversale Schreibweise von Michelet kommt in ihrem ganz eigenen Wirklichkeitsbezug beispielhaft in der folgenden Textstelle über die Leuchttürme zum Ausdruck, deren Tätigkeit er auch als den »Puls der Ozeane« beschrieb: »Wie die geheimnisvollen Tiere, die das Meer erleuchten, besitzen auch die letzten (die Rede ist vom Licht der Leuchttürme, J. H.) jenes lebendige Pulsen einer Flamme, die aufflackert und erbleicht, hochzüngelt und erlischt. In den düsteren Sturmnächten werden sie von Erregung erfaßt, sie scheinen teilzuhaben an den Zuckungen des Ozeans und gelassen antworten sie mit ihrem Feuer auf das Feuer der Blitze am Himmel.« 32
Zum Verhältnis von Transversalität und Vernunft vgl. Welsch 1987 und 2000. Hermann Schmitz verwendet anstelle des Bewusstseins-Begriffs den des Bewussthabens. Damit bringt er die je aktuelle und situative Gleichzeitigkeit von Empfinden und Denken zur Geltung – »als Beziehung eines Subjekts auf ein Objekt«, und zwar als »Befinden von etwas als ein Geschehen oder Befinden […], das uns selbst in Anspruch nimmt und das wir an uns selber spüren können« (vgl. Schmitz Bd. III/2, S. 30 f.). 31 In diesem transversalen Vermögen seiner Ausdrucksweise liegt eine gewisse Affinität zwischen Romantik und Postmoderne begründet. Die Romantik erscheint von dieser Warte aus nicht als Gegenaufklärung, sondern als »Ergänzung der Aufklärung« (vgl. dazu Paul 1998, S. 5). 32 Michelet 1987, S. 79. 29 30
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Michelet beschreibt hier weder die Funktionsweise oder die Sichtbarkeit der Leuchttürme, noch sagt er etwas über Unwetter an der Küste, 33 er schreibt über sein atmosphärisches Erleben einer Kultur-Natur der Küste. Genaugenommen bezieht er sich auf gar keinen Raum im modernen natur- oder sozialwissenschaftlichen Sinne, zeichnet sich dieser doch durch eine relationalräumliche Ordnung der Dinge aus. Darum geht es Michelet nicht. Wenn er über sein mitweltliches Milieu spricht, interessiert ihn neben der Realität auch die Wirklichkeit der Gegend! Dass dies keinen Verzicht des Sprechens über Realität verlangt, liegt in der Art des Verhältnisses von Realität und Wirklichkeit. Während der Realitätsbegriff auf materielle Sachen verweist, hebt der Begriff der Wirklichkeit auf das Geschehen im Umfeld dieser Sachen und auf ihr Erscheinen ab. 34 Es versteht sich von selbst, dass er ohne Bezüge zur Realität gar nicht über (seine) Wirklichkeit sprechen konnte. Hartmut Böhme hebt als Merkmal dieser Schreibweise den wirkungsästhetischen Stil Michelets hervor: »Immer ist der Beobachter – als vom »Anblick der Meere« betroffener – ins Geschilderte eingeschlossen; eben dadurch entsteht der spezifisch physiognomische Stil.« 35 Michelet zählt das Meer nicht in Windstärken und Isobathen, er er-zählt es im Gebrauch von Synästhesien, Metaphern und Symbolen, die seinen Eindrücken und Empfindungen korrespondieren. Er lässt sich vom wechselhaften Erscheinen des Meeres an der Küste treffen. Er kommuniziert leiblich in einer für seine Schreibweise so typischen Weise mit der Gegend einer Küste und ihren wechselhaften Atmosphären 36, so dass er dem modernen Szientisten, den es auch zu seiner Zeit gab, schutzlos gegenüberstand, war er doch als Person mit persönlichen
Unverkennbar ist seine Faszination von der Erfindung der Leuchttürme. Das erklärt sich daraus, dass zu Zeiten Michelets der technisch moderne Leuchtturm (das erste automatisierte Drehfeuer) eine noch junge technologische Errungenschaft war. Der erste mit Linsen betriebene und Rapsöl befeuerte Apparat wurde 1823 auf Cordonau (GirondeMündung) installiert; der Leuchtturm selbst existiert an diesem Ort bereits seit dem 9. Jahrhundert (Association pour la Sauvegarde du Phare de Cordouan; http://www. asso-cordouan.fr/ml.html (Abruf: 29. 07. 2013). Leuchttürme gibt es schon seit dem Altertum (vgl. Neuburger 1919, S. 247–250). 34 Vgl. Böhme 1999, S. 90. Er spricht vom »Seienden im Zustand der Aktualität«. 35 Hartmut Böhme 1988, S. 35. 36 Eine Atmosphäre ist in diesem Sinn für Hermann Schmitz auf der Objektseite verortet, während sie nach Gernot Böhme zwischen Subjekt und Objekt in einem Zwischenraum ist (vgl. Schmitz Gef sowie Böhme 1998.1). 33
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Gefühlen transparent geworden. 37 Das Dilemma der Preisgabe seiner innersten Regungen gegenüber einer anonymen und nur in Teilen seinem Ausdruck gegenüber aufgeschlossenen Öffentlichkeit musste er in der Diskreditierung nicht nur seiner Schreibweise, sondern auch als Persönlichkeit der Wissenschaft erleben. Kritisiert wurde er als Wissenschaftler, der sich nach seinerzeit herrschender Auffassung einer so emotionalen Sprache nicht bedienen durfte. Er hatte ein Tabu seiner scientific community gebrochen. Romantik und Postmoderne zielen zugunsten einer Befruchtung strukturell verschiedener Diskurse auf die Überwindung solcher Exklusionen. Gegenwärtig finden der Romantik im weitesten Sinne verwandte Ansprüche als Zivilisationskritik in der Ästhetik-Debatte 38 ebenso eine Renaissance wie in der Leibphänomenologie 39, der anthropologischen Ästhetik 40, der historischen Anthropologie 41 und in Teilen der Naturphilosophie 42. Mit den Atmosphären thematisiert Michelet eine Form landschaftlichen Erscheinens. In diesem Fokus provoziert er den aktuellen sozialwissenschaftlichen Zeitgeist, besteht doch seit Georg Simmel kein Zweifel daran, dass das, was Michelet als Landschaft beschreibt, als Kopfgeburt gilt. 43 Was Michelet ausspricht, müsste in der rationalistisch aufgeklärten Perspektive als rein gefühlsgetränkte Konstruktion von kognitivistischem Charakter entlarvt werden 44. Michelets emphatisches Empfinden wäre in diesem Sinne auch nur als Retextualisierung symbolischer (Fühl- und Sprech-) Vorlagen zu interpretieren, die immer schon als gesellschaftliche Beobachtungsklischees und Medien der Reduktion von Komplexität zirkulieren. In dieser Sicht müsste Ganz ähnlicher Kritik sah sich zum Beispiel der Lebensphilosoph Karl Jaspers ausgesetzt. Auch er durchbrach die Grenzen der Sprachzuständigkeiten zwischen Dichtung und Philosophie. Weil er in seiner Sprache Wissenschaft, Gefühl und Sinnlichkeit zusammenbrachte, wurde er als dunkler Mystiker gescholten (vgl. Meier-Seethaler 1997, S. 107). 38 Vgl. unter anderem Seel 1991 und 2000 sowie Welsch 1993. 39 In seiner Grundsätzlichkeit kann hier auf das System der Philosophie von Hermann Schmitz verwiesen werden (Schmitz Syst 1964 ff.); zur Wiederaufnahme lebensphilosophischer Denktraditionen vgl. auch Großheim 1999.1. 40 Vgl. besonders zur Lippe 1987. 41 Gebauer u. a. 1989. 42 Hier ist insbesondere die Naturphilosophie von Gernot Böhme zu nennen (u. a. 1991). 43 Vgl. Simmel 1957.3. 44 In diesem Sinn ganz ähnlich bei Eser 1999. 37
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Michelet ein ganzes Bündel von Eindrücken als etwas (miss-) verstanden haben, das nur scheinbar mit seinem unmittelbaren Erleben verbunden war. Zur Metaphorik Michelets merkt Wintermeyer an, sie habe »nur beiläufig eine ausschmückende Funktion. Ihr eigentlicher Sinn ist es, noch das unscheinbarste Faktum in einen Zusammenhang mit dem Entferntesten hineinzureißen.« 45 Michelet leiste als Historiker eine »Wiedererweckung des vollständigen Lebens« 46. Aus einer gewissen Selbstdistanz sagt er dazu, »ein verständiger Mann hätte solches nie erwogen. Zum Glück war ich dies nicht.« 47 Er hat es verstanden, »der geographischen und klimatischen Umwelt, dem Körper in seinem Austausch mit dem Milieu in seiner Geschichtsschreibung Raum zu geben« 48 Bedingung und Ertrag dieser Herangehensweise war seine Sensibilität, selbst für die flüchtigsten Beziehungen seines Herum aufgeschlossen zu sein. Die Sprache Michelets verstößt in ihrem »Überlaufen der Signifikanten« 49 gegen alle Regeln wissenschaftlichen Denkens. Das in zahllosen Beispielen aufweisbare Übermaß an Präzision ist in einem Bereich der Wirklichkeit angesiedelt, dem die Wissenschaft im Allgemeinen wenig Beachtung schenkt oder den sie infolge einer begrifflich abstraktionistischen Sprachhygiene gänzlich meidet. Da zu diesem Übermaß an Präzision aber auch noch ein Übermaß an Verschwommenheit 50 der gewählten Worte hinzukommt, dürfte die wissenschaftstheoretische Nutzbarmachung des Textes außerhalb ästhetischer Diskurse auf den ersten Blick in engen Grenzen verbleiben, verstößt er doch gegen zu viele Konventionen. Roland Barthes bewertet die Ambivalenz von Übermaß an Präzision und Verschwommenheit als Ausdruck einer ganz eigenen Art, mit einem Diskurs die Welt zu durchqueren.51 Michelet verschlinge seinen Gegenstand (das Meer und die Küste) in der schreibenden Form einer gefühlsmäßig bedingungslosen Einlassung in aktuelles Geschehen geradezu. Barthes spricht so auch von einem regelrechten Abgrasen sei45 46 47 48 49 50 51
Wintermeyer 1987, S. 322. Ebd. Michelet, zitiert bei Wintermeyer 1987, S. 320. Hervé Martin zitiert bei ebd. 1987, S. 320 f. Vgl. Barthes 1980, S. 10 f. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 15.
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nes Gegenstandes. 52 Wie sich zeigte, ist die diskursive Durchquerung seines Terrains keine rein intellektuelle Sache. Hätte ihr Kern allein darin bestanden, wäre Michelet nicht zur personifizierten Idiosynkrasie der Wissenschaft geworden. Theoretische und ästhetische Rationalität sind ihm keine feindlichen Gegner, sondern zugeneigte Partner. Die aus dieser Haltung resultierende rationalitätsübergreifende Sensibilität öffnet seine Wahrnehmung gegenüber dem Anderen und Unerwarteten, das mit (kulturell gewohnten) Worten kaum aussagbar ist und daher umschreibungsbedürftig wird. Voraussetzung seiner poetisierenden Annäherung an situative Wirklichkeit ist seine pathische Erkenntnishaltung gegenüber seinem Gegenstandsbereich. Michelet lässt sich noch in den tiefsten Zwiespalt hineinziehen, der als offene Wunde der Spaltung von Subjekt und Objekt seine sprachliche Kreativität am Kochen hält. Sein Denken ist mit seinem Empfinden über den Weg der leiblichen Kommunikation mit der lebendigen Dynamik des Meeres kurzgeschlossen. Im leiblichen Mitsein ist er weniger am Ort als im Raum einer Küstengegend. Wäre Michelet nur körperlich und geistig anwesend gewesen, hätte er über relative Orte, über das mess- und zählbare Geschehen in objektiven Situationen gesprochen. Er befindet sich aber in keinem intellektualistisch geschützten Distanzverhältnis zu seiner Umgebung. Roland Barthes berichtet, von üblen Geschichten, die er über das Meer zu berichteten hatte, sei Michelet selbst übel geworden und er habe Schwindelanfälle und Atembeklemmungen bekommen. 53 Wer wie Michelet über die Küste schreibt, thematisiert Landschaft im engsten Sinne des Wortes – als einen Existenzbereich, in dem die Grenzen zwischen Objekt und Subjekt verschwimmen. Landschaft stellt sich in dieser Sicht metaphorisch als Leib des geographischen Raumes dar, der sich in der Aufmerksamkeit einer experientia vaga atmosphärisch mit dem Leib des Subjekts verbindet, das den Raum durchquert. In der Landschaft kommen der geographische Raum und die persönliche Situation, das heißt das aktuell befindliche Dasein in einer Gegend als spürbare Differenz zusammen. Landschaften liegen in stillen Gefilden, die unter dem alles identifizierenden »Geläute der harten Wissenschaften« verstummen. 54 52 53 54
Vgl. ebd., S. 46. Vgl. Barthes 1980, S. 45. Serres 1994.
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17.4 Über die mögliche Bedeutung von Gefühlen im wissenschaftlichen Denken Was die Natur- wie die Sozialwissenschaften sichtbar machen, ist Produkt einer rationalistischen Lenkung der Aufmerksamkeit. Was man dann im klaren Blick auf die Sachen sehen kann, sind die Produkte einer abstraktionistischen Wahrnehmung, in der die leibliche Involviertheit ins aktuell Gegebene anästhesiert ist. Es entsteht ein Spannungsverhältnis, an dessen einem Pol der sinnliche Eindruck übersehen und an dessen anderem Pol das terminologisch-abstraktionistische Denken überbelichtet wird. Gesehen wird schließlich, was im Sinne des Wortes oft gar nicht sicht-bar ist. Die Beziehung zwischen den leiblichen Vermögen der Sinne und dem rationalistischen, verstandesbezogenen Vermögen des Geistes ist im Prozess wissenschaftlichen Handelns weitgehend aufgehoben bzw. im Sinne eines kognitivistischen Recycling aufs wissenschaftskulturell Akzeptierte diszipliniert. Damit stellt sich die Beziehungsfrage zwischen beiden Bereichen auf einem strukturellen Niveau. Die Diskussion um den philosophischen Postmodernismus verknüpfte diese Frage in den 1990er Jahren mit der Reklamation einer transversalen Vernunft, deren Aufgabe in der Suche sinntragender Brücken vom Sinnlichen zum Begrifflichen wie vom Begrifflichen zum Sinnlichen bestehen sollte. 55 Die Wissenschaft hat die Verfügungsmöglichkeiten von Menschen über Natur und damit auch über die Menschen dort erweitert, wo spezielle Interessen einen gesellschaftlichen Nutzen definiert haben. So hatte die Erfindung des modernen Leuchtturmes die Schiffahrt sicherer gemacht. Dank verfügbarer Seekarten, weit mehr aber noch durch den Fortschritt der elektronischen Navigationstechnik, kann jeder Kapitän das Risiko einer Route in klippenreichen Küstengewässern kalkulieren, noch lange bevor er sich in sichtbarer Nähe zu gefährlichen Felsen befindet. Fortschritte dieser Art haben die Wahrnehmung für andere, wichtig gewordene neue Beobachtungen freigemacht. Der weite und aufmerksam übers Wasser und in die Ferne streichende Blick erübrigt sich, wenn die kurze und sachliche Erfassung des Echolots mehr und bessere Auskunft gibt. In gewisser Weise verschwindet dank moderner Navigationstechnologien die Natur der Küste aus dem Blick Dies war Thema schon bei herausragenden Philosophen aus verschiedenen Zeiten, z. B. Baumgarten, Nietzsche und Adorno.
55
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Über die mögliche Bedeutung von Gefühlen im wissenschaftlichen Denken
des Seefahrers. Wo der Bildschirm tiefes Wasser anzeigt, muss eine Felsspitze vor dem Bug des Schiffes eine optische Täuschung sein. Deshalb verschwindet für Serres mit der Technisierung und Modernisierung des Blickes auch die Landschaft des Meeres 56 und damit die Einheit von aufmerksamer Spannung des Seefahrers angesichts einer See, die in ihrem situativen Erscheinen immer zugleich natura naturata und natura naturans ist. Serres’ Kritik geht über die Diagnose des Getrennten hinaus und plädiert für die transversale Verknüpfung des scheinbar Inkommensurablen: »Warum sollten wir nicht zugleich rational und intelligent, wissenschaftlich und kultiviert, variabel und weise sein? […] Sorgen wir dafür, dass die monodrome Vernunft die Landschaft toleriert.« 57
Darin steckt ein postmodernes Plädoyer für die Stärkung einer transversalen Vernunft, wie sie programmatisch von Jean François Lyotard und Wolfgang Welsch gefordert wird – als Plädoyer für den kreativen und produktiven Umgang mit kategorialer Differenz. Diese Aufgabe stellt sich als eine der (a) alltagsweltlichen und (b) wissenschaftlichen Erfahrungsbereicherung. Aus der Sicht der Wissenschaften ist zu fragen, welchen Nutzen ein denkendes Mäandrieren versprechen könnte, das seine Impulse nicht im Bereich rationalistischer Begriffssysteme fände, sondern in leiblich-ästhetischen Eindrücken. 58 Serres’ Plädoyer für die Wanderung (randonneé) verbindet den zielgerichteten Weg mit dem Herumstreifen und Improvisieren. Dabei zielt seine Empfehlung auf die wechselseitige Befruchtung der Naturund Humanwissenschaften. Weder die einen noch die anderen können sich auf absolute oder wahre Signifikanten beziehen. Das Meer ist als Serres 1994, S. 338. Ebd., S. 343. 58 Gänzlich disparat scheint die Beziehung zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft in der Frage der Zuerkennung eines Erkenntnisgewinnes durch die Perspektive des Ästhetischen. Auch hierzu können an dieser Stelle nur Umrisse skizziert werden, denn die gegenwärtige Profilierung wissenschaftlicher Grenzziehungen gegenüber ästhetischen Erfahrungen haben lange historische Wurzeln. Erläuterungsbedürftig wären insbesondere die Formen von Naturverachtung, die sich in der Durchsetzung und Tradierung wissenschaftlicher Erkenntnismethoden verfestigt, in gewisser Weise kultiviert und damit eine kollektiv unbewusst gemachte affektive Disposition gegenüber sinnlich erscheinender Natur in das wissenschaftliche Denken eingeschrieben haben. Zu den Folgen der Naturverachtung für die Erforschung der Natur vgl. Schultze 1881. 56 57
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Ökosystem Realität. Das in seinem Rauschen erlebbare Meer ist zur Erscheinung kommende Wirklichkeit. Michelet provoziert, indem er beide Bereiche als verfügbare denkt. Jeder Urlauber am Meer leistet in seinem profanen Tun aber genau diese verfügende Überbrückung, wenn er sich leiblich erlebend und begrifflich denkend an einem Strand bewegt. Serres will die Dinge vom Standpunkt der leiblichen Verstrickung aus dem Fluss der Geschehnisse her denken. 59 Im Alltag sind diese Verstrickungen vor allem da noch rekonstruierbar, wo sich das Erleben und die Diskurse des Nach-Denkens stören. Auch im wissenschaftlichen Handeln können solche Störungen nie ganz abgeschaltet werden, wenngleich die Wege ihrer Nutzbarmachung im Prozess der Erkenntnisgewinnung in der modernen Wissenschaftskultur von der Macht des Rationalismus auch zur Unkenntlichkeit überwuchert sind. Die heute kaum noch fassbare Beziehung zwischen der Virulenz der Sinnlichkeit und dem technisch und begrifflich Abstrakten kann in ihrem Abschleifungsprozess in der (punktuellen) Rekonstruktion der Geschichte der Erfindungen recht gut sichtbar gemacht werden. So hatte der Kompass den Zwang zur sinnlich wachen Orientierung an den Erscheinungen der Natur entsorgt. Die Richtungssuche war dank eines einfachen Apparates stark vereinfacht, beinahe automatisiert worden. Die durch den Menschen gelebte Synthese mit dem Schiff und der See konnte zugunsten eines Zuwachses an Selbst- und Fremdverfügung gelockert werden. Die Erfindung hatte aber nicht nur für das Verhältnis der seefahrenden Menschen zur Küste ihre Folgen. Indem andere Menschen stets auf die Rückkehr der Seefahrer warteten, hatte sie auch große Bedeutung für das Verhältnis der an Land Gebliebenen zum Meer. 60 Mit der Durchsetzung abstrakter Methoden der Naturbeobachtung wird das naturwissenschaftliche Handeln zunehmend an maschinistischen Signifikanten geeicht. Die aus der virtuellen Tiefe der GeEs ist (als Methode des Erfahrens) eine Art und Weise des Hindurch, die man bei dem 1561 in London geborenen Empiristen Francis Bacon noch findet. Er wollte den Weg wissenschaftlicher Erfahrung zum Zweck des Erkenntnisgewinns aber disziplinieren und von Verwirrungen reinigen. Von unsystematischem Herumprobieren hielt er nichts. Er wollte konkrete und verbindliche Regeln aufstellen, nach denen sich Erfahrung vollziehen sollte. Er begründete die Notwendigkeit einer experientia ordinata anstelle einer experientia vaga (vgl. Hist.WBPhil, Bd. 2, S. 611 f). Suspekt ist ihm letztere, weil sie umherschweift, frei ist, vagabundiert und eben vage ist. 60 Vgl. auch Schmitt 2001, S. 25. 59
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genstände zu Tage geförderten Erkenntnisse fügen sich in den vertikalen Wissensaufbau der jeweiligen Disziplinen ein. Die Kluft zwischen Natur- und Geisteswissenschaft reißt desto weiter auf, je spezialisierter und abstraktionistischer das Wissen der Naturwissenschaften wird. Die Erfahrungswege differieren schließlich nicht mehr graduell, sie divergieren vielmehr strukturell. Wie die Scheidung von Psychologie und Philosophie am Ende des 19. Jahrhunderts zu einem immer tiefergreifenden Auseinanderdriften der wissenschaftlichen Sprachen geführt hat 61, so leitete die technisch beschleunigte Wissensproduktion in den Naturwissenschaften eine so radikale methodologische Revolution ein, dass heute in der Erkenntnis nicht mehr zusammengeführt werden kann, was in den Begriffen von Ozeanographie, Phänomenologie und Poesie auf ein und dasselbe Wasser an einer Küste bezogen ist. Das heißt schließlich auch, dass Realität im naturwissenschaftlichen Sinne oft in keiner Beziehung mehr zur sinnlich erlebbaren Wirklichkeit steht. Mit dem steigenden Abstraktionsgrad der Signifikanten entfernt sich die Naturwissenschaft so weit von der (nicht maschinengestützten) sinnlichen Wahrnehmung, dass auf das Zeugnis leiblicher Eindrücke letztlich ganz verzichtet werden kann. Dass das gerade in den Naturwissenschaften nicht immer so war, illustriert das Beispiel der Konstruktion der Windstärkenskala im 18. und 19. Jahrhundert. Für John Smeaton, Francis Beaufort und andere Seefahrer stellte sich die schwierige Aufgabe, sinnliche Eindrücke zwischen einem lauen Windhauch und einem tobenden Orkan in eine objektivierte Skala von Ziffern treffend zu übersetzen. Für die Situation an Land war das eine andere Aufgabe als für die auf See. Die Phänomene waren nicht vergleichbar. So wurden zunächst verschiedene Skalen entwickelt. Diese enthielten immer beschreibende Elemente, die neben Zahlen für die Stärke des Windes auch möglichst Konkretes über die phänomenale Wirkung des Windes oder Sturmes aussagten. Die Smeaton-RouseSkala von 1759 verwandte Bezeichnungen wie »gerade wahrnehmbar« für eine Windgeschwindigkeit von 2 bis 3 Meilen/Stunde, »angenehm frischer Wind« für 10 bis 15 Meilen oder »sehr frisch« für 20 bis 25 Meilen. 62 Das Problem einer solchen Skala bestand darin, dass der Wind nicht auf einen fixen Gegenstand bezogen war und deshalb die 61 62
Vgl. Schmidt 1995. Vgl. Hamblyn 2001, S. 213.
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Zuerkennung einer Windstärke eine Sache individuellen Empfindens war. Der Anspruch der Objektivierung verlangte eine Methode, die vom individuellen Empfinden unabhängig war, also vom leiblichen Erleben von Wind und Sturm abstrahierte. Als taugliches Medium für diese Abstraktion erwies sich in der schließlich akzeptierten Skala von Francis Beaufort ein Kriegsschiff in guter Verfassung, das unter vollen Segeln fuhr und ein gegnerisches Schiff jagte. Deshalb beschrieb Beaufort den Zustand des Schiffes auch sehr genau; an ihm war die Methode gewissermaßen geeicht. In dieser Skala – korrespondierend mit Windstärken von 1 bis 12 – tauchen nun keine Kategorien mehr auf, die vom Wind- oder Sturmempfinden abhängig sind. Es werden nur noch solche Merkmale verwendet, die sich auf das Verhalten der Segel des Kriegsschiffes bei bestimmten Geschwindigkeiten des Schiffes beziehen: Windstärke 2 (leichte Brise) entsprach danach einem »Wind, bei dem ein Kriegsschiff in gutem Zustand unter vollen Segeln bei ruhigem Wasser eine Geschwindigkeit von 1 bis 2 Knoten macht«. 63 Denkwürdig ist die Frage nach der Rückseite eines strukturbedingten Vergessens sinnlichen und leiblichen Erlebens. Wo man die Biodiversität von Wattböden mit Hilfe computierender Methoden präzise analysieren kann, wäre es eine Dummheit, zum puren Augenschein zurückzukehren. Zum Problem wird der methodologische High-Tech-Standard aber dann, wenn er zur hegemonialen Regel allen wissenschaftlichen Handelns wird. Solche Breitenwirkungen sind dann gegeben, wenn das seit Bacon gesäte Misstrauen gegenüber der experientia vaga zum modernen Ausschluss des Sinnlichen aus dem Wissenschaftsprozess insgesamt führt. Seine größte Tragweite entfaltet dieser Ausschluss dort, wo mit der wissenschaftssoziologischen Marginalisierung und methodologischen Diskreditierung der schwachen oder niederen Sinne (tasten, riechen, schmecken) sowie der ganzheitlich empfundenen Eindrücke 64 ein Vakuum entsteht, das selbst lebensweltlich nicht mehr mühelos aufgefüllt werden kann. Betroffen ist hiervon aber auch das wissenschaftliche Handeln (gleich welcher Disziplin), ist doch die Virulenz der leibEbd., S. 218. Hermann Schmitz spricht hier von »chaotischer Mannigfaltigkeit« (vgl. NGrdl, S. 77). Tony Hiss (vgl. 1990) beschreibt die erlebnisbezogene Dimension von Eindrücken, in denen einzelne (Reiz-) Elemente in einem Ganzen aufgehen, als »simultane Perzeption«.
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Über die mögliche Bedeutung von Gefühlen im wissenschaftlichen Denken
lichen und gefühlsbezogenen Dimension in jeder gegenstands- wie selbstbezogenen Wahrnehmung untilgbar. 65 Indem der Naturwissenschaftler lernt, sich in seinem wissenschaftlichen Handeln ausschließlich auf die Gegenstandsebene zu beziehen, will seine Aufmerksamkeit durch Verdrängung aller nicht theorieorientierten Wahrnehmungen gereinigt werden. Es würde innerhalb der scientific community gegen geltende Konventionen verstoßen, auf diese Abstraktion zu verzichten. Das Absehen-Können66 wird im Wege subkultureller Sozialisation erlernt und als affektlogische Struktur in den Wissenschaftler-Habitus einverleibt. Dabei geht es um mehr als nur eine Steigerung der Effizienz des Denkens durch kognitivistische Rationalisierung. Die scheinbar allein sach-logische Einstellung wissenschaftlicher Aufmerksamkeit drückt zugleich eine kollektive Verdrängung 67 von Triebenergie und Affekten aus und stärkt ein irrationales Moment (vgl. Kapitel 6). Das Irrationale – über Schreibtabus mit dem Wissenschaftsprozess gefühlsbezogen verknüpft – kehrt wissenschaftssoziologisch in Diskreditierungsdiskursen wieder. Deren kommunikativer Ort ist aber nicht das soziale Milieu der Gefühle, sondern das Terrain der Theorie. Erst wenn die subjektive Abwehr erfolgreich war, kann über die konsensorientierte Akklamation der Gruppe bestätigende Zustimmung erwartet werden, die »dann als Beweis für die Objektivität seiner [des Wissenschaftlers, J. H.] Erkenntnisse« dient. 68 Ganz in diesem Sinne argumentiert auch Carola Meyer-Seethaler. Für sie ist die Verdrängung der Gefühle aus dem wissenschaftlich veröffentlichten oder öffentlichen Handeln Voraussetzung dafür, dass der Widerspruch erträglich werden kann, der daraus resultiert, Wissenschaft ohne selbst- und gegenstandsbezogene Gefühle betreiben zu müssen. 69 Die psychische Ausgangsbedingung des Natur- wie Sozialwissenschaftlers spiegelt sich in einer Subjekt-Objekt-Spaltung wider, wonach das wissenschaftMit Bezug auf Martin Heidegger weist Gernot Böhme darauf hin, »dass der emotionale Bezug dem erkenntnismäßigen voraus liegt und diesen überhaupt ermöglicht« (2001.1, S. 80). 66 Die Gefühle werden im Sinne einer Reinigungspraxis als sich in der eigenen Begriffsund Kognitionshygiene selbst stützende Leistung im Wissenschaftsprozess herausgefiltert (vgl. Zierhofer 1999). 67 Mario Erdheim analysiert in historisch-ethnologischer Sicht die Prozesse der gesellschaftlichen Herstellung von Unbewusstheit als zivilisatorische Strategie der Behandlung von Triebanteilen, die von einer Gesellschaft abgelehnt werden (vgl. 1984). 68 Erdheim 1988, S. 104. 69 Vgl. Meier-Seethaler 1997, S. 304. 65
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17. · Die Küste als gelebter Raum und die Sprache der Wissenschaft
liche Objekt vom erlebenden Subjekt auf Distanz gebracht werden muss (ganz entgegen der Methode von Michelet). Erst aus dieser emotionalen Distanz kann der Gegenstand vereinnahmt werden. 70 Sachlich wäre der wissenschaftliche Diskurs angesichts dieser emotionalen Substruktur der Wissenschaft aber erst dann, wenn er sachgerecht die ausgeklammerten Empfindungen als Variable wissenschaftlichen Tuns auch mitthematisieren würde. 71
70 71
Vgl. Evelyn Fox Keller bei Meier-Seethaler 1997, S. 62 f. Vgl. ebd., S. 317.
334 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
18. Landschaft Zur Konstruktion und Konstitution von Erlebnisräumen
Landschaft ist ein schwieriger Gegenstand. Es gibt sie in unserem Erleben, nicht aber als etwas Reales, das sich aus der Addition von Dingen zusammensetzen ließe. Auf das landschaftliche Erleben wirkt zunächst das ein, was wir gewohnt sind als Natur zu bezeichnen. Natur erkennen wir zum einen an körperlichen Dingen: Baum, Strauch, Fels, Geröll. Aber auch die nicht von Körpern ausgehenden Bewirkungskräfte, insbesondere die mitunter ekstatischen Bewegungen der vier Elemente, machen Natur aus: der Sturm, der den Baum zur Seite neigt und in seinem scharfen Wehen ein Gefühl der Beengung vermittelt, die Wärme, die das Gras wachsen lässt und in einem eigenleiblichen Gefühl der Weite spürbar wird, die Stille, die den Herumraum in eine spürbare, aber nicht messbare Weite strömen lässt und als Gefühl der Nichthaftigkeit Furcht einzuflößen vermag – oder die feucht-neblige Luft, die das Spinnennetz mit einem Schleier aus Tau überzieht und als Empfinden feuchter Klammheit zudringlich wird. Zur Wirklichkeit der Dynamik der natura naturans gehört in der Erlebnisperspektive des Menschen also immer das Selbsterleben eigenen leiblichen Bewegt-werdens dazu. Zur Landschaft gehören schließlich die kulturellen Spuren gesellschaftlicher Gestaltung einer Gegend. Die größte Dichte solcher Geo-Graphie dokumentiert die Stadtlandschaft in der Drängung und Überlagerung kultureller Artefakte. Landschaft wird als szenischer Eindruck gefühlsmäßig erlebt. Was sich in der strittigen Planung der Elbbrücke in Dresden für die StadtLandschaft zeigte, spiegelt sich derzeit im Baubeginn der Moselhochbrücke wider: Nutzungsansprüche, die im Lichte verkehrspolitischer Rationalität als unverzichtbar legitimiert werden, stoßen nicht nur auf sachlich begründete Ablehnung, sondern auch auf den emotionalen Protest gegen die Zerstörung einer Kulturlandschaft, die erhalten werden soll, weil sie lokal und regional als Heimat stiftender Raum erlebt wird. Aber nicht nur solchen Argumenten, die sich explizit auf Gefühlswerte beziehen, liegen Emotionen zugrunde; auch sachlich vor335 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
18. · Landschaft
getragene Ansprüche gründen in einem Willen zur Macht und damit in Gefühlen. Dieser Umstand ist für das Verstehen zweier Perspektiven auf Landschaft bedeutsam: der Perspektive rational und kalkülhaft planender Landschaftsproduzenten ebenso wie der Perspektive der Bewohner einer Gegend, deren Sache die eigene affektive Bindung an diese Gegend ist.
18.1 Die naturwissenschaftliche Landschaft Eine ganz andere Landschaft ist die der Naturwissenschaften, die nach einer systemtheoretischen Logik konzeptualisiert wird. Nicht das Ganze des in einer Gegend Erlebbaren ist ihr relevant, sondern die Teile, wie sie nach Maßgabe verfügbarer theoretischer Modelle gedacht und synthetisiert werden können. Die geoökologische Landschaft ist eine konstellationistische Vielheit von Teilmengen, die mit anderen Teilmengen in einem Wechselwirkungsverhältnis stehen. Systeme kommunizieren nach Differenzkriterien mit anderen Systemen als deren Umwelten. Die Beziehungen sind als autopoietisch sich regulierende Stoffwechselkreisläufe gedacht, die offen und zugleich geschlossen sind. Bis heute setzen die meisten naturwissenschaftlichen Landschaftsmodelle eine naturphilosophisch bedenkliche Trennung voraus, wonach der Mensch nicht zur Natur gehört. Dieses konstellationistische Denken hat sich in der Prognose, Analyse und Reparatur von Stoffwechselstörungen in und zwischen geoökologischen Systemen (mehr oder weniger) bewährt und gilt in der scientific community der nach diesen Regeln arbeitenden Disziplinen als unverzichtbar. Diese geosphärische Landschaft der Stoffe und Stoffkreisläufe steht in einem antinomischen Verhältnis zur ästhetischen Erlebnislandschaft. Was von Uexküll über Natur sagte, lässt sich auf die naturwissenschaftliche Aneignung von Landschaft übertragen: »So ging die Natur unter den Fanfarenstößen der Wissenschaft aus diesem Bastardierungsprozess steril wie ein Maulesel, aber unangreifbar wie ein Kirchendogma hervor.« 1 Die rationalistische Perspektive auf geosphärische Räume bleibt aber nicht bei sich; sie springt gleichsam ins ästhetische Landschaftserleben über. Indem das naturwissenschaftliche Denken gesellschaft1
Uexküll / Grassi 1945, S. 18 f.
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Landschaft – zwischen Realität und Wirklichkeit
lich relevantes Problemlösungswissen generiert und dieses in populäre Diskurse (z. B. über die Massenmedien) einspeist, konstituiert es auch Schablonen landschaftlichen Erlebens. Aber auch die Selbstverständlichkeit, mit der die Methoden der Naturwissenschaften Geltung beanspruchen, gründet in einer stummen emotionalen Akzeptanz, Landschaft zumindest auch als einen abstrakten und aus der Laienperspektive nicht einsehbaren komplexen Systemzusammenhang zu begreifen. Damit geraten zwei Rationalitäten der Wahrnehmung in einen Widerstreit. Lebensweltlich wird die schöne Landschaft von der ökologischen Landschaft abgespalten.
18.2 Landschaft – zwischen Realität und Wirklichkeit Zur Landschaft wird eine Gegend im sinnlichen Erleben, das einer ästhetischen Haltung folgt. »Die Natur, die in ihrem tiefen Sinn nichts von Individualität weiß, wird durch den teilenden und das Geteilte zu Sondereinheiten bildenden Blick des Menschen zu der jeweiligen Individualität »Landschaft« umgebaut.« 2 Der Raum der körperlichen Dinge (Böden, Tiere und Gewässer) liefert das Material der Landschaft, die wir als einen atmosphärischen Gefühlsraum erleben. Die Baustoffe des Landschaftlichen bestehen jedoch nicht nur aus stofflichen Materialien: »Das Material der Landschaft, wie die bloße Natur es liefert, ist so unendlich mannigfaltig und von Fall zu Fall wechselnd, daß auch die Gesichtspunkte und Formen, die diese Elemente zu je einer Eindruckseinheit zusammenschließen, sehr variabel sein werden.« 3
In dieser Bemerkung steckt eine Fußnote zur Dynamik wirklichkeitskonstituierender Eindrücke (Frische, Heiterkeit, Dunkelheit, Offenheit und Weite usw.), die landschaftliches Erleben in besonderer Weise intensivieren. In seinem situativen Erscheinen wandelt sich der erlebte Raum, so dass in ein und derselben Gegend plurale atmosphärische Landschaften entstehen können (als Folge von Jahreszeiten, Temperaturen, Regen, Nebel, Wind, Lichteinfall und -intensität etc.). Simmel trifft eine weitere wichtige Unterscheidung des Seienden, 2 3
Simmel 1957.3, S. 142. Ebd., S. 144.
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18. · Landschaft
die dem zeitgemäßen sozialwissenschaftlichen Denken weitgehend fremd geworden ist. Die Gegebenheiten der Natur, von denen die uns antönenden Wirkungen ausgehen, nennt er Realität und die uns durch die (Be-) Wirkungen dieser Realität angreifenden Gefühle und Empfindungen Wirklichkeit. So ist der Wind, der durch eine Gegend weht, von dem Gefühl zu unterscheiden, das dieses Wehen in uns wachruft und damit den Raum des Herum erst zur Landschaft macht. Ein Gefühl ist »so wenig von jener Realität zu trennen, wie von den Luftschwingungen, wenn sie einmal unser Ohr erreicht haben, der Ton zu trennen ist, mit dem sie uns Wirklichkeit werden«. 4 Wie die Luftschwingungen zur Realität gehören und der davon ausgehende Ton unsere Wirklichkeit wird, so hat jeder wirkliche Eindruck ein Gegenstück in einer Realität der Dinge und Geschehnisse in der physischen Welt. Die Natur der naturwissenschaftlichen Landschaft gehört zur Realität, der Herumraum einer Landschaft, den wir in Vitalqualitäten 5 atmosphärisch erleben, konstituiert sich als Wirklichkeit. Simmel sieht diese Atmosphäre, die er als Stimmung anspricht, der Objektseite eines Raumes zugehörig: »so durchdringt die Stimmung der Landschaft alle ihre einzelnen Elemente, oft ohne daß man ein einzelnes für sie haftbar machen könnte«. 6 Simmel sieht aber in dieser atmosphärischen Ladung einer Landschaft den Grund für ihre ganzheitliche Wahrnehmung: »Sollte nicht wirklich die Stimmung der Landschaft und die anschauliche Einheit der Landschaft eines und dasselbe sein, nur von zwei Seiten betrachtet?« 7 Es ist bemerkenswert, dass die Landschaft für Simmel noch eine plurale sinnliche Eindruckswirklichkeit konstituiert und nicht auf visuelle bzw. neuronale Reize reduziert wird. Der Eindruckscharakter, den die »anschauliche Einheit der Landschaft« vermittelt, könne deshalb auch mit Begriffen nicht beschrieben werden; 8 es herrsche eine »Inkongruenz von Sprache und Begriff«. 9 Daher werden landschaftlich ergreifende Eindrücke oft in metaphorischer Rede ausgesagt. Resümierend lässt sich sagen, dass Simmel die Atmosphäre einer Landschaft sowohl 4 5 6 7 8 9
Ebd., S. 151. Vgl. Dürckheim 2005. Simmel 1957.3, S. 149. Ebd., S. 149 Ebd., S. 151. Blumenberg 2007, S. 65.
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Landschaft – phänomenologische Annotierungen
auf einer Objekt- als auch auf einer Subjektseite verortet: »Die Stimmung, die die Landschaft als solche zustande bringt, und die Stimmung, die uns aus ihr entgegenschlägt und mit der wir sie umgreifen [ist] nur nachträgliche Zerlegung eines und desselben seelischen Aktes.« 10 Simmels Verdienst besteht darin, Landschaft diesseits konstruktivistischer Simplifizierungen dem Nach-Denken geöffnet zu haben, wenn sein Seelen-Begriff auch nicht gerade für Klarheit sorgt. Was er mit der Seele (introjektionistisch) in einen diffusen und innerlichen Sonderraum menschlichen Erlebens verschiebt, wird Hermann Schmitz knapp hundert Jahre später in differenzierten Begriffen emotionalen Selbstgewahrwerdens in Situationen phänomenologisch präzisieren.
18.3 Landschaft – phänomenologische Annotierungen Landschaften liegen in stillen Gefilden, die unter dem alles identifizierenden »Geläute der harten Wissenschaften« verstummen. 11 Wenn Jules Michelet in seinem Buch über »Das Meer« die Wirkung des Wetters »von innen heraus« 12 auf sein Befinden beschreibt, so ist sein Thema nicht das Wetter an sich, sondern jenes Wetter, das die Landschaft zu einer Landschaft in diesem Wetter und für ihn macht (vgl. auch Kapitel 17). Oft sind es auch gar nicht die Dinge einer Gegend, die über ihr visuelles Gesehen-werden und ihre Eindrucksmacht das menschliche Befinden tangieren. Atmosphärische Zwischenphänomene wie die Wärme oder die Stille sprengen die Dingontologie. Zwar werden sie von jedermann bemerkt und gespürt, von den rationalistischen Wahrnehmungsimprägnierungen aufgeklärten Denkens aber doch eher unbedacht den Dingen zugeschlagen. Sie entfalten ihre Eindrucksmacht nach Gernot Böhme in einem atmosphärischen »Zwischenraum« 13. Franz Xaver Baier spricht diese »Sphäre des Zwischen« als »Urkategorie menschlicher Wirklichkeit« 14 an, wenn sie in unserer Kultur auch kaum in einer Tradition bewusster Wahrnehmung gründe. 15 Eine be10 11 12 13 14 15
Simmel 1957.3, S. 150. Vgl. Serres 1994. Barthes 1980, S. 14. Vgl. Böhme 1995, S. 22. Baier 2000, S. 58. Vgl. ebd., S. 58.
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18. · Landschaft
grifflich systematische Durchleuchtung solcher Zwischenphänomene findet sich bei Hermann Schmitz, der zum Beispiel den Wind, die Trauer oder eine melancholische Stimmung jenseits der ontologischen Kategorie der Dinge in den Halbdingen sieht. Halbdinge unterscheiden sich von Dingen u. a. dadurch, »daß sie verschwinden und wiederkommen, ohne daß es Sinn hat, zu fragen, wo sie in der Zwischenzeit gewesen sind«. 16 Landschaften werden aber lebensweltlich in einer außerrationalen Weise erkannt. Solchem »Erkennen« 17 verdankt sich nach Hubert Tellenbach ihr atmosphärisches Erleben. Dies ist ein stummes Erkennen, denn in der Rede über Atmosphären, die leibliche Eindrücke sind, ist die Sprache eher hilflos. Hermann Schmitz führt das Unvermögen genauen Sprechens über leibliche Eindrücke auf kulturgeschichtliche Gründe zurück, deren Wurzeln in westlichen Denktraditionen liegen. Norbert Elias rekonstruierte die zivilisationshistorische Sozialisationsdynamik, die seit dem Spätmittelalter die Aufmerksamkeit gegenüber persönlichen Sachverhalten zugunsten objektivierter Sachverhalte mit großer Macht zurückdrängt. Die Erhöhung der Abstraktionsbasis im Prozess der Selbst- und Weltwahrnehmung objektiviert indes weniger, als dass sie dem Denken eine Neutralisierung persönlicher Betroffenheiten zumutet. So wird das Individuum auf die Funktionsanforderungen einer systemisch parzellierten Welt justiert. 18 Ganz andere Sensibilitäten der Aufmerksamkeit eignen dem Denken im alten China. Fabian Heubel spricht von einer »Kultur der Fadheit«, die die asiatische Erkenntnishaltung geprägt habe. Die griechische Philosophie baute dagegen auf das Prinzip der Gegensätze und maß allen Wert der Klarheit zu, mit der Folge, dass »das Undeutliche des Übergangs« unserem Wahrnehmungsvermögen kontinuierlich und systematisch entzogen worden ist. 19
Schmitz NGrdl S. 80. Aus Platzgründen kann hier keine detaillierte Auseinandersetzung mit dem Begriff »Halbding« stattfinden. Ich verweise an dieser Stelle auf Schmitz Bd. III/5, bes. § 245. Halbdinge sind auch Licht und Schatten, Wärme und Kälte oder Heiterkeit und Trauer. 17 Tellenbach 1968, S. 62. 18 Auf dem Hintergrund einer Kritik der Transformation der Wissensformen in der Spätmoderne pointiert Peter Sloterdijk: »Der moderne Könner kann immer weniger immer besser« (2010, S. 11). 19 Nach Jullien, zit. bei Heubel 2010, S. 42. 16
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Erlebnislandschaften – imaginiert und inszeniert
»Subtile Fadheit und spektakuläre Intensität verweisen somit nicht nur auf verschiedene Kulturen sinnlicher Erfahrung, sondern auch auf verschiedene Regime der Sinnlichkeit, in denen Ästhetik und Politik auf unterschiedliche Weise zusammenlaufen.« 20
Es ist jener Grenzbereich der Sinnlichkeit, die Sphäre zwischen dem Offenbaren und dem Verborgenen, »in der das Sichtbare aus dem Unsichtbaren auftaucht, das Hörbare aus dem Unhörbaren, oder das Sichtbare im Unsichtbaren verschwindet, das Hörbare im Unhörbaren« 21. In diesem Vermögen subtiler Wahrnehmung liegen auch die erkenntnistheoretischen Optionen für das bewusste Erleben von Landschaften – ganz gleich, ob es sich dabei um unberührte Wildnis oder die in Gänze hergestellte Stadtlandschaft handelt.
18.4 Erlebnislandschaften – imaginiert und inszeniert Landschaften kommen wesentlich in Atmosphären zur Erscheinung, die durch die Dynamik von Halbdingen ihr Gesicht erhalten. Solche Eindruckswirklichkeiten fußen dann in einer Situation auf der Objektseite (Wetter und Klima, Tageszeiten, Licht und Schatten), die in ihrem Erleben in eine Situation auf der Subjektseite (persönliche Gestimmtheit für dieses Erscheinen) umschlagen. Ich werde im Folgenden am Beispiel einer imaginierten Landschaft, vor allem aber an fünf Beispielen räumlicher Inszenierungen illustrieren, wie landschaftliches Erleben medial evoziert werden kann. Das atmosphärische Gefühl des Drin-seins im Raum der Vitalqualität einer Landschaft überträgt sich auf dem Wege medialer Brücken (Bild, Text, Architektur etc.) in eine Gefühlsdisposition pathischer Teilhabe. Wir erleben über die Medien von Sprache und Bild Landschaften, die es real nicht gibt. In der architektonischen Inszenierung werden im Unterschied dazu Gegenden, die es tatsächlich gibt, imaginativ in eine landschaftlich-atmosphärische Welt hineingezogen. Die Beispiele weisen darauf hin, dass unsere Weisen landschaftlichen Erlebens durch eine große Vielfalt (massen-) medial kommunizierter Deutungs- und Erlebnisschablonen geprägt sind. Es wird sich aber auch zeigen, dass sich in diesen Konstruktionsprozessen Wirklichkeiten konstituieren, 20 21
Ebd., S. 44 Ebd., S. 52
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18. · Landschaft
die nicht Gegenstand konstruierender Verfügung sind, sich vielmehr als anthropologische Dispositionen der Wahrnehmung erweisen. Der Brückenfunktion von Synästhesien kommt hier eine herausgehobene Bedeutung zu (vgl. auch Kapitel 3).
18.4.1 Die poetisch beschriebene (Stadt-) Landschaft Der Architekt und Philosoph August Endell (1871–1925) veröffentlichte im Jahre 1908 eine Schrift mit dem Titel Die Schönheit der Stadt. Die Stadt stellte sich für ihn als Landschaft dar – nicht nur die repräsentative und in ihren architektonischen Formen, fürstlichen Magistralen und Autorität gebietenden Plätzen ästhetisierte Stadt, sondern auch die idiosynkratische Stadt, »die als Gestaltung mit verschwindenden Ausnahmen abscheulich ist«. 22 Das Landschaftliche hing für ihn nicht am Schönen, sondern an der Eindrucksmacht, die er metaphernreich zum Beispiel so beschrieb: »Man muß nur einmal hinhören und den Stimmen der Stadt lauschen. Das helle Rollen der Droschken, das schwere Poltern der Postwagen, das Klacken der Hufe auf dem Asphalt, das rasche scharfe Stakkato des Trabers, die ziehenden Tritte des Droschkengaules, jedes hat seinen eigentümlichen Charakter, feiner abgestuft als wir es mit Worten wiederzugeben vermögen.« 23
Die Stimmen der Stadt sind es hier, die Endells Aufmerksamkeit finden und ihn in seinem Stadt-Erleben in einen herumwirklichen Raum einbetten, dessen Dinge erst durch die pluralen sinnlichen Eindrücke zu so beeindruckenden Erlebnissen werden. Auch in den »greulichen Steinhaufen« der modernen Stadt, deren schneller Aufbau dem Takt der Industrialisierung folge, »lebt Schönheit. Auch hier ist Natur, ist Landschaft. Das wechselnde Wetter, die Sonne, der Regen, der Nebel formen aus dem hoffnungslos Häßlichen seltsame Schönheit.« 24 Eigene Abhandlungen widmet er neben Typen städtischer Architektur (Straße, Kanal, Gleisdreieck etc.) dem Nebel, der Dämmerung und den Schleiern des Tages. Endell hebt in seinen Beschreibungen besonders die Vitalität jener Phänomene hervor, die bei Hermann Schmitz Halbdinge (siehe oben) 22 23 24
Endell 1995.1, S. 185. Ebd., S. 177. Ebd., S. 185.
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Erlebnislandschaften – imaginiert und inszeniert
heißen und den Dingen und Situationen des Erlebens im Raum der Stadt erst ihren besonderen Ausdruck verleihen. Die Nuanciertheit seiner sprachlichen Illustrationen wirft die Frage nach kulturellen Transformationen des Wahrnehmungs- und Unterscheidungsvermögens auf. Haben wir unser Wahrnehmungsvermögen heute aufs Sichtbare spezialisiert, auf die Dinge um uns herum, die wir rational er-kennen, wie wir sie kennen, um sie nur noch ontologischen Kategorien und Klassen zuzuordnen? Oder hören wir zum Beispiel auch in den uns umgebenden Raum hinein, ertasten wir im bewussten Gebrauch unserer Sinne die Texturen der in ihm befindlichen Dinge? Endells Beschreibungen lassen uns eher erahnen, welche Erlebniswelt in der Stadtlandschaft schlummert, als dass sie uns an tatsächlich Erlebtes erinnert. Man muss nicht in der Stadt sein, um ihre Atmosphären aus der Kraft der Erinnerung nach-erleben zu können. Aber man muss – der Möglichkeit solcher Erinnerung halber – die eine oder andere Erfahrung einer städtischen Erlebnislandschaft bewusst einmal gemacht haben, um in das Erinnerungsbild einfügen zu können, wovon Endell spricht, wenn er etwa anmerkt, die Lebendigkeit der Straße verdanke sich der Rhythmen der in ihnen lebendigen Menschen, die sich werktags anders in den Straßen zeigen und bewegen als an Festtagen. 25 Endell macht in seinem Vermögen zur präzisen Aussage stadtlandschaftlichen Erlebens aber auch darauf aufmerksam, dass zivilisationsbedingte Verarmungen der Wahrnehmung ein Zersehen des Wirklichen zugunsten einer scannenden Erfassung des Realen zur Folge hatten. »Die Menschen z e r s e h e n eben gewöhnlich das Sichtbare, zerlegen es, zerstückeln es, nehmen Teile daraus, betrachten jenes flüchtig, dies genauer und ein drittes bis in die letzte Kleinigkeit, je nach ihrem praktischen Interesse.« 26
So kommen die Halbdinge allein als etwas Gegenständlich-Andrängendes (z. B. der Regen als Unbequemlichkeit oder der Wind als Hindernis) in den Fokus eher abwehrender als sich hinwendender Aufmerksamkeit. Dieser entgeht dann das Ereignishafte des Regnens und des Wehens, und damit jener Wandel des Erscheinens, in dessen flüchtigen Gesichtern die Stadt-Landschaft lebendig wird.
25 26
Vgl. ebd., S. 195 ff. Ebd., S. 182.
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18. · Landschaft
18.4.2 Die qua Architektur eingeräumte Landschaft Landschaft konstituiert sich in einem performativen Fluss ästhetischer Anschauung, ist in ihrer Konstituiertheit also zugleich kulturhistorisch disponiert. Mit anderen Worten: Die ästhetische Konstitution von Landschaft steht in einem Wechselwirkungsverhältnis zur systemischen Konstruktion ihres Erlebens. Was Menschen symbolisch-verstehend und leiblich spürend in ihrem Herum als Landschaft begegnet, ist durch vielfältige kulturelle Wahrhemungsstandards geprägt, die sich im Zuge des Zivilisationsprozesses herausgebildet haben. Klaus Bartels 27 hat gezeigt, dass sich die Erfindung des Blitzableiters als Voraussetzung der Erlebbarkeit einer landschaftlich erhabenen Gewitterszene erweisen sollte, konnte sich der ästhetische Genuss zwischen Himmel und Erde aufzuckender Blitze doch erst entfalten, nachdem die technische Erfindung das angstvolle Gefühl drohenden Grauens durch Blitzschlag zugunsten einer (technisch) gesicherten Erlebnissituation abgeschafft hatte. Dem Bauen im Heidegger’schen Sinne kommt im landschaftlichen Erleben eine zentrale Rolle zu. Aber nicht nur Bauwerke im engeren Sinne schaffen relationale, symbolische und atmosphärische Ordnungen, sondern auch die durch sie umgebauten Landschaften. 28 In der CIAM-Erklärung von La Sarraz heißt es über das Bauen, es organisiere »sämtliche Funktionen des kollektiven Lebens in der Stadt und auf dem Lande«. 29 Bauen formatiert durch seine materiellen Gestalten das Wahrnehmen, Verstehen, Deuten, Aneignen und leibliche Erleben nicht nur von Bauwerken, sondern auch von Landschaften. Architektur arbeitet aber nicht nur im Metier physischer Baustoffe. »Die Elemente der Architektur sind Licht und Schatten, Mauer und Raum«, sagte Le Corbusier. 30 Das war nicht wörtlich zu verstehen, sondern als Metapher, die über das begrenzte essentialistische Denken des Bauens hinauswies. Bauend verändert der Mensch sein Herum und damit auch seine Landschaft. So stehen die Bauten im Raum und bilden diese Landschaft.
27 28 29 30
Vgl. Bartels 1989. Pichler / Hollein 2001, S. 174. »CIAM« Erklärung von La Sarraz aus dem Jahre 1928 (vgl. Conrads 2001, S. 104). Le Corbusier 2001, S. 56.
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Erlebnislandschaften – imaginiert und inszeniert
Bauten haben aber auch ein Innen, aus dem die Landschaft als eine Welt des Draußen in das Drinnen imaginativ hineingezogen wird. Ohne die Bauten gäbe es diese Landschaft nicht, die jenseits von Fenster und Tür abständiger ist als jene, in der man sich leiblich befindet, wenn man auf freiem Feld oder auf einer Lichtung steht. Wir müssen also zwischen einer Landschaft unterscheiden, die wir uns im Draußen ästhetisch in eigenleiblicher Bewegung erschließen, und einer solchen, die wir in einer bestimmten Perspektive nur aus dem Drinnen eines Hauses, vom inneren Ort des Bauwerkes aus in einem gewissen Kulissencharakter erleben. Dies gilt für die freie Landschaft in anderer Weise als für die Stadt-Landschaft. Die folgenden fünf Beispiele sollen diesen Prozess der konstruktionsbedingten Konstitution landschaftlicher Vitalqualitäten illustrieren. Das erste Beispiel steht für das bauende Spiel mit der Innen- wie der Außenwahrnehmung, das zweite für die Perspektive des Innen, das dritte und vierte für die Schaffung eines Ortes für ein landschaftliches Erleben und das fünfte für die Konstruktion einer Stadtsilhouette aus der Perspektive des städtischen (Wohn-) Raumes. 18.4.2.1 Casa Mar Azul (Argentinien) Was für Architektur im Allgemeinen gilt, ist beim Bau eines Wohnhauses nicht anders, auch wenn es in seiner Größe eher bescheiden ausfällt. Architektur schafft räumliche Verhältnisse, durch die sich das Individuum zu sich und seiner Welt (insbesondere seiner räumlichen und sozialen Umgebung) in Beziehung setzt. Die Aussage von Peter Eisenman, wonach Architektur »einen Zustand der Interiorität« bestimme 31, fasst diese Beziehung nur zum Teil, dienen Häuser doch nie allein der Einhausung und Schaffung von Innenwelten, sondern zugleich der mannigfaltigen Selbstverortung im Raum des Draußen. Architektur schafft mit ebenso großer Macht Zustände der Exteriorität, des Mitseins in Situationen des Lebens außerhalb des eigenen Hauses. Diese Situationen werden durch das Leben in und mit dem Haus gestimmt. Solche Stimmungen haben zunächst noch keinen atmosphärischen Charakter im Sinne von Hermann Schmitz 32; vielmehr sind sie Eisenman 2003, S. 217. Danach sind Atmosphären ganzheitlich in die Weite ergossene Gefühle, »die das einzelne Subjekt einbettend umschließen« (Schmitz Bd. III/2, S. 106). Zur Bedeutung von
31 32
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18. · Landschaft
Ab-stimmungen – ähnlich denen, die ein Musikinstrument in einem mikroklimatischen Milieu auf richtige Weise zum Klingen bringen. 33 Auch schwingt im Stimmen des Hauses für seine Bewohner der Geist der Zeit mit, zu dem das Haus passen muss. Peter Sloterdijk pointierte in diesem Sinne die »Kultur« als Stimmgabel. 34 So spielen auch Atmosphären, die qua Architektur im Innen- wie im Außenraum hergestellt werden, eine wichtige Rolle für die Ein-Stimmungen des Hauses auf und für eine Landschaft. In einer Provinz von Buenos Aires hat das Architekturbüro BAKarquitectos im Jahre 2004 auf einem Grundstück von 470 m2 ein Sommerhaus gebaut. Das von den Architekten María Victoria Besonías, Guillermo de Almeida und Luciano Kruk geplante Haus (vgl. Abb. 18.1) deckt eine Grundfläche von 75 m2 (6,5 10,3 m) ab. Es ist auf internationalen Architekturbiennalen mehrfach ausgezeichnet worden. Das Haus drückt ein landschaftliches Verhältnis aus, das seinem Ort Rechnung trägt. Seine Besonderheit drückt sich atmosphärisch aus. Als besonderes Haus soll es auch für seine Bewohner erlebbar sein. 35 So ist die Pinienumgebung des Hauses nicht nur außerhalb seiner Wände; vielmehr konstituiert sie das Erleben des Hauses an diesem Ort, weil einige Pinien in den Bau integriert sind. Die Kombination von Beton, Metall, Glas und Holz fügt kontrastierende Materialien zu einer gestalterischen Einheit, die die Abgeschiedenheit des üppigen Pinienwaldes in den Sanddünen ästhetisch unterbricht, ohne die Atmosphäre des Ortes zu zerbrechen. Die Landschaft dieses Ortes wird durch das Haus zu einer Landschaft für den Menschen. Die verwendeten (industriellen) Baumaterialien machen den Einbruch in die Natur des Ortes erlebbar und denkwürdig. Die Exteriorität des Ortes vermittelt sich einer Interiorität, wonach die Bewohner die verschieden gestalteten Bereiche des Hauses ihren Wohnbedürfnissen entsprechend nutzen können: Die mit Sichtbeton nach außen abgeschirmten Räume beherbergen den persönlichen Wohnbereich (Schlafraum, Bad); durch die großen Glasflächen öffnet sich der Wohnraum ins Draußen. Die Außengrenzen des Hauses definieren Stimmungen in diesem phänomenologischen Sinne für Architekturtheorie vgl. auch Hahn 2008, S. 277 ff. 33 Vgl. Grimm / Grimm Bd. 25, Sp. 1752 ff. (»verstimmen«). 34 Sloterdijk 1993, S. 63. 35 Vgl. auch http://www.bakarquitectos.com.ar/. (Abruf: 14. 12. 2013).
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Erlebnislandschaften – imaginiert und inszeniert
Abb. 18.1: Casa Mar Azul (Argentinien).
weniger ein klares Drinnen und Draußen; vielmehr verwischen sie Übergänge zwischen einem Diesseits und einem Jenseits. Das große Holzdeck und die an zwei Öffnungen durch das vorkragende Dach wachsenden Pinien stellen jedes eindeutige Im-Haus und Außerhalbdes-Hauses in Frage. Die (Ein-) Stimmung des Gebäudes in die Landschaft verdankt sich wesentlich der Atmosphäre des Ortes. Die von den Baustoffen ausgehende ästhetische Spannung spielt mit Symbolen. Das Artifizielle von Beton und Glas markiert das Andere des Hauses inmitten des Waldes, das weit ausladende Holzdeck zitiert den Stoff der Bäume. Das abgewinkelte Dach suggeriert experimentelle Leichtigkeit und Rücksicht gegenüber der anstehenden Natur. Die niedrige Flachdachbauweise bleibt am Boden, der Raum der Höhe, in den die Wipfel der Pinien ragen, bleibt verschont. Das Haus ist ein ästhetisches Vexierbild. Dem Bewohner erschließt es die Landschaft aus dem behaglichen Ort der Behausung – zieht sie suggestiv in den Innenraum des Wohnens hinein. Für den Waldgänger ist das Haus ein landschaftliches Denkstück, liegt es doch in einem sanften Streit mit ihr.
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18. · Landschaft
Abb. 18.2: Villa M 2 Außenansicht (Schweden).
18.4.2.2 Villa M 2 (Malmö) In anderer Weise ist die Villa M 2 des schwedischen Architekten Jonas Lindvall (Malmö) für das landschaftliche Erleben aus der Binnenperspektive des Hauses entworfen und realisiert worden. Lindvall, der ein maßgeblicher Repräsentant modernen skandinavischen Designs ist und auch als Innenarchitekt und Designer arbeitet, hat mit der Villa M 2 die Gestaltungsprinzipien des minimalistischen skandinavischen Stils genutzt, um das Wohnen im Haus durch Blickbeziehungen mit der umgebenden Landschaft zu vernetzen. Die Umgebung des Hauses wird in das Erleben des Innenraumes integriert, auf dass die Atmosphäre des Herum zu einem Erlebnismoment des Innen werde. Die kubistische Bauweise bietet sich für die Gestaltung großer fassendenfüllender Fensterflächen an. Die zur Straßenseite weisenden Seiten des Hauses sind weitgehend geschlossen und schirmen die Welt banaler Eindrücke ab. Lichtschleusenartige Panoramascheiben, die die Größe von Kaufhausschaufenstern erreichen, öffnen den Wohnraum zur Seeseite des Grundstücks (vgl. Abb. 18.2). Der architektonische Stil des 348 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Erlebnislandschaften – imaginiert und inszeniert
Abb. 18.3: Villa M 2 Deckenfenster (Schweden).
Hauses spiegelt sich in der Inneneinrichtung wider; auch sie wurde von Lindvall entworfen. Das Wohnen im Haus und in der bildhaft integrierten Landschaft kulminiert in der Gestaltung eines Schlafraumes mit einem großflächigen Fenster zur Seeseite, das die Aufmerksamkeit auf das Gewässer richtet. Durch ein Deckenfenster kann sich der Blick aus der horizontalen Lage im Himmel verlieren (vgl. Abb. 18.3). Nur scheinbar ist die Villa allein eine räumliche Inszenierung von Blick-Beziehungen, wenngleich die überdimensionierten Fenster diese Deutung auch anbieten. Das (visuelle) Sehen geht in seiner erlebnisvermittelnden Wirkung weit über die optische Erfassung des Erscheinenden hinaus. Deshalb wird das Sehen oft als eine Form des (imaginären) Tastens beschrieben, das die Qualität leiblicher Kommunikation hat. 36 Sehend fühlt sich das Individuum in seine Umgebung ein, die durch die situativ sich dem Erleben anbietenden Eindrücke ein Gefühl des Draußen-im-Drinnen vermittelt. Hermann Schmitz spricht dann von Gestaltverläufen und Bewegungssuggestionen, die sich als Er36
Vgl. in diesem Sinn Pallasmaa 2012.
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18. · Landschaft
scheinungsweisen von Situationen in das eigene Befinden übertragen. So suggeriert die langsame Bewegung der Wellen auf der Oberfläche des Sees vor den Fenstern des Hauses Ruhe und das rötliche Licht des Abendhimmels ein Gefühl der Wärme. Im Unterschied zum argentinischen Sommerhaus von BAKarquitectos ist die Villa M 2 kein Ort, der den öffentlichen Sinn für die Landschaft schärfen kann, weil sich das Haus zur Straßenseite, dorthin, wo das Leben der Leute seine Bahnen zieht, abschirmt. Es ist ein gebautes Medium der Einräumung der Landschaft in den persönlichen Raum der im Hause Wohnenden. 18.4.2.3 Restaurant Tusen (Ramundberget) Bei Ramundberget in Schweden hat das Architekturbüro Murman Arkitekter (Stockholm) im Januar 2009 ein Restaurant fertiggestellt, dessen Baugestalt mit üblichen Gestalterwartungen bricht (vgl. Abb. 18.4). Das mehrfach ausgezeichnete Gebäude steht in einem schwedischen Wintersportgebiet und bietet auf einer Fläche von 340 m2 Platz für 125 Gäste. Die Kubatur des Gebäudes ähnelt einem Kegelstumpf. Auf einer Konstruktion aus Metallstreben, die die Außenhaut des Gebäudes umschließen, liegen in dichter Folge rohe Birkenstämme, deren obere Enden über das Gebäudedach hinausragen und durch unterschiedliche Längen einen naturalistischen Eindruck suggerieren, der an nordische Nomadenzelte vom Stile der Kohte erinnert. »The facade material is given by the surrounding nature, birch logs stands like a huge protecting screen towards the Nordic icy winds«. 37 Das Haus soll sich in die Gebirgslandschaft einfügen: »We wanted a building that harmonies with the landscape character both in shape, design and material.« 38 Laszlo Moholy-Nagy bemerkte im Jahre 1929: »der »gebildete« mensch besitzt im allgemeinen heute weder ein bewusstsein noch eine gefühlssicherheit zur beurteilung architektonischer werke als raumgestaltung.« 39 Damit wies er implizit auf die sich ausbreitenden Spuren einer abstraktionistischen Intellektualkultur hin, die im Verstehen sinnlicher 37 38 39
http://www.worldbuildingsdirectory.com/project.cfm?id=1701 (Abruf: 15. 05. 2010). Ebd. Moholy-Nagy 1929, S. 200 (Kleinschreibung im Original).
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Erlebnislandschaften – imaginiert und inszeniert
Abb. 18.4: Restaurant Tusen (Ramundberget / Schweden).
Eindrücke, die weder Textqualität haben noch als Quasi-Text gelesen werden können, in den Strudel einer Entalphabetisierung der Wahrnehmung geraten. Das Architekturbüro Murman rüttelt in gewisser Weise an überkommenen Wahrnehmungsklischees. Das Bauwerk, das Tradition und Moderne, Zivilisation und Natur in ein gebrochenes Ganzes fügt, lässt sich keiner Sehgewohnheit unterordnen. Es macht sich selbst denkwürdig, und damit die Natur seiner Umgebung samt ihrer kulturgeschichtlichen Erschließung und zivilisatorischen Aneignung. Das Haus ist als Ausdruck eines mimetischen Spiels in den offenen Landschaftsraum gestellt – als Allegorie einer stets nur gebrochen gelingenden Synthese von Natur und Kultur, als Pointierung von Kulturlandschaft schlechthin. Als etwas Fremdes in ihr bleibt es ein sperriges Objekt. Gerade die naturalisierenden Mittel des Bauens spannen einen Bogen ins Fragwürdige. So symbolisieren die die moderne Fassade umgebenden Birkenhölzer einen Naturalismus, der schon von der Tragkonstruktion der Hölzer bestritten wird und auf die Juxtastruktur von Landschaft im Allgemeinen aufmerksam macht.
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18. · Landschaft
Abb. 18.5: Gipfelplattform »Top of Tyrol«.
18.4.2.4 Gipfelplattform »Top of Tyrol« (Stubaier Gletscher) Die Gipfelplattform »Top of Tyrol« schafft eine Form landschaftlichen Erlebens, die es ohne dieses Bauwerk an diesem öffentlichen Ort nicht gäbe. Im Auftrag der Wintersport Tirol AG & Co und der Stubaier Bergbahn KG hat das österreichische Architekturbüro LAAC Architects aus Innsbruck eine Aussichtplattform entworfen, die dem Wintersportgebiet in der Neben- und Nachsaison zu mehr touristischer Beachtung verhelfen soll (Saisonverlängerung). Die von LAAC Architects (Frank Ludin / Kathrin Aste) gebaute Plattform wurde nach einer Bauzeit von drei Monaten im Jahre 2009 auf dem Berg Isidor in einer Höhe von 3.200 m über NN oberhalb des Stubaier Gletschers fertiggestellt (vgl. Abb. 18.5). Die Plattform ist über eine Seilbahn (Bergstation Schaufeljoch, 3.160 m) und einen knapp 100 m langen Fußweg erreichbar, der keine bergsteigerischen Fähigkeiten erfordert. Mit der Stahlkonstruktion, die mit 15 m langen Felsankern im Zugbereich des Felsgesteins im hochalpinen Permafrostboden verankert ist, inszenieren die Planer einen exklusiven Ort, der vom durchschnittlichen Touristen erreicht werden kann. Eine bautechnisch anspruchsvolle Konstruktion wird zum Medium der Anbahnung landschaftlichen Erlebens, das sich ebenso wenig aufs Bildhafte redu352 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Erlebnislandschaften – imaginiert und inszeniert
zieren lässt wie der Blick aus der Villa M 2 in die umgebende Landschaft. In der Montage der technischen Anlage (die mit dem Hubschrauber erfolgte) wird nicht nur der Konstruktionscharakter eines Ortes deutlich, sondern auch der landschaftlichen Erlebens, das sich für das Individuum an Ort und Stelle situativ konstituiert. Das Beispiel illustriert das Wechselwirkungsverhältnis von Konstruktions- und Konstitutionsprozessen der Wahrnehmung. Die Technifizierung eines exzentrischen Ortes folgt einem ästhetischen Programm, das den kulturlandschaftlichen Charakter einer Landschaft augenfällig macht, die lebensweltlich als typische Natur-Landschaft betrachtet wird. Die Plattform bietet die Möglichkeit technisch vermittelten landschaftlichen Erlebens an, das weitgehend auf den schweifenden Blick begrenzt bleibt – von jeder Möglichkeit der Bewegung in der Landschaft entbunden und auf den begrenzten Raum der Plattform verwiesen. Deshalb sprechen die Architekten zu Recht von einer »Inszenierung und Überzeichnung der vorhandenen Topografie« 40. Die Sensation der Hochgebirgswelt fällt damit ein Stück in die Bildhaftigkeit zurück, wenngleich diese auch pathischen Charakter hat, denn es ist nicht das visuelle Bild im engeren Sinne, das an dieser Stelle erlebbar wird, sondern die örtliche Situation im Hochgebirge, zu der auch das Empfinden leiblich angreifender Eindrücke der Luft, des Windes, der Temperaturen und des Lichts gehört. 18.4.2.5 Elbphilharmonie (Hamburg) Stadt gilt als das Andere der Natur. Schon deshalb ist die Übertragung des Landschaftsbegriffs auf die Stadt heikel. Wenn das Wesen der Landschaft aber darin besteht, dass eine Gegend aus einem größeren räumlichen Zusammenhang schauend und fühlend herausgelöst wird, um sie als atmosphärische Ganzheit denken und erleben zu können, liegen Ähnlichkeiten auf der Hand. Nur ist das Ausgangs-Material der Stadtlandschaft eben nicht Natur oder was für sie gehalten wird, sondern die Mannigfaltigkeit des technisch Gemachten und sozial in bunten Szenen Gelebten.
Projektbeschreibung LAAC (vgl. http://www.astearchitecture.com/; Abruf: 17. 05. 2010).
40
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18. · Landschaft
Was sich am Beispiel der Aussichtsplattform zeigen ließ, tritt nun noch deutlicher hervor: Landschaften werden bautechnisch und infrastrukturell, sozial, ökonomisch etc. konstruiert und bilden den Rahmen für die Konstitution subjektiven Raumerlebens. Dass dieses schließlich wieder instrumentalisierend und nach ökonomischer wie politischer Rationalität in die Fortschreibung der massenmedialen Konstruktion der Stadtlandschaft eingeschrieben werden kann, macht das Beispiel der Elbphilharmonie deutlich, die in Hamburg als Symbol der neuen Stadt auf dem Torso eines modernen Speichergebäudes aus den 1960er Jahren entsteht (vgl. Abb. 18.6). Das ekstatische Bauwerk fungiert in der Stadtsilhouette als Katalysator der symbolischen Verortung der Metropole im internationalen Wettbewerb um Rangplätze nach der Logik eines ästhetischen Dispositivs. 41 Der intendierte Eindruck des Bauwerks weckt Aufmerksamkeit und Faszination. Damit ruft es einen affektiven Impuls wach, der die Identifikation mit der Stadt befördert. Die Wahrnehmung des technisch Erhabenen schreibt sich in den Charakter dieser besonderen Stadtlandschaft ein. Sie wird als ein kollektiver Gefühlsraum konstruiert, um über hergestellte Atmosphären stadtpolitische Macht zu entfalten. Das Bauwerk wirkt schon in der Bauphase auf die Konstruktion einer Stadtatmosphäre ein, die symbolisch und gefühlsmäßig das neue Bild-Symbol der Stadt Hamburg in die Welt kommunizieren soll. Die illustrierten Beispiele haben deutlich gemacht, dass Kulturlandschaft ein Produkt der Herstellung wie Aneignung ist. Kulturlandschaften werden im Medium von Bild und Text imaginiert, ohne dass solche Phantasielandschaften in irgendeiner Gegend tatsächlich existieren müssen. Daneben werden Kulturlandschaften in der Realität der physischen Welt gebaut. Als kulturelle Gestalten werden sie aus dem Rahmen herrschender Bedeutungssysteme verstanden und erlebt. Dabei bauen die sinnlichen Brücken der Wahrnehmung die Synthesen zwischen dem leiblich-befindlichen Erleben einer Landschaft und den diesem Erleben bedeutungskomplementären geistig-kulturellen Landschafts-Konstrukten. Es gibt keine Landschaft diesseits des Erlebens, wie es keine Landschaft ohne symbolische Codierung gibt. Das Bauen von Häusern und anderen Bauwerken, von Anhöhen und Seen, aber
41
Vgl. dazu auch Hasse 2004.
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Erlebnislandschaften – imaginiert und inszeniert
Abb. 18.6: Im Bau befindliche Elbphilharmonie (Hamburg).
auch das Be-Bauen von Feldern und Äckern, reproduziert und variiert kultur-historische Bedeutungen und konstruiert damit einen semiotischen Rahmen für die sinnliche und affektive Konstitution einer Erlebnislandschaft.
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19. Bestattungsorte Zur Atmosphäre sepulkralkultureller Räume der Gegenwart
Der Tod ist ein »metaempirisches Ungeheuer« 1. Den Tod als solchen gibt es im Leben nicht. Man kennt ihn nur als Todes-fall der Anderen. Dann ist er vor allem Anlass, der uns »versichert, dass ›man selbst‹ ja noch ›lebt‹«. 2 Der individuelle Todesfall konfrontiert uns aber auch unausweichlich mit der Faktizität der Endlichkeit des Lebens. Der eigene, gleichsam wartende Tod entzieht sich strikt jeder Erfahrbarkeit. Dennoch ist er als eine »innere Immer-Wirklichkeit« 3 im Halbdunkel des Bewusstseins gegenwärtig. Über den Tod sagt Lévinas, »wir kennen ihn, ohne ihn denken zu können« 4. Auch nach Jankélévitch ist der Tod »ebenso undenkbar wie das Sein«. 5 Er ist »das Ende dessen, welches das Denkbare denkbar macht, und daher ist er undenkbar«. 6 Damit steigert sich seine Ungeheuerlichkeit ins Unermessliche. Deshalb sieht Emmanuel Lévinas in ihm »die emotionale Erschütterung par excellence« 7, die epistemologisch im Wissen um die absolute Nichterlebbarkeit des Todes sowie die Endlichkeit des eigenen Lebens begründet ist. So konstituiert der Tod eine außerordentliche Ordnung 8, die »jedem Trostversuch«9 widersteht. Der folgende Beitrag wird sepulkralkulturelle Praktiken in ihrer psychologischen Spannung zum naturwissenschaftlichen Wissen zum einen und dem aufgeklärten Geist der säkularisierten Welt zum anderen in den Blick nehmen. 10 Im Vordergrund wird die Funktion sepulJankélévitch 2005, S. 13. Heidegger 1993, S. 254. 3 Simmel 1925, S. 90. 4 Lévinas 1996, S. 100. 5 Jankélévitch 2005, S. 56. 6 Lévinas 1996, S. 101. 7 Ebd., S. 19. 8 Vgl. Jankélévitch 2005, S. 14. 9 Ebd. 10 Das Thema muss schon aufgrund seiner kulturell umfänglichen Vielfalt eingegrenzt 1 2
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19. · Bestattungsorte
kralkultureller Atmosphären stehen, die den von Tod und Trauer Betroffenen einen kulturellen Rahmen des Glaubens sowie der Bewältigung von Situationen des Todes vermitteln. Solche Atmosphären haben ihre konkreten Orte wie ihre situationsspezifischen Programme. Ich werde im Folgenden zeigen, dass diese Atmosphären und die sie vermittelnden Rituale, Dinge und Ästhetisierungen die Milieus sepulkralkultureller Todesbewältigung im engeren Sinne konstituieren. Rituale, Dinge und Ästhetisierungen fungieren dabei als atmosphärische Medien. Die dunkle Gewissheit um den eines nahen oder fernen Tages bevorstehenden Sturz »durch die Falltür des Nicht-Seins« 11 verbindet sich aus der anthropologisch begründeten Angst vor dem Tod mit einer gedämpften Denkwürdigkeit, die als »Stachel, den das Jenseits ins Diesseits treibt« 12, den Wesenskern jeden Philosophierens bildet (»meditatio mortis«). 13 Die Todesfurcht ist ambivalent. Zum einen speist sie einen Drang zum Wissen; zum anderen sucht sie Ablenkung, um der ins Leben einbrechenden Todesangst zuvorzukommen. So liegt es nahe, dass der in seiner Abgründigkeit bewusst werdende Tod zum Gegner des (Nach-) Denkens wird. Nicht erst der tatsächliche Tod bedeutet uns ein »verlorenes Leben« und damit jenen »völlige[n] Bankrott, der uns in Verzweiflung stürzt« 14; schon die Vorzeichen des Todes, die in Gestalt der Alten mit und unter uns sind, thematisieren die existenzielle »Beziehung zum Unendlichen« 15. Gerade sie ist deshalb Gegenstand mythischer Verklärungen. So dient die postmoderne Rückführung der Alten in die vitalen Kreisläufe des Lebens mehr der Ablenkung von postmortaler Unendlichkeit als einer Bewusstwerdung des Lebens zum Tode. Deshalb sieht Jean Baudrillard im Dritten Lebensalter eine Art Dritte Welt – »ein Ghetto, ein[en] Aufschub, ein Vorfeld des Todes« 16, das aus der Mitte der Vitalität jungen Lebens verbannt wird. Zwar verbleiben die Alten (habituell, soziologisch, kulturell und ökonomisch) tatsächlich in der werden. Aus diesem Grunde erfolgt zudem eine Konzentration auf die kulturellen Praktiken der Gegenwart. 11 Jankélévitch 2005, S. 13. 12 Ebd., S. 16. 13 Vgl. Schmitz Bd. I, S. 27 f. 14 Jankélévitch 2005, S. 162. 15 Lévinas 1996, S. 29. 16 Baudrillard 2011, S. 297.
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19. · Bestattungsorte
Mitte der Gesellschaft. Symbolisch und atmosphärisch werden sie aber im Sinne einer beinahe unmerklichen Ausleitung in institutionelle Sonderzonen verschoben. Selbst in den Universitäten – den Räumen der Jugend – kennen wir solche Quasi-Heterotopien, wenn sie auch mit normalisierenden Namen verschleiert werden (so z. B. U3L als Kürzel für die Universität des Dritten Lebensalters).
19.1 Sepulkralkulturelle Räume im Allgemeinen Der Begriff Sepulkralkultur »leitet sich vom lateinischen sepulcrum ab und bedeutet Grab, Grabstätte und umfasst alle kulturellen Erscheinungen im Zusammenhang mit Sterben, Tod, Bestatten, Trauern und Erinnern« 17. Die Sepulkralkultur dient der Ritualisierung von Praktiken der tatsächlichen wie symbolischen Ausleitung Verstorbener aus der physischen und sozialen Welt der Lebenden. Die kulturspezifisch variierenden Übergangsrituale dienen dabei auch der Bewältigung furchtwie angstbesetzter Vorstellungen des Todes. In der Sepulkralkultur verbinden sich pragmatische Gründe der Hygiene mit dem menschlichen Bedürfnis, die Unerträglichkeit der Vorstellung beherrschbar zu machen, dass sich das individuelle Leben mit dem Tod im Nichts einer unbegreiflichen Endlosigkeit verlieren wird: »Ohne Fantasmen der Unsterblichkeit oder doch zumindest einer gewissen Fortdauer über den allzuengen Horizont seines Erdendaseins hinaus kann der Mensch nicht leben.« 18
19.1.1 Zum Begriff der (sepulkralkulturellen) Atmosphäre Sepulkralkulturelle Atmosphären (zum Begriff der Atmosphäre vgl. auch Kapitel 11 und 12) sind Gefühle, die in Situationen wurzeln, welche im Rahmen der rituellen und symbolischen Todesbewältigung stehen. Gerade in der Sepulkralkultur werden sie oft durch synästhetische Eindrucksqualitäten gegenwärtig, die dem Erleben situierter Dinge anMuseum für Sepulkralkultur (vgl. http://www.sepulkralmuseum.de/de/besucher_ info_museum_fuer_sepulkralkultur/sepulkralkultur.html; Abruf: 19. 02. 2013). 18 Assmann 2000, S. 14. 17
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Sepulkralkulturelle Räume im Allgemeinen
haften. Die Symbole der Grabarchitektur verdanken ihre immersive Wirkung oft solchen kulturell definierten bzw. ästhetisch formatierten Verklammerungen von Gefühl und Bedeutung, so zum Beispiel die allegorischen Darstellungen der großen Transversale (halboffene Tür, Schiff, Schmetterling etc.). In der Verbildlichung existenzieller Auflösung ergreifen sie leiblich. Zur physischen Realität eines jeden Friedhofs gehört neben der Mannigfaltigkeit steinerner Gedenk- und Erinnerungszeichen eine die Schwere sepulkralkultureller Atmosphären unterstützende Grünraumgestaltung, die sich insbesondere der pflanzlichen Umfriedung des Friedhofs widmet. Die Atmosphäre eines Friedhofs ist auf andere Weise gegenwärtig als die sich in seinem Raum befindenden Dinge. Sie ist nicht lokalisiert wie das Grab oder Mausoleum; sie umwebt vielmehr den Raum des Friedhofs wie den des Grabes, hüllt je spezifische Orte ein und macht sie zu situativ besonderen, gefühlsmäßig aufgeladenen Orten.
19.1.2 Atmosphären als mythische Vermittler Atmosphären sind Träger von Bedeutungen, die in sepulkralkulturellen Räumen mythischen Charakter haben. Mythen fungieren als Gegenlager zur Welt der tatsächlichen Sachverhalte. Insbesondere bedeuten die Heterotopien nach Michel Foucault eine »zugleich mythische und reale Bestreitung des Raumes, in dem wir leben« 19. Und so ist vor allem der Friedhof ein heterotoper Raum, dessen Atmosphären den Mythos eines über den Tod hinausgehenden Lebens entfalten. 20 Mit anderen Worten: Der Mythos birgt die narrative Essenz dessen, was atmosphärisch an einem Ort spürbar wird. Sepulkralkulturelle Orte sind aber nicht auf den Friedhof beschränkt. In der Gegenwart haben wir es (innerhalb wie außerhalb traditioneller Bedeutungsordnungen) mit hoch diversifizierten Orten der Trauer, Beisetzung sowie des Totengedenkens zu tun, die sich mythisch wie atmosphärisch je spezifisch konstituieren. Der christliche Schöpfungsmythos erklärt die Entstehung irdischen Lebens und des Kosmos nicht als astronomische, biologische 19 20
Foucault 1990, S. 40. Zur heterotopen Charakter von Friedhöfen vgl. auch Hasse 2006.2.
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19. · Bestattungsorte
und evolutionäre Naturgeschichte; er verkündet eine Erzählung, die im Gegensatz zum aufgeklärten Wissen steht. Zwar werden die alten Göttermythen in der Moderne entwertet. In der Frage des Todes sind sie aber nicht in Gänze durch das wissenschaftliche Wissen ersetzt worden, vielmehr stehen sie in einem epistemologischen Parallelverhältnis zu ihm. Die Antworten der Wissenschaft bieten auf die Frage nach dem Tod weder Trost noch utopischen Halt. Sie hinterlassen ein Vakuum, das der Mythos füllt. Dessen sozialpsychologische Aufgabe besteht darin, das schon lange populäre naturwissenschaftliche Wissen um den Tod aus der sachlichen Welt der Fakten verklärend in eine Gegenwelt des Glaubens zu verschieben. Zwar spielen die christlichen Religionen 21 im westlichen Kulturkreis unter den religiösen Mythen 22 noch eine zentrale Rolle. Aber mit der Pluralisierung postmoderner Sinnorientierungen erweitert sich auch das (nicht mehr zwingend allein religiöse) Spektrum der Sepulkralkultur in semi-säkulare Bereiche, die etwa nach pantheistischen Jenseitsvorstellungen sakralisiert und remythologisiert werden. Damit besteht der anthropologische Grund des Mythos auch in der säkularen Moderne fort. Hans Blumenberg sieht ihn in einer »Befreiung von Furcht«23: »Hier wie dort, in ihren weltweiten wie zeitweiten Übereinstimmungen, zeigt der Mythos der Menschheit dabei, etwas zu bearbeiten und zu verarbeiten, was ihr zusetzt, was sie in Unruhe und Bewegung hält.« 24 Diese Hilfe bieten in der Gegenwart nicht mehr allein religiöse Unsterblichkeitsmythen, sondern vermehrt auch pantheistische Mythen, in denen der Tod als natürliche Transformation erklärt wird und als Phase eines Natur-Prozesses seine Schrecklichkeit verlieren soll. Kurt Hübner macht darauf aufmerksam, dass der alte (z. B. griechische) Mythos polytheistischen Charakter hatte, die Mythen der christlichen Religion sich aber dadurch vom alten Mythos unterscheiden, dass an die Stelle des Polytheismus der Monotheismus getreten ist (vgl. 2011, S. 381). 22 Zwar gewinnt der religiöse Mythos sein Wissen aus der Überlieferung und nicht wie die Wissenschaft aus der methodisch angeleiteten Erfahrung. Dieser Umstand darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die Wissenschaft mit ihren paradigmatischen Narrativen nur anerkennungsfähig sein kann, solange sie sich auf die Bereitschaft einer Gemeinschaft stützen kann, ihrer Logik, ihren Vorannahmen und impliziten Werten nicht nur in der Teilhabe am Wissen, sondern auch affektiv zu folgen, so dass auch im Denksystem der Wissenschaften »ein letzter Widerschein des Mythos« lebendig geblieben ist (Picht 1986, S. 530). 23 Blumenberg 2007, S. 27. 24 Blumenberg 2006, S. 303. 21
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Sepulkralkulturelle Räume im Allgemeinen
Pantheistische oder esoterische Unsterblichkeitsmythen sollen aber nicht nur eine Antwort auf die Erklärung letzter Fragen bieten. Sie stehen auch in einem direkten kompensatorischen Bezug zur nüchternen Welt der Systeme, in der das schier uferlos ausgebreitete wissenschaftliche Wissen eine Welt unhintergehbarer Fakten geschaffen hat. Deshalb muss sich der Glaube an ein Leben nach dem physischen Tod an den Orten der Toten und des Todes atmosphärisch als emotional ent-sorgender (eine die Sorge aufhebender) Mythos vermitteln. So werden die sepulkralkulturellen Atmosphären stets von der mythischen Kraft einer (irrationalen) Hoffnung getragen, weshalb »alle ›Unsterblichkeitslehren‹ des Mythos« 25 negative Bedeutung haben, weil sich das unreflektierte Bewusstsein weigert, eine Trennung zu vollziehen, die »durch eine bestimmte Form der kausalen Analyse – gefordert wird«. 26 Diese Weigerung der Anerkennung der Finalität des biologischen Todes findet im Unsterblichkeitsmythos christlicher wie pantheistischer Lehren ihren Ausdruck, in dem auch ein Theorieverzicht steckt, dessen Leerstelle von der Autosuggestion des Glaubens an ein ewiges Leben gefüllt wird. Der Mythos offenbart deshalb auch nichts, dient nach Cassirer vielmehr der Verhüllung 27 und nach Roland Barthes der Deformation 28 oder Verbiegung 29 realitätsbezogener Gewissheiten. Ob Deformation, Verhüllung oder Verbiegung – die sozialpsychologische Funktion des Mythos ist die Ent-sorgung. Er soll – und dies mit besonders suggestiver Macht in den sepulkralkulturellen Mythen – vernebeln, was ohne seine entlastende Hilfe unverstellt und unerträglich zur Erscheinung käme. Im atmosphärischen Raum der Toten und des Todes verdankt sich die Macht des Mythos insbesondere dem Numinosen, das in »schwebender, ruhender Stimmung versunkener Andacht« 30 aufgeht. Das ehrfürchtig-demütig Zehrende des Numinosen bezieht seine atmosphärische Macht aus der gelebten Zeit, die auf dem Erlebnishintergrund emotionaler Betroffenheit vom Tod und/ oder einem Todesfall unter den Einfluss bleierner Lähmung gerät. Zwar liegt der (abstrakte) Tod immer in einem lagezeitlichen Jenseits Cassirer 2002.1, S. 45. Ebd. 27 Vgl. ebd., S. 46. 28 Vgl. Barthes 1964, S. 267. 29 Vgl. ebd., S. 277. 30 Otto 1924, S. 12. Otto bezeichnet das Numinose als ein Gefühl des mysterium tremendum. 25 26
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19. · Bestattungsorte
und damit einer unbestimmten Zukunft. Das sich an einem sepulkralkulturellen Ort affektiv aktualisierende Verhältnis zum Tod entfaltet sich dagegen in einer Gegenwart, in der die historische Relationalität eines Früher und Später belanglos wird. In der Dauer gegenwärtigen Da-seins an einem Grab (mit existenzieller Bedeutung für das eigene Leben) öffnet sich atmosphärisch eine modalzeitliche 31 Wirklichkeit, in der gelebter Raum (Dürckheim 32) und gelebte Zeit (Minkowski 33) zur Einheit zerrinnen. In einem suchend-ansetzenden (aber in diesem Anfangen steckenbleibenden) Gefühl für ein Vorbei, Nicht-mehr und Nie-mehr verdichtet sich die numinose Atmosphäre in ihrer abgründigen Schwere.
19.2 Sepulkralkulturelle Orte und ihre Atmosphären Atmosphären sind in ihrem räumlichen Charakter ortsgebunden; deshalb konstituieren sie sich an unterschiedlichen sepulkralkulturellen Orten auf je spezifische Weise. Damit stellt sich die Frage, wie Atmosphären medial inszeniert und mythisch aufgeladen werden. Dabei wird zwischen heterotopen und extraheterotopen Räumen zu unterscheiden sein, denn in der Gegenwart ist nicht mehr jeder Begräbnis-, Trauer- und Totengedenkort ein »anderer Raum« im Sinne Foucaults. Auf diesem Hintergrund zwingt die durchzuführende Unterscheidung zu einer geschärften Aufmerksamkeit gegenüber der Art und Funktion situationsspezifischer Atmosphären.
19.2.1 Heterotope Räume und ihre Atmosphären Aus Platzgründen müssen die folgenden Beispiele eng begrenzt bleiben. Zunächst werde ich den Friedhof als anderen Raum par excellence In der Modalzeit prägen Erinnerung und Erwartung die affektive Gegenwart eines Ortes und nicht lagezeitliche Relationen auf einer mathematischen Zeitachse. Hermann Schmitz hat in seiner Philosophie der Gegenwart die Bedeutung der Modalzeit im Unterschied zur Lagezeit und Dauer herausgestellt und damit die affektive Dimension der gelebten Zeit im Sinne von Minkowski betont (vgl. Schmitz Bd. I, insbes. § 18). Zum Begriff der gelebten Zeit vgl. Minkowski 1972. 32 Dürckheim 2005. 33 Minkowski 1972. 31
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Sepulkralkulturelle Orte und ihre Atmosphären
in seiner atmosphärischen Situierung skizzieren. In einer Vergrößerung des Maßstabes werden sich drei Mikrologien anschließen: erstens zum Einzelgrab, zweitens zum Kolumbarium bzw. zum Urnengrab und drittens zum Mausoleum. Kurze Anmerkungen zu Gemeinschaftsfeldern und Gedenkorten beschließen das Kapitel. 19.2.1.1 Der Friedhof Schon in formalästhetischer Hinsicht gibt sich der Friedhof in der Regel als klar umgrenzter anderer Raum zu erkennen. Innerhalb seiner Grenzen gelten andere Bedeutungen als außerhalb von Mauer, Zaun und Hecke. Im weltlichen Raum der Sachlichkeit wissen die Menschen um die Finalität des biologischen Todes. Unter dem Einfluss der religiösen Atmosphäre des Friedhofs und des durch sie suggerierten Unsterblichkeitsmythos wird die Unzeit des Todes in eine Latenzzeit umgedeutet. Die Verstorbenen sind aus der Welt der Lebenden nicht für immer ausgeräumt; sie befinden sich auf einer Wanderung in eine andere Welt, in der sie eines fernen Tages wieder zu neuem Leben erweckt werden. »Kaum ein anderes Bild hat sich im Laufe der Metaphorisierung des Todes stärker eingeprägt als das Bild der Reise, des Übergangs, der Passage.« 34 Diese beginnt in einem rituellen Sinne mit der (zumeist) gehenden Begleitung eines Verstorbenen auf seinem letzten Weg. Das Ritual bedeutet symbolisch wie synästhetisch eine verabschiedende Ausleitung 35 in eine mythische Sphäre des Numinosen. Mit der Grablegung oder Urnenbeisetzung wird die Bewegung des Toten und seine Ausräumung aus der Welt der Lebenden rituell zum Abschluss gebracht. Im Vollzug des Begräbnisses konstituieren sich im Wesentlichen zwei miteinander verknüpfte Atmosphären: eine der Trauer, die sich synästhetisch durch die Bewegungssuggestion des schweren und langsamen Ganges der Trauergemeinde vermittelt und je nach individueller Betroffenheit vom Todes-Fall in eine Stimmung der Trauer mündet. Der um-friedete Raum des Fried-hofs ist in Folge seiner ästhetischen Programmierung ein Raum numinoser Atmosphären, der durch Assmann 2000, S. 116. Im Niederländischen heißt das zum Krematorium gehörige Trauerzentrum »Uitvaarcentrum«; kaum deutlicher könnte sich im Wort das Programm der Verabschiedung vom Toten als Bedeutung einer Ausfahrt aus der Welt der Lebenden bekunden.
34 35
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schwere und tiefe Gefühlstöne geprägt ist. Die Ästhetik seiner gesamten Architektur, Raumordnung und Bepflanzung suggeriert den Friedhof als programmatischen Raum des Übergangs, in dem sich der undenkbare Abgrund des Seins 36 atmosphärisch vergegenwärtigt. Ein Friedhof bildet keine tatsächliche, sondern eine mythische Weiche zwischen zwei Welten. So situiert sein ästhetisches Gesamtarrangement ein »Pufferkonzept« 37, das der psychologischen Abfederung aufgeklärten Wissens um die finale Endlichkeit menschlichen Lebens dient. Insbesondere die Grünraumplanung des Friedhofs im frühen 19. Jahrhundert illustriert die ästhetische Praxis fragiler Ausbalancierung eines gefühlsambivalenten Raumes. Die Grünraumästhetik der neu angelegten außerstädtischen Friedhöfe war auf die Herstellung einer Atmosphäre der Faszination und Demut ausgelegt. In den zurückliegenden 100 bis 150 Jahren konnte sich dieses atmosphärisch mikrolandschaftliche Programm vor allem in der Herausbildung eines mächtigen Baumbestandes und vielfältigen Landschaftsbildes eindrucksvoll entfalten. In seinem mehrbändigen Werk zur Gartenkunst merkte Hirschfeld zur Gestaltung von Begräbnisplätzen an, dass sie »ruhige, einsame und ernste« Gegenden sein mögen. Hirschfelds Szenen waren weniger Schau- als atmosphärische Erlebnisräume, die ihre suggestive Gefühlsmacht über die Inszenierung synästhetischer Charaktere entfalteten und einen Gegensatz zur »geräuschvollen Bühne der Welt« bilden sollten. Der Friedhof sollte als gefühlsambivalenter Raum schon entworfen werden, um schließlich als atmosphärisches Milieu des Numinosen erlebt werden zu können. So hält die Atmosphäre eines Friedhofs bis heute das unsagbar Abgründige des Todes auf Distanz, ohne die von seiner Gegenwart ausgehende sedierende Lähmung durch die Macht des Numinosen aufzuheben. Zwar ist der Friedhof ein Begräbnisort, aber als solcher ein Raum der Lebenden, die aus der Atmosphäre des Numinosen stets in die Welt des Profanen, Banalen, Trivialen und Gewohnten wieder zurückkehren müssen. In außerordentlich zudringlicher Weise kommt der heterotope Charakter eines ästhetisch inszenierten Begräbnisplatzes in seiner ganzen affektiven Ambivalenz des Numinosen in Böcklins Toteninsel zur Nach Vladimir Jankélévitch kommt der Tod dem Denken des Todes stets zuvor (vgl. 2005, S. 56). 37 Ebd., S. 30. 36
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Geltung (vgl. auch Kapitel 20). Im Bild der Insel spitzt sich der heterotopologische Charakter des Friedhofs allegorisierend zu. Das Gemälde macht in der Genese seines ästhetischen Ausdrucks auf die Bedeutung von Synästhesien in der Wahrnehmung des Numinosen aufmerksam. Die maximale Zudringlichkeit der ästhetischen Inszenierung des Kunstwerkes verdankt sich aber erst einer Korrektur der Haltung einer Figur, die Böcklin in der 1888 vollendeten letzten von fünf Versionen vornimmt. Während der den Sarg begleitende Mönch zunächst aufrecht hinter dem Sarg auf dem Nachen steht, nimmt er in der letzten Version eine leicht nach vorne gebeugte Haltung ein. Erst dank dieser habituell verbildlichenden Verleiblichung der Trauer spitzt sich der machtvoll immersive Eindruck des Gemäldes gefühlsmächtig zu. Dabei ist es nicht die körperliche Gestalt des Mönches, die eine so große Wirkung entfacht, sondern die mit einem Schlage an seiner leiblichen Disposition erkennbar werdende affektive Betroffenheit. Wenn die Änderung auch nur ein Detail betrifft, so führt sie doch zu einer thematischen Akzentuierung der Bild-Atmosphäre im Ganzen. Vom Habitus des Mönchs geht eine Bewegungssuggestion aus, die das affektive wie symbolische Bildverstehen stimmt. Bewegungssuggestive wie insbesondere synästhetische Ansprachen der Wahrnehmung finden sich auf Friedhöfen in zahllosen Varianten. So appelliert das zu Boden herabhängende Laubwerk von Trauerweide und Trauerbuche an jenes leibliche Gefühl des Niedergedrückt-seins, das der Stimmung der Trauer entspricht. Und die große, eindrücklich ästhetisierte Steinskulptur auf einem Grab bedeutet im kulturellen Bild der Ewigkeit des Steins die Unvergänglichkeit des Verstorbenen, dessen Gedenken die Inszenierung dient. 19.2.1.2 Das Einzelgrab – Ort des Begräbnisses Im mikrologischen Maßstab des Einzelgrabes reproduzieren sich die heterotopologischen Merkmale des Friedhofs. Wie dieser ist auch das Grab im Allgemeinen umfriedet. 38 Schon ein flacher Saum in den BoHeute rechtskräftige Friedhofssatzungen lassen nach einer mitunter recht rigiden Gestaltungsordnung (vor allem in Deutschland) nur bestimmte Materialien und Art der Umfriedung zu. Vor allem in früheren Jahrhunderten war es oft üblich, Grabumfriedungen durch gusseiserne Zäune kenntlich zu machen. Dadurch wurden nicht nur symbolisch, sondern tatsächlich separierte Räume innerhalb des anderen Raumes geschaffen.
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den eingelassener Steine schafft eine räumliche Begrenzung, die sich als Medium der Individualisierung, Konkretisierung und emotionalen Verdichtung des Numinosen innerhalb des Friedhofs anbietet. Der Mythos des Jenseitigen und der Auferstehung bleibt im atmosphärischen Raum des Friedhofs in einem unpersönlichen Sinne abstrakt; über den Namen einer Person verbindet er sich (optional) dem emotionalen Gewicht der Betroffenheit. Das Grab ist gleichsam der persönliche Raum im öffentlichen Raum des Friedhofs, personalisiert durch die Grablegung eines individuellen Toten. Die Erdbestattung des Leichnams vollzieht am Ende einer ganzen Kette ritueller Verortungen die Umräumung des Toten in die Erde. Die Elemente der rituellen Abfolge vorausgehender sepulkralkultureller Handlungen werden an ihrem je eigenen Ort atmosphärisch aufgeladen. In der Situation der Grablegung konzentrieren sich die Gefühle der Trauer zu machtvoll ergreifender Schwere. Diese Konzentration bahnt sich im rituellen Vollzug der Beerdigung synästhetisch an. BeERD-igung bedeutet ja nicht nur symbolisch die Rückkehr zum Grund (zum Grund der Erde wie zum Grund des Seins) 39. Die Erde veranschaulicht dabei das Leben spendende und Leben wieder aufnehmende Element. Sie wird physisch als materielle Rückführung in die Erde vollzogen und von der engenden Atmosphäre des »Rückgang[s] in den dunklen, unterweltlichen Grund, welcher das ganze oberirdische Dasein der Menschen trägt« (Hegel) 40 überwölbt. Die Einschließung des Toten in den hölzernen Sarg begünstigt wiederum die Abstraktion von der individuellen Person und kommt der atmosphärischen Konzentration einer reinen Stimmung der Trauer 41 entgegen. Deren gefühlsmäßige Ungerichtetheit (d. h. ihre die gesamte Stimmung ergreifende Macht) hat zwar ihren Grund im Entzug einer Person aus dem Leben und allen sozialen Kreisen; die reine Stimmung der Trauer löst sich atmosphärisch aber vom Fall und überspannt alle anderen aktuellen wie im modalzeitlichen Rahmen der Trauer keimenden Stimmungen. Vgl. Lévinas 1996, S. 100. Zit. bei Kirchner / Michaëlis 2004, S. 542. 41 Trauer zählt Hermann Schmitz zu den akathartisch bedrängenden Erregungen. Dies »sind solche, die – anders als Freude, Wonne oder Bewunderung – den Betroffenen überwiegend leiblich engend ergreifen und so in drangvolle Verlegenheit stürzen, ohne, wie Zorn und Scham, von sich aus kathartisch, d. h. darauf angelegt zu sein, sich auszulassen und dadurch aufzuheben, wie der Zorn im kathartischen Racheakt, die Scham in der Selbstvernichtung des Beschämten« (Schmitz Bd. III/4, S. 588). 39 40
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Begräbnisrituale sind im sepulkralkulturellen Kontext auf je spezifische Weise mit den natürlichen Elementen verbunden. Es ist Aufgabe der Rituale, diese atmosphärische Macht zu rahmen, in Bahnen zu lenken und sogar noch zu steigern – so etwa in der Geste der Trauernden, eine symbolische Schaufel Erde auf den ins Grab abgesenkten Sarg zu werfen. Die Bedeutung ist zweifach codiert. Sie setzt die Vergänglichkeit des Lebens und seine Rückverwandlung zu Erde in Szene und verbildlicht zugleich den symbolischen Beginn der (tatsächlichen) Schließung des Grabes. Beide Bedeutungen vermitteln sich synästhetisch im ästhetischen Arrangement des Rituals. »Bei jeder Grablegung ist die Einsenkung des Toten in die Erde das eigentlich Gemeinte.« 42 Das geschlossene Grab ist weniger der Ort des Todes, wie er sich im Raum des Friedhofs zu spüren gibt, als vielmehr der Ort eines individuellen Toten. Eines der traditionell wichtigsten Medien der Personalisierung der numinosen Atmosphäre des Grabes ist die Grabarchitektur, als deren prädestiniertes Material der Stein bzw. das Steinerne fungiert. Die Grabarchitektur dient der tatsächlichen und symbolischen Verbindung eines ober- und eines unterirdischen Raumes. In der Erde ist das Grab und über ihm ist der Stein. Hans Gerhard Evers bezeichnet das Grab als »Zwitterwesen zwischen Bau und Erdmasse«. 43 Jede Schaffung eines Grabes vollzieht sich bauend im Heidegger’schen Sinne und ist darin Ausdruck des Wohnens im Geviert. So konstituiert sich am Ort des Grabes auch eine Beziehung zum Raum als »Element des kultisch handelnden Menschen« 44. Der Stein bietet sich in seiner doppelten Symbolik als prädestinierter Stoff der (Grab-) Architektur, der Konstruktion leiblich spürbarer Atmosphären und Stimmungen, mit anderen Worten, als Medium sepulkralkulturellen Bauens an. 45 Zum einen symbolisiert der Stein in seiner Festigkeit und Widerständigkeit das Überdauernde schlechthin. Dabei kommt es nicht auf Ewigkeit im kosmologischen Sinne an; schon die Überdauerung einiger Generationen macht den Stein zum Medium der (relativen) Ewigkeit. Evers 1939, S. 81. Ebd., S. 80. 44 Ebd., S. 82. 45 Dass aber auch der Stein der Zersetzung im Laufe der Zeit zum Opfer fällt, trägt nur in jenen Ländern zur Steigerung der numinosen Atmosphäre der Gegenwart des Todes bei, in denen nicht bürokratische Vorschriften dem Kippen von Kreuzen, Einbrechen von Grabplatten und Zerbröckeln von Figuren durch Entfernung oder Reparatur zuvorkommen. 42 43
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Zum anderen symbolisiert der Stein eine Schwere, die zunächst eine physische Eigenschaft des Materials ist. »Die Materie ist schwer, sie drängt abwärts, will formlos am Boden sich ausbreiten.« 46 Diese physische Schwere überträgt sich synästhetisch auf das atmosphärische Gefühl der Schwere. 47 Wölfflin sagte, »die Schwere scheint uns zu überwältigen. Die Sprache hat dafür den Ausdruck: Schwermut, gedrückte Stimmung usw.« 48 Der Stein ist damit in seiner sepulkralkulturellen Verwendung als Material der Grabarchitektur (vom Grabstein bis zum Baustoff des Mausoleums) Medium der Einverleibung trauerbedingter Gefühle der Schwere und des Niedergedrücktseins. 19.2.1.3 Feuerbestattung – Kolumbarien und Urnengräber Die Atmosphäre einer Urnenbeisetzung unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von der einer Grablegung. Die Urne ist mit der Kremationsasche eine Abstraktion von der Person eines Verstorbenen. Der zur Durchführung einer Grablegung in einen Sarg eingeschlossene Leichnam ist dagegen trotz seiner Unsichtbarkeit konkret. Auch die Atmosphäre der Trauerfeier, die der Einäscherung vorausgeht, ist kaum mit der einer Grablegung vergleichbar. Die Differenzen resultieren insbesondere aus der segmentierten zeitlichen Struktur einer Feuerbestattung 49. Darin spiegeln sich technische Anforderungen an eine zeitgemäße Form der Einäscherung wider. Im Allgemeinen folgt daraus aber auch eine mindestens zweifache Gliederung der sepulkralkulturellen Atmosphäre der Trauer und Verabschiedung. Folglich bleibt der erste (rituell besonders bedeutungsvolle) Teil der Trauerfeier nicht nur prozedural, sondern auch affektiv unabgeschlossen, denn in der Wölfflin 1999, S. 17. Hermann Schmitz spricht diese Übernahme einer sich zum Beispiel durch die Gestalt oder Bewegungssuggestion eines wahrnehmbaren Ausdrucks eines Dings oder auch eines Halbdings in das eigenen Befinden mit dem Begriff der leiblichen Kommunikation an (vgl. auch Schmitz Bd. III/5, Kapitel 2). 48 Wölfflin 1999, S. 18. 49 Die Tradition der Feuerbestattung geht weit in die vorchristliche Zeit zurück. Die nahezu rückstandslose Auflösung des Toten und sein Aufgehen im Medium der Luft und des Bodens war dabei mit der Vorstellung des Todes kompatibel; bei den Vorsokratikern (etwa Demokrit und Epikur) galt die Seele als vergänglich wie der Körper, nach dessen Ende auch sie nicht mehr als existent angesehen wurde (vgl. Capelle 1968, S. 425). Erst bei Platon trennt der Tod die unsterbliche Seele vom Leib ab (vgl. Vorgrimler 2008, S. 628). 46 47
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späteren Beisetzung der Urne muss der atmosphärische Bogen, der sich in der Situation der Trauerfeier aufgespannt hat, in gewisser Weise wieder aufgenommen werden. 50 Durch die Dauer zwischen Kremation und Urnenbeisetzung hat sich die sepulkralkulturelle Situation des modalzeitlichen Erlebens jedoch so weit verändert, dass von einer direkten affektiven Fortführung des Verabschiedungs- und Beisetzungsrituals nicht die Rede sein kann. Schon weil nach der Einäscherung der Tote im engeren Sinne gar nicht mehr existiert, muss sich das Ritual einem veränderten Bezugsobjekt widmen. Die Elemente Feuer und Luft rücken nun ins mythische Zentrum des rituellen Umgangs mit der Urne und nicht – wie in der typischen Grablegung – die Erde. Der Körper des Toten ist durch die Gewalt des Feuers in Asche transformiert und damit ins Element Luft ausgeräumt worden. Dennoch erfolgt die Beisetzung der Urne in der Regel in die Erde oder die steinerne Wand, die in einem übertragenden Sinne auch dann noch dem Boden zugerechnet wird, wenn sie aus Holz oder anderen Baustoffen besteht. Der für die Sepulkralkultur elementare Bezug zu den Elementen der Natur ist uneindeutig und das mythische Band, das den gesamten sepulkralkulturellen Akt verklammert, gelockert. Eine Innovation stellt die Schaffung des Hamburger Bestattungsforums Ohlsdorf dar, das die zeitliche und räumliche Bündelung von »Abschiednahme, Trauerfeier, Einäscherung und Beisetzung der Urne« anbietet. Wenn der Grund für diese Optimierung sepulkralkultureller Dienstleistungen auch in eher praktischen Erwägungen liegen mag (Zusammenhang der Gruppe der Trauernden), so bedeutet die organisatorische Zusammenfassung üblicherweise zeitlich zerrissener Phasen doch auch eine atmosphärische Rahmung in den Kontext einer nur noch wenig segmentierten Situation. 51
Zu einer weiteren zeitlich isolierten und herausgehobenen Phase im Begräbnisprozess kommt es dann, wenn sich Hinterbliebene dazu entschließen, dem Akt der Übergabe des Sarges ans Feuer in einem dafür geeigneten Raum des Krematoriums beizuwohnen. Nach Auskunft des Geschäftsführers der Feuerbestattungen Weser-Ems GmbH & Co Kg, Herrn Willm Vieth, komme dies bei besonders schwer zu verarbeitenden Todesfällen vermehrt vor. Der Verfasser dankt Herrn Vieth für detaillierte und pietätvolle Einblicke in den sepulkralkulturellen wie technischen Ablauf einer Kremation. 51 Vgl. Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt Hamburg (Hg.): Hamburger Bestattungsforum Ohlsdorf; http://www.hamburg.de/bsu/3147712/friedhof-ohlsdorf.html (Abruf: 20. 03. 2013). Ich danke Herrn Norbert Fischer für hilfreiche Hinweise zur Kultur der Feuerbestattung. 50
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Alle sepulkralkulturellen (alten wie jüngeren) Praktiken der Einäscherung stehen im Prinzip im Widerspruch zur katholischen Glaubenslehre. »Die römisch-katholische Kirche erließ 1886 ein striktes Verbot der Feuerbestattung. Es betraf sowohl die Teilnahme von Kirchendienern an einer Feuerbestattung, wie das Spenden von Sterbesakramenten für eine Person, die eine Feuerbestattung wünschte.« 52 Und noch heute plädiert die katholische Kirche für die Erdbestattung: »Die Erdbestattung empfiehlt sich für den Christen, weil sie der Bestattung unseres Herrn Jesus Christus entspricht […] Die Kirche sieht in der Erdbestattung eine besondere Ähnlichkeit mit dem Begräbnis des Herrn.« 53
Das generelle kirchliche Verbot wurde erst im Jahre 1963 durch eine Instruktion des Heiligen Offiziums aufgehoben. 54 Die Vorbehalte der Kirche gegenüber der Einäscherung haben in ihrem Kern atmosphärische Gründe, denn im situativen Erleben der Einsenkung des Sarges in die Erde spannt sich die synästhetische Brücke zum Glauben an die Auferstehung und das ewige Leben mit großer atmosphärischer Macht auf. Daher lässt sich der mit der Kremation verbundene Mythos auch weniger in religiösen als nicht-religiösen Orientierungen (kulturhistorisch etwa in der griechischen Mythologie) verorten. Die Elemente Luft und Erde treten nun in eine andere – nicht-religiöse – Beziehung zur Todesbewältigung als (die Erde) in der christlichen Grablegung. In der griechischen Mythologie war es Phaeton, der mit dem Himmelswagen der Sonne zu nahe kam, verbrannte, zur Erde niederstürzte und von seinen Schwestern, den Heliaden, beweint wurde. 55 In modernen pantheistischen Glaubensmythen rücken Luft und Erde in einen quasiökologischen Bedeutungszusammenhang, wonach der Verstorbene mit der Beisetzung seiner Asche in die Naturkreisläufe wieder zurückgegeben wird. Ein atmosphärischer Unterschied besteht schließlich zwischen der Verortung der Urne in einem Urnengrab einerseits und einem Kolum-
Fischer, Norbert: Feuerbestattung und Krematorium; http://www.n-fischer.de/feuer_ 4.html (Abruf: 22. 02. 2013). 53 Bistum Augsburg: Feuerbestattung; http://www.bistum-augsburg.de/index.php/ bistum/Hauptabteilung-VI/Glaube-und-Lehre/Glaubenslehre/Glaubensfragen/ Feuerbestattung (Abruf: 21. 02. 2013). 54 Vgl. ebd. 55 Vgl. Bellinger 1989, S. 399. 52
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Abb. 19.1: Moderne Kolumbarien (Friedhof Winschoten / Niederlande).
barium andererseits. Während sich das Urnengrab atmosphärisch mit der christlichen Bedeutung der Leben spendenden und wieder aufnehmenden Erde verbinden lässt, führt die Abstellung der Urne in einem Kolumbarium zu einer von Grund auf anderen atmosphärischen Einbettung. Die im Raum moderner Friedhöfe angelegten Kolumbarien (vgl. Abb. 19.1) bieten Hinterbliebenen zwar die Möglichkeit der Trauer und des Totengedenkens, auch bleibt die Rahmung durch die Atmosphäre des Friedhofs gewahrt. Indes ist der Ort des Kolumbariums eher ein gesellschaftlicher. Schon seine Architektur und räumliche Dichte suggeriert die Gegenwart einer imaginären Gemeinschaft Verstorbener im oberirdischen Raum der Lebenden. Moderne Kolumbarien sind daher Orte eines gleichsam pragmatisierten Totengedenkens, in denen sich numinose Atmosphären oft nicht entfalten können. Aus dem Kontext sepulkralkultureller Traditionen ist die Einäscherung selbst gänzlich abgekoppelt. Zwar ist auch sie von einer Atmosphäre umgeben. Sie ist jedoch durch Abläufe geprägt, die sich dem Erleben Trauernder bzw. vom Tod betroffener Menschen entziehen und in der Regel ohne die Anwesenheit Hinterbliebener innerhalb des 371 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
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Krematoriums an der Schnittstelle zur Kremationstechnik vollzogen werden. 19.2.1.4 Mausoleen Mausoleen, die in vielen Religionen und Kulturen seit Jahrhunderten zur Totenehrung errichtet werden, sind architektonisch im Allgemeinen aufwendig inszenierte Begräbnisorte. Sie sind (bedingt) begehbare Begräbnishäuser, die von wohlhabenden Großbürgern auf den Friedhöfen errichtet worden sind, die in Nordeuropa um die Mitte des 19. Jahrhunderts vor den Toren der Städte angelegt wurden. Bis auf wenige Ausnahmen bilden sie in der Gestaltung der Begräbnisplätze eher die architektonische Ausnahme (vgl. Abb. 19.2) 56. Einen reinen Mausoleen-Friedhof findet man zum Beispiel im Lissaboner Stadtteil Campo de Ourique. Der Cemitério dos Prazeres wurde 1833 als Friedhof wohlhabender Bürger der (Haupt-) Stadt angelegt 57 (vgl. Abb. 19.3). Er dient aber nicht der Beisetzung von Urnen, sondern der Sargbestattung, die sich in der Atmosphäre ihres Rituals von der üblichen Beerdigung unterscheidet. Aus Platzgründen kann dieses Thema an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. Während Kolumbarien eher Orte der Zweckmäßigkeit sind, ist das Mausoleum ein atmosphärischer Ort der ästhetischen Inszenierung. Insbesondere die vor und um 1900 errichteten prächtigen Bauten 58 vermochten die im Raum des Friedhofs herrschende Atmosphäre des Numinosen in einer variantenreichen Architektur des Erhabenen zu steigern. Sein repräsentatives Erscheinen sicherte dem Mausoleum jene mythische Schwere, in der sich eine mächtige Atmosphäre des Numinosen entfalten konnte. Zwar stehen auch im Mausoleum die Urnen im weltlichen Raum der Lebenden, aber der erhabene, spirituelle und im Inneren halbdunkle Bau fördert in seinem ästhetischen Erscheinen die Erlebbarkeit des Todesmythos, der in einem seriell gebauten Kolumbarium nicht spürbar werden kann. Die katholische KirWährend kleine bis mittlere Mausoleen der distinktionsorientierten Beisetzung der Urnen einer Familie dienen, gibt es auch Gemeinschaftsanlagen. So zum Beispiel auf dem Frankfurter Hauptfriedhof das 1909 von Friedrich Ludwig von Gans errichtete Mausoleum, das 1932 vom Verein für Feuerbestattung übernommen worden und heute vom städtischen Grünflächenamt verwaltet wird. 57 Vgl. http://revelarlx.cm-lisboa.pt/gca/?id=692 (Abruf: 05. 04. 2013). 58 Zur Bedeutung von Mausoleen auf privatem Grund und Boden vgl. Leisner 2003. 56
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Abb. 19.2: Mausoleum Gans (Hauptfriedhof Frankfurt/M.).
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Abb. 19.3: Mausoleen (Cemitério dos Prazeres Lissabon).
chengemeinde St. Andreas und Evergislus bei Bonn nennt ihr Mausoleum von Carstanjen 59, das Ende des 19. Jahrhunderts als Nachbau des Pantheon in Bad Godesberg errichtet wurde, einen »trostvollen Ort der Trauer«. 60 In jüngster Zeit lebt die Tradition des Baus von Mausoleen auf deutschen Friedhöfen wieder auf. Anlässlich einer hitzig geführten öffentlichen Debatte um die ästhetische Zulässigkeit moderner Neubauten resümiert Barbara Leisner: »Insgesamt steht zu hoffen, dass die Friedhofsverwaltung für weitere Neubauten von vornherein in Absprache mit der Denkmalpflege bestimmte Bereiche bzw. Grabstätten des Friedhofs ausweist und dass zum anderen die architektonische Qualität der Kleinbauten sich weiterhin kontinuierlich erhöht.« 61 Während Beispiele zum Friedhof Ohlsdorf respektable Bauten in traVgl. Stadt Bonn: Das Bonner Mausoleum von Carstanjen dient 3000 Menschen als letzte Ruhestätte; http://www.bonn.de/rat_verwaltung_buergerdienste/presseportal/ pressemitteilungen/01544/index.html?lang=de (Abruf 21. 02. 2013). 60 Kirchengemeinde St. Andreas und Evergislus: Eine würdige Ruhestätte für jedermann; http://www.kirche-im-rheinviertel.de/einrichtungen/mausoleum-von-carstan jen (Abruf 21. 02. 2013). 61 Leisner 2012. 59
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Abb. 19.4: Neubau eines Mausoleums (Hauptfriedhof Frankfurt/M.).
ditionellem (d. h. oft in klassischem), aber eben auch postmodernem Stil zeigen, spitzt sich in Frankfurt der öffentliche Streit über die Würde des Friedhofs und die ihm gemäße Atmosphäre zu. Bezugspunkt großer Aufregungen sind zwei auf dem Hauptfriedhof um 2010 von wohlhabenden Roma-Familien mit seriellen Baumarkt-Baustoffen errichtete Mausoleen 62 (vgl. Abb. 19.4). Weil die Bauten in ihrer ungeschminkten Profanität die vertraute Ästhetik eines Friedhofs in unwillkommener Weise exotisieren, provozieren sie den normativ zwangsläufig ins Dilemma führenden Diskurs über (lokal-) kulturell erwünschte Atmosphären im sepulkralkulturellen Raum. 19.2.1.5 Gemeinschaftsfelder Nicht erst das Beispiel postmoderner Mausoleen macht darauf aufmerksam, dass Friedhöfe Spiegel historischer Kulturen sind. Auch die Einrichtung neuer Begräbnisfelder und -orte lässt den Friedhof unzweifelhaft als einen sich mit dem Wandel der Gesellschaft verändernVgl. Frankfurter Hauptfriedhof: Neue Gruften, neue Aufbauten; http://www.frank furter-hauptfriedhof.de/mausoleum2011.htm (Abruf 21. 02. 2013).
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den Raum erkennen. So finden sich auf Zentralfriedhöfen großer Städte Sonderräume für Aids-Tote, Frauen, Fans bekannter Fußball-Clubs etc. Wenn diese Begräbnisorte auch auf höchst unterschiedliche Repräsentationsbedürfnisse zurückgehen, liegt ihnen doch ein je spezifischer Gemeinschaftsgedanke zugrunde, der von einem Gefühl der Zusammengehörigkeit durch ein gemeinsames Schicksal, eine gemeinsame gesellschaftlich-politische Situation oder eine gemeinsame Sinnorientierung getragen wird. Zu den in jüngster Zeit auf öffentlichen Friedhöfen immer zahlreicher angelegten neuen Begräbnisfeldern zählen insbesondere die unscheinbaren Grünflächen, die der anonymen Urnenbestattung dienen und ebenso Ausdruck posttraditioneller wie ökonomisch prekärer Lebensformen sind. 63 Zeitgleich werden auf den meisten kommunalen Friedhöfen Flächen für Einzelgräber rückläufig in Anspruch genommen. Die sogenannte grüne Wiese, auf der die anonyme Urnenbeisetzung stattfindet, kann als Folge der Neutralität ihrer Ästhetik nur für Hinterbliebene, die um die persönliche Bedeutung des Ortes wissen, ein atmosphärischer Raum der Trauer und des Gedenkens sein. Die Kirchen kritisieren an dieser Bestattungsform insbesondere das Moment des Verborgenen, die damit einhergehende Anonymisierung, die Ortlosigkeit der Trauer und die Unsichtbarmachung des Todes. 64 Wenn Lévinas zum gesellschaftlichen Umgang mit dem Tod anmerkte, der wahre Bezug zum Tod sei ein Ausweichen, und die »Flucht vor dem Tod mache die Bezeugung des Todes aus« 65, so spitzt sich dies in der atmosphärischen Diffusität anonymer Urnenfelder zu. Die Gemeinschaftsanlage par excellence ist der Soldatenfriedhof. 66 Er hat nationale kriegsgeschichtliche Bedeutung, weshalb die atmosphärische Macht der uniformen und oft weiträumigen Ausdehnung der Grabfelder auch im Kontext der jeweiligen Kriegsgeschichte steht. Mit anderen Worten: Die atmosphärische Potenz von Gefallenengräbern spiegelt die aktuelle politische Bewertung eines vergangenen Krieges wider. So bedeuteten die in ihrer räumlichen Ausdehnung und in ihrer Ästhetik des Erhabenen beeindruckenden Gewanne der Soldatenfriedhöfe aus dem Zweiten Weltkrieg einst eine Verehrung Die erste anonyme Bestattung in Deutschland fand im Jahre 1904 in Stuttgart statt (vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2005, S. 25). 64 Vgl. ebd., S. 26. 65 Lévinas 1996, S. 62. 66 Vgl. auch Fischer 2003. 63
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nationaler Helden und sollten eine Steigerung nationaler Identität vermitteln. 67 Mit der Überwindung heroischer Haltungen durch revidierte politische Einstellungen gegenüber Krieg und militärischer Gewalt veränderte sich in aller Regel auch die Bedeutung der Atmosphäre der Soldatenfriedhöfe. Heute gebietet es die politische Korrektheit, diese Sonderfriedhöfe als Mahnung zu Frieden und Völkerversöhnung nicht nur zu verstehen, sondern atmosphärisch in diesem Sinne auch zu empfinden. Das Beispiel zeigt, wie stark atmosphärisches Raumerleben von gesellschaftlichen Bewertungen und kulturellen Normen geprägt wird. 19.2.1.6 Gedenkorte Schließlich befinden sich auf großen Zentralfriedhöfen sepulkralkulturelle Gedenkorte, die anlässlich historischer Katastrophen errichtet worden sind und die individuellen Gräber – sofern es sie überhaupt gibt – zum Teil ersetzen oder im Sinne der symbolischen Bildung einer Gemeinschaft verklammern. So steht auf dem Frankfurter Hauptfriedhof eine Stele zum Gedenken an die Opfer eines 1996 vor der Küste der Dominikanischen Republik abgestürzten Passagierflugzeuges, das sich auf dem Rückflug nach Deutschland befand. Auf demselben Friedhof wurde im Jahre 1939 zum Gedenken an die Opfer des im Mai 1937 in Lakehurst (New Jersey / USA) in Flammen aufgegangenen Luftschiffs Hindenburg ein Denkmal errichtet. Auch hier wird einer Schicksalsgruppe von Menschen gedacht, wenn es sich dabei auch um keine Gemeinschaft im engeren Sinne handelt, denn den Toten mangelt es am einigenden Band eines Gefühls der Zusammengehörigkeit. Erst das schicksalhafte Ereignis machte sie posthum zu einer Quasi-Gemeinschaft. Ob die Atmosphäre des Gedenkortes auf das Schicksal der individuellen Opfer des jeweiligen Unglücks gerichtet ist oder auf die Schwere des Ereignisses, ist zum einen von der je aktuellen Situation der Gedenkenden abhängig, zum anderen aber auch von der künstlerischen Gestaltung des Gedenkmediums. So wird die Ästhetik der Stele zur Erinnerung an die Opfer des Flugzeugabsturzes in ihrer Schlichtheit »Mit dem Ersten Weltkrieg änderten sich die Themen in der Gartenkunst: Für die Gefallenen galt es, ›Kriegergrabstätten‹ und ›Ehrenfriedhöfe‹, ›Ehrenbegräbnisfelder‹ und ›Heldenbegräbnisstätten‹ fernab der Heimat anzulegen.« (Jakob 2012).
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von der beeindruckenden Vielzahl der eingravierten Namen dominiert. Im Unterschied dazu fehlen auf dem Hindenburg-Monument Namen von Opfern. Das mächtig inszenierte Mahnmal gilt dem Ereignis, dem die Opfer anonym untergeordnet sind. Aus der Perspektive der Gegenwart mag sich gerade darin eine spezifische Atmosphäre des Gedenkens entfachen, denn das Monument steht in seiner gestalterischen Ausführung nun zugleich für das Verhältnis eines politischen Regimes zur Bedeutung individuellen Lebens diesseits politischer Prominenz.
19.2.2 Extra-heterotope Räume und ihre Atmosphären In jüngerer Zeit haben sich privatwirtschaftlich betriebene Gesellschaften des bürgerlichen Rechts etabliert, die in einer immer größer werdenden Thanatos-Ökonomie mit dem Angebot säkularer (wahlweise auch religiöser) Urnenbestattungen »im Grünen« eine Marktlücke geschlossen haben. Ausschließlich zum Zwecke der Urnenbestattung gewidmete Forste bieten die FriedWald-GmbH und die RuheForst-GmbH an. Ich werde im Folgenden zunächst diese nur noch im weitesten Sinne den Friedhöfen vergleichbaren Begräbnisorte im Hinblick auf ihre atmosphärischen Besonderheiten diskutieren (2.2.1). Es werden sich drei Beispiele zum rituellen Abschluss säkularer Einäscherungszeremonien anschließen (2.2.2 Seebestattung, 2.2.3 Luftbestattung und 2.2.4 andere Urnen- und Ascheverortungen). Alle hier zur Sprache kommenden Todes-Verräumlichungen finden in extra-heterotopen Räumen statt. Von solchen werde ich sprechen, wenn eine formalisierte Raumidentität, wie sie für den Friedhof charakteristisch ist, fehlt. Damit ist aber nicht gesagt, dass sich in extra-heterotopen Räumen keine sepulkralkulturellen Atmosphären entfalten können oder dass es diesen Orten (soweit eine Verräumlichung überhaupt noch auf einen identifizierbaren Ort bezogen ist) an mythischer Transzendenz mangelt. 19.2.2.1 Friedwälder Ein Friedwald ist kein Friedhof im engeren Sinne. Er ist ein Forst, der insbesondere – aber nicht allein – der Beisetzung von Urnen dient. Während der Friedhof schon wegen seiner Umfriedung ein eindeutig identifizierter Ort ist, weist der sepulkralkulturell diffuse Raum des 378 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Sepulkralkulturelle Orte und ihre Atmosphären
Friedwaldes zumindest keine eindeutigen heterotopologischen Merkmale auf. Er hat – manchem länderspezifischen Bestattungsgesetz zum Trotz – oft noch nicht einmal eine für Begräbnisplätze charakteristische Umfriedung in Gestalt einer erkennbaren Grenze (Mauer, Hecke oder Wassergraben). 68 Als relativ offener Raum unterscheidet er sich nur dadurch von einem rein forstwirtschaftlich genutzten Wald, dass an zahlreichen Bäumen – leicht übersehbar – kleine Namensschilder hängen. Im beinahe normalen Wald konstituiert sich deshalb auch keine numinose Atmosphäre des heiligen Raums. Ein Friedwald ist durch die Ästhetik des Waldes disponiert und nicht durch die eines gleichsam sonderweltlichen Begräbnisortes. Er ist zugleich Forst, Biotop, öffentlicher Freizeit- und Erholungsraum, Grundwasserspeicher etc. Die Differenz zwischen Identität und Verschiedenheit ein und desselben Raumes bleibt in der Schwebe. Allenfalls den mikrologischen Inseln erkennbarer Urnenbäume haften Merkmale einer fraktalen Heterotopie an. Dagegen ziehen sich die Orte anonymer Urnenbeisetzung atmosphärisch ins Unbestimmte zurück. Das Konzept der FriedWald GmbH geht auf eine Idee des Schweizers Ueli Sauter zurück, der die Voraussetzungen für eine neue alternative Bestattungsform von Urnen – die sogenannte Naturbestattung – geschaffen hat. Im Rahmen der prinzipiell entformalisierten Beisetzung einer (ökologisch abbaubaren) Urne in den Wurzelbereich eines Baumes entfalten sich sepulkralkulturelle Situationen und die ihnen eigenen Atmosphären im Unterschied zum Friedhof nur noch von Fall zu Fall und im Zeitfenster des Rituals. Gleichwohl ist auch ein Friedwald nicht frei von normativen Regulierungen, die atmosphärisch bedeutsam werden. Da Grabsteine und andere auf Friedöfen übliche Symbole generell nicht gestattet sind, können sich auch am lokalisierbaren Begräbnisort keine für einen Friedhof typischen Atmosphären konstituieren. Dabei folgt die Vorschrift ästhetizistischer Abstinenz in der Grabgestaltung explizit einem atmosphärischen Programm: Im säkularen Raum des Waldes soll sich keine Atmosphäre des Numinosen entfalten, sondern eine Natur-Atmosphäre des Waldes. Die sich damit schon ankündigende Spaltung der Situation des Raumes macht deutlich, dass verschiedene Atmosphären an ein und demselben Ort in einem Wechselwirkungsverhältnis zueinander stehen – und potentiell auch in einen Konflikt geraten können. Auch die Reduzierung von 68
Vgl. auch Hasse 2006.2.
379 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
19. · Bestattungsorte
Trauer- und Erinnerungssymbolen auf genormte, unauffällige Namensschilder an den Stämmen der Bestattungsbäume hat insofern atmosphärische Konsequenzen, als sie zu einer tendenziellen Verbergung der sepulkralkulturellen Funktion des Waldes führt und damit der Erlebbarkeit einer normalen Waldatmosphäre entgegenkommt. Trotz allen Verzichts auf übliche Grabsymbole spiegelt sich das hierarchische Gefüge einer distinktionsorientierten Gesellschaft auch in einem Friedwald wider. An die Stelle von Marmor und Granit treten nun Bäume, die das Bedürfnis nach Repräsentativität und Distinktion stillen sollen. Dabei versteht es sich in einer Gesellschaft des Geldes von selbst, dass auch die naturalistischen Medien atmosphärischer Inszenierung ökonomisch hierarchisiert sind und tatsächliche oder posthum zugeschriebene gesellschaftliche Stellung am Preis eines Baumes abgelesen werden kann. So können sich eher Wohlhabende noch posthum mit einer alten und repräsentativen Eiche inszenieren, während sich mit einem Setzling begnügen muss, wem es an finanziellen Spielräumen für Größeres mangelt. 69 Bestattungswälder reflektieren – gewissermaßen im Zerrspiegel des Todes – individualisierte, mobile und sozial separierte Lebensformen der Spätmoderne. So wird die Be-Sorgung eines Begräbnisses von lokalen Gesellschaften nicht mehr als Gemeinschaftsaufgabe praktiziert. Das hat soziale Rückwirkungen. Im Wissen um die Macht einer kulturellen Distanzierung von Situationen des Todes wird der virtuelle eigene Tod zu einem ökonomisch nachhaltigen Zukunftsereignis, das vermehrt als soziale und ökonomische Zumutung für die Generation der Nachfahren empfunden wird. So geht dem virtuellen eigenen Tod nicht nur eine Stimmung der Sorge um das eigene Selbst voraus, sondern auch die Sorge um die Sorge anderer. Der Friedwald muss – nicht zuletzt als Folge atmosphärischer Gemengelagen von Atmosphären der Natur und solchen der Trauer – programmatisch als mythischer Raum einer transzendentalen Dienstleistung konstruiert werden. Das bedarf der Zuschreibung einer Identität, die sich im Raum des Waldes allein über die medialen Brücken sepulkralkultureller Arrangements nicht konstituieren würde. Zunächst bedarf das natürliche Milieu des Waldes der pantheistischen Überhöhung, in deren Dienst die sentimentalistische MythologisieKostendämpfend ist die Bestattung an einem sogenannten Basisbaum mit kürzeren Ruhezeiten von 15 bis 30 Jahren (vgl. Rüter 2011, S. 63).
69
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Sepulkralkulturelle Orte und ihre Atmosphären
rung von Wald und Baum steht. Im Mittelalter galt der Wald in der lebensweltlichen Vorstellung als ein unwirtlicher, dunkler, gefahrvoller und mystischer Raum. Erst nach großflächigen Rodungen wurde er ab dem 17. Jahrhundert als Milieu der Stille und ästhetischen Kontemplation entdeckt und schließlich in der Romantik zu einem affektiv übermächtigen Stimmungsraum umgedeutet. Eine ähnliche Verklärung macht den Forst zum Friedwald. Die sepulkralkulturelle Umrüstung des Forstes zum Begräbnisraum verlangt keine technischen und infrastrukturellen Maßnahmen, aber die reinigende Ausblendung von Widersprüchen, die aus Mehrfachnutzungen des Waldes resultieren. Die Situationen der Trauer und des Totengedenkens verlangt die Atmosphäre einer heilen Natur, und so steht die dystopische Natur des Waldes ebenso im Widerspruchsverhältnis zu dessen pantheistischer Mythologisierung wie seine kulturlandschaftliche Degradierung und ökosystemische Destabilisierung. Nur der emotional überhöhte, pantheistisch mythologisierte Natur-Wald bewährt sich als zivilisationskompensatorische Gefühlslandschaft und (säkular-) paradiesische Jenseitswelt. 70 Auf dem Wege der Rhetorik und Programmatik werden in der Natur-Mythologisierung des Friedwaldes christliche Bilder eines göttlichen Paradieses mit heidnischen Vorstellungen vom idyllischen Jenseits verschmolzen. Ästhetisch wird dessen imaginäres Milieu durch eine homöostatische Waldnatur vertreten, die schon mit dem Beginn der Waldfriedhofsbewegung um 1900 71 beschworen wurde. Das alte Wunschbild einer zivilisationshistorisch unbefleckten Natur des Waldes wird rituell reaktualisiert, wenn der Förster, der schon zu mittelalterlichen Zeiten (im Unterschied zum Jäger) für die Hut des Waldes verantwortlich war 72, die Urne beisetzt und nicht der Priester. Pantheistische Transzendenzen sind aber nur von mittlerer Reichweite. Ihr Mangel an religiösem Überschuss hält die Erzählung vom Friedwald als Schnittstelle ewiger Stoffkreisläufe der Natur am Boden nüchternen Wissens. In einem multifunktional genutzten Wald spannt sich keine Atmosphäre zum Mythos ewigen Lebens, wie er in der Das Schweizer Bestattungsunternehmen Ahnenstätte spricht ganz in diesem Sinne von »Naturbestattungen in natürlich gewachsenen Oasen« und »paradiesischen Zuständen« (http://www.ahnenstaette.ch/; Abruf 26. 02. 2013). 71 Vgl. Fischer 1992. 72 Hasel 1985, S. 133. 70
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19. · Bestattungsorte
christlichen Grabsymbolik durch mannigfaltige Allegorien suggeriert wird (halb geöffnete Türen, Schiffe, Engel, Schmetterlinge und andere transversale Symbole). Die Atmosphäre des Friedwaldes steigt nicht ins Numinose auf; sie federt den Schmerz niederdrückender Trauer nur mit dem Argument ab, dass es in der Natur keinen Tod, sondern nur Wandlung gibt. Ein Friedwald ist kein numinoser Raum widerstreitender Gefühle demütiger Kontemplation und furchtvollen Erschauderns. 73 Seine Atmosphäre ist weltlich und bietet nicht mehr als ein beruhigendes Milieu. 74 Der über Jahrhunderte mit dem Friedhof verbundene sepulkralkulturell-ästhetische Symbolisierungsanspruch wird unter dem Einfluss säkularer Wertvorstellungen weitgehend aufgegeben, und die Atmosphäre des heiligen Raums weicht einer Kulisse romantizistischer Transzendenz-Vorstellungen. Daher ist das Konzept Friedwald auch nicht nur eine Antwort auf veränderte Bedürfnisse der Trauerkultur, sondern weit darüber hinaus Ausdruck einer postgemeinschaftlichen Gesellschaft beschleunigter Individualisierung – und ein Zeichen der Evakuierung des Todes im Sinne seiner physischen wie psychischen Abschiebung. 75 19.2.2.2 Seebestattung Eine Bestattung im Element des Wassers folgt einer anderen Transformationslogik als eine Grablegung. Mehr noch als die christlichen Mythen haben pantheistische Jenseitsvorstellungen ihre Wurzeln in der griechischen Mythologie und deren Götterwelt (hier dem Reich des Poseidon). Ursprünglich kamen Seebestattungen nur unter Seeleuten vor. Schon aus Gründen der Hygiene mussten die auf See Verstorbenen kurzfristig dem Meer übergeben werden. In der modernen Seefahrt hat sich diese Form der Beisetzung durch Kühltechniken erübrigt. Heute werden nur noch herausragende Persönlichkeiten, zum Beispiel der Marine, mit militärischen Ehren (in einem Sarg) in der offenen See
Vgl. Otto 1924, S. 12. Selbst »die Grabpflege übernimmt im FriedWald die Natur« heißt es – diesseits religiöser Projektionen – in der Selbstbeschreibung der bundesweit agierenden Betreibergesellschaft FriedWald (http://www.friedwald.de; Abruf: 26. 02. 2013). 75 Milchert 2012, S. 52. Zur sog. »Naturbestattung« in Friedwäldern vgl. auch Happe 2010 und 2012. 73 74
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Sepulkralkulturelle Orte und ihre Atmosphären
bestattet. Diese Form der Seebestattung hat in der Gegenwart allein noch als politisch-repräsentative Geste Bedeutung. Die heute vermehrt Beachtung findende Seebestattung ist auf keinen speziellen Personenkreis mehr begrenzt. Sie ist eine Dienstleistung der Urnen-Beisetzung im offenen Küstengewässer. Spezialisierte Seebestatter bieten die nach dem Feuerbestattungsgesetz seit 1934 mögliche Form der Beisetzung auf See an. 76 Die Zeremonie wird jenseits der Dreimeilenzone außerhalb fischereiwirtschaftlich genutzter Seebereiche vollzogen. Meistens sind Hinterbliebene anwesend. Zwar wird der Ort, an dem die Urne dem Meer übergeben wird, kartographisch definiert; die auf einem Dokument vom Kapitän vermerkten Koordinaten sind aber mit einem fixen Ort auf festem Boden nicht vergleichbar. Nicht bei allen Formen der Seebestattung ist ein Ortsbezug herstellbar. So erfolgt die Ascheausstreuung über dem Meer 77 auch nicht an einem Bestattungs-Ort, sondern in einem Dispersionsraum, in dem die Asche im Milieu der Luft vom Winde verweht wird (vgl. auch 2.2.3). Niederländische Unternehmen bieten diese Dienstleistung, die weder eine typische See- noch eine Luftbestattung ist, ohne die Anwesenheit Hinterbliebener an. Schon die räumliche und zeitliche Ferne zur Beisetzung steht der Konstitution einer Atmosphäre der Trauer im Wege. Auch fehlt ihr ein Ort, an dem sie sich als aktuelle Situation verdichten könnte. So mag sich allenfalls eine persönliche Stimmung – im Wissen um die Aktualität einer gleichsam maschinistischen Prozedur – entfalten. Auch bei der Ascheausstreuung auf dem Wattenmeer (via Segelboot) ist ein Ortsbezug nur im Moment der Beisetzung gegeben, denn schon mit dem einsetzenden Wechsel der Tide wird die Asche in der Weite des Meeres verteilt. Folglich ist es weniger ein Ort als ein räumliches Milieu, das die Asche aufnimmt. 78 Wie bei der anonymen Beisetzung, so geben die Kirchen auch bei der Seebestattung zu bedenken, dass die Situation der Ortlosigkeit zu emotionalen Nöten der Hinterbliebenen führen könne. Der KompenSörries 2008, S. 69. Für die technische Durchführung wird eine verkehrsministeriell genehmigte Ausstreuanlage einer Cessna 172 verwendet (vgl. http://www.uitvaartcentrumoostgronin gen.nl/de/ascheausstreuung.html; Abruf: 28. 02. 2013). 78 »Durch die Ruhe und die Unberührtheit spürt man die Relativität des Lebens« (ebd.). 76 77
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19. · Bestattungsorte
sation dieses Mangels sollen Erinnerungsstätten dienen, die unmittelbar am Saum der Küste als atmosphärische Brückenköpfe leiblicher Kommunikation der Trauer und des Gedenkens eingerichtet worden sind. In Wilhelmshaven wurde 2011 die Erinnerungsstätte Seefrieden geschaffen 79; einen vergleichbaren Gedenkort gibt es schon seit 2007 in Travemünde. Dort wurde von der Seebestattungs-Reederei-Hamburg Hahn & Sohn ein Stein »Zum Gedenken an die Verstorbenen, die in der Lübecker Bucht ihre ewige Ruhe fanden« 80 gestiftet. Der Ort des Steins kompensiert das Fehlen eines konkreten Beisetzungsortes. 19.2.2.3 Luftbestattung Nicht nur die Anzahl der jährlich durchgeführten Seebestattungen nimmt stark zu; auch der Luftraum wird als elementares Milieu der Aschebeisetzung erschlossen.81 Von den Formen der Luftbestattung, die im westlichen Kulturkreis vorkommen, sei kurz auf drei Arten der Ascheausstreuung verwiesen. Eine spezifische Form bietet ein Rastatter Bestattungsunternehmen an. Das mit Hilfe eines Heißluftballons zelebrierte Ritual, an dem bis zu drei Angehörige teilnehmen können, weist Ähnlichkeiten mit einer Seebestattung auf. In ausreichender Höhe erfolgt über einem behördlich genehmigten Ausbringungsgebiet die Ausstreuung der Asche (hier über dem Elsass). 82 Ein Schweizer Unternehmen führt Luftbestattungen mit einer (»umweltfreudlichen und leisen«) Elektrodrohne durch: »Wir verwenden eine leise Elektrodrohne, welche kraftvoll auf ca. 150 Meter aufsteigt und dann koordiniert die Asche am gewünschten Ort freigibt.« 83 Schließlich gibt es die sogenannte Ballonausstreuung, bei der ein Teil der Krematoriumsasche mit Helium in einen Ballon gefüllt wird, der in größeren
http://www.wilhelmshaven.de/tourismus_freizeit/16143.htm; (Abruf: 28. 02. 2013). http://www.seebestattungen.de/alt_start.html; (Abruf: 28. 02. 2013). 81 Vgl. Bellinger 1989, S. 22. Auch im Element der Luft überlagern sich christliche und griechische Mythen. Die Luft ist das Reich des Himmels- und Luftgottes Aether und damit eine mythologische Göttersphäre. Zugleich verbindet sich das Ätherische symbolisch mit dem Himmel, der im Christentum als imaginär-mythischer Raum Gottes gilt. 82 http://www.luftbestattungen-rastatt.de; (Abruf: 28. 02. 2013). 83 http://sternenstaub.moonfruit.com/?gclid=CLu0_Z6l1rUCFVEwzQodkiYApw#; (Abruf: 28. 02. 2013). 79 80
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Sepulkralkulturelle Orte und ihre Atmosphären
Höhen in Folge der Druckdifferenz zur Atmosphäre platzt, so dass die Asche von der Dynamik des Windes verfrachtet wird. 84 19.2.2.4 Andere Urnen- und Ascheverortungen Abschließend seien drei weitere postmoderne Praktiken der Urnenbzw. Ascheverortung angesprochen, deren Symbolik säkularen Todesvorstellungen folgt. Fragen zur Bedeutung eines Ortes der Trauer und des Totengedenkens spitzen sich hier idiosynkratisch zu. LifeGem Ein US-amerikanisches Unternehmen aus Chicago (LifeGem Hauptsitz) bietet die mit beträchtlichen Kosten 85 verbundene Herstellung eines Diamanten aus dem Kohlenstoff der Kremationsasche an: »The LifeGem® is a certified, high-quality diamond created from a lock of hair or the cremated ashes of your loved one as a memorial to their unique life.« 86 Auf dem Hintergrund der kulturhistorisch entwickelten Symbolik des Steins (vgl. auch 2.1.2) fügt sich der aus der Asche produzierte Diamant mittelbar in die Symbolsprache der Architektur des Grabes ein. Hans Gerhard Evers hatte schon in diesem Sinne angemerkt, dass die Grabarchitektur das Unterschiedliche binden und »das Sterbliche unsterblich machen« solle. 87 Aber er hatte auch unterstrichen, »sie soll es nicht tun mit titanischer Verzweiflung, mit Rachsucht gegen den Tod, mit Überheblichkeit und Sperren gegen das Naturgesetz«. 88 Damit konnte er keine andere als die atmosphärisch übersteigerte Wirkung des Steines gemeint haben, wie sie heute im LifeGem-Diamanten höchst pointiert zur Erscheinung kommt – als Ausdruck der Beharrung und des Trotzes, als Geste der Abrechnung mit http://www.uitvaartcentrumoostgroningen.nl/de/ascheausstreuung.html; (Abruf: 28. 02. 2013). 85 »The prices on LifeGem diamonds range from three thousand to twenty-five thousand dollars, depending on whether you choose red, green, or yellow stones. The general idea of marketing is to keep someone precious whom you have recently lost close to you forever. While many people choose to do this through memory, it seems to be a growing trend now to instead have them turned to jewelry.« (http://www.abazias.com/diamond blog/diamond-industry/diamonds-made-from-your-deceased-loved-ones-hit-main stream-market; Abruf: 28. 02. 2013). 86 http://www.lifegem.com; (Abruf: 28. 02. 2013). 87 Evers 1939, S. 2 88 Ebd. 84
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19. · Bestattungsorte
der zerstörerischen Macht der Natur, die mit den Mitteln der Technik symbolisch gleichsam umgekehrt werden soll. Wo mit dem Tod Zersetzung und Auflösung schon begann, dreht der technische Akt den Zeitpfeil herum und fügt in eine Ewigkeitsform, was nach dem Plan der Natur nicht mehr existieren sollte. So blitzt im Glanz des Diamanten auch ein Hauch der Arroganz gegenüber der Natur auf. An die Stelle einer Atmosphäre des Totengedenkens im sepulkralkulturellen Raum tritt eine ästhetische Atmosphäre der Repräsentation, die nur noch locker am mnemosynischen Band hängt. Ascheskulptur In den Niederlanden wird die Herstellung einer Skulptur aus Krematoriumsasche angeboten. Der Idee des Anbieters zufolge sollen solche Miniaturen auf dem Kamin oder einem dekorativen Ort in der Wohnung eines Hinterbliebenen Platz finden. Im Unterschied zu einer Urne ist einer dekorativen Figur jeder sepulkralkulturelle Charakter entzogen. Sie ist nur dem verständlich, wer das Wissen um die Bedeutung des Gegenstandes hat. Dieser steht folglich in einem mehrdeutigen atmosphärischen Rahmen und changiert in der Wahrnehmung zwischen beliebig austauschbarem Kunstgewerbe einerseits und Anker des Totengedenkens andererseits. Als Medien des Gedenkens dürften sich solche Objekte aber wegen der Permanenz ihres Erscheinens im alltäglichen Wohnraum schnell entwerten und affektiv aufheben, denn die Macht der Gewöhnung schirmt eine Atmosphäre des Totengedenkens ab. Individualisierte Urnenverortung Eine ähnliche Situation verbindet sich mit der ebenfalls in den Niederlanden möglichen Platzierung einer Urne in der eigenen Wohnung.89 Während Kolumbarium wie Mausoleum der Urne im heterotopen Raum einen mythisch eindeutigen Rahmen ihres Erscheinens geben, fügt sich eine in die private Wohnsphäre platzierte Urne in die wechselnden Atmosphären des Alltäglichen ein. Im individualistischen PlatWenn auch »in der Europäischen Union […] der Bestattungszwang für Urnen auf Friedhöfen nur noch in Deutschland, Österreich und Italien« gilt (Bistum Münster: Der Friedhofszwang beginnt zu bröckeln, so stehen die Kirchen der Individualisierung der Urnenaufbewahrung doch ablehnend gegenüber (vgl. http://kirchensite.de/ aktuelles/kirche-heute/kirche-heute-news/datum/2010/11/04/die-urne-auf-dem-ka minsims/; Abruf: 04. 03. 2013).
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Verortungen des Todes
zierungswunsch mag ein Bedürfnis zur Geltung kommen, die Erinnerung an den Toten und die Betroffenheit von seinem Verlust auf Dauer zu stellen. Keine Atmosphäre, die im Rahmen einer aktuellen Situation ihre individuell beherrschende Macht entfaltet, kann aber permanent leisten, was im Moment maximaler Betroffenheit von ihr erwartet wird. 90 Wenn die Kirchen einen besonderen Ort des Totengedenkens fordern, so kommt darin nicht nur ein christlich-religiöser Anspruch zur Geltung, sondern auch ein Votum für die Wahrung eines aus dem Alltag herausgelösten Ortes, der atmosphärisch der psychologischen Bewältigung des Todes vorbehalten ist. Der Ort des Toten(gedenkens) entfaltet nur dann den Geist eines genius loci, wenn er auch ein besonderer Ort bleibt. Die positive Resonanz der Memorial Center an der Küste zum Gedenken der auf See Bestatteten bestätigt dies.
19.3 Verortungen des Todes Alle sepulkralkulturellen Rituale dienen einer doppelten Entsorgung. In mythischer Hinsicht verdient die Frage nach der Bedeutung des Ortes in der psychologischen Bewältigung des Wissens um die biologische Endlichkeit des Menschen besondere Beachtung. So ergibt sich auch die Bedeutung des Grabes aus einer Authentizität des Ortes, die in der unmittelbaren – wenn auch unsichtbaren – Gegenwart des Verstorbenen begründet ist. Aus der numinosen Macht dieser abwesenden Anwesenheit erwächst die ortspezifische Atmosphäre des Grabes. Diese stellt sich als Ausdruck eines ontologischen Widerspruchs dar, bedeutet der Tod doch die reine Abwesenheit des Da- und Hier-seins. Der Glaube an die Auferstehung kompensiert diese aporetische Not und bindet die anthropologisch begründete Angst vor dem Tod. 91 Im säkularen Innerhalb der Individualisierung der Urnenbeisetzung kommt es dort zu einer Profanisierung, wo auch der Gegenstand der Urne weniger mit dem Numinosen des Todes verbunden wird als mit Zeichen der Lebenswelt. So bietet ein niederländischen Unternehmen aus Assen die »Voetbalurn« mit den Symbolen eines Fußball-Clubs an (http:// www.phoenixurnen.nl; Abruf 28. 02. 2013), zu dessen Fan-Club sich der Verstorbene zählte. Diese postmoderne Variante der Bestattungskultur dokumentiert nicht nur eine Entgrenzung im Prozess der Säkularisierung, sondern mehr noch eine Ausräumung des Todes durch seine atmosphärische Profanisierung. 91 Vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2005, S. 36 90
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19. · Bestattungsorte
Raum des Friedwaldes ist es nicht die Idee der Auferstehung, die die Angst vor dem Tod sediert, sondern die harmonistisch-pantheistische Vorstellung einer guten Natur, die alles Verfallende aufnimmt und wieder in Leben verwandelt. So sind es vor allem die an den Orten der Toten und des Totengedenkens inszenierten Atmosphären, die die unerträglich abgründige Vorstellung des Todes entlasten und ein Ausweichmanöver des rationalen Denkens ins Hoffen und Wünschen vermitteln. Wenn Lévinas (mit Bezug zu Heidegger) sagt, »man flieht den Tod, indem man sich bei den Dingen hält und sich ausgehend von den Dingen des Alltagslebens auslegt« 92, so ist der Raum der Toten mit seinen sepulkralkulturellen Medien des Totengedenkens ebenso ein Raum der Dinge wie der Friedwald mit seinen Bestattungsbäumen oder das Kolumbarium mit den Urnen Verstorbener. Die Dinge folgen an ihrem Ort in gewisser Weise einer dem Reliquienkult vergleichbaren Affekt-Logik, den die Kirche als mediale Brücke erfand, um das Denken an den abstrakten Tod in der Umlenkung über die auf ihn verweisende Sinnlichkeit der Dinge in relative Ruhe zu überführen. Zum einen sind alle Orte des Todes in ihren Atmosphären Medien der Erinnerung und deshalb solche des Totengedenkens; zum anderen sind sie aber auch Medien der Entbindung und des Entzugs. Deshalb haftet am Ort einer sepulkralkulturellen Ent-Sorgung unaufhebbar die Atmosphäre existenzieller Sorge – im heterotopen Raum in anderer Weise als im extra-heterotopen Raum.
92
Lévinas 1996, S. 58.
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20. Zur Atmosphäre einer imaginären Landschaft Die »Toteninsel« von Arnold Böcklin
Landschaften sind etwas Künstliches, das in charakteristischer Weise zusammenhängt und aus einer Gegend – der Natur oder eines kulturell gestalteten räumlichen Milieus – in einer ästhetischen Haltung sehend gleichsam herausgeschnitten wird. Der künstliche Charakter von Landschaft liegt aber noch auf einer zweiten Ebene: »Wo wir Landschaft und nicht mehr die Summe einzelner Naturgegenstände sehen, haben wir ein Kunstwerk in statu nascendi.« 1 Damit spricht Simmel den ästhetischen Charakter von Landschaften an, die atmosphärisch wahrgenommen werden und im Modus leiblichen Erlebens berühren. Wenn im Folgenden nicht von einer Landschaft die Rede sein soll, die in einem tatsächlichen Raum der Dinge ihr Gegenstück hat, deren Bild sich vielmehr ganz einem Gemälde verdankt, dann rückt damit ihr Wesen noch stärker in den Fokus: die (sich im Gemälde nur zuspitzende) affektive Berührung durch das spezifische Erscheinen einer räumlichen Szene.
20.1 Atmosphäre und Aura Indes gibt es gute Gründe, tatsächliche Landschaften und die, welche nur in einem Kunstwerk – insbesondere einem Gemälde – der Imagination zugespielt werden, zu unterscheiden. Das Berührt-werden durch ein Kunstwerk steht unter dem ästhetischen Vorzeichen der Ungleichzeitigkeit naher Ferne. Nur als etwas fern Bleibendes und darin Be-fremdendes stellt es sich gegen die Banalität der Alltagswelt und das sich in ihr auf gewohnte Weise von selbst Verstehende. Das an ihm und durch es Befremdende umschreibt Walter Benjamin aus der ästhetischen Spannung eines Nähe- und Ferneverhältnisses:
1
Simmel 1957.3, S. 147.
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20. · Zur Atmosphäre einer imaginären Landschaft
»Spur und Aura. Die Spur ist Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterließ. Die Aura ist Erscheinung einer Ferne, so nah das sein mag, was sie hervorruft. In der Spur werden wir der Sache habhaft; in der Aura bemächtigt sie sich unser.« 2
In seiner fernebedingten Fremdheit bringt das Kunstwerk etwas ihm Eigenes zum Ausdruck. 3 Das Fremde liegt ist im Allgemeinen weniger in der Sache des zur Darstellung Gebrachten, sondern in dem, was in dessen Zusammenhang über diesen hinausgeht. 4 Fremd ist das ästhetische Moment des Berührt-werdens durch das im Kunstwerk zur Erscheinung Kommende. Das Kunstwerk berührt erstens in der subjektiven Erfahrung (der Aura im eigentlichen Sinn) und zweitens über das »ontische Wesen des Kunstwerks«5 (d. h. die atmosphärisch zur Anschauung kommende Sache des Kunstwerks). Am hier zur Diskussion stehenden Gemälde Toteninsel von Arnold Böcklin (vgl. Abb. 20.1) soll es indes nicht auf die nahe Ferne der spezifischen Aura des Kunstwerks ankommen, sondern die jeder Erfahrung unzugängliche Ferne der Sache des Gemäldes – des Todes. Gleichwohl lässt sich diese Fremdheit (der Gehalt des Werkes) nie ganz trennen von der Art seiner auratischen Inszenierung. Auch darin kommt die Unaufhebbarkeit des Zusammenhangs von Spur und Aura zur Geltung, der sich in Benjamins Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit auch in der Rede vom »Atmen der Aura« ausdrückt. Kein Kunstwerk wird in einem allein intellektualitischen Akt erfahren, vielmehr in einer leiblich-mimetischen Anverwandlung an das, was an ihm erscheint. Spätestens in der leiblichen Kommunikation mit dem Kunstwerk 6 fällt jede analytische Grenze zwischen Spur und Aura, und das Was und Wie des Erscheinenden verschmelzen im affektiv ergreifenden Ein-
Benjamin 1989, S. 560. Vgl. Guzzoni 2012, S. 90. 4 Vgl. in diesem Sinn Adorno: »Diese letztere [Aura, J. H.] definieren wir als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. […] Was hier Aura heißt, ist der künstlerischen Erfahrung vertraut unter dem Namen der Atmosphäre des Kunstwerks als dessen, wodurch der Zusammenhang seiner Momente über diese hinausweist, und jedes einzelne Moment über sich hinausweisen lässt« (1970, S. 408). 5 Spangenberg 2010, S. 406. 6 »Die Aura spüren heißt, sie in die eigene leibliche Befindlichkeit aufzunehmen. Was gespürt wird, ist eine unbestimmt räumlich ergossene Gefühlsqualität« (Böhme 1995, S. 27). 2 3
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Atmosphäre und Aura
Abb. 20.1: Toteninsel 5. Version (Böcklin 1886).
druck dieses Kunstwerks. Schließlich macht Adornos zivilisationskritischer Kommentar zur Verwurstung auratischer Gegenstände in der kulturindustriellen Reproduktion darauf aufmerksam, dass in der massenmedialen Ausbeutung der Nähe des Fernen das Auratische des originalen Kunstwerks »geschluckt« werde. 7 Wenn sich auch die dem Original anhaftende Aura mit der technischen Reproduktion verlieren mag, so bleibt eine gewissermaßen sekundäre Aura an ihm haften, die jenes ästhetische Spannungsverhältnis wieder aufnimmt, das Benjamin zwischen Spur und Aura identifizierte. Damit vermag auch die Reproduktion noch jenen fernen Gehalt des Kunstwerks zu vermitteln, der im Ausdruck einer fernen Sache fremd bleibt. Es ist nun aber weniger eine Frage der Originalität des Kunstwerks, ob jenes von ihm ausstrahlende »objektive Bedeuten, an das keine subjektive Intention heranreicht« 8, als Fremdes auch denkwürdig stimmt, als vielmehr eine solche der emanzipierten Wahrnehmung. 9 Mit Hegel spricht Adorno hier von der »Freiheit zum Objekt […] nicht muß der Betrachter, was in ihm vorgeht, aufs Kunstwerk projizieren, um darin sich bestätigt, überhöht, befriedigt zu fin-
7 8 9
Adorno 1970, S. 461. Ebd., S. 409. Vgl. Spangenberg 2010, S. 412.
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20. · Zur Atmosphäre einer imaginären Landschaft
den, sondern muß umgekehrt zum Kunstwerk sich entäußern, ihm sich gleichmachen, es von sich aus vollziehen.« 10
Es kommt also auf die Kompetenz zur gnostischen und pathischen Einlassung auf die doppelte Atmosphäre des Kunstwerks an, ob das Fremde-Ferne gerade aus der Distanz zum Betrachter diesen gedanklich und befindlich zu berühren vermag. Mit Böcklins Toteninsel rückt eine Welt der Affekte in den Fokus, in der eine landschaftliche Inszenierung im auratisch vermittelten Medium der Atmosphären Stimmungen evozieren soll (vgl. auch Kapitel 11 und 12). Böcklins Gemälde bringt dem Betrachter die Abgründigkeit des Todes nahe, indem er ihn in seiner künstlerischen Inszenierung auf Abstand hält. Die Situation der rituellen Ausleitung eines Verstorbenen aus der Welt der Lebenden in einen imaginären Sonderraum wird mit dem Nachdruck einer numinosen Atmosphäre zur Anschauung gebracht. Der Eindruckscharakter, den die anschauliche Einheit der InselLandschaft vermittelt, kann mit Begriffen nur schwer auf situativ angemessene Weise erfasst werden. Es herrscht eine weitgehende »Inkongruenz von Sprache und Begriff« 11. Deshalb werden landschaftlich ergreifende Eindrücke auch oft metaphorisch ausgesagt. Die Kommunikation über Atmosphären (mit den Mitteln der Sprache, aber auch der Gesten, der Mimik, der Malerei, der Bildhauerei, der Musik und der Architektur) bedient sich dabei in besonderer Weise synästhetischer Ausdrucksqualitäten, die ein Gefühl mit komplementären symbolischen Bedeutungen verbinden. Besonders ästhetische Werke der Kunst eignen sich zur Kommunikation von Atmosphären. Viel mehr als der denotativen Sprache gelingt es ihnen, den mannigfaltigen und ganzheitlichen Charakter einer Situation dem Erleben zugänglich zu machen. Ich hatte mehrmals darauf hingewiesen, dass es besonders die Schmitz’schen Halbdinge wie zum Beispiel Licht, Schatten, Wind und Stille sind, die das atmosphärische Erleben von Landschaften vermitteln. Dass es gerade die Eindrucksmacht der Halbdinge ist, die die ästhetische und emotionale Immersivität einer im Gemälde dargestellten Landschaft ausmacht, illustrieren Werke von Caspar David Friedrich und William Turner in eindringlicher Weise. Die spezifische Art der Darstellung hat einen zweifachen Einfluss auf die vom Kunstwerk 10 11
Adorno 1970, S. 409. Blumenberg 2007, S. 74.
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Die Toteninsel
Abb. 20.2: Toteninsel 2. Version (Böcklin 1880).
ausgehende ästhetische Macht; sie prägt den Gehalt der Aura und stimmt die das Thema des Gemäldes kommunizierende Atmosphäre. Der gleichsam ganze Gehalt des Kunstwerks hängt indes an einem Synchroneffekt, in dem sich Aura und Atmosphäre verbinden.
20.2 Die Toteninsel Böcklins Toteninsel liefert auch dazu ein eindrucksvolles Beispiel. Nun gibt es aber die Toteninsel in fünf Versionen mit mehr oder weniger starken Variationen. Darin kommt der – sich bei Kunstwerken im Allgemeinen von selbst verstehende – Konstruktionscharakter des Bildes (in seiner Genese) zur Geltung. Die erste Version (1880) blieb zunächst unvollendet; die zweite erhielt Marie Berna (die spätere Gräfin von Oriola), die Böcklin 1880 mit der Anfertigung eines Bildes »zum Träumen« beauftragt hatte 12, noch im selben Jahr (vgl. Abb. 20.2). Eine dritte Version (1883) malte Böcklin für seinen Galeristen; hiervon wurde auch eine Radierung angefertigt. Im Jahre 1884 entstand eine vierte Version, die im Zweiten Weltkrieg verbrannt ist. Die fünfte und letzte Variante entstand 1886 im Auftrag des Leipziger Museums (heute 12
Vgl. Zegler 1991, S. 8
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Leipziger Museum der Bildenden Künste). Entgegen verbreiteter Auffassung stammt der Titel Toteninsel von Böcklin selbst und nicht von seinem Galeristen Gurlitt. 13 In einem Brief, den Böcklin (im Mai 1880) an seinen Mäzen Alexander schreibt, bezeichnete er das Bild selbst als Toteninsel. Ich beschränke mich im Folgenden auf die letzte Version (vgl. Abb. 20.1). 14 In ihr hat Böcklin sein Einfühlungs- und Ausdrucksprojekt, das er seiner Auftraggeberin schuldig war, durch eine maximale atmosphärische 15 und symbolische Verdichtung zum Abschluss gebracht. Die Version von 1886 stellt eine affektiv ergreifende Szene dar. Diese Eindrucksmacht der Toteninsel verdankt sich nicht nur der hohen handwerklichen Kompetenz des Malers, sondern ganz besonders seiner Sicherheit in der Komposition von Ausdruckselementen mit synästhetischem Charakter. Insbesondere sind es die folgenden Ausdrucksmittel, die in diesem Sinne einen atmosphärisch-ganzheitlichen und gefühlsmächtigen Eindruck entstehen lassen: (a) die amphitheatrale Rundform der Insel, die nach vorne – zum stillen Wasser hin – offen ist und den Betrachter in den mystischen Innenraum gleichsam mitnimmt, (b) der finstere Himmel der späten Dämmerungsphase, der auf die Szene niederdrückt und atmosphärische Schwere suggeriert, (c) die schroffen Felsen, die die Abgeschlossenheit des Inselraumes unterstreichen, (d) ein kolumbarienartiges Loch im Fels sowie arkadenartige Verbauungen in den steilen Wänden, die als Grabkammern von einem abgründigen Jenseits künden, (e) die ins Dunkel des Himmels aufragenden Zypressen 16, die das Erhabene ins Heilige steigern, (f) die zwischen zwei Säulen ins Wasser mündende Treppe, welche sich im rätselhaften Inneren der Insel verliert, (g) die Ruhe des Wassers, die Vgl. ebd. Umfassende vergleichende Interpretationen finden sich z. B. bei Zelger 1991 und 2001 sowie Schneider 1977. 15 Wenn im Folgenden von der Atmosphäre des Gemäldes die Rede ist, so ist die Bedeutung der Aura impliziert, die ja, wie weiter oben ausgeführt, vom ganzen atmosphärischen Erscheinen eines Kunstwerks nicht zu trennen ist und selbst als eine spezifische Form der Atmosphäre zu verstehen ist. 16 Die Zypresse steht in der christlichen Ikonographie für das endzeitliche Paradies; schon deshalb verweist die Toteninsel nicht auf den Hades, sondern ein Totenreich in der Nähe der Götter (vgl. LCI Bd. 4, S. 591). Entsprechend komplementär ist die Symbolik der Baumvegetation auf der »Lebensinsel« (z. B. Palme als Symbol des Paradieses sowie die vielfältig lebensorientierten Konnotationen der Pappel; vgl. LCI Bd. 3, S. 364 f.). 13 14
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Die Toteninsel
im Gegensatz zur Bewegtheit des Himmels der ganzen Szene die Macht der Stille des Todes einschreibt, und (h) schließlich der Kahn mit dem Sarg und einer leicht nach vorne gebeugten auratischen Gestalt, dem Begleiter auf dem Weg ins Reich der Toten. Das dunkle Ziel der Passage ist die Insel des Thánatos. 17 Diese analytische Isolierung gestalterischer Elemente ist aber in ihrem Ertrag insofern beschränkt, als sie – mit Adorno – nur auf die Logik der Segmente bezogen ist. Das Ganze eines Gemäldes geht jedoch weit über deren Wirkung hinaus. Dieses Ganze ist der Sprache inkommensurabel. Deshalb versucht die metaphorische Rede die in der aktuellen Situation der Anschauung aufbrechende Sprachnot zu kompensieren. Das Bild spricht einen abstrakten und zugleich den konkreten Tod einer virtuellen Person an, die in einem Sarg auf dem Kahn liegt. Es sind besonders die landschaftlichen Elemente, die in ihrer situationsspezifischen Erscheinungsweise die Assoziation der Allegorie der großen Transversale evozieren: schroffe, hoch aufragende, solitärartige Felsen, Zypressen, der glatte Meeresspiegel, der bewegte Dämmerungshimmel usw. Das sich in (angedeuteter) endloser Weite verlierende Meer suggeriert Endlosigkeit, Urgewalt und ewige Dynamik. Zugleich steht es für die Grenzflüsse Achéron (Fluss des Leides), Kokytós (Fluss des Wehklagens) und Stx (Fluss der Gewalt), die die irdische Welt der Menschen mit dem Reich des Thánatos verbinden. Das Bild steht auf der Grenze zwischen religiöser Übermacht und mystischer Verrätselung. Es zieht ästhetisch an und stößt in einem Gefühl des Grauens zugleich ab. Das Ziel der Reise ins Jenseits entzieht sich trotz der visuellen Nähe seiner Darstellung in eine unsichtbare Ferne – es kann nur symbolisierend ausgemalt werden; sein mystischer Ort bleibt sprichwörtlich im Dunkeln. Es ist beeindruckend, wie Böcklin auf dem Wege mehrerer Entwürfe in der Endfassung eine gestalterische Intensität widerstreitender Gefühle herausgearbeitet hat. Mythisch wie mystisch assoziiert er den Tod mit Gefühlssuggestionen beängstigender Abgründigkeit und zugleich versöhnender Ruhe. 18 Die Vgl. dazu auch Schneider 1977, S. 108. Ob solche Atmosphären im Erleben eines Betrachters auch zur Stimmung werden, hängt von der Gestimmtheit seiner persönlichen Situation ab. Hermann Schmitz hatte zwischen Gefühlen mit und ohne eigener Betroffenheit unterschieden, um darauf aufmerksam zu machen, dass man eine Atmosphäre sinnlich wahrnehmend begreifen kann, ohne sich von den anstehenden Gefühlssuggestionen stimmungsmäßig auch erfassen zu lassen. Wenn die distanzierte Betrachtung durch ein leiblich spürbares Gefühl
17 18
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religiöse Symbolik gibt dem Affizierungspotential des Erhabenen seine ganz spezifische Färbung. Was macht den landschaftlichen Charakter der Toteninsel aus, denn »zunächst ist die Toteninsel ein Landschaftsbild« 19? Barbara Eschenburg ist auf dem Hintergrund des künstlerischen Werkes von Arnold Böcklin der Auffassung, dass »ihn die Landschaft selbst gar nicht interessiert, sondern daß sie ihm Anlaß für seine sich mythisch gebenden Vorstellungen ist«. 20 Er betreibe eine »Poetisierung« der Landschaft, um mythische Gefühle zu evozieren. Dies heißt aber doch gerade, dass er sich insbesondere landschaftlicher Ausdrucksmittel bedient hat, um atmosphärische Eindrücke mythischer Bedeutung herzustellen. Dazu intensiviert er das Erscheinen seiner ins Bild gesetzten Landschaft mit künstlerischen Mitteln, die weitaus zudringlicher sind als jedes landschaftliche Erscheinen im tatsächlichen Raum. 21 Der affizierende Grad vieler seiner Landschaftsbilder verdankt sich einer Verbindung atmosphärisch intensiv dargestellter Dinge und Halbdinge der Natur mit emotional angreifenden Bedeutungen. Die in Böcklins Landschaft zur Darstellung kommende Natur ist ästhetisch auf ihr atmosphärisches Einfühlungsprogramm hin inszeniert. Wenn Wölfflin über Böcklins Malerei sagte, sie habe »ihr Zentrum in der Natur« 22, so hebt er weniger auf die in seinen Bildern zur Anschauung gebrachten Szenen der Natur ab, als auf eine besondere Ästhetisierung, in der Naturdinge und -halbdinge eindrucksvoll arrangiert sind. Böcklin war anderen Malern der Romantik darin ähnlich, dass er keine naturalistische Landschafts-Darstellung anstrebte. Es ging ihm um imaginäre Landschaften zur Vermittlung von Atmosphären – um Landschaften der Ein-Bildung. In deren künstlerischer Herstellung reifiziert sich das Endprodukt eines mimetischen Spiels mit subjektiv gefühlsbeladenen Imaginationen. Deshalb merkte Hermann der Betroffenheit aber überlagert wird, springt das Gefühl auf der Objektseite einer Szene in eine persönlich ergreifende Stimmung um (vgl. auch Schmitz III/2, §§ 149 und 154 sowie Kapitel 12 in diesem Band). 19 Zelger 2001, S. 260. 20 Eschenburg 1987, S. 174. 21 Dass Böcklin auch ein Meister der romantischen Landschaftsmalerei war, die nicht thematisch (wie in der Toteninsel) einen Mythos bearbeitete, zeigen Bilder wie Hochgebirge im Gewittersturm (1849), Bergsee mit Möwen (1847), Wintertannen (1849), Landschaft in den pontinischen Sümpfen (1851) u. v. a. 22 Zitiert bei Hofmann 2001, S. 26.
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Die Eindrucksmacht des Numinosen
Beenken auch an, »daß Böcklins Naturerlebnis über das Visuelle hinausgreife, »indem es von vornherein ganz andere Sinnes- und Erlebnisweisen miteinbezieht.«« 23 Wassily Kandinsky sagte ganz in diesem Sinne über Böcklin, er sei ein Erforscher im »Bereiche des Nicht-Materiellen«. 24 Andere Beispiele aus dem Werk des Malers lassen erkennen, dass ihm wenig an der Darstellung des Schönen oder Hässlichen gelegen war, er vielmehr danach strebte, Eindrücke des Erhabenen 25 zu evozieren (z. B. im Bild Bergsee mit Möwen aus dem Jahre 1847).
20.3 Die Eindrucksmacht des Numinosen Der besondere Beeindruckungscharakter der Toteninsel liegt nun aber weniger im Erhabenen als im Numinosen, wenn in der Literatur auch allein vom Erhabenen oder »mythisch Visionären« 26 die Rede ist. Dem Erhabenen der Landschaft begegnen wir eher in säkularen Szenen, wenngleich es auch dann mitunter ins Numinose hinauszudrängen vermag (z. B. im gefühlsambivalenten Erscheinen abgründig ins Nichts stürzender Gebirgsschluchten 27). Nach dem Theologen Rudolf Otto werden Atmosphären des Numinosen in und an dem spürbar, »was um religiöse Denkmäler, Bauten, Tempel und Kirchen wittert und webt« 28. Von mindestens gleicher spezifischer Suggestivität ist die Thematisierung des Todes, die Darstellung von Grabkammern und die Symbolisierung einer Insel als Totenreich 29; das ganze Bildarrangement spielt in seiner Inszenierung auf göttliche Atmosphären an. Von Beenken 1944, zitiert bei Zelger 1991, S. 18. Zitiert bei Heilmann 2001, S. 35. 25 Das Erhabene taucht als Gefühl besonderer Intensität in der Literatur des 17. Jahrhunderts auf. Es ist durch die Gleichzeitigkeit anziehender und abstoßender Empfindungen geprägt. Indem der abschreckende Anteil einer literarischen (oder bildlichen Darstellung) aber aus der Perspektive der sichernden Distanz erlebt werden kann, vermag sich eine »Dissonanz des schmerzlichen Vergnügens« (Nova 2007, S. 125) in der Teilhabe am Schrecken zu konstituieren. Besonders in der Naturdarstellung spielte es eine große Rolle. »Es war ambivalent und führte sowohl zur Verherrlichung der Natur als auch zur Furcht ihr gegenüber« (ebd.). 26 So z. B. bei Heilmann 2001, S. 42. 27 Vgl. dazu Böcklins Bild Drache in einer Felsenschlucht von 1870 (Bayerische Staatsgemäldesammlung). 28 Otto 1924, S. 12. 29 Vgl. Zelger 2001, S. 264. 23 24
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Atmosphären des Numinosen geht – ähnlich denen des Erhabenen – »jenes eigentümliche Doppelmoment eines zunächst abdrängenden und gleichzeitig doch wieder ungemein anziehenden Eindrucks auf das Gemüt« aus. 30 In dieser »Unausgewickeltheit« (Otto) des Numinosen – in seiner gefühlsmäßigen Ganzheit – liegt der Charakter eines geheimnisvoll Unsagbaren, das auf atmosphärischem Wege eine Stimmung des Melancholischen suggeriert. Ein wirkmächtiges Darstellungsmittel des Numinosen ist das Dunkle, das sich durchs Halbdunkel vermittelt. Deshalb steigert sich die Zudringlichkeit der letzten Version der Toteninsel auch durch den ins dämmernde Zwielicht hin aufgehellten Himmel, der in den ersten beiden Versionen noch als nächtliches Gewölbe dargestellt ist. Die synästhetisch spürbar werdende Stille kündet schließlich nicht von profan-weltlicher Ruhe, sondern von der Stille des Todes. Aufgrund ihrer Eindrucksmacht korrespondieren Atmosphären des Numinosen nach Hubert Tellenbach nicht mit der Welt des Wortes. 31 Hansson sprach 1892 von einem »feierlichen Frieden, der über der ganzen Landschaft rund um die Toteninsel schwebt« 32. Mit diesem impliziten Hinweis auf die Macht der Atmosphären trifft er den gefühlsräumlichen Charakter im Wesen einer Landschaft, den Böcklin in seiner fünften Bild-Version so eindrucksmächtig ins Bild gesetzt hat. Die Insel ist eine Todes-Landschaft: Landschaft für den Menschen nach seinem Ende und darin Gedenk- und Erinnerungsmedium der Hinterbliebenen – Kulturlandschaft par excellence. Böcklins Toteninsel macht uns schließlich darauf aufmerksam, dass das spezifisch kultur-landschaftliche Moment der Szenerie in einem Situationscharakter begründet ist, der nicht aus der imaginierten Natur einer Umgebung entspringt, sondern aus dem Todesmythos. Erst in der letzten Version vollendet Böcklin auch den Habitus des Mönchs so eindrucksvoll zur Demut hin, dass die Zudringlichkeit des gesamten Bildes im Vergleich zu früheren Versionen umgestimmt wird. Der Mönch geleitet den Toten nicht nur auf die Toteninsel; er drückt den ergreifenden Charakter der Überfahrt in eine unbekannte Welt habituell aus. Das akzentuiert die Gesamtsituation, in deren Bedeutungsgefüge die landschaftlichen Medien eingeschrieben sind. Die habituell sichtbar gemachte Stim30 31 32
Otto 1924, S. 53. Vgl. Tellenbach 1968, S. 75, der sich auf Rudolf Otto (1924, S. 5) bezieht. Zit. bei Lucbert 2001, S. 117.
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Landschaft als Konstruktion?
mung des Mönchs sinkt in die impressive Situation des Bildes so nachhaltig ein, dass sich dessen numinose Atmosphäre insgesamt potenziert. Das Beispiel zeigt in Anlehnung an Adorno, dass zwar das Ganze eines Kunstwerks nicht aus der Analyse seiner Elemente zusammengesetzt werden kann, sehr wohl aber ein einzelnes Element auf so ausdrucksstarke Weise Bedeutungen kommunizieren kann, dass sich das Ganze seines Gehaltes nachhaltig verändert.
20.4 Landschaft als Konstruktion? Als Marie Berna im Jahre 1880 Böcklin beauftragte, ihr ein »Bild zum Träumen« zu malen, steckte sie auf dem Hintergrund ihrer persönlichen Stimmung wie ihrer ästhetischen Erlebniswünsche den Programm-Rahmen für das anzufertigende Gemälde ab. Der Wunsch galt nicht irgendeinem Bild, sondern einem situationsspezifischen Medium leiblicher Kommunikation, einem Spiegel ihrer Befindlichkeit. So schrieb Böcklin an seine Auftraggeberin: »Es muß so stille wirken, daß man erschrickt, wenn angeklopft wird.« 33 Deutlicher kann der Gefühlsanspruch nicht formuliert werden, der mit dem Gemälde der Einfühlung zugearbeitet werden sollte. Deutlicher kann aber auch der Konstruktionscharakter seines Schaffens nicht werden. Dieser impliziert in seinem atmosphärischen Charakter die Idee einer ästhetischen Gestalt, deren Zudringlichkeit durch jene Benjamin’sche »nahe Ferne«, also eine Unverfügbarkeit des Bild-Gegenstandes gekennzeichnet ist. Zwar war Böcklin in der Wahl und Ausgestaltung der Szenerie frei. Zu dieser Freiheit gehörte es, auf bereits Begonnenes zurückzugreifen. So geht Franz Zelger davon aus, dass Böcklin schon an der ersten Version gearbeitet hatte, als er den Auftrag von Marie Berna erhielt. 34 Böcklins Toteninsel ist aber nicht nur ein individuell beauftragtes Kunstwerk, sondern auch ein historisch-gesellschaftlich disponiertes Werk. Diese Seite der kultur- und kunsthistorischen Situiertheit des Bildes verleitet zu konstruktivistisch motivierten Deutungsversuchen, in deren Licht das Entstandene allein als Ausdruck einer gleichsam aus dem Zeitgeist herausperlenden Imprägnierung allen künstlerischen Tuns gelten könnte. In der Tat ist nicht zu bestreiten, dass in Böcklins 33 34
Zit. bei Schneider 1977, S. 115. Vgl. Zelger 2001, S. 260.
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Landschaft der Typ der romantischen Landschaft wiederkehrt. Der Konstruktionscharakter des Arrangements hallt auch darin wider, dass er die Szene nicht im engeren Sinne erfindet, sich vielmehr an einem Epos der italienischen Renaissance orientiert (Torquato Tasso), in dem eine dem Gemälde frappierend ähnliche Situation beschrieben wird. 35 Auf den konstruktiven Prozess wirkten auch kunsttheoretische Diskurse und seinerzeit aktuelle Strömungen des Zeitgeistes ein. Dazu gehörte die von Böcklin selbst praktizierte und von Vischer theoretisch vertretene Einfühlungsästhetik, mittels derer noch in der Spätromantik das Ziel verfolgt wurde, den Stimmungscharakter von Naturszenen mythisch aufzuladen, um ästhetische Gefühle (z. B. des Erhabenen) zu evozieren, die sich in Gefühlserwartungshaltungen einfügen konnten. So gründet der Mythos der Toteninsel auch in der gesellschaftlichen Symbolik der Zeit. Die Toteninsel ruht (im Gegensatz zur romantizistischen Lebensinsel 36) in der Schwere einer Innerlichkeit, die dem Weltschmerz der Romantik korrespondierte. Damit antwortet Böcklin in Ausdrucksgestalten des Unbewussten auf das Entwurzelungserleben des Industrialisierungs- und Zivilisationsprozesses.
20.5 Das konstitutive Moment im Erleben von Landschaften Landschaft gilt unter dem Einfluss des Konstruktivismus heute als soziale Hervorbringung. Wie wenig dies in dieser Simplifizierung für das Erleben herumwirklicher Umgebungs-Landschaften generell gilt, wird schon daran deutlich, dass sich spezifisch landschaftliche Atmosphären ja ohne jedes menschliche Zutun schon aus der Dynamik der Kräfte der natura naturans situativ bilden. Das Beispiel der Toteninsel zeigt dagegen ganz unabhängig vom Tatsächlichen die Komplexität des Ineinandergreifens von Prozessen der Konstruktion und solchen der Konstitution. Dies selbst angesichts des Umstandes, dass für das Zustandekommen des Gemäldes allein der Herstellungsprozess von Belang ist, kommt doch im Bild nichts von sich aus – gleichsam aus der Natur – zum Ausdruck. Alles legt der Künstler in seine Landschaft »Das befreite Jerusalem von Torquato Tasso«, 14. Gesang (vgl. Schneider 1977, S. 110). 36 Auf das Jahr 1888 ist ein Gemälde von Böcklin mit dem Titel Die Lebensinsel datiert (Kunstmuseum Basel). Es weist formale Ähnlichkeiten zur Toteninsel auf. 35
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Die Toteninsel – eine denkwürdige Landschaft
hinein. Und doch konstituieren sich in diesem Geschehen auch mannigfaltige Kräfte der Beeindruckung, die mehr den Ekstasen der Natur entlehnt sind, als dass sie Produkt Böcklins konstruierender Phantasie waren. Aber es wirken auch noch andere Potentiale der Konstitution, die mit der Biographie des Künstlers verbunden sind. Franz Zelger weist zu Recht darauf hin, dass Böcklins Bildersprache lange nicht nur Ausdruck von Ideologie und Zeitgeist sei. Vielmehr spiele die Lebensgeschichte des Künstlers für das Verstehen seines Werkes eine große Rolle. 37 So werden die dunklen und melancholischen Elemente seiner Bilder nicht nur durch einen politisch motivierten Zivilisationspessimismus gespeist, sondern auch von persönlichen Lebenserfahrungen in existenziellen Grenzsituationen. Im Rahmen der gemeinsamen Situation der Gesellschaft, die vom Zeitgeist und den historischen Lebensbedingungen der Zeit (Krieg, Pest, Revolution) geprägt wird, konstituiert sich die persönliche Situation Böcklins und auf ihrem Boden jener persönliche Stimmungshintergrund, auf dem seine allegorischen Darstellungen letztlich erst verständlich werden können. Böcklin musste menschenverachtende Gewalt in Krieg und Revolution erleben und damit die Allgegenwärtigkeit des Todes. Dieses Leben in Grenzsituationen sollte seine Biographie insgesamt prägen; von seinen vierzehn Kindern starben acht bei bzw. nach der Geburt oder im frühen Kindesalter. 38 Seine persönlichen Stimmungen schwankten zwischen Euphorie und Depression. 39
20.6 Die Toteninsel – eine denkwürdige Landschaft Als Landschaft bleibt die Toteninsel sperrig; dies insbesondere aus der Perspektive gegenwärtiger Rezeptionskultur, in der die synästhetischen Brücken zwischen allegorischen Inszenierungen und numinosen Atmosphären schon wegen veränderter Bedeutungen von Tod und Jenseits kaum noch verstanden werden können. Das Landschaftliche als Ausgangsmaterial numinoser Suggestionen ist dem emotionalen Verstehen weitgehend unzugänglich geworden. Die Schule kunstästheti37 38 39
Vgl. Zelger 1991, S. 28. Vgl. Zelger 2001, S. 228. Vgl. Schneider 1977, S. 116.
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scher Sehgewohnheiten, vor allem des ausgehenden 20. Jahrhunderts, lässt Landschaft als ein Stück Land erwarten, in dem zwar Wasser stehen (in Gestalt eines Sees) oder fließen kann (in Gestalt eines Sturzbaches). Eine Insel, die einzig aus hoch aufragenden Felsen besteht und in einer eigentümlich anziehenden und zugleich bedrohlichen Mächtigkeit zudringlich wird, fügt sich dieser Landschafts-Erwartung nur in der Überwindung von Widerständen der Irritation. Schon wegen dieser Abweichungen vom üblichen Stil der Landschaftsmalerei erzeugt die Toteninsel eine besondere Aufmerksamkeit, die sie auf dem Grat des Idiosynkratischen verharren lässt. Inwieweit bereichert Böcklins Landschafts-Gemälde das Wissen über die Wahrnehmung jener Landschaften, die wir in der körperlichen Bewegung als tatsächliche räumliche Milieus leiblich erleben? In gebotener Kürze seien im Folgenden sieben Aspekte genannt: (1) Wenn sich Landschaft im subjektiven Erleben konstituiert, so gehen die dieses Erleben bildenden Eindrücke nicht auf die Materialität tatsächlicher Gegenstände zurück, sondern auf deren anschauungsbedingtes und situatives Erscheinen. Indem Landschaftsgemälde (insbesondere der Romantik) dieses Erscheinen ästhetisch intensivieren, um es in besonderer Suggestivität mit kulturellen Bedeutungen zu laden, überhöhen sie das Prinzip Landschaft als Form affektiven Herum-Erlebens. (2) Die die Suggestivität einer künstlerisch dargestellten landschaftlichen Szene vermittelnden Synästhesien machen eine Grundstruktur landschaftlicher Wahrnehmung aus; im Falle des Bildes von Arnold Böcklin sind diese synästhetischen Brücken der Wahrnehmung auf engstem (Bild-) Raum so verdichtet und jeweils für sich zugespitzt, dass sie in Funktion und Wirkung klar hervortreten. Als Stilmittel der Malerei dient Böcklin dabei die Technik des sfumato, einer in bestimmten Bildbereichen unscharfen und verwischten Darstellung, die – auf Leonardo da Vinci zurückgehend – das Ziel verfolgt, eine geschärfte Wahrnehmung des Betrachters herauszufordern. 40 (3) Szenische Suggestivität geht in Böcklins Bild nicht nur von Dingen, sondern auch von Halbdingen (Dunkelheit, Dämmerung, Stille etc.) aus. Die atmosphärische Wirkung von Halbdingen wird in ihrer Ausdrucksmacht in Böcklins Bild deutlicher als in einer wandernden Passage durch landschaftliche Gefilde. (4) Die leibliche Kommunikation mit einer Landschaft vollzieht sich stets mimetisch. Je stärker die Ausdrucksmacht einer landschaft40
Vgl. Nova 2007, S. 80.
402 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Die Toteninsel – eine denkwürdige Landschaft
lich erscheinenden Situation, desto intensiver gestaltet sich der Prozess der mimetischen Beziehung (zwischen Annäherung und Abwehr). Böcklins Toteninsel bringt aufgrund ihrer affektiven Potenzen dieses mimetische Spiel zu Bewusstsein. (5) Keine Mimesis ohne Imagination! Die dichte Symbolik allegorisierender Inszenierungen affiziert in einer Weise, die den Betrachter in den programmatischen Binnenraum des Bildes gleichsam hineinzieht. Auch in der landschaftlichen Wahrnehmung verbinden sich die Eindrücke des Erscheinenden mit Imaginationen, die jedoch so lange unbedacht bleiben, wie sich aus einer landschaftlichen Erlebnissituation nicht (selbst-) reflexive Impulse abspalten. Die Rolle der Imagination ist im Bild von Böcklin unmittelbar evident – ohne Imagination bleibt die Toteninsel ein emotional abständiges Bild, das heißt, seine nahe Ferne transzendiert nicht ins Denken eines Neuen, um dem Gewohnten als fruchtbare Irritation entgegenzutreten. (6) Das jedes landschaftliche Erleben bild-ende Prinzip der umfriedenden Rahmung pointiert das Landschafts-Gemälde durch seinen tatsächlichen Rahmen. (7) Dieser weist auf den Konstruktionscharakter von Landschaft hin, wenn auch keine Landschaft ganz in der Konstruktion aufgeht, sich im Prozess des Erlebens vielmehr auch konstituiert. Damit rückt das Gemälde an den Rand dessen, was in seiner heterotopologischen Räumlichkeit das Fremde und Andere des gesellschaftlich Realen herausstreicht. Die Toteninsel ist in der Art und Weise der ästhetischen Kombination und Situierung von Naturdingen die reine Kulturlandschaft. Kultur an ihr ist insbesondere die Verbildlichung des Todes und seine Verortung in einer imaginären Sonderwelt einer Insel. Aber auch typische Kulturlandschaften kennen wir in kontrastreichen Gestalten – zum einen als ausgeräumte Braunkohletagesbaustätte und agroindustrielles Maisfeld, zum anderen aber auch als freizeitlandschaftlichen Erlebnisraum mit Strand und Palmen. Auch der Garten ist eine mikrologische Landschaft. Wenn dessen sozialpsychologische Funktion darin besteht, von der Sorge um die eigene Existenz zu entlasten, so steigert die Toteninsel diese Sorge. Die Sorge kommt hier zur Geltung als eine Haltung menschlichen Lebens in einer Natur, zu der keine vortechnische Beziehung mehr gelebt werden kann. Die ästhetische Hinwendung zu ihr steht daher in einer kategorialen Beziehung zu ihrer technischen Kultivierung. Der Garten ist Ort des versöhnenden Ausgleichs all jener Lasten, die die Ökonomisierung modernen Lebens aufgetürmt hat. Der Garten hat seine Grenzen, 403 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
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innerhalb derer er sich als Raum der Katharsis anbietet. Dagegen ist die ästhetische Kulturlandschaft überall. Sie hat keine Grenzen und kein mythisches Programm. Aber auch sie wird umgrenzt und mythisch erlebt. Die (gemeinsame wie persönliche) Situation des Menschen bestimmt die ästhetischen Modalitäten des Ausschneidens und imaginären Rahmens. Kulturlandschaften haben daher aber im Unterschied zum Garten keinen heterotopologischen Charakter. Sie sind semantisch offen für jede Ästhetisierung, die romantizistische wie die idiosynkratische.
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Abbildungsnachweise
Abb. 1.1: Die Illustration der Lutherbibel: 1522 – 1700, Basel 1962, S. 49, Illustration Nr. 11. Abb. 3.1: FLC/Bildkunst, 2013. Abb. 3.2: Stadtarchiv Stuttgart (F 2039/234 N 1588). Abb. 3.3: Kunsthalle Bielefeld (Hg.): Revolutionsarchitektur. Boulée Ledoux Lequeu. Bielefeld 1971, S. 60. Abb. 3.4: The Western Pennsylvania Conservancy. Abb. 3.7 bis 3.9: Jessica Witan. Abb. 5.1: Westheide und Rieger 1996, S. 562. Abb. 15.1 und 15.2: Mader – Stublic – Wiermann. Abb. 15.3: Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Gesamtausgabe. Mit farbigen Kupferstichen von Matthäus Merian. Stuttgart 1980, S. 23. Abb. 15.4: Ebd., S. 41. Abb. 15.8: Rick Messemaker (Mothership). Abb. 18.1: Diorella Fortunati (BAKarquitectos). Abb. 18.2 und 18.3: Åke Lindman (Architekturbüro Jonas Lindvall). Abb. 18.4: Åke Lindman (Architekturbüro Murman). Abb. 18.5: LAAC Architects / Innsbruck. Abb. 20.1: bpk | Museum der bildenden Künste Leipzig | Ursula Gerstenberger. Abb. 20.2: bpk | The Metropolitan Museum of Art. Alle anderen: Jürgen Hasse.
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Sachregister
Abstraktion 57 Abstraktionismus 149 Abstraktionsbasis 340 Affekt 34, 58, 147–148, 199–200, 203, 215, 255 affektiven 28 Affektlogik 177, 199 Akkord 57, 251 Akteur 154, 174, 187, 197, 206, 246, 314 –, ästhetizistischer 213 Akustik 298 Allegorie 359, 365, 382 Alltagssprache 229 Ambiente 251 Andacht 301 Angst 198 –, leibliche 222 Anmutung 182, 251, 299 Anmutungsqualität 211 Anschauung 56, 221 Anthropologie, historische 325 Anwesenheit 171 Anwohner 153 Apsis 74 Architektur 62, 175, 191, 194–195, 205, 213, 217, 232, 237, 254, 392 –, städtische 342 Architekturlicht 282 Armut 145 Ascheausstreuung 383 Ascheskulptur 386 Assoziation 177 Ästhetik 172, 178, 196, 315, 341 –, anthropologische 325
Ästhetisierung 174, 178, 207, 244, 276 –, Oberflächen- 178 –, postmoderne 189 –, Tiefen- 178 Ästhetizismus 287 Atlas 188 Atmosphär 149 –, numinose 367 Atmosphäre 39, 60, 62, 154, 164, 170, 177, 181, 185, 192, 202, 214, 227, 249, 266, 277, 280, 311, 338, 341, 389, 392 –, göttliche 299, 397 –, klimatologische 203 –, landschaftliche 209 –, maritime 202, 256 –, numinose 218, 304 –, präobjektive 232 –, Repräsentations- 386 –, sedierende 255 –, sepulkralkulturelle 357 –, soziale 250 –, Wald- 380 Außenwelt 212 Aufenthaltsqualität 216 Auferstehung 366 Aufklärung 193 Aufmerksamkeit 172, 174, 184, 201, 343 Aura 251, 389 Ausgleichsfläche, ökologische 272 Ausleitung 363 Aussage, ästhetische 321 Aussichtplattform 352 Ausstrahlung 239 Automobil 196
429 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Sachregister Autopoiesis 175, 196, 202 Autorität 297 –, des Gefühls 305 Barock 72 bauen 161, 281, 344 –, atmosphärisches 257 –, Neues 286 –, sepulkralkulturelles 367 Bauform 69 Baukultur 217 Baukunst 52 Baum 249, 381 Baustil 217 Baustoff 72, 307 Bauwerk 161 Bedeutung 188 –, religiöse 300 Beengung 220 Befindlichkeit 399 Begehrnis 245 Begräbnisritual 367 Begriff 313 Beleuchtung –, elektrisch 245 –, städtische 192 Beobachtung 166, 170, 173 Besinnung 308 bestatten 358 Bestattungsbaum 380 Bestattungsgesetz 379 Bestattungsort 356 Beton 74, 219, 346 Betroffenheit 164, 271, 361 Beunruhigung 274 Bewegung 39, 152, 220, 300, 353 Bewegungsrhythmen 206 Bewegungssuggestion 60, 73, 75, 234, 349, 363, 365 Bild, visuelles 353 Bildhauerei 205, 392 Binnendiffusität 36–37 Binnenland 311 Blick 37, 61, 186, 206, 221, 353 Blickbeziehung 348 Blitz 344 Blitzableiter 344
Bogen –, Korb- 69 –, kreisförmiger 71 –, Rund- 71 Bogen Bogen, Spitz- 71 Brache 266 –, ackerbauliche 269 –, dauerhafte 274 –, Industrie- 266, 270 –, Sozial- 269 Bürostadt 222 Casa Mar Azul 345 Cemitério dos Prazeres 372 Chaos 270, 272 Charakter, synästhetischer 59, 63, 72, 322, 364, 394 Charta von Athen 216 Christentum 147 CIAM-Erklärung 344 Dach 268 Dämmerung 185, 262, 299, 342, 394–395 Denken 39 –, Disziplin 145 –, Gleichgewicht 146 –, konstruktivistisches 149, 183 –, kreatives 63 –, rationales 258 –, sozialwissenschaftliches 314 –, szientistisches 179 –, theoretisches 146 –, wissenschaftliches 150 –, zweckrationales 151 Denkkollektiv 199 Denkkultur 199 Denkstil 198 Denkstimmung 171, 198 Design 175 Diamant 385 Diamantquader 73 dicht 60 Dienstleistungsgesellschaft 188 Differenz 143, 329 –, sozioökonomische 145 Dinge 160, 164, 181, 188, 202, 209, 234, 283, 337
430 https://doi.org/10.5771/9783495860540 .
Sachregister Dingfamilie 223 Diskurs 237 –, Außen 148 –, disziplinärer 148 –, wissenschaftlicher 148–150, 198 –, wissenschaftskritischer 171 Dispositiv 41, 178, 207, 218, 237 –, ästhetisches 292 –, ästhetizistisches 282 Dissuasion 174, 177, 189, 208, 218, 283, 287 Distanz 167, 172, 182–183, 186–187, 193, 203, 277, 327 –, emotionale 186 –, gelebte 184 –, rationalistische 319 Distanziertheit 142 Distinktion 176 Disziplin 198 Disziplinierung 195 dumpf 60 dunkel 61, 205, 284, 307 Dunkelheit 337 Dunst 219 Dunstkreis 251 Dystopie 240, 273 Eindruck 76 –, atmosphärischer 255 –, leiblicher 331 –, segmentierter 216 Eindruckssuggestion 59 Einfühlung 32, 59, 181, 242 Einfühlungsästhetik 400 Einfühlungsprogramm 396 Einkaufszone 221 einrichten 162 Einverleibung 187 Einzelgrab 363, 365 Ekel 35 Ekstase –, Ding- 235 –, Natur- 236 Elbbrücke 335 Elbphilharmonie 353 Elemente 335, 367
Empfindungsregime 177 –, kulturindustrielles 292 Enge 33, 35, 61, 183, 300 –, existenzielle 222 Engel 188, 298 Entpolitisierung 176 Entsorgung 176, 189 Erdatmosphäre 227 Erdbestattung 366, 370 Erde 369 Ereignis 166 Erfahrung 241 Ergehen 252, 256 Ergriffenheit 299 erhaben 66, 178, 236, 242, 267, 270, 304, 319, 372, 394, 397 Erhabene, technisch 179 Erhabenes –, ökonomisch 247 –, technisch 208, 304, 354 Erholungsraum 309 erinnern 358 Erinnerungsbild 343 Erkenntnis, wissenschaftliche 200, 312 Erleben 174 –, einbettendes 215 Erlebnis 246 Erlebniserwartung 176, 178 Erlebnislandschaft, ästhetische 336 Erlebnisqualität 213 Erlebnisraum 312, 335 Erlebnisschablonen 341 Erscheinen 164 –, ästhetisches 182 –, situatives 184 Ethik 263 Ethnopsychoanalyse 191 Existenz, menschliche 183 experientia ordinata 330 experientia vaga 327, 330, 332 Exteriorität 345 Extraordinäres 168 Fadheit 340 Fallingwater, (Frank Lloyd Wright) 68 Farbe 214, 298
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Sachregister Fassade 174–175, 185, 218, 287 –, Sandstein 192 Faszination 174, 177, 179, 189 Feeling Map 147, 237, 248 Fenster 268 Ferne 39, 389 Feuer 369 Feuerbestattung 368 Feuerbestattungsgesetz 383 Finsternis 67 Flachdachbauweise 347 Friedhof 193, 213, 243, 359, 363 Friedwald 378 Frische 337 Funktionalität 288 Ganzheit 24, 56, 205, 216 Garten 193, 238 –, englischer 240, 274 –, französischer 240 –, Wörlitzer 242 Gartenarchitektur 240 Gartenbau 193, 213 Gartenkunst 243 Gaslicht 245 Gebet 301 Geborgenheit 272 Gedenkort 377 Gefälligkeit 177 Gefängnis 67, 195 Gefühl 174, 188, 198–199, 204, 211, 229, 261, 265, 284 Gefühlsambivalenz 397 Gefühlsanspruch 399 Gefühlsraum, kollektiver 354 Gefühlssuggestionen 243 Gefühlston 59 Geheimnis 304 Gehen 300 Gemeinschaft 158, 201 Gemeinschaftserleben 306 Gemeinschaftsfeld 375 Gemeinschaftssinn 156 genius loci 26 gerade 60 Geräusch 169, 189, 218 Gerichtssaal 303
Geruch 169, 189, 214, 217 Geschlossenheit 74 Geschmacksurteil 194 Gesicht 65 Gestaltverlauf 60, 349 Geste 37, 62, 75, 170, 186, 205–206, 221, 259, 392 –, architektonische 67 Geviert 264 Geviert (Heidegger) 153, 308, 367 Gewitter 208, 236 Gewitteratmosphäre 224 Gewöhnlichkeit 167 Glanz 74 Glas 219, 346 Glasarchitektur 286 Glassymbolik 286 glatt 60, 74 Glaubensgemeinschaft 307 Gleichgewicht 142 –, epistemologisches 147 Gleichgewichtszustand 144 Globalisierung 26, 145, 174, 244 gnostisch 40, 179, 184, 392 Gotik 280 Gouvernmentalität 260, 264 Grab 358 Grabarchitektur 359, 367 Grablegung 301 Grabstein 379 Granit 74, 76 grell 60–61 Grenzflüsse (Mythologie) 395 Großstadt 142 Großstadtkultur 287 Grundstimmung 233 Grundwiderspruch, gesellschaftlicher 262 Grüngürtel 193 Habitus 30, 37, 147, 169, 222, 244, 365, 398 –, Wissenschaftler- 333 HafenCity 217, 250, 257, 296 Hafenrevitalisierung 249 Halbdinge 33, 39, 188, 209, 283, 320, 340, 392, 402
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Sachregister Halbdunkel 299, 307, 356, 398 Hamburg 257 Handlung 169–170, 174, 183, 187 Handlungstheorie 170, 179, 190, 223, 238 hart 60, 291 hässlich 64, 179, 194 Haus 152, 156 Haut der Stadt 251 Hecke 363, 379 Heiliges 394 Heimat 24, 158–159, 174 Heiterkeit 337 hell 60, 284, 307 Hermeneutik 264 Hermes 188 Herrschaftssymbolik 241 Herum 182 Herumerlebnis 32 Herumraum 303 Herumwirklichkeit 21, 152, 181–182 –, leibhaftige 53, 182 Heterotopie 191, 274, 297, 359, 362, 403 Heterotopologie 239 Hexenkessel 261 Himmel 297, 311, 394 Himmelsstadt, mythologische 297 Hirnphysiologismus 56 Hochhaus 75, 142, 208 Höhle 67 Holismus 36 Holz 219, 346 Hörbild 251 Hygiene 358 Idealisierung 179 Identität 189 –, personale 150 –, Seemanns- 159 –, Selbst- und Fremdzuschreibung 28, 41, 233 –, Selbstzuschreibung 176, 223 Identitätszuschreibung 273 Ideologiebildung 247, 259 Illumination 181, 192, 245, 256, 262, 277
Illuminationsspektakel 292 Imagination 403 Immersion 218 Indifferenz 176 Individualverkehr 196, 288 Industriearchitektur 307 Informationsgesellschaft 188 Infra-Gewöhnliches 167 Infraordinäres 168 Inkommensurabilität 149–150, 176, 313 Innenraum, mystischer 394 Innenwelt 212 Innerlichkeit 400 Insel-Landschaft 392 Inszenierung 174 Intellekt 199 Intellektualkultur 350 Intelligenz –, hermeneutische 212 –, leibliche 212 Interesse –, ökonomisches 175 –, politisches 175, 211 –, pragmatisches 197 Interiorität 345 Interpretation 172 Intuition 190 Irrationalismus 190, 199 Irrationalität 179, 183, 189, 198, 292, 333 Irritation 283 Jahreszeit 228 Jahreszeiten 337 Japantower 76 Jenseitsvorstellung 360 Jona 23, 30 Justizpalast (Boullée) 66 K kalt 35, 60–61, 208, 210 Kapital –, ökonomisches 29 –, soziales 29 –, symbolisches 28 Kapuziner 155
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Sachregister Katharsis 157 Kathedrale, gotische 71, 218, 299 Kaufhaus 185, 255, 302 –, Schocken (Stuttgart) 63 Kirche 63, 297 –, lutherische 306 –, romanische 74 Kirchen, nachkriegszeitliche 299 Kirchenarchitektur 185, 300 Kirchenraum, evangelischer 306 Klang 214 Kleidung 222 Klima 251 Kloster 155 Klosterleben 302 Kognition 34, 148, 197–199, 217 Kolumbarium 363, 371 Kommune 176 Kommunikation 146, 159, 175, 232, 249, 256 –, ästhetische 257 –, asymmetrische 262 –, atmosphärische 232 –, leibliche 32, 49, 58, 60, 74, 181, 184, 188, 194, 210, 237, 280, 327, 349, 402 –, vorbegriffliche 184 Kompass 330 Kompensationswelt 177 Konkurrenz 176 Können 162 Konstellation 148, 153 Konstitution 344, 400 Konstruktion 213, 344, 400 Konstruktivismus 253, 283 Konsumstimmung 233 Kontemplation 157, 299 Kop van Zuid 250, 295 Körper 210, 300, 306, 314 Körperlichkeit 191, 197 Kreative 273 Kreativität 171 –, sprachliche 327 Kreuzgang 221, 300–301 Kriegsschiff 332 Krise 269
–, soziale 278 Krisen-Begriff 314 Kritik 187, 213 Kultur 39, 178, 197 –, urbane 143 Kultur-Natur 315 Kulturindustrie 13, 177, 188–189, 208, 213, 237, 244, 261 Kulturkritik 16, 287 Kulturlandschaft 267, 335 Kulturpolitik 174 Kunst 28, 305 Kunstwerk 365, 392 Küste 34, 309, 311 Küstengewässer 328 Lagezeit 361 Landschaft 41, 68, 314, 325, 335 –, geoökologische 336 –, Klang- 219 Landschaftsarchitektur 213 Landschaftsbild 364 Landschaftsgarten 175, 242 Leben –, Begriff 151 –, heimatloses 159 –, Weite 183 Lebendigkeit 144, 181 Lebenserfahrung, unwillkürliche 312 Lebensform, säkulare 156 Lebensgefühl 280 Lebensmittel 151 Lebensphilosophie 153, 180, 199 Lebensstil 145, 178, 202 –, globalisierter 188 –, urbaner 278 Lebenswelt 152, 310 –, Lebenswelt 189 Leib 205, 210, 283, 314 Leibesinsel 34 Leiblichkeit 31, 36, 190, 197 Leibphänomenologie 325 leicht 60 Leuchtturm 323 Licht 169, 189, 192, 202, 214, 218, 276, 298, 307, 337, 341, 344, 392 –, künstliches 282
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Sachregister –, sentimentales 192, 290 –, technisches 280–281 Lichtarchitektur 282 Lichtdesign 213 Lichtkunst 175 Lichtplanung 232, 283 Lichtwerbung 277 Liturgie 214, 298 Luft 219, 253, 369 –, Land- 220 –, schlechte 220 –, schwere 220 –, Stadt- 220 Luftbestattung 384 Luminale 282 Lust 35 Lust–Unlust 25 Macht 41, 73–74, 149–150, 154, 177–178, 187, 189, 208–209, 249, 298, 302, 317, 354 –, ästhetische 393 –, athmosphärische 259 –, atmosphärische 144, 170, 361 –, numinose 387 –, politische 241 –, suggestive 361 Machtbegriff 303 Malerei 27, 205, 392 Malstrom (Poe) 316 Mannigfaltigkeit, chaotische 37 Massenmedien 188 massig 60 Mattigkeit 74 Mauer 344, 363, 379 Mausoleum 359, 372 Medien –, atmosphärische 223 –, dissuasive 255 –, habituelle 223 –, Neue 189 Meditation 301 Meer 27, 34, 39, 41, 210, 234, 309, 311, 320, 322 Meeresspiegel 395 Melancholie 398 Memorial Center 387
Menschenbild 179, 201 –, akteurszentriertes 184 –, intellektualistisches 76 –, rationalistisches 76 –, sozialwissenschaftliches 190 Messeturm 75 Metall 346 Metapher 171, 192 Methode, wissenschaftliche 173 Methodologie 167, 172, 180 methodologischer Individualismus 36 Milieu 223 Milieuqualität 206, 262 Mimesis 184, 317, 390, 396, 403 Mimik 186, 205, 392 Mitleid 211 Mitwelt 34, 149, 167, 230 Mobilität 26 Modalzeit 271, 362, 366, 369 Mode 232 Mönch 155, 365, 398 Monotonie 171 Moral 198 Moselhochbrücke 335 Müdigkeit 35 Musik 27, 185, 205, 392 –, Kirchen- 214 Mythen 359 –, sepulkralkulturelle 361 Mythologie 218 –, christliche 192–193, 218, 281, 284 Mythos 191–192, 194, 201, 239, 298, 404 –, Schöpfungs- 359 Nacherleben 167 Nachhaltigkeit 195 Nähe 172 Nationalsozialismus 209 Natur 35, 39, 68, 208, 314, 336 –, dystopische 381 –, heile 381 –, Idealisierung 194 Naturbeobachtung 330 Naturbestattung 379 Naturekstase 228, 315, 317, 401 Naturentfremdung 35
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Sachregister Naturphilosophie 325 Natursein 35 Naturunterwerfung 241 Naturversöhnung 274 Naturwald 381 Nebel 220, 234, 342 Nebensächliches 168 Neoliberalisierung 264 Netze, soziale 157 Neurophysiologismus 184 Neurowissenschaft 197 Nomaden 153 Nordsee 314 Notre-Dame-du-Haut 63 Null-Zeit 184 numinos 304, 361, 365, 397 Obdachlose 160 Objektivität 187 offen 61 Offenheit 337 Öffentlichkeit, städtische 281 Ohlsdorf 369, 374 Öko-System 314 Ökonomie 178, 189, 196–197, 213 –, ästhetische 213 Ökotop 274 Öllampe 276 Originalität 391 Orkan 312, 331 Ort 170, 204 –, sepulkralkultureller 359 Ortsqualität 161 Ozean 323 Palast 67 Pantheismus 360 Parkhaus 195, 287 Parkhaus-Atmosphäre 289 Patheur 206, 246 pathisch 40, 179, 184, 213, 392 Performativität 42, 149, 168, 170, 177, 203, 206, 209, 234, 258 Phaeton 370 Phänomenologie 180, 182, 190, 212 –, kritische 12 Phantasie 258 Physiognomik 182
Pinienwald 346 Planung, räumliche 14 Planungstheorie 145 Platz 166, 168–170, 175, 219, 249 Plexiglas 74 plötzlich 42 Politik 178, 197, 213, 341 Postmoderne 174, 177, 196, 228, 261, 295, 323 Prachtbau 185 Prädimensionalität 204, 313 präobjektiv 187 Präsentation 177 Präsenz, atmosphärische 182 Problem 37, 154 Programm 36, 154, 175 –, ästhetisches 363 Protestantismus 305 Psychiatrie 180 Pufferkonzept 364 Purismus –, ästhetischer 306 –, protestantischer 307 Quartier 174, 249 Rationalismus 190, 330 Rationalität 41, 170, 179, 189–190, 201, 292 rau 60, 74 Raum 344 –, anderer 298 –, ästhetischer 299 –, atmosphärischer 152, 185, 254 –, Denk- 39 –, dynamischer 309 –, erhabener 60 –, erlebter 171 –, euklidischer 183 –, extraheterotoper 362, 378 –, Gebets- 156 –, gefühlsambivalenter 364 –, gelebter 32, 154, 170, 181–183, 270, 362 –, Gemeinschafts- 155–156 –, heiliger 297, 301, 379 –, hodologischer 31 –, kirchlicher 60, 303
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Sachregister –, kontemplativer 213 –, leiblicher 31, 38, 306 –, mathematischer 22, 38, 306 –, mitweltlicher 256 –, mythischer 213, 300 –, politischer 143 –, sakraler 298 –, sepulkralkultureller 356 –, Situations- 35, 154 –, sozialer 28, 38, 67, 202, 222 –, spürbarer 185 –, städtischer 170 –, symbolischer 24, 38 –, tatsächlicher 184 –, transitorischer 274 –, umfriedender 159 –, umfriedeter 154 –, Umschlags- 207, 233 –, umwölkter 300 Raum-Zeit 171, 271 Raume, sepulkralkultureller 301 Raumerleben, affektives 315 Rauminszenierung 299 Raumwissenschaft 170 Realität 146, 150, 324, 330, 337 Recreatorium 156 Refectorium 156, 301 Regieren 259 Reihenhaus 64, 249 Reinigung, methodologische 145 Reiz 184, 217 –, einzel-sinnlicher 54 –, sensorischer 56 Reize 338 Relativismus 175 Religion 360 Renaissance 73 Repräsentation 177, 277 Reproduktion, technische 391 Rhythmus, städtischer 171, 185, 203 Rituale, religiöse 301 Romantik 39, 316, 320, 396, 400 Römerbergbebauung 207 Rotterdam 250, 294 Ruheforst 378 Ruine 268, 270, 273
rund 60–61 Sachverhalt 37, 154 sanft 60 Sarg 365–366, 395 Schallereignis 182 scharf 60, 73 Schatten 218, 341, 344, 392 Scheitern 271 Schiffbruch 318 Schmutz 178, 273 Schnappschuss 169 schön 64, 179, 194 Schonen (Heidegger) 161 Schonung (Heidegger) 165 schrill 61 schwer 60 Schwere 366, 368 –, mythische 372 Schwermut 368 scientific community 41, 145, 198, 314, 318 Seebestattung 383 Seefahrt 157 Seele 339 Seemann 157 Seemannsheimen 157 Seemannsmission 157 Selbstbesinnung 263 Selbstgewahrwerdung 308 Selbstinszenierung 176 Selbstsorge 263 Selbsttäuschung 199 Selbstvergessen 35 Selbstverständlichkeit 163 Selbstverwirklichung 161 Sensibilität 313, 326 Sensualismus, separatistischer 59 Sentimentalisierung 291 sfumato 402 Sichtbeton 307 Sinne, niedere 332 Sinnenbewusstsein 147, 149, 282 Sinnlichkeit 214, 284 Situation 36, 149, 154–155, 164, 186, 229, 266, 316 –, aktuelle 387, 395
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Sachregister –, emotionale 144 –, gelebte 205 –, gemeinsame 37, 154, 159, 207, 272, 300 –, Grenz- 401 –, implantierende 37 –, impressive 283, 317, 399 –, lebendige 206 –, Lebens- 152 –, Objektseite 341 –, pathische 180 –, persönliche 37, 153, 171, 207, 302 –, segmentierte 37, 369 –, soziale 159 –, Subjektseite 341 –, Ursprungs- 200 –, Wohn- 158, 164 –, zwischenmenschliche 250 Situationen, Synchronisierung 15 Situations-Mikrologie 169 Smeaton-Rouse-Skala 331 Soldatenfriedhof 376 Sorge 361, 380, 403 –, postmaterialistische 262 Sozialforschung 232 Sozialisation 333 Sozialstaat 175 Sozialwissenschaften 179, 200 Spitze 60 Sprache 186 –, emotionale 325 –, wissenschaftliche 149 Sprachhygiene 326 Sprachspiel 149 Sprachsystem, wissenschaftliches 147 Sprung 39 Stabilität 144 Stadt 154, 168, 174, 178, 185, 196, 202, 234, 276, 286, 307 –, ästhetisierte 185, 342 –, autogerechte 288 –, gelebte 146 –, idiosynkratische 342 –, neoliberalisierte 294 –, postfordistische 294
–, postmoderne 218 –, turbulente 275 –, vitale 275 –, Wirklichkeit 149–150, 203 –, Wunden der 273 Stadt-Landschaft 335, 341, 353 Stadtbewohner 187 Stadtbürger 260 Stadtentwicklung 294 Stadterleben 207 Stadtforschung 168, 187 –, kulturwissenschaftliche 187 –, sozialwissenschaftliche 148, 168 Stadtgesellschaft 187 Stadtimage 250 Stadtplanung 254 Stadtquartier 217 Stadtsilhouette 345, 354 Stadtwerbung 212 Stahl 219 Standortfaktor, weicher 212 Starre, temporäre 274 Stein 74, 365, 367, 385 –, Geist des 63 sterben 358 Stil, architektonischer 222 Stille 60, 183, 234, 299, 335, 339, 392, 398 Stimmung 144, 149, 154, 169, 175, 186–187, 192, 197–198, 208, 214, 227, 266, 271, 338, 392 –, atmosphärische 250, 254 –, gemeinsame 187 –, persönliche 399 –, reine 215, 231, 366 –, religiöse 308 –, Trauer- 363 Stimmungsbild 291 Stimmungsgehalt 59 Stimmungsmache 255 Stimmungsmittel 282 Stimmungspolitik 233 Stimmungsraum, sakraler 303 Straße 206, 219 Straßenbeleuchtung 280 Sturm 33, 39, 210, 219, 331
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Sachregister Subjekt –, handelndes 190 –, hedonistisches 261 –, leibliches 181 Subjekt-Objekt-Spaltung 318, 333 Substraktionsanthropologie 212 Symbol 305 –, transversales 382 Synästhesie 34, 188, 205, 210, 243, 280, 299, 342, 365, 402 –, intermodale 54 –, metaphorische 54 Szenographie 298, 308 Tabu 211 Teilhabe, pathische 341 Temperaturen 39, 189, 202, 337 Tier 222 Tisch 160 Tod 193, 356, 392 Todesangst 357 Todesbewältigung 357 Todesmythos 398 Toleranz 142 Totengedenken 371 Toteninsel 389, 393, 401 Tragisches 267 Transversalität 323 Trauer 60, 229, 357, 365–366 Trauerfeier 169, 368 trauern 358 Trauerweide 365 Treppenhaus 63 Trost 360 Tunnel 219 Tür 268 U Üben 162 Übergang (sepulkralk.) 364 Übergangsritual 358 Übung 161 Uitvaarcentrum 363 Umfriedung 239, 276, 359 Umgebung 152 Umhüllung 298 Umschlagsraum 254
Umwelt 34, 167, 230 Umwölkung 213, 251, 259 Unbewusstes, kollektives 288 Unbewusstheit 191 Unbewusstmachung 196, 213, 237, 261, 274 Unsterblichkeit 358 Unsterblichkeitsmythos –, esoterischer 361 –, religiöser 360 Urbanität 142, 150, 176, 185, 204, 245, 248, 252, 277, 287, 289 Urne 368 Urnenbeisetzung, anonyme 376 Urnengrab 363, 371 Urteil, ästhetisches 65 Utopie 275, 298 Vereinzelung 158 Verführung 218 –, radikale 177, 213, 238, 245 Vergesellschaftung 179 –, postmoderne 244 Verkehr, ruhender 287 Verklärung –, mythische 357 –, romantizistische 273 Verlassenheit 271–272 Vernunft 184, 284 –, monodrome 329 –, transversale 328 Verräumlichung 164 Verstand 265 Verstehen, symbolisches 178 Villa 249, 348 Virilio, Paul 172 vitalistisch 148 Vitalität 169 Vitalqualität 32, 152, 170, 181, 250, 268, 338 Wahrnehmung 170, 191, 304 –, abstraktionistische 328 –, ästhetische 322 –, dialogische 181 –, ganzheitliche 54, 185 –, sinnliche 182, 192, 313 –, Situationscharakter 182
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Sachregister Wahrnehmungsregime 178 Wald 381 Wand 268, 369 Warenästhetik 245 warm 61, 193, 205 Wärme 339 Wasser 382 Wassergraben 379 Wattenmeer 309, 321, 383 weich 60, 210, 291 Weihnachtsbeleuchtung 192, 290 Weihnachtsstimmung 291 Weihrauch 299 Weite 33, 39, 61, 183, 210, 300, 335, 337 Werbefläche 178 Werbung, Licht- 247 Wert –, materialistischer 175 –, postmaterialistischer 175 –, religiöser 297 –, säkularer 382 Wettbewerb, globaler 274 Wetter 39, 337, 339 Wetter-Erleben 253 Widerfahrnis 252 Widerstreit 176, 197 Wind 39, 189, 202, 210, 219, 331, 392 Windhauch 331 Windstärken 324, 332 Wirklichkeit 178, 324, 330, 337 –, gelebte 215 –, unpersönliche 215, 231 Wissen 145 –, Empfindungs- 148 –, Erfahrungs- 147 –, explizites 175 –, Fachwissen 146 –, gereinigtes 148 –, hermeneutisches 263 –, implizites 175 –, offizielles 180 –, pathisches 147–148
–, propositionales 146, 263 –, raumwissenschaftliches 149 –, theoretisches 171 –, wissenschaftliches 145, 147, 170, 360 Wissenschaftler –, Angst 150 –, Leib 150, 180 Wissenschaftskritik 17 Wissenschaftspsychologie 170, 172, 179–180, 197 Wissensgesellschaft 188 Witterung 228 Witterungsbild 251 Wohlstand 145 wohnen 25, 68, 151–152, 161, 240 Wohnmilieu 161 Wohnraum 203, 276 –, persönlicher 157 Wohnsitz 158 Wohnung 152, 164, 212 Wolkenkratzer 206, 208 –, postmoderner 181 Wut 211 Z zart 60 Zaun 363 Zeit –, gelebte 160, 183, 270, 362 –, genutzte 184 –, Latenz- 363 Zeit-Raum 301 Zeitgeist 191, 211, 401 Zimmer 156 Zivilisationsgeschichte 25, 41, 148, 180, 211, 218, 340 Zivilisationspessimismus 401 Zufälligkeit 170 Zwielicht 398 Zwischenphänomen 207 Zwischenraum 207
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